Interpretierte Eisenzeiten: Fallstudien, Methoden, Theorie: Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie [6] 3854743157, 9783854743156

Mit der Tagung vom November 2014 feierten die 'Interpretierten Eisenzeiten' ihr 10jähriges Jubiläum. 2004 ware

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Interpretierte Eisenzeiten: Fallstudien, Methoden, Theorie: Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie [6]
 3854743157, 9783854743156

Table of contents :
Nils Müller-Scheeßel, Gisela Grupe, Thomas Tütken / In der Obhut von Verwandten?: Die Zirkulation von Kindern und Jugendlichen in der Eisenzeit Mitteleuropas 9
Sasja van der Vaart-Verschoof / Fragmente des Fürstlichen. Vorläufige Ergebnisse zu den Bestattungssitten ältereisenzeitlicher Eliten in den Benelux-Ländern 25
Martin Hees / Ein Kultplatz der Jüngeren Latènezeit bei Heilbronn-Neckargartach 39
Melanie Augstein / 'Körperbiographien'. Aspekte einer 'Archäologie des Körpers' zwischen Kultur- und Naturwissenschaften 53
Julia K. Koch, Roman Scholz / Das Große Bürgle von March-Buchheim im Breisgau. Großgrabhügel nördlich der Alpen und eine Kommunikationsroute durch den Schwarzwald 67
Hans Reschreiter / ExcavationWiki: a response to parallel worlds of archaeology 81
Karina Grömer / bekleiden – verdecken – verhüllen: Kontextualisierung und Theoriebildung zu eisenzeitlichen Grabtextilien 89
Tanja Trausmuth, Mario Wallner, Anita Gamauf / Alles, was Flügel hat, fliegt! Überlegungen zur Neuinterpretation von Vogeldarstellungen der Situlenkunst 105
Gerd Stegmaier / Keramik, Kunst und Identität: Regionale Verzierungsmuster der südwestdeutschen Alb-Hegau-Keramik als Elemente der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung 119
Rouven Turck / Eisenzeitliche Metallgewinnung im Oberhalbstein (CH, Graubünden) 131
Raimund Karl / Visualising the unknown knowns in archaeology: why prehistory must not always look the same 141
Marina Sarah Hess / Bilder und Botschaften: Gesichtsdarstellungen der Frühlatènekunst 153
Roberto Tarpini / Menschen- und Hausdarstellungen der älteren Eisenzeit: einige Überlegungen 163
Carla Backhaus / Die Anwendung des Horizont-Konzeptes bei der Konstruktion von Fibelchronologien 179
Karl Strobel / Antike Geographie und Ethnographie: Quellensteinbrüche für die Eisenzeitarchäologie? 191
Barbara Volfing / Die Kelten audiovisuell - Ansätze der Keltenvermittlung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Österreichs 221
Mario Wallner, Tanja Trausmuth / Könnte ich in diesem Foto doch bloß um die Ecke sehen! Workflow und Anwendungen von 3D-Fotodokumentation bei Grabungen am Beispiel von Meillionydd (Halbinsel Llyn, Nordwales) 233
Matthias Jung / Der Hallstatt-Fürst: Fliegender Holländer der Archäologie? Zum forschungslogischen Stellenwert von Metaphern in der Urgeschichtswissenschaft 247
Helga Rösel-Mautendorfer / verhüllen-präsentieren-betonen. Kleidungskonzepte in der Eisenzeit 257
Maria Marschler, Doris Pany-Kucera / Die 'gezeichneten Opfer' aus dem Schacht? Gelenkerkrankungen und verwandtschaftliche Beziehungen der (früh-)latènezeitlichen Skelette von Leonding/Enzenwinkl 271

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Interpretierte Eisenzeiten Fallstudien, Methoden, Theorie Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie

Raimund Karl, Jutta Leskovar (Hrsg.)

Impressum Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich Folge 42 Raimund Karl, Jutta Leskovar (Hrsg.) Interpretierte Eisenzeiten. Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Herausgegeben vom Oberösterreichischen Landesmuseum Linz 2015 ISBN 978-3-85474-315-6 Medieninhaber: Land Oberösterreich / Oberösterreichisches Landesmuseum Gerda Ridler, Wissenschaftliche Direktorin Walter Putschögl, Kaufmännischer Direktor Redaktion: Jutta Leskovar Schriftleitung: Bernhard Prokisch Grafische Gestaltung: Alexandra Bruckböck Druck: Easy-Media GmbH Linz

Inhaltsverzeichnis Nils Müller-Scheeßel, Gisela Grupe, Thomas Tütken In der Obhut von Verwandten? Die Zirkulation von Kindern und Jugendlichen in der Eisenzeit Mitteleuropas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 Sasja van der Vaart-Verschoof Fragmente des Fürstlichen. Vorläufige Ergebnisse zu den Bestattungssitten ältereisenzeitlicher Eliten in den Benelux-Ländern. . . . . . . .  25 Martin Hees Ein Kultplatz der Jüngeren Latènezeit bei Heilbronn-Neckargartach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 Melanie Augstein ‚Körperbiographien‘. Aspekte einer ‚Archäologie des Körpers‘ zwischen Kultur- und Naturwissenschaften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53 Julia K. Koch, Roman Scholz Das Große Bürgle von March-Buchheim im Breisgau. Großgrabhügel nördlich der Alpen und eine Kommunikationsroute durch den Schwarzwald. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  67 Hans Reschreiter ExcavationWiki: a response to parallel worlds of archaeology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 Karina Grömer bekleiden – verdecken – verhüllen Kontextualisierung und Theoriebildung zu eisenzeitlichen Grabtextilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  89 Tanja Trausmuth, Mario Wallner, Anita Gamauf Alles, was Flügel hat, fliegt! Überlegungen zur Neuinterpretation von Vogeldarstellungen der Situlenkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 Gerd Stegmaier Keramik, Kunst und Identität: Regionale Verzierungsmuster der südwestdeutschen Alb-Hegau-Keramik als Elemente der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Rouven Turck Eisenzeitliche Metallgewinnung im Oberhalbstein (CH, Graubünden). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Raimund Karl Visualising the unknown knowns in archaeology: why prehistory must not always look the same. . . . . . . . 141 Marina Sarah Hess Bilder und Botschaften: Gesichtsdarstellungen der Frühlatènekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Roberto Tarpini Menschen- und Hausdarstellungen der älteren Eisenzeit: einige Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Carla Backhaus Die Anwendung des Horizont-Konzeptes bei der Konstruktion von Fibelchronologien . . . . . . . . . . . . . . 179 Karl Strobel Antike Geographie und Ethnographie: Quellensteinbrüche für die Eisenzeitarchäologie?. . . . . . . . . . . . . . 191 Barbara Volfing Die Kelten audiovisuell - Ansätze der Keltenvermittlung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Österreichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Mario Wallner, Tanja Trausmuth Könnte ich in diesem Foto doch bloß um die Ecke sehen! Workflow und Anwendungen von 3D-Fotodokumentation bei Grabungen am Beispiel von Meillionydd (Halbinsel Llyn, Nordwales) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Matthias Jung Der Hallstatt-Fürst: Fliegender Holländer der Archäologie? Zum forschungslogischen Stellenwert von Metaphern in der Urgeschichtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . 247 Helga Rösel-Mautendorfer verhüllen-präsentieren-betonen. Kleidungskonzepte in der Eisenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Maria Marschler, Doris Pany-Kucera Die „gezeichneten Opfer“ aus dem Schacht? Gelenkerkrankungen und verwandtschaftliche Beziehungen der (früh-)latènezeitlichen Skelette von Leonding/Enzenwinkl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Vorwort Raimund Karl, Jutta Leskovar

Mit der Tagung vom November 2014 feierten die „Interpretierten Eisenzeiten“ ihr 10jähriges Jubiläum. 2004 waren das erste Mal Kolleginnen und Kollegen im Linzer Schloss zusammengekommen, um die Eisenzeiten aus unterschiedlichsten Blickwinkeln zu diskutieren und dabei auch Interpretationen zu wagen, die möglicherweise ungewöhnlich sind, nichtsdestotrotz der Überprüfung anhand der zur Verfügung stehenden Evidenz standhalten und vor allem weitere Überlegungen auslösen können. Es war von Beginn an die Hoffnung der Veranstalter, auf der Tagung eine Stimmung schaffen zu können, die genau dazu motiviert. Es freut uns, offenbar einen Rahmen hergestellt zu haben, der den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit gibt, „einfach einmal in den Raum hineindenken zu können“, wie eine Vortragende es bei der letzten Tagung formulierte. In diesem Geist fanden bisher sechs erfolgreiche und intensive Tagungen statt. Fünfmal war das Landesmuseum Gastgeber im Schlossmuseum bzw. in der Landesgalerie. Anlässlich der 4. „Interpretierten Eisenzeiten“ im Jahr 2010 wurde von der Regel, kein Tagungsthema vorzugeben, abgewichen und gleichzeitig der Ort gewechselt: Unter dem Titel „Die erfundenen Kelten – Mythologie eines Begriffes und seine Verwendung in Archäologie, Tourismus und Esoterik“ fand die Tagung als Kooperationsveranstaltung mit dem Keltenmuseum in Hallein statt.

Unser Dank gilt allen Vortragenden, Diskutierenden und Teilnehmenden aller Tagungen, die den oben erwähnten Raum auf so vielfältige Weise zum Hineindenken genutzt haben. Die regelmäßig und zeitnah erschienenen Tagungsbände bilden die Ergebnisse und Diskussionsprozesse ab. So vermittelt auch der vorliegende Band die große Vielfalt der auf der letzten Tagung präsentierten Beiträge, wenngleich nicht alle Vorträge vorgelegt werden. 2014 wurde mit der Absicht, möglichst viele Begegnungs- und Gesprächszonen für die Kolleginnen und Kollegen zu schaffen, eine Neuerung eingeführt, auch um dem steigenden Andrang von interessierten Vortragenden gerecht werden zu können. Einige Vorträge wurden als Kurzbeiträge im Umfang von 10 Minuten gehalten. Jeweils im Anschluss nach einigen Beiträgen bestand die Möglichkeit, im Rahmen einer verlängerten Pause mit den Vortragenden an einzelnen Stehtischen das direkte Gespräch zu suchen. Der Pilotversuch wurde einhellig als Erfolg gewertet, weswegen es dieses Format auch auf zukünftigen Tagungen geben wird. Somit entwickeln sich die „Interpretierten Eisenzeiten“ weiter, verfolgen ansonsten aber immer noch das gleiche Ziel wie vor einem Jahrzehnt: einen offenen und wohlmeinenden Diskussionsraum für wissenschaftliche Interpretationsprozesse anzubieten. Wir laden weiterhin herzlich ein, diesen Raum zu füllen.





Preface Raimund Karl, Jutta Leskovar

The conference in November 2014 constituted the 10th anniversary of ‚Interpreted Iron Ages‘. It was in 2004 when colleagues met at the Linzer Schloss for the first time to discuss Iron Age issues from various perspectives, and attempt interpretations which may sometimes seem odd at the first glance, but still stand up to scrutiny when examined against the available evidence, inspiring further ideas and considerations. From the beginning, it had been our hope as organisers of this conference that we could create an environment which enables colleagues to do just that. We are pleased that we seem to have succeeded with creating a space where, as one of the speakers at the last conference noted, ‚one can freely throw ideas into the room‘. It is in this spirit that we now can look back on six successful and exciting conferences. For five of those, the Landesmuseum in the Schlossmuseum or the Landesgalerie acted as the host for the conference. Only for the 4th ‘Interpreted Iron Ages’ in 2010, which was hosted by the Keltenmuseum in Hallein, we deviated from our normal pattern of having no set topic for the conference: “The invented Celts – Mythology of a Term and its use in Archaeology, Tourism and Esoterics”. As always, we are grateful to the speakers, discussants and participants of this and all the previous conferences, which have used the space provided in a mul-

tiplicity of ways and have shared their ideas as freely as we hoped they would. The conference proceedings, which have appeared in print regularly shortly after the conference, provide excellent summaries of the results and discussions. This 6th volume in the series provides an overview of the broad range of topics that were presented at the 2014 conference, even if a few of the speakers could not contribute to this volume in writing. At the last conference, we tested a new format of papers with the aim to provide even more opportunities for discussions and exchanges of ideas and to also satisfy the increasing demand of colleagues to contribute from the podium as speakers: some papers were presented as short discussion papers of 10 minutes only. Extended breaks between blocks of papers with each speaker available for discussion at a separate table encouraged extended, in depth discussions between interested parties on each of the papers. Since this trial seems to have met with unanimous approval, we will continue to offer the format at future instalments of the ‘Interpreted Iron Ages’ conference. Thus, the ‚Interpreted Iron Ages‘ evolve, but still adhere to their original aims and objectives of a decade ago: to offer an open and welcoming space for scholarly debates of interpretations of the different Iron Ages of Europe and beyond.We warmly invite colleagues to continue to provide content for this space.





R. Karl, J. Leskovar [Hrsg.] (2015), Interpretierte Eisenzeiten. Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich, Folge 42, Linz, 9–24.

In der Obhut von Verwandten? Die Zirkulation von Kindern und Jugendlichen in der Eisenzeit Mitteleuropas1 Nils Müller-Scheeßel, Gisela Grupe, Thomas Tütken

„Et toutes ces institutions n’expriment uniquement qu’un fait, un régime social, une mentalité définie: c’est que tout, nourriture, femmes, enfants, biens, talismans, sol, travail, services, offices sacerdotaux et rangs, est matière à transmission et reddition“ (Mauss 1923–1924: 52).

Zusammenfassung Die Zirkulation von Kindern und Jugendlichen, das heißt: das Verbringen eines großen Teils ihres subadulten Lebens außerhalb des Hauses ihrer leiblichen Eltern, ist ein weitverbreiteter Brauch in vielen traditionellen Gesellschaften. Neben wirtschaftlichen Funktionen, wird dieser Schritt weithin als soziale Maßnahme zur Sicherung und Stärkung sozialer Beziehungen gesehen. R. Karl hat einen ähnlichen Brauch für die europäische Eisenzeit vorgeschlagen, konnte jedoch nur Schriftquellen, sprachwissenschaftliche Hinweise und geschichtliche Analogien als Belege vorlegen. Wir glauben, dass weitere Hinweise aus der Analyse stabiler Isotope, speziell Strontium (Sr: 87Sr/86Sr), gewonnen werden können. Dafür haben wir Daten von sechs Gräberfeldern der mitteleuropäischen Eisenzeit mit insgesamt 175 Individuen herangezogen. In fast allen Fällen scheint es als wenn jüngere Kinder bis zu einem Alter von 6 Jahren in ihrem Heimatdorf begraben worden sind, während alle älteren Kinder zwischen 7 und 12/14 Nichteinheimische waren und daher aus einem anderen Dorf und einer anderen Region stammten. Wenn dieses Ergebnis durch weitere Forschungen bestätigt wird, wird es erheblichen Einfluss auf unsere Interpretation der Eisenzeit haben, nicht zuletzt, wie bereits von Karl angedeutet wurde, wie wir weitreichende Ähnlichkeiten in der Materialkultur zu verstehen haben.



Abstract The circulation of children and juveniles, that is : the spending of a large part of their subadult life away from the home of their biological parents, is a common practice within many traditional societies. Apart from economic functions, this institution is commonly regarded as a social means to secure and strengthen social relationships. R. Karl has proposed a similar practice for the European Iron Age, but could only bring forward written sources, linguistic hints and historical analogies as evidence. We think that further clues can be gained by the analysis of stable isotopes, especially Strontium (Sr: 87Sr/86Sr). Therefore, we have gathered data from six cemeteries of the Earlier Iron Age of Central Europe containing175 individuals. In nearly all of these cases, it seems that younger children up to an age of around 6 years were buried in their home village, while all older children between 7 and 12/14 were non-local and therefore derived from a different village and a different region. If this result holds true in future research, it will have considerable impact on our interpretation of the Iron Age, not the least, as was already suggested by Karl, how we understand long-distance similarities in the material record.

Die Zirkulation von Kindern und Jugendlichen In seinem berühmten Aufsatz zur sozialen Bedeutung der Gabe betont M. Mauss, dass alles Gegenstand des Tausches werden könne, und bereits an dritter Stelle zählt er in ­diesem Zusammenhang Kinder auf. Insbesondere die französische Forschung hat diese Anregung aufgegriffen und nicht nur den Frauentausch à la C. Lévi-Strauss, sondern auch die Pflegschaft von Kindern als zirkulative Bewegung aufgefasst (Lallemand 1993). Diese Pflegschaft ist in vielen Gesellschaften bekannt und wird mit unterschiedlichen Begriffen belegt: Neben „Pflegschaft“ (engl. fostering) wird auch von „Adoption“, „Kindermigration“, „Kindertransfer“ und Ähnlichem gesprochen.2 Von den Bezeichnungsunterschieden abgesehen, kann man darunter als kleinsten gemeinsamen Nenner eine soziale Praxis verstehen, bei der ein Kind den Haushalt seiner biologischen Eltern verlässt und relativ lange Zeit, d. h. in der Regel mehrere Jahre, in einem anderen Haushalt lebt (Alber u. a. 2013b: 5). Die Ursachen für die Zirkulation sind vielfältig: Häufig ist sie Ausdruck einer Krise in der Beziehung der leiblichen Eltern, sei es nun Scheidung oder Tod eines oder beider Elternteile (Goody 1982: 43).Weiter werden Pflegeeltern als bessere Erzieher angesehen, weil von ihnen 10

erwartet wird, dass sie – anders als die leiblichen Eltern, deren Blick durch Gefühle getrübt ist – im Notfall auch harte disziplinarische Maßnahmen durchsetzen (Goody 1982: 44). Die Kinder können durch die Zirkulation profitieren, indem sie kulturelles oder praktisches Wissen erwerben, wie es ihnen zuhause nicht möglich gewesen wäre (Burton et al. 2001: 353). Nicht zu unterschätzen ist auch der ökonomische Aspekt, d. h. dass insbesondere ­ältere adoptierte Kinder einen Faktor an Arbeitskraft darstellen (Alber 2013: 86f.). Sowohl von der britischen strukturfunktionalistischen wie der französischen strukturalistischen Schule wird aber vor allem die Bedeutung des Kindertauschs für die Konstituierung sozialer Beziehungen hervorgehoben. Nach der Britin E. Goody (1982: 47) liegt die Hauptursache für den Tausch in der dadurch bewirkten Stärkung der Beziehungen zwischen entfernteren Verwandten, in seinem ­Potential, zentrifugalen Tendenzen entgegenzuwirken, durch die eine Zersplitterung der verwandtschaftlichen Gruppen droht. Die Französin S. Lallemand (1993: 171f.) betont dagegen die Bedeutung der Kinderzirkulation für die Beeinflussung von Heiratsallianzen; durch den Kindertausch werden Heiraten entweder vorbereitet oder abgesichert. Ethnographisch ist der Zirkulation von Nicht-Erwach-

senen in afrikanischen Studien am meisten Aufmerksamkeit geschenkt worden (Goody 1982; s. zuletzt Alber u. a. 2013a), aber auch im pazifischen (Burton u. a. 2001) und südamerikanischen Raum (Leinaweaver 2008) oder in Osteuropa (Parkes 2004) wurden ähnliche Beobachtungen gemacht. Teilweise beträgt der Anteil von Haushalten mit nicht-leiblichen Kindern mehr als 20 % (Pilon 2006: 450 mit Tab. 90-6). In einer bekannten Studie einer westafrikanischen Gruppe waren über 50% der Erwachsenen ehemals adoptiert (Goody 1982: 39). Angesichts der Bedeutung, die der Zirkulation von Kindern und Jugendlichen in traditionellen Gesellschaften offenbar zukommt, ist mit ähnlichen Mechanismen auch in der Prähistorie, beispielsweise in der Eisenzeit Mitteleuropas zu rechnen. Das Modell R. Karls zur keltischen Erziehung Die Existenz einer Ziehelternschaft im eisenzeitlichen Europa, die dem oben skizzierten Kindertausch entsprechen würde, hält R. Karl (2005; auch 2010) für wahrscheinlich. Im Anschluss an H. Birkhan (1997: 1006-1009) geht er davon aus, dass es gängige Praxis war, den Kindern, vorzugsweise den Söhnen, eine Ausbildung außerhalb des Elternhauses angedeihen zu lassen. Seine Argumentation stützt sich auf drei Quellengruppen: Sprachzeugnisse, historische Analogien sowie Schriftquellen. So weist Karl auf eine Stelle bei Caesar hin, in der dieser berichtet, dass Söhne sich ihren gallischen Vätern im Knabenalter nicht nähern durften (Caesar, De bello gallico VI 18,3; bereits Birkhan 1997: 1008f.). Er deutet dies so, dass in der kulturellen Vorstellung der Kelten Väter ihre Söhne gar nicht zu Gesicht bekommen konnten, da sie sich idealerweise ab einem bestimmten Alter außerhalb ihres Heimatdorfes aufhielten. Zudem äußert sich Caesar auch dezidiert zur Ausbildung zum Druiden, die ihm zufolge mehrere Jahrzehnte dauerte (Caesar, De bello gallico VI 14,3). Karl schließt daraus, dass sie also bereits im Kinderalter begonnen haben dürfte, zumal die angehenden Druiden von ihren Vätern in die Lehre geschickt wurden.Weiter rekurriert Karl auf Überlieferungen für benachbarte Räume und Zeiten, die von einer Ausbildung außerhalb des Elternhauses berichten, etwa die Römische Kaiserzeit Germaniens oder das Irland des 6.–16. Jahrhunderts (zur mittelalterlichen Pflegschaft auf den britischen Inseln s. a. Parkes 2006). Schließlich zieht

er linguistische Hinweise heran, die seines Erachtens die Bedeutung der Ziehelternschaft in den keltischen Sprachen belegen. Karls Modell ist in sich geschlossen und birgt eine große explanatorische Kraft (dazu unten), weist jedoch ein Defizit auf: In seiner Argumentation fehlen archäologische Belege irgendeiner Art; sie fußt alleine auf seiner Interpretation der Schriftquellen, sprachlicher Indizien sowie historischer Analogien.Wir meinen, seine Hypothese mit der Analyse stabiler Strontiumisotope testen und damit ­erste Hinweise auf ihr Zutreffen liefern zu können. Herkunftsbestimmung mittels der Strontium­ isotopenanalyse Ein Residenzwechsel von Individuen zwischen zwei geo­ logischen Regionen mit unterschiedlicher Isotopenzusammensetzung des Gesteinsuntergrundes ist anhand der stabilen Isotope schwerer Elemente, vorzugsweise Strontium (Sr: 87Sr/86Sr), möglich (z. B. Bentley 2006). Strontium wird in bioverfügbarer Form von Pflanzen und Tieren aufgenommen und gelangt so in die Nahrungskette. Der Mensch nimmt Strontium überwiegend mit der Nahrung auf. Strontium zählt zu den nicht-essentiellen Spurenelementen, so dass nicht ausgeschiedenes Strontium an Stelle von Kalzium im Kristallgitter des biogenen Apatits von Knochen und Zähnen eingelagert wird. Die messtechnische Präzision des 87Sr/86Sr-Isotopenverhältnisses von < 0,002% (±0,00001) ist außerordentlich hoch, so dass die auf den ersten Blick geringeVariabilität der 87Sr/86Sr-Verhältnisse in der Realität hochsignifikant ist. Zur Definition der Isotopie des lokal bioverfügbaren Strontiums wird in der Regel eine begleitende Sr-Isotopenanalyse von Skelettresten zeitgleich sympatrisch ­lebender Kleinsäuger vorgenommen, da diese nicht nur kleine Streifgebiete haben, sondern in der Regel auch eine Mischung aus lokal verfügbarer pflanzlicher und/ oder tierischer Nahrung konsumieren. Alternativ kann auf standorttreue Wirbeltiere wie den Rothirsch oder Haustiere ausgewichen werden, deren Knochen sich im archäozoologischen Fundgut befinden. Die in den ­Wirbeltierskelettresten gemessenen 87Sr/86Sr-Verhältnisse müss­ten demnach jener des seinerzeit lokal bioverfügbaren Strontiums am nächsten kommen (Price u. a. 2003). Alternativ können auch moderne Pflanzen und Wasserproben herangezogen werden, um das lokal bioverfügba11

re Strontium einer Region zu charakterisieren (Maurer u. a. 2012). Die damit einhergehenden potentiellen methodischen Probleme (ebd.) müssen aber berücksichtigt werden. Die Spannbreite des bioverfügbaren Strontium ist der notwendige Referenzrahmen, um lokale von ortsfremden Individuen unterscheiden und damit Mobilität von Individuen nachweisen zu können. Üblich für die Provenienzanalyse von menschlichen Skelettfunden ist die 87Sr/86Sr-Analyse des Zahnschmelzes des ersten Dauermolaren, da Zahnschmelz als zell­freies Gewebe nach seiner Bildung keinem weiteren Umbau unterliegt, und der Schmelz dieses bestimmten Zahnes während der ersten drei bis vier Lebensjahre eines Individuums gebildet wird. Die Bestimmung der Herkunftsregion eines ortsfremden Individuums ist allerdings alles andere als trivial. Das 87Sr/86Sr-Verhältnis ist typisch für den geologischen Untergrund (als Funktion von Gesteins­ alter und -zusammensetzung) des Herkunftsortes, aber ähnliche sedimentäre oder kristalline Gesteine finden sich in verschiedenen Regionen der Erde. Daher können nur Ortswechsel zwischen isotopisch unterschiedlichen Regionen nachgewiesen werden. Dabei hängt die Festlegung, ob ein Individuum ortsfremd ist oder nicht, entscheidend von der Datenbasis für das bioverfügbare Sr ab. Oft fehlen detaillierte „isoscapes“ (Verteilungskarten der Sr-Isotopie), und Vergleichsdaten von Faunenresten sind limitiert. Es ist unbedingt erforderlich, darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung des Herkunftsortes jeweils nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit möglich ist. Da geologische Grenzen in der Natur häufig fließend sind und die Zusammensetzung der Gesteine räumlich variiert, ist auch die Bestimmung des „cut-off“-Wertes der Sr-Isotopie zwischen zwei fraglichen Regionen häufig schwierig. In geologisch sehr kleinräumig zonierten Regionen kann allein das Einzugsgebiet der Nahrung (in Abhängigkeit der Streifgebiete des Jagdwildes, oder auch in Abhängigkeit von der Größe der benötigten Ackerfläche) im Konsumenten eine Mischisotopie erzeugen, welche an keinem Punkt des Standortes tatsächlich ­existiert. Dies sollte bei der für den Menschen typischen, relativ verschiedenartigen Nahrung allerdings in der Regel zu einem „Averaging“-Effekt führen, bei dem in demselben Gebiet Lebende auch eine ähnliche Isotopie in ihren Skelettresten aufweisen. Von daher ist es generell einfacher, ein Individuum als ‚ortsfremd‘ zu klassifizieren, als ihm einen bestimmten Herkunftsort zuzuweisen. Die Sr12

Isotopie der ersten Molaren (M1) insbesondere subadulter Individuen aus eisenzeitlichen Nekropolen wird im folgenden genutzt, um über eine mögliche Abweichung von der abgeschätzten lokalen bioverfügbaren Sr-Isotopie Aussagen zu deren Mobilität zu treffen. Gräberfelder mit Strontiumisotopenanalysen Insgesamt liegen mittlerweile unseres Wissens von sechs eisenzeitlichen Nekropolen im Gebiet nördlich der Alpen – die zahlreichen Strontiumisotopenanalysen von eisenzeitlichen Individuen aus Siedlungskontexten (MüllerScheeßel in Vorb.; Meyer u. a. 2013; Nehlich u. a. 2007) bleiben hier unberücksichtigt – verwendbare 87Sr/86SrVerhältnisse vor (zu weiteren Datenserien s. u.). Es handelt sich dabei um die Gräberfelder bzw. Grabhügel von Müllheim-Dattingen ‚Himmelsstiege‘, den ‚Magdalenenberg‘ bei Villingen-Schwenningen, den ‚Grafenbühl‘ in Asperg,Werneck-Zeuzleben ‚Am Damm‘/‘In den großen Wiesen‘, Nebringen sowie Münsingen-Rain. Die dort an Skelettmaterial durchgeführten 87Sr/86Sr-Analysen summieren sich zu dem insgesamt ansehnlichen Datenbestand von 175 Individuen. Sowohl räumlich wie zeitlich überspannen diese Nekro­ polen einen großen Bereich. Räumlich liegen sie fast auf einer Linie, die von Münsingen-Rain im Südosten bis Werneck-Zeuzleben im Nordosten über 400 km den gesamten südwestdeutschen Raum quert. Naturräumlich befinden sich die meisten der hier behandelten Gräberfelder im Gebiet der fruchtbaren Lößebenen von Rhein, Main und Neckar (Abb. 1). Zeitlich beginnen die beiden frühesten Nekropolen, der ‚Magdalenenberg‘ und Müllheim-Dattingen, bereits in der Hallstattzeit mit Stufe HaD1, es folgt der ‚Grafenbühl‘ mit hauptsächlich HaD3-zeitlichen Gräbern. Die Individuen der drei restlichen Gräberfelder sind alle frühlatènezeitlich: Münsingen-Rain datiert in die Stufen LtA bis C, Nebringen nach LtA und B und Werneck-Zeuzleben wohl ausschließlich nach LtB. Da das geologische Umfeld der Gräberfelder unterschiedlich ist und damit auch die 87Sr/86Sr-Verhältnisse nur bedingt direkt miteinander vergleichbar sind, werden die Gräberfelder im Folgenden zunächst jedes für sich besprochen. Methodenbedingt kann die Bestimmung des biologischen Geschlechts nach morphologischen Merkmalen nicht mit absoluter Sicherheit durchgeführt werden,

Abb. 1:  Lage der im Text behandelten Fundplätze. Quadrat – Grabhügel/Gräberfeld; Dreieck – ‚Dietersberghöhle‘; grau dargestellt – größere zusammenhängende Lößflächen (Grafik: N. Müller-Scheeßel; Lößdaten nach Haase u. a. 2007).

insbesondere wenn das Skelettmaterial wie dasjenige aus ‚regulären‘ Gräbern häufig schlecht erhalten ist. Diesem Umstand wird meist dadurch Rechnung getragen, dass die Bestimmungssicherheit mehrfach gestaffelt wird, beispielsweise in sicher männlich bzw. weiblich, wahrscheinlich männlich bzw. weiblich sowie unsicher männlich bzw. weiblich. Um die Datensätze ausreichend groß zu halten, wird im Folgenden von dieser Staffelung abgesehen. Anthropologisch werden die subadulten Altersklassen innerhalb der deutschsprachigen Forschung meist in Infans I, Infans II und Juvenil gegliedert (Herrmann u. a. 1990). Dies entspricht einem Alter in Jahren von 0 – 6, 7 –12 bzw. 13–18/20. Die grundlegende Trennung in Kind (= Infans I + II) und Jugendlicher (= Juvenil), die universell vorhanden zu sein scheint (Schlegel 1995), stimmt weitgehend mit unserem Altersverständnis überein;3 die Glie-

derung der Subadulten folgt deshalb weitgehend diesem Schema, sofern es die hier verwendeten, teilweise bereits publi­zierten Daten zulassen. Müllheim-Dattingen Müllheim-Dattingen liegt in einer geologisch recht heterogenen Region, welche durch die fluviatilen quartären Ablagerungen des Rheins, aber auch pleistozäne eiszeitliche Sedimente und tertiäre Vulkanite geprägt ist. In Anbetracht der geologischen Heterogenität und einer möglichen variablen räumlichen Verteilung von Anbauflächen und damit des unmittelbaren Einzugsbereichs für die Nahrungsbeschaffung der Menschen ist die Fest­ legung einer ‚lokalen‘ bioverfügbaren Sr-Isotopie für die Individuen aus der Nekropole problematisch, zumal keine tierischen Vergleichsdaten von dort vorliegen. Geht man 13

Abb. 2: Histogramm des 87Sr/86Sr-Isotopenverhältnisses der Individuen von Müllheim-Dattingen, ‚Himmelsstiege‘, nach Geschlecht bzw. Alter gegliedert (Daten nach Müller-Scheeßel u. a. in Vorb. a). Der angenommene ‚lokale‘ Wertebereich (zur Erläuterung s. Text) ist dunkler dargestellt (Grafik: N. Müller-Scheeßel).

von der unmittelbaren Umgebung aus, sollten die Werte ‚lokaler‘ Individuen im Bereich der Lößzusammensetzung, also zwischen 0,709 und 0,710 liegen (Bentley 2006: 145 fig. 4). Tatsächlich fallen die meisten der 18 beprobten Individuen in diesen Bereich (Daten bei Müller-Scheeßel u.a. in Vorb. a). Die Werte schwanken zwischen 0,70843 und 0,71097 mit dem arithmetischen Mittel bei 0,70975 und dem Median bei 0,70963 (Abb. 2). Vier von den sechs weiblichen und drei von den sechs männlichen Individuen liegen innerhalb des ‚Lößsignals‘, weisen aber leicht abweichende Maxima auf, was eine tendenziell unterschiedliche Herkunft der beiden Geschlechtergruppen anzeigen könnte. Welches von den beiden Maxima dann allerdings das tatsächlich ‚lokale‘ Signal darstellt, lässt sich derzeit aufgrund der geringen Datenmenge nicht entscheiden. Zumindest das zweite Maximum bei den Frauen knapp unterhalb 0,711 deutet wohl auf ortsfremde Individuen. Bei den Subadulten galt dies vermutlich auch für die Mehrzahl der juvenilen Individuen; dagegen waren sowohl die Infans I-Individuen wie das Infans II-Individuum tendenziell eher ‚lokaler‘ Herkunft. 14

Magdalenenberg Der derzeit größte Datenbestand stammt mit 76 Analysen vom ‚Magdalenenberg‘ bei Villingen-Schwenningen (Daten bei Oelze u. a. 2012a). Allerdings zeigen sie ein schwierig zu interpretierendes Bild, da ihr Wertebereich praktisch das gesamte für Süddeutschland zu erwartende Spektrum umfasst: Die Daten streuen zwischen 0,70725 und 0,71923 mit dem arithmetischen Mittel bei 0,71296 und dem Median bei 0,71341 (Abb. 3). Für den den ‚Magdalenenberg‘ umgebenden Muschelkalk ist nach Oelze u. a. (ebd. 416; s. a. Oelze u. a. 2012b: 755 tab. 2 [Bäume, Sträucher und Schnecken]) eine Variationsbreite von 0,70767 bis 0,71135 (arithmetisches Mittel +/- 2 Standardabweichungen) zugrunde zu legen. Selbst bei dieser erheblichen Spannbreite des ‚lokalen‘ Signals wären die meisten Individuen immer noch ‚ortsfremd‘, und dies gilt sowohl für männliche wie für weibliche Individuen. Im vorliegenden Zusammenhang relevant ist allerdings vor allem der Vergleich mit den subadulten Individuen, auch wenn deren Zahl relativ klein ist.Von den drei Infans IIndividuen entspricht eines mit 0,7097 der lokalen Signatur, die beiden anderen liegen wesentlich höher bei 0,7175

Abb. 3: Histogramm des 87Sr/86Sr-Isotopenverhältnisses der Individuen von Villingen-Schwenningen, ‚Magdalenenberg‘, nach Geschlecht bzw. Alter gegliedert (Daten nach Oelze et al. 2012). Der angenommene ‚lokale‘ Wertebereich (zur Erläuterung s. Text) ist dunkler dargestellt (Grafik: N. Müller-Scheeßel).

und damit in dem Bereich des höchsten Maximums der männlichen Individuen. Mit den Infans II-Individuen gibt es keinerlei Überschneidung; vier der fünf Individuen zeigen Werte um 0,7155 und entsprechen damit exakt dem höheren Maximum der weiblichen Individuen. Asperg Für den Grabhügel ‚Grafenbühl‘ in Asperg liegen keine Vergleichsanalysen an Tierknochen vor, allerdings kann gerade das mittlere Neckarland als isotopenanalytisch sehr gut erschlossen gelten (s. die Zusammenstellung bei Stephan 2009). Zusätzlich wurden von den nördlich und südlich von Asperg gelegenen eisenzeitlichen Siedlungen von Walheim und Stuttgart-Mühlhausen insgesamt elf Analysen an tierischen Knochen (Schaf/Ziege und Rind) durchgeführt (Daten bei G. Grupe, Th. Tütken in Müller-Scheeßel in Vorb.). Ihre Streuung bewegt sich exakt in dem für Lößböden zu erwartenden Schwankungsbereich von 0,7093–0,7099 (arithmetisches Mittel +/- 2 Standardabweichungen). Insofern darf man auch für die Individuen vom Asperg ein ‚lokales‘ Signal erwarten, das sich, konservativ geschätzt, im Bereich zwischen 0,709 und 0,710 bewegt.

Die insgesamt zwölf Strontiumanalysen von menschlichen Individuen zeigen demgegenüber eine wesentlich größere Spannbreite (Abb. 4): Sie schwanken zwischen 0,70942 und 0,71211 mit dem arithmetischen Mittel bei 0,71058 und dem Median bei 0,71049 (Daten bei MüllerScheeßel u. a. in Vorb. a). Bei den erwachsenen Individuen zeigt sich eine deutliche Zweiteilung: Alle aufgrund ihrer Beigaben als ‚weiblich‘ einzustufenden Individuen4 weisen deutlich höhere Werte als das ‚lokale‘ Signal auf, stammen also relativ sicher von außerhalb. Demgegenüber zeigen die hinsichtlich der Beigaben indifferenten erwachsenen Individuen – mutmaßlich Männer, darunter auch das Individuum aus dem Zentralgrab – überwiegend ein ‚Lößsignal‘. Die drei Subadulten weisen kein konsistentes Muster auf: Das Infans I- wie das juvenile Individuum sind, den Werten zufolge, vermutlich eher ‚lokal‘, während das Infans II-bestimmte relativ sicher anderswo aufgewachsen ist; seine Werte liegen etwa in dem Bereich eines der ‚weiblich‘ ausgestatteten Skelette. Münsingen-Rain Auch die 38 Analysen von Münsingen-Rain (Daten bei Scheeres et al. 2015) zeigen nach Ausschluss eines extre15

Abb. 4: Histogramm des 87Sr/86Sr-Isotopenverhältnisses der Individuen von Asperg, ‚Grafenbühl‘, nach archäologischer Geschlechterrolle bzw. Alter gegliedert (Daten nach Müller-Scheeßel u. a. in Vorb. a). Der angenommene ‚lokale‘ Wertebereich (zur Erläuterung s. Text) ist dunkler dargestellt (Grafik: N. Müller-Scheeßel).

Abb. 5: Histogramm des 87Sr/86Sr-Isotopenverhältnisses der Individuen von Münsingen-Rain, nach Geschlecht bzw. Alter gegliedert (Daten nach Scheeres et al. 2015). Der angenommene ‚lokale‘ Wertebereich (zur Erläuterung s. Text) ist dunkler dargestellt (Grafik: N. Müller-Scheeßel).

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Abb. 6: Histogramm des 87Sr/86Sr-Isotopenverhältnisses der Individuen von Nebringen, nach Geschlecht bzw. Alter gegliedert (Daten nach Scheeres et al. 2013). Der angenommene ‚lokale‘ Wertebereich (zur Erläuterung s. Text) ist dunkler dargestellt (Grafik: N. Müller-Scheeßel).

men Wertes unbekannten Geschlechts bei 0,71691 nur eine geringe Spannbreite: Sie reichen von 0,70817 bis 0,70967 (Abb. 5). Aufgrund der Analysen von Tierknochen ist die lokale Signatur bei 0,7083–0,7087 (arithmetisches Mittel +/- 2 Standardabweichungen [ohne Ausreißer]) anzusetzen. Danach wären sowohl alle Frauen wie auch die meisten Kinder als lokal einzuschätzen, da ihre Daten größtenteils in diesem Bereich schwanken. Das Maximum der Männer liegt demgegenüber mit 0,7086 – 0,7087 am oberen Ende des lokalen Wertebereichs; zudem streuen ihre Werte bis 0,7094. Im Vergleich mit den anderen Gräberfeldern ist dies zwar immer noch relativ moderat, jedoch kann man davon ausgehen, dass ein Teil der Männer seine ersten Lebensjahre nicht im Umfeld von Münsingen zugebracht hat. Diese Interpretation wird auch durch die d18O-Werte unterstützt (ebd.). Nur von acht Individuen liegen Daten von mehreren Zähnen eines Individuums vor. Bei zwei von ihnen, leider beide nicht geschlechtsbestimmt, beträgt der Unterschied zwischen M1 und M2/M3 mehr als 0,0005, was einem Anteil von 25% entspricht.

Nebringen Die an den ersten Molaren gemessenen 87Sr/86Sr-Verhältnisse aus Nebringen zeigen nur eine vergleichsweise geringe Variabilität (Daten bei Scheeres et al. 2013): Die Strontiumwerte der 17 Individuen schwanken lediglich zwischen 0,70917 und 0,71050 bei einem arithmetischen Mittelwert von 0,70976 und einem Medium von 0,70979 (Abb. 6). Die lokale Signatur lässt sich durch Analysen menschlicher Knochen auf den Wertebereich 0,7089 bis 0,7095 (arithmetisches Mittel +/- 2 Standardabweichungen) festlegen, was unproblematisch mit der von Löß dominierten geologischen Umgebung in Deckung zu bringen ist (ebd.). In diesem Fall wären vier der männlichen, aber nur zwei der weiblichen Individuen als lokal einzustufen. Umgekehrt sind nur drei Männer, aber fünf Frauen vermutlich nicht-lokal. Dasselbe würde auch für alle drei subadulten Individuen zutreffen, davon fallen zwei in einen auch bei den Erwachsenen anzutreffenden Wertebereich. Analysen anderer Isotopen (z. B. d18O-Werte) liegen nicht vor bzw. wurden nicht publiziert, so dass ein Ab17

Abb. 7: Histogramm des 87Sr/86Sr-Isotopenverhältnisses der Individuen von Werneck-Zeuzleben, ‚Am Damm‘/‘In den großen Wiesen‘, nach Geschlecht bzw. Alter gegliedert (Daten nach Müller-Scheeßel u. a. in Vorb. a). Der angenommene ‚lokale‘ Wertebereich (zur Erläuterung s. Text) ist dunkler dargestellt (Grafik: N. Müller-Scheeßel).

gleich mit anderen Isotopien nicht möglich ist. Dafür wurden bei den meisten Individuen zwei Zähne beprobt, so dass Strontiumisotopendaten aus unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Zahnapparats (zumeist M1 und M3) vorliegen. Bei vier von 16 Individuen, d. h. 25%, – dreien der insgesamt sieben Frauen sowie einem Mann – beträgt der Unterschied zwischen den 87Sr/86Sr-Verhältnissen der beiden Zähne mehr als 0,0005. Werneck-Zeuzleben Die Strontium-Analysen der 14 Individuen aus WerneckZeuzleben streuen zwischen 0,70934 und 0,71230 mit arithmetischem Mittel und Median jeweils bei 0,7106 (Daten bei Müller-Scheeßel u. a. in Vorb. a). Leider liegt für Werneck-Zeuzleben nur eine tierische Vergleichsanalyse (Schermaus) vor, mit dem sich der lokale Bereich ermitteln ließe.Vom geologischen Untergrund des Umfelds des Gräberfelds, der im Wesentlichen aus Löß besteht, wären eigentlich Werte zwischen 0,709 und 0,710 zu erwarten. Danach wären aber lediglich zwei Individuen als ‚lokal‘ einzustufen, darunter kein erwachsenes. Auch die tierische Vergleichsanalyse liegt mit 0,71101 wesentlich höher als 18

der Erwartungswert.Vermutlich schlägt hier kleinräumig der im weiteren Umfeld ebenfalls anzutreffende KeuperUntergrund durch, bei dem diese höheren Werte nicht überraschen würden. Insofern ist das ‚lokale‘ Signal eher im Bereich der Masse der Daten und damit zwischen 0,710 und 0,7115 anzusetzen (s. auch die Zusammenstellung bei Stephan 2009: 66 Abb. 2), wodurch die beiden Infans IIndividuen sowie alle drei Männer und alle sechs weiblichen Individuen ‚lokal‘ wären. Demgegenüber sind alle drei Infans II-Individuen dann ‚ortsfremd‘: Das als „eher männlich“ und „ca. 12jährig“ bestimmte Individuum aus Grab 25 weist mit einem 87Sr/86Sr-Wert von 0,7123 den höchsten Wert des Datensatzes aus Werneck-Zeuzleben überhaupt auf. Auch die niedrigsten Werte sind Infans II zuzuordnen: Diese Individuen wurden anthropologisch als 8–9jährig bzw. 9–11jährig eingestuft. Diskussion Die aus der Analyse stabiler Isotope – vor allem Strontium, in geringerem Maße auch Sauerstoff – ableitbaren Interpretationen der sechs Gräberfelder sind nicht in komplette

Fundort Nebringen Münsingen Magdalenenberg Werneck-Zeuzleben Asperg Müllheim-Dattingen

Residenz patri-/virilokal ++ -++ +/-

Infans I lokal + + + +

Infans II ortsfremd ++ + ++ ++ + -

Tab. 1:  Gegenüberstellung der Interpretation für die sechs Nekropolen in Hinsicht auf Residenzwahl und Herkunft der Infans I- und II-Individuen.

Kohärenz zu bringen; dies ist allerdings aufgrund des breiten chronologischen wie chorologischen Spektrums auch nicht unbedingt zu erwarten. Dennoch schälen sich einige Gemeinsamkeiten heraus (Tab. 1):Angefangen bei der verwandtschaftlichen Organisation der Eisenzeit im Raum nördlich der Alpen, ergeben sich unseres Erachtens einige Argumente für patrilokale bzw. virilokale Residenzregeln, d. h. dass ein Paar nach der Eheschließung ihr Heim nahe der Familie des Mannes wählte. Dies ist zumindest für den ‚Grafenbühl‘ in Asperg sowie das Gräberfeld von Nebringen5 anzunehmen, bei denen sich bei den Strontiumwerten deutlich Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Individuen ergeben. Während die Daten vom ‚Magdalenenberg‘ aufgrund der dortigen Heterogenität keine klare Aussage erlauben, scheinen die Gräberfelder von Müllheim-Dattingen, Münsingen und Werneck-Zeuzleben dagegen eher gegen Virilokalität zu sprechen. Zumindest im Fall von Müllheim-Dattingen fällt allerdings ein Teil der weiblichen Individuen in ein enges Fenster, das klar außerhalb des ‚Lößsignals‘ liegt; ein Teil der Frauen kam also wohl auch hier von außerhalb. Lediglich im Fall von Münsingen-Rain scheint dieses Szenario nicht zuzutreffen: Dort sind Frauen und Kinder wahrscheinlich größtenteils, wenn nicht insgesamt lokal, während ein Teil der Männer zugewandert scheint. Deutlicher fällt das Ergebnis unseres Erachtens für unser Kernanliegen, die Frage nach der Herkunft der subadulten Individuen aus. Bis auf den ‚Magdalenenberg‘, der allerdings innerhalb der Fundorte aufgrund der Heterogenität der Daten eine Sonderstellung einnimmt, fallen alle Infans I-Individuen, d. h. Kinder von 1 bis 6 Jahren, in den Bereich des ‚lokalen‘ Signals. Dies kontrastiert deutlich mit

den älteren Kindern, jenen also, die zwischen 7 und 12 bis 14 Jahre alt sind. Besonders deutlich ist deren nicht-lokale Herkunft im Fall der Gräberfelder von Nebringen, dem ‚Magdalenenberg‘ sowie Werneck-Zeuzleben. Auch beim ‚Grafenbühl‘ hat das einzige Infans II-Individuum seine frühesten Kindheitsjahre sicherlich anderswo zugebracht. Selbst unter den subadulten Individuen von ­MünsingenRain sind einige, die etwas außerhalb des lokalen Strontiumsignals liegen und deshalb wohl nicht aus Münsingen selbst stammen. Lediglich im Fall von Müllheim-Dattingen kommt das einzige Infans II-Individuum wohl aus einem Bereich mit Löß-Untergrund, könnte also lokal sein. Allerdings ist dazu im Vergleich bereits die Mehrzahl der jugendlichen Bestatteten nicht-lokal. Mit wenigen Ausnahmen zeichnet sich folglich bei allen Gräberfeldern ein Muster ab, bei dem die jüngeren Kindern bis ungefähr zum Alter von sechs Jahren wahrscheinlich in dem ihrem Heimatdorf zugeordneten Friedhof auch begraben wurden, während die älteren Kindern zum allergrößten Teil nicht dort aufgewachsen sind, wo man sie bestattete. Über ihre Herkunft und ihre Beziehung zu den sonstigen auf der betreffenden Nekropole Bestatteten kann zum derzeitigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. DieVermutung einer konsanguinen verwandtschaftlichen Beziehung liegt selbstverständlich nahe; sofern die Zusatzhypothese einer grundsätzlich virilokalen Residenzregel zutrifft, könnte es sich beispielsweise um die Mütterbrüder gehandelt, zu denen in vielen verwandtschaftlichen Systemen enge Beziehungen von Ego unterhalten werden.Von den Daten wird dieseVermutung allerdings kaum gestützt. In diesem Fall wäre nämlich eine Übereinstimmung zwischen den Maxima bei weiblichen und Infans 19

II-Individuen zu erwarten. Dies lässt sich aber weder bei den Gräberfeldern vom ‚Grafenbühl‘, noch bei demjenigen von Nebringen, Münsingen-Rain, Müllheim-Dattingen oder Werneck-Zeuzleben erkennen. Insbesondere im letzteren Fall scheinen die Daten im Gegenteil nahezulegen, dass zwischen den Infans II-Individuen und den Erwachsenen keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen bestanden haben. Lediglich beim ‚Magdalenenberg‘ gibt es eine ausgeprägte Übereinstimmung zwischen Infans II und einem Teil der weiblichen Individuen; hier könnten erstere also zu ihren nach der Heirat nahe dem ‚Magdalenenberg‘ lebenden Tanten väterlicherseits zur Obhut geschickt worden sein. Der ‚Magdalenenberg‘ steht damit aber, wie bereits betont, bisher alleine da. Auch wenn also eine enge verwandtschaftliche Beziehung in diesem Fall durchaus wahrscheinlich erscheint, war Verwandtschaft ­offenbar nicht das einzige Auswahlkriterium, nach denen eine Pflegschaft entschieden wurde. Zusammenfassend ergeben sich also durch die Analyse stabiler Strontiumisotope starke Argumente für ein Austauschsystem, das die Zirkulation von Kindern beinhaltete. Oberhalb der Altersgrenze von sechs Jahren dürften die Kinder in die Obhut von Zieheltern gegeben worden sein, wobei diese ‚Gabe‘ im Sinne M. Mauss’ wenigstens teilweise wechselseitig erfolgt sein dürfte. Lediglich im Fall des ‚Magdalenenberg‘ ergeben sich Hinweise darauf, dass die Wahl des neuen Wohnortes nach verwandtschaftlichen Prinzipien erfolgte; in einer Zeit erhöhter Mobilität mag die von E. Goody hervorgehobene Stärkung von verwandtschaftlichen Beziehungen eine besondere Attraktivität gehabt haben. In vielen Fällen spielten aber wohl andere Erwägungen eine Rolle. Zu denken ist hier an die Perpetuierung von Klientelbeziehungen, die Schaffung oder Aufrechterhaltung von Allianzen oder die Erlangung von handwerklichem Spezialwissen. Insbesondere R. Karl (2005; auch 2010) hat auf die Bedeutung der Schaffung künstlicher Verwandtschaftsverhältnisse hingewiesen, die der Kindertausch ermöglichte. Damit wurde der soziopolitische Aktionsradius für alle Beteiligten, d. h. die Eltern, die Zieheltern, nicht zuletzt aber auch die Kinder, bedeutend vergrößert. So existierte auch außerhalb der engeren Verwandtschaftsgruppe ein Netz von Anlaufpunkten, die großräumige Mobilität ­erheblich erleichtert haben dürften. Karl weist darauf hin, dass darüber hinaus der Institution Ziehelternschaft ein großes Potential für die Erklärung des Transfers ­kultureller 20

Informationen über große Distanzen hinweg innewohnt. Mit der Zirkulation von Kindern benötigt man keine ‚Wanderhandwerker‘, um die Selbstähnlichkeit archäologischer Sachkultur zwischen räumlich substantiell entfernten Lokalitäten zu erklären, sondern sie ergibt sich durch die natürliche Aufnahmebereitschaft der Kinder. Man darf erwarten, dass diese nach der Rückkehr an ­ihren neuen ‚alten‘ Wohnort einen Teil ihrer kulturellen Prägung ‚ausgelebt‘ und so weitergegeben haben. Ausblick Insgesamt glauben wir, mithilfe der Analyse stabiler Strontiumisotope Hinweise für die Existenz eines Systems der Zirkulation von Kindern zu sehen, wie sie aus der ­Ethnographie bekannt sind. Sollte unsere Annahme zutreffen, hätte dies gerade für die Interpretation von Analysen stabiler Isotope durchaus signifikante Konsequenzen. Sofern eine Ernährungsumstellung ausgeschlossen werden kann, stellt ein solches System eine mögliche Erklärung dar für Unterschiede in den Isotopensignalen aus verschiedenen Lebensphasen eines Individuums – beispielsweise Strontiumwerte des bereits in den ersten Lebensjahren angelegten ersten Molars (M1) und des erst im jugendlichen Alter angelegten dritten Molars (M3).6 Möglicherweise ist dies auch eine teilweise Erklärung für die Heterogenität der Analysen vom ‚Magdalenenberg‘: Da das Zahn- und Knochenmaterial aus dem ‚Magdalenenberg‘ relativ schlecht erhalten ist, konnte nicht ausschließlich auf den M1 zurückgegriffen werden, fallweise ließ sich offenbar nicht einmal mehr die Zahnposition sicher bestimmen (s. die Auflistung bei Oelze u. a. 2012a: 410 –412 Tab. 1). Selbstverständlich ist es notwendig, unsere Argumentation durch weitere vergleichbare Daten in Zukunft zu überprüfen. Aus demselben Zeitraum liegen derzeit unseres Wissens nur Daten aus weiter östlich gelegenen Gebieten vor, insbesondere der bayerischen Schotterebene (Vohberger 2007; Interpretation aus archäologischer Sicht: Eggl 2007) sowie Böhmen (Scheeres et al. 2014). Für die 47 Analysen von insgesamt zwölf frühlatènezeitlichen Gräberfeldern in der bayerischen Schotterebene wurden die Primärdaten bisher nicht vorgelegt; von den Kindern und Jugendlichen heißt es lediglich, dass sie größtenteils ‚lokal‘ seien (Eggl 2007: 244). Bei den drei böhmischen, ebenfalls frühlatènezeitlichen Gräberfeldern fehlen kindliche

Individuen leider weitgehend; abgesehen davon zeigen jedoch auch die Daten der Erwachsenen eine so große Bandbreite, dass die Autoren der entsprechenden Studie der Aussagekraft ihrer eigenen Daten misstrauen (Scheeres et al. 2014: 509). Immerhin liegt aus derselben Zeit, wenn auch aus anderem Kontext, mit den Analysen aus der in Oberfranken gelegenen ‚Dietersberghöhle‘ bei Egloffstein eine weitere Serie aus demselben Raum vor (MüllerScheeßel u. a. in Vorb. b). Auch dort bestehen zwischen den Altersgruppen Infans I, Infans II sowie Juvenil kaum Überschneidungen in Hinsicht auf die Strontiumwerte, so dass eine nicht-lokale Herkunft der älteren Subadulten wahrscheinlich erscheint. Da der Deponierungskontext der ‚Dietersberghöhle‘ allerdings mit demjenigen der ‚regulären‘ Gräberfelder a priori nur bedingt vergleichbar erscheint, wirft diese Koinzidenz zusätzliche Fragen auf (s. dazu ebd.). Stärker als bisher sollten auch intraindividuelle Zahnvergleiche vorgenommen werden; mit einer Beprobung und Analyse von M1 und M2 (bzw., sofern vorhanden, M3) insbesondere juveniler Individuen, bei denen nach dem hier vorgestellten Modell zu erwarten wäre, dass die später gebildeten Zähne auch eher lokale Werte annehmen, ließe sich ein Wohnortwechsel möglicherweise nachweisen. Schließlich könnten, falls erhalten, aDNA-Analysen an Erwachsenen und Kindern mit gleichen, aber auch unterschiedlichen 87Sr/86Sr-Verhältnissen durchgeführt werden, um deren verwandtschaftliche Beziehungen zu klären. Im Rahmen der Annahme einer eisenzeitlichen Institutionalisierung des Austausches von Kindern ergeben sich zahlreiche weitere Fragen. Zum einen stellt sich die Frage nach der zeitlichen Tiefe: Wo liegen die Ursprünge der Sitte, die Kinder zu Zieheltern zu geben? Die frühesten hier diskutieren Bestattungen, jene vom ‚Magdalenenberg‘ genauso wie die von Müllheim-Dattingen, datieren im Wesentlichen nach HaD1. Ist die Sitte also hier anzusetzen oder reicht sie weiter zurück? Weiter wirft der Bestattungsort der 7–12jährigen die Frage nach den Gründen dafür auf; offenbar wurden die Kinder nicht mehr zum Wohnort der leiblichen Eltern transportiert. Signalisiert die Bestattung nahe dem Wohnort der Zieheltern also die Bindung zu diesen oder war sie in erster Linie be-

dingt durch die räumliche Entfernung zu den leiblichen ­Eltern, die einen Transport des kindlichen Leichnams mühsam, wenn nicht unmöglich gemacht hätte? Schließlich muss der quantitative Rahmen der Ziehelternschaft problematisiert werden: Offenbar wurden bei den Kinder der Altersstufe Infans II nur solche von auswärts auf den Gräberfeldern bestattet. Bedeutet dies, dass alle Kinder ‚zirkulierten‘? Sowohl bei Nebringen wie auch bei Münsingen-Rain ergab sich eine Quote von 25% von erwachsenen Individuen, deren M1 und M3 stark voneinander differierende Isotopien zeigen (hier bei > 0,0005 angesetzt). Entspricht dies dem Anteil von ‚zirkulierten‘ Kindern oder sind die anderen lediglich in weniger weit (= weniger abweichende Isotopenverhältnisse) aufweisende Gegenden geschickt worden? Wenn nicht alle Kinder ‚zirkulierten‘, wo sind dann die Daheimgebliebenen? Immerhin gibt es Hinweise, dass unter einer anderen Form der Bestattung, den Toten aus Siedlungskontexten, ältere Kinder überrepräsentiert sind (Müller-Scheeßel in Vorb.). Möglicherweise sind dies diejenigen früh verstorbenen Kinder, für die ihre leiblichen Eltern keine Zieh­ eltern finden konnten oder wollten. Selbst wenn diese Interpretation zutreffen sollte, bleibt allerdings unklar, ob die Sitte des Kindertausches nur von einem Segment der Gesellschaft ausgeübt wurde oder alle Schichten erfasste. Damit wird automatisch die Frage nach der Repräsentativität der Gräberfelder in demographischer Hinsicht berührt (dazu Müller-Scheeßel 2007; Eggl 2009). Wie so häufig, ergeben sich also aus der Klärung eines Sachverhalts – die zuerst von R. Karl geäußerte Hypothese der Institution eines Kindertauschs in der Eisenzeit – zahlreiche neue Fragen, die durch die weitere Forschung in die eine oder andere Richtung zu erhellen sind. Nicht zuletzt ein wichtiger Aspekt dabei dürfte darin bestehen, die Elternrolle in der Eisenzeit – oder überhaupt der Urgeschichte – zu hinterfragen (analog Goody 1982: 34 für die Ethnologie). Durch unsere eigene Sozialisation genötigt, sehen wir die kindliche Fürsorge durch die biologischen Eltern als die einzig ‚natürliche‘ an. Dass aber das ‚Teilen‘ von Erziehungsaufgaben sowohl zwischen Verwandten als auch Nicht-Verwandten vermutlich bereits in der Eisenzeit eine wichtige soziale Institution darstellte, wird erst durch den ‚Blick über den Tellerrand‘ bewusst.

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Anmerkungen 1 Wir möchten uns bei Jutta Leskovar und Raimund Karl für die freundliche Aufnahme während der „6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie“ und die großzügige Auslegung der Deadline für den Tagungsband bedanken. – Die hier vorgestellten Daten wurden zu einem großen Teil im Rahmen des DFG-Projektes „Siedlungsbestattungen der Hallstatt- und Frühlatènezeit in Süddeutschland: zum ältereisenzeitlichen Umgang mit den Toten“ (GZ: MU 3053/1-2) erhoben; wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung. 2 Allgemeine Übersicht zum Begriff, den ursächlichen Szenarien und alternativen Termini: Pilon 2006: 450; zur Diskussion der theoretischen Ansätze s. zusammenfassend Alber 2013. 3 Definition der verschiedenen Altersklassen beispielsweise bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Jugend#Definitionen_der_.E2.80.9EJugend.E2.80.9C (31.12. 2014).

4 Die Individuen aus dem ‚Grafenbühl‘ wurden zwar bereits in den 1960er Jahren anthropologisch bestimmt (Ehrhardt, Simon 1970), jedoch sind diese Altanalysen als unzuverlässig einzuschätzen (Burmeister, Müller-Scheeßel 2005: 93), so dass in diesem Fall der archäologischen Geschlechterrollenzuweisung der Vorzug gegeben wird. 5 Dies im Übrigen gegen die explizite Deutung von Scheeres u. a. (2013: 3622), die den ‘lokalen’ Wertebereich breiter fassen, als es ihre eigenen Vergleichsmessungen nahelegen, und so die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Individuen übersehen. 6 In diese Richtung gehen auch Erwägungen von Scheeres et al. (2014: 507), um die große Variabilität ihrer böhmischen Daten zu erklären.

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Fragmente des Fürstlichen. Vorläufige Ergebnisse zu den Bestattungssitten ältereisenzeitlicher Eliten in den Benelux-Ländern. Sasja van der Vaart-Verschoof

Zusammenfassung Die herausragenden Fürstengräber der Hallstattzeit in den Benelux-Ländern werden über ihre Grabbeigaben definiert: Schwerter oder andere Waffen, reich verziertes Pferdegeschirr und Wagenbestandteile, Bronzegefäße,Werkzeuge und Schmuck-/Trachtbestandteile. Diese Objekte, bei denen es sich zumeist um Importe aus Mitteleuropa handelt, finden sich in diesen Brandgräbern in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Bekannte Beispiele sind das Fürstengrab von Oss, das Wagengrab von Wijchen und die Elitenekropole von Court-St-Etienne. Neben diesen gibt es aber auch zahlreiche derartige Bestattungen, die bis dato außerhalb der Benelux-Länder kaum bekannt sind und wenn überhaupt nur selten in Studien zu ältereisenzeitlichen Eliten in Europa Beachtung fanden. Diese Bestattungen werden derzeit umfassend und zum ersten Mal in ihrer Gesamtheit untersucht. Durch Grundlagenforschung zu den Grabbeigaben und den Gräbern selber können neue Erkenntnisse zu und Interpretationen dieser außergewöhnlichen Bestattungen erarbeitet werden. In diesem Beitrag sollen einige vorläufige Ergebnisse dieser derzeit laufenden Untersuchungen präsentiert werden. Als Fallbeispiel dient hierfür einer der herausragenden Funde der Niederlande, der außerhalb der Benelux-Länder derzeit fast vollständig unbekannt ist: das Fürstengrab von Rhenen. Im Hinblick auf die Grabbeigaben ähneln die Bestattungen aus den Niederlanden und aus Belgien den Fürstengräbern in Mitteleuropa. Die Verstorbenen wurden dabei aber auf eine Art und Weise behandelt, die deutlich von den Bestattungssitten in Mitteleuropa abweicht. Es zeigt sich, dass die verstorbenen Mitglieder der Elite mit speziellen und importierten Objekten beigesetzt wurden, diese Objekte aber, wie auch die Verstorbenen selber, nach den lokalen Gepflogenheiten behandelt wurden. Die Verstorbenen und die Objekte wurden oft dem Feuer ausgesetzt, absichtlich verbogen oder gebrochen und nur in Teilen niedergelegt. Es scheint, dass in den lokalen Bestattungspraktiken Feuer, Veränderung und Fragmentierung sowie pars-pro-toto-Niederlegung entscheidend waren.

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Abstract The elaborate Hallstatt C/D chieftains’ graves found in the Low Countries are defined by the objects they contain: swords or other weaponry, elaborately decorated horse-gear and wagon components, bronze drinking vessels, tools and personal ornaments. Mostly imports from Central Europe, these objects are found in varying configurations in cremation burials. Famous examples are the Chieftain’s grave of Oss, the wagon grave of Wijchen and the elite cemetery of Court-St-Etienne. However, there are also many such burials that are hardly known outside of the Low Countries and have rarely, if ever, been considered in European studies of Early Iron Age elites. These burials are currently being comprehensively studied and (re-) evaluated for the first time. By going back to the actual objects and graves themselves and studying these in detail, new and evidence-based insights and interpretations into these exceptional burials are being generated. In this paper some preliminary results of this ongoing research into Early Iron Age elite burials are presented, with a particular emphasis on one of the top finds of the Netherlands that is all but unknown outside our borders: the Chieftain’s burial of Rhenen. In terms of grave goods, these Dutch and Belgian graves resemble the Fürstengräber found in Central Europe, yet the dead seem to have been treated quite differently in the Low Countries. It appears that the dead elites were laid to rest with special and imported objects, but that those objects and the decedents were treated in a highly local manner. The dead and the objects were often exposed to fire, deliberately bent or broken, and only partially deposited. It seems that there was a local burial practice in which fire, manipulation and fragmentation and pars pro toto depositions were key.

Einleitung In den Benelux-Ländern finden sich einige aufwendige Bestattungen der älteren Eisenzeit, in denen Grabbei­gaben niedergelegt wurden, die für diese Zeit in dieser Region unüblich sind: Schwerter und andere Waffen, reich verziertes Pferdegeschirr und Wagenteile, Bronzegefäße, Werkzeuge und Schmuck-/Trachtbestandteile (Abb. 1). Diese Bestattungen sind in der nordwesteuropäischen Archäologie als „Fürsten-„ oder „Häuptlingsgräber“ bekannt geworden1. Ihre Entstehung fällt in die Stufe Ha C und sie datieren vorrangig in das 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. (Van der Vaart-Verschoof in Vorber.). In diesen Elitegräbern vollzieht sich ein Bruch mitVorangegangenem, worin sich möglicherweise das Aufkommen einer neuen Kosmologie oder Religion zeigt (Huth 2003; Fokkens, Jansen 2004). Die meisten Grabbeigaben aus diesen Fürstengräbern stellen Importe aus der Hallstattkultur im südlichen Mitteleuropa dar. Die Gräber aus diesen beiden Regionen zeigen eine gegenseitige Bezugnahme (siehe auch Fontijn, 26

Van der Vaart-Verschoof im Druck). Die in den jeweiligen Regionen lebenden Personen standen miteinander in Kontakt, auch wenn die Art dieses Kontaktes weiterhin diskutiert wird und bis dato nicht abschließend geklärt werden konnte (Fokkens, Jansen 2004; Frankenstein, Rowlands 1978; Pare 1992; Roymans 1991; Verhart, Spies 1993). In den Benelux-Ländern finden sich Objekte, die als Nachweis dieses Kontaktes dienen, in verschiedenen Zusammenstellungen in Brandgräbern. Berühmte Beispiele stellen das Fürstengrab von Oss (Abb. 2), das Wagengrab von Wijchen (Abb. 3) oder die Elitenekropolen von Court-St-Etienne dar. Neben diesen bekannten Beispielen gibt es aber noch zahlreiche andere Bestattungen, die in diesem Kontext zu sehen sind, die außerhalb der Benelux-Länder kaum bekannt sind und trotz ihrer Bedeutung in der Diskussion zu ältereisenzeitlichen Eliten in Europa bis dato keine Rolle gespielt haben (vgl. Fontijn,Van der Vaart-Verschoof im Druck). Diese außergewöhnlichen Bestattungen aus Belgien

Abb. 1:  Die Fürstengräber in den Benelux-Ländern. Hellgraue Punkte sind Einzelgräber, dunkelgraue Punkte Fundstellen mit Mehrfachbestattungen.

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Abb. 2:  Das Fürstengrab von Oss (Foto: P. J. Bomhof, © Rijksmuseum voor Oudheden).

Abb 3:  Das Wagengrab von Wijchen (Foto: J. Van Donkersgoed).

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und den Niederlanden stellen das Kernstück meiner laufenden Dissertation an der Universität Leiden dar. In diesem Beitrag möchte ich die sich in Vorbereitung befindliche Auswertung und Publikation sämtlicher ältereisenzeitlicher Elitegräber in den Benelux-Ländern vorstellen (Van der Vaart-Verschoof in Vorber.). Teil dieser Arbeit ist eine Materialvorlage in Form eines Katalogs mit detaillierten Beschreibungen und fotografischen Abbildungen von allen Funden, die heute noch auffindbar sind. Die Gräber aus den Benelux-Ländern sollen somit einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.Viele dieser Bestattungen werden erstmals in englischer Sprache der internationalen Forschung zugänglich gemacht, andere wiederum zum ersten Mal vorgelegt. Durch die Untersuchung aller Fundgegenstände, auch der kleinsten überlieferten Fragmente, ergibt sich ein neues Verständnis der in diesen Elitengräbern ausgeübten Bestattungspraktiken. Da es sich bei den meisten Bestattungen um Altgrabungen handelt, liegen kaum Informationen über Fundbergungen, Grabungen und Befunde vor (siehe unten); auch aus diesem Grund liegt der Fokus in der Auswertung der Grabbeigaben. Neue Forschungen zu diesen ältereisenzeitliche Bestattungen wurden vor einigen Jahren initiiert: So konnte ich vor kurzem die bekannten Altfunde von Oss und Wij­chen in zusammenfassenden Beiträgen erneut publizieren und eine neue Interpretation dieser Bestattungen vorschlagen (Fokkens et al. 2012; Fontijn, Van der VaartVerschoof in Vorber.). Die vor kurzem abgeschlossenen Ausgrabungen von Hügel 7 von Oss-Zevenbergen und Uden-Slabroek erbrachten neue Einsichten zu den ältereisenzeitlichen Elitegräbern in den Benelux-Ländern aus der Sicht der Feldarchäologie (Fontijn et al. 2013; Bourgeois, Van der Vaart-Verschoof in Vorber.; Jansen et al. 2011). David Fontijn und ich haben diese Bestattungen jüngst in ihrem großräumigen Zusammenhang betrachtet und sie im Zusammenhang mit einer sich in der ­älteren Eisenzeit andeutenden Globalisierung interpretiert (Fontijn, Van der Vaart-Verschoof im Druck). Im Rahmen dieses Beitrags werde ich nicht nur die Elitegräber in den Benelux-Ländern generell betrachten, sondern möchte ein in den 90er Jahren aufgefundenes Grab, das kaum internationale Beachtung gefunden hat, als Ausgangspunkt nehmen, die gesamteuropäische Bedeutung dieser Elitegräber zu skizzieren. Es handelt sich um das sogenannte Fürstengrab von Rhenen (Abb. 4).

Abb. 4:  Das Fürstengrab von Rhenen (Foto: J. Van Donkersgoed).

Ein anspruchsvolles Forschungsvorhaben Die Gruppe der Bestattungen mit Hallstatt-Importen in den Benelux-Ländern ist kaum bekannt und wird in Diskussionen zur älteren Eisenzeit in Europa kaum bedacht. Obwohl die berühmteren Gräber wie Oss oder Wijchen gelegentlich als einsame Punkte in der nordwestlichen Ecke von Verbreitungskarten aufscheinen (beispielsweise Pare 1992: Abb. 101d oder 108), finden diese Bestattungen sowohl in der regionalen als auch der internationalen Forschung wenig Beachtung. Die Gründe hierfür sollen in diesem Kapitel dargelegt werden. Zusammenfassend bleibt zu bemerken, dass die Erforschung dieser Bestattungen durch zahlreiche Problematiken erschwert wird. Zunächst ist zu betonen, dass die meisten dieser niederländischen und belgischen Fürstengräber unter alles andere als idealen Bedingungen entdeckt und geborgen wurden (das Fallbeispiel Rhenen wird in den folgenden Kapiteln eingehender behandelt). Die meisten dieser Gräber wurden von Laien entdeckt und bei vielen handelt 29

es sich um alt geborgene Gräber, die teilweise vor über 100 Jahren zutage kamen. Auch jene, die tatsächlich ausgegraben und nicht nur geborgen wurden, sind nur in Ausnahmefällen nach modernen Standards dokumentiert worden. Dies führt dazu, dass kaum Informationen über die Befunde und die Kontexte der Gräber vorliegen. Die Kenntnis dieser Gräber wurde auch dadurch nicht gefördert, dass sie vorrangig in Niederländisch oder Französisch publiziert wurden, oder in nur schwer zugänglicher grauer Literatur veröffent­licht wurden. Zudem sind zahlreiche Funde und vor allem auch die menschlichen Überreste in vielen Fällen heute nicht mehr erhalten. All diese einschränkenden Faktoren haben zu der lange vorherrschenden Einschätzung geführt, dass durch die Untersuchung dieser Gräber kaum neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Zudem widmete sich die Erforschung dieser Gräber primär den großen und bekannten Funden, wie den Schwertern oder den Bronzegefäßen. Kleine Funde und Fragmente wurden oft überhaupt nicht beachtet und ­waren bis dato auch bei den publizierten Bestattungen vollständig unbekannt. Aber gerade diese Funde liefern neue Interpretationsansätze für diese Gräber. Die Betrachtung dieser unscheinbareren Elemente zeigt, dass diese Fürstengräber das Ergebnis eines sehr speziellen Bestattungsrituals sind, in dem Feuer, Veränderung und vor allem Fragmentierung eine entscheidende Rolle spielen. Neue Entdeckungen führen zu einem wiederaufkei­ menden Interesse und neuen Forschungsansätzen Im letzten Jahrzehnt haben neue Entdeckungen die vorherrschenden Meinungen zu den ältereisenzeitlichen Elitegräbern in den Benelux-Ländern erschüttert. Entscheidend beigetragen haben hierzu die Ausgrabungen reicher Gräber wie Hügel 7 von Oss-Zevenbergen (Fontijn et al. 2013) oder Uden-Slabroek (Bourgeois,Van der Vaart-Verschoof in Vorber.; Jansen et al. 2011). Bei diesen Gräbern scheint es sich um Elitegräber der älteren Eisenzeit zu handeln. In ihnen fanden sich jedoch nicht die klassischen Beigaben, die zur Definition dieser Bestattungen herangezogen werden. Das Fehlen von Bronzegefäßen, Waffen, Pferdegeschirr oder Wagen hat eine Diskussion darüber ausgelöst, welche Merkmale für ein Fürsten- oder Elitegrab als definierend angesehen werden müssen. Auch wurde durch diese Entdeckungen das Interesse an den alt30

gegrabenen Bestattungen wie Oss (gefunden 1933) oder Wijchen (gefunden 1898) wiedererweckt. Trotz der Problematik der wenigen Kontextinformatio­ nen, die sich für diese Gräber aus der langen Forschungsgeschichte ergibt, zeigt die Betrachtung der Grabbeigaben, dass sich diese für eine handlungsorientierte Auswertung eignen. Zahlreiche im Rahmen des Bestattungsrituals durchgeführte Handlungen lassen sich an den Beigaben ablesen. Die Auswertung dieser Informationen ermöglicht eine Rekonstruktion des jeweiligen Bestattungsrituals einzelner Gräber sowie der sozial und kulturell determinierten Bestattungspraktiken. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Beigaben selber nicht ebenfalls bedeutungsgeladene Gegenstände darstellten. Vielmehr ermöglicht die Betrachtung der Beigaben im Rahmen der Bestattungspraktiken ein besseres Verständnis der elitären Bestattungspraktiken in den ältereisenzeitlichen Benelux-Ländern. Während sich die niederländischen und belgischen Prunkgräber im Hinblick auf einzelne Grabbeigaben mit den zentraleuropäischen Fürstengräbern der Hallstattkultur vergleichen lassen, deuten andere Fundstücke und die Bestattungssitten eine Vermischung einheimischer und fremder Bräuche an (siehe auch Fontijn, Van der Vaart-Verschoof im Druck). Elitegräber in den Benelux-Ländern Derzeit sind über 60 Bestattungen aus den Niederlanden und Belgien bekannt, in denen sich Importe aus der Hallstattkultur oder andere herausragende Beigaben finden. Zu diesen zählen nicht nur Bronzegefäße, Schwerter, Lanzen, Dolche oder Pferdegeschirr und Wagenbestandteile, sondern auch Äxte, Messer, Rasiermesser,Toilettegerät und Trachtbestandteile. Ungefähr ein Dutzend Schwerter und andere Einzelfunde deuten auf weitere unbeobachtet zerstörte Gräber hin. In den meisten dieser Gräber findet sich nur ein einzelnes derartiges Objekt. So in fünf angenommenen Gräbern mit einem Bronzegefäß oder einigen Gräbern, in denen lediglich die persönliche Ausstattung des Toten durch Trachtbestandteile, Rasiermesser oder Toilettegerät betont wird. In zahlreichen Gräbern finden sich Waffen. Zumeist handelt es sich um eiserne oder bronzene Schwerter, es treten aber auch Ortbänder, Lanzen und ein einzelner Dolch auf. In acht Gräbern zeigt sich durch parspro-toto-Beigaben von paarigem Pferde- und Zuggeschirr

ein Hinweis auf die Idee eines Wagengrabes. In einigen dieser Gräber sind auch Waffen zu verzeichnen. Die Gräber werden oft in der Fürstengräberdiskussion genannt (siehe beispielsweise Royman 2011 oder Jansen 2011 mit unterschiedlichen Ansichten) und sind grundsätzlich für die Diskussion um ältereisenzeitliche Sozialstrukturen von erheblichem Interesse. Viele dieser Gräber sind unter dem Namen „das Fürstengrab von“ bekannt, wie jenes von Meerlo (Verwers 1968). Dabei zeigt sich aber, dass sie meist nicht jene Voraussetzungen erfüllen, die zur Definition eines Fürstengrabes herangezogen werden: die Beigabe von Bronzegefäßes, Waffen, Pferdegeschirr und Wagenbestandteilen. Ergänzend werden Werkzeuge oder Instrumente zur Körperpflege genannt. Tatsächlich erfüllt von all diesen Gräbern in den BeneluxLändern ­lediglich das Fürstengrab von Oss all diese Voraussetzungen. Die anderen Bestattungen werden häufig als Abwandlung des Fürstengrabes von Oss und dem ihm zugrunde liegenden Konzept verstanden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass es lediglich zwei Gräber gibt, die dieser Definition zumindest nahe kommen: das Wagengrab von Wijchen (Abb. 3) und jenes von Rhenen (Abb. 4). Dies zeigt die Problematik der Definition von Fürstengräbern und die Zwecklosigkeit der mit ihr verbundenen Diskussion in den Benelux-Ländern. Der etablierte Begriff des Fürstengrabes wird aus diesem Grund lediglich als terminus technicus für eine Gruppe von Bestattungen, die sich von den üblichen Gräbern absetzen, genutzt. Unabhängig von der Begrifflichkeit und deren Anwendung stellen die Gräber von Oss, Wijchen und Rhenen herausragende Bestattungen dar, in denen sich Elemente der Bestattungssitten der Hallstattkultur deutlicher ­widerspiegeln als in den anderen Bestattungen und die deswegen auch in der internationalen Forschung bekannter sind (siehe auch Fontijn, Van der Vaart im Druck). Wie bereits erwähnt, wurden die Gräber von Oss und Wijchen jüngst thematisiert (Fokkens et al. 2012; Fontijn, Van der Vaart-Verschoof im Druck), weshalb an dieser Stelle das Grab von Rhenen als Fallbeispiel herangezogen werden soll. Das Fürstengrab von Rhenen Das Grab, das auf dem Koeheuvel, einem Hügel bei Rhenen, entdeckt wurde, stellt eines der wenigen reich

ausgestatteten Gräber dar, die in den letzten 25 Jahren zutage kamen. Zugleich ist es eines der außergewöhnlichsten Gräber der älteren Eisenzeit in den Benelux-Ländern und zählt zu den wichtigsten Funden dieser Periode in dieser Region. Über typologischeVergleiche kann es in die Stufe Ha C datiert werden und ist damit grob zeitgleich mit dem bekannten Fürstengrab von Oss und dem Grab von Wijchen (Pare 1992; Trachsel 2004: 53, 504, 525, 543; Van der Vaart-Verschoof in Vorber.). Das Grab von Rhenen besitzt eine lange Entdeckungsgeschichte und eine Verkettung unglücklicher Umstände hat dazu geführt, dass das Grab unter alles andere als idealen Bedingungen und nicht vollständig geborgen wurde. Die Auffindung des Fürstengrabes Das erste Mal tritt dieses Grab in den 30er Jahren in Erscheinung, als am nordwestlichen Ende von Rhenen auf dem Koerheuvel ein Wasserturm und ein Hotel errichtet wurden (Van Iterson 1960: 45, zitiert nach Van Heeringen 1998: 71). Es handelt sich beim Koerheuvel um einen markanten Ort und die höchste Erhebung in der Umgebung Utrechts. Es ist anzunehmen, dass die Spitze dieser Erhebung bei diesen Bauarbeiten eingeebnet wurde. In einer Zeitung aus dem Jahr 1938 wird von Holzkohleschichten, einem Bronzering, Bronzefragmenten und Leichenbrand berichtet, die bei diesen Bauarbeiten zutage kamen. Im Juni des gleichen Jahres wurden mehrere Harpstedter Urnen entdeckt (Versuche, den Verbleib dieser Funde zu ermitteln, blieben bis dato erfolglos; Van Heeringen 1998: 69 –73; persönliche Mitteilung B. Huiskes im Jahr 2011). Diese Funde gerieten nach und nach in Vergessenheit, bis in den 90er Jahren durch Bauvorhaben Rettungsgrabungen notwendig wurden. Dabei wurde ein Urnenfeld der älteren Eisenzeit entdeckt. Drei Jahre später wurde die außergewöhnliche Bestattung auf dem Koerhoevel entdeckt, als ein Kastanienbaum umgepflanzt werden musste. Ein versierter Hobbyarchäologie, J. Mom, war bei der Umpflanzung vor Ort und berichtete, dass A. van Middelkoop, ein Lehrer der nahegelegenen Schule, und einer seiner Schüler Fragmente von dünnem Blech eines Bronzegefäßes und Teile einer Axt in der Grube des entwurzelten Baumes fanden. Nach Sichtung der Funde von Middelkoops kehrte Mom mit einem Metalldetektor zur Fundstelle zurück und sammelte weitere Bronzefragmente ein. Dabei stellte er fest, dass das Oberteil des 31

Bronzegefäßes bereits vorher in Mitleidenschaft gezogen worden war, mutmaßlich während der Errichtung des Wasserturms in den 30er Jahren (Mom 1993). Er berichtet auch davon, dass der Bagger bei den Grabungsarbeiten um den Kastanienbaum das Bronzegefäß mehrmals berührte und es dabei zerrissen wurde. Seiner Meinung nach lag die Axt ursprünglich in dem Bronzegefäß und wurde erst durch die Einwirkung des Baggers verlagert (siehe hierzu unten). Er fand auch Fragmente des Gefäßrandes, der einen Meter abseits des Rests des Gefäßes angetroffen wurde. Die Funde wurden der staatlichen Denkmalpflege (Rijksdienst voor het Oudheidkundig Bodemonderzoek) gemeldet, die im November 1993 unter extremen Bedingungen Rettungsgrabungen durchführte (Van Heeringen 1998: 77). Sie konnten dabei herausfinden, dass die bronzene Urne in einer Grube niedergelegt wurde, die mindestens 60 cm in den Boden eingetieft worden war. In dieser fanden sie weitere Fragmente des Bronzegefäßes, Pferdegeschirr und Teile eines Wagens (siehe detaillierter unten). Die Schäden am Bronzegefäß deuten an, dass das Grab bereits gestört worden war, wohl bei den Bauarbeiten der 30er Jahre. Die Restaurierung zeigte, dass große Teile der Seite und des Bodens des Gefäßes fehlen (Van Heeringen 1998: 75). Die Ausführungen zur Fundgeschichte dieses außergewöhnlichen Ensembles zeigen, dass das Grabinventar, wie wir es heute kennen, nicht vollständig ist. Nichtsdestotrotz bietet das Grab von Rhenen zahlreiche Einblicke in die Bestattungssitten ältereisenzeitlicher Eliten in den Benelux-Ländern. Die Grabbeigaben Die uns heute bekannten Beigaben des Fürstengrabs von Rhenen setzen sich aus einer Bronzesitula, die jener von Oss sehr ähnlich ist, und zahlreichen kleineren Funden zusammen (Abb. 4). Zu diesen zählen die Teile einer Axt, Pferdegeschirr, Teile eines Wagens, Pinzetten und möglicherweise ein Messerfragment. Überreste einer Bestattung wurden nicht dokumentiert.Van Heeringen (1998: 75) nimmt jedoch an, dass der Leichenbrand, der bei der Errichtung des Wasserturms in den 30er Jahren beobachtet wurde, wahrscheinlich zum später entdeckten Fürstengrab gehört. Er schlägt vor, dass der nicht erhaltene Leichenbrand, der in einen robusten Stoff (?) eingewickelt war, bei den Bauarbeiten 1938 aus dem Bereich der Grube verlagert wurde. Wenn man bedenkt, dass das Oberteil 32

Abb. 5:  Die eisernen Achsnägel (Fotos: J. Van Donkersgoed).

Abb. 6:  Rekonstruktion der Achsnägel (nach Van Heeringen 1998: Abb. 13).

des Bronzegefäßes vor der Umsetzung des Kastanienbaumes beschädigt worden war, erscheint diese Erklärung zu­ mindest möglich. Gemeinsamkeiten zum Grab von Oss ergeben sich auch dadurch, dass das Bronzegefäß als Behältnis für die anderen Grabbeigaben genutzt wurde, was sich an Eisenkorrosion auf der Innenseite zeigt. Der Rand und der Bandhenkel sind mit Kreisen, Punkten und Rippen verziert und in jedem Henkel findet sich ein bronzener Ring. Sowohl die Ringe als auch die Henkel zeigen Benutzungsspuren, die andeuten, dass das Gefäß über längere Zeit an den Ringen und Henkeln aufgehängt worden war. Das Bronzegefäß zeigt verschiedene Reparaturen, so wurden an einigen Stellen Reparaturbleche aufgenietet. Der Fund von Rhenen ist das einzige älterhallstattzeitliche Bronzegefäß aus den Benelux-Ländern, das derartige Reparaturen aufweist.

Was diese Bestattung aber zu etwas wirklich Außergewöhnlichem macht, sind die Bestandteile des Wagens. Zu diesen zählen drei Achsnägel des Böhmischen Typs (Pare 1992: 92), von denen zwei derzeit zusammenkorrodiert sind (Abb. 5). Es handelte sich ursprünglich um flache Eisennägel mit einer Breite von ca. 9 mm, die sich im oberen Bereich in zwei Teile spalten. Diese wurden jeweils zu zwei unterschiedlich großen Schleifen gebogen, die im rechten Winkel zueinander stehen (Abb. 6). Die größeren Schleifen besitzen einen rechteckigen Querschnitt, wohingegen er bei den kleineren Schleifen rundlich ist. In die kleinen Schleifen wurden Ringe eingehängt, in denen sich wiederum drei lose Ringe finden (Van Heeringen 1998: 80–81). Die Achsnägel wurden nicht absichtlich verbogen, aber es ist bemerkenswert, dass alle drei an der Stelle zerbrochen wurden, an dem die Spiralen beginnen. Da dies die dickste Stelle der Achsnägel ist und alle drei Exemplare an dieser Stelle zerbrochen wurden, scheint es plausibel, dass diese vor der Niederlegung absichtlich unbrauchbar gemacht wurden. Neben den Achsnägeln enthält dieses Grab Fragmente, die möglicherweise zu einer Nabe des Typs Breitenbonn gehören (Van Heeringen 1998: 84–85; Pare 1992: Ch. 6). Die metallenen Bestandteile mussten vom hölzernen Rad entfernt werden, um in die Urne zu passen und wurden möglicherweise ebenfalls bewusst beschädigt. Es liegt auch mindestens ein halbkugeliger Ringfußknopf vor, der Abnutzungserscheinungen zeigt. Eine mögliche Phalere ist derzeit noch an die Achsnägel festkorrodiert (Abb. 5), wodurch eine genaue Ansprache derzeit nicht möglich ist. Ein weiterer möglicher Bestandteil des Pferdegeschirrs ist ein Fragment eines rundlichen Objekts aus Bronze, das eine Verzierung des Pferdegeschirrs darstellen könnte. Mehrere Bronze- und Eisenringe, die aufgrund ihrer Größe vermutlich nicht zu den Achs­nägeln gehören, könnten ebenfalls Teile des Pferdegeschirrs darstellen. Der hintere Teil eines Tüllenbeils aus Bronze konnte ebenfalls geborgen werden (Abb. 7). Nach Butler (in Van Heeringen 1998: 93–94) ist es ein einfaches Exemplar des Typs Wesseling und wurde wahrscheinlich in den östlichen Niederlanden oder den angrenzenden Gebieten im westlichen Deutschland hergestellt. Die Tülle ist annähernd quadratisch und die Öse am Rand ist relativ klein. Die Schneide fehlt vollständig und der Körper der Axt endet mit einer sehr scharfen Kante. Mom (1993) postulierte,

Abb. 7:  Die fragmentierte Axt (Foto: J. Van Donkersgoed).

Abb. 8:  Die gefaltete Pinzette (Foto: J. Van Donkersgoed).

dass diese Axt durch den Bagger zerteilt wurde. Tatsächlich wird diese Vermutung bei genauerer Betrachtung der Art des Bruchs unwahrscheinlich. Darüber hinaus finden sich Hinweise, dass die Axt vor der Niederlegung einem Feuer ausgesetzt wurde. Ein kleines, ca. 1–2 cm großes Fragment, das an den Achsnägeln festkorrodiert ist, könnte ein Fragment einer Messerschneide sein. Diese Vermutung basiert auf dem Querschnitt, der ein breites Ende und eine mögliche Schneide zeigt, wie man es bei einem Messer erwarten würde. Im Jahr 2011 konnte bei der Untersuchung der Funde im Museum het Rondeel dem Grab eine bis dato unbekannte bronzene Pinzette zugewiesen werden (Abb. 8), die sich in einer Box mit weiteren von dieser Fundstelle stammenden Fragmenten fand (Van der Vaart 2011). Die Pinzette ist vollständig erhalten. An ihrer Innenseite finden sich kleine Rippen, die, wie bei modernen Pinzetten auch, für einen besseren Griff gesorgt haben dürften. Die Pinzette wurde sorgfältig gefaltet, bevor sie in das Grab gelegt wurde. 33

Die Rekonstruktion des Bestattungsrituals Das Fürstengrab von Rhenen ist, wie bereits mehrfach erwähnt, höchstwahrscheinlich nicht vollständig, was auf die unglücklichen Umstände der Entdeckung und Ausgrabung zurückzuführen ist. Dadurch wird die Rekon­ struktion des Bestattungsrituals deutlich erschwert. Aber auch wenn weder der komplette Inhalt des Bronzegefäßes bekannt ist, noch die Lage aller Objekte in diesem rekonstruiert werden kann, lassen sich einige Schritte im Bestattungsritual rekonstruieren. Ein Bodenfragment des Gefäßes, das an einem der eisernen Achsnägel festkorrodiert ist, deutet ebenso wie Rostspuren auf der Innenseite des Bodens an, dass die Achsnägel ursprünglich zuunterst im Bronzegefäß niedergelegt worden waren. Die Bestattenden haben somit die Achsnägel und die Achskappen von den Wagenrädern abmontiert. Auch wenn ursprünglich vielleicht weitere Bestandteile eines Wagens beigegeben wurden, deutet sich an, dass die überlieferten Teile als pars-pro-toto-Beigabe eines Wagens zu verstehen sind (siehe Pare 1992: 122–123). Bronzene Zierelemente deuten auf Zaumzeug hin, auch wenn keine Trensen oder dergleichen geborgen wurden. Einige kaum sichtbare Überreste von Textilien auf einigen dieser Objekte deuten an, dass diese in Textilien eingehüllt wurden, bevor sie in das Bronzegefäß gelegt wurden. Dies lässt sich bei verschiedenen Elitegräbern der älteren Eisenzeit in den Benelux-Ländern nachweisen (siehe unten). Die Axt wurde zunächst einem Feuer ausgesetzt und anschließend mit dem Messer in das Bronzegefäß gelegt. Dabei muss aber offen bleiben, ob die Axt und das Messer absichtlich fragmentiert wurden oder als Ganzes niedergelegt wurden. Die Zugehörigkeit der Pinzette ist unsicher. Geht man aber von einer Zugehörigkeit zu dieser ältereisenzeitlichen Bestattung ab, offen­bart sich eine weitere Handlung im Rahmen des Bestattungsrituals. Sie wurde absichtlich zu einem kleinen Paket zusammengefaltet. Der Oberteil des Gefäßes wurde in den 30er Jahren in Mitleidenschaft gezogen, wobei Leichenbrand beobachtet wurde. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Leichenbrand zum Fürsten von Rhenen gehört. Geht man davon aus, ergibt sich, dass der Leichenbrand sich über den anderen Beigaben fand und wohl als letztes in das Gefäß gegeben wurde. Fragmente von Textilien, die am Rand des Gefäßes beobachtet werden konnten, machen es wahr34

scheinlich, dass der Leichenbrand ebenfalls in Textilien gehüllt wurde. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es sich um ein Bestattungsritual handelt, in dem der Verstorbene und die Axt verbrannt wurden, der Rest der Beigaben aber vom Feuer verschont geblieben ist. Die Achsnägel scheinen zerbrochen worden zu sein und die Pinzette wurde sorgfältig gefaltet. An Metallteilen festkorrodierte Textilreste lassen vermuten, dass die Objekte vor ihrer Deponierung im Bronzegefäß in Textil eingewickelt wurden. Es handelt sich um ein zerstörendes Bestattungsritual, in dem Feuer, Zerstörung, Biegen und Brechen und pars-prototo-Beigaben eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Das Grab von Rhenen stellt dabei kein isoliertes Phänomen dar. Es passt sich in das Bild der ältereisenzeitlichen Elitegräber ein, in denen Feuer, Veränderung und Fragmentierung entscheidend sind. Die elitären Bestattungspraktiken Die Elitegräber in den Benelux-Ländern scheinen das ­Ergebnis sehr ähnlicher Handlungsabläufe darzustellen. Gewisse Merkmale, Handlungen und Entscheidungen ­lassen sich in allen diesen Gräbern nachweisen. Sie scheinen alle die gleiche Struktur aufzuweisen und sind in einer Art und Weise ausgeführt worden, die für die Bestattungen dieser sicherlich herausragenden Verstorbenen als passend erachtet wurde. Gewisse Elemente scheinen dabei notwendig gewesen zu sein, während andere flexibler ausgelegt wurden. Dies führt dazu, dass einige Merkmale regelhaft und gleichläufig auftreten, wohingegen andere sich in Nuancen unterscheiden. Das Bestattungsritual scheint in allen Fällen ein großes Feuer beinhaltet zu haben, in dem der Verstorbene verbrannt wurde. In einigen Fällen wurden einige oder alle Grabbeigaben ebenfalls auf den Scheiterhaufen gelegt, so wie in Rhenen, Wijchen (Pare 1992), Court-St-Etienne (Mariën 1958) oder Gedinne (Warmenbol 1993). Die Nutzung von Feuer im Rahmen des Bestattungsrituals scheint von großer Bedeutung gewesen zu sein. Tatsächlich dürfte sich dies nicht nur auf das Feuer selber beziehen, sondern auch auf die Überreste des Scheiterhaufens und das verbrannte Holz. In einigen Fällen, wie in OssZevenbergen, Hügel 7 (Fontijn et al. 2013) oder WeertBoshoverheide (Ubaghs 1890) wurde der ausgebrannte Scheiterhaufen bewusst und sorgfältig in den Grabhügel

eingebettet. In anderen Fällen wurde ein großes Feuer genutzt, um Holzbretter oder -balken zu verkohlen, die dann wiederum im Rahmen der Bestattung Verwendung fanden, wie in Oss-Zevenbergen, Hügel 3 (Fokkens et al. 2009) oder Uden-Slabroek (Bourgeois, van derVaart-Verschoof in Vorber.). Egal ob verbrannt oder unverbrannt wurden Grabbeigaben zerlegt, modifiziert oder fragmentiert, bevor sie im Grab niedergelegt wurden.Wagen und Pferdegeschirr wurde regelmäßig zerlegt und auseinander genommen, wie in Court-St-Etienne T.A (Mariën 1958), Oss-Vorstengraf und Oss-Zevenbergen (Fontijn et al. 2013), Rhenen oder Wijchen (Pare 1992). Die Manipulation von Grabbeigaben reicht vomVerbiegen eines Schwertes – so in HorstHegelsom (Willems, Groenman-Van Waateringe 1988) und Limal-Morimoine T.1 (Mariën 1958) – oder Pferdegeschirrs wie in Meerlo (Verwers 1968) über das Falten von Wagenbestandteilen wie in Rhenen und Wijchen bis hin zum Zerbrechen und Fragmentieren von Schwertern, Achsnägeln, Schmuck und anderen Gegenständen. In allen Bestattungen wird der Gedanke der pars-prototo-Beigaben auf die ein oder andere Art und Weise sichtbar. Dies zeigt sich beispielsweise in einem Paar Trensen in Court-St-Etienne T.3 und Meerlo (Verwers 1968) oder in einigen wenigen bronzenen Wagen- und Radbestandteilen wie in Rhenen, Wijchen und Oss-Zevenbergern, Hügel 7, in denen der Gedanke der Beigabe eines Wagens manifestiert wird. Nicht nur die Beigaben sondern auch der Leichenbrand wurde in einigen Fällen nur teilweise im Grab niedergelegt, wie in Oss-Zevenbergen, Hügel 7 (Fokkens et al. 2012). In wenigen Fällen haben sich Reste von Textilien in der Korrosion von Bronze- und Eisenobjekten erhalten, wie in Court-St-Etienne T.4 und T.A, Neerharen-Rekem (Van Impe,Thyssen 1979), Oss-Vorstengraf oder Rhenen. In diesen Bestattungen wurden die Grabbeigaben entweder einzeln oder gemeinsam in Textilien gehüllt. Diese Bestattungspraxis wurde vermutlich deutlich häufiger ausgeübt, entzieht sich aufgrund der schlechten Erhaltung von Textilien aber weitgehend unserer Kenntnis. Der letzte archäologisch fassbare Akt des Bestattungs­ rituals respektive der Handlungen im Rahmen der Bestattung war die tatsächliche Grablege zumeist in oder bei Urnenfeldern. In vielen Fällen tritt dabei die Errichtung eines Monuments in Form eines Grabhügels über der Bestattung hinzu. Diese Hügel sind tendenziell deutlich grö-

ßer als andere Grabhügel, was sich deutlich an jenem von Oss zeigt, der mit 53 m Durchmesser der größte bekannte Vertreter ist (Fokkens, Jansen 2004: 133–135). Hervorzuheben bleibt aber auch, dass es sich bei diesen Bestattungen, so bedeutend diese Gräber für das ­ältereisenzeitliche Europa auch sein mögen, lediglich um einen sehr geringen Teil der lokalen ältereisenzeitlichen Gesellschaft handelt. Nur sehr wenige Verstorbene wurden unter Anwendung dieses besonderen Bestattungsrituals in den ältereisenzeitlichen Benelux-Ländern bestattet. Die meisten wurden in Urnengräbern beigesetzt, die in dieser Region das vorherrschende Bestattungsritual darstellen. Tatsächlich finden sich viele dieser Elitegräber in oder bei Urnenfeldern. Mit diesen Urnenbestattungen beschäftigt sich Arjan Louwen (inVorber.) mit einem sehr ähnlichen Ansatz. Zwischen den Prunkgräbern und den üblichen Urnengräbern lassen sich dabei auch verschiedene Parallelen herausarbeiten, so beispielsweise in der Auswahl der Keramik. Die Ergebnisse beider Studien sollen in Zukunft zusammengeführt werden, um so ein umfassendes Bild der ältereisenzeitlichen Bestattungssitten in diesem Gebiet nachzeichnen zu können. Fazit In den Benelux-Ländern wurden einige ältereisenzeitliche Gräber entdeckt, die als Fürstengräber bekannt geworden sind. In diesen Gräbern finden sich als Grabbeigaben Bronzegefäße,Waffen, reich verziertes Pferdegeschirr und Wagen, die Importe aus der Hallstattkultur im südlichen Mitteleuropa darstellen. Diese Gräber aus den Niederlanden und Belgien sind in der Archäologie außerhalb der Benelux-Länder kaum bekannt und spielen in den Diskussionen um ältereisenzeitliche Eliten kaum eine Rolle. Durch eine umfassende Publikation dieser Bestattungen sollen diese näher an den Fokus auch der internationalen Forschung gerückt werden (Van der Vaart-Verschoof in Vorber.). Ein Anfang hierfür wurde durch die erneute Publikation der Gräber von Oss und Wijchen gemacht, ebenso wie durch die Diskussion dieser Gräber im großräumigen Kontext (Fokkens et al. 2012; Fontijn, Van der Vaart-Verschoof im Druck). In die Reihe dieser Arbeiten fügt sich auch der vorliegende Beitrag ein, in dem das kaum bekannte Fürstengrab von Rhenen, das in den 90er Jahren entdeckt wurde, behandelt wird. In der Herkunftsregion dieser Objekte werden diese 35

in verschiedenen Kombinationen ebenfalls zur Definition von Fürstengräbern herangezogen. In den Benelux-Ländern zeigt sich ebenso wie in der Hallstattkultur eine große Variation in den Grabausstattungen, die von solchen mit lediglich einem Bronzegefäß oder Schwert zu solchen mit vollständigen Sets, bestehend aus Bronze­ gefäßen,Waffen, Pferdegeschirr und Wagen,Werkzeugen, Toilettegerät und Schmuck-/Trachtbestandteilen, reicht. In der bisherigen Forschung hat diese Varianz der Ausstattungen zu einer Fokussierung auf die Objekte geführt. Andere Teile dieser Bestattungen, wie die ihnen zugrundeliegenden Handlungen, wurden kaum beachtet. Für ein besseres Verständnis dieser außergewöhnlichen Befunde ist es meines Erachtens jedoch nötig, nicht nur die Grabbeigaben, sondern die gesamte Bestattung und alle mit ihr in Zusammenhang stehenden Handlungen, durch die sie ihre Form erhalten haben, zu betrachten (Van der VaartVerschoof in Vorber.). Durch diesen Ansatz wird deutlich, dass ein Zusammenhang zwischen den niedergelegten Objekten und dem Bestattungsritual besteht.Auch wenn sich eine großeVarianz in der Zusammensetzung der Beigaben aufzeigen lässt, scheinen all diese ältereisenzeitlichen Elitegräber das Ergebnis einer einheitlichen Bestattungspraxis darzustellen. Im Rahmen dieser Bestattungen spielten die Verwendung von Feuer, das Verbiegen und Brechen von Objekten und pars-pro-toto-Niederlegung der Beigaben und des ­Toten eine entscheidende Rolle, wie hier am Beispiel des Grabes von Rhenen gezeigt werden konnte. Damit soll nicht gesagt werden, dass die beigegebenen Objekte unwichtig sind, und ich möchte betonen, dass ich nicht eine Liste an notwenigen Grabbeigaben (wie Waffen, Wagen und Bronzegefäße) durch eine Liste notwendiger ritueller Handlungen für die Definition und

das Verständnis ältereisenzeitlicher Eliten ersetzen möchte. So stellen beispielsweise die Bronzegefäße und die Wagen völlig neue Beigabenkategorien in den Bestattungen dar, deren Bedeutung für und Einfluss auf die ältereisenzeitlichen Gesellschaften nicht unterschätzt werden darf (siehe Pare 1992; Arnold 1999). Es zeigt sich auch in der Auswahl der Objekte für eine Grablege ihre Bedeutung, und diese dürfte im Zusammenhang mit der Darstellung einer speziellen (Art einer) Identität in Zusammenhang stehen (vgl. Fontijn, Fokkens 2007). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die vorläufigen Ergebnisse des Projektes andeuten, dass diesen Bestattungen ein kulturelles Konzept und ein Verständnis darüber zugrunde liegt, wie man diese herausragenden Persönlichkeiten bestatten sollte. Dabei werden den Verstorbenen verschiedene Grabbeigaben mit ins Grab gelegt und die Bestattenden haben verschiedene Aspekte des Bestattungsrituals hervorgehoben. Durch diese ­ variable Konzeption haben die Fürstengräber und die anderen Elitebestattungen in den Benelux-Ländern ihre heute bekannte Ausprägung erhalten. Danksagung Dieser Beitrag wurde ermöglicht durch ein Stipendium (PhDs in the Humanities, no. 322-60-004), das mir von der Nederlandse Wetenschap Organisatie (Niederländische Organisation für Wissenschaft) für das Projekt „Constructing powerful identities. The conception and meaning of ‚rich‘ Hallstatt burials in the Low Countries (800-500 BC)“ verliehen wurde. Ich danke Robert Schumann für die Übersetzung dieses Beitrags ins Deutsche und David Fontijn für seine Kommentare zu früheren Fassungen.

Anmerkungen 1 In der niederländischen Forschungstradition werden diese­ Bestattungen im englischen als „chieftains’ burials“ oder „prince­ ly graves“ bezeichnet (Holwerda 1934; Moddermann 1964). In Anlehnung an diese gängige Terminologie wird im Folgenden von Fürstengräbern oder fürstlichen Bestattungen gesprochen, um diese Gruppe abzugrenzen, ohne dass damit direkt auf die soziale Position der Bestatteten oder der Bestattenden geschlossen werden soll.

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Ein Kultplatz der Jüngeren Latènezeit bei Heilbronn-Neckargartach Martin Hees

Zusammenfassung Im süddeutschen Bundesland Baden-Württemberg wurden in den Lössgebieten entlang des mittleren Neckar seit 1980 systematische Luftbildprospektionen durchgeführt. In den Jahren 1980 und 1984 wurden dabei zwei Einfriedungen am “Nonnenbuckel” südlich des Dorfes Heilbronn-Neckargartach entdeckt. Beide Einfriedungen sind 1987/88 unter der Leitung von Jörg Biel vollständig ausgegraben worden. Die Auswertung dieser Fundstellen wurde in den Jahren 2011/12 im Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg durchgeführt. Die Ergebnisse wurden 2013 publiziert (Hees 2013: 69-197). Einfriedung 1 ist eine unterbrochene rechteckige Einfriedung, die 30 x 23 m misst. Der umlaufende Graben hat ein v-förmiges Profil und ist bis zu 3 m tief. Er ist in 2 Abschnitte unterteilt und der Boden des Grabens ist durch 4 Stufen unterbrochen. Einfriedung 2 ist rund, mit einem Durchmesser von 20 m. Der umlaufende Graben ist bis zu 3 m tief, hat eine v-förmige Form und ist in 5 Abschnitte unterteilt. In beiden Einfriedungen hatte sich eine 80 – 100 cm starke Schicht eingeschwemmten Sediments auf dem Boden der Gräben angesammelt, die zeigt, dass die Gräben über lange Zeit offen waren und langsam zu verfüllen begannen, bevor sie schließlich mit Erde und Siedlungsabfall verfüllt wurden. Die Verfüllungen der Gräben enthielten große Mengen späteisenzeitlicher Keramik der Latène Perioden C2 und D1 (2. und frühes 1. Jahrhundert v. Chr.). Zu den besonders erwähnenswerten Funden gehören Bruchstücke von Trinkgefäßen wie beispielsweise Kelche und Fußschalen, teilweise geschmolzene Bronzeobjekte und eine eiserne Wurfspeerspitze. Die Wurfspeerspitze gehört zu einem Typ, der dem römischen pilum ähnelt und in der Ostalpenzone und im östlichen Mitteleuropa in Gebrauch ist. Unter den Tierknochen findet sich ein besonders hoher Prozentsatz von Wildtieren. 5% in Einfriedung 1 und 11% in Einfriedung 2, überwiegend Hase und Rothirsch. Unter den Knochen domestizierter Tiere waren in Einfriedung 1 ca. 50% Schafe/Ziegen und in Einfriedung 2 ca. 70% Rinder. Darüber hinaus fanden sich auch teilweise erhaltene Skelette einer Kuh und eines Schafes, zahlreiche Schneckenhäuser und verbrannte Geweihreste von Rothirschen. Die menschlichen Überreste stammen von acht Individuen. Unter ihnen waren zwei teilweise erhaltene Skelette, eine Brandbestattung und einzelne Knochen von fünf weiteren Individuen. Diese Art von Einfriedungen wurde zuvor noch nie in Südwestdeutschland gefunden. Sie ähneln den Einfriedungen von Roseldorf in Niederösterreich, die als eisenzeitliche Heiligtümer interpretiert werden. In Frankreich wurden neben den bekannten großen eisenzeitlichen Heiligtümern wie Gournay-sur-Aronde auch mehrere kleinere Einfriedungen gefunden, die sich überwiegend im nördlichen Teil des Landes befinden. Ihre Form, Größe 39

und die gemachten Funde ähneln denen der Einfriedungen von Neckargartach (s. Liste). Diese Einfriedungen wurden als Treffpunkte für kleine Gruppen, zum Abhalten von Banketten oder rituellen Festmählern, für die Deponierung von Opfergaben in Gruben und Gräben und als Bestattungsplätze für ausgewählte Individuen, wahrscheinlich im Rahmen von Nachbestattungen, genutzt. Die Einfriedungen von Neckargartach liegen auf einem flachen Hügel über dem westlichen Ufer des Neckar, ungefähr im Zentrum des Heilbronner Beckens und eines späteisenzeitliches Siedlungszentrums mit ca. 30 bekannten Fundstellen der Perioden Latène C und D (7 Fundstellen in einem 2 km Radius, 28 Fundstellen in einem 5 km Radius). Alle bisher in Südwestdeutschland bekannten eisenzeitlichen Heiligtümer waren in Mooren, Höhlen, in der Nähe von Quellen oder bei ungewöhnlichen Felsformationen gelegene „Naturheiligtümer“. Die Einfriedungen von Neckargartach sind die ersten Beispiele von Heiligtümern, die nicht mit auffallenden Naturschauplätzen in Verbindung stehen. Wie die meisten Siedlungsplätze der Region wurden die beiden Einfriedungen um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. herum aufgegeben. Sie wurden zerstört, eingeebnet und die Gräben wurden verfüllt.

Abstract In the loess areas along the middle course of the Neckar river, in the state of Baden-Württemberg, Southern Germany, systematic aerial prospection has been carried out since 1980. Two enclosures were discovered south of the village of Heilbronn-Neckargartach at a place called “Nonnenbuckel” in 1980 and 1984. Both enclosures were completely excavated in 1987/88 under the direction of Jörg Biel. Post-excavation work on these sites took place in 2011/12 at the Landesamt für Denkmalpflege (Baden-Württemberg State Heritage Office). The results were published in 2013 (Hees 2013: 69-197). Enclosure 1 is a rectangular segmented enclosure, measuring 30 x 23 m. The enclosing ditch has a V-shaped profile and is up to 3 m deep. It is divided into 2 segments, the bottom of the ditch is interrupted by 4 steps. Enclosure 2 is round, with a diameter of 20 m.The enclosing ditch is up to 3 m deep, has a V-shaped profile, and is divided into 5 segments. In both enclosures 80 – 100 cm of silt had accumulated at the bottom of the ditches, showing that the ditches had been open for a long time and slowly silted up before they were finally filled in with soil and settlement debris. The ditch infills contained large numbers of Late Iron Age pottery from the La Tène C2 and D1 periods (2nd and early 1st centuries BC). Remarkable finds are fragments of drinking vessels like goblets and footed bowls, partially molten bronze objects, and an iron javelin point. The javelin point is of a type similar to a roman pilum, used in the eastern alpine zone and east central Europe.The animal bones include exceptionally high percentages of wild animals, 5% at enclosure 1 and 11% at enclosure 2, mostly of hare and red deer. Of the domestic animals, sheep/goat make up ca. 50% of the animal bones in enclosure 1, and cattle ca. 70% in enclosure 2. There are also partial skeletons of a cow and a sheep, numerous snail shells and burnt red deer antler fragments. There are human remains from eight individuals; two partial skeletons, one cremation burial, and single bones of five more individuals. This kind of enclosure has not previously been found in south-western Germany. They are similar to the enclosures of Roseldorf in Lower Austria, which are interpreted as Iron Age sanctuaries. In France, besides the wellknown large Iron Age sanctuaries like Gournay-sur-Aronde, several smaller enclosures have been found, mainly in the northern parts of the country. Their form, size and finds are similar to the Neckargartach enclosures (see 40

list).These enclosures were used as meeting places for small groups of people, holding banquets or ritual meals, for deposition of sacrifices in pits and ditches, and as burial places for selected individuals, probably applying secondary burial rites. The Neckargartach enclosures are situated on a low hill, above the western bank of the Neckar, approximately at the centre of the Heilbronn basin and a Late Iron Age settlement cluster with c. 30 known sites of the Latène C and D periods (7 sites in a 2 km radius, 28 sites in a 5 km radius). In south western Germany all previously known Iron Age sanctuaries were “natural sanctuaries” situated in bogs, caves, near springs or at unusual rock formations. The Neckargartach enclosures are the first examples of constructed sanctuaries which are not connected to noticable natural sites. Like most settlement sites in the region, both enclosures were abandoned around the middle of the first century BC. They were destroyed, levelled and the ditches filled in.

Seit 1980 findet eine systematische Luftbildprospektion der landwirtschaftlich genutzten Lößflächen am Mittleren Neckar statt. Bei einer Befliegung im März 1980 entdeckte Otto Braasch in der Flur „Nonnenbuckel“, südlich von Heilbronn-Neckargartach (Baden-Württemberg, D), eine Grabenanlage; im Jahr 1984 wurde direkt daneben von Rolf Gensheimer eine zweite Anlage entdeckt (Abb.3). Von Oktober 1987 bis November 1988 wurde vom ­damaligen Landesdenkmalamt Baden Württemberg, in Zusammenarbeit mit der Arbeitsloseninitiative Heilbronn e.V., im Bereich der im Luftbild erkennbaren Strukturen eine Grabung durchgeführt. Die Arbeiten standen unter der wissenschaftlichen Leitung von Jörg Biel und der örtlichen Grabungsleitung von Ulrike Schmidt und ­Hubert Heizmann (Biel 1981; Biel 1989). Beide Grabenanlagen wurden vollständig ausgegraben, außerdem fand eine ­Magnetometer-Prospektion auf der angrenzenden Parzelle statt, bei der allerdings keine weiteren Befunde entdeckt wurden. Die Auswertung der Keramik wurde bereits 1994 von Wolfgang Brestrich begonnen, wegen anderweitiger beruflicherVerpflichtungen aber nicht ­abgeschlossen. Die Auswertung der Tierknochen wurde von Kristine Schatz durchgeführt, der Mollusken von Gerhard Falkner, der menschlichen Knochen durch Joachim Wahl. Die Ergebnisse wurden 1994 veröffentlicht (Schatz 1994). Die Auswertung der Grabungen erfolgte schließlich in den Jahren 2011/12 durch den Verfasser im Landesamt für Denkmal-

pflege Baden-Württemberg, die Publikation folgte Ende 2013 (Hees 2013: 69 –197). Die Fundstelle liegt am westlichen Rand des Neckartals, auf der Kuppe und am oberen Nordhang eines flachen, in Ost-West-Richtung verlaufenden Hügels, ca. 25 m über der Talsohle (Abb. 1+2). Der im 20. Jh. angelegte ­Neckarkanal ist 600 m entfernt. Die Böden bestehen aus Löß und Lößlehm, die intensive landwirtschaftliche Nutzung bewirkte eine starke Erosion der Hügelkuppen. Die erste Grabenanlage ist rechteckig mit abgerundeten Ecken und misst 30 × 23 m, mit einer Innenfläche von 270 m². Im Innenraum sind keine Spuren einer Bebauung erhalten. Der Graben weist einenV-förmigen Querschnitt auf, die Breite beträgt 3–5 m, die Tiefe noch 2–3 m. Unter Berücksichtigung der Erosion dürfte die Grabentiefe ursprünglich 3–4 m betragen haben. Der Graben besitzt zwei Unterbrechungen an der Oberfläche, nahe der Südwestecke und der Nordostecke, und vier erhöhte Absätze auf der Grabensohle (Abb. 4 und 5). Die zweite Anlage ist rund mit einem Durchmesser von 20 m und einer Innenfläche von 140 m². Am westlichen Rand der Innenfläche liegt ein einzelnes Pfostenloch. Der Grabenquerschnitt ist V-förmig mit einer Breite von 2,5– 4 m und einer Tiefe von 2–3 m, ursprünglich 3–4 m. In der südlichen Hälfte befinden sich 5 Unterbrechungen des Grabenverlaufs an der Oberfläche. In beiden Anlagen liegen über der Grabensohle 80– 41

Abb. 1:  Lage der Grabung in Flur „Nonnenbuckel“ südlich von Heilbronn-Neckargartach © Martin Hees, LAD BW.

100 cm mächtige Kolluvien mit feiner Schichtung, deren Entstehung mehrere Jahre gedauert haben muss. Niederschläge und Frost führten zu Wandausbrüchen in der Grabenwand und ließen Lößbrocken in die Gräben abrutschen. Schließlich wurden die Grabenwände durch Bewuchs stabilisiert, in den Kolluvienschichten über der Grabensohle entstanden Tiergänge. Die Gräben standen längere Zeit offen, in dieser Zeit kam es zu keinen größeren Veränderungen. Am Ende der Nutzungszeit der Anlagen erfolgte dann eine Verfüllung der noch 1,5–2 m tiefen Gräben in einem Zug, es sind Anpassungen von Keramikscherben und Knochen aus unterschiedlichen Grabenabschnitten und Tiefen möglich. Das Volumen der abschließendenVerfüllschichten beträgt annähernd 550 m³ für Anlage 1 und 170 m³ für Anlage 2. Auf der untersuchten Fläche befanden sich noch weitere Befunde und Funde aus Neolithikum, Urnenfelder42

zeit, Späthallstatt-Frühlatènezeit, Römerzeit, Mittelalter und Neuzeit. Aus den Grabenverfüllungen konnten ca. 10 000 Keramikscherben geborgen werden, dabei handelt es sich überwiegend um Keramik der Stufen Latène C2 und D1 (2. und frühes 1. Jh. v. Chr.). Annähernd 90 % der Keramik sind grobe handgearbeitete Ware, nur etwa 10 % sind Drehscheibenware. Kammstrichverzierung ist häufig, aber es kommen weder Glättmuster noch Bemalung vor.Auch Amphoren und andere mediterrane Importwaren fehlen. Das Keramikspektrum vom „Nonnenbuckel“ zeigt deutliche Unterschiede zu den Inventaren aus Viereckschanzen, Oppida und anderen Großsiedlungen Südwestdeutschlands, und ist vergleichbar mit den Funden aus kleinen unbefestigten Siedlungen der Region. Die ältesten Keramikformen sind Drehscheibenware und Graphittonware noch der Stufe LtC2, die jüngsten

Abb. 3: Luftbild der Fundstelle aus östlicher Richtung, aufgenommen 1984 © Rolf Gensheimer, LAD BW.

Abb. 2: Topographische Situation der ausgegrabenen Befunde. 1-2: Grabenanlagen der Jüngeren Latènezeit, 3-5: ältere Befunde, 6: prospektierte Zone © Martin Hees, LAD BW.

Formen sind Kamm-Grübchen-Keramik, die ab LtD1 bis in augusteische Zeit vorkommt, und eine einzelne Scherbe rollradverzierte Drehscheibenware, die bereits in LtD2 zu datieren ist. Zwei besondere Gefäßformen, die in Südwestdeutschland bisher unbekannt waren, sind Fußschalen und pokalförmige Trinkgefäße aus hellgrauer Drehscheibenware (Abb. 7). Solche Fußschalen kommen in Manching vor (Pingel 1971: 43–46). Die Pokale mit bauchigem Oberteil und Hohlfuß mit ungewöhnlich dicker Wand sind vergleichbar mit Funden aus Böhmen (Rulf, Salaˇc 1995: Abb. 2, Nr. 620).

Deutliche Fundkonzentrationen liegen bei Anlage 1 im südwestlichen Teil, auf beiden Seiten der südwestlichen Grabenunterbrechung, und bei Anlage 2 im mittleren Teil des halbkreisförmigen nördlichen Grabenabschnitts (Abb. 6). Aus beiden Grabenanlagen stammen nur wenige Metallfunde. Es handelt sich dabei vor allem um angeschmolzene und verbogene Bronzeobjekte, dazu gehören unter anderem zwei nicht identifizierbare Fibeln, Perlen, ein Fragment eines Toilettebestecks, und ein Armring mit vierkantigem Querschnitt und spitzen Enden. Aus Schnitt 27 stammen zwei Fragmente eines eisernen Messers mit leicht geschwungener Klinge. Eine ungewöhnliche eiserne Speerspitze aus Schnitt 8 ähnelt einem römischen Pilum, mit langem vierkantigem Schaft, Tülle und kleiner blattförmiger Spitze (Abb. 8). Diese Form entstand im 5. Jh. v. Chr. in Mittelitalien, vergleichbare Speerspitzen zeigen in der Spätlatènezeit eine Verbreitung mit Schwerpunkt im Ostalpenraum und im östlichen Mitteleuropa, nur einzelne Exemplare sind aus Süddeutschland und Frankreich bekannt. Die Tierknochenkomplexe (Schatz 1994) aus beiden Anlagen enthalten einen hohen Anteil an Wildtieren, er beträgt 5 % in Anlage 1 und 11 % in Anlage 2, dabei handelt es sich vorwiegend um Knochen von Feldhase und Rothirsch. Bei den Haustieren liegt in Anlage 1 der Anteil von Schaf/Ziege bei ca. 50 %, dabei handelt es sich meist 43

Abb. 4:  Grabenanlagen 1 und 2: Planum 1 und Grabensohlen © Martin Hees, LAD BW. 44

Abb. 5:  Räumliche Rekonstruktionszeichnungen der beiden Grabenanlagen © Martin Hees, LAD BW.

um adulte Tiere. Der Anteil der Schweine beträgt ca. 23 %, der Anteil der Rinder ca. 15 % mit vorwiegend jüngeren Tieren und hochwertigen Teilen. Außerdem sind einzelne Knochen von Pferd und Hund vorhanden. Nur ein geringer Teil der Knochen weist Brandspuren auf. In Anlage 2 liegt der Anteil der Rinder bei ca. 70 %, der Schweine bei ca. 10%. Der Anteil von Schaf/Ziege beträgt ca. 7 % mit vorwiegend jüngeren Tieren und hochwertigen Teilen. Dazu kommen einzelne Knochen von Hund und Haushuhn. In Anlage 2 ist ein hoher Anteil der Tierknochen verbrannt oder mit Brandspuren. Dazu kommen in Anlage 2 ca. 400 gezielt nach Farbe und Größe selektierte Schneckenhäuser, und ca. 150 verbrannte Fragmente von Rothirschgeweihen. Der größte Teil des Fundmaterials stammt aus der in

einem Zug eingebrachten abschließenden Verfüllung der Gräben. Es handelt sich um umgelagertes Material, von Abfallhaufen aus dem Inneren der Anlagen oder der unmittelbaren Umgebung. Davon unterscheiden sich zwei intentionell deponierte Teilskelette. Ein Teilskelett eines Rindes ist die älteste Deponierung in beiden Anlagen. Es wurde auf der Grabensohle von Schnitt 19 niedergelegt, unmittelbar nach dem Ausheben des Grabens. In diesem Grabenabschnitt erfolgte keine Bildung von Kolluvienschichten, er wurde sofort nach der Deponierung wieder verfüllt. Ein Teilskelett eines Schafes wurde als jüngste Deponierung im oberen Teil der abschließenden Verfüllung von Schnitt 10 niedergelegt, während der Verfüllung der Gräben und unmittelbar vor Aufgabe der Anlagen. Die menschlichen Knochen stammen von insgesamt 8 Individuen. Zwei Teilskelette lagen in der Grabenverfüllung von Anlage 1: in Schnitt 2 das Teilskelett einer weiblichen Person im Alter von 30 –40 Jahren, und in Schnitt 3 das Teilskelett einer eher männlichen Person im Alter von 20 –25 Jahren. In den Kolluvienschichten über der Grabensohle von Schnitt 3 lag die Brandbestattung eines eher weiblichen Individuums im Alter von etwa 30 Jahren, mit zwei Keramikgefäßen (ein doppelkonischer Topf mit hohem senkrechtem Rand und eine kalottenförmige Schale) und drei angeschmolzenen Bronzeperlen. Einzelne verbrannte und unverbrannte menschliche Knochen von 5 Individuen ­lagen verstreut in unterschiedlichen Tiefen in den Verfüllschichten der Gräben beider Anlagen. Für die menschlichen Überreste in den Gräben gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Es könnte sich um eine kleine Gruppe von nur flach eingetieften Körpergräbern und Brandgräbern handeln, die bei der Aufgabe der Anlagen zusammen mit Erde, Keramik- und Speise­ ab­fällen abgegraben und in die Gräben verfüllt wurden. ­Dabei befanden sich die Skelette einzelner Individuen noch teilweise im Verband. Die Verteilung der Knochen könnte aber auch die Folge mehrstufiger Bestattungsbräuche sein. Die Körper zersetzten sich an der Ober­ fläche oder in flachen Gruben, nach einiger Zeit wurden die Knochen eingesammelt und verbrannt, und der Leichenbrand auf der Grabensohle bestattet. Bei der Auf­gabe der Anlagen wurden dann menschliche Überreste in unterschiedlichen Stadien der Behandlung in die Gräben verfüllt. Die Bestattungssitten der Spätlatènezeit in Südwestdeutschland sind uns weitgehend unbekannt. Es gibt 45

Abb. 6:  Fundverteilung innerhalb der Grabenverfüllungen © Martin Hees, LAD BW. 46

Abb. 7:  Ungewöhnliche Keramikformen: Fußschale aus Schnitt 2 (Fundnummer 202a) und Pokal aus Schnitt 4 (Fundnummer 181a) © M. Sonntag, LAD BW.

nur einzelne Gräber, Gräberfelder fehlen, immer wieder kommen einzelne menschliche Knochen in Siedlungsbefunden vor. Eine Pfostengrube innerhalb der westlichen Grabenunterbrechung von Anlage 2 ist der einzige Hinweis auf Baustrukturen im Innenraum der Anlagen. In der Verfüllung der Grube mit 30 cm Durchmesser und 40 cm Tiefe war die Standspur eines 14 cm starken Pfostens erkennbar. Als Folge der starken Erosion der Lößböden sind alte Laufhorizonte und eventuelle flach eingetiefte Strukturen nicht erhalten. Ein einzelner Pfahl könnte als Markierung gedient haben, und war möglicherweise auch bemalt oder skulptiert, oder diente zur Aufstellung von Trophäen. Die Nutzung der Neckargartacher Grabenanlagen endet etwa in der Mitte des 1. Jh. v. Chr. gleichzeitig mit dem Ende der meisten Siedlungsfundstellen der Region. Die Anlagen wurden systematisch zerstört, einplaniert und die Gräben in einem Zug verfüllt. Für die beidenViereckschanzen von Nordheim, 6 km von Neckargartach entfernt, ist ein ähnlichesVorgehen nachweisbar (Neth 2010). Angelegt in der ersten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. als befestigte Hofanlagen, wurden sie um die Mitte des 1. Jh. v. Chr. niedergebrannt und einplaniert, Pfostenlöcher und Grubenhäuser wurden mit Brandschutt und Siedlungsabfällen verfüllt.

Die Grabenanlagen vom „Nonnenbuckel“ gehören zu einer Befundkategorie, die bisher in Südwestdeutschland nicht bekannt war. Es gibt Ähnlichkeiten mit den Heiligtümern von Roseldorf in Niederösterreich (Holzer 2008). Dort liegen am Rand einer großen latènezeitlichen Siedlung eine quadratische Grabenanlage mit Seitenlängen von 17 m und drei quadratische Grabenanlagen mit Seitenlängen um 10 m. In den Innenflächen fanden sich nur einzelne Gruben. Die Funde stammen vor allem aus den Gräben, unter anderem Waffenfragmente, Teile von Wagen und Pferdegeschirr, Schmuckstücke, Amulette, Münzen, Keramik, Tierknochen und menschliche Knochen. Ungewöhnlich sind eine bearbeitete Geweihstange vom Rothirsch (Teil einer Statue oder einer Maske) und eine Kopfbedeckung aus Eisenblechstreifen. Die Funde datieren von LtB bis LtD. Vor allem in Frankreich, von Nordostfrankreich bis zur Atlantikküste, finden sich neben den bekannten gro­ ßen Heiligtümern der Latènezeit, wie in Gournay-surAronde (Brunaux 2012), auch eine ganze Reihe kleinerer ­Grabenanlagen, die in Form, Größe und Fundmaterial mit den Anlagen von Neckargartach vergleichbar sind. Einzelne ähnliche Grabenanlagen sind auch aus Bayern und der Tschechischen Republik bekannt (siehe Liste unten und Abb. 9). Diese Anlagen sind durch in der Regel mindestens 47

Abb. 8:  Speerspitze aus Schnitt 8, Eisen (Fundnummer 203a) © S. Sutt, LAD BW.

einmal unterbrochene Gräben von der Umgebung abgegrenzt, und kommen mit runden und rechteckigen Formen vor. Der Durchmesser beträgt meist weniger als 20 m, damit ergibt sich eine relativ kleine Innenfläche. Sie liegen häufig im Randbereich von Siedlungen. Es gibt mehrere Beispiele für einzelne Gräber oder kleine Grabgruppen im Umfeld. Das Fundmaterial umfasst Reste von Mahlzeiten (Tierknochen, Keramik), häufig mit Amphoren und Trinkgefäßen. Häufig kommen auch Deponierungen von 48

Haustieren oder Teilen von Haustieren in Gräben und Gruben vor, seltener Deponierungen von Waffen,Trachtbestandteilen und Münzen. Diese Grabenanlagen dürften als Versammlungsplatz kleinerer Menschengruppen gedient haben, die dort ­Deponierungen (Opfer?) durchführten, und Bankette oder Kultmahlzeiten abhielten. Außerdem dienten sie als Bestattungsplatz für ausgewählte Individuen, wobei möglicherweise mehrstufige Bestattungssitten vorliegen. In Südwestdeutschland waren bisher aus der Eisenzeit nur sogenannte „Naturheiligtümer“ von Quellen, Mooren, Höhlen und Felstoren bekannt (Wieland 2012). Die Anlagen vom „Nonnenbuckel“ sind hier die ersten Beispiele für konstruierte Kultplätze ohne direkten Bezug zu auffälligen Naturerscheinungen. Die Grabenanlagen von Neckargartach liegen auf einem flachen Hügel am Rand des Neckartals, annähernd im Zentrum des Heilbronner Beckens, einer Siedlungskammer der Jüngeren Latènezeit mit zur Zeit etwa 30 bekannten Fundstellen (Neth 2010). In einem Radius von 2 km liegen 7 Fundstellen, im Radius von 5 km 28 Fundstellen (Abb. 10). Durch ihre erhöhte Lage waren die Anlagen von Osten und Süden her deutlich sichtbar, weniger deutlich von Nord, und nur schlecht von West. Der Platz bietet eine Aussicht über das Neckartal, das Heilbronner Becken, und den das Becken halbkreisförmig umgebenden Schichtstufenrand aus Schilfsandstein-Hochflächen mit Keuperhängen (Abb. 10). Bei den Grabenanlagen vom „Nonnenbuckel“ dürfte es sich um einen lokalen Kultplatz der Bewohner des Heilbronner Beckens handeln. Beide Anlagen sind nach ähnlichem Muster angelegt, weisen aber Unterschiede im Grundriss auf. Beide wurden zur selben Zeit gebaut, verwendet, schließlich zerstört und eingeebnet. Die in den Grabenanlagen durchgeführten Handlungen sind vergleichbar, sie umfassen Mahlzeiten, Deponierungen und Bestattungen, aber mit Unterschieden, vor allem bei den verwendeten Tierarten. Stehen die beiden Grabenanlagen für zwei verschiedene Benutzergruppen? Es könnte sich um eine Unterscheidung nach räumlichen Kriterien handeln, zum Beispiel um die Bewohner der Siedlungen östlich und westlich des Neckars, aber auch um Verwandschaftsgruppen, Berufsgruppen, soziale Schichten, oder Unterscheidungen nach Alter oder Geschlecht. Eine andere Möglichkeit ist

Abb. 9:  Kartierung der Vergleichsfundstellen (siehe Liste) © Martin Hees, LAD BW. (Kartierungsgrundlage: Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen).

die Verehrung unterschiedlicher Gottheiten. Keine dieser Überlegungen lässt sich aus den Funden und Befunden belegen. Hier verlassen wir den Bereich der Interpretation, alles Weitere wäre reine Spekulation. Liste der Vergleichsfundstellen (zur Karte Abb. 9): – Beaurieux, Département Aisne, F (Auxiette, Robert 2005) – La Croix Saint Ouen, Département Oise, F (Malrain 1991)

– Fontaine-la-Gaillarde, Département Yonne, F (Barral u. a. 2003 : 154–155) – Bennecourt, Département Yvelines, F (Haffner 1995: 24) – Saumeray, Département Eure-et-Loir, F (Hamon, Lejars, Josset 2002) – Pétosse, DépartementVendée, F (Bouvet u. a. 2003: 100– 101) – Fontenay-le-Comte, Département Vendée, F (Bouvet u. a. 2003: 87, 95–96) – Benet, Département Vendée, F (Bouvet u.  a. 2003: 95) 49

Abb. 10:  Fundstellen der Jüngeren Latènezeit (LtC+D) in Heilbronn und Umgebung. ´ Heilbronn-Neckargartach „Nonnenbuckel“, l  Siedlung, u Viereckschanze, n  Grab, P Einzelfund. Gerastert: Höhen über 250 m, Kreise: Radius 2 km und 5 km. © Martin Hees, LAD BW.

– Quimper, Département Finistère, F (Bouvet u.  a. 2003: 83–84, 101–102) – Vestric, Département Gard, F (Dedet, Mahieu, Sauvage 1997) – Straubing-Alburg, Niederbayern, D (Engelhardt 1982)

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– Oberweiling, Lkr. Neumarkt/Oberpfalz, D (Heller 2011) – Roseldorf, Niederösterreich, A (Holzer 2008) – Nové Dvory, okr. Kutná Hora, CZ (Šumberová,Valentová 2011)

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Dr. Martin Hees Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg Arbeitsstelle Ludwigsburg Frauenried 3 D – 71638 Ludwigsburg-Grünbühl

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R. Karl, J. Leskovar [Hrsg.] (2015), Interpretierte Eisenzeiten. Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich, Folge 42, Linz, 53–66.

‚Körperbiographien’ – Aspekte einer ‚Archäologie des Körpers’ zwischen Kultur- und Naturwissenschaften* Melanie Augstein

„Jedes Menschenleben verdient eine Erzählung, wenn sich nur der Erzähler Rechenschaft giebt, was er erreichen will“. Richard Maria Werner (1895: 115)

Zusammenfassung Seit den 1990er Jahren ist der menschliche Körper zu einem zentralen Forschungsthema nicht länger nur der Naturwissenschaften, sondern ebenso der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften geworden.Vor diesem Hintergrund wird er auch im Kontext der Biographieforschung als sozialhistorische Quelle konzeptualisiert. Es gilt zu fragen, inwiefern Körper, die in den Forschungsfeldern der Prähistorischen Archäologie allgegenwärtig sind, trotz ihrer quellenbedingten Fragmentiertheit Gegenstand biographischer Beschreibung sein können. Abstract Since the 1990s, the human body has become a focal point of research, no longer only for the natural sciences but also for the humanities, cultural studies and social sciences. This is why the body is conceptualized as a sociohistorical source in the context of biographical research as well. Bodies are also ubiquitous in the research fields of prehistoric archaeology. This raises the question whether and how these bodies can be the object of biographical description too, despite their usually fragmented nature.

* Ich danke Hans Reschreiter (Wien) und Kurt W. Alt (Krems) für weiterführende Informationen und Literatur sowie für anregende Diskussionen während der Tagung. Ferner gilt mein Dank einmal mehr Beat Schweizer (Tübingen) für seine kritische Lektüre einer früheren Manuskriptversion.

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Die Verwiesenheit von Körper und Biographie Eine Biographie (von bios, Leben, und graphein, einritzen, zeichnen, schreiben) ist, so das allgemeine Verständnis, die Lebensbeschreibung, die mediale Repräsentation des Lebenslaufes eines Menschen. Dies ist nicht zu denken ohne die Ebene der Konstruktion: „Biographien werden mit Hilfe von Erfahrungen, durch das Handeln in sozialen Beziehungen und unter Rückgriff auf sozial konstituierte Wissensbestände konstruiert“ (Kretschmann 2009: 75). Jeder Mensch nimmt unterschiedliche Situationen und Erfahrungen seines eigenen Lebens unterschiedlich wahr, erinnert sie unterschiedlich, deutet und reproduziert sie je nach Kontext. Biographien ermöglichen demnach „eine besonders dichte Verbindung von Faktizität (als irreversibel Gewesenem) und Auslegung (als offenem, reversiblen Horizont)“ (Kretschmann 2009: 75).1 Die einzelnen Arbeitsfelder der Biographieforschung, wie die Geschichts- und Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Musik-, Religions-, Erziehungs- oder Politikwissenschaft, Soziologie, Medizin oder Psychologie, aber auch die Gender Studies, Post-Colonial oder Jewish ­Studies (siehe etwa Klein 2009a), sind sehr heterogen und ­haben fachspezifische Traditionen, Methoden und Ansätze entwickelt. Seit einiger Zeit befassen sich zahlreiche dieser Arbeitsfelder auch mit Fragen der Körperlichkeit, mit dem Körper als sozialhistorische Quelle.2 Betont wird dabei die „unbedingte gegenseitigeVerwiesenheit von Bio­grafie und Körper/Leib“ (Schaufler 2003: 83).3 Die individuelle Lebensgeschichte nimmt Einfluss auf den Körper als „biologischen Organismus und … kulturelles Symbol“ (Schaufler 2003: 83). Der Körper ist Ausgangspunkt ­komplexer Erfahrungen, die Menschen durch ihn und mit ihm machen, er ist daher zweifellos „zentrales Element ­biografischer Beschreibung“ (Schaufler 2003: 83). Die Allgegenwart des Körpers in der Prähistorischen Archäologie Als Konsequenz ist die Frage zu stellen, ob und wie auch die Prähistorische Archäologie zu diesem Diskurs bei­ tragen kann, denn Körper sind in ihren Forschungsfeldern allgegenwärtig.4 Man begegnet ihnen – das überrascht kaum – in großer Zahl in Gräbern. Die Allgegenwart des Körpers schlägt sich hier explizit im Bereich der Klassifikation nieder (dazu Eggert 2012: 55–74, bes. 56–67), denn 54

die Systematisierung von Bestattungen basiert in hohem Maße auf der Behandlung des Körpers. Als Beispiel sei die Unterscheidung des Bestattungsritus genannt – also Körper- oder Brandbestattung.Auch die Bestattungsform, etwa Einzel-, Doppel-, Mehrfach-, Kollektiv- oder Sekundärbestattung, ist auf den Körper bezogen, auf die Vergesellschaftung von Körpern, auf verschiedene Zeitebenen der Einbringung von Körpern in Grabkontexte, oder im Falle der Sekundärbestattung auf die Prozesse und Stadien der Körperbehandlung im Bestattungsritual. ‚Sonderbestattungen‘ (dazu Aspöck 2013; Veit 2013) können durch abweichenden Grabbau, abweichenden Bestattungsritus oder abweichende Ausstattung definiert werden (MeyerOrlac 1997: 1). Dem anzuschließen sind Phänomene, bei denen die Deponierungsorte der Körper von dem abweichen, was man als Gräberfelder bezeichnet und implizit als ‚reguläre‘ Bestattungsorte versteht. Demnach könnten auch Siedlungsbestattungen als eine Form der Sonderbestattung verstanden werden (Veit 2013: 18).5 Sie bezeichnen den Ort der Körperdeponierung – anders als bei Gräberfeldern, wo Kategorien wie Kenotaphe oder Grabdeponate eine Rolle spielen können (dazu Eggert 2012: 65ff.), ist eine Siedlungsbestattung ausschließlich über die Anwesenheit eines Körpers zu fassen. Häufig werden Sonderbestattungen jedoch anhand von Manipulationen des Körpers klassifiziert (Meyer-Orlac 1997: 1; siehe auch Augstein 2013a, bes. 369ff.). Körper sind also nicht nur im Kontext von Gräbern allgegenwärtig, sondern finden sich auch in Form von Körperdeponierungen im Bereich von Siedlungen. Dabei kann es sich um beschriebene Erscheinungen handeln, die in der Forschung noch als eine (‚irreguläre‘) Bestattungsvariante akzeptiert oder zumindest diskutiert werden, aber auch um diffusere Befunde wie isolierte, häufig stark fragmentierte Menschenknochen in Siedlungsschichten, deren Interpretationsrahmen von ‚Entsorgung‘ bis hin zu Niederschlag mehrstufiger Bestattungspraktiken reicht. Zu nennen wären exemplarisch die Befunde aus dem Oppidum von Manching, wo sich die meist isolierten Überreste mehrerer hundert Menschen in der Kulturschicht und in Gruben und Gräbchen fanden. Nicht nur sind Auswahlpraktiken zu beobachten – rund die Hälfte des Fundmaterials besteht aus den großen Langknochen Femur, Tibia und Humerus (Lange 1983: 4), andere Körperelemente sind also signifikant unterrepräsentiert. An vielen finden sich zudem Spuren anthropogener Behand-

lung, wie etwa Schnittspuren (Lange 1983: 24f.); in diesem Zusammenhang sind auch die maskenartig zugerichteten Gesichtsschädel zu nennen (Lange 1983: 7; Taf. 31–32). Dem an die Seite zu stellen wäre die Siedlung Basel-Gasfabrik, wo sich – neben zahlreichen Siedlungsbestattungen – ebenfalls isolierte menschliche Überreste finden (dazu jüngst Pichler u. a. 2013). Aber auch in nicht-sepulkralen rituellen Kontexten wie Kult- oder Opferplätzen fasst man sie. In Ribemont-sur-Ancre etwa wurden mindestens hundert enthauptete Männer samt ihrer Bewaffnung auf einem Podest inszeniert; zur Struktur gehört ferner ein Bereich aus altarähnlich aufgeschichteten menschlichen Langknochen (Brunaux 2009; zusammenfassend Scherr 2013). Eine spezifische Behandlung menschlicher Körper – ihre Einlassung in Schächten, um sie auszutrocknen und zu konservieren und ihre anschließende Deponierung in sitzender Haltung in Gruben – ist auch für Acy-Romance rekonstruiert (Verger 2000). Weitere Beispiele wären anzuschließen, doch sollte bereits deutlich geworden sein, dass sich im Kontext ritueller Handlungen häufig komplexe Körpermanipulationen fassen lassen – der Körper spielte hier offenbar eine zentrale Rolle.

‚biographiewürdig‘.6 Das gilt im selben Maße für die Lebensgeschichten prähistorischer Individuen.7 Aber wie ist es um ihre ‚Biographiefähigkeit‘ bestellt?8 Hannes Schweiger (2009: 34) weist darauf hin, dass für die Frage nach ‚Biographiewürdigkeit‘ nicht nur die „historische Größe oder Bedeutung“ einer Person ausschlaggebend ist, sondern auch die Quellenlage, und berührt damit genau diesen Punkt: Es müssen Quellen vorhanden sein, „eine Person muss Spuren in den Archiven hinterlassen“ haben.9 Das kann auch für Personen prähistorischer Zeiten bedingt Gültigkeit beanspruchen, denn die Körper, mit denen man es allenthalben zu tun hat, sind gewiss Quellen, in einem postmodernenVerständnis auch Archive, mit einem teils sogar komplexen Aussagewert.Alle diese ‚Körper-Quellen‘ können, wie jede andere Form materieller Kultur, als Artefakte verstanden und analysiert werden, sie wurden in je spezifischen sozialen Kontexten geformt und behandelt, sie wurden kulturell konstruiert. Es muss also bei der Analyse von prähistorischen Körpern darum ­gehen, die entsprechenden Kontexte und damit Lebensläufe oder Lebensabschnitte zu rekonstruieren. Körper und Lebenslaufrekonstruktionen

‚Biographiewürdigkeit‘ Körper sind in den Forschungsfeldern der Prähistorischen Archäologie also allgegenwärtig – aber sind sie auch ­‚biographiewürdig‘? Zu fragen wäre zunächst generell, wer dies überhaupt ist, denn ‚Biographiewürdigkeit‘ ist Personen nicht immanent, sie ist keine gegebene „Eigenschaft“ (Schweiger 2009: 36). Während soziologische Biographieforschung an Lebensgeschichten interessiert ist, die als exemplarisch für eine bestimmte soziale Gruppe oder eine Generation gelten können (Schweiger 2009: 32), beschäftigte sich geistes- und kulturgeschichtliche Biographik zum Großteil mit Personen, die als bedeutend – in Bezug auf ihre Handlungen, Leistungen oder Werke – gelten oder deren Handeln als „wirkungsmächtig“ angesehen worden ist. „Historische Größe und Bedeutung“ wurde jedoch insbesondere seit den 1970er Jahren als Kriterium für die ‚Bio­graphiewürdigkeit‘ einer Person in Frage gestellt. Dies ist auf den Einfluss von Sozialgeschichtsschreibung, Mikrogeschichte, Feminismus oder post­kolonialer Theorien ­ zurückzuführen (Schweiger 2009: 34). Eine Lebensgeschichte wird dadurch, dass man sie darstellt,

Ein Lebenslauf kann sich aus der Abfolge unterschiedlichster Ereignisse (‚punktuell‘) zusammensetzen; geprägt ist er aber gleichsam von Praktiken und Normen (‚längerfristig‘). Sie sind dem Körper eingeschrieben, sie ­haben ‚Spuren‘ an ihm hinterlassen. In diesem Sinne kann von ‚Körperbiographien‘10 gesprochen werden. Die Problemstellung eröffnet der Prähistorischen Archäologie als Historischer Kulturwissenschaft (dazu Eggert 2006: bes. 247ff.) in Verbindung mit sowohl anderen Kulturwissenschaften als auch den Naturwissenschaften Möglichkeiten, den Körper als Element biographischer Forschung zu fokussieren und trotz der Fragmentiertheit archäologischer Quellen Aspekte der Lebensgeschichte eines Menschen zu beleuchten.11 Insbesondere die Paläoanthropologie12 spielt hier eine wesentliche Rolle. Kurt W. Alt (2010: 12) spricht von „nahezu biographische[n] Details über alle Lebensbereiche eines Individuums bzw. [der] es einschließende[n] Gemeinschaft“, die sich aus der Zusammenarbeit von Archäologie und Anthropologie ergeben. Liselotte Hermes de Fonseca (2011: 125) verweist explizit auf den Körper als Basis der Biographieschreibung: „Beim Entziffern dieses Lebens aus dem Körper [des Ötzi, Anm. M. A.] … 55

überwiegen die Naturwissenschaften“, legt hiermit dann einen explizit ‚naturwissenschaftlichen Körperbegriff‘ zugrunde. Es geht darum, Körperpraktiken oder Aktivitätsmuster zu rekonstruieren – Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Ereignisse und längerfristige Entwicklungen sichtbare Spuren am menschlichen Körper hinterlassen haben. Es ist nach Carsten Kretschmann (2009: 75) das „leibhaftig Erlebte …, das zu objektiver Faktizität gerinnt und in der Regel materiale Spuren hinterlässt …“. Das bedeutet für die archäologische Praxis, es müssen Spuren sein, die am Skelett ablesbar sind. Diese Spuren alleine reichen jedoch nicht aus, um vergangene Lebenswirklichkeit zu rekonstruieren. Maßgeblich ist, die Ergebnisse der Naturwissenschaften in einen umfassenden Zusammenhang mit den Fragestellungen der Prähistorischen Archäologie, aber auch anderer altertumswissenschaftlicher Fächer sowie der Sozialwissenschaften zu bringen. Im Folgenden sollen einige Beispiele aus unterschiedlichen Forschungsfeldern der Eisenzeitforschung betrachtet werden. Zu fragen ist, ob und mit welcher Reichweite die Prähistorische Archäologie überhaupt zum Diskurs beizutragen vermag. Beispiel 1: Hallstatt In den letzten Jahren wurden Untersuchungen an allen noch vorhandenen Skelettresten des Gräberfeldes Hallstatt vorgenommen, und zwar vor allem in Hinblick auf Muskelmarken und muskuläre Stresssymptome (Pany 2005; Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010).Vorausgesetzt wurde, dass es einen Zusammenhang zwischen Merkmalen am Skelett und Aktivitäten zu Lebzeiten gibt (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 45). Das Relief der Muskelansatzstellen weist auf wiederholte Aktivitätsmuster hin; es sind somit Rückschlüsse auf bestimmte Bewegungsabläufe möglich. Die Rekonstruktion von Aktivitätsmustern zielt zunächst auf die individuelle Ebene. Darüber hinaus lassen sich aber eventuell Erkenntnisse über z. B. geschlechts­typische Arbeiten (Arbeitsteilung) oder alters­ typische Tätigkeiten (Kinder- oder Erwachsenenarbeit) gewinnen, die zusammen mit archäologischem Fundmaterial helfen können, die Strukturierung einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu rekonstruieren. Der insgesamt robuste Knochenbau der Individuen wird als Anpassung an frühe physische Belastung inter56

Abb. 1:  Rekonstruktion von Aktivitätsmustern: Das Brechen von Salzplatten im Bergwerk von Hallstatt. Ausschnitt aus dem Lebensbild zum bronzezeitlichen Salzbergbau in Hallstatt (nach Kern u. a. 2008: 49).

pretiert (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 54). Die Auswertung der Muskelmarken der Hallstätter Männer lässt sich mit einer Tätigkeit wie dem Brechen der gro­ßen Salzstücke mit Bronzepickeln vereinbaren (Abb. 1). Die Abnutzungsspuren an Frauenskeletten lassen hingegen vermuten, dass Frauen einseitig auf der Schulter schwere Lasten getragen haben (Abb. 2) – vermutlich eben diese losgeschlagenen Salzplatten (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 56; 57 Abb. 9). Dass auch Kinder von Beginn ihres Lebens an im Bergwerk anwesend waren, belegen Schuhe in kleinen Grö-

Abb. 2:  Rekonstruktion von Aktivitätsmustern: (links) Diese Tragweisen könnten zu den Abnutzungserscheinungen geführt haben, die bei den Skeletten Erwachsener beobachtet wurden (nach Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 57 Abb. 9); (rechts) Ausschnitt aus dem Lebensbild zum hallstattzeitlichen Salzbergbau in Hallstatt (nach Reschreiter, Pany-Kucera, Gröbner 2013: letzte Buchseite).

ßen (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 54) sowie eine Kappe in Babykopfgröße (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 55; 56 Abb. 8). Zudem wurden auch die 40 vorhandenen Skelette von Kindern und Jugendlichen aus dem Gräberfeld anthropologisch auf Zeichen früher physischer Belastung untersucht (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 44ff.). Es konnten Abnutzungserscheinungen einiger großer Gelenke und der Halswirbelsäule sowie oberflächliche Traumata vor allem am Kopf festgestellt werden. Offenbar wurden Kinder regelhaft physisch schwer und körperlich einseitig belastet (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 54). Aus den meist symmetrischen Abnutzungsmustern an der oberen Wirbelsäule konnte auf eine tragende Tätigkeit geschlossen werden, bei der der Kopf eine Rolle spielte – entweder wurden Lasten direkt am oder auf dem Kopf oder mit Hilfe von Stirntragebändern getragen (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 59ff.; 65). Die anthropologischen Analysen legen insgesamt nahe, dass die Kinder in einem frühen Lebensabschnitt einseitige, regelmäßige und überlastende Tätigkeiten ausüben mussten, denn es lassen sich die Folgen am Knochen bereits für Individuen ab dem achten Lebensjahr fassen (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 54). Festzuhalten bleibt, dass die Arbeit im Bergwerk bereits im Kleinkindalter zum Alltag der Menschen in Hallstatt

gehörte, seine Biographie also maßgeblich bestimmte.Aus den unterschiedlichen Abnutzungsmustern bei Kindern und Erwachsenen lässt sich eine Modifikation der Tätigkeiten in unterschiedlichen Lebensabschnitten rekonstruieren (Pany-Kucera, Reschreiter, Kern 2010: 54; 65; Reschreiter, Pany-Kucera, Gröbner 2013: 27). Beispiel 2: Viesenhäuser Hof Am Viesenhäuser Hof in Stuttgart-Mühlhausen wurden späthallstattzeitliche Grubenbefunde entdeckt, die mit einer Brandkatastrophe assoziiert werden – die hier gefundenen menschlichen Körper werden dementsprechend nicht als ‚reguläre‘ Gräber interpretiert, sondern vielmehr als Resultat von „Leichenbeseitigung“ (Scherzler 1998: 242). In einer dieser Gruben lag das Skelett einer frühadulten Frau (Scherzler 1998: 264), bei der ein tönerner Ring genau unter der Schambeinfuge lag (Abb. 3). Der Ring ist beinahe vollständig erhalten. Seine Oberfläche ist glatt und unverziert. Er wiegt 76,5 Gramm und hat einen Außendurchmesser von 71 bis 74 mm (Scherzler 1998: 246). Solche Ringe sind von weiteren eisenzeitlichen Fundstellen bekannt. Gut dokumentierte Befunde, zumeist Gräber, weisen dasselbe Muster auf – auch dort wurde der Ring immer mitten in der Beckenregion auf57

Abb. 3:  Stuttgart-Mühlhausen,Viesenhäuser Hof, Grab 8: (links) Umzeichnung des Befundes; (rechts) Detailfoto des Tonringes in situ; (c) Umzeichnung des Tonringes (Scherzler 1998: 245 Abb. 3.1–2).

gefunden (Scherzler 1998: 246ff.). Bei keinem der Befunde gibt es Hinweise auf ein (biotisches) männliches Geschlecht der Bestatteten (Scherzler 1998: 269), und Diane Scherzler (1998: 276ff.) konnte überzeugend über Analogien zu Ringen, die in der modernen Gynäkologie verwendet werden, eine Funktion als Pessar wahrscheinlich machen. Pessare verhindern ein Absenken der inneren weiblichen Genitalien, das als Folge zu großer körperlicher Belastung oder Geburten auftritt, in schlimmen Fällen sogar zu einem Austreten der Organe aus dem Körper (Prolaps) führen kann (Scherzler 1998: 270ff.). Damit verbunden sind nicht nur Einschränkungen in der Bewegungsfähigkeit, sondern auch große Schmerzen. Heute werden entsprechende Leiden operativ behandelt, nach wie vor kommen aber auch Stützpessare zum Einsatz. Sie entsprechen hinsichtlich ihrer Maße und Gewichte denen aus den hallstattzeitlichen Befunden (Scherzler 1998: 280). Bereits das vorhergehende Beispiel sollte deutlich gemacht haben, dass harte körperlicher Arbeit zum Alltag des eisenzeitlichen Menschen gehört haben dürfte. Daher ist anzunehmen, dass sich Frauen häufig nach einer Entbindung nicht in einem nötigen Maße körperlich schonen 58

konnten, sodass davon auszugehen ist, dass ein Absinken des inneren Genitals keine Ausnahme war (Scherzler 1998: 270; 288). Abhilfe in Form von mechanischen Barrieren, seien es besagte Tonringe oder Objekte aus anderen Materialien, war dringend vonnöten. Ob die Frau vomViesenhäuser Hof tatsächlich aufgrund mehrerer Geburten – es liegen zumindest Hinweise auf geburtstraumatische Veränderungen am Skelett vor (Scherzler 1998: 265f.) – oder körperlicher Überbelastung oder angeborener Schwächen auf das Tragen eines solchen Ringes angewiesen war, ist nicht mit Sicherheit zu klären. Auch ist die Zahl entsprechender Befunde (noch) zu gering (vgl. Scherzler 1998: 246ff.), um Aussagen über die Häufigkeit bestimmter körperlicher Erscheinungen sowie über die Spannbreite medizinischer Erfahrung treffen zu können. Sie belegen jedoch anatomische Kenntnisse, ein Körperwissen zumindest von ausgewählten Personen einer Gruppe, eine entsprechende Kommunikation über die Beschwerden und eine Behandlungssituation im Leben dieser Frau. Über Schmerzen und Strapazen, über Hoffnungen und Körpererleben besagen sie indes nichts. Beispiel 3: Die Moorleichen von Tollund und Grau­ balle Der 1950 im Moor von Bjældskovdal entdeckte so genannte Tollund-Mann ist wohl die bekannteste Moorleiche der Welt (umfassend Glob 1966; Fischer 2012). Neuere Radiokarbondatierungen ergaben einen wahr-

Abb. 4: Therkel Mathiassen vom Dänischen Nationalmuseum übergibt 1952 den Kopf des Tollund-Mannes an das Museum in Silkeborg (Foto: Niels T. Søndergaard; aus Fischer 2012: 69).

scheinlichen Todeszeitraum zwischen 375 und 210 BC (Fischer 2012: 76). Er wurde auf der Seite liegend, mit angezogenen Armen und Beinen aufgefunden, trug lediglich eine Ledermütze und einen ledernen Gürtel. Schaut man sich sein Gesicht mit den geschlossenen Augen an, glaubt man seine Gesichtszüge zu erahnen, sieht Falten und Bartstoppeln. Lassen sich über diesen für prähistorische Verhältnisse so außergewöhnlich gut erhaltenen Körper auch außergewöhnliche Hinweise auf seine Biographie gewinnen? Wegen der exzeptionellen Erhaltung des Körpers bot es sich an, ihn mit dem seinerzeit zur Verfügung stehenden Methodenspektrum zu untersuchen. So lieferten die Verdauungsorgane nicht nur Hinweise auf den Darmparasiten Peitschenwurm (Fischer 2012: 50), sondern auch auf die letzte Mahlzeit des Mannes. Es handelt sich um eine Grütze aus verschiedenen Getreidesorten und den Samen

vieler Unkrautarten, die er etwa zwölf bis 24 Stunden vor seinem Tod eingenommen hatte und die keinerlei Spuren der Früchte des Sommers und Herbstes und keine grünen Pflanzenteile enthielt (Glob 1966: 22; 44). Offenbar starb der Tollund-Mann im Winter oder Vorfrühling. Der Tod schließlich lässt sich rekonstruieren über ein Detail, über das stellvertretend für das Moorleichenphänomen Nord­ europas eine Interpretation als Menschenopfer populär wurde13 – die Schlinge um seinen Hals, die auf Strangulation oder Erhängen hindeutet. Tollund-Manns Körperbiographie hat aber auch noch eine andere Facette. 1950 hatte man keinerlei Erfahrungen, wie man menschliche Körper aus dem Moor ohneVerluste und ‚ausstellungskompatibel‘ konservieren sollte. Daher ist nur der Kopf des Tollund-Mannes (Abb. 4) am Exponat im Museum in Silkeborg authentisch (Glob 1966: 23; kritisch Fischer 2012: 50ff.). Der Rest ist nur mehr in Einzelteilen vorhanden, die Trocknungs- und Zerfallserscheinungen aufweisen. Das berührt die wissenschafts­ethische Ebene des Umgangs mit menschlichen Körpern.14 Tollund-Manns Körper wurde zu einem der bekanntesten und meistuntersuchtesten der Archäologie – in diesem Zusammenhang wurde sein Kopf abgetrennt, sein Darm wurde herausgezogen, analysiert und fotografiert (Fischer 2012: 48), der Rest in Teile zerlegt und archiviert.15 Sein Kopf wurde schließlich – zusammen mit einem künstlichen Körper – ausgestellt. Ohne das an dieser Stelle hinreichend diskutieren zu können, weisen Fälle wie die Moorleichen, letztendlich aber alle menschlichen Überreste auf das Spannungsfeld zwischen Ethik,Wissenschaft und Öffentlichkeit, zwischen Präsentation und Inszenierung, dem sich Prähistoriker­innen und Prähistoriker zu stellen haben.16 Nur zwei Jahre nach Auffindung des Tollund-Mannes kam in Jütland im Nebelgårds Mose eine weitere hervorragend erhaltene Moorleiche zutage, der so genannte Grauballe-Mann (umfassend Glob 1966; Asingh 2009). In den letzten Jahren wurden erneut medizinische Unter­ suchungen, wie DNA-Tests und tomographische Verfahren, an ihm durchgeführt (Asingh 2009: 90; 75ff.); des Weiteren ergab eine AMS-Datierung einen Todeszeitpunkt zwischen 390 und 210 BC (Asingh 2009: 67). Der Mann, dessen Körper von Moorschichten zusammengedrückt war, lag mit ausgestrecktem linken, angezogenem rechtem Bein und angewinkeltem rechten Arm in Bauchlage im Moor, sein Kopf war nach hinten ge59

Abb. 5:  Der Mann von Grauballe nach der Ausgrabung (Bildnachweis: H. Andersen und P.V. Glob; aus Glob 1966: 35).

dreht (Abb. 5). Es fanden sich, anders als bei den meisten dänischen Moorleichen, keine Spuren von Kleidung oder von persönlichen Gegenständen (Fischer 2012: 133). Grauballe-Mann wurde im Alter zwischen etwa 28 bis 34 Jahren (Asingh 2009: 85) durch einen vom einen bis zum anderen Ohr reichenden Kehlenschnitt getötet.Weitere Läsionen sind wohl erst nach seinem Tod durch die Lagerung im Moor entstanden (Glob 1966: 33; Asingh 2009: 76; 80), darunter auch eine unterstellte Schädelverletzung als Resultat eines schweren Schlags auf den Kopf, die zusammen mit dem Kehlenschnitt als Indiz für einen ‚Overkill‘ im Sinne multipler Gewalthandlungen gedeutet wurde, von denen jede einzelne tödliche Folgen gehabt hätte. Seine vermeintlich gepflegten Hände und Fingernägel17 und auch Haare wurden als Hinweis darauf interpretiert, dass der Mann zu Lebzeiten keine schwere körperliche Arbeit verrichtet habe (Glob 1966: 129) und es sich um eine Person mit gehobenem Sozialstatus gehandelt haben soll (Glob 1966: 142). Die Haare haben durch die Einwirkung der Moorsäuren eine rötliche Farbe bekommen, waren ursprünglich jedoch vermutlich dunkel (Glob 1966: 33). Seine letzte Mahlzeit bestand aus einem Brei aus verschiedenen Getreidesorten und den Samen von Kräutern, Unkräutern und Gräsern. Es wurden wie60

derum keine Spuren von den Früchten des Sommers oder Herbstes gefunden, so dass angenommen wird, dass auch er wahrscheinlich in der Winterzeit zu Tode gekommen ist (Glob 1966: 44). Das Beispiel des Grauballe-Mannes führt an eine weitere Ebene des ‚Biographierens‘ heran – an den Aspekt der Narrativität.18 Interessant ist, dass auf der Basis des gleichen Befundes Biographien rekonstruiert werden können, die zwar alle vom Lebensende des Grauballe-Mannes ausgehen, von dort aus aber unterschiedliche Episoden oder Ereignisse fokussieren. Zwei Varianten etwa berufen sich auf eine Vergiftung durch den Getreidepilz Mutterkorn, der bei der durchgeführten Autopsie im Magen und Darm der Leiche nachgewiesen werden konnte. Diese Krämpfe und Halluzinationen verursachende Erkrankung, auch Ergotismus oder Antoniusfeuer genannt, wurde als Grund für den gewaltsamen Tod des Grauballe-Mannes diskutiert. Seine Mörder hätten ihn entweder im Mutterkornrausch ins Moor geführt, um ihn dort zu opfern (Asingh 2009: 107), oder aber er wurde im berauschten Zustand als jemand empfunden, der besessen oder verhext war, Ängste auslöste, als gefährlich angesehen wurde und deshalb getötet werden musste.19 Schließlich wurde der Grauballe-Mann bereits kurz

nach seinem Bekanntwerden Bestandteil einer medienwirksamen Auseinandersetzung, nachdem eine Bäuerin in der Leiche ihren vor Jahrzehnten verschwundenen Jugendfreund erkannt haben wollte. Der Tote sei der ‚Rote Kristian‘, ein Torfstecher aus der Gegend, der betrunken ins Moor geraten und dort wohl umgekommen sei. Dies wurde von weiteren ‚Zeugen‘ bestätigt – eine lokale Tageszeitung titelte „Auch andere wissen noch, daß der Rote Kristian dort verschwand, wo der Mann von Grauballe gefunden wurde“ (Glob 1966: 47). Peter Vilhelm Glob (1911–1985), späterer Direktor des Dänischen Nationalmuseums, der von Anfang an starke Zweifel daran äußerte, musste so lange durch die Medien Spott und Häme erfahren, bis 14C-Datierungen das wahre Alter des Fundes aufklärten. Diesmal titelte die Presse: „Die Atome schlugen den Roten Kristian aus dem Felde“ (Glob 1966: 48). Das Beispiel verweist darauf, dass sich anhand des gleichen Gegenstandes verschiedene Biographien schreiben lassen – je nach Kontext des Erzählenden.20 Neue Untersuchungen am Grauballe-Mann haben belegt, dass die Menge an Mutterkorn im Körper des Mannes keine so starke Vergiftung hervorgerufen haben kann, dass er an starken Halluzinationen gelitten haben wird (Asingh 2009: 107) – vom halluzinierenden Menschenopfer oder gefährlichen Wahnsinnigen gilt es sich zu verabschieden. Und der Rote Kristian ist bereits in den 1950ern einer 14C-Datierung gewichen ... Die verschiedenen Auseinandersetzungen mit dem Leben oder vielmehr dem Lebensende des Grauballe-Mannes – obgleich mittlerweile nicht mehr vertretbar oder nicht mehr vertreten – zeigen, dass Biographien nichts Unveränderbares, Statisches oder Festgeschriebenes sind. Sie bewegen sich in einem in Raum und Zeit eingebetteten Feld zwischen Objektivität und Subjektivität „jeweils vor der ­Folie der herrschenden Sozial- und Subjektkontexte“ (Klein 2009b: XIII) sowie vor der Folie naturwissenschaftlicher Methodenstandards. Fragmentierte Körper – fragmentierte Biographien Biographien bewegen sich häufig zwischen zwei Polen – Individualität und Struktur (Schnicke 2009: 2). Auf der einen Seite steht die Orientierung auf ein Individuum, auf der anderen Seite seine (historische) Kontextualisierung.21 Die Prähistorische Archäologie muss nach Man­ fred K. H. Eggert (2006: 229f.; 2012: 331) quellenbedingt

einem komparativ-kulturanthropologischen Zugang folgen, um zu Interpretationen zu gelangen. Das heißt, es geht ihr mehr um Generalisierungen bzw. um strukturelle Beziehungen als um eine individualisierend-beschreibende Erfassung ihres Forschungsgegenstandes. Durch biographisches Erzählen scheint das demnach für prähistorische Zeiten nicht fassbare Individuum scheinbar doch in den Fokus gerückt werden zu können – seine Identität wird narrativ (re)konstruiert. Glob (1966: 24) schrieb in seinem Buch „Die Schläfer im Moor“ über den Tollund-Mann: „Man steht einem Mann aus der Eisenzeit von Angesicht zu Angesicht gegenüber.Trotz seiner dunklen Farbe ist er noch immer wie von Leben erfüllt und schöner als die besten Porträtbüsten, die von den größten Künstlern der Welt geschaffen wurden, weil es der Mensch selber ist, den wir sehen“. Ebenso wie postmoderne Spielarten der literarischen Biographie weist auch das ‚archäologische Biographieren‘ eine Überschreitung der Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen auf (vgl. Nünning 2009: 22; Veit 2010). Falko Schnicke (2009: 6) hat die Beschränkung auf den „unzweifelhaft bedeutenden Kernbegriff“ der ­Biographie kritisiert, da er „wesentliche inhaltlichkonzeptionelle und systematisch-historische Aspekte“ ausblenden würde.22 Das semantische Spektrum sollte gerade vor diesem Hintergrund um die Kategorie der ‚Körperbiographie‘ – als einer Facette der Rekonstruktion vergangener Lebenswirklichkeit auf der Basis materieller Kultur – erweitert werden. Damit stellt sich die Frage, ob ein ‚körperbiographischer‘ Zugang dann letztendlich nur eine Frage des Begriffsinventars ist, Lebenslaufrekonstruktionen ohnehin das darstellen, womit sich Archäologinnen und Archäologen täglich beschäftigen? Ja, und Nein, lautet die Antwort. Denn der Fokus der Körperbiographie ist ein anderer.Wurden für (implizite wie explizite) Lebenslaufrekonstruktionen in der Regel Objekte – insbesondere aus Grabkontexten – herangezogen, wird jetzt der Körper verstärkt berücksichtigt. Auch er ist eine Ebene ‚materieller Kultur‘ (Sofaer 2006), muss als nicht nur kulturelle, sondern gleichermaßen biotische Entität jedoch mit einem differenzierteren Zugang analysiert werden. Ein solcher eröffnet dann mit seinen verschiedenen Körperbegriffen, Körperkontexten und ‚Körperebenen‘ eine Berücksichtigung nicht nur der Körper vergangener Menschen, sondern auch der Körper lebender Menschen, etwa der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler respektive der 61

‚Biographen‘, und damit auch von Konzepten wie ‚Körperwissen‘ oder ‚Körpererfahrungen‘, die aktuelle Körperdiskurse prägen. Er eröffnet zusätzliche Blickwinkel oder Blickachsen, andere Lesarten23 und Schnittmengen zu anderen Wissenschaften. Beiträge der Prähistorischen

Archäologie als Kulturwissenschaft in historischer Perspektive können die geforderte Erweiterung um inhaltlich-konzeptionelle und systematisch-historische Aspekte mit sich bringen.

Anmerkungen 1 Dabei ist nach Christian Klein (2009b: XIV) erstens zu fragen nach der Darstellung (Wie wird ein Leben präsentiert?), zweitens nach dem Gegenstand (Was erfährt man über das präsentierte Leben?), drittens nach dem Kontext (Was erfährt man über die Intention des Biographen, über Zeitumstände oder über mentalitätsgeschichtliche Aspekte?), viertens nach der Funktion (Warum werden Biographien gelesen [und geschrieben, Anm. M. A.]? Welche Bedeutung haben sie für Selbst- und Fremdkonzepte?), und fünftens nach der Methodologie (Welche biographischen Verfahren erbringen welche Ergebnisse? Welche Erkenntnisse erhofft man sich vom je spezifischen biographischen Ansatz?). 2 War der Körper lange Zeit Forschungsgegenstand der Naturwissenschaften, insbesondere der Medizin, ist seit Anfang der 1990er Jahre eine Hinwendung auch der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften zum Körper zu beobachten (Gugutzer 2006: 9; vgl. auch Koch 2013). Maren Lorenz (2000: 9) sprach von den 1990er Jahren als dem „Körperjahrzehnt“ in den Geschichtswissenschaften, von einem ‚body turn‘ ist gar die Rede (vgl. Gugutzer 2006). 3 So auch Wolfram Fischer-Rosenthal (1999: 15): „Biographie und Leib gehören zusammen“. Gemeint ist jedoch ein primär autobiographischer Zugang: In einer lebensgeschichtlichen Darstellung kann „‚nur‘ über die Erfahrung mit dem eigenen Körper gesprochen werden“; „das biographische Erzählen [ermöglicht] die bewusste Aneignung des eigenen Körpers“ (Herzberg, Seltrecht 2013b: 10) – „Biographie und Leib verweisen erst einmal auf ein Erstpersönliches“ (Hanses 2013: 39). – Vgl. hierzu die Sammelbände Alheit u. a. 1999; Abraham 2002; Herzberg, Seltrecht 2013a. 4 Daraus resultiert die Forderung nach einer ‚Archäologie des Körpers‘, das heißt nach einer systematischen, auf die Quellen bezogenen Auseinandersetzung. Berücksichtigt werden müssen alle Facetten des menschlichen Körpers – wie etwa seine materialen Überreste, ‚Körperbilder‘, die Rekonstruktion von Praktiken, Handlungen und seine Inszenierung –, die sich im archäologischen Befund niederschlagen. 5 Zu Siedlungsbestattungen der Eisenzeit siehe diverse Beiträge in Müller-Scheeßel 2013. 6 Dementsprechend bezeichnet Hannes Schweiger (2009: 34) ‚Biographiewürdigkeit‘ als „fragwürdige Kategorie“.

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7 Julia K. Koch (2010: 95) weist darauf hin, dass Lebenslauf­ rekonstruktionen der Prähistorischen Archäologie häufig von „Aufsehen erregenden Fundkomplexen“ ausgehen – dazu wären die ‚Fürsten‘ der Hallstattzeit oder etwa auch die Moorleichen zu zählen, die sich aufgrund ihrer Erhaltung und ihres Erforschungsgrades für einen biographischen Ansatz förmlich anzubieten scheinen (dazu auch Fallbeispiel 3). Potentielle Inszenierbarkeit und ‚Medientauglichkeit‘ kann allerdings nicht Ausgangspunkt wissenschaftlicher Fragestellungen sein. Vielmehr muss es auch bei ‚archäologischer Biographieschreibung‘ um die Aussicht auf Rekonstruktion vergangener Lebenswirklichkeit gehen. 8 Es stellt sich die Frage danach, welche biographische Form prähistorischen Körpern angemessen ist. Carola Bebermeier hat sich mit der Biographie der Sängerin Celeste Coltellini (1760–1828) befasst und in diesem Zusammenhang konstatiert, dass ein biographischesVerfahren entwickelt werden müsse, das durch einen „historisch bewussten, selbstreflexiven sowie multiperspektivischen Umgang“ mit dem ‚biographischen Material‘ gekennzeichnet sei. Und, und das gilt nicht minder für die Prähistorische Archäologie, es sei „von zentraler Bedeutung eine wissenschaftliche Methode zu finden, wie mit biographischen ‚Brüchen‘ und fehlenden Quellen umzugehen“ sei. [letzter Zugriff: 23. 3. 2015]. 9 In der mikrohistorischen Studie „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müller um 1600“ von Carlo Ginzburg (1983) etwa erfährt man durch die Verhörprotokolle eines Müllers aus dem Friaul, der der Häresie angeklagt und schließlich hingerichtet wurde, in einem für die Zeit außergewöhnlichen Maße über die Existenz und Weltanschauung eines vermeintlich ‚historisch unbedeutenden‘,‚einfachen‘ oder ‚durchschnitt­ lichen‘ Menschen (vgl. auch Schweiger 2009: 34f.). 10 Anke Abraham (2002: 42; Kursivierungen im Original) plädiert dafür, nicht „Körperbiographien“ zu erheben, sondern „Biographien, in denen auch der Körper eine Geschichte hat“, die jedoch losgelöst von der Lebensgeschichte weder betrachtet noch verstanden werden könne. – Ebenso wie der Begriff ‚Biographie‘ ist jedoch auch der Begriff ‚Körperbiographien‘ uneindeutig, denn er verweist sowohl auf diese in den Körper

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eingeschriebenen Praktiken und Aktivitäten als ‚Spuren‘ des Lebens als auch auf dessen (analytische) Beschreibung (vgl. Klein 2009b: XIII). Koch (2010) unterscheidet, Roberta Gilchrist (2000) folgend, zwischen Lebenslauf, Lebenszyklus und Lebensgeschichte. Insbesondere die Lebensgeschichte berührt die „ganz individuelle, persönliche Ebene“ (Koch 2010: 96); gerade ihre Rekonstruktion scheine besonders „reizvoll“, sei aber unter quellenkritischen Gesichtspunkten problematisch. Unter ‚Paläoanthropologie‘ verstehe ich, Manfred K. H. Eggert und Stefanie Samida (2013: 167) folgend, nicht nur die Beschäftigung mit dem Urmenschen und seiner Entwicklung, sondern allgemein gefasst eine Physische Anthropologie mit archäologischer Fragestellung, die auch die Auseinandersetzung mit dem anatomisch modernen Menschen einschließt, für die alternativ der Terminus ‚Prähistorische Anthropologie‘ existiert (Herrmann u. a. 1990; Grupe, Harbeck, McGlynn 2015). Insbesondere in der dänischen Archäologie wird eine Deutung der Moorleichen als Menschenopfer bevorzugt (etwa Glob 1966; Asingh 2009; Fischer 2012). – Zusammenfassend zu den verschiedenen Deutungsansätzen (Unfallopfer, Mord­ opfer, [Sonder]Bestattung, Wiedergängermaßnahme, Straf­ opfer, Sakralopfer) jüngst Burmeister 2013. Rein rechtlich gelten Mumien, Moorleichen und – je nach Gesetzesauslegung – auch Skelette (Preuß 2007: 24; vgl. auch ebd. 16) nicht mehr als ‚Leichen‘. An sie werden nicht mehr „die üblichen kultischen Anforderungen der Totenehrung gestellt“; sie sind kein „Gegenstand der Pietät bzw. des Gefühls der Verbundenheit …, nicht mehr zur Bestattung bestimmt“ (Preuß 2007: 23), sondern „verkehrs- bzw. eigentumsfähige Sachen“ und „unterliegen … prinzipiell der freien Aneignung“ (Preuß 2007: 24). Auch mit Grauballe-Manns Körper wurde ähnlich verfahren; Teile seines Körpers sind heute entweder nicht auffindbar oder über die halbe Welt verstreut (Asingh 2009: z. B. 36; 72). Dazu etwa Preuß 2007; Schmidt 2008; Sörries 2011; Samida 2012.

17 Heute weiß man jedoch, dass das Moormilieu die obere Hautschicht ablöst und sich keinerlei Aussagen über den Zustand der Hände zum Zeitpunkt desTodes treffen lassen (Asingh 2009: 31). 18 Während Manfred Eggert (2006: 218) das „Übermaß an ‚fiktionaler‘ Energie“ – bezogen allerdings auf wissenschaftliche ‚Grand Narratives‘ oder ‚Meistererzählungen‘ – kritisiert, ver­ tritt Ulrich Veit (2010: bes. 24f.) die Auffassung, dass jegliche historiographische Darstellungsform narrativ ist – nicht nur die Ereignis-, sondern auch die Strukturgeschichte: „Geschichtsschreibung ist immer noch ebenso eine literarische wie eine wissenschaftliche Praxis“ (Veit 2010: 25). Zum Problem-/Forschungsfeld des „Archäologen als Erzähler“ siehe auch das Schwerpunktthema der Ethnographisch-Archäologischen Zeitschrift (EAZ) 51/1–2, 2010. 19 Aus der Ankündigung zur Sendung „Verhext“ (Regie: Marc Lewis), die am 11. 12. 2010 auf arte ausgestrahlt wurde. http://www.arte.tv/de/woche/244,broadcastingNum= 1181209,day=1,week=50,year=2010.html [letzter Zugriff: 7. 3.  2015]. 20 Gerade in diesem konkreten Fallbeispiel sind die Moorleichen von Tollund und Grauballe maßgebliche Elemente der Biographie Globs: „Die Schläfer im Moor“ ist nicht nur ein Buch über einen bestimmten Gegenstand, sondern weist durch die Erzählform in der ersten Person gleichsam autobiographischen, selbstthematisierenden Charakter auf. 21 „Das historische Individuum wird gerade nicht biographiert, sondern fungiert als ‚Folie […] darüber hinausgehende[r] Erkenntnisinteressen‘“ (Schnicke 2009: 3). 22 Auch Kretschmann (2009: 77) verweist darauf, dass von „einer variantenreichen Vielfalt biographischer Selbst- und Fremdrepräsentationen“ auszugehen ist. 23 Als Beispiel der alternative Interpretationsansatz zum Hochdorfer Grab, wenn man den Befund ‚vom Körper ausgehend‘ betrachtet, Augstein 2013b.

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Dr. Melanie Augstein Professur für Ur- und Frühgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig Ritterstraße 14 D-04109 Leipzig [email protected]

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Das Große Bürgle von March-Buchheim im Breisgau. Großgrabhügel nördlich der Alpen und eine Kommunikationsroute durch den Schwarzwald Julia K. Koch, Roman Scholz

Zusammenfassung Zu den unübersehbaren Bodendenkmälern der Hallstattzeit gehören die hauptsächlich in Ha D1 errichteten Riesengrabhügel, die allerdings recht unterschiedlich in der Forschung rezipiert werden. Neben den beiden bekannten Hügeln Hohmichele und Magdalenenbergle werden hier auch zwei weitere ebenso monumental dimensionierte Hügel im Umfeld von Châtillon-sur-Glane und im Breisgau vorgestellt. Im Zentrum der Studie steht das Große Bürgle von March-Buchheim, der im Dezember 2013 geophysikalisch prospektiert wurde. Ausmaße und Inventar der 1884 gegrabenen Zentralkammer des Großen Bürgle zeigen deutliche Ähnlichkeiten mit dem Magdalenenbergle auf der anderen Seite des Schwarzwaldes. Die geomagnetischen Messergebnisse zeigen sowohl radiale wie auch größere quadratische Strukturen an, die im Vergleich mit anderen Grabhügeln mehrere Interpretationen zulassen. Auffällig ist auch, dass das Große Bürgle und der Magdalenenbergle an der Strecke zwischen den jeweils in der Nähe des Schwarzwaldrandes gelegenen Zentralsiedlungen Breisacher Münsterberg und Heuneburg liegen. So dürfen in diesen beiden Riesengrabhügeln auch Landmarken für einen wichtigen West-Ost-Fernweg gesehen werden. Abstract Among the obvious visible archaeological monuments of the Hallstatt period are the monumental tumuli mainly built in Ha D1, which are, however, quite differently adopted in archaeological research. Besides the two mounds known as Hohmichele and Magdalenenbergle two other equally monumental sized mounds in the surrounding of Châtillon-sur-Glane and in the Breisgau region are also presented. In the centre of the study is the Great Bürgle of March-Buchheim, which was prospected geophysically in December 2013. Dimensions and inventory in the 1884 excavated central chamber of the Great Bürgle show clear similarities with the Magdalenenbergle on the other side of the Black Forest. The geomagnetic measurements show both radial and larger square structures that compared to other grave mounds allow several interpretations. It is also striking that the Great Bürgle and Magdalenenbergle lie on a line between the central sites Breisach Münsterberg and Heuneburg, both near the edge of the Black Forest.Therefore, these two monumental tumuli can also be seen as landmarks for an important east-west-route. 67

Zu den definierenden Elementen der Westhallstattkulturen werden im Allgemeinen die Bestattungen in Grabhügeln gezählt, auch wenn diese nicht die ausschließliche Form der räumlichen Gestaltung hallstattzeitlicher Nekropolen war, wie die Übersicht von S. Kurz (1997) zeigt. Neben den „normal“ dimensionierten Grabhügeln um die 10 bis 20 m Durchmesser und etwas größeren bis 50 m Durchmesser (Kurz 1997: 42 Abb. 13) finden sich auch ein paar wenige, die zugleich zu den größten Grab­hügeln Mitteleuropas gehören. An der Spitze dieser Statistik stehen der Hohmichele in der Nähe der Heuneburg an der oberen Donau (Altheim-Heiligkreuztal, Kr. ­Biberach), der Tumulus de Moncor nördlich von Châtillon-sur-­Glane (Kt. Fribourg), der Magdalenenbergle am östlichen Schwarzwaldrand oberhalb des Brigachtales bei Villingen (Schwarzwald-Baar-Kr.) und das Große Bürgle, westlich des Schwarzwaldes im nördlichen Breisgau (March-Buchheim, Breisgau-Hochschwarzwald-Kr.) gelegen. Allerdings weisen diese vier Großgrabhügel einen recht unterschiedlichen Forschungsstand auf; der letztgenannte in Buchheim wird in der Forschung bislang selten berücksichtigt, obwohl er als erster von den vieren im 19. Jahrhundert untersucht wurde. Ausgehend von den Ergebnissen einer geomagnetischen Unter­suchung des Großen Bürgle im Dezember 2013 werden im Folgenden die vier Grabhügel miteinander verglichen, da zumindest die drei in Südwestdeutschland gelegenen als zeitgleich innerhalb der Stufe Ha D1 angelegt gelten dürfen. Es stellt sich die Frage, welche Gemeinsamkeiten sie miteinander verbinden oder Unterschiede sie aufweisen. Dafür werden die wichtigsten Angaben zu den Großgrabhügeln eingangs zusammenfassend vorgestellt. Hohmichele Mit einem Durchmesser von etwa 78 m und einer Höhe von 13,5 m (vor der Grabung) weist der Hohmichele das größteVolumen (33.542 m3)1 der Großgrabhügel auf. Die Hügelkuppe, die Hügelmitte und ein Segment im SO des Hügels wurde unter der Leitung von G. Riek 1937–38 mit einer Grabung des SS Ahnenerbe untersucht, der die Ergebnisse 24 Jahre später publizierte (Riek, Hundt 1962). Es zeigte sich, dass das Zentralgrab (3,4 × 5,6 × 1,0 m) in einem Kernhügel (Dm. 40 m; H. 5 m) angelegt worden ist,

der dann gleichzeitig mit der Anlage der Nachbestattungen in mehreren Schichten aus Lehm, Sand, Plaggen und anderen Bodenmaterialien auf über 13,5 m erhöht wurde (Riek, Hundt 1962: 10 –38; Kurz 1998: 391). Insgesamt sind neben dem Kernhügel drei weitere Bauphasen für eine Aufhöhung auf 11,5 m und zuletzt über 13,5 m am Hügelscheitel dokumentiert. In dem noch während der Bauzeit des Hügels ausgeraubten Zentralgrab fanden sich neben spärlichen Wagenresten und Riemen eines Pferdegeschirrs noch mindestens 990 Glasperlen sowie Textil- und Fellreste (Riek, Hundt 1962: 44–54; 81–84 Taf 1; Trachsel 1995: 158). Die Perlenketten werden einhellig einer Frauentracht zugewiesen; für die Anwesenheit einer zusätzlichen Männerbestattung finden sich hingegen keine sicheren Hinweise. Die 15 Nachbestattungen, d. h. sieben Körper- und acht Brand- bzw. Scheiterhaufengräber, von denen das Wagen- und Doppelgrab VI das bekannteste ist, verteilen sich auf die Hügelschüttung der 2. bis 4. Bauphasen (Kurz, Schiek 2002: 77 Beil. 6). Die Funde der Nachbestattungen, insbesondere die Schlangenfibeln, verweisen den Grabhügel in die Stufe Ha D1, wobei aufgrund des hohen Beraubungsgrades des Zentralgrabes offenbleibt, ob dieses bereits zu Beginn Ha D1 oder doch erst in einer fortgeschrittenen Phase von Ha D1 angelegt wurde (dazu u. a.: Trachsel 1995: 163). Der Hohmichele liegt auf einem Geländeplateau ca. 3,5 km westlich der Heuneburg in einer weitläufigen ­Hügelnekropole, in der nur noch der um 1884 teilweise abgetragene Kleine Hohmichele aufgrund seiner Größe (Dm. ca. 40 m; H. min. 4,5 m), 100 m nordwestlich des Hohmicheles gelegen (Riek, Hundt 1966: 2; Kurz, Schiek 2002: 82–86), herausragte. Der große Hohmichele darf zu einer Reihe von Großgrabhügeln gezählt werden, die im weiteren Umfeld dieser Zentralsiedlung auf beiden Seiten der Donautales registriert wurden, jedoch bis auf eine aktuelle Ausnahme nur wenig untersucht wurden (Kurz 2002: 89 – 92; 138; 2007: 21–23). Namentlich sind dies der Lehenbühl, Kr. Sigmaringen (Dm. 65 m; H. 4,5 m; 1897 gegraben; Ha D1), die Baumburg, Kr. Sigmaringen (Dm. bis 80 m; H. bis 10 m; durch mittelalterliche Bauten verändert?; nicht gegraben; undatiert), der Bettelbühl, Kr. Sigmaringen (Dm. 70 m; H. 7 m; Grabung 2010 –13; Ha D1; Krausse 2011), der Ringenlee (Dm. 50–70 m; H. über 2 m; im 19. Jh. eingeebnet; undatiert) und der Rauhe Lehen

1 Volumen aus angegebenen Maßen für Durchmesser und Höhe errechnet.

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Abb. 1:  Herbertingen-Hundersingen, Kr. Biberach (D). Hohmichele. A. Plan mit Gräbern (nach Rieck, Hundt 1962: 6 Abb.1). – B. Profilausschnitt des Grabhügels mit Eintragung der Position der Gräber (nach Kurz, Schiek 2002: Beil. 2). – A. M. 1 : 500; B. M. 1 : 300.

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Abb. 2: Tumulus de Moncor, Kt. Fribourg (CH). Höhenlinienplan und Skizze des Suchschnittes mit der erfassten Mauer (nach Ramseyer 1983: 22 Abb. 16). – M. 1 : 1500.

bei Ertingen, Kr. Biberach (Dm. 95–116 m; H. ca. 9 m; im 19. Jh. gegraben und teilweise abgetragen.; Ha D1). Tumulus de Moncor Eine mit dem Hohmichele vergleichbare Größe und Abmessung weist der Tumulus de Moncor, im Bois de Moncor bei Villars-sur-Glane (Kt. Fribourg) gelegen, auf (Abb. 2; Ramseyer 1988; 1995; Benkert u. a. 2010: 28). Aufgrund seines Durchmessers von 85 m, einer aktuellen Höhe von 10 m und einem Idealvolumen von 28.896 m3 ist er der größte bekannte Grabhügel im westalpinen Raum. Er kann zum Umfeld der ca. 1,8 km entfernt liegenden Zentralsiedlung von Châtillon-sur-Glane (Kt. Fribourg) gezählt werden. Eine C14-Datum bestätigt grob eine früh­eisenzeitliche Datierung (Ramseyer 1983: 27). Ein Grabungstrichter in der Mitte des Hügels verweist auf Plünderung und/oder Altgrabungen. In einem Suchschnitt auf der Ostseite des Hügels durch die Kantons­ archäologie wurde 1983 eine Steinmauer angeschnitten, die den Ausgräber an den Befund im Prunkgrabhügel 70

von Hochdorf (Kr. Ludwigsburg) mit einer von Mauern flankierten Rampe denken ließ (Ramseyer 1983). Eine 1995 durchgeführte geomagnetische Prospektion hatte vor allem die praktische Erprobung des Gerätes im Gelände zum Ziel (Fröhlich Gugler, Gex 1996). Es wurden einzelne Strukturen im Inneren des Hügels sowie ein umlaufender Graben erfasst. Magdalenenbergle Am besten untersucht ist der Magdalenenbergle am Ost­ rand des mittleren Schwarzwaldes mit der vollständigen Frei­legung 1970 –1973 unter der Leitung von K. Spindler. ­ Bereits aufgrund der eher flachen Hügelwölbung (Dm. 102 m; H. 6,5 m; Vol. 26700 m3) unterscheidet er sich von den beiden oben vorgestellten Großgrabhügeln. Mit den Ausgrabungen 1887, 1890 und 1970–1973 wurden das ausgeraubte Zentralgrab und 128 Nachbestattungen aufgedeckt sowie der Aufbau des Hügels mit seinen zahlreichen Einbauten vollständig dokumentiert (Abb. 3; Spindler 1971; 1972; 1973; 1976; 1977; 1980; 2004; Koch,

Abb. 3a: Villingen, Schwarzwald-Baar-Kr. (D), Magdalenenbergle. Gräberplan (nach Spindler 2004: 146 Abb.4). – A. M. 1 : 800.

in Vorb.). Bei den auffälligsten Befunden handelt es sich um radial errichtete Stangensetzungen, mit Holzstämmen abgegrenzte räumliche Strukturen wie ein Prozessionsweg, ein Werkstattbereich oder eine größere, jedoch leere Grube (4,5 × 7 m) am Ostrand des Hügels (Spindler 1980: 133–201). Die zahlreichen Beigaben der Gräber lassen eine Eingrenzung der Belegungszeit in Ha D1 bis Beginn Ha D2 zu und erlauben auch weitere Interpretationen hinsichtlich der sozialen Strukturen (z. B. Müller 1994; Eggert 1988; Koch in Vorb.). Der Hügel wurde auf dem Wahrenberg errichtet in

Sichtweite einer kleinen Abschnittsbefestigung im Nordwesten, dem Kapf (Hübner 1972), mittels der zwei in den Schwarzwald führende Täler kontrolliert werden konnten. An der Ostflanke des Wahrenberges fließt die Brigach, ein Quellfluss der Donau, nach Süden und nimmt den Südausfluss aus dem Schwenninger Moos, d. h. dem Quellgebiet des ansonsten nach Norden fließenden Neckars, auf. Nördlich dieser Neckarquelle im Stadtgebiet von Schwenningen wurden zeitgleiche Gräber zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Spindler 1980: 125f.) aufgedeckt, die möglicherweise auch mit der nur grob eisenzeitlich 71

Abb. 3b: Villingen, Schwarzwald-Baar-Kr. (D), Magdalenenbergle. Plan mit den Baubefunden (nach Spindler 1980, Beil. 6). –B. M. 1,5 : 1000.

datierten Höhensiedlung auf dem Türnleberg (Benzing 1976), dem Hausberg von Schwenningen, in Zusammenhang stehen. Auf dem Wahrenberg selbst wurden bislang nur wenige Siedlungsspuren identifiziert, wohl aber auch zwei kleinere Grabhügel (Knopf 2012). 72

Großes Bürgle Ebenfalls sehr früh wurde im Breisgau westlich des Schwarzwaldes das Große Bürgle wie auch das benachbarte Kleine Bürgle 1884 von E. Wagner mit der damaligen

Abb. 4:  March-Buchheim, Breisgau-Hochschwarzwald-Kr. (D). Historische Karte der Gemarkung von 1772 mit Angabe der zwei Grabhügel in Form runder Ackerflächen (nach Brommer, Steffens 2002: 16).

Methode eines zentralen Grabungstrichters untersucht. Das Große Bürgle (Dm. 120 m; H. noch 3,5 m; Vol. 19.814 m3) wird seit mehreren Jahrhunderten, wie eine Gemarkungskarte von 1772 zeigt (Abb. 4), bis heute an der Oberfläche landwirtschaftlich genutzt. Zudem weist es an seiner Westseite eine massive Störung durch Erdabtragungen auf, die mindestens vor den 1840er Jahren stattgefunden haben müssten, wie eine topographische Karte des Großherzogtums Baden belegt, da dort die Ackergrenzen der heutigen Parzelleneinteilung entspricht. Das ca. 5 × 8 m große Zentralgrab (Bestattung C/D/Z; Abb. 5) erwies sich bei der Grabung als ausgeraubt, die wenigen Fragmente sichern dennoch eine Datierung in Ha D1 (Pare 1992). Nach den Funden kann rekonstruiert werden, dass zu den Beigaben mindestens ein vierrädriger Wagen mit Pferdegeschirr und ein Importfund mit Elfenbeinzylindern gehörte. Auch die wenigen freigelegten Nachbestattungen A, B, E und F in der Mitte des Hügels können in Ha D1 eingeordnet werden; es muss aber derzeit offen bleiben, ob die Belegungszeit mit weiteren anzunehmenden Gräbern in der Hügelschüttung in die nachfolgenden Hallstatt-Stufen reichte. Auch das benachbarte Kleine Bürgle (Dm. 46 m; H. 1,2 m) ergab ein bereits gestörtes, aber sicher nach Ha D1 zu datierendes Wagengrab (Pare 1992: 512). In der Talaue zwischen Dreisam und Mühlbach konnten noch drei weitere kleinere Grabhügel lokalisiert werden, bislang jedoch keine zeitgleichen Siedlungen. Auch Höhensiedlungen im

Abb. 5:  March-Buchheim, Breisgau-Hochschwarzwald-Kr. (D). Grabungsplan von E. Wagner 1884 (nach Pare 1992: 505 Abb. 1).

direkten Umfeld sind nicht sicher belegt (Klug-Treppe 2003). Die hallstattzeitliche Zentralsiedlung auf dem Breisacher Münsterberg liegt hingegen 17 km weiter westlich; mit ca. 11 km ist die Entfernung zum Zähringer Burgberg bei Freiburg etwas kürzer. Geomagnetische Prospektion des Großen Bürgle Seit der Ausgrabung E. Wagners hat der Großgrab­hügel von March-Buchheim keine größere archäologische ­Untersuchung mehr erlebt.Trotz der spärlichen Informationen weist der Grabhügel mit der vergleichbaren Größe, der ähnlich dimensionierten Grabkammer, dem Pferdegeschirr mit Ringfußknöpfen und Riemenzier mit flacher Scheibe und Mitteldorn im Zentralgrab und den darum liegenden Nachbestattungen deutliche Parallelen zum vollständig ausgegrabenen Magdalenenbergle auf (Pare 1992: 506 Abb. 2A5–7; 510; Spindler 1971: 35 Taf. 2.3–8). Mit einer geomagnetischen Prospektion im Dezember 2013 sollte ermittelt werden, inwiefern die Altgrabung ­sowie eventuell weitere vorhandene Nachbestattungen ­erfasst werden können. Es stellte sich die Frage, ob sich mit 73

den zu erwartenden anthropogenen Strukturen weitere Gemeinsamkeiten mit dem Magdalenenbergle oder auch mit anderen Grabhügeln abzeichnen werden. Auch aus denkmalpflegerischen Erwägungen bestand der ­Anspruch, das Areal möglichst vollständig aufzunehmen. Die Ergebnisse der Prospektion können neben der forschungs­ bedingten Fragestellung auch für den gezielten Schutz des Bodendenkmals genutzt werden. Um einen aktuellen und genauen Aufschluss über die Dimension und den Grad der Erosion am Grabhügel zu erhalten, wurde parallel eine topografische Aufnahme erzeugt. Darüber hinaus besteht die Hoffnung, die ursprüngliche Größe des Grabhügels über diese Daten ermitteln zu können. Mit so genannten Magnetometern ist es möglich, die Stärke des Erdmagnetfelds zu bestimmen. Dieses ­Magnetfeld setzt sich zum größten Teil aus dem Hauptteil (ca. 97–99 %) und zum kleineren Teil aus externen Feldern in der Erdkruste zusammen. Das Hauptfeld entsteht durch elektrische Ströme im äußeren, flüssigen Erdkern und dessen Rotationsbewegung. Die externen Felder werden z. B. durch Gesteine verursacht und erzeugen regionale Anomalien. Die Größe des Erdmagnetfeldes wird in Tesla (T) angegeben (Neubauer 2001: 40). Je nach Messposition variiert das gemessene Erdmagnetfeld. Dieser Effekt wird unter anderem durch magnetische Strukturen im Untergrund verursacht. Dabei spielen neben dem Magnetismus von Gesteinen und Eisenobjekten vor allem die magnetischen Eigenschaften von Böden und anthropogenen Ablagerungen eine wichtige Rolle. Es ist zu beobachten, dass der Magnetismus in den humoseren Ober­böden oder auch A-Horizonten stärker als bei den darunter ­ liegenden Sedimenten ausgeprägt ist. Das wird auch als Le Borgne Effekt bezeichnet, der auf der Umwandlung von schwach magnetischen Eisenverbindungen in stärker magnetische Eisenverbindungen beruht (Neubauer 2001: 47). Diese Veränderung kann zum einen durch Hitzeeinwirkung auf vorhandene organische Materialien und ­Eisenverbindungen in den oberen Sedimentschichten und zum anderen durch Fäulnisprozesse verursacht werden. Bei letzteren reagiert der schwach magnetische Hämatit und wandelt sich in das stärker magnetische Maghemit um. Dieser Prozess wird durch Bakterien verursacht, ­welche chemische Reaktionen in Gang setzen (Von der Osten 2003: 21). Dadurch ist es möglich, ­Bodeneingriffe, die ­später mit humosen Materialien verfüllt wurden, als Anomalie in einem Messbild mit engem 74

Abb. 6:  March-Buchheim, Breisgau-Hochschwarzwald-Kr. (D), Großes Bürgle. Geomagnetikgerät im Einsatz.

Messpunktabstand zu erkennen.Vom Abstand der Messsonden ist es abhängig, wie intensiv die Anomalie gemessen werden kann. Geomagnetische Messungen werden mittels tragbarer oder mobiler Messsonden durchgeführt. Jedem Messwert wird eine räumliche Lagekoordinate hinzugefügt. In speziellen Programmen können diese Daten im Anschluss zu Messbildkarten verarbeitet werden. Für die Arbeiten wurde ein SENSYS 5-Sonden­Magnetometer (Sondentyp: FGM 650 B) verwendet (Abb. 6). Die Auswahl der Messflächen war abhängig von der Zugänglichkeit; so konnten im Wesentlichen nur die zu der Zeit noch als Acker genutzte Innenfläche des Grabhügels erfasst werden, während die Randbereiche ­wegen Baum- und Buschbewuchs oder wegen zu starker elektromagnetischer Störungen von den ­ Anschlussflächen (Straße, Parkplatz und Metallzaun) ausgelassen werden mussten. Der Prospektionseinsatz dauerte insgesamt zwei Tage. Dabei konnte am ersten Tag das Messraster mittels ­D-GPS (Leica GS09) eingerichtet werden. Zudem wurden die Felder 1 bis 4 geomagnetisch prospektiert. Am ­zweiten Tag wurden die Felder 5 bis 6 eingerichtet und gemessen. Um die Auswirkung der Ackerspuren (teilweise bis zu 0,5 m tiefe Rinnen an den Feldgrenzen) im geomagnetischen Messbild so gering wie möglich zu halten, verlaufen die Messbahnen parallel zu den Ackerfurchen. Dies verringert nicht nur die unerwünschte Bewegung des

Messwagens, sondern erleichtert bei der Datenaufbereitung die Filterung moderner Oberflächenspuren.Weiterhin erfolgte eine topografische Aufnahme des Fundplatzes. Dazu wurde der Grabhügel mit einem Höhenpunkt­raster mit einem Punktabstand von ca. 2 m überzogen. Nach zwei Messtagen lagen Daten von insgesamt sechs Feldern mit zusammen 7512,25 m2 vor (Abb. 7). Das Prospektionsergebnis Das Messbild mit sehr großen und kleinen Dipolen lässt mehrere sicher anthropogene Strukturen erkennen, die teilweise so deutlich sind, dass hier von einer Gesamt­ publikation des Planes wegen der Gefahr der Raubgräberei verzichtet wird (Abb. 7). Im nördlichen Bereich des Grabhügels konnten ­keine größeren Strukturen im Messbild erfasst werden, was eventuell der stärkeren Erosion in diesem Bereich geschuldet ist, aber nicht nur. Zudem werden am Nord- und Ostrand in einem bis zu 10 m breiten Streifen mit starken Dipolausprägungen die eigentlichen Signale durch die Störungen aus den Anschlussflächen überstrahlt. Diese Anomalien könnten auf die modernen Bauaktivitäten, wie z. B. die Straße und Versorgungsleitungen zurückgeführt werden. Entlang der Grenze zwischen Feld 1/4 und Feld 2/3 befindet sich im Gelände eine ca. 40 bis 50 cm tiefe Rinne. Diese ergibt sich aus der Flurstücksgrenze und der Beackerung durch verschiedene Pächter. Viele kleine Dipole auf der gesamten Fläche werden durch Zivilisationsmüll verursacht, der teilweise auch während der Prospektion bemerkt wurde (Flaschen,Verpackungen etc.). Ganz klar zeichnet sich eine ca. 11 × 11 m große, fast quadratische Anomalie im Zentrum des erhaltenden ­Hügels ab. Diese gibt höchstwahrscheinlich die Position der ­Altgrabung mit der Zentralkammer wieder. In einem ­Abstand von 25 m liegt ein Kranz aus mindestens acht ca. 5 × 7 m großen, rechteckigen, radial ausgerichteten Strukturen. Im Vergleich mit den bekannten späthallstattzeitlichen Grabhügeln, besonders dem Hohmichele, ist eine Ansprache der Rechtecke als Kammergräber denkbar. Es sei aber auch an eine 4,5 × 7 m große, recht­eckige, weitgehend fundleere und längere Zeit offen stehende Grube am Ostrand des Magdalenenbergles erinnert (Abb. 3b), ­deren Funktion bisher noch nicht schlüssig geklärt werden konnte (Spindler 1980: 196). Als weiterer Vergleich kann außerdem ein Kranz aus 15 radial und teilweise tan-

gential angeordneten, rechteckigen, fundleeren Steinpackungen verschiedener Größen (1,8 × 1,5 m bis 7 × 3 m) in Frankfurt-Stadtwald Hügel 1-III genannt werden, deren Funktion ebenfalls bisher noch nicht befriedigend geklärt werden konnte (Fischer 1979: 49 – 62). Tangential angelegte, einfachere Körper- und Brandgräbern, wie sie vom Magdalenenbergle bekannt sind, zeichnen sich im Plan des Bürgle nicht in derselben Menge ab. Weitere ebenfalls um das Zentralgrab herum angeordnete Anomalien mit radialer Ausrichtung in der West- und Südhälfte des Hügels sind sehr viel schwächer in ihrer geo­ magnetischen Ausprägung. Es handelt sich zwar ebenfalls um anthropogene Strukturen, doch eine Interpretation ist momentan nur schlecht möglich. Besonders westlich des Zentralgrabes treten längliche Anomalien hervor, die zum Hügelmittelpunkt streben. Radiale Strukturen unterschiedlichster Art sind in hallstattzeitlichen Grabhügeln bereits verschiedentlich sowohl bei Grabungen als auch bei geomagnetischen Prospektionen dokumentiert worden (Von der Osten-Woldenburg 2010). Zum einen konnte einfach aufgrund der Organisation in Bauabschnitten bei der Errichtung der Hügel eine radiale Anordnung von Schüttmasse und Grassoden entstehen, wie es z. B. bei Hügel 2 der Gießübel-Talhau-Gruppe neben der Heuneburg belegt ist (Kurz 1998: 394 Abb. 2). Radial angelegte Einbauten sind zum einen mit den Stangensetzungen im Magdalenenbergle (Abb. 3) und zum anderen mit ausgelegten Holzstämmen im bereits angeführten Hügel und mit den Steinmauern im Prunkgrabhügel von Hochdorf (Spindler 1980: 159 –162; Biel 1985: 34f. Abb. 22) zu nennen, wobei die beiden letztgenannten Befunde den Zugang zur jeweiligen Zentralkammer flankierten. Leider gibt es noch keine aktuellen Untersuchung, mit welchen Grabungsbefunden solche radialen Anomalien, die sich bei geomagnetischen Messungen mehrfach abzeichnen (s. auch Von der Osten-Woldenburg 2010: 48–61 Abb 6– 7 [Kleinaspergle, Kr. Ludwigsburg]; 55 Abb. 17 [La Butte, Dép. Côte d´Or]), korreliert werden können. Strukturen oder Anomalien, die eindeutig mit Position und Gestaltung des Grabhügelfußes verknüpft werden konnten, sind im Messbild nicht zu erkennen. Es muss also weiterhin mit einem Gesamtdurchmesser zwischen 100 und 120 m gerechnet werden. Insgesamt zeichnet sich deutlich ab, dass in dem unter Schutz gestellten, aber derzeit noch beackerten Grabhügel zahlreiche eisenzeitliche Befunde gut erhalten sind. 75

Abb. 7:  March-Buchheim, Breisgau-Hochschwarzwald-Kr. (D), Großes Bürgle. Höhenlinienplan mit Geomagnetikmessflächen (Ausschnitt) und Messergebnissen im Zentrum (-5 bis 5 nT). Geobasisdaten (Luftbild) © Landesamt f. Geoinformation und Landentwicklung Baden-Württemberg; Bildautor: R. Scholz.

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Abb. 8:  Südwestdeutschland mit eingezeichneten Wanderroute zwischen Heuneburg, Magdalenenbergle und Breisach-Münsterberg. Karte: google maps (16. 01. 2015).

Wieweit hier weitere Forschungen möglich sind, muss die Zukunft zeigen. Bereits ausgegrabene hallstattzeitliche Grabhügel lassen ahnen, welches Potential für neue Forschungsfragen, aber auch welche denkmalpflegerischen Aufgaben auf die Archäologie zukommen können. So sollte zur Vermeidung einer weiteren Zerstörung von Strukturen die aktuelle Nutzung als Ackerland überdacht werden. So wäre es aus Denkmalschutzgründen sicher erstrebenswert, die Flächen in Grünland umzuwandeln und eventuell touristisch zu erschließen. Kurzfristig könnten Auflagen zur Pflugtiefe nützlich sein. Da es sich insgesamt um eine sehr kleine Ackerfläche in einer Ortslage handelt, bietet sich das Areal auch für die Naherholung an. Grabhügel und Kommunikationswege Die primäre Funktion der Grabhügel als Begräbnisstätten braucht hier nicht weiter diskutiert werden. Eine Verknüpfung von Begräbnis und Legitimation der Bestatteten als Nachfolger für entsprechende soziale Aufgaben oder Rollen inklusive möglicher konstruierter Tradi­tionen kann besonders bei hochrangigen Personen, wie in den Zentralgräbern der Großgrabhügel postuliert, zur Er­richtung monumentaler Grabdenkmäler führen (vgl. ­Eggert 1988; Kurz 1998 – mit vielen Literaturhinweisen). In diesem Beitrag soll zum Abschluss jedoch auf den landschafts­prägenden Aspekt der Grabhügel aufmerksam gemacht werden. Großgrabhügel sind – sollten sie nicht gerade im Wald stehen, wie heutzutage der Hohmichele – weithin sicht-

bar, weswegen die These geäußert wird, dass diese sich auch als Landmarken entlang von Fernwegen eigneten. Dass Grabhügel und prähistorische Wege oder Überlandtrassen allgemein in enger Verbindung miteinander stehen, wurde bereits öfters rekonstruiert und nachgewiesen (vgl. Nakoinz 2012: 78ff.). Sehr gut lässt sich dies mit dem Magdalenenbergle nachvollziehen, von dem man nicht nur bei klaren Wetterlagen eine Fernsicht bis zu den ersten Alpengipfeln hat, sondern der auch kleinräumig interessante Sichtachsen aufweist. Eine vollständige GIS-basierte Sichtfeld­analyse für diesen Grabhügel würde allerdings den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen und soll an anderer Stelle weiter verfolgt werden. Bei einer Ortsbegehung ist ­jedoch aufgefallen, dass der Magdalenenbergle in dem ­südöstlich anschließenden Abschnitt des Brigachtales sehr gut von der Talsohle aus zu erkennen ist, besonders auf Höhe des bereits erwähnten Südausflusses des Neckar­mooses. ­Diese Beobachtung war der Auslöser für die Idee, dass in der unmittelbaren Umgebung eine Kreuzung mehrerer Fern­wege liegen könnte, von denen einer vom Brigach-/­Donautal abzweigt, um den Neckar­ ursprung herumführt und dann weiter nach Norden ins mittlere Neckartal verläuft. Tatsächlich ist auf den früheisenzeitlichen Verkehrs­ wegekarten von L. Pauli (dazu: Hauser 2012: 84f.) ­zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb eine Kreuzung ­zweier Landwege vermerkt.Allerdings wird seit der ersten Publikation dieser Karte trotz aller Korrekturen durch L. ­Pauli und andere die Verbindung zwischen Breisach und Heu77

neburg schwungvoll auf Höhe des Bregtals geführt, ungeachtet des Umstandes, dass die heute recht bequeme Trasse der Landstraße B 31 in prähistorischer Zeit kaum für ­größere Reisegruppen geeignet war. Das in ­diese Wegeführung involvierte Höllental wurde erst 1770 n. Chr. für den Brautzug Marie Antoinettes von Wien nach Paris für Fuhrwerke passierbar gemacht. Für prähistorische Zeiten müssen also andere (Handels-)Trassen für die ­­west-östliche Schwarzwaldquerung diskutiert werden. Als Hilfsmittel für Wegrekonstruktionen stehen inzwischen über das Internet Routenplaner zur Verfügung, ­von denen google maps die am häufigsten benutzte Variante darstellt. Bei der Anwendung muss darauf geachtet ­werden, dass bei der Eingabe der Wegepunkte auch die Einstellung „Fußweg“ aktiviert wird. Wird nun nach einem Wanderweg zwischen dem ­Breisacher Münsterberg und der Heuneburg als zwei ­Zentralsiedlungen, für die ein direkter Austausch wohl sicher angenommen werden darf, gesucht, schlägt google Routenplaner mehrere Strecken vor, von denen auch eine über Buchheim im Breisgau und Villingen in der Baar laufen. Ganz offensichtlich können die beiden Großgrabhügel Bürgle und Magdalenenbergle, die mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen, durch einen leicht gangbaren Wanderweg um den Kandel, den höchsten Berg im ­Mittelschwarzwald, herum verbunden werden. Diese ­Etappe umfasst ca. 58 km, wofür vom Routenplaner in etwa 12 h veranschlagt werden. Bei einer schnelleren

Gangart, die für trainierte eisenzeitliche Menschen m. E. durchaus postuliert werden darf, würde dieser Weg auch unter 10 h bewältigt werden können. D. h. mit Villingen (Kapf?) und Buchheim als Ausgangs- und Zielpunkt ist zumindest im Sommerhalbjahr eine Querung des Schwarzwaldes innerhalb eines Tages durchaus möglich. Die gesamte Strecke Heuneburg – Breisacher Münsterberg wird mit 160 –170 km angegeben, je nach Wegführung im Detail, so dass für eine solche Reise in der Eisenzeit bereits weniger als eine Woche veranschlagt werden kann, wenn man keine zusätzlichen Aufenthalte berücksichtigt. Die beiden Großgrabhügel Magdalenenbergle und Großes Bürgle weisen somit nicht nur in ihrer Gestalt und Abmessung und mit ihren Funden deutliche Gemeinsamkeiten auf, sondern sie markieren auch eine mögliche gangbare West-Ost-Transitroute durch den Schwarzwald. Welche Bedeutung diese Route in Ha D1 hatte, welche Machtkonstellationen damit verbunden waren und welche Ortschaften einzelne Abschnitte kontrolliert haben können, kann bei dem derzeitigen Forschungsstand noch nicht beantwortet werden. Solange die Belegungszeit des Großen Bürgle nicht sicher festgelegt ist, kann nur die Datierung des Magdalenenbergles als Anhaltspunkt genommen werden, dass die hier vorgestellte Route nach dem Beginn Ha D2 ihre Bedeutung verlor und von anderen Weg­strecken abgelöst wurde.

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ExcavationWiki: a response to parallel worlds of archaeology Hans Reschreiter

Zusammenfassung Leben und Zusammenleben sind vielfältig und durch unzählige Aspekte geprägt. So vielfältig wie das Leben ist, so vielfältig sind auch die Spuren, die vom vergangenen Leben erhalten geblieben sind. Um diese Vielfalt gezielt erforschen zu können hat sich die Forschung in unterschiedlichste Fachbereiche und Methoden aufgespalten. Alle diese Archäologien erforschen mit ihren speziellen Techniken und Methoden Teilbereiche des vergangenen Lebens. Damit das alte Leben als Gesamtes erforscht und erfasst werden kann, müssen die Teilbereiche zusammengeführt werden – Leben besteht ja nicht nur aus Textilien, oder Bronzeguss, oder verkohltem Getreide. Im Normalfall erfolgt diese Zusammenführung zu einem möglichst umfangreichen Bild der Vergangenheit nach der Erforschung der vielen Einzelaspekte des Lebens durch die Spezialdisziplinen und -methoden. Die Problematik bei dieser Vorgangsweise verbirgt sich in einem entscheidenden Detail: wir finden oft nur was wir kennen und wonach wir suchen. Alles was wir nicht suchen, wird nur schwer gefunden. Aber, alles was wir während der Ausgrabung oder Freilegung nicht erkennen, ist oft unwiederbringlich verloren. Dasselbe gilt für die Freilegung und Restaurierung von Funden. Von Anfang an muss bekannt sein, was alles erwartet werden kann. Die Herausforderung besteht darin, dass schon während der Ausgrabung und während der Freilegung bekannt sein muss, was zu erwarten wäre – also die Ergebnisse der Spezialdisziplinen greifbar sind. Aber wie ist es möglich, dass während aller Arbeitsschritte vom Feld bis ins Depot an alles gedacht wird und nichts übersehen wird? Während der Ausgrabung stehen oft keine umfangreichen Datenbanken oder Bibliotheken zur Verfügung, die man bei Fragen zum Befund oder Fund konsultieren könnte. Ohne entsprechende Literatur oder andere Quellen ist es nicht möglich die Variationsbreite zu überblicken, was einen im Boden alles erwarten kann und auf was geachtet werden sollte. Wie kann es dennoch gelingen, dass auf den riesigen Berg an erarbeiteten Spezialdaten zugegriffen werden kann und dadurch während der Ausgrabung und Freilegung der Funde und Befunde nichts übersehen wird – und dadurch unwiederbringlich weggeputzt wird? Könnte ein eigens für die Bedürfnisse der Ausgrabung, Freilegung und Restaurierung der Funde entwickelte online Datenbank Abhilfe schaffen? Eine Datensammlung, die darauf eingeht, was bisher in Gräbern, in Brunnen, in Siedlungen, Bergwerken usw. beobachtet worden ist. 81

Diese Informationsplattform könnte ähnlich wie wikipedia (https://www.wikipedia.org) aufgebaut sein und individuell befüllt werden. Der Vorteil einer online basierten Datensammlung wäre, dass sie jederzeit und beinahe überall abrufbar ist und damit auch im Zuge der Ausgrabung und im Labor einsetzbar wäre. Damit diese Datenbank ihre Funktion erfüllen kann, müsste der Thesaurus zielgerichtet für diese Anforderungen ausgerichtet sein. Denkbare Stichwortkategorien wären etwa: Ankorrodiert an Metall oder: Inhalt von Brunnen. Mit Hilfe dieser Datenbank könnten die Informationen aus den vielen unterschiedlichen Archäologien gebündelt und zielgerichtet abrufbar sein.

Abstract Life is diverse and characterised by many aspects. As diverse as life are the remains that have been presereved of past life. To be able to properly reseach this ­diversity, archaeology has diversified itself into various different subfields using various different methods. All these archaeologies examine specific parts of past life with the specific techniques and methods. For past life to be researched in its entirety and be fully understood, all the results from these subfields have to be reintegrated  – life, after all, does not just consist of textiles, or bronze casting, or charred grains. Normally, the reintegration of the results of these subfields happens after all these individual aspects of life have been thoroughly examined by the respective subfield with its specialised methods. Yet, the devil hides in details, and so do the problems with this approach: we often only find what we already know and what we are specifically looking for. All that we are not specifically looking for, we hardly ever find. But all that we do not recognise during excavation or recovery often is irretrievably lost, and the same is true during the conservation and restauration process. It is necessary to know from the start what can all be expected to be found. The challenge is that it must already be known during the excavation process what should be expected to be found – that is, that the results of the various subfields are available during this process already. But how is it possible that everything is remembered and nothing overlooked in all the individual steps taking data and objects from site to storage? Large databases and libraries, which could be consulted in case questions arise about finds or features, are often not available during excavation. But without the literature or other sources being available, it is impossible to keep the variability in mind of what all could be expected and what all should be considered while excavating. How can it be achieved, then, that this huge volume of specialised data can be accessed during excavation and thus nothing be missed during the recovery of features and finds – and thus nothing be irretrievably destroyed? Could an online database, developed specifically for the needs of excavation, recovery and restauration of finds, present a solution? A collection of data which contains information of what has already been observed in burials, in wells, in settlements, in mines etc.? Such an information service could be constructed similar to wikipedia (https://www.wikipedia.org) and filled with content individually. An advantage of such an online data collection would be that it would be available anytime almost anywhere and thus could also be used during excavation or in the laboratory. For this database to be able to serve its purpose, the index would need to be designed towards the relevant needs in field or lab. Possible keyword categories could be: ‚corroded onto metal‘ or ‚content of well’.With the help of such a database, information from many different archaeologies would be available in a focused and useful form. 82

1 Archaeology is multi-faceted Life and living together are multi-faceted and marked by countless aspects, ranging from birth to death, dwelling to moving, sleeping to travelling, jewellery to clothing, childhood to old age, growing to decaying, learning to forgetting, foraging to farming, pain to drugs, disease to medicine, offering to ritual, initiation to burial, production to waste management, light to blindness, eating to excrement, body hygiene to makeup, shaving to beard style and many more. 1.1 Many different archaeologies The preserved traces of past lives are as diverse as life itself. To explore this diversity, targeted research has split into various sub-disciplines and methods: landscape archaeo­ logy, ethnoarchaeology, archaeozoology, archaeodendrology, aerial archaeology, archaeometry, gender archaeology, archaeomusicology, forensic archaeology, classical archaeo­ logy, archaeobotany, alpine archaeology, maritime archaeo­ logy, computer archaeology, mining archaeology, wetland archaeology, textile archaeology, underwater archaeology, experimental archaeology, geoarchaeology, physical anthropology and so on. Many of these disciplines and methods researching bygone times have been further broken down according to periods of interest. Most of these fields and methods exchange information within their field in specialised conferences and journals. All these archaeologies explore sections of past life with their special techniques and methods. 2 Researching life in the past To explore and record past life as a whole, these sections need to be brought to together – life does not only consist of textiles, or cast bronze, or charred grain. In some areas, the merging of research results of individual archaeologies is consistently performed. A ‘holistic archaeology’ particularly common in popular science, for instance for cinematic documentaries, exhibitions, educational programs and for the production of realistic reconstructions and synthetic overviews (for example, the SPM volumes (Stöckli, Niffeler, Gross-Klee 1995).

‘Special finds‘ The merging of individual archaeologies works well in some areas, whereas others seem to need some catch-up. Especially in the huge domain of organic materials there is scope for more exchange. Well over 90 % of the material culture of preindustrial groups was made of organic materials (Leroi-Gourhan 1971; Hirschberg, Janata 1986; Feest, Janata 1989).This overwhelming proportion of the original inventory however, is only preserved under special circumstances.The finds are therefore often referred to as ‘special finds’ – although they actually represent by far the largest group of the original range of material culture. To explore past life as a whole, it is necessary to bring together organic special finds with the ‘usual finds’ made of ceramic, metal, stone and antler/bones. In this regard, an intensified exchange between wetland and dry soil ­archaeologists is necessary. If this synthesis is lacking, everybody works with a rudimentary record. Particularly in the Iron Ages, preserved organic materials are very rare, and finds of fired clay and metal so attractive that organic ‘special finds’ are rarely incorporated in general models. An example is the vessels made of organic materials. Vessels made of wood, bark and bast play an extremely subordinate role in Iron Age research, despite the fact that wood vessels are preserved in many of the outstanding early Iron Age graves. Evidence for wood vessels was found from Verucchio to Novo Mesto and Most na Soˇci (Teržan, Schiavo,Trampuž-Orel 1984:Taf. 91, 146, 149) to Castaneda.They represent a significant part of the equipment in some graves at Verucchio (Eles 2002) and at Castaneda the publisher even postulates one wooden vessel for each situla (Burkart 1930: 145). Most likely, each grave originally contained such vessels, but most have decayed. In the case of wooden vessels, we are presumably misled by an analogy to ourselves. Many of us are familiar with wooden vessels mainly from museums of ethnography, and connect them to the simple, peasant life. Thus, they have no place in the colourful and metal-rich early Iron Age. We have difficulties imagining wooden vessels at banquets of the Iron Age élite. In another context – status symbols – we are similarly focused on valuable materials. Drawing from the image of royal insignia such as imperial crown, orb and sceptre, we assume an expression of status in gold and ivory. How­ ever, we overlook chairs and footstools, the combination of which creates a throne, of which only those made from 83

wood are presently known (Eibner 2013: 462). Restricting status items to those materials that we perceive to be valuable apparently does not suffice. 2.1 Gaps in research – gaps in models If the so-called ‘special finds’ made of organic materials are not included in the discussion, essential aspects of life in the past are missing. In addition to these often neglected areas of everyday life, further subjects of our research are almost systematically excluded – although they are existential. Basic things like eating, sleeping, personal hygiene and lighting have little space in the literature on prehistoric archaeology.The cause of the widespread neglect of such areas is that they are difficult to assess through finds. Much of research remains related to finds.Topics and areas that can be accessed by discoveries are tackled; aspects of human life and living together, for which so far no finds or findings were recognised, are rarely researched. (Thematic research only slowly gains a foothold on the continent. Katharina Rebay-Salisbury’s FWF-funded project of on the social status of motherhood in Bronze Age Europe should be mentioned here as an example of such approaches.) 2.1.1 Food We can safely assume that the consumption of food has taken a central role in people’s lives over the last millennia. Large ceramic vessels are commonly interpreted as cooking vessels, while shallow bowls are thought to represent serving dishes. Few deal with issues such as how meals were prepared, and especially how they were eaten. Early Iron Age imagery on situlae only gives limited information in this regard – the offering of food is repeatedly shown, but never how it was consumed (personal correspondence Eibner Alexandrine). The Iron Age archaeological record of the early Iron Age does not include any finds of spoons or other cutlery – except in ritual contexts (Steiner et al. 2009). Although many burials include provision for the journey into the afterlife, so far no cutlery was discovered to help consume the food, except for some knives. The statement that cutlery consisted of organic material and is therefore not preserved does not suffice. At the salt mine of Hallstatt, the main food of the miners was unambiguously identified: a stew, Ritschert, was cooked and consumed in 84

the mine. Although several wooden cooking spoons and food bowls have been found and the components of the consumed food were reconstructed through the analysis of excrements (Barth 1992), all clues as to how Ritschert was eaten are still missing. Spoons, spatulas or chopsticks made of wood, horn, bark or other materials would have preserved in the mine. Due to the lack of cutlery we must assume that the stew was eaten without additional aids. Whether Ritschert was prepared with a fluid consistency and sipped directly from the bowls, or was prepared as a firm stew that was moved to the mouth with the fingers, or shoved into the mouth by placing the bowl next to the lips remains unclear. The ceramic and wooden vessels from the mine correspond to time-typical forms; we therefore have to assume that the technique of eating was not restricted to the miners, but the usual practice of the early Iron Age (Reschreiter 2008). The consumption of food 2500 years ago was thus done directly with the fingers, without the help of additional tools. 2.1.2 Body hygiene Another important aspect of human existence is personal hygiene. However, there is a distinct lack of literature on the subject of going to the loo, intimate care and cleaning of body and clothes. For Hallstatt, the leaves of the common butterbur (Petasites hybridusis) are automatically assumed to be toilet paper, because we can hardly imagine intimate hygiene without paper. The hundreds of textile fragments from the Hallstatt mine appear clean after recovery for the most part and only few pieces of dirt are attached to them – even though they were only rinsed with cold water after exposure. Since dirt layers are perfectly preserved in the mine, as remnants on wooden bowls or fur objects demonstrate, it is only reasonable to conclude that textiles were used in a clean or only dusty state in the mine. Shaving, another commonplace, has scarcely been researched in prehistoric archaeology. The removal of facial hair is apparent in the Bronze Age from the many finds of razors, which have been well published and experimentally explored. For the early Iron Age, however, little attention is paid to shaving, as there are no finds of razors, despite the fact that people appear perfectly shaven in images on situlae. Findings from the sword grave of Frankfurt-Harheim may indicate a particular technique

Abb. 2:  Nach: http://www.theangelslash.com/wp-content/uploads/2012/06/DSC02441.jpg

Abb. 1:  Nach: Flügen, Wills 2009: Abb. 1; Abb. 5

of hair removal. The conserver at the Frankfurt archaeological museum,Thomas Flügen, noticed a 1.2 mm thick twisted yarn corroded onto the set of toilet items buried with the deceased (Flügen, Willms 2009: 65). He imagined that this thread was used for shaving in the Iron Age. The removal of hair via threading is currently very popular in the US and beauty salons now offer this technique inVienna (https://en.wikipedia.org/wiki/ Threading_(epilation)). In the Near East, this type of body hair removal has long been practiced. 2.1.3 Lighting Artificial lighting is rarely discussed systematically and is unquestionably accepted as universal. If lamps are found, like in Lascaux or in Roman times, the past world appears in proper order.The many wooden lighting chips obtained from the Austrian salt mines of Hallstatt and Hallein and the copper mines of Tyrol and Salzburg reassure us. But how do we interpret the fact that burnt chips are rarely discovered at Neolithic and Bronze Age wetland sites around the Alps? This is even more astonishing, as lighting chips are a classic consumable with large quantities of waste, which remain in the mines.

If the wetland sites do not yield any wooden lighting chips, does this mean that artificial lighting was not used, or that other variants of lighting were in use that we have not recognized or discovered so far? Or was artificial lighting just not needed, because from childhood one was accustomed to make do with very little residual light and therefore still saw enough in the night’s pitchblack conditions?1 In prehistoric times, artificial light may have only been used in mines and where absolutely no residual light can penetrate from the surface. 3 Bringing together archaeologies We explore past life – as a whole. Our goal is a holistic view of history and not the juxtaposition of different archaeologies. After researching the many individual aspects of life by specialised disciplines and methods, the results have to be merged into a comprehensive picture of the past. As mentioned above, this merging is often done for general overviews and exhibitions. It does not appear problematic if the results of each single archaeological specialisation stands alone and is only linked to other results at a later time. 3.1 We only find, we only see, what we know It seems simple and enticing for all individual disciplines to get on with their work and then merge their results. The problem with this mode of operation lies in one crucial detail: we often only find what we know and are looking 85

for. What we are not looking for is very hard to find. If the twisted yarn on the early Iron Age toiletry becomes better known, it is likely that further threads like it will be discovered in the future – either in the course of new excavations or in finds curated in depots and museums.2 Often, however, what is not recognised during excavation is lost forever. The same applies to the exposure and restoration of finds. What can be expected must be known from the outset, e.g. what kinds of objects may be corroded onto a sword blade, or that thread may be corroded to tweezers.The challenge I see is that what can be expected must already be known during excavation and exposure. The probability of not finding what is not already known is very high. Details that are expected or sought are more frequently recognised and documented. 4 ExcavationWiki? But how is possible to think of everything during all steps from the field to the depot and make sure nothing is overlooked? We find more easily what we already know – but because of the high degree of specialisation in archaeology today it is no longer possible to know everything, especially not in the field. During the excavation, comprehensive databases or libraries are rarely available that could be consulted if questions arise on the discoveries or findings. Without appropriate literature or other sources, it is impossible to overlook the range of things that may be expected in the ground and what attention should be paid to. A stone in a grave may simply be just a rock and have no further meaning, but it can also be a polishing stone, a touchstone, a grinding stone, a slingstone, a reflector stone (Barth 2005: 9), a cooking stone or another stone with a special function.Through corrosion, metal artefacts may also preserve textiles, fur, leather and wood, insects, pollen, skin and hair, feathers, parts of plants and much more. The relevant literature on these issues is very specialised, not always easy to obtain and it is hard to get an overview. But if in the course of excavation or exposition nothing should be overlooked, then this detailed knowledge must be available.This specialised knowledge is normally taught in special meetings and subject specific journals. It is impossible to oversee the full breadth of knowledge, let alone grasp the current state of research in all areas. How can we nevertheless succeed in accessing the huge 86

amount of specialised data and thus make sure not to overlook – and thereby irreversibly destroy – anything during the excavation and exposition of finds and findings? It is unrealistic to expect that archaeological excavation technicians and restorers visit all specialised meetings and posses an overview of the whole bandwidth of knowledge. Existing literature databases are most often organised by material or period and provide only limited help if one wants to know, in the field, what could possibly be included in a lump of corroded metal. 4.1 ExcavationWiki Could an online database specially developed for the needs of excavations, expositions and restoration of finds be a remedy? Such a collection of data could contain what has previously been observed during the excavation of graves, wells, settlements, mines, etc., what is known so far of objects corroded to metals and what organic materials have been recognised so far in which context, and which ‘special stones’ may be expected and how they differ from ‘normal’ stones.This information platform could be built up in a similar way as Wikipedia (https://www. wikipedia.org) and filled with content individually. The advantage of a web-based data repository its availability almost everywhere, even in the field or lab. In order for this structure to fulfil its function, it needs to be purposefully designed to meet the requirements. Conceivable search categories may include, for example: ‘special stone in grave’ or ‘object corroded to metal’ or ‘content of well’. Entries should list a selection of known ‘special stones’ or artefacts corroded onto metals. Guidelines for conservation ‘first aid’ may appear under the same keyword if necessary. Using this database, information from the many different archaeologies could be bundled and be available upon request. As an extension, it is conceivable that appropriate guidelines for sampling are listed – where and when it makes sense to take botanical, geological, sedimentological, and other samples. The Wiki proposed here is seen as a special tool to aid the processing of complex finds and contexts from excavation to storage. With this kind of Wiki, I see a chance for collecting much more data in the course of future excavations and exposure, and that the many different archaeologies can be brought back together.

To recover the maximal possible amount of information in the field and lab is not only an opportunity but also an obligation. We have a high level of responsibili-

ty towards our sources.We could probably comply better with this responsibility if a data collection was available in the field.

Notes 1

During several trips to West and North Africa, the author observed that it was no problem for locals to move through moonless nights in complete safety, both on foot and by car without the headlights on, while it was dark for us and not even faint outlines were visible. 2 When Lise Bender Jørgenson visited the Prehistoric Department of the Natural History Museum in Vienna in the 1970s, she asked for Iron Age textiles corroded to metal artefacts. She was told that the collection did not include such items. After half a day of targeted research in the depot, however, she found over dozens fragments of textiles, which had previously gone unnoticed.

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bekleiden – verdecken – verhüllen Kontextualisierung und Theoriebildung zu eisenzeitlichen Grabtextilien Karina Grömer

Zusammenfassung Die Interpretation von Textilien aus eisenzeitlichen Gräbern ist teils komplex, da die Funde verschiedene Deponierungsumstände widerspiegeln. Es können funktionale, repräsentative wie auch rituell/sakrale Gründe genannt werden. Wenn ein Textil funktionaler Teil eines anderen Artefakts (z. B. Textilinnenfutter einer Schwertscheide oder Unterfütterung eines Blechgürtels) ist, dann wurde es nicht bewusst als Textil im Grab niedergelegt. Selbiges gilt auch für die textilen Füllungen der Hohlarmreife. Andererseits wurden Textilien auch zur Ausschmückung der Grabkammer verwendet, wie das bekannte Beispiel von Hochdorf zeigt. Körpergräber wiederum können wesentliche Hinweise zur Kleidung der Verstorbenen geben, wobei hier jedoch diskutiert werden muss, ob dies ein spezielles Totengewand repräsentiert, oder Kleidung, die auch von den Lebenden getragen wurde. Textilien können in Gräbern auch eine rituell/sakrale Bedeutung haben. Gewebe dienten als Grabbeigabe, in ihrer Wertigkeit wohl gleichbedeutend mit Bronzegefäßen oder Waffen. In der Eisenzeit können wir einen speziellen Ritus fassen, das Umwickeln von Grabbeigaben und/oder des Leichnams bzw. der Überreste einer Brandbestattung. In diesem Beitrag werden auch verschiedene Theorien diskutiert, die sich auf diese Funde beziehen. Dennoch ist es wesentlich zu betonen, dass die religiösen Vorstellungen und Weltbilder, die hinter diesen Riten stehen, aufgrund des Fehlens schriftlicher Quellen wohl nicht endgültig entschlüsselt werden können.

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Summary Interpreting textiles from Iron Age graves is a challenging task.The finds reflect different reasons why woven fabrics can be found in a burial. Namely these can be functional, representative as well as ritual. Firstly, if a textile is a functional part of another object (e.g. a lining of a scabbard or a textile lining of a belt), it was not placed intentionally in the grave. The same can be said for the textile filling of hollow anklets. On the other hand, textiles were used to decorate the burial chambers, as we know from the example from the princely tomb at Hochdorf. Inhumation burials provide us with indications of garments worn by the deceased. Therein it is important to discuss, whether the garments are specific burial garments or if they were worn in daily life as well. Textiles in graves can also have a ritual meaning. Textiles served as burial gifts as well, side by side with other precious grave goods such as bronze vessels or weapons. For Iron Age contexts, a specific ritual could be identified, namely the wrapping of grave goods and/or the deceased or the cremated bones. Various theories will be discussed to explain this kind of archaeological evidence. After all, it is difficult to explain the religious system behind those customs due to the lack of written sources.

Im Fahrwasser der spektakulären Textilfunde aus dem berühmten Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf (BanckBurgess 1999) richtet sich seit nunmehr fast 20 Jahren der Blick der mitteleuropäischen Forschung auch immer mehr auf die unscheinbaren Textilreste aus Grabkontexten. Stoffe finden sich nicht nur anhaftend an metallenen Trachtbestandteilen, sondern auch an Beigaben, an Bronzegefäßen, aber vor allem auch an Schwertern oder Messern. Die Textilien konnten sich dabei durch die Metallkorrosion erhalten, sind jedoch nur sehr kleinstückig und meist ist die Farbinformation verloren. Der Zustand der Textilien reicht von organischer Erhaltung mit gut erkennbarer Faserstruktur bis zu fast vollständig vergangenen Geweben, bei denen nur noch ein Abdruck in der Rosthülle des Metallobjektes sichtbar ist. Es können jedoch auch in diesen Fällen noch wertvolle Informationen gewonnen werden (Mitschke 2001: 32–46). In der österreichischen Textilforschung sind für die Eisenzeit vor allem die Gewebefunde aus den Salzbergwerken Hallstatt (Grömer et al. 2013) und Dürrnberg (von Kurzynski 1996) sehr prominent, weniger bekannt ist noch immer, dass auch in eisenzeitlichen Gräbern (Grömer 2014: Katalog 192–220; Müllauer, Ramsl 2007) etliche Textilreste entdeckt wurden, die unser Verständnis zur textilen Kultur Mitteleuropas wesentlich ergänzen. Die Textilforschung bedient sich heute zahlreicher Untersuchungsmethoden mittels Rasterelektronenmikro90

skop, Mikrostratigrafie, Wollfeinheitsmessungen, 3D-CT etc., um Textilreste zu analysieren. Diese modernen wissenschaftlichen Analysemethoden erlauben dabei tiefere Einblicke, als dies noch vor einigen Jahrzehnten möglich war – als selbst Faseranalytik an mineralisierten Objekten nicht durchgeführt werden konnte. Die wichtigsten ­Daten, die auch an mineralisierten Textilien erhoben werden können, sind etwa die Bindung, Gewebedichte, ­Fadenstärke, Garndrehung etc. (siehe Grömer 2014: 9–16; Walton, Eastwood 1988). Kontextualisierung Derartige technische Daten wurden bereits in den 1980er und 1990er Jahren immer wieder aufgenommen und dann als Analysereport relativ unreflektiert als Anhang in wissenschaftlichen Arbeiten beigefügt (z. B. Textilien aus dem Gräbern vom Dürrnberg: Hundt 1974). Vor allem der Fund von Hochdorf, aber auch die Forschungen an frühmittelalterlichen Gräberfeldern Süddeutschlands gaben den Ausschlag, diese textiltechnischen Daten auch mit dem Gesamtkontext zu verbinden. Vor allem die ­Blockbergungen kompletter Gräber (z. B. Nowak-Böck, von Looz 2013; Peek 2013) bringen dabei erstaunliche neue Erkenntnisse zum Grabbrauch und zur Bedeutung der ­organischen Materialien wie Textil, Leder, Holz, Fell etc., die eine wichtige Erweiterung unserer Kenntnis

Abb. 1:  Schema zur Kontextualisierung von Grabfunden (nach Grömer 2014).

der materiellen Kultur der Ur- und Frühgeschichte dar­ stellen. Bei den eisenzeitlichen Grabfunden mit Textilien aus Österreich, die im letzten Jahrzehnt untersucht ­wurden, handelt es sich großteils um Altfunde, was für die Kontextualisierung eine Herausforderung darstellt. Auch bei neuen Ausgrabungen wurden in Ostösterreich bisher aus logistischen Gründen keine Blockbergungen vorgenommen, daher wird hier vom Einzelfund ausgegangen, um

Textilfunde aus Gräbern in nachvollziehbarer Weise zu kontextualisieren. Kontextualisierungsmethodik bei österreichischen Funden Die Methodik, nach der hier gearbeitet wird (Grömer 2014: Abb. 66), hat einen pyramidalen Aufbau (Abb. 1). An dessen Spitze steht der Einzelfund, also ein Schmuckstück, ein Trachtbestandteil oder eine sonstige Grabbeigabe (z. B. Messer, Bronzegefäß etc.), vom dem aus sich alle 91

Abb. 2:  Berg/Attergau: Mikrostratigrafie der organischen Reste beim Blechgürtel (Grafik: K. Grömer, © BDA).

weiteren Analyse- und Interpretationsebenen aufbauen. Diese ­Ebene – der Fund – ist der einzige wirklich objektive Level. Der nächste Schritt ist die Analyse, die technische Beschreibung, Faseranalyse und Mikrostratigrafie. Es ist hier wichtig zu betonen, dass dies bereits eine erste Interpretation darstellt. Manche Gegebenheiten können unter Umständen von verschiedenen Wissenschaftlern unterschiedlich gesehen werden (etwa die Stellen, die man auswählt, um die Fadenstärke oder Gewebedichte zu messen). Auf derselben Ebene muss der Kontext beachtet werden. Als Beispiel möge eine Fibel oder Gürtelschließe dienen: wesentlich ist die Beobachtung, ob diese in funktionaler Trachtlage im Grab am Körper des Bestatteten liegt oder nicht.Wurde eine Gürtelschließe etwa bei den Beinen abgelegt, sollte diese als Grabbeigabe betrachtet werden. Anhaftende Gewebereste sind dann nicht automatisch zur Kleidung zu zählen, sondern können ggf. 92

auch Umhüllungen dieses Gegenstandes sein. Zudem ist es wichtig, die Positionierung zum Körper des Bestatteten zu beachten, ob das Textil an der dem Körper zuoder abgewandten Position anhaftet. Im nächsten Schritt sollten alle Beobachtungen in Informationen zum Grab und zur bestatteten Person eingebettet werden: zu Sozialstatus, Geschlecht, Alter etc. Erst zuletzt – um die einzelne Arbeitsschritte methodisch sauber voneinander zu trennen – können Vergleiche mit bildlichen, möglicherweise schriftlichen Quellen ­sowie mit komplett erhaltenen Gewändern angestellt werden, um so eine Interpretation der ehemaligen Funktion des Textilrestes zu erhalten. Die pyramidenförmige Struktur des Schemas soll auch die Tatsache demonstrieren, dass, je weiter man sich von der Spitze (also vom Fund selbst) wegbewegt, desto mehr Diskussion geführt werden muss, um die Entscheidungen zu erklären, die zu einer Interpretation der Funde führen.

Abb. 3:  Gräber aus Oberndorf in der Ebene mit Textilanhaftungen (nach Grömer, Ramsl in Vorb.). Untere Reihe: Bildliche Darstellungen der Späthallstatt/Frühlatènezeit: a, c Certosa, b Magdalenska Gora, d Molnik, e Idria pri Baci, f Hallstatt (Verweise siehe Text).

Beispiel für Mikrostratigrafie Die Mikrostratigrafie beschreibt die Schichtung verschiedener organischer Materialien (Hägg 1989: 431–435), die sich in einem Grabkontext meist an Metallobjekten erhalten haben. Da sie aneinander korrodieren, bildet sich dadurch der Zustand bei der Grablege ab. Als Beispiel mit einer derartigen Schichtung sei hier ein Fund aus einem reichen hallstattzeitlichen Brandgrab aus Berg/Attergau in Oberösterreich (Trebsche et al. 2007) genannt. Es wurden im Bereich eines Blechgürtels interessante organische ­Lagen geborgen, die Einblick in den funktionalen Aufbau des Gürtels geben (Abb. 2). Direkt unter dem Blech wurde Baumrinde entdeckt, dann noch mehrere Schichten Textil, sowie an der Gürtelvorderseite an den Rändern Textilreste, Lederstreifen und Holznägelchen. Der Gürtel war also mit Rinde gepolstert, hatte dann zum Körper hin eine mehrfache textile Innenfütterung,

die über den Rand geschlagen und dann mit Lederstreifen und Holzstiften an der Vorderseite fixiert wurde. Themenbereich „bekleiden“ Bei der Kontextualisierung spielen vor allem auch Funde aus Körpergräbern eine wichtige Rolle. Trachtbestand­ teile, die sich in „Trachtlage“ und funktional am Körper des Bestatteten befinden, können wohl als Überreste der Kleidung angesehen werden.Textilreste an derartigen Trachtbestandteilen müssen nach ihrer Lage in Bezug auf den Körper beurteilt werden. So konnten, um ein simples Beispiel zu nennen, bei der LtA-zeitlichen Gräbergruppe von Oberndorf in der Ebene, Niederösterreich, an manchen Gürtelbestandteilen Textilreste festgestellt werden (Abb. 3, oben) (Grömer, Ramsl in Vorb.). Beim erwachsenen Mann aus Grab 93

21/2004 fand sich mittelfeines Leinen. Das Gewebe der Frau aus Grab 102/1982 weicht etwas davon ab, indem es in einer Fadenrichtung feinere Fäden und eine größere Gewebedichte aufweist. Die leinwandbindigen Textilreste fanden sich jeweils an körpernaher Position, also zwischen Gürtelbestandteil und Skelett – es handelt sich demnach, deduziert man, dass der Gürtel angelegt war, um ein gegürtetes Gewand. Das gegürtete Gewand war wohl nicht dasselbe bei beiden Geschlechtern. Nach zeittypischer Ikonografie (Abb. 3 unten) der an der Schwelle zwischen Hallstattund Latènezeit stehenden Situlenkunst finden sich etwa bei Frauen lange gegürtete Gewänder, die meist mit einem Schleier kombiniert wurden (z. B. Certosa in Italien oder Magdalenska Gora in Slowenien: Lucke und Frey 1962). Gewänder ähnlicher Silhouette, jedoch als kurzärmeliger, knielanger Kittel ausgeprägt, sind zwar auch auf Darstellungen von Männern erkennbar (z. B. Situla Certosa, Statuette von Idria pri Baci in Slowenien: Lucke und Frey 1962; Grömer 2010: Abb. 190), es gibt hier aber mehr Varianz. Gegürtet ist auch das Oberteil mit verlängerten Schößen von der Schwertscheide aus Hallstatt, Grab 994 (Egg et al. 2006). Ob die auch von Darstellungen bekannte Hose (Bronzeblech Molnik in Slowenien: Turk 2005: Abb. 87) ebenso mit einem Gürtel gehalten wurde, kann nicht gesagt werden. Man kann also immer nur Annäherungen geben, mit Gewissheit wird das einstige Gewand nicht zu rekonstruieren sein (kritisch dazu auch Rast-Eicher 2008: 177– 178) – es können jedoch Aussagen dazu gemacht werden, welche Gewebequalität, Rohmaterial etc. das gegürtete Kleidungsstück bei der Frau und dem Mann in Oberndorf gehabt hat. Überlegungen zur Kleidung der Toten Kritische Betrachtung der Quellenlage erfordert es, zum Thema „bekleiden“ noch eine weitere Überlegung anzuführen: Glaubt man nun, ein Gewand identifiziert zu haben – handelt es sich dabei um eine spezielle Totenkleidung, oder um eine auch zu Lebzeiten getragene oder Alltags-, eventuell sogar eine Repräsentativtracht (siehe dazu auch Grömer 2014: 117–120)? Nach völkerkundlichen Hinweisen ist hierbei festzuhalten, dass bei fast allen Ethnien Menschen nicht in der (Alltags-)Kleidung bestattet werden, in der sie versterben. Zwischen Tod und 94

Bestattung werden fast ausnahmslos Riten durchgeführt, die Teil des in der Ethnologie als „rites de passages“ (van Gennep 1986 [1909]: 142–144) genannten Systems sind, das die einzelnen Abschnitte des menschlichen Lebenszyklus (v. a. Geburt – Übergang ins Erwachsenenalter – Heirat – Tod) begleitet. Diese Übergangsriten sind zwar kulturell unterschiedlich ausgestaltet, enthalten jedoch im Umgang mit dem toten Menschen jeweils, dass der Leichnam gewaschen und auch nach den Regeln der Gesellschaft wieder bekleidet bzw. verhüllt wird. Wird dem Verstorbenen Kleidung angelegt, so drückt diese dann spezifisch das aus, was die bestattende Gemeinschaft über diesen Menschen oder seine Familie mitteilen möchte – über Geschlecht, Alter, Status, Kultzugehörigkeit etc. Das bedeutet also, dass die Kleidung, die wir im Grab an den Bestatteten finden, eine bewusste Auswahl darstellt, eventuell eben auch eine Botschaft, etwa zur Identität des Toten. Auch in Anbetracht dessen verbleibt die Frage, ob die Totenkleidung separat für die Grablege angefertigt wurde, oder ob es sich um Gewänder handelt, die von der Person auch zu Lebzeiten benützt wurde. Bei der Prähistorie werden besonders Gebrauchsspuren an Trachtbestand­teilen herangezogen, um sich diesem Problem zu nähern. Bei einer Studie an den Schmuckstücken aus mittelbronzezeitlichen Frauengräbern konnte etwa festgestellt werden, dass der Ringschmuck starke Abnutzungserscheinungen aufwies. Dies wurde dahingehend interpretiert, dass es sich in diesen Fällen um eine dauerhaft tradierte „Lebendtracht“ handelt (z. B. Wiegel 1994: 165). In diesem Rahmen kann jedoch noch ein weiteres interessantes Detail vorgestellt werden, das zwar selten vorkommt, jedoch dieses Problem von einer anderen Perspektive angeht: pediculus humanus corporis – die Kleiderlaus. Dieser Parasit lebt direkt an der Kleidung des Menschen, ist in seinem Lebensraum an diesen gebunden. Kleiderläuse sind in Grabkontexten zwar selten, konnten aber schon beobachtet werden. Aus Österreich kann mit dem Fundort Göttweig (Abb. 4) ein römisches Beispiel angegeben werden (Grömer 2014: 231–232, Kat. Nr. Rö18): In einem Kindergrab wurde an einem Metallarmreif an der Innenseite ein feines leinwandbindiges Textil entdeckt. Im römischen Kontext kann es sich dabei nur um eine tunica manicata handeln, also eine langärmelige Tunika, über deren Ärmel der Armreif geschoben wurde. An dem Stoff fand sich auch eine Kleiderlaus, die ein

Abb. 4:  Römisches Kindergrab aus Göttweig mit Kleiderlaus an einem Textil (unten rechts) (Fotos: A. Schumacher, NHM; REM Aufnahme S. Mitschke).

wichtiges Detail für obige Fragestellung nach Toten- versus Alltagstracht darstellt. Da das natürliche Habitat von Kleiderläusen der lebende Mensch ist, bedeutet dies, dass diese tunica manicata auch zu Lebzeiten getragen wurde – es war also kein speziell für die Grablege angefertigtes Totengewand. Obigen Hinweisen sei entgegengehalten, dass etwa im Fall des Fürstengrabes von Eberdingen-Hochdorf (BanckBurgess 1999: 124–126) alles darauf hinweist, dass die im Grab befindliche textile Ausstattung speziell für das Grab angefertigt wurde – wenn wir hier auch keine Kleidung vor uns haben. Man wird also immer wieder von Fall zu Fall entscheiden müssen, ob es sich um Alltags- oder reine Totentracht handelt. Themenbereich „bedecken – verhüllen“ Die Kontextualisierung der Grabfunde deutet immer ­wieder darauf hin, dass mit Textilien auch Objekte in

Gräbern verhüllt wurden. Prominentestes Beispiel ist hier das Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf. Dies war einer der ersten Funde, bei dem dieses Phänomen näher beschrieben und auch umfassend diskutiert wurde. In ihrer zusammenfassenden Publikation stellte Johanna Banck-Burgess (1999) auch fest, dass es sich um einen sehr gängigen Ritus in der Eisenzeit handelt. Sie stellte viele Beispiele aus Gräbern in Mitteleuropa zusammen (für die Schweiz siehe auch Rast-Eicher 2008: bes. 178–180). Auch in Österreich finden sich Umhüllungen, vor allem an Messern, Schwertern und Schwertscheiden (Grömer 2014: Katalog 192–220). Ab dem 7. Jh. gibt es in Österreich – und nicht nur dort, einige Nachweise dafür, dass die Klingen von Schwertern mit ca. 5–8 cm breiten Bändern umwickelt wurden. Vor allem ein paar Stücke aus Hallstatt (Abb. 5) zeigen eine sehr sorgfältige Umwicklung (siehe auch Kern 2005: Abb. 10). In der Frühlatènezeit ändert sich die Sitte dahingehend, indem nun nicht die blanken Klingen, sondern die in den Schwertscheiden steckenden Schwerter umhüllt werden 95

Abb. 5:  Mit Bändern umwickelte Schwertklinge aus dem Gräberfeld Hallstatt (Foto: A. Rausch, © NHM).

(Abb. 6; z. B: Hallstatt Gr. 994: Egg et al. 2006: 182–183, Abb. bes. Beilage 1; Franzhausen, Grab 295 und 768: Neugebauer 1996: Abb. 9–10). Repräsentativ ist ein frühlatènezeitliches Schwert aus einem keltischen Kriegergrab (LtA1) aus Gemeinlebarn (Preinfalk, Preinfalk 2014), ausgegraben und restauriert in den letzten Jahren (Heimel 2013). Auf der beim rechten Oberschenkel liegenden Schwertscheide hat sich eine sehr gute Textilumhüllung eines feineren Leinens erhalten. Das in der Scheide steckende Schwert war zur Gänze mit einem Textil umwickelt (Abb. 6a).Vermutlich hat man den Stoff von oben über das Objekt gelegt und die Enden am Ortbandschlussstück zusammengefasst. So lassen sich die relativ glatten Strukturen im oberen Bereich der Schwertscheide erklären, welche unten in dicht beisammen liegende Falten übergehen. Ein interessantes ­Detail fand sich an dem Schwert noch auf der Rückseite in dem Bereich, wo es auf der Hand des Bestatteten auflag. Es handelt sich dabei um die Abdrücke der Haut des Toten. Nach dem Hautbild (Felderhaut mit Übergang zur streifigen Struktur der Papillarlinien an der Handinnenseite) ist es wahrscheinlich der Bereich des Daumenansatzes beim Handgelenk, der sich so abgedrückt hat (Abb. 7). Zu Umhüllungen und Bedeckungen ist auch der Themenbereich „Leichentuch“ zu nennen. Konkrete Fälle sind für die Eisenzeit in Österreich noch nicht klar nachgewiesen. Es sei jedoch wiederum das Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf zitiert, wo der Leichnam in verschiedene textile Schichten gehüllt wurde (Banck96

Burgess 2014: Abb. 8.4). Ein interessanter Befund eines recht­eckigen Leichentuches, das über den Bestatteten gebreitet wurde, bietet der Befund von Osteria dell’Osa, Grab 3 aus dem 9. Jh. v. Chr. Dieses ist rein durch die ­metallenen Randbesätze belegt, die durch ihre rechteckige Anordnung über dem Leichnam auf ein Leichentuch hindeuten (Gleba 2014: Abb. 7.1). Im Ostalpen- und Zentralalpenraum kann bei Brandbestattung festgestellt werden, dass direkt bei den menschlichen Überresten in der Urne bzw. Steinkiste Textilreste gefunden werden (vgl. auch Fath 2012: 79; Grömer 2014: z. B. Kat. HaZ31–34 Bischofshofen-Pestfriedhof). Theorien zu Umhüllungen in Gräbern Margarita Gleba (2014) bietet eine Systematik zur Praxis der textilen Umwicklung an, wie sie in Gräbern letztendlich archäologisch fassbar sind: a) Umhüllen bzw. Bedecken des Leichnams mit einem Leichentuch b) Bei Brandbestattung Umhüllung des Knochenkleins in der Urne c) Umhüllung der Urne mit den verbrannten Überresten des Toten d) Umhüllung der verbrannten Reste in der Urne sowie Umhüllung der Urne selbst e) Umwicklung spezieller Beigaben, z. B. Messer, Schwer­ ter oder Spiegel f) Systematische Umhüllung aller Objekte im Grab

Abb. 6:  Frühlatènezeitliche Schwertscheiden, in Tücher eingeschlagen: a Gemeinlebarn „Kriegergrab“, b Franzhausen Grab 295, c Franzhausen Grab 768 (a Grafik K. Grömer, b und c nach Neugebauer 1996).

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Abb. 7:  Gemeinlebarn „Kriegergrab“: Befund mit Schwert in Schwertscheide, sowie Detail der Korrosion mit Hautabdruck (Fotos: F. Preinfalk, S. Heimel und A. Kroh).

Für die verschiedenen Arten der Umhüllung finden sich die unterschiedlichsten Deutungsansätze, die hier grob in eine funktional-praktische sowie in eine metaphysische Intention unterteilt werden. Umhüllung als funktionales und repräsentatives Element Umhüllungen können zunächst auf der funktional-praktischen Ebene gedeutet werden. Die textile Hülle des ­Knochenkleins bei Brandbestattung kann m. E. zunächst einmal simpel als Behältnis gedeutet werden, wie es auch die Urne ist. Der textile Behälter dient vordringlich dem Zweck, dass von den menschlichen Überresten nichts verloren geht. Dass derartige Umhüllungen der Brand­reste auch aus wertvollen Materialien gestaltet sein können, wird etwa bei Homer beschrieben (Ilias 34.796 und 23.254): Hectors Gebeine werden etwa in reiche purpurne Stoffe gehüllt und dann in eine goldene Aschenkiste (larnax) gelegt, bevor sie in einem Tumulus bestattet werden. Einer der spektakulärsten derartigen Funde ­wurde im sogenannten Tumulus des Philipp II. in Vergina, Griechenland, aus der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. entdeckt. In einer Vorkam98

mer von Grab 2 des großen Tumulus ­wurde die Brandbestattung einer Frau entdeckt, eingeschlagen in ein golden und purpurfarben gemustertes Gewebe und niedergelegt in einer goldenen larnax (Andronikos 1984). Weiters gibt etwa Margarita Gleba (2014: 142) zu bedenken, dass Umhüllungen eventuell auch als Schutz von wertvollen Beigaben gemeint sein können. Selbiges vertritt auch Anton Kern (2005: 8), der in den Wollbandagen der ältereisenzeitlichen Schwertklingen aus dem Gräberfeld von Hallstatt einen Schutz vor Verrosten sehen möchte – vor allem wenn diese mit Öl oder Fett getränkt wären. Für Barbara Fath (2012) ist wesentlich, dass Stoffe neben schützender und schmückender Funktion auch eine repräsentative Wirkung im Grabkult haben – als Statusanzeiger neben Schmuck und Bronzeobjekten. Sie stellte in einer Studie früheisenzeitliche Brandgräber in Ober­italien und dem Ostalpenraum zusammen und beobachtete die Inszenierung von Geweben, Werkzeugen zur Textilherstellung und bildlichen Darstellungen von Spinn- und Webszenen.

Metaphysische Bedeutung von Umhüllungen Textile Umhüllungen in Gräbern sind durch ihren Kontext auch auf metaphysischer Ebene zu deuten, da sie eine wichtige Funktion bei den Bestattungsriten haben. Sie dienen nach dem Tod einer Person für die rites de passage. Es ist eine psychologische, symbolische und physische Transformation des umhüllten Leichnams und von Objekten, die für den Übergang in das Jenseits dient. Eine derartige Transformation kann man auch etwa im Verbiegen, dem absichtlichen Zerstören von Schwertern erkennen (z. B. Pottenbrunn, Gr. 854, 855, 975 und 1005: Ramsl 2002: Taf. 72/4, 73/5, 76/11, 80/7). Eine derartige rituelle „Zerstörung“ bzw. „Unbrauchbarmachung“ von Objekten, die im Grab platziert werden, wird auch im etruskischen Brauch gesehen, Spiegel mit Textilien zu umhüllen (Gleba 2014: 142). Johanna Banck-Burgess (2014: 153–154) stellt die wichtige Frage, zu welchem Zeitpunkt die Verhüllung der verschiedenen, den Status des Verstorbenen anzeigenden Gegenstände vorgenommen wurde; bereits bei den verschiedenen Riten der Totenaufbahrung und Trauer oder erst knapp bevor die Grabkammer verschlossen wurde? Zudem vertritt sie das Konzept, dass der Akt des Umhüllens eine Unsichtbarmachung von Gegenständen ist. Diese soll eine Grenze zwischen den Toten und den Lebenden aufbauen. Was dem Toten gehört hat, muss verborgen werden, auch zum Schutz der Lebenden vor dem Einfluss des Verstorbenen. Sie sieht im Verhüllen aber auch eine Art der Kommunikation zwischen Lebenden und Toten. Margarita Gleba (2014: 140 –141) differenziert weiter, indem sie ausführt, dass zu unterscheiden ist, ob Gegenstände durch Umhüllung „unsichtbar“ gemacht werden, oder ob sie im Gegenteil durch Gewebe an Sichtbarkeit gewinnen. Sie führt an, dass Urnen teils durch „Bekleidung“ mit Textilien und Schmücken mit Bändern wieder anthropomorphisiert werden. Derartige Riten sind vor allem in Ober- und Mittelitalien zu beobachten. Weitere Textilien in Gräbern Im Fokus textilarchäologischer Überlegungen stehen meist Gewebefragmente, die sich als Überreste von Kleidung oder als Umhüllung/Bedeckung identifizieren las-

sen. Manche Textilfunde aus Gräbern lassen sich jedoch diesen Kategorien nicht zuweisen. Textile Beigaben Ein Bereich, der nur schwierig wahrzunehmen ist, ist ­jener der textilen Beigabe. Wie wir von zeitgleichen antiken Kulturen wissen, sind Textilien als wertvolle Gaben, ­Repräsentativgeschenke und selbst als Weihegaben an Götter schriftlich belegt (Wagner-Hasel 2000) – gleichrangig neben Bronzeobjekten und Schmuck. Viele der kostbaren Tücher aus dem Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf können per se durchaus als repräsentative Grabbeigabe angesehen werden, so etwa die über den großen Bronzekessel drapierten Stoffe, die teils gefärbt und gemustert, sowie mit breiten, kostbaren Brettchenweb­ borten geschmückt waren (Banck-Burgess 1999: 72–76, Taf. 24–29). Stoffreste, die bei den großen Bronzespiralen im Brandgrab von Berg/Attergau niedergelegt wurden (Grömer in Trebsche et al. 2007), stellen eventuell auch ein Gewand oder sonstiges Stoffstück dar, das mit den Trachtbestandteilen im Grab als Beigabe niedergelegt wurde. Eventuelle Textilbeigaben, die nicht bei Bronzeobjekten abgelegt wurden, sind jedoch in den Gräbern in Mitteleuropa nicht zu fassen. Textile Grabausstattung Wiederum das Fürstengrab von Hochdorf zeigt ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür, dass die Ausstattung des Grabes selbst, der Aufbau, mit Stoffen prunkvoll inszeniert wurde. Dafür sprechen der Bodenbelag oder die Wandbehänge, die teils aus gemusterten Stoffen bestehen und auch mit Brettchenwebborten dekoriert sind (BanckBurgess 1999: 75, 194). Diese Gewebe dienten nicht per se als Beigabe, oder sollten bestimmten Gegenstände verhüllen, sondern fanden in der repräsentativen Gestaltung der Grabkammer Anwendung. Sie sind also visuelle ­Träger der Repräsentationsidee, die hinter der Gesamtinszenierung dieses Grabes steht. Um Textilfragmente auf derart weitreichende Weise interpretieren zu können, müssen ausgezeichnete Bergungsbedingungen vorliegen. Besonders Blockbergun­ gen kompletter eisenzeitlicher Gräber, die vor allem in den letzten Jahren in Süddeutschland vorgenommen ­wurden, lassen auf weitere interessante Detailbeobachtungen hoffen. 99

Abb. 8:  Reife mit Innenfütterung aus Mannersdorf (nach Müllauer, Ramsl 2007).

Textilien integriert in andere Artefakte Textilien können aber auch zum funktionalen Aufbau eines Objektes gehören, sie wurden dann nicht bewusst als Kleidung, Umhüllung oder Beigabe in einem Grab platziert. Es kann hier etwa der als Beispiel für Mikrostratigrafie genannte Gürtelblechfund von Berg/Attergau in Ober­ österreich mit seinem textilen Innenfutter angeführt werden.Auch die immer wieder vorkommenden organischen Lagen in Schwertscheiden sind in diesem Kontext zu nennen, die sich unter anderem auch als textile Innenfutter zeigen. Ein besonders eindrucksvoller Befund dieser Art stellt die latènezeitliche Schwertscheide aus Horath in Deutschland (Haffner 1976: 230, Abb. 62) dar. Für die Latènezeit kommen in Österreich (Müllauer, Ramsl 2007), wie auch in der benachbarten Slowakei (Belanová 2005) regelhaft meist am Fußgelenk getragene Hohlreife vor, die mit einem teils organischen Innenleben ausgestattet sind. Füllungen aus Textil in verschiedenen Kombinationen mit Holz und Lehm sind vor allem bei den aufwändigen Reifen mit Raupenzier nachgewiesen. Diese hatten einen technischen Nutzen bei der Herstel100

lung der Reife und dienten auch zur Stabilisierung, da die Reife aus nur sehr dünnem Bronzeblech bestehen. Die Fußreife aus Mannersdorf in Niederösterreich (Abb. 8) sind mit Textilien aus mittelfeinem Leinen gefüllt. Conclusio Dieser kurze Impulsbeitrag, dessen Fokus auf Österreich und dessen Nachbarländern liegt, hat versucht, Analyse- und Kontextualisierungsmethoden von Grabtextilien vorzustellen. Der fragmentarische Zustand, in dem die Textilien in Gräbern meist vorliegen, macht es unmöglich, jedes einzelne Fragment einer bestimmten Funktion zuzuweisen. Diese Auflistung soll jedoch die Bandbreite dessen zeigen, was an Interpretation möglich ist. Es soll hier zur Diskussion zu den Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation der Textilfunde in Gräbern beigetragen werden. Textilien konnten mit verschiedenen Intentionen in ein Grab gelangen (Abb. 9). Es sei bei der funktionalen Ebene darauf verwiesen, dass es Textilreste aus Gräbern gibt, die nicht bewusst im Grab deponiert wurden. Sie gelangten als „technisches Textil“, also als funktionaler Bestandteil

Abb. 9: Textilien in eisenzeitlichen Gräbern (Grafik: K. Grömer).

eines anderen Objektes ins Grab, etwa als Innenfutter ­einer Schwert-, Dolch- oder Messerscheide; nachgewiesen wurde auch eine Unterfütterung eines Blechgürtels. Auch Textilien, die eigentlich als „Recycling“-Produkte anzusehen sind, also solche, die in latènezeitliche Hohlblechreife gestopft wurden, gelangten mit diesen in die Gräber. Zur bewussten Anbringung von Textilien in Gräbern zählt jede Art der textilen Grabausstattung, wie etwa Wandbehänge oder Bodenbeläge. Derartige Verwendung von Textilien, wie auch Kleidung, wird auch im Kontext der Lebenden praktiziert. Der Themenbereich der Kleidung, der in der archäologischen Diskussion eine wichtige Rolle spielt, ist für den Grabritus wichtig, dient aber auch stark zur Darstellung der Identität des Toten. In diesem Beitrag werden auch Parameter diskutiert zur ­Abgrenzung, ob es sich bei den Gewändern der Verstorbenen um eine auch zu Lebzeiten getragene Alltagskleidung oder eine reine Totentracht handelt. Die rituelle Ebene umfasst vor allem jene Textilien, die

eine spezifische Bedeutung für die Praktiken im Grab­ritus haben. Für den Kontext eines Grabes hat im Sinne der ­rites de passages die sakrale, rituelle Ebene eine wesentliche Bedeutung. So sind viele der Textilien in Gräbern auch in diesem Sinne zu deuten. Einige Gewebefunde sind auch als direkte textile Grabbeigabe anzusprechen, wohl in ihrer Wertigkeit gleichberechtigt neben anderen Grabbeigaben wie Bronzegefäßen o. Ä. Der Ritus der Verhüllung bzw. Umwicklung des Leichnams, des ­ Leichenbrandes und von Gegenständen ist für die Eisenzeit in Österreich und Mitteleuropa häufig belegt. Gerade in den letzten Jahren wurden viele Theorien zum Bedeutungsinhalt dieser Praktiken publiziert. Wenn hier versucht wurde, die verschiedenen Funktionen von Textilien in Gräbern etwas zu systematisieren, so darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es in den ­ Bedeutungsebenen einzelner Objekte durchaus Überschneidungen geben kann. So sind Textilien, die als Beigabe niedergelegt wurden und solche, die der Ausschmückung des Grabes dienten, wie auch die Umhül101

lungen, sicher in einem rituellen Gesamtzusammenhang zu sehen. Nicht im Detail diskutiert wurden hierbei die spezifischen Unterschiede zwischen Brand- und Körperbestattungen, bis auf die Tatsache, dass die am Leichnam aufgefundene Kleidung nur bei letzterer vorkommen kann. Welche sakralen und rituellen Überlegungen zu den in der Eisenzeit fassbaren Grabinhalten führen, kann mangels schriftlicher Überlieferung nur schwer nachvollzogen werden.

Danksagung: Ich bedanke mich bei Fritz und Anna Preinfalk, Susanne Heimel sowie Peter Ramsl, dass sie mir Zugang zu den neuen Funden aus Gemeinlebarn und Oberndorf in der Ebene ermöglicht haben, sowie die Erlaubnis, ­diese hier zu verwenden. Weiters danke ich Veronika Holzer, Margarita Gleba und Susanna Harris für interessante Diskussionen.

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Anschrift: Dr. Karina Grömer Prähistorische Abteilung Naturhistorisches Museum Wien Burgring 7, A-1010 Wien [email protected]

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R. Karl, J. Leskovar [Hrsg.] (2015), Interpretierte Eisenzeiten. Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich, Folge 42, Linz, 105–118.

Alles, was Flügel hat, fliegt! Überlegungen zur Neuinterpretation von Vogeldarstellungen der Situlenkunst Tanja Trausmuth, Mario Wallner, Anita Gamauf

Zusammenfassung Die figürlichen Darstellungen der hallstattzeitlichen Situlen stellen einen unschätzbaren Schatz an archäologischen Informationen dar. Lag das Hauptaugenmerk der Forschung bisher auf die detailliert ausgearbeiteten Gewänder, die Waffen der dargestellten Krieger oder die Handhaltung der Faustkämpfer, so sollen in diesem Artikel weniger prominent wirkende Abbildungen im Vordergrund stehen. Denn auch die, trotz ihrer geringen Größe mit ihren (art-)spezifischen Charakteristika, abgebildeten Vögel können bislang verborgene archäologische Hinweise enthalten. In diesem Artikel wurde der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Vogeldarstellungen systematisch zu erfassen und die Abbildungen mit der heutigen Avifauna zu vergleichen. Auf diese Weise war es nicht nur möglich, erneut die realistische Umsetzung der Bildmotive aufzuzeigen, sondern es gelang auch, durch den Vergleich der heutigen Lebensräume der abgebildeten Vögel mit dem Fundort ihrer Situla, Rückschlüsse auf das eisenzeitliche Herstellungsgebiet der Situla zu ziehen, die die bisherigen rein archäologischen Überlegungen eines Herstellungszentrums in der Krain zu untermauern scheinen. Abstract The figurative representations of Early Iron Age Situlae Art (5th and 4th century BC) provide a priceless treasure of archaeological information.While the main focus of the research so far was paid mainly to the elaborated depictions of garments, the weapons of warriors or the hand position of pugilists, in this article less prominent figures should stay in the foreground. Also the representations of birds, despite their small size, show their species-specific characteristics and contain therefore much yet hidden archaeological evidence. In this article an attempt was made to systematically describe the different representations of the shown birds and the images were compared with current avifauna. In this way, it was not only possible to demonstrate again the realistic performance of the images of the Situlae Art. It was also managed to draw, by comparing the current habitats of the depicted birds with the archaeological site of the find of their Situla, conclusions about one of the Iron Age production areas of Situlae. In this way it was possible to underpin the so far purely archaeological considerations of a manufacturing center in the Iron Age Krain. 105

Bildliche Quellen, die das Leben einer vorrömischen indigenen Bevölkerung im östlichen Alpenraum zeigen, sind seltene kunsthistorisch/archäologische Dokumente, ­deren Aussagekraft in der wissenschaftlichen Fachwelt bereits des Öfteren eingehend diskutiert wurden. Eine dieser Quellen stellen die Bildfriese auf den, dem Osthallstattkreis zugeordneten, Gegenständen der Situlenkunst dar. Zu diesen zählen neben den Situlen aus Metall oder ­Keramik auch Gürtelbleche, Waffenscheiden und plastische, figürliche Darstellungen (Frey 1962: 3; ZemmerPlank 1976: 289, 290, 319). Die wichtigsten Vertreter der Situlenkunst stellen hierbei die aus Bronzeblech getriebenen Situlen selbst dar, deren Hauptfundgebiet das heutige Gebiet von Norditalien, Slowenien und die ostalpinen Bereiche von Österreich umfasst (Zemmer-Plank 1976: 289; Turk 2005: 9). Die meist nur aus dem Fundzusammenhang oder durch den Vergleich der Verzierungselemente mögliche Datierung legt eine Niederlegung im Bestattungszusammenhang im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. nahe (Koch 2003: 347; 349f.). Im wissenschaftlichen Diskurs herrscht ein breiter Konsens über die Vorbilder der Situlenkunst aus den medi­ terranen Gebieten des archaischen Griechenlands und Etruriens des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr., welche sich wiederum auf ältere Leitbilder aus dem Vorderen Orient zurückführen lassen (Frey 1980: 140; Kern et al. 2009: 12; Koch 2012b: 129 –130). Einerseits wird die Situlenkunst heutzutage von vielen Wissenschaftlern als Schöpfung spezialisierter Kunsthandwerker betrachtet, welche in lebendigen Bilderszenen anschaulich die Sitten und Bräuche einer aristokratischen Gesellschaft im ostalpinen Raum um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. darstellt (Kern et al. 2009: 3). Andere wiederum stehen der realistischen Darstellung der Bildinhalte kritischer gegenüber und hinterfragen das der einheimischen Bevölkerung zugrunde liegende Verständnis der aus der Fremde übernommenen Bildkompositionen, welche zweifellos einer lokalen Umgestaltung unterlagen (Kern et al. 2009: 12; Koch 2012a: 221). So wurden die mediterranen Bildmotive, wie schreitende Steinböcke oder Menschenschenkel verschlingende Löwen, zu im alpinen Bereich lebenden Varianten, wie einer Gämse auf der Situla von Providence oder einem Wolf auf der Situla von Vaˇce, abgeändert. Generell kann man „feststellen, daß vor allem auf jüngeren Werken Tiere bevorzugt dargestellt werden, die den 106

alpenländischen Künstlern aus ihrer Umwelt vertraut waren“ (Frey 1980: 140 –142). Meist enthalten die durchschnittlich nur 2-3cm gro­ ßen figürlichen Darstellungen der Bildfriese wiederkehrende Schlüsselszenen, wie Wettkämpfe, Trinkgelage, Prozessio­nen und Fruchtbarkeitsdarstellungen (Frey 1962: 4; Kern et al. 2009: 8), in denen sich auch regelhaft Abbildungen vonVögeln finden. Diese unterscheiden sich in ihrem ­Äußeren zwar deutlich voneinander, werden in der einschlägigen Literatur allerdings nicht ­näher beschrieben und meist nur allgemein als ‚Vögel‘ bezeichnet. Wenn überhaupt, werden sie üblicherweise lediglich als typische Verzierungselemente der Situlenkunst – ähnlich dem Blatt- oder Pflanzenmotiv oder den geometrischen Mustern – angesehen (Koch 2012b: 136) und erhalten oft eine „transitionsanzeigende Bedeutung und somit einen Jenseitsbezug“ (Koch 2003: 351f.). Selbst wenn es sich bei den verschiedenen Vogeldarstellungen nur um dekorative Elemente handeln sollte, ­folgen sie dennoch gewissen Regeln, und die Grenzen ihrer Motive sind trotz Variationen sehr eng gesteckt und nicht beliebig veränderbar. So lassen sich neben den bereits erwähnten, eindeutig als vegetabile Motive wie ­Blätter, Blütenknospen oder Ranken angesprochenen Darstellungen lediglich Vögel als sogenannte ‚Füllelemente‘ in den detailiert ausgearbeiteten ‚Lebensbildern‘ wahrnehmen. ­Andere Motive wie zum Beispiel Insekten, Fische, Reptilien oder Gegenstände finden in der Situlenkunst hingegen keinerlei Verwendung. In der Fachliteratur werden die Vogeldarstellungen meist nur als Lückenfüller im sonst leeren Raum der Bild­komposition betrachtet (Koch 2012b: 136). Dieser Interpretation soll in diesem Artikel jedoch nicht gefolgt werden, da scheinbar keinerlei Konsequenz im Auffüllen von ­ ‚freien Flächen‘ unternommen wurde. Beispielhaft hierfür soll eine Darstellung auf der Situla von ­Kuffern (westl. Niederösterreich) aus der Fülle von Bildfriesen herangezogen werden, bei der ein Vogel regelrecht in eine ­schmale Lücke gequetscht wurde, wohingegen eine andere gleich große Lücke frei blieb (siehe eingefügte ­Ellipsen in Abb. 1). Somit darf wohl zu Recht angenommen ­werden, dass die Vogeldarstellungen Bedeutungsinhalt trugen und einst bewusst in die Szene gesetzt wurden, um wichtige Informationen für den Kontext bereitzustellen (Perego 2013: 257). In vielen antiken Kulturen des Mittelmeerraumes, wie

Abb. 1:  Ausschnitt aus dem Bildfries der Situla von Kuffern, mit eingefügten Ellipsen, welche die Raumverteilung von Vogeldarstellungen wiedergibt (abgeändert aus Lucke, Frey 1962: Taf. 75).

zum Beispiel denen der Römer, Griechen, Ägypter oder des Vorderen Orients, von denen literarische und bildliche Quellen auf uns gekommen sind, wurde das Motiv des Vogels häufig mit Göttern assoziiert, beispielsweise als Bote der Götter oder als Vorzeichen für Glück oder Unglück verwendet, und dient in Bildquellen als Indikator für jene Person, welche mit dem Segen der Götter versehen ist (Kern et al. 2009: 8). Betrachtet man in diesem Zusammenhang die direk­ te Umgebung der Vogeldarstellungen auf den Situlen, so erscheint eine analoge Interpretation dieses Bildmotivs durchaus zulässig. Ein anschauliches Beispiel für die bewusste Platzierung eines Vogels als ‚Anzeiger des Siegers‘ erkennt man in der räumlichen Nähe desVogels zur hochgehaltenen Zwieselrute beim Faustkampf auf der Situla von Kuffern. Ebenfalls ist an eine durch einen Vogel angezeigte Kennzeichnung eines ‚für die Opferung an die Götter‘ vorgesehenen Tieres zu denken, betrachtet man den – durch das geschulterte Beil des voranschreitenden Mannes angezeigte – zur Opferung geführten Widder der Situla vonVaˇce (Slowenien) (Abb.2). (Kern et al. 2009: 8; Krauße 2007: 222f.; Zimmermann 2003: 229; Urban 2000: 313). Die große Detailgenauigkeit, welche in der Ausgestaltung der menschlichen Darsteller beobachtet werden kann – beginnend bei der individuellen Bekleidung ein-

zelner Figuren, bis hin zu den fein herausgearbeiteten Merkmalen von unterschiedlichen Hand- und Fingerhaltungen beim ‚Faustkampf ‘(Zimmermann 2003: 227) – lässt sich auch bei der Anfertigung der Vogeldarstellungen ersehen. Die naturgetreue Umsetzung und Herausarbeitung der artspezifischen Merkmale bei den einzelnen Vogel-Abbildungen ermöglicht sogar die Zuweisung zu bestimmten noch heute im ostalpinen Raum lebenden Vogelarten. Eine durchaus plausible Folgerung dieser meist äußerst aufwändigen Umsetzung, welche sich bis in die unschein-

Abb. 2:  Detail des Bildfrieses der Situla von Vaˇce, mit dem hinter einem, ein ‚Opfer-Beil‘ geschultert tragenden, Mann einher schreitenden Widder (nach Lucke, Frey 1962: Taf.73).

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Abb. 3:  Detail der bereits in Abb. 2 gezeigten Vogeldarstellung auf dem Rücken eines scheinbar zur Opferung geführten Widders (Neu-Umzeichnung nach verschiedenen fotografischen Dokumenten) (Foto: Wallner).

barsten Details von scheinbaren Nebenszenen erkennen lässt, ist, dass die abgebildetenVögel zumindest dem Künstler, wenn nicht auch dem Auftraggeber der Arbeit bekannt gewesen sein müssen. Der ausführende Kunsthandwerker muss in der Lage gewesen sein, die von ihm abgebildete Tierart in der Natur beobachtet zu haben, denn nur so scheint es vorstellbar, die entscheidendsten Merkmale der Vögel mit nur wenigen Linien detailgetreu herauszuarbeiten (Frey 1980: 142ff.). Ein hervorzuhebendes Beispiel hierfür befindet sich auf der Situla von Vaˇce. Dieses durch die künstlerische Um­ setzung aus dem Gros der Situlenkunst herausragende Meisterwerk besticht mit seiner besonders naturgetreuen Ausarbeitung der antiken Lebensbilder. Eine der Vogeldarstellungen dieser Situla zeigt einen kleinen gedrungenen Vogel mit gebogenem Schnabel auf dem Rücken eines Widders (Abb. 2). Im Schnabel des ­Vogels befindet sich ein in der Fachliteratur bisher nicht näher beschriebenes Objekt, welches bei näherer Betrachtung eine außerordentlich starke Ähnlichkeit mit einer Schmetterlingspuppe aus den Familien der Spinner (Bombycidae) oder der Wickler (Tortricidae) aufweist (vergleiche: Abb. 3). Auffällig an dieser Darstellung ist jedoch, dass das abgebildete Größenverhältnis von Vogel zu Widder nicht 108

übereinstimmt, wohingegen das Verhältnis des Vogels auf die Größe der – sich in seinem Schnabel befindlichen – Schmetterlingspuppe abgestimmt wurde. Hier war es dem Künstler wohl wichtiger, die Charakteristika des Vogels bildlich umzusetzen, als auf die proportionale Ausgewogenheit der Bildkomposition zu achten. Folgt man dieser Argumentation, so dürfte es sich bei dem hier dargestellten Vogel um einen sehr kleinen Vertreter handeln, zumal die durchschnittliche Größe einer Schmetterlingspuppe dieser Familien nur ca. 1,5 bis 3cm beträgt. Auch wenn die Ausarbeitung der einzelnen Vogeldarstellungen von Situla zu Situla leicht variiert, wie auch die Ausfertigung des gesamten Bildfrieses nicht immer in der gleichen Qualität erfolgte, scheint es dennoch möglich, einzelne öfter auftretende Vogeltypen zu unterscheiden. Überblick der Vogeldarstellungen auf Situlenkunst Typ 01: Wasservogel/Ente Eine besonders häufige Vogeldarstellung in der Situlenkunst ist die eines Wasservogels. Dieses Motiv ist in verschiedensten Ausführungen bereits aus der ausgehenden Bronzezeit bekannt und scheint vor allem in Verbindung mit dem sogenannten ‚Sonnenbarken-Motiv‘ fest im prähistorischen Kulturgut verankert zu sein (Turk 2005: 11).

Abb. 4: Vergleich verschiedener Vogeldarstellungen der Situla von Vaˇce (linke Seite) mit ihren möglichen lebendigen Vorbildern: Baumläufer (rechts oben), Kleiber (rechts Mitte) und Zaunkönig (rechts unten) und Vergleich des heutigen Verbreitungsgebietes des Baumläufers mit den Fundgebieten der Situlen, auf denen er dargestellt wurde (Mitte) – die beiden Kreise markieren hierbei die hallstattzeitlichen Zentralgebiete der Este-Kultur und der Krainer-Gruppe (adaptiert nach: Svensson et al. 2011: 336f., 348ff.)

Dies mag auch der Grund sein, weshalb sich die künstlerische Umsetzung der – hier als Enten interpretierten – Wasservögel auf ein Minimum beschränkt und ihre Ausführung oft nur stilisiert umgesetzt wurde,wodurch sich die große Bandbreite der Darstellungen erklären könnte. Man vergleiche hierzu die in der Regel als Enten beschriebenen Darstellungen auf dem Situlendeckel von Mechel (Südtirol), einen Anhänger des gleichen Fundortes (Zemmer-Plank 2013: 294), einen Zistendeckel von Kleinklein (südl. Steiermark), die dreiVögel auf der ­Rückenlehne der Kline der Situla von Certosa (Po-Ebene, Italien) (Koch 2003: 354) oder verschiedenste Metall­objekte aus dem Gräberfeld von Hallstatt. Allen Abbildungen gleich ist der längliche, leicht nach oben gebogene Schnabel, der S-förmig nach hinten gewundene Hals und die ringelförmig aufwärtsgebogenen Schwanzfedern, welche möglicherweise den aufgedrehten Schwanzfedern eines Stockentenerpels (Anas platyrhynchos) nachempfunden sind. Stockenten sind nicht nur heutzutage, sondern waren vermutlich auch zu dieser Zeit die am weitesten verbreitete und häufigste Entenart.

Typ 02:  Greifvogel mit Schlange / Schlangenadler Der auf dem Gürtelblech von Magdalenska gora (Slo­ wenien) abgebildeteVogel stellt ein weiteres Beispiel einer nur stilisiert ausgearbeiteten Darstellung dar, hier wurde dem Betrachter allerdings ein zusätzlicher Anhaltspunkt als Schlüssel zur Abbildung mitgegeben. Durch die Beifügung der sich im Schnabel befindlichen, womöglich ­toten, Schlange, die kurzen Beine und seine Sitzposition am Wipfel eines Baumes lässt sich der dargestellte Vogel eindeutig als Greifvogel identifizieren (vgl. Koch 2012b: 134, 136).Womöglich könnte es sich hier um einen, heute noch im südlichen Europa als Brutvogel vorkommenden, Schlangenadler (Circaetus gallicus) handeln (Svensson et al 2011: 100f ). Typ 03:  Baumläufer/Zaunkönig Eine der häufigsten Vogeldarstellungen zeigt den bereits erwähnten (vgl. Abb. 3) ca. 12,5 bis 14 cm großen gedrungenen Vogel mit langem, leicht gebogenem Schnabel und der charakteristischen gewellten Linie hinter dem Auge. Dieser Typ wird als einziger Vogel auf den Situlen nicht 109

nur sitzend, sondern auch kopfüber, in herabhängender Position dargestellt. Diese auf den ersten Blick wohl nur als künstlerische Freiheit zu deutende Abbildungsweise kann allerdings auch als Charakteristikum einiger noch heute in den mitteleuropäischen Wäldern vorkommender Singvögel beobachtet werden. Betrachtet man die einzelnen Abbildungen dieses Typs getrennt von einander, so können kaum weitere Schlüsse zur Identität des dargestellten Vogels getroffen werden. Verbindet man allerdings die Merkmale sämtlicher gleichartiger Darstellungen, so lässt sich die Gruppe der in Frage kommenden gegenwärtig lebendenVogelarten sehr eng eingrenzen. In Frage kommen Kleinvögel, mit gebogenem Schnabel, welche sich unter anderem von Schmetterlingspuppen ernähren und die Fähigkeit besitzen sich kopfüber fortzubewegen bzw. kopfüber zu agieren (z. B.: Zaunkönig, Kleiber und Baumläufer). Der Zaunkönig (Troglodytes troglodytes) ist bis zum heutigen Tag in ganz Europa weit verbreitet und besitzt in vielen Fabeln und Mythen seit dem Altertum eine herausragende Stellung. Hier sticht er vor allem durch seinen lauten Gesang und seine Intelligenz hervor und trickst regelmäßig andere ­Vögel bis hin zum majestätischen Adler aus. Betrachtet man lediglich die Silhouette der sitzenden Variante, so scheint diese dem kleinen Zaunkönig sehr nahe zu kommen, lediglich seine Fertigkeiten im Kopf­über‑agieren sind weniger ausgeprägt als bei den beiden folgenden Kandidaten. Der Kleiber (Sitta europaea) hingegen ist ohne weiteres in der Lage an Baumstämmen und Ästen kopfvoraus auf und ab zu laufen, jedoch erinnert die Darstellung auf den Situlen nur entfernt an ihn (vgl. Abb. 4). Aus der Summe dieser Merkmale verbleiben letztlich nur zwei sämtliche Anforderungen erfüllende Kandidaten aus der Familie der Baumläufer (Certhiidae), der Waldbaumläufer (Certhia familiaris) und der Gartenbaum­läufer (Cethia brachydactyla). Beide Arten sind in Mitteleuropa weit verbreitet und vor allem Ersterer auch häufig (vgl.: Abb. 4). Die Situla von Vaˇce stellt auf Grund ihrer herausragenden künstlerischen Leistung eine der besten Quellen für das Herausarbeiten der eben beschriebenen Merkmale dar. Auch wenn die einzelnen Vogeldarstellungen in ihrer Detailgenauigkeit leicht variieren, sind die spezifischen Merkmale dennoch in jeder Abbildung zu erkennen (siehe Abb. 4 linke Seite). Im obersten Bildfries der Situla findet sich eine der 110

‚kopfüber herabhängenden‘ Darstellungen, direkt über einem scheinbar zur Opferung geführten Pferd. Eine weitere Abbildung (im mittleren Bildfries) ist die bereits mehrfach erwähnte Bildszene des, auf dem Rücken eines – ebenfalls zur Opferung geführten – Widders sitzenden,Vogels mit Schmetterlingspuppe. Der unterste Bildfries zeigt zwei annähernd gleichartige Umsetzungen des Bildmotives, wobei beide Vögel – wie auch auf den anderen Abbildungen – gegen die Laufrichtung schauend auf dem Rücken zweier Hirschkühe sitzen. Auf der Situla von Providence befinden sich insgesamt drei Vogeldarstellungen, wovon zwei der Abbildungen hierbei in direktem Zusammenhang mit Wettstreit-Szenen stehen, in denen die Bedeutung als ‚Anzeiger‘ des siegreichen Teilnehmers möglicherweise herausgelesen werden kann. Die Umsetzung der bildlichen Darstellung ist hierbei allerdings nicht sehr detailreich, wodurch eine eindeutige Identifikation der abgebildeten Vögel nicht möglich ist. Im mittleren Bildfries (nach der Umzeichnung von Lucke, Frey 1962) zeigt sich allerdings unterhalb einer der Wettstreit-Szenen – als Variation der sonst abgebildeten vegetabilen Ornamentik – ein weiterer kopfüber von oben herabhängender Vogel, welcher somit dem Typ Baumläufer zugeordnet werden kann. Auch die Darstellungen auf der Situla von Magdalenska gora und am Gürtelblech von Novo mesto können trotz ihrer ebenfalls nur stilisierten Ausarbeitung diesem Typ zugeordnet werden. Bei Betrachtung der Fundorte der Situlen, auf denen dieser Vogeltypus dargestellt wurde, zeigt sich eine eindeutige Überschneidung und Häufung der Fundorte im Bereich der Krain, wohingegen im Gebiet der benachbarten Este-Kultur bisher nur eine Darstellung (auf der Situla von Providence) aufgefunden wurde (Abb. 4). Dies lässt den Schluss zu, dass die Situlen mit Abbildungen dieses Vogeltypes eine Eigenheit der Werkstätten des KrainerRaumes darstellen dürften. Somit kann die Situla von Providence – mit dem Auffindungsort Bologna – wie bereits Perego feststellte, als Hinweis auf einen kulturellen Austausch zwischen weit entfernten Bevölkerungsgruppen gesehen werden (Perego 2013: 257). Typ 04: fliegender Kolkrabe Eine weitere häufig vorkommende Vogeldarstellung – meist in Verbindung mit Abbildungen des Typs Baumläufer – ist die eines fliegenden Vogels mit angewinkelten

Abb. 5: Vergleich von unterschiedlichen, typischen Darstellungen des Typs fliegender Kolkrabe mit der Silhouette des fliegenden Raben (Darstellung A) und die sitzende Variante des Kolkraben (Darstellung B). In der Mitte befindet sich der Vergleich des heutigen Verbreitungsgebietes mit den Fundgebieten der Situlen, auf denen der Kolkrabe dargestellt wurde – die beiden Kreise markieren hierbei die Zentralgebiete der Este-Kultur und der Krainer-Gruppe (adaptiert nach Svensson et al. 2011: 366f.).

Flügeln und ebenfalls gebogenem langen Schnabel, allerdings ohne der charakteristischen Wellenlinie hinter dem Auge. Auch wirkt er von den Proportionen her größer und kräftiger. Auf Grund der typischen Flügelhaltung, des langgestreckten Körpers, des länglich-gebogenen Schnabels und dem angedeuteten keilförmigen Stoß dürfte es sich hier um einen Kolkraben (Corvus corax) handeln (vgl. Abb. 5 linke Seite). Das heutige Habitat des Kolkraben findet sich von den gebirgigen Regionen der Alpen über die waldreichen Hügellandschaften des Dinarischen Gebirges bis zu den Küstenklippen entlang der östlichen Adria­küste. Auch hier ist eine markante Überschneidung des ­ heutigen Verbreitungsgebietes und der Fundorte der ­ Situlen im südöstlichen Voralpenraum deutlich zu erkennen, wohingegen die Vogelart in der Po-Ebene nicht zu beobachten ist, was vermutlich das Ergebnis intensiver Verfolgung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist (Abb. 5).

Außerhalb der Brutzeit ist der Kolkrabe heute auch wieder in diesen Regionen anzutreffen. Die Situla von Certosa (Po-Ebene, Italien) zeigt das ­Motiv dieses fliegenden Kolkraben in den drei oberen Bildfriesen, wobei eine vierte Darstellung im Zusammenhang mit der ‚Hasenjagd-Szene‘ nur in manchen Re­konstruktionszeichnungen zu sehen ist. In den drei deutlich erkennbaren Abbildungen fliegt der Vogel hinter einem Reiter bzw. Rind her, und seine Flugrichtung stimmt somit mit der Bewegung der voranschreitenden Tiere überein. Ein Bruchstück der Situla von Matrei (Mühlbachl, ­Österreich) zeigt ebenfalls Abbildungen dieses Typs – auch hier fliegen die beiden erkennbaren Vögel entsprechend dem Bildmotiv der Situla von Certosa in For­ tbewegungsrichtung hinter zwei Rindern (?) her (vgl. Zemmer-Plank 1976: 293). Die Situla von Toplice (Slowenien) stellt ein weiteres Beispiel dieses Darstellungstyps dar, da sich auch hier der 111

Abb. 6: Vergleich der Umzeichnung des Vogels auf einem Bruchstück der Situla vom Dürrnberg mit seinen beiden lebenden Pendants (linke Seite) und Vergleich des heutigen Verbreitungsgebietes mit dem Fundort der Situlen-Fragmente (rechte Seite) – die beiden Kreise markieren hierbei die Zentralgebiete der Este-Kultur und der Krainer-Gruppe (adaptiert nach: Svensson et al. 2011: 86f., 90f.).

fliegende Vogel in Begleitung des geführten Pferdes in dessen Bewegungsrichtung fortbewegt. Auf der Situla vonVaˇce befindet sich die Darstellung des Typs fliegender Kolkrabe lediglich ein Mal. Hier fliegt der Vogel oberhalb eines Pferdes, welches von einem – eine Axt geschultert tragenden – Mann geführt wird, jedoch entgegen deren Fortbewegungsrichtung. Es scheint, dass die Flugrichtung auf die übrigen Vogeldarstellungen der Situla (alle vom Typ Baumläufer) abgestimmt wurde und nicht das einheitliche Bewegungsmuster der vorhergehenden Beispiele zeigt. Auch auf einem Bruchstück der Situla von Nesactium (Kroatien) befindet sich eine Abbildung des entgegen der Bewegungsrichtung fliegenden Kolkraben oberhalb eines Pferdes. Möglicherweise lässt sich durch den Vergleich der angeführten Darstellungen bereits eine Tendenz zur Flugrichtung der Vogelabbildungen ableiten, denn auf den fünf hier beschriebenen Situlen mit Abbildungen des Typs ‚fliegender Kolkrabe‘ bewegen sich sechs von acht 112

Vögel in Fortbewegungsrichtung des voranschreitenden Pferdes/Stieres. Typ 05: sitzender Kolkrabe Auf der Situla von Certosa befindet sich neben den drei Abbildungen des Typs ‚fliegender Kolkrabe‘ noch eine weitere Vogeldarstellung. Dieser Vogel kann auf Grund ­seiner typischen Silhouette eindeutig als Rabenvogel identifiziert werden. Durch seine Körpergröße, welche auf den toten Eber, der dem Vogel als Sitzfläche dient, abgestimmt wurde, ist es möglich die Bestimmung noch enger einzugrenzen, und somit scheint es sich hier ebenfalls um den größten Vertreter der Familie der Rabenvögel, den Kolkraben (Corvus corax) zu handeln (siehe Abb. 5 rechte Seite). Das heutige Verbreitungsgebiet des Kolkraben umfasst neben dem gesamten Alpenraum – mitsamt den voralpinen Hügellandschaften – vor allem auch die bewaldeten Bereiche des Dinarischen Gebirges. Vergleicht man nun den Fundort der Situla von Certosa (im Zentralgebiet

der Este-Kultur), mit den Verbreitungsgebieten der auf ihr dargestellten Vogelarten, so scheint es sich bei dieser Situla um ein Importstück zu handeln. Denn der Kolkrabe kann heutzutage in der Po-Ebene nur noch selten beobachtet werden, wohingegen sich das heutige Habitat am Südostrand der Alpen (dem Raum der Krainer Gruppe) großflächig überschneidet. Das eisenzeitlicheVerbreitungsgebiet des Kolkraben mag sich einst womöglich bis in die Niederungen der Südtiroler Voralpentäler erstreckt haben, dennoch liegt es nahe, dass der Herstellungsort der Situla von Certosa nicht in der Po-Ebene, sondern in der Krain angesiedelt werden kann (vgl. Abb. 5 Mitte). Typ 06: Waldrapp/Gänsegeier Der etwa hüftgroße Vogel, welcher mit langem leicht geschwungenem Hals und gebogenem Schnabel auf den Bruchstücken der Situla vom Dürrnberg (Salzburg, Österreich) und der Ziste von Sanzeno (Norditalien) zu finden ist, erscheint in beiden Fällen am Boden sitzend (siehe Abb. 6). Auf der Situla vom Dürrnberg wird er im Zusammenhang mit zwei Männern abgebildet, welche ein erlegtes Tier hinter einem weiteren Mann mit geschulterter Axt einhertragen. Von Kurt W. Zeller wird er in diesem Zusammenhang als „gänseartiger Vogel unter der Jagdbeute“ beschrieben (Koch 2012a: 117). Dieser Beschreibung kann jedoch nicht zugestimmt werden, denn in diesem Bildzusammenhang sowie wegen des gekrümmten Schnabels sollte man eher an einen Greifvogel als eine Gans denken. Durch seine Fortbewegung am Boden, seine Körpergröße und den gebogenen Schnabel dürfte es sich bei dieser Vogeldarstellung möglicherweise um einen Waldrapp (Geronticus eremita) oder aber um einen Gänsegeier (Gyps fulvus) handeln. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Arten ist durch die eher schematisch gehaltene Darstellung leider nicht möglich (vgl. Abb. 6). Obwohl sich das heutige Verbreitungsgebiet der beiden Gattungen nicht mit einem der heutigen Fundorte in Übereinstimmung bringen lässt, so hat sich das eisenzeitliche Brutgebiet vermutlich über Teile des Alpenraums ­erstreckt. Dieser Möglichkeit wird vor allem durch die zahlreichen erfolgreichen Wiederansiedlungsprojekte der vergangenen Jahrzehnte für beide Arten Rückhalt gegeben, obwohl sich auch hierdurch keine weiteren Rückschlüsse auf eine genauere Zuordnung zu einem der ­beiden Kandidaten ableiten lassen (vgl. Abb. 6).

Abb. 7:  Umzeichnung der auf der Situla von Kuffern abgebildeten Rohrdommel und ihr lebendes Vorbild.

Zwei Sonderformen der Situlenkunst und ihre Vogeldarstellungen: Die Situla von Kuffern (Niederösterreich) hat nicht nur eine Sonderstellung im regionalen (ihr Fundort liegt nördlich des Alpenhauptkammes) und zeitlichen (in den dargestellten Bildfriesen sind bereits latènezeitliche Elemente zu erkennen) Kontext, sondern auch in der Auswahl der auf ihr abgebildeten Vögel. Sämtliche auf der Situla erkennbaren Vögel stellen singuläre Abbildungen dar, welche als ‚Anzeiger für den Sieger eines Wettstreites‘ – oder eine mit diesem assoziierte Person – interpretiert werden können (Frey 1962: 6f.). Die auf den ersten Blick etwas abstrakt anmutende Darstellung eines, erst bei näherer Betrachtung erkennbaren Vogels befindet sich im linken Bildausschnitt der ‚Faustkämpfer-Szene‘. Hier steht er zwischen zwei männlichen Figuren, von denen einer als Schiedsrichter des Wettstrei113

Abb. 8:  Umzeichnung des auf der Situla von Kuffern abgebildeten Kuckucks und sein lebendes Vorbild (adaptiert nach: Svensson et al. 2011: 221).

tes zu fungieren scheint und die gezwieselte Rute zum Zeichen des Sieges erhoben hält. Der abgebildete Vogel kann somit als Anzeichen für die vom Glück begünstigte Seite betrachtet werden (Urban 2000: 313; Zimmermann 2003: 229). Die plastisch herausgearbeitete und mit wenigen Linien akzentuierte Figur eines ca. hüfthohen, kerzengerade aufrichtendenVogels beruht auf detaillierten Naturbeobachtungen, denn sowohl die Körperhaltung (die sogenannte ‚Pfahlstellung‘), der gerade Schnabel, der angedeutete dunkle ‚Bartstreif ‘ und die kurzen dreieckigen Flügel sind Charakteristika einer bestimmten einheimischen ­Vogelart. Die Summe der deutlich erkennbaren Merkmale lässt eine eindeutige Identifizierung als Rohrdommel (Botaurus stellaris) zu, einem noch heute in größeren Schilfflächen vorkommenden Reiherverwandten (vgl. Abb. 7). Die ungewöhnliche Körperstellung der Rohrdommel und der weithin hörbare charakteristische nebelhornartig klingende Ruf mag bereits in der Eisenzeit für besondere Aufmerksamkeit gesorgt haben. Eine weitere Vogeldarstellung befindet sich am Gesäß des voranfahrenden Wagenlenkers, der sich in voller Fahrt zu seinenVerfolgern umwendet und dadurch vom Künstler eindeutig als Sieger dargestellt wurde. Seine Position als Gewinner des Wettstreites wird durch die Anwesenheit der Vogeldarstellung auf seinem Hinterteil unterstrichen (Frey 1962: 6f.). Auch hier ist das gezielte Anbringen dieses Bildmotives ein beabsichtigtes Hinzufügen von inhaltlicher Information. 114

Die nur durch eingeritzte Linien umgesetzte Figur dieses Vogels mit langem Schwanz, gebogener Körperhaltung und geradem Schnabel schränkt die Auswahl der möglichen Kandidaten auf nur wenige Gruppen ein, wohingegen nur der – noch im heutigen Volksglauben oft mit Glück und Reichtum assoziierte – Kuckuck (Cuculus canorus) sämtliche Merkmale in sich vereint. Auch dieser Vogel ist ein Sommergast, der sein Eintreffen durch seine charakteristischen Lautäußerungen kundgibt und noch bis heute in vielen Liedern, Mythen und Märchen thematisiert wird (vgl. Abb. 8). Die letzte Vogeldarstellung auf der Situla von Kuffern ist durch einen Riss und die damit verbundenen Ausbesserungsarbeiten leider nur unvollständig erhalten, sie wird jedoch auf Grund des deutlich erkennbaren ‚Kammes‘ und der gebogenen Schwanzfedern bereits 1962 von Frey als Hahn (Gallus gallus f. dom.) interpretiert (vgl. Abb. 9) und in unmittelbarem Zusammenhang mit der benachbarten Wettstreitszene – einem Pferderennen – gebracht (Frey 1962: 6). Die Abbildung eines domestizierten Huhnes stellt eine ungewöhnliche Ausnahme in den ­Vogeldarstellungen auf Situlen dar, allerdings zeichnet sich auch dieser Vogel besonders durch seine unverwechselbaren Lautäußerungen und Gestalt aus. Die figürlichen Darstellungen auf der Situla von ­Benvenuti (Po-Ebene, Italien) zeigen starke etruskische Einflüsse, welche sich vor allem durch die kugelförmigen Verzierungselemente der geflügelten Fabelwesen deutlich erkennen lassen. Die beiden auf ihr dargestellten

Abb. 9:  Umzeichnung des auf der Situla von Kuffern abgebildeten Hahnes und sein lebendes Vorbild (die unterbrochene Linie zeigt die Position des Risses an) (Foto: Dottermusch).

Vögel scheinen der gleichen Art anzugehören, obwohl sie in­ ­ihrer Körpergröße nicht aufeinander abgestimmt wurden. Die Größe des kleineren Vogels wurde womöglich auf den anstürmenden Zentaur abgestimmt,welcher mit gezücktem Dolch hinter einem überlebensgroß dargestellten Vogel her spaziert. Auch diesem Vogel wurde ein Detail hinzugefügt, welches seine Identifizierung erleichtern könnte, denn er trägt in seinem Schnabel einen Fisch mit zwei getrennten ­Rückenflossen (wie sie bei barschartigen Fischarten vorkommen). Auf Grund einer gewellten Linie am Kopfansatz kann der hier dargestellte Vogel als ein nicht näher bestimmter schwarzköpfiger Vertreter der Kleinmöwen identifiziert werden. Die häufigste Kleinmöwe mit brutzeitlich schwarzer Kopfzeichnung stellt die, noch ­ heute in der Po-Ebene nistende, Lachmöwe (Chroicocephalus ­ ridibundus) dar. Zieht man allerdings die Größe des abgebildeten Vogels in Betracht, so könnte es sich ebenfalls um eine Großmöwe handeln,

obwohl mit der Fischmöwe ­ (Larus ichthyaetus) ein nur seltener Gast an den Küsten der Adria dargestellt worden wäre und dies somit recht unwahrscheinlich scheint (vgl. Abb. 10). Vergleicht man die heutigen Brutgebiete der Lachmöwe mit dem Einflussgebiet der Este-Kultur, so erkennt man, dass sich beide Gebiete beinahe deckungsgleich überlagern, wohingegen die Lachmöwe in den eher hügelig bis gebirgigen Regionen der Krain keine Brutmöglichkeiten vorfindet (Abb. 10). Auf der Dolchscheide von Este (Po-Ebene, Italien) wurde mit wenigen unpräzisen Linien ein Watvogel der Flachwasserregion eingeritzt, wobei die einfache Ausführung der Darstellung keine eindeutige Bestimmung der Vogelart zulässt. Lediglich die Zuordnung zur Familie der Schnepfenvögel darf – auf Grund des überlangen geraden Schnabels, des großen Auges und des S-förmig gebogenen Körpers – als gesichert angesehen werden. Die angedeutete Bänderung am Rücken könnte unter Umständen auf eine Waldschnepfe (Scolopax rusticola) 115

Abb. 10: Vergleich des auf der Situla von Benvenuti abgebildeten Vogels und einer Lachmöwe (linke Seite) und die Darstellung ihres heutigen Verbreitungsgebietes in der Po-Ebene mit dem Fundort inmitten des zentralen Einflussgebietes der Este-Kultur (rechte Seite) (adaptiert nach: Svensson et al. 2011: 180ff.).

Abb. 11:  Detailierte Umzeichnung des auf der Dolchscheide von Este dargestellten Vogels im Vergleich zur Waldschnepfe (adaptiert nach: Svensson et al. 2011: 188f.).

oder Bekassine (Gallinago gallinago) hindeuten. Beide könnten in der ­Region Brutvögel gewesen sein oder wurden zumindest auf dem Durchzug regelmäßig beobachtet (vgl. Abb. 11). Die geographische Lage des Fundortes (der Situla von Benvenuti und der Dolchscheide von Este) im zentralen 116

Gebiet der Este-Kultur und die Wahl der dargestellten Vögel unterstreichen die Vermutung, dass es sich hier um die Erzeugnisse einer lokalen Werkstätte handeln dürfte. Die beiden letzten hier behandelten Werke der bildhaften Situlenkunst stellen somit eine deutlich erkennbare Abweichung zu den bisher erwähnten Vogeldarstel-

lungen dar und scheinen einem anderen Werkstättenkreis zugeordnet werden zu können. Schlussfolgerungen An den in diesem Artikel herausgearbeiteten Zusammenhängen zwischen den Fundorten einzelner Objekte der Situlenkunst und den auf ihnen dargestellten Vogelarten lassen sich auch noch heutzutage Rückschlüsse auf das eisenzeitliche Herstellungsgebiet tätigen. Denn die Notwendigkeit einer detaillierten Naturbeobachtung zum Herausarbeiten spezifischer Merkmale, die große Bedeutung für die künstlerische Umsetzung in der Situlenkunst hatten, setzt die – zumindest zeitweilige – Koexistenz von Motiv und Künstler an einem Ort voraus. Es besteht somit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den abgebildeten Vogelarten und dem ursprünglichen Herstellungsort einer Situla, auch wenn dieser, zum Zeitpunkt der Niederlegung im Bestattungszusammenhang, möglicherweise nicht mehr gegeben war. Folgt man dieser Überlegung, so besteht in ihr eventuell eine – zusätzlich zu archäologischen Schlussfolgerungen – weitere Möglichkeit, Importgüter von lokal angefertigten Fundstücken zu unterscheiden und auf diese Weise ehemalige Fernhandelsbeziehungen abzuleiten. Aus der Summe der in diesem Artikel erarbeiteten Beobachtungen scheint sich eines der eisenzeitlichen Herstellungsgebiete von Situlen mit Bildfriesen im Gebiet der heutigen Krain zu ergeben. Hier zeigte sich, dass jene

Situlen auch einen festgelegten Kanon von Vogeldarstellungen aufzuweisen scheinen. Bestimmte Vögel kommen ausschließlich gemeinsam auf einer Situla vor, andere bleiben hingegen lediglich singuläre Variationen. Auf Grund der detailgenauen Ausarbeitung von Vogeldarstellungen konnten diese – noch heute lebenden – ­Vogelarten zugewiesen werden. Hierdurch zeigte sich nicht nur die Kunstfertigkeit der ausführenden Künstler, sondern auch, dass sie das Motiv des Vogels bewusst in die Bildkomposition einfügten, um zusätzliche Informationen an den Beobachter zu transportieren. Das Geschick der eisenzeitlichen Handwerker, derart filigrane Darstellungen auf Metall zu verewigen, erlaubt uns auf diese Weise einen bildlichen Einblick in die Vorstellungswelt der ­Bevölkerung im Ostalpenraum. Es obliegt jedoch dem Einfühlungsvermögen der heutigen Wissenschaftler, die Inhalte dieser Lebensbilder herauszuarbeiten und (immer wieder neu) zu interpretieren. Danksagung Der Dank der Autoren gilt dem Naturhistorischen MuseumWien, besonders dem Direktor der prähistorischen Abteilung Herrn HR Dr. Anton Kern und Herrn Mag. Hans Reschreiter, für die Möglichkeit, die Situla von Kuffern im Original eingehend zu betrachten und auf diese Weise die einzigartigenVogeldarstellungen unter den Gesichtspunkten dieses Artikels erneut zu untersuchen. Bildnachweis Abb.8: http://www.obstbau-dottermusch.de/alte_haustierrassen/ huehner-a79.htm Dieter Dottermusch, Jesewitz, Wöllmen, Sachsen, Deutschland

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Keramik, Kunst und Identität: Regionale Verzierungsmuster der südwestdeutschen Alb-Hegau-Keramik als Zeichen der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung Gerd Stegmaier

Zusammenfassung Die ritz-, stempel- und kerbschnittverzierte Alb-Hegau-Keramik Südwestdeutschlands war bereits in der Vergangenheit mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Diese betrafen nicht nur die chronologische sondern auch die chorologische Gliederung dieser Tonware. Wie ihr Name bereits sagt kommt die Alb-Hegau-Keramik vor allem auf der Schwäbischen Alb, im Albvorland sowie im Bereich zwischen Bodensee und oberem Rheintal vor. Typisch ist die kunstvoll gestaltete Ornamentik aus geometrischen Mustern sowie die Bemalung mit roter Farbe und Graphit. Hinsichtlich ihrer Fragilität und komplexen Verzierung nimmt die Alb-Hegau-Keramik eine gesonderte Stellung im Kanon der früheisenzeitlichen Tonware ein. Technisch aufwändig gearbeitet, tritt sie vor allem im Grab- und Ritualkontext in Erscheinung. Zu hinterfragen ist daher, welche Bedeutung den aufwändig verzierten Gefäßen im Rahmen einer hallstattzeitlichen Sakralkultur beigemessen werden darf. Als wichtiger Bestandteil des Toten- und Opferrituals übernahmen sie wohl nicht nur die Rolle von Behältnissen, sondern dienten selbst als religiös aufgeladenes Symbolgut und Informationsträger. Verschiedene Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass im Verbreitungsgebiet der Alb-Hegau-Keramik einzelne Regionen existieren, die sich deutlich anhand ihrer Ornamentik voneinander unterscheiden. Bei ihnen handelt es sich sehr wahrscheinlich nicht nur um regionale Werkstattkreise sondern vielmehr um die gezielte Darstellung räumlich begrenzter Kulturgruppen und Identitäten.

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Abstract The Alb-Hegau pottery of South-West Germany, which is decorated with incised lines, stamps and chip-carvings, has been the subject of scientific research several times in the past.This included not just the chronological but also the chorographical classification of this type of pottery. As the name suggests, the Alb-Hegau pottery can mainly be found in the Swabian Jura, the Albvorland as well as the area between Lake Constance and the upper Rhine valley.The elaborate ornaments consisting of geometric patterns as well as red paint and graphite are typical for this type of pottery.With its fragility and complex ornamentation the Alb-Hegau pottery holds a special place within the canon of Early Iron Age pottery.The technically complex pottery is mostly found in burial or ritual contexts. One has to question the significance of these elaborately decorated vessels within the sacred rituals of the Hallstatt culture. As important part of death rituals and sacrifices, they most likely were not just vessels, but also served as religious symbols and information medium. Research shows there are different regions in the dispersal area of the Alb-Hegau pottery, which clearly differ from each other in their ornamentation. Most likely, these regions do not show regional workshops, but instead regional cultures and identities.

Mit ihrer charakteristischen Ritz-, Stempel- und Kerbschnittzier zählt die polychrom bemalte Alb-Hegau-Keramik zu den bestimmenden Elementen der Hallstattkultur in Südwestdeutschland. Anfangs noch als Keramik vom „Alb-Salem-Typus“ bezeichnet (Schumacher 1921: 88), führte J. Keller in seiner Arbeit zur Tonware der älteren Eisenzeit den bis heute gebräuchlichen Terminus „AlbHegau-Keramik“ ein (Keller 1939: 42). Namensgebend war dabei ihr Verbreitungsgebiet, das sich von der Schwäbischen Alb über das Albvorland und Oberschwaben bis zum Rheintal und darüber hinaus erstreckt. Typisch für die im Alb-Hegau-Stil verzierte Tonware sind ihre komplexen geometrischen Muster und Ornamente sowie ihre Bemalung mit roter Farbe und Graphit (Abb. 1). Hinzu kommt eine Füllung der Ritz-, Stempelund Kerbschnittvertiefungen mit einer weißen Inkrustationspaste, die die polychrome Farbgebung der aufwändig gefertigten Gefäße komplettiert. Bis heute zählt die AlbHegau-Keramik Südwestdeutschlands daher zu den beeindruckendsten Zeugnissen prähistorischer Töpferkunst nördlich der Alpen. 120

Chronologie Auf die chronologische Stellung der im Alb-Hegau-Stil verzierten Tonware soll im Rahmen des vorliegenden ­Beitrags nur knapp eingegangen werden. Grundsätzlich lassen sich Gefäße mit Stempelverzierung auf die Stufe Ha C beschränken und treten ab dem Übergang zur späten Hallstattzeit nur noch außerordentlich selten in Erscheinung (vgl. Stegmaier 2005). Von einer Herstellung stempelverzierter Alb-Hegau-Ware ist daher während Ha D1 nicht mehr auszugehen. Ausschließlich ritzverzierte-kreuzschraffierte Alb-Hegau-Keramik tritt demgegenüber sowohl in der älteren Hallstattzeit als auch in der Phase Ha D1 auf (Stegmaier 2009). Auf der Heuneburg beschränkt sich ihr Vorkommen gemeinhin auf die beiden Siedlungsperioden IVc und IVb (Stegmaier 2010a: 260 mit Anm. 7), was darauf schließen lässt, dass ihre Laufzeit das Ende von Ha D 1 nicht erreicht (vgl. Abb. 2). Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass von einer terminologischen Unterscheidung ritz- und

Abb. 1: Ausgewählte Gefäße ritz- und stempelverzierter Alb-Hegau-Keramik mit verschiedenen Motiven und Ornamenten: 1 = Rautenband I, 2 = Motiv 2, 3 = Ratenband V, 4 = Motiv 1 (nach Zürn 1987, Taf. 75 B; 199 B,2; 319,2; 246,5b).

stempelverzierter Alb-Hegau-Keramik gegenüber ausschließlich ritzverzierter-kreuzschraffierter Ware, wie sie einst von H.-W. Dämmer vorgeschlagen wurde, abgesehen werden sollte (Dämmer 1978: 27–29). Der von ihm eingeführte Begriff „Keramik Alb-Hegauer-Tradition“ (KAHT) ist nicht nur irreführend, sondern aus chronologischer Sicht auch falsch (vgl. Reim 1990: 730). Als echte Weiterentwicklung der im Alb-Hegau-Stil verzierten Tonware kann jedoch die weißgrundig-rotgraubemalte Keramik angesehen werden. Sie übernimmt die geometrischen Muster und Motive der Alb-HegauGefäße und setzt diese in Form von Bemalung um. PlastischeVertiefungen, wie Ritzlinien oder Stempel, fehlen dabei vollständig. Gemeinsam mit der ritzverzierten-kreuzschraffierten Alb-Hegau-Keramik kommt sie während Ha D1 vor (Abb. 2).

Vorkommen und Nutzung Nicht nur hinsichtlich ihrer aufwändigen Machart, Fragilität und kunstvollen Verzierung nimmt die Alb-HegauKeramik eine Sonderstellung unter den Tongefäßen der frühen Eisenzeit ein. Auch ihr überwiegendes Vorkommen im Grab- und Ritualkontext unterscheidet sie von anderen Warenarten dieser Zeit. Vor allem in Bestattungen der älteren Hallstattkultur tritt Alb-Hegau-Keramik regelhaft auf und gehört zum festen Bestandteil der Grabausstattung (Keller 1939; Zürn 1987). Häufig finden sich dabei größere Keramikensembles, bestehend aus Kegelhalsgefäßen, Tellern, Schüsseln und Schalen. Die oftmals erkennbare, paarweise Beigabe nahezu identischer Gefäße lässt an die Durchführung eines Gastmahls, im 121

Abb. 2: Chronologische Entwicklung der ornamental verzierten Keramik Südwestdeutschlands während Ha C und Ha D1.

Dies- oder Jenseits, denken. Dass die Keramikgefäße einstmals auch reale Speisen enthielten, zeigt eine ganze Reihe von hallstattzeitlichen Grabbefunden (siehe dazu Stadler 2010). Über den Kontext von Bestattungen hinaus findet sich Alb-Hegau-Keramik aber auch in anderen sakralen Befundzusammenhängen.Vor allem im Bereich von Opferplätzen und rituellen Deponierungen tritt sie mit wiederkehrender Regelmäßigkeit, in oftmals außerordentlich großen Mengen, auf. Als Beispiele für solche Keramikmassenfundplätze können aus Baden-Württemberg der im ZollernalbKreis gelegene Fundort Bitz „Kritter“ (Lieb, Streicher 1987; Hald, Lieb 1988) sowie die beiden zum Schwarzwald-Baar-Kreis gehörenden Fundorte Dellingen (Spindler 1992) und Bad Dürrheim-Unterbaldingen (Klug-Treppe 2001; Dies. 2008; Morrissey, Müller 1999) genannt werden. In der Schweiz sind entsprechende Keramikdeponierungen aus Reinach (Tauber 2006) und aus Allschwil-Vogelgärten (Lüscher 1986) 122

im Kanton Basel bekannt (zusammenfassend dazu Reim 2012: 168–171). In wesentlich geringerem Umfang tritt Alb-HegauKeramik demgegenüber im Kontext von Siedlungen in Erscheinung. In größerer Stückzahl liegt sie dort nur selten vor. So unter anderem auf der späthallstattzeitlichen Heuneburg und in der Heuneburg-Außensiedlung (Dämmer 1978; Kurz 2000: 140–151), doch bleibt ihr Aufkommen bei Weitem hinter dem der funeralen und sakralen Befundzusammenhänge zurück. Kunst und Kommunikation Es stellt sich daher die Frage, welche Rolle die im AlbHegau-Stil verzierten Gefäße im Rahmen solcher ritueller Handlungen übernahmen. Zweifellos dienten sie aus funktionaler Sicht primär zur Aufnahme von Speise- und Opfergaben, doch kann davon ausgegangen werden, dass ihre Bedeutung diejenige einfacher Behältnisse bei Weitem überstieg.

Mit ihren komplexen geometrischen Mustern diente sie wohl selbst als Informationsträger und übermittelte sowohl an die beteiligten Zuschauer und Akteure, als auch an die Toten- und Anderswelt entsprechende Botschaften. M. Augstein unterscheidet daher auch für die ornamental verzierte Grabkeramik der Hallstattzeit Nordost­bayerns zwischen einer Gebrauchs- und Kommunikationsfunktion (Augstein im Druck). Sicher ist, dass wir es sowohl bei der bayerischen Tonware als auch im Fall der Alb-Hegau-Keramik mit einem stark religiös aufgeladenen Symbolgut zu tun haben, das einen wichtigen Bestandteil der früheisenzeitlichen Sakralkultur und Glaubenswelt bildete. Sowohl das Fehlen figuraler Darstellungen, das wie die Tabuisierung der ­realen Lebenswelt anmutet, als auch die strikte Einhaltung einer immer wiederkehrenden Ornamentik, geben dabei Hinweise auf die Verwendung eines verschlüsselten Mustercodes. Die chiffrierte Vermittlung von Informationen und Botschaften, in Form von geometrischen Motiven ist, vor allem im rituellen Kontext, nicht ungewöhnlich. So belegen unter anderem zahlreiche Beispiele aus der Ethnologie, dass ein solches Vorgehen auch bei rezenten und subrezenten Kulturen regelhaft zu beobachten ist. Außerordentlich deutlich zeigt sich dies im Fall der Shipibo-Conibo, einer indigenen Bevölkerungsgruppe aus dem Osten Perus. Sie ist bekannt für die Herstellung großer Gefäße aus Ton, die zum rituellen Konsum von Ayahuasca, einer halluzinogenen, pflanzlichen Droge dienen. Die über und über mit geometrischen Mustern verzierten Keramikbehältnisse spiegeln dabei ein abstraktes Bild des Kosmos wider, dessen Bedeutung sich nur dem eingeweihten Betrachter erschließt (Illius 1987: 156 –172; Gebhart-Sayer 1987: 86 –92). Die Dreiteilung der Tonbehältnisse in ein unverziertes Gefäßunterteil, eine mittige Ornamentzone mit großen, sich wiederholenden ­Mustern und einen davon abgesetzten, fein dekorierten Halsbereich erinnert stark an die ornamental verzierte Keramik der Hallstattzeit aus Südwestdeutschland. Rituelle Handlungen Interessant ist darüber hinaus die Tatsache, dass bei den Shipibo-Conibo die dargestellten Motive sowie die Abfolge der Ornamente in Form von Liedtexten, bei der

Herstellung der Gefäße durch verschiedene Töpferinnen wiedergegeben werden. Dabei handelt es sich um eine Art audio-visuelle Codierung und Übertragung von Informationen mit religiösem Inhalt, die sowohl bei der Erschaffung der Objekte als auch bei deren Gebrauch eine Rolle spielen (Illius 1987: 157f.; Gebhart-Sayer 1987: 266 –277). In diesem Sinne wird bereits die Herstellung der Tongefäße durch das Sprechen magischer Formeln und das Singen von rituellen Liedern zu einem sakralen Akt. Dieser bewirkt nicht nur die Weihung der Objekte, sondern auch die Speicherung transzendentaler Inhalte und Botschaften. Entsprechendes kann möglicherweise auch für die Hallstattkultur Südwestdeutschlands und die dort vorkommende Alb-Hegau-Keramik angenommen werden. Dies würde bedeuten, dass nicht erst die Verwendung der Gefäße im Rahmen von Bestattungs- oder Opferzeremonien, sondern bereits ihre Anfertigung zu einem Ritual gehörte, das die Gemeinschaft der Lebenden mit der Welt der Toten und des Numinosen verband. In diesem Kontext darf auch dem Brennen der Keramik, das gerade im Fall der polychrom bemalten Alb­Hegau-Gefäße nicht unproblematisch und technisch aufwändig ist, eine gewisse Bedeutung beigemessen werden. Hier spielt das Element des Feuers eine wichtige Rolle, das mit seinen transformativen Eigenschaften eine Metamorphose des formbaren Werkstoffs Ton in harte, gebrannte ­Keramik herbeiführt und so eine Wandlung vom „Urmaterial Erde“ zu einem rituellen Objekt möglich macht (vgl. dazu auch Stegmaier 2013). Regionale Differenzierung Bereits 1939 unternahm J. Keller den Versuch, das Gesamtverbreitungsgebiet der Alb-Hegau-Keramik weiter zu untergliedern. Dabei gelang es ihm, die Verzierungsmerkmale mehrerer Kleinregionen herauszuarbeiten und zu umschreiben (Keller 1939: 47ff.). Trotz zahlreicher neuer Untersuchungen zur räumlichen Verbreitung früheisenzeitlicher Keramik- und Verzierungsstile blieb der Kenntnisstand zu regionalen Gruppen der Alb-Hegau-Keramik seit der Arbeit Kellers aber weitgehend unverändert. Grund hierfür ist die Tatsache, dass die meisten dieser Studien zu großräumig angelegt waren und daher in aller Regel ihr Ziel 123

Abb. 3: Regionale Gruppen der Alb-Hegau-Keramik im Bereich der mittleren Schwäbischen Alb und in den randlichen Gebieten Oberschwabens (nach Stegmaier 2014).

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Tab. 1: Verbreitung ausgewählter Zierelemente der Alb-Hegau-Keramik im Bereich der mittleren Schwäbischen Alb und in den randlichen Gebieten Oberschwabens (Nachweis: Stegmaier 2014).

verfehlten (z. B. Brosseder 2004). So sind nur kleinräumige Analysen dazu imstande, regionale Gruppen und Verbrei­tungsgebiete einzelner Zierelemente zu erfassen (vgl. Stegmaier 2006; 2010b). Im Rahmen eines unlängst abgeschlossenen Forschungsprojekts konnten nun neue Ergebnisse zur Untergliederung und Verbreitung der im Alb-Hegau-Stil verzierten Tonware gewonnen werden. Diese zeigen für die mittlere Schwäbische Alb und Teile Oberschwabens mehrere Stilprovinzen, die sich anhand ihrer Verzierung deutlich voneinander unterscheiden (Stegmaier 2014). Das zu besprechende Kartierungsgebiet umfasst dabei die Kernzone der Alb-Hegau-Keramik, aus der jedoch Teile der Zollernalb, das Albvorland, sowie der Hegau, aufgrund der Fragestellung des Forschungsprojekts, ausgegliedert wurden. Die Aufnahme der Verzierungsmerkmale und deren Auswertung blieb aber nicht allein auf diesen Raum beschränkt, sondern erfolgte für das gesamte Verbreitungsgebiet der Alb-Hegau-Ware. Dementsprechend konnten auch außerhalb des genannten Territoriums einzelne regionale Stilprovinzen ausgemacht wer-

den, die aus Gründen der Übersichtlichkeit jedoch nicht in die vorliegende Arbeit mit aufgenommen wurden (vgl. dazu Stegmaier 2006). Identifikation und Gemeinschaftsbildung Insgesamt konnten drei getrennte Regionen herausgearbeitet werden, die sich als geschlossene Gebiete abzeichnen und einen typischen Muster- und Verzierungskanon erkennen lassen (Abb. 3 und Tab. 1). Diese Regionen ­können auf einer ersten, technischen Ebene als sogenannte Werkstattkreise angesprochen werden, innerhalb derer mehrere Handwerksbetriebe bzw. Töpferinnen oder Töpfer nach einem einheitlichen Schema Keramik im ­Alb-Hegau-Stil verzierten. Über diese primären, handwerklichen Aspekte hinaus dürfte es auf einer zweiten Ebene aber auch zu einer gewissen Identifikation der Bevölkerung mit den dargestellten Mustern und Motiven gekommen sein. So ist anzunehmen, dass die lokal und regional gebräuchlichen, wohl über Generationen hinweg tradierten Dekorations125

Abb. 4: Fundstellen mit weißgrundig-rot-graubemalter Keramik aus Südwestdeutschland (nach Stegmaier 2015).

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elemente den Bewohnern der einzelnen Gebiete bestens bekannt und vertraut waren. Eine davon abweichende Verzierung und Ornamentgebung, wie sie in anderen Regionen gebräuchlich war, dürfte gleichzeitig als fremd erkannt und wahrgenommen worden sein. Neben einer internen Identifikation ist somit auch von einer externen Distinktion gegenüber benachbarten bzw. weiter entfernt gelegenen Gebieten auszugehen. Die Verwendung von Keramikverzierungen als Ausdruck kollektiver Identitäten und Gemeinschaften ist auch aus anderen Zeitabschnitten der Prähistorie (z. B. Zeeb-Lanz 2003; 2006), sowie aus ethnologischen Vergleichen bekannt. Als Beispiel können hier erneut die Shipibo-­Conibo aus dem westlichen Amazonasbecken angeführt werden, bei denen die Ornamente der rituell verzierten Gefäße nicht nur als sakrale Symbole, sondern auch als Zeichen der eigenen Identität und Abgrenzung gegen­über anderen Bevölkerungsgruppen gelten (Illius 1987: 172). Erwähnenswert ist, dass sich diese Abgrenzung sowohl auf die Welt der Lebenden als auch der Toten bezieht. Als Kennzeichen dienen dabei, neben den bereits genannten Keramikgefäßen, auch ornamental verzierte Kleidungsstücke und Textilien, sowie aufwändig angefertigte Gesichts- und Körperbemalungen. Sie weisen die jeweilige Person als Mitglied der Shipibo-Conibo aus und belegen so die eindeutige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bzw. kulturellen Gemeinschaft (Gebhart-Sayer 1987: 130–137). Ergebnisse und kulturhistorische Einordnung Zusammenfassend bleibt somit festzuhalten, dass verzierte Keramikgefäße, im Rahmen der nonverbalen Kommunikation und Gemeinschaftsbildung, schon seit jeher eine wichtige Rolle spielten. In besonderem Maße gilt dies wohl auch für die südwestdeutsche Alb-Hegau-Keramik, die sowohl aufgrund ihrer aufwändigen Machart und Dekoration, als auch ihrer vornehmlichen Verwendung im Bestattungs- und Sakralkontext, eine herausgehobene Stellung unter den Tongefäßen der frühen Eisenzeit einnimmt. Primär zur Aufnahme von Speise-, Trank- und Opfergaben gedacht, übernahm sie, mit ihren komplexen Mustern und Motiven, wohl auch selbst die Rolle eines

religiös aufgeladenen Symbolguts, das als eigenständiger ­Informationsträger zur Übermittlung chiffrierter und codierter Botschaften diente. Möglicherweise fand dabei bereits die Herstellung der Keramik im Rahmen ritueller Handlungen statt. Analog zu anderen Kulturkreisen könnten spirituelle Gesänge oder das Sprechen magischer Formeln eine wichtige Rolle gespielt haben. Die regionale Verbreitung einzelner Ziermotive und Ornamente zeigt des Weiteren die Existenz räumlicher Grenzen und Einheiten. Über den Status von Werkstattund Handwerkerkreisen hinausgehend können diese Muster- und Stilprovinzen mit großer Sicherheit auch als Zeichen räumlich begrenzter Kulturgruppen angesehen werden, innerhalb derer die Verzierung der Keramik als sichtbarer Ausdruck einer kollektiven und kulturellen Identität diente. Gegen Ende der Stufe Ha C bzw. imVerlauf von Ha D1 verlieren die regionalen Muster und Motive ihre Bedeutung. Klar unterscheidbare Gruppen und Werkstattkreise sind auf Basis der ornamental verzierten Tonware im Bereich der Schwäbischen Alb, des Albvorlands und Oberschwabens nicht mehr zu erkennen. Dies gilt sowohl für die Phase Ha D1, als auch für alle weiteren Abschnitte der späten Hallstattzeit. Parallel zu diesen Veränderungen geht auch die Ver­ wendung von Alb-Hegau-Keramik im rituellen Kontext zurück. Dies zeigt sich vor allem anhand der Zusammensetzung der Grabausstattungen. Während in Ha C noch umfangreiche Keramikservice zum Standardrepertoire der Bestattungen gehören, gelangen ab Ha D immer weniger Tongefäße als Beigaben in die Gräber. Zwar betrifft dies nicht nur die im Alb-Hegau-Stil verzierte Tonware, doch macht gerade sie den überwiegenden Anteil der älterhallstattzeitlichen Grabbeigaben aus. Ab Ha D1 kommt es dann zu einem vermehrten Auftreten von Alb-Hegau-Keramik im Siedlungskontext. Dies zeigt unter anderem das Beispiel der Heuneburg an der Oberen Donau. Aus ihrer verstärkten Präsenz in Siedlungen eine unmittelbare „Profanisierung“ der Alb-Hegau-Ware abzuleiten, scheint beim aktuellen Stand der Forschung schwierig. Dennoch spiegelt der Wandel der Bestattungs- und Beigabensitte von Ha C nach Ha D, sowie das Verschwinden der regionalen Verzierungstraditionen, tiefgreifende ­Veränderungen wider, die wohl nicht nur die Glaubensvorstellungen sondern auch das Gemeinschafts­leben 127

und Sozialgefüge der hallstattzeitlichen Bevölkerung betrafen. Nach Auflösung der regionalen Stilprovinzen und Gruppen kristallisiert sich ab Ha D1, für den hier zu behandelnden geographischen Raum, die Heuneburg als Herstellungs- und Produktionszentrum für ornamental verzierte Tonware heraus (Stegmaier 2014; 2015). Dies zeigt unter anderem das Aufkommen und die Verbreitung der weißgrundig-rot-graubemalten Keramik (Abb. 4). Deutlich erkennbar ist dabei eine Tendenz zur Konzentration und Zentralisierung im Bereich der späthallstattzeitlichen Großsiedlung.Trotzdem dürften auch nach

dem Ende der älteren Hallstattzeit verschiedene regionale Kulturgruppen weiter existiert haben. Sie geben sich jedoch anhand von keramischen Verzierungsmustern und Ornamenten nicht mehr zu erkennen. Danksagung Für wichtige Literaturhinweise und die Möglichkeit zur Einsicht unpublizierter Manuskripte möchte ich Herrn Hans Reschreiter M.A. und Frau Dr. Melanie Augstein M.A. ganz herzlich danken.

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Gerd Stegmaier Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters Eberhard Karls Universität Tübingen Schloss Hohentübingen D-72070 Tübingen mail: [email protected]

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Eisenzeitliche Metallgewinnung im Oberhalbstein (CH, Graubünden) Rouven Turck

Zusammenfassung Im Schweizer Oberhalbstein wird seit 2013 durch Feldarbeit die prähistorische Bergbauaktivität untersucht. Dabei wurden erste Belege für Kupferbergbau und -verhüttung freigelegt. Die absoluten Datierungen der erforschten Stellen belegen eine früheisenzeitliche metallurgische Tätigkeit. Das seit 2015 durch den SNF geförderte Projekt wird knapp vorgestellt und in seinen zeitlichen und räumlichen Rahmen eingeordnet. Zentrale Fragestellungen des Projekts werden formuliert.

Abstract In the Oberhalbstein (Swiss, Grisons) the prehistoric copper mining activity has been studied since 2013 through field work. First evidence of copper mining and smelting were exposed. The absolute dating of the sites studied results in Early Iron Age. Since 2015 the project is supported by the SNF.The actual project is shortly presented and classified in its temporal and spatial framework. The central issues of the project are presented in this paper.

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Einleitender Forschungsabriss In den vergangenen 15 Jahren wurden vor allem in der bronzezeitlichen Metallzeitforschung Kupfer und Bronze eine hohe Bedeutung im Kontext von sozialen Entwicklungen innerhalb prähistorischer Gemeinschaften zugesprochen (Beiträge in Pare 2000; Bartelheim u. a. 2002; La Niece u. a. 2007; Kienlin, Roberts 2009; Burmeister u. a. 2013). Zudem stehen metallurgische Analysen (z. B. Frank, Pernicka 2012; Artioli u. a. 2013; Craddock 2014) zur Rekonstruktion von Kontakt- und Austauschsystemen der metallenen Artefakte und der Rohstoffquellen im ­ Fokus der Forschung. Zudem wird der prähistorische Kupferbergbau untersucht (Stöllner u. a. 2012; O’Brien 2015, siehe auch SFB HiMAT Universität Innsbruck). Da vielerorts Erzvorkommen aktuell noch untersucht werden (Grutsch, Martinek 2012; Artioloi u. a. 2014) und für ­etliche kupferne und bronzene Fertigobjekte die ­Rohstoffvorkommen trotz großer Bemühungen nach wie vor unbekannt sind (etwa das Singener Kupfer: Krause 1988 und ders. 2011; Mondseekupfer: Franz, Pernicka 2012), ist die Erkundung von weiteren archäologisch relevanten Fundregionen gewinnbringend. Nicht zuletzt sind Kupferverhüttungsprozesse bislang nicht geklärt (Eibner 1982); Experimente liefern erste wichtige Hinweise, welche die prähistorischen Befunde sinnvoll ergänzen (Hanning u. a. 2011; Goldenberg u. a. 2011). All diese Untersuchungsbestandteile zielen darauf ab, den so genannten „Metallkreislauf “ und deren Bedeutung für den prähistorischen Menschen zu re­konstruieren (Ottaway 1994: Abb. 1: Hauptmann 2007, Abb. 1; Hansen 2013: Fig. 2). Umso wichtiger ist die zuletzt initiierte systematische Untersuchung des prähistorischen Bergbaugebietes in Graubünden (Süd-Ost-Schweiz), um eine Forschungslücke zu schließen: das Oberhalbstein. Das prähistorische Oberhalbstein im SNF-DACHProjekt Auf einigen Kartierungen von Kupferlagerstätten und prähistorischer Kupferverhüttung (Bartelheim 2013: Fig. 2; Trebsche, Pucher 2014: Abb. 1) wird die mineralogisch erfasste Lagerstätte (Dietrich 1972) angeführt. Das Tal verläuft nahezu in nord-südlicher Richtung zwischen Tiefencastel im Norden auf einer Höhe von rund 860 m 132

über NN bis zu den beiden Pässen Julierpass (neuzeitlich) mit einer Höhe von knapp 2300 m und dem knapp über 2300 m hohen Septimerpass, der seit der Römerzeit sicher genutzt wurde (Rageth u. a. 2013; Sele 2013).Von dort aus ist der Zugang ins Bergell (Septimer) und das Oberengadin (Julier) möglich. Über Tiefencastel wird schließlich in nördliche Richtung das Hinterrheintal erreicht. Das Tal stellt somit eine zentrale Nord-Süd-Verbindung durch die Alpen dar. Dass vor Ort aufgrund vieler, nahezu undatierter Schlackenhalden vermeintlich prähistorische Verhüttungsprozesse stattgefunden haben müssen, war bereits über Jahrzehnte bekannt, ist aber nicht umfassend archäologisch und archäometrisch untersucht oder ausreichend datiert worden (Naef 2013: 108–109;Turck u. a. 2014a: 249). Die Einteilung des Tales in verschiedene Fundstufen, eine Zusammenstellung der zahlreichen Schlackenfundstellen und die Definition verschiedener Schlackentypen (Schaer 2003) unterstrichen die Bedeutung der Bergbaulandschaft. Zudem sind bronzezeitliche Siedlungen mit metallverarbeitenden Bereichen innerhalb des Tals bekannt (Rageth 1986; Wyss 1993; Turck u. a. 2014a: 251–252). Im Kontext einer umfassenden Untersuchung „Vom Erz zum metallenen Fertigprodukt“ wird seit dem Sommer 2013 durch archäologische Feldforschung und erste archäometrische Analysen die chaîne opératoire (Metallurgiekette) innerhalb des Tals erforscht. Das Projekt wird seit Januar 2015 durch den Schweizer Nationalfonds (SNF) im Rahmen eines DACH-Projekts in Kooperation mit Innsbruck, Mannheim und Bochum gefördert, womit das Tal seinen märchenhaften, prähistorischen ‚Dornröschenschlaf ‘ verlässt: „Auch findet man in der Nähe des Dorfes [Bivio] noch Schlacke, das heißt, ausgeglühte Reste von Gestein, aus dem Eisen gewonnen wurde. (...) Ich frage mich, ob man nicht große Mengen von Holz geopfert hat, bei der Suche nach dem eisenhaltigen Gestein und beim Feuern für die Schmelzöfen” (Simonett-Giovanoli 1988: 16–17). Dass bei den Schlackenfunden keinerlei Zeugnisse von Eisenverhüttung vorliegen, ist in der Zwischenzeit bereits zu Gunsten der Kupferverhüttung des lokalen Kupferkieses aufgelöst worden (Geiger 1984). Das Forschungsprojekt 2013 und 2014: Rahmen und Ziele Die Ziele der ersten Feldarbeiten1 können wie folgt zusammengefasst werden: In den Jahren 2013 und 2014 wur-

den innerhalb von 4-wöchigen Kampagnen Sondagen an verheißungsvollen, obertägig sichtbaren Schlackenhalden angelegt, um in situ-Befunde zu untersuchen. Es wurde angestrebt, Befunde im Kontext der Kupferverhüttung zu erkunden, Schlacken für eine Klassifikation und archäometrische Analyse zu entnehmen und nach Möglichkeit Holzkohlen für absolute Datierungen zu bergen. Durch Prospektionen im Jahre 2014 sollten Topografie und Umfang der bereits beschriebenen Schlackenhalden (Schaer 2003) überprüft und dokumentiert werden. Zudem wurden Erze prospektiert und geomagnetische Untersuchungen vorgenommen. Die Arbeiten erstreckten sich in der so genannten oberen, südlichen Talstufe auf Höhen von rund 1600 m bis 2300 m über NN zwischen den Gemeinden Mulegns und Bivio im Großraum des Marmorerastausees. Aufgrund der Befundsituation, in der Vererzungen, Hinweise auf Verhüttungsprozesse und Siedlungen vorliegen, ist eine umfassende Raumanalyse der prähistorischen Landschaft möglich. Dabei sollen Mensch, Umwelt, Landschaft, Rohstoff (Erz),Wirtschaftsform (Versorgung), Soziales (Lebensform, Arbeitsteilung) und „Zeit“ (diachron) in den Fokus der aktuellen Forschungen gestellt werden. 1. Wann und warum wird das Tal besiedelt? 2. Wird es dauerhaft besiedelt? Welche Besiedlungsformen können festgestellt werden? 3. Ist die Rohstoffnutzung die ausschlaggebende Komponente für die Besiedlung des Tals? 4. Wie wird der Kupferabbau organisiert? 5. Können Hinweise auf Arbeitsorganisation und -teilung festgestellt werden? 6. Welche Auswirkung hat die lokale Kupferproduktion: Hat das Kupfervorkommen eine lokale, eine regionale oder eine überregionale Bedeutung? 7. Können Umwelteinflüsse der Kupferproduktion festgestellt werden? 8. Können im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Siedlungs- und Wirtschaftsstrategien aufgedeckt werden? Unter diesen Gesichtspunkten werden Grabungs- und Prospektionsstrategien bestimmt. Auch eine archäometrische Analyse der metallurgischen Erzeugnisse ist angestrebt, um bestehende Datensätze zu überprüfen und zu ergänzen. Letztlich wird die absolut-chronolo-

gische Grundlage durch erstellt.

C- und Dendrodatierungen

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Erste Ergebnisse der Feldkampagnen 2013 und 2014 Erste Grabungs- und Datierungsergebnisse sind in Turck u. a. 2014a vorgelegt worden und sollen im Folgenden vorgestellt werden. Zudem werden jährlich im Jahrbuch Archäologie Schweiz (zuletzt Turck u. a. 2014b und dies. 2014c) die vorläufigen Grabungsergebnisse erläutert. Die Berichte der Kampagne 2014 erscheinen im JbAS (= Jahrbuch Archäologie Schweiz) 98, 2015, 194–198 unter der Kategorie Fundbericht 2014, Eisenzeit, Bivio, Marmorera und Sur (Prospektionsergebnisse), Marmorera GR, Ried südlich Gruba I und Marmorera, Scalotta (Ausgrabung prähistorischer Verhüttungsplätze) und Marmorera GR, Vals (prähistorischer Stollen). Neben drei datierbaren Schlackenhalden an drei unterschiedlichen Fundplätzen wurden die Reste eines prähistorischenVerhüttungsofens freigelegt. Dieser Ofen wurde in eine in das Sediment eingetiefte Mulde eingesetzt. Neben einer senkrecht stehenden Steinplatte als Rückwand waren einige daran rechtwinkelig anstehende, rechteckige Steine als Seitenwände angelegt worden. Der Inhalt des Ofens konnte geborgen werden und wird ebenso wie der dezidierte Aufbau des Ofens gegenwärtig untersucht. Aus der gut 2,5m entfernten Schlackenhalde sind stratifizierte Schlacken und Holzkohlen sowie einige Ton­ düsenfragmente geborgen worden.Während die Schlacken, die Gegenstand einer Doktorarbeit sind, Hinweise auf die Verhüttungstechnik der Erze liefern können, sollen die Tondüsen rekonstruiert werden, um ursprüngliche Luftzufuhrsysteme von Verhüttungsöfen zu erkennen (vgl. Kraus u. a. 2011;Töchterle u. a. 2013). Die Holzkohlen, die als Abfallprodukt des Verhüttens entsorgt wurden, liefern zum Teil eine derart gute Erhaltung, so dass dendrochronologische Untersuchungen vorgenommen werden können: Die Datierungen aller Holzkohlen belegen eine Nutzung des Verhüttungsplatzes in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. (Turck et al. 2014a: 252–253). Neben dem Verhüttungsplatz konnte 2013 ein bislang nicht eindeutig als Stollen interpretierter Befund als feuergesetzter Stollen zum Kupferabbau mit einer erhaltenen Länge von über 30 Metern identifiziert und 2014 ebenfalls in die frühe Eisenzeit datiert werden (siehe Berichte im JbAS 98, 2015, 194–198). 133

Durch die Prospektion konnten zahlreiche Fundplätze relokalisiert und zum Teil an ausgewählten Fundstellen durch geomagnetische Untersuchungen in ihrer Ausdehnung eingegrenzt werden. Es zeichnen sich Konzentrationen von Verhüttungsplätzen rund um den Marmorerastausee ab, die im Wesentlichen durch die Nähe zu Bächen und Holz (Waldgrenze) auffallen. Durch Hinweise aus der lokalen Bevölkerung konnten etliche neue Fundstellen insbesondere auf der Gemeindefläche Bivio ausgemacht werden. Potentielle Reste von weiteren prähistorischen Verhüttungsplätzen (Röstbetten, Öfen?) werden in den kommenden Jahren sondiert, ausgegraben und dokumentiert (siehe Berichte im Jahrbuch Archäologie Schweiz 2015). An den untersuchten Fundstellen konnten bislang keine Werkzeuge, Gezähe oder andere relevante Funde wie Kupferstein oder Rohkupfer (trotz Schlemmen des Ofeninhaltes) gemacht werden. Einordnung in die prähistorische, alpine Montan­ archäologie Die ersten Belege für bergmännische Aktivitäten und Verhüttungstätigkeiten im Oberhalbstein sind in den Kontext der prähistorischen alpinen Metallurgie einzuordnen. Die wohl bekanntesten und seit Jahrzehnten untersuchten Fundregionen stellen der Mitterberg (Stöllner u. a. 2012) und das Inntal (Martinek, Sydow 2004; Goldenberg 2013) sowie Funde in der Steiermark (Kraus u. a. 2011) dar. Vielversprechend erscheint auch der jüngst vorgestellte Fundplatz von Prigglitz-Gasteil in Niederösterreich, für den eine Siedlung mit nahe gelegener Verhüttung belegt ist (Trebsche, Pucher 2014). Für die alpinen Fundstellen in Norditalien seien stellvertretend die Arbeiten von Cierny 2008 und Artioli u. a. 2014 genannt (weitere allgemeine Hinweise siehe Turck u. a. 2014a: 249–250). An vielen dieser Fundstellen ist abgesehen vom Mitterberg das Fundbild meistens so, dass eine vollständige Metallurgiekette (innerhalb einer gesicherten Zeitspanne) bislang noch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. So fehlen im Trentino beispielsweise Hinweise auf die ausgebeuteten Vererzungen (Cierny 2008). Für eine umfassende sozialarchäologische Analyse der Auswirkungen auf das unmittelbare Umland sind vielerorts die unmittelbar an die Stollen und Verhüttungsstellen angrenzenden Bergbausiedlungen und/oder Gräberfelder nicht bekannt, durch die Hinweise auf das Lebensbild 134

der Hüttenleute und Bergmänner rekonstruiert werden könnten. Unterschiede können sowohl in der Konstruktion der Öfen (etwa Goldenberg 2013: Abb. 29; Cierny 2008; Turck et al. 2014a: Fig. 4–5) als auch in der Funddichte von Werkzeugen (vgl. ebd.) gemacht werden. Im Oberhalbstein fehlt bislang nicht zuletzt aufgrund ausbleibender großflächigerer Ausgrabungen der Beleg von hölzernen Waschtrögen bzw. Aufbereitungskästen (Stöllner u. a. 2012: Abb. 20; Goldenberg 2013: Abb. 20 –21; Abb. 33– 34). Grundsätzlich werden zudem unterschiedliche Erze abgebaut und verhüttet: So steht im Oberhalbstein ausschließlich Chalkopyrith (Kupferkies) an (Dietrich 1972), während im Inntal Fahlerze dominieren (Grutsch, Martinek 2012; Goldenberg 2013). Trotz eines vergleichsweise jungen und zur Zeit noch unvollständigen Forschungsstandes im Oberhalbstein versprechen die ersten Belege vonVerhüttungsplätzen, Stollen und den seit längerem bekannten Siedlungen eine gute Basis zur Erkundung des Tals (Oberhalbstein) als prähistorischem Siedlungs-, Produktions- und Lebensraum. Die meisten der Fundplätze, an denen kupfermetallurgische Aktivitäten untersucht werden, datieren in die Bronzezeit (s. o.). In der Eisenzeit scheinen entweder die Tätigkeiten im Kupferabbau abgenommen zu haben – oder es besteht ein Forschungsdesiderat. Einzig aus der Grube Mauk E liegen Dendrodaten vor/um 700 v. Chr. vor (Goldenberg 2013: 114; Abb. 39) und somit eine früh­ eisenzeitliche Nutzungsphase. In dieser Grube werden zudem bis in die Neuzeit Aktivitäten nachgewiesen (Goldenberg 2013: 97–102). Die ersten HaC zeitlichen Datierungen aus dem Oberhalbstein sollen weder nahe legen, dass dem Tal eine Alleinstellung in der frühen Eisenzeit zukommen soll, noch dass es nicht auch frühere Belege für Kupferverarbeitung im Tal geben kann. Im Kontext der bis dato wenig berücksichtigten Kupferverwendung in der frühen Eisenzeit scheint eine Analyse des gesamten früheisenzeitlichen Bergbautals vielversprechend. Das Oberhalbstein in der frühen Eisenzeit Die jeweiligen prähistorischen Bergbaureviere unterschei­ den sich in den erhaltenen Befunden, gemäß den vorliegenden Untersuchungen in den verarbeiteten Erzen, möglicherweise in den Verhüttungstechniken, den erforschten Siedlungsräumen und nicht zuletzt auch in der

archäologischen Forschungstradition und -spanne. Auffällig für das gesamte Oberhalbstein ist, dass es wenige, unklare archäologische Befunde2 und auch mit Ausnahme einer Wangenklappe eines Latène B zeitlichen Eisenhelmes und damit rund 300–400 Jahre jüngeren Eisenhelmes (Deschler-Erb 2013) kaum eisenzeitliche Funde gibt. Erst ab der Römerzeit häufen sich wieder die (Be)Funde (Rageth u. a. 2013; Sele 2013). Die Präsenz von Menschen während der Eisenzeit zeichnete sich lediglich durch wenige 14C-Daten von meist oberflächennahen Holzkohlen ab (Wyss 1993: 202; Naef 2013: Abb. 8). Aufgrund jahrzehntelanger Bautätigkeit von Straßen, Leitungen, Häusern usw. ist es grundsätzlich nicht unmöglich, dass eisenzeitliche Befunde bislang nicht aufgedeckt wurden. Im Kontext der insbesondere im Großraum der heutigen Stadt Savognin zahlreich bekannten bronzezeitlichen Befunde (s. o. Nauli 1977; Wyss 1977; ders. 1982; ders. 1993; Rageth 1986) erscheint es eher unwahrscheinlich, dass ­eisenzeitliche Befunde durch Zufall nicht aufgedeckt wurden. Dieses Desiderat ist im Moment nicht aufzulösen. Es wird mit geo- und landschaftsarchäologischen Methoden unter Einbeziehung von Relief, Topographie,Taphonomie und potentiellen prähistorischen Wegen (Della Casa 1998; ders. 2007) zu überprüfen sein, ob sich die eisenzeitlichen Siedlungsaktivitäten entweder an bis dato vollkommen unbekannten Stellen innerhalb des Tals befunden haben können – oder ob eine boden­ invasive Siedlungsaktivität nach der Bronzezeit nicht mehr stattgefunden hat und somit eine andere Talnutzung zu konstatieren ist. Die Hypothese, dass die Berg- und Hüttenleute saisonal in das Oberhalbstein kamen, um das Erz zu verarbeiten, ist zu überprüfen. Die am nächsten gelegenen Siedlungen befinden sich in rund 70 km Entfernung im Unterengadin (zusammenfassend Turck u. a. 2014a: 253–254), ein größeres, früher eisenzeitliches Gräberfeld im Hinterrheintal in Tamins ist knapp 60 km entfernt (Schmid-Sikimi´c 2002). Für die gesamte prähistorische Siedlungslandschaft in der Südostschweiz wie dem Engadin ist nicht zuletzt aufgrund der unmittelbaren geografischen Anbindung an das Tiroler Inntal mit seinen zahlreichen prähistorischen Bergbaubelegen eine Überprüfung der metallzeitlichen (Alt-)Fundstellen (Conrad 1981; Zürcher 1982) sinnvoll. Um die eingangs formulierte Fragestellung zur lokalen oder überregionalen Bedeutung des Oberhalb­stein

zu beantworten, kann die archäometrische Analyse von metallzeitlichen Fertigprodukten wertvolle Ergebnisse liefern. Auf der Suche nach der „chaîne opératoire“ zur Kupferverarbeitung Zur Überprüfung der Zusammensetzung der lokalen Oberhalbsteiner Schlacken und Erze sowie des lokalen pyrotechnischen Verhüttungsverfahrens wird im Zuge einer Doktorarbeit ein Analysekonzept erstellt (Turck u. a. 2014a: 252; vgl. auch Kraus u. a. 2011).3 Darauf aufbauend ist die Analyse des Rohkupfers, das im Oberhalbstein bislang nicht nachgewiesen ist, angestrebt, um schließlich auch die Fertigprodukte einzubeziehen und die gesamte Metallurgiekette vom Erz bis zum Artefakt abzuschließen. Während durch die ‚Stuttgarter Analysen‘ bereits seit Jahrzehnten etliche metallzeitliche Bronzen untersucht wurden (Junghans u. a. 1960–1974), sind im Schweizer Raum insbesondere mittel- und spätbronzezeitliche Objekte analysiert worden (Rychner, Kläntschi 1995). Diese Daten können somit als überregionale Vergleiche zum Oberhalbstein angeführt werden. Im Großraum SüdOst-Schweiz sind Bronzen mit möglichst non-invasiven Verfahren wie LA-ICP-MS und gegebenenfalls Blei-Isotopen-Analysen zu untersuchen. Dabei bieten sich lokale bronzezeitliche Funde aus dem Oberhalbstein an: Artefakte sind aus den Siedlungen Savognin Padnal (Rageth 1986 mit weiteren Angaben), Savognin Rudnal (unpubliziert), MottaVallac/Salouf (Wyss 1977: 39; Wyss 1982: Abb. 1; Abb. 10a–b) und Cunter/Caschligns (Nauli 1977: 32–33) bekannt. Bronzen, die regionale Bezüge zum Oberhalbstein aufweisen können, sind aus dem Engadin (Conrad 1981; Zürcher 1982) und der großen bronzezeitlichen Siedlung im Hinterrheintal Cresta bei Cazis (Wyss 2002: Abb. 15– 20) heranzuziehen. Sicherlich können weitere Funde aus Graubünden wie einige Altfunde (Keller-Tarnuzzer 1935; Burkhart 1953) überprüft und ggf. einbezogen werden. Zudem sind kürzlich weitere Bronzen aus Graubünden vorgestellt worden (siehe Beiträge in Archäologie Graubünden 1, 2013). Analog bedarf es einer Analyse von eisenzeitlichen Kupferobjekten aus den oben erwähnten Fundstellen im Hinterrheintal (Tamins) und dem Engadin. Lokale, kupferne 135

Artefakte der Eisenzeit sind bis dato archäologisch nicht nachweisbar. Über die Zusammenstellung von Erzen, Schlacken, Rohkupfer und Fertigprodukten erscheint eine Standortbewertung des ‚Kupferlieferanten Oberhalbstein‘ in der Bronze- und Eisenzeit denkbar. ‚Nicht nur Kupfer‘ – zur Rekonstruktion der ­Lebenswelt des Prähistorischen Menschen im ­Oberhalbstein In Anlehnung an einen Beitrag von M. Primas (2009) wird zur Rekonstruktion der Lebensbedingungen prähistorischer Alpinisten nicht ausschließlich der Faktor Kupfer herangezogen; darüber hinaus werden Verkehrswege, Topografie und Landschaft berücksichtigt (Della Casa 2007). Selbstverständlich sind im unmittelbaren Zusammenhang mit der Kupferverhüttung Umweltbelastungen zu erwarten, die es in der Zukunft zu analysieren gilt (Mighall u. a. 2007). Neben dieser Komponente sind auch Holz und Wasser einzubeziehen, ohne die dieVerhüttungstechniken und auch das Schmelzen von Kupfer (in den Siedlungen – Rageth 1986) kaum realisierbar sind: Die Holz- beziehungsweise Holzkohlenbestimmung zur Ermittlung von Waldwirtschaft und Holznutzung, aber auch die Feuersetztechnik im prähistorischen Stollen, sind bereits initiiert (Ludemann 2008). Aufschlussreich erscheint zudem zumindest für die bronzezeitlichen Siedlungen die Analyse der Tierhaltung, um beispielsweise Hinweise auf die Nahrungsversorgung und auch die potentielle saisonale Präsenz von Mensch und Tier im Tal zu erhalten. Hierfür liegen Tierzahn- und Knochenbestimmungen aus der Siedlung von Savognin Padnal (Bopp-Ito 2012) und der Siedlung Cresta bei Cazis im Hinterrheintal alsVergleichs­ option vor (Plüss 2011).Vielversprechend erscheint die kombinierte Sauerstoff- und Strontium-Isotopenanalyse der Tierzähne, um Herkunft und Aufenthaltsorte der Tiere abzuschätzen (Knipper 2011; Turck u. a. 2014d: 386). Ein (eisenzeitlicher) Ausblick Die Zusammenfassung des aktuellen Bergbauforschungsstandes tangiert insbesondere die Bronzezeit. Die Bergbauforschung der Eisenzeit ist im Wesentlichen durch die Arbeiten in Hallstatt bekannt und analysiert die Lebens136

verhältnisse und Auswirkungen des Salzabbaus und dessen Auswirkungen auf die prähistorische Gesellschaft (Beiträge in Kern u. a. 2014). Nahezu alle Modelle zur Auswirkung von Bergbau und Buntmetallnutzung auf prähistorische Gesellschaften beziehen sich auf das Jung- bis Endneolithikum bzw. die Kupferzeit und die Bronzezeit (jüngst O‘Brien 2015: 254–302). Gezielte archäometallurgische Untersuchungen innerhalb der Eisenzeitforschung umfassen in der Regel Eisenverhüttung bzw. -schmieden (Gassmann u. a. 2006; Brumlich u. a. 2012; Senn u. a. 2014). Die zugegebenermaßen zunächst unerwarteten früheisenzeitlichen Datierungen der Kupfertechnologie im Oberhalbstein eröffnen ein Forschungsfeld, das bis dato wenig Berücksichtigung gefunden hat. Somit ergeben sich einerseits eine spannende technikhistorische Arbeitstätigkeit, andererseits werden Analysen zu Arbeitsteilung zum Bergbau und der Verhüttung sowie die Rekonstruktion der eisenzeitlichen Arbeits- und Siedlungsverhältnisse im alpinen Raum neue sozialarchäologische Ansätze liefern können. So ist anzunehmen, dass neben Eisen und Salz in der Eisenzeit auch weiteren Rohstoffen wie dem Kupfer in Austausch- und Kontaktsystemen Bedeutung zugemessen wurde. Zudem wird der alpine Raum in die Diskussion um die eisenzeitlichen Gesellschaftsentwicklungen als Rohstofflieferant und Siedlungsraum einbezogen werden können. Das gegenwärtige Forschungsprojekt befindet sich im wahrsten Sinne des Wortes gerade an der Spitze des ‚Kupferbergs‘, denn neben den oben skizzierten Aufgaben im Oberhalbstein und dem Labor warten bereits die unerforschten Nachbartäler auf eine montanarchäologische Würdigung (Stoffel 2003: 49; Turck 2014).

Anmerkungen 1 Ein herzlicher Dank für umfassende Unterstützung, Mitarbeit und Rat gilt den Kollegen Philippe Della Casa, Thomas Reitmaier, Leandra Naef, Gert Goldenberg, Caroline Grutsch, Markus Staudt, Anja Buhlke, Daniel Kopp, Monika Oberhänsli, Marianne Senn, Klaus-Peter Martinek, Mathias Seifert, Trivun Sormaz, Philippe Wiemann, Irka Hajdas, Jürg Rageht, Mirco Brunner, FBG und SGHB sowie den Studierenden des Fachbereichs Prähistorische Archäologie der UZH. 2 Rageth 1985 und ders. 2002; die Fundstellen gilt es in den kommenden Jahren zu überprüfen. 3 Ein Dank gilt den Teilnehmern des ‚Schlackenworkshops‘ vom 05.-06. Dezember 2014 in Zürich.

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Rouven Turck Universität Zürich Institut für Archäologie Fachbereich Prähistorische Archäologie Karl-Schmid-Strasse 4 CH-8006 Zürich

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Visualising the unknown knowns in archaeology: why prehistory must not always look the same Raimund Karl

„… because as we know, there are known knowns; there are things that we know that we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns, the ones we don’t know we don’t know.” Donald Rumsfeld, US Secretary of Defence, February 2002

Abstract The act of reconstructing something from very fragmentary traces requires us to depict unknown knowns, things that we know existed, but of which we have no actual knowledge. We know that a posthole did once contain a post, but whether that post – at least above ground – was round or square, plain or highly decorated, or how high it was, is something we do not know. At best, we can make rough estimates, but usually those have a wide margin of error. In visualising that uncertainty, applying Occam’s razor – usually a sound scientific principle – is the worst possible choice: if always using the minimal assumptions necessary to reconstruct houses from posts, the outcome will necessarily be the same minimalistic result. And since a picture says more than a thousand words, we will impress a fundamentally false picture of the past on everyone’s mind: on that of the public; but also on our own, who are equally influenced by the illustrations we see in each other’s work. Thus, in this paper, I will argue that for making our reconstructions more reliable depictions of the past – not in terms of the details we show on each individual one, but in terms of the overall picture of the past we convey through reconstructions in general – we need to be radically creative. We need to produce, not just the reconstruction of how the object of our attempt most likely looked, but several reconstructions which show the range (the ‘standard deviation’) of conceivable possibilities of how it might have looked like – even if, for this purpose, we have to make maximal assumptions.

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Zusammenfassung Die Rekonstruktion fragmentarisch erhaltener Dinge macht es erforderlich, bekannte Unbekannte darzustellen; Dinge von deren Existenz wir zwar wissen, aber von denen wir dennoch keine genaue Kenntnis haben. Wir wissen zwar, dass ein Pfostenloch dereinst einen Pfosten enthalten hat, aber ob dieser Pfosten – wenigstens über der Erdoberfläche – rund oder rechteckig, unverziert oder verziert oder wie hoch er genau war, ist etwas, wovon wir nichts wissen. Im besten Fall können wir mit groben Schätzwerten operieren, aber diese lassen einen breiten Raum für Abweichungen. Bei der Darstellung dieser Unsicherheit ist die Anwendung von Occam’s Rasiermesser – gewöhnlich ein solides Prinzip der Wissenschaft – die schlechteste mögliche Lösung: legt man allen Rekonstruktionen, die z. B. aus Pfostenlöchern Häuser machen sollen, stets die wenigsten Annahmen zu Grunde, wird das Ergebnis stets gleichermaßen minimalistische Rekonstruktionen sein. Und nachdem ein Bild mehr sagt als 1000 Worte erwecken wir bei allen Betrachtern einen falschen Eindruck über die Vergangenheit: sowohl bei der Öffentlichkeit als auch bei uns selbst, die wir alle gleichermaßen durch Bilder, die wir in der Arbeit anderer sehen, beeinflusst werden. Daher argumentiere ich in diesem Beitrag dass wir, um unsere Rekonstruktionen insgesamt verlässlicher zu machen – nicht unbedingt in Bezug auf die gezeigten Details in jedem konkreten Einzelfall, sondern im Gesamtbild, das wir durch unsere gesammelten Rekonstruktionsversuche erzeugen – radikal kreativ sein müssen. Statt stets nur die eine, uns selbst am wahrscheinlichsten erscheinende, minimalistische Rekonstruktion eines konkreten Befundes zu zeigen, sollten wir jeweils mehrere Rekonstruktionsversuche anstellen, die das Spektrum (die „Standardabweichung“) der vorstellbaren Rekonstruktionsmöglichkeiten zeigen – selbst wenn wir dafür Maximalannahmen treffen müssen.

In a rather famous and much derided, but nonetheless quite perceptive statement, Donald Rumsfeld, then US Secretary of Defence, talked about three categories of known and unknown things: things that we know that we know, his known knowns, things we know we do not know, the known unknowns, and things we don’t even know we don’t know, the unknown unknowns. In archaeological reconstructions, we often deal with a fourth category of things that Rumsfeld missed in his statement, the unknown knowns: things we know that they existed, but which, of themselves, are mostly unknown to us. For instance, we know that a posthole will at some time have contained a post, but of that post itself we usually have very little knowledge: it is unknown to us how much it rose above ground, whether it was (at least above ground) round or square, or whether it was plain or highly decorated.Yet in reconstructions, it is exactly these unknown knowns about which we need to make visual statements: they, after all, are what makes up the gaps that need to be filled to be able to create a meaningful picture. 142

The very point of studying archaeology is to explain, by means of examining the fragmentary remains that survive and other evidence, those aspects of the past which have not survived; at least if we want to understand archaeo­ logy as a scholarly endeavour and not just plain collecting. Whether in words (for thoughts on verbal reconstruction see Leskovar 2005) or images (see for a first stab at this Karl 1999), visualising archaeology by reconstructive interpretation aims at creating a ‘complete’ image from fragmentary records to increase scholarly and public understanding of the past. This ‘filling of the gaps’ is, ultimately, a process of creatively imagining the ‘whole’, of ‘making it up’ by putting into the image things we know were there without knowing exactly how they originally looked like. Ideally, what we fill into these gaps should be based on solid research, careful consideration of what could have been there, and how it probably looked like. But in practice, as often as not, we are required to make up these gap-fillers as we go along. This requirement to – quite frequently – make it up as

we go along is due to the fact that the main problem we face in reconstructing the past is that – in difference to the pars pro toto burial good placed in somebody’s tomb by some prehistoric burial community which most probably referred to a ‘whole’ well-known to that community – the ‘whole’ that we are trying to show is unknown to us. Thus, visualising it is riddled with uncertainties like the ones described above for the post in the posthole: we do not know whether the post to fit the hole in our image is round or square, and many a times, there is no way of deciding either way, because there is no evidence at all that makes the one choice more likely than the other. In a verbal description, we can say as much: the post, above ground, may have been round or square, and we have no means to decide which way it actually was. In an image, however, showing this uncertainty is much more problematic: if we draw an image of the post, we have to make a decision to show it either as a round or as a square post, since both is not possible in the same image. But images not only can, but usually do say more than a thousand words: think of the reconstruction of a house from a more or less arbitrarily chosen selection of postholes on an archaeological site. Such an image normally does not only show the posts and whether they are square or round, but also the walls between them, the roof above them, and a myriad of other aspects that cannot be deduced from the postholes and any finds made in or between them alone. Thus, each visual (or indeed physical) reconstruction on its own is quite powerful already: the unsuspecting beholder, whether layman or expert, with but a simple glance, gets a whole lot of information about a house that would take him quite some time to read up upon. And since it is visual, he is much more likely to remember it, and much more likely to internalise it than a longwinded description that does not actually come down on either side of the ‘round or square peg’ question. The visual statement is unequivocal, does not allow for ambiguities and is not suited to show uncertainty, and thus gives a straight answer to an equally straight question:What do these random-looking splotches on a site plan mean? Well,

they are what is left of a house, and the house looked like that shown on the reconstruction image. A visual reconstruction thus provides a definitive answer to the question of ‘how the past actually was’, and definitive answers are what most of its beholders – including most professional archaeologists – are actually looking for, at least subconsciously. While we as professionals may consciously be fully aware that whatever statement any one of us makes about the past is just the statement’s author’s (probably best) guess of ‘how the past could have been’, the more certain the statement appears to be, the more likely it is that we are going to take it at face value. Thus, visual reconstructions are particularly effective in shaping our perception of the past. Accuracy vs. reliability of statements Any statement – whether verbal or visual – about particular values of anything ideally has two essential properties: it ideally is both accurate and reliable. This is particularly true if the statement is not just any ordinary statement, but a scholarly statement: after all, scholarship aims to find ‘the truth’ about what it studies, or at least an approximation as close to ‘the truth’ as we can get1. In a reconstruction image, the properties of a post – whether it is square or round, plain or decorated, etc., are such values and thus ideally should also have the properties of being both accurate and reliable. Yet, where statements about uncertain values are concerned, the properties of accuracy and reliability do not necessarily match each other, but more often tend to be mutually exclusive. Let us first take a short look at what each of these two properties describe: The accuracy of a statement (e.g. a measurement) about something (e.g. a quantity) is the degree of closeness to its actual (= true) nature (e.g. its value).The closer the statement about the value of it is to its actual value, the more accurate the statement is. To provide a short example, an accurate statement about the number of apples in the bowl in figure 1 would be

1 This is even the case in epistemologies that allow for the possibility that there is no ‘truth’ as such, but only ‘useful knowledge’, as is the case in most constructivist epistemologies: ‘useful’ knowledge is, then, usually defined as such that does provide solutions to problems that actually work in reality. Naturally, to be considered as actually useful, the knowledge produced must not just work in individual instances, but in all or at least most instances where the same problem is encountered, and for doing that, the knowledge must both be accurate and reliable.

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Fig. 1:  A bowl of apples.

‘This bowl contains 6 apples’. Of course, only 5 apples are actually visible in the image, but we can reasonably assume from the arrangement of the visible apples in the bowl that there actually is a sixth apple in it, which is just, due to the perspective of the shot, hidden behind the other apples. Thus, the accurate statement about the actual number of apples in the bowl is not that it contains 5, but that it contains 6 apples, because 6 apples is the most likely actual value of the number of apples in that bowl. Yet, we cannot be absolutely sure about this, but rather, the actual number of apples in the bowl is uncertain.This is where the reliability of a statement comes in. In difference to the accuracy of a statement, a statement about something (e.g. a quantity) is reliable if it (most likely) includes the actual (true) nature of that something (e.g. its value). Where a statement about something uncertain is concerned, a reliable statement thus is usually at least somewhat inaccurate, since it needs to capture the whole range of possible values, rather than just being as close as possible to the actual value. Where our example in figure 1 is concerned, the reliable statement about the quantity of apples in the bowl would be ‘This bowl contains between 5 and 7 (or 6 +/- 1) apples’. This is for the reason that the image shows that there are at least 5 apples in the bowl, because that is the number of apples we can count on the image. However, due to the perspective of the shot, there is a distinct possibility that at least one, possibly even two apples may be hidden behind the visible apples (although if it were 2, they would probably have to be somewhat smaller than the quite evenly-sized apples visible on the image – but the possibility for this being the case cannot be exclud144

ed with certainty). Thus, to make a statement that includes the actual value of apples in that bowl, we need to express the minimum and maximum amount possible by giving a confidence interval: we are uncertain about the precise number, but are (reasonably) certain (= confident) that the actual number of apples in the bowl is between the minimum and maximum values expressed in the statement. In terms of our problem, accurate statements create an impression of certainty: they aim to be as precise as possible, and precision requires certainty about the actual value(s) of properties of the object of the statement. Reliable statements, on the other hand, clearly show the degree of uncertainty about the actual value(s) of properties of the object of the statement. The requirement of visual reconstructions to be decisive about every value of every (unknown known) property of the object of the reconstruction thus naturally lends itself to the creation of visual statements that will be perceived as accurate; though – given that we have to be decisive regarding the value of each individual property of the object that is to be depicted – they are unlikely to be reliable. And that, in my opinion, is a problem, particularly if reconstructive visualisations are not seen individually on a case by case basis, but on the whole as in sum creating a particularly decisive picture of the past. Occam‘s Razor reconstructions William of Ockham (c. 1287–1347 AD) was an English Franciscan Friar and one of the foremost medieval thinkers. His principle of parsimony in explanation and theory building, which has become known as Occam’s Razor, effectively argues that when constructing any kind of explanation or theory (that is, any scholarly statement), one should make no more assumptions than absolutely necessary. This since has also been interpreted that if one is to make a scholarly selection between different, competing scholarly statements, the one which requires the fewest assumptions should be selected. This principle – which is considered to, at least usually, be a sound and useful scholarly principle – normally tends to guide our thinking when creating visual reconstructions of archaeological objects: we like to use the least amount of absolutely necessary assumptions to arrive at what we then frequently perceive to be a ‘reasona-

Fig. 2:  A more or less random arrangement of postholes (sketch based on a real find at Göttlesbrunn. Lower Austria; Karl, Prochaska 2005, 325).

Fig. 3: The posts from fig. 2 sketched up to provide a basic framework for two rectangular buildings adjacent to each other.

bly’ accurate approximation of what our object of interest would have (actually) looked like. At any rate, we tend to be very concerned about getting those bits right for which we have evidence, that is, the known knowns of Donald Rumsfeld. After all, we know these things were there, and they looked exactly the way they are being shown, so that bit of the image created is certainly accurate. For everything else, however, we tend to go with the minimal assumptions: if there is a posthole, there must have been a post, but that post is shown (most often) as a simple, round and plain tree trunk without any hint at having been transformed by human action. After all, showing it as a round ‘quasi-natural’ post requires only the assumption that a tree has been felled and cut to the right length, while showing it as a square post adds to this the assumption that it was not only felled and cut, but also worked into square shape.Thus, Occam’s Razor is applied and we stick with the simple round shape, at least as long as we do not have any evidence (e.g. the actual posthole in the post-pit or surviving remains of the post itself are clearly square in shape) to the contrary. Similarly, if we have a rectangular alignment of postholes, we connect the gaps between the posts with some walling, with a door in one of those walls, and put as simple a roof on it as is possible, because, again, all these are the minimal assumptions necessary to show the post alignment ‘accurately’ as what it most likely was, a rectangular building. What we

do not put into our reconstruction, however, are windows, an upper floor, internal dividing walls creating several separated rooms, or anything else that would require us to make additional assumptions about how the building might have looked like. This process creates – usually – just one single image of the reconstructed, the one we are feeling ‘confident’ with, since we stuck as closely as possible to the attested evidence and added nothing that was not absolutely necessary: we didn’t make anything up that we had no evidence for, but only showed what we were certain about.To give an example, in the case of a more or less random arrangement of posts (fig. 2), we find those posts that seem to reasonably align into rectangular arrangements and connect all posts in each rectangle to provide a framework for two simple buildings adjacent to each other (fig. 3). We then draw each of them using the minimal assumptions necessary and thus turn them into the definitive reconstruction of the two buildings that probably would have stood on the site in the Iron Age (fig. 4). And with that, we consider our job done, and done well, since we haven’t made up anything that we didn’t absolutely have to make up to make buildings out of the surviving postholes. We have shown nothing but what we know for certain – that there were posts there – and what is necessary to provide the beholder with an image that is actually meaningful, that shows our interpretation 145

Fig. 4:  A reconstruction sketch of the two buildings from fig. 2 using the minimal assumptions necessary to show them as a larger and smaller building adjacent to each other.

of rectangular post alignments as buildings. But what we have not shown at all is any uncertainty, anything we admit we do not know even though we know it must have been there in some way, shape or form. We have created an impression of accuracy where in fact, what we should have aimed for is a reliable visualisation: after all, the building or buildings on the site may well not have looked anything like what is shown on this reconstruction drawing (fig. 4) at all, but may have looked quite different. But that possibility that it may very well have looked very different is something we neglected to show: we provided a definitive image only, and that is how the average beholder will from now on imagine the buildings on site will have looked like, for certain. Wrong impressions of accuracy Visual reconstructions create impressions, that much is beyond doubt. And if we follow the above process of using Occam’s Razor, using the minimum assumptions necessary to arrive at an explanatory (visual) statement and produce just one picture per object to be reconstructed, we in each individual case create an impression of accuracy and thus of certainty (and the more of the actual evidence that has survived we include in the image, ideally with the originals being displayed side by side with the 146

reconstruction, the greater the impression of certainty is that we create: after all, if we take such great care to get every individual detail showing evidence that has survived absolutely right in our reconstruction, who in their right mind would assume that other parts of the reconstruction that are shown in the same way are any less accurate and certain?). After all, the average beholder, but even the scholarly beholder, will assume that if that and not another reconstruction was created, there must be a good reason for this and not another reconstruction being shown: after all, the reconstruction is a part of scholarly work and thus supposed to be based on sound reasoning. So if it is this image, rather than another, that is being shown, and shown as the definitive image of the object reconstructed, the reconstruction must be reasonably accurate and the scholar who created it reasonably certain about it.Why else show it, after all? This already creates a problem in each individual case: the actual uncertainty about many elements of the reconstruction disappears entirely for the beholder, and a wrong sense of accuracy and certainty replaces any potential awareness of the uncertainty contained in the image that the beholder might consciously have had even where this individual case is concerned. But matters are even worse if one considers the bigger picture of how all individual reconstructions will influence the beholders perception of the past if not seen independently of each other, but in conjunction. And most beholders will not just see a single reconstruction and consider that single image in isolation from all other such images that also exist, but – at least over the course of many years or even over the course of an entire academic career – will see many such reconstructions. Of course, each reconstruction they see will be different in some regards from most others, because many will be based on different original features and thus will look somewhat differently. However, if all, or even only a sizeable number of these images was ultimately created using the same minimalistic principle that underlies Occam’s Razor, they will all look roughly the same, that is, will appear similarly minimalistic. And since each and every single one of them will be perceived by the beholder as an ‘independently arrived at’, probably ‘accurate’ result of a scholarly process of making reasoned decision, the repetitive similarity provides positive feedback regarding the certainty of each independent reconstruction as well as the overall picture that the beholder creates in his mind of the object of reconstruction:

in scholarly terms, each similarly looking reconstruction will be perceived as an independent confirmation of the certainty of each individual reconstruction.The overall result, thus, is a massively increased perception of the level of accuracy or certainty that the past, on average, looked like all these reconstructions that confirm each other; and thus of an increased perception of that the past will actually accurately have been absolutely minimalistic. In our case of the Iron Age houses, all Iron Age houses will increasingly be perceived as primitive, minimalistic shelters that all looked pretty much the same. If seen in conjunction, similarly minimalistic reconstructions, which are similarly minimalistic because the same minimalistic problem-solving principle has been applied in the decision-making process that led to their creation, works like Pavlovian conditioning: much like the dog whose saliva starts to run if he hears a bell which in the past regularly announced that he would get some food, our perception of how the past looked like is conditioned towards a very specific result, a result which in turn will inform how we depict the same object in future reconstruction drawings. The result is a self-fulfilling prophecy, that of a uniform picture of the past.Yet, if there is one thing we can be and are reasonably certain about, it is that ‘the past’ was anything but uniform: all our evidence, for instance in the Iron Age archaeological record, seems to confirm that regional, social, economic and other differences appear frequently in the record and frequently even seem to have been clearly and consciously expressed. There was not one uniform European Iron Age, but many different European Iron Ages. Thus, creating reconstruction images that – due to the very method by which they were created, and exclusively for the reason of that method being applied – create an impression that the Iron Age was uniform after all, clearly creates a fundamentally flawed and horribly wrong picture. It is exactly the opposite of what we are trying to show to the beholders of our work, and it is almost comical that the means we use for the purpose of making our results more palatable to our beholders creates the very opposite message than we are trying to get across. By creating reconstructions the way we always have done and still mostly do, we are creating a certainty and a wrong sense of accuracy that more effectively counteracts the point we are trying to get across than anything any of us could ever say about the Iron Age.

Thus, I would argue that, for getting our message heard (or seen) and understood, we must move away from methods of reconstruction (whether verbal or visual) that create false impressions of the accuracy and certainty of our results where there is none. Instead of trying to create accurate reconstructions, what we must aim for is to create reliable reconstructions; reconstructions that clearly show uncertainty where it exists. For achieving this aim of producing reliable rather than accurate reconstructions, I would argue that we need to proceed very differently than we have in the past: rather than showing one (minimalistic) definitive image of whatever we try to reconstruct and aiming for a maximum of certainty while avoiding like the devil any assumptions that are not entirely necessary; I would suggest we proceed like scientists by providing not just a single reconstruction of the object we are trying to reconstruct, but rather produce several different reconstructions, one using minimal, some using a few, and others using maximum assumptions, to show the confidence interval for each set of reconstructions, the degree of uncertainty contained in the reconstructive process. The confidence interval So what is the confidence we have to reckon with in premodern wooden architecture, to stick with the example of house reconstructions? There is, in fact, plenty that is possible to build in wood with pre-modern tools and technology, and there is no reason to believe that Iron Age carpenters were unable to match, at least in some cases, the crafting skills required for building some of the finer examples of wooden architecture that still survives in either models or indeed, in case of medieval buildings, in original until today. To provide a few images one can easily grab from the Internet, there are, for instance, clay models from Han Dynasty watchtowers, now held in Metropolitan Museum of Art in New York (fig. 5) that clearly show that the ancient Chinese were able to build quite elaborate, multi-storeyed, elaborately decorated wooden structures in the 1st and 2nd centuries AD. Similarly, Heddal Stave Church (fig. 6), the largest such church in Norway, which dates from the early 13th century AD, is anything but a simple, plain and minimalistic construction. Similarly elaborate wooden buildings from the medieval and early modern period survive in many a European coun147

Fig. 5:  Models of Han Dynasty (25-220 AD) wooden watchtowers from China (image: PericlesofAthens 2008, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Earthenware_architecture_models,_Eastern_Han_Dynasty,_3.JPG).

try until today, and while there are indeed some that are rather plain, simple and quite minimalistic, many are not, but are rather complex, elaborate and partially intricately decorated. That there is no reason to assume that Iron Age wooden architecture would have been – at least in some cases – any less developed or elaborate than any of these buildings is demonstrated by the well-known picture-postcards of late prehistoric landscapes (including houses) in form of rock carvings from the Val Camonica in Italy (fig. 7, Audouze, Büchsenschütz 1991, 83).These clearly seem to show multi-storey buildings with upper storeys protruding beyond the lower ones, or possibly balconies, and external stairs or ladders leading up to some of them, which seem more reminiscent of medieval and early modern alpine wooden farm architecture than anything we usually show in our reconstructions of Iron Age buildings. We even have clear evidence of the existence of wooden stairs in enclosed spaces considerably pre-dating the Iron Age in the form of the wooden stair recovered in the Hallstatt salt mine excavations and dated to 1344/1343 BC (Reschreiter, Kowarik 2008, 61-3), for decorated wooden grave-boards from a burial on the Dürrnberg bei Hallein (see H.Wend­ ling, this volume), and of course for internal divisions of buildings from at least some of the houses uncovered during the excavations in the Ramsautal on the Dürrnberg bei Hallein, too (Lobisser 2005, 12-17), as well as strati148

Fig. 6:  Heddal Stave Church (image: Micha L. Rieser 2010, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stavechurch-heddal. jpg).

graphic evidence from at least one building in Roseldorf an der Schmida in Lower Austria for that building having been multi-storeyed (pers.comm. K. Löcker) – and this is using examples from just Austria alone. Thus, there is not the slightest reason to assume that the confidence interval for reconstructing Iron Age houses in Europe is narrow, quite to the contrary: the confidence interval we have to assume for Iron Age wooden architecture is very wide, and includes pretty much every imaginable and technically possible possibility for elaboration. It is, at any rate, definitely much wider than what the repetitive visualisation of Iron Age buildings in reconstructions as plain, simple and minimalistic open-plan structures with no forms of elaboration whatsoever would have us believe. We have to accept that there is a distinct possibility that the confidence interval for Iron Age buildings includes the possibility for them having been multi-storeyed, possibly even with protruding upper storeys and / or balconies, having had internal divisions to create separate smaller rooms, proper stairs, perhaps even grandiose staircases, front, back and side doors, windows, dormer windows, wooden chimneys, and so on, and also the pos-

Fig. 7:  Bronze and Iron Age rock carvings from Val Camonica, Italy, showing multi-storeyed houses with protruding upper storeys and external stairs/ladders (Audouze, Büchsenschütz 1991, 83).

sibility that they would have been lavishly decorated with painted or carved artwork. It is this range, the range from the very simplistic and minimalistic open plan house with just a single floor, no or hardly any windows and the most basic roof construction put on top of them, to the very complex, multistoreyed, extremely elaborate building whose decoration programme alone was immensely labour-intensive to create, that we must show in reconstructions of Iron Age houses to create a reliable rather than an apparently ‘accurate’, but in fact incredibly misleading picture of Iron Age realities. Unless we present that whole confidence interval, we’re in effect misleading our audience into believing that we know for certain what ‘the European Iron Age house’ looked like, while in fact we don’t, because there was no such thing as ‘the European Iron Age house’, but many different houses of very different degrees of elaboration. Reliable reconstructions So what, then, about ‘my’ house(s) as shown in fig. 4? This, then, clearly cannot be ‘the Göttlesbrunn house’, but only the minimalistic reconstruction which defines the lower end of the confidence interval of how that particular set of postholes might be reconstructed. To create a reliable reconstruction, illustrating the confidence interval is necessary, and to achieve this, I have created several sketches of possible reconstructions of the same set of features and combined them into one illustration (fig. 8).

By including (in this case) a sketch of the original features in the same perspective that was also used to create the various alternative reconstructions also shown (though it would, of course, be possible to include an original plan of the actual features using the same perspective as used for the reconstruction drawings instead of a sketch), the evidence upon which the reconstructions are based is included in the image – so the known known, that of which we are certain, is included for the viewer’s benefit. In the centre at the top, the reconstruction I personally think is preferable for various reasons (excluded for this discussion, since they are not particularly relevant for the purpose of this paper) is given prominence: this not only clarifies for viewers what I, hopefully based on sound scholarly reasoning, consider as the most likely way the Göttlesbrunn house(s) may have looked like (or, in other words, what I think to be the most ‘accurate’ reconstruction) but also – should they be looking for such – provides them with an authoritative opinion to the question of ‘how did that house in Göttlesbrunn most likely look like; providing a simple answer to a simple question, if you will. However, rather than stopping there (as we usually tend to do), I also included, to the bottom left and right, but at (approximately) the same scale as the central image and thus only slightly less prominent than the central image, what I consider to be reconstructions of the same building(s) at the far lower and upper end of the confidence interval: the ‘minimalist’ reconstruction (which is the same as on fig. 4) using Occam’s Razor as the guiding principle and thus the least – only the necessary – assumptions for making houses out of postholes at the bottom left; and the ‘maximalist’ reconstruction, using as many assumptions for elaborating the building that I feel reasonably confident could reflect what the Göttlesbrunn house might possibly have looked like at the bottom right. In addition (just to show that we need not stop at 3 images either), I also include at the bottom center of the image and at a smaller scale, a few more possible reconstructions which fall within the range defined by the confidence interval. With this, the reconstruction indicates to viewers not just the range of possibilities of how the Göttlesbrunn house might have actually looked like, but also clearly visualises the uncertainty inherent to the reconstructive process; if you will, I show that there are many unknown knowns in the image which can be reconstructed in many different ways. Rather than making all decisions for be149

Fig. 8:  A reliable reconstruction of ‘the Göttlesbrunn house(s)’, illustrating not just the uncertainty inherent in the reconstructive process, but also the range of possible choices.

holders, the (at least reasonably) reliable set of reconstructions invites and requires them not just to think about the process that leads from the attested fragments to the reconstructive visualisation of the ‘whole’ object, but also to consider, for themselves, which version they would chose as their preferred one, and for which reasons. Of course, one needs to note that, even if we show several options of how each object we try to reconstruct might have looked like, and provide a confidence interval for each, it is still us that define the range of possible perceptions by defining – as the scholars who speak with some degree of authority – the spectrum covered by the confidence interval we decide to show. After all, in the case of the Göttlesbrunn house(s), even more fanciful recon150

structions drawings than even my most elaborate option shows might well have been technically possible: for instance, I limited myself to no more than 2 full storeys and a used loft space with dormer windows, while – at least technically – a third, fourth or even more storeys would probably be possible, too. Equally, I restricted myself to the basic form of a ‘standard’ rectangular house, rather than putting a fanciful tower and various levels of roofing on it, like we can see it on Heddal Stave Church (fig. 6). I also restricted myself quite strongly where decoration is concerned, since I could have tried to show (even within the limits of a small sketch) much more carved and colourfully painted elements, both possibilities we cannot, with absolute certainty, exclude. And of course I to-

tally neglected the possibility that the various postholes that are the evidentiary basis for the reconstruction could be connected with each other in several other ways, too, like creating 2 6-post and one 10 post building standing in parallel to each other. In the specific case, the main reason why I opted against all those possibilities is that it would not just have overcomplicated the point I am trying to make in this paper, but also because I do think, for various reasons, that the recorded features used as the ‘inspiration’ for these drawings were in fact either just one house, or at the most a house and a 4-post building standing next to it, and also were in fact a relatively modest farmhouse in an equally modest farmstead, and not something much more fanciful. Thus, the ‘maximalist’ reconstruction I show at the bottom right of figure 8, in my opinion, is already pushing it; is at least close to, if not already well beyond, the limit of my personal confidence in what could actually have stood at Göttlesbrunn. In trying to provide a reliable reconstruction, restricting the confidence interval is as important as providing one in the first place: after all, when trying to provide a reliable statement, we don’t just want to show what values are theoretically possible, but rather what we believe are values that are, to a greater or lesser extent, probable in the specific case we are dealing with. The range of values we want to provide when visualising uncertainty is that into which we are reasonably confident the actual value of what we are visualising will have fallen into. This restriction provides the degree of accuracy of our statements: while we do not know, and probably cannot know, whether the building(s) that stood at Göttlesbrunn looked more like the minimalistic or maximalistic reconstruction shown on figure 8, I am reasonably certain that the way the building(s) at Göttlesbrunn looked like falls within the range defined by these two limits.Thus, showing those two limits is not just a reliable, but also as accurate a statement as I can make, the values shown are as close as I believe we can get to the actual values of what once was there. Conclusions When trying to reconstruct an unknown ‘whole’ from surviving archaeological fragments, and particularly when creating visual (or indeed tangible) reconstructions, we

usually face a fundamental dilemma: while we know that many elements must have been there, we often know little if anything about their actual nature.Yet in any reconstruction, particularly in visual and tangible ones, it is particularly important to fill these gaps, because that is the very point of attempting a reconstruction in the first place.This requires us to make numerous decisions in the process of creating the reconstruction, decisions that, particularly in visual and tangible reconstructions, are and have usually not been shown in the end product of the reconstructive process, the reconstruction, itself; not least because the medium of a visual image or tangible object does not allow to show uncertainty or indeed multiformity: one reconstruction image only allows to show one state of possible values, not several at once. As of yet, when creating reconstructions, we have usually strived for maximum accuracy by producing one image and one image only, the image which shows what we believe to be the most likely way that whatever we depicted looked like.Yet, it seems to me that this not just hides the fact that in producing this image, we made many decisions which often could equally well have been made quite differently, with no particularly good reasons for why to choose the one possibility above the other, but particularly hides the fact that any such images contain a high degree of uncertainty.Thus, a false impression of certainty is created for viewers, who often do not even know that there is a high degree of uncertainty glossed over by the image, but rather take it at face value. At the same time, to avoid the risk of being accused to have made up ‘fantasy reconstructions’, we scholars tend to use Occam’s Razor as the guiding principle in creating such reconstructions: we try to stick to the actual evidence as closely as possible and make as few assumptions as possible when creating these images. However, this has unintended and unwanted side effects, most importantly the side effect that most our reconstructions end up looking rather minimalistic and simplistic and thus rather similar to each other. This, in turn, has the equally unintended consequence that we inadvertently create a rather uniform picture of the past we are trying to reconstruct, since each individual, equally minimalistic and simplistic reconstruction is seen by most viewers as an independent confirmation that not just each, but all reconstructed objects of similar type (e.g, houses) looked pretty much the same throughout much of prehistory. Yet, this is ac151

tually the opposite of the message that we want to send, that prehistory – even within the same narrow time period within whatever groups or divisions we have created based on whatever archaeological features or finds – is anything but uniform, but rather as diverse, messy and complicated as today’s world. Thus I argue that when we create reconstructions, we ought to aim not for an elusive and unachievable accuracy, but rather for reliability.This is best achieved by providing not just one, but several reconstructions of the same object, which serve to define a confidence interval; that is, limits defining a range of possibilities we are reasonably certain the object we are trying to reconstruct will actually have fallen into. By doing so, we not only make the uncertainties apparent that would be hidden if we were to provide just a single image, but also encourage beholders to think

about the reconstructive process itself and make their own decisions about what they think is most likely. More important than that, however, is that showing a multiplicity of different but possible reconstructions rather than just ‘the one’ that seems most likely to us, counteracts the false impression of the uniformity of the perceived past that results from Occam’s Razor reconstructions. Particularly when seen in conjunction with each other, multiple reconstructions of each of the same type of object will increase the awareness amongst viewers of the – at least potential – multiformity of the past, and thus will be much more successful of getting the message across that we actually want audience to hear: that the European Iron Age and the people living in it were neither simple nor primitive, nor all uniform and the same, but as diverse in almost every regard as we are, if not even more so.

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Bilder und Botschaften: Gesichtsdarstellungen der Frühlatènekunst Marina Sarah Hess

Zusammenfassung Während die vorausgehende Hallstattkultur Gesichter selten und in stereotyper Weise präsentiert, nehmen Gesichtsdarstellungen der Frühlatènekunst eine besondere Rolle ein. Konsistentes Motiv und Hauptcharakteristikum der frühen Latènezeit sind die Gesichtsausdrücke standardmäßig entweder völlig ruhig oder aber verzerrt, eine Eigenschaft, die sie mit Gesichtsdarstellungen aus diversen prähistorischen Kulturen weltweit teilen. Häufig finden sich zusammen mit der Darstellung eines menschlichen Gesichts Bildelemente von Tier/en und Pflanze/n. Ihr regelmäßiges Auftreten gibt Anlass, Chiffren hinter dieser Motivkombination zu vermuten. Diese Codes könnten eine dem damaligen Betrachter bekannte Botschaft vermittelt haben. Bislang ging die Forschung davon aus, dass diese Bilder keine Geschichte erzählen, sondern Symbole einer Welt voller Albträume zeigen oder magisch-religiös aufgeladen waren. Der Vortrag unternimmt das Gedankenexperiment, aus der erfassten Materialbasis bestimmte Szenen als Interaktion von Mensch und Tier zu verstehen, die für den Wendepunkt einer Geschichte stehen könnten. Unter der Prämisse, dass es sich – fallweise auch in reduzierter Form – um szenische Darstellungen in erzählender Absicht handelt, sind neue Impulse zur Deutung der Frühlatènekunst und besonders der Gesichtsdarstellungen möglich, denn sie geben uns Einblicke in das Denken der Menschen der frühen Latènezeit.

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Abstract This paper is about anthropomorphic faces in early Celtic art. In Hallstatt culture, depictions of faces were rare and presented in a stereotypical way. In early Celtic art faces are presented totally different. There, faces are a consistent motif and a main characteristic of that time. In principal, facial expressions are either totally calm or twisted, a feature they share with various prehistoric cultures. Often, we find animals or/and elements of plants combined with the picture of a human face. These images appears so regularly, that one might suppose codes behind the combination of certain motifs. Previous research rejected the idea that these pictures might tell a story; but rather that they are symbols of a world full of nightmares or have magical and religious connotations. In this paper, we followed a different approach: certain scenes are understood as an interaction between human and animal.They could stand for turning points of a story. Assuming that they might tell a story or, in some cases, a reduced version of a story, they give new impetus to interpret the early La Tène art and especially the facial images, because they give us new insights into the thinking of people in the time of early La Tène period.

Einführung Was macht ein menschliches Gesicht aus und woran erkennen wir es? Jutta Kneisel (2010: 39) verweist zu dieser Frage, der sie im Rahmen ihrer Untersuchung von Gesichtsurnen nachging, auf psychologische Untersuchungen (Yarbus, Haigh 1967: 179–181, Abb. 114–116). Blickrichtungsstudien, welche die Augenbewegungen beim Betrachten von Gesichtern aufzeichneten, zeigten eine Konzentration auf die Elemente Augen, Nase und Mund. Bereiche wie das Kinn, Hals oder der Hinterkopf scheinen kaum eine Rolle zu spielen, unabhängig von der Ansicht. Anhand von Versuchen mit Neugeborenen (Goren et al. 1975; Johnson et al. 1991) wurde dokumentiert, dass das Erkennen von Gesichtern dem Menschen primär angeboren zu sein scheint. Menschenbilder Menschendarstellungen sind in der Vorgeschichte mit einem Anteil von unter fünf Prozent der Bilddarstellungen vertreten (Huth 2003: 12). Dieses ohnehin schon seltene Phänomen gipfelt in der Präsenz menschlicher Gesichter, die sich in weiten Teilen derVorgeschichte Mitteleuropas so gut wie gar nicht finden. Erst ab der späten Bronze- und frühen Eisenzeit wandelt sich dieses Bild für einzelne Teile Europas, wie das Beispiel der Gesichtsur154

nen zeigt, die in Italien, in Skandinavien, Mitteldeutschland und Nord­polen belegt werden können (Kneisel 2010: 37). Die Hallstattkultur kennt gleichermaßen Gesichtsdarstellungen. Auf dem Sitzmöbel von Hochdorf zeigen die dargestellten „Schwerttänzer“ zwar nur ein angedeutetes Gesicht (Biel 1995: 28). Bisweilen wurde aber Wert auf die Abbildung von menschlichen Gesichtern gelegt. Teil der Ausstattung des Prunkgrabes vom Krollkögel (Kleinklein) ist eine bronzene Maske eines Menschengesichts, die mitsamt den bronzenen Händen singulär bleibt (Egg, Kramer 2009: 14 Abb. 19). Ein Grundcharakteristikum der früheisenzeitlichen Bilder ist deren Ausdruckslosigkeit. Der Fall eines bronzenen Dolchgriffes von Grab 585 aus dem Gräberfeld von Hallstatt (Kromer 1957: 130 Abb. 115.13) verdeutlicht dies par excellence, das Gesicht ist zwar erkennbar, aber formlos. Ganz anders sind die Gesichter der Frühlatènekunst. Hier finden sich erstmals tatsächliche Gesichtsausdrücke mit weit aufgerissenen Augen, man denke beispielsweise an das obere Gesicht der Maskenfibel von Parsberg (Lkr. Neumarkt) (Abb. 1) (nach Menghin 1982: Titelbild). Es sind aber auch solche Gesichter zu finden, die ­ruhig bzw. besonnen wirken, so das Beispiel eines Gesichts auf einer Maskenfibel aus Oberwittighausen (Main-Tauber-Kreis) (Abb. 2) (Wahle 1925). Dieser auffallende Dualismus steht aber nicht für sich. Parallelen können in dem von der

Abb. 1:  Parsberg, nach Menghin 1982, Titelbild (GMN Nürnberg).

Abb. 2:  Oberwittighausen nach http://swbexpo.bszbw.de/blm/image/zoom? img=1&id=9420A9C7423BC0813CC00D9BE8713EB3, (Bad. LM Karlsruhe).

Humanethologin Christa Sütterlin (2013) weltweit gesammelten Corpus von Gesichtsdarstellungen erkannt werden. Die erstaunlich stereotypen Formen zeigen Gesichter, die entweder völlig ruhig oder enorm expressiv und für jede Übertreibung offen sind (ebd. 13). In fast allen Kulturen ist die ruhige Gesichtsmaske als Entsprechung zur expressiven Variante zu sehen (ebd. 35). Bei dem Versuch, die Bilder zu lesen, ist dies als Hintergrund, dass die frühlatènezeitlichen Bilder sich gleichfalls dieser Systematik bedienen und Teil eines universalen Phänomens sind, zu bedenken. Unter der Prämisse, dass vorgeschichtliche Bilder mit Menschendarstellungen grundsätzlich religiöser Natur sind (Huth 2003: 271) und Bilder prinzipiell erzählen (ebd. 11), ist ein Ansatz zu ihrem Verständnis gegeben. Im Einklang damit steht das Ergebnis der 2014 publizierten Dissertation von Jennifer M. Bagley, die ein Gesamtkompendium der frühlatenezeitlichen figürlichen Kunst vorlegte die Bilder als Mittel der Kommunikation aber auch Distinktion fasst (Bagley 2014). Für eine vorgeschichtliche Kultur können mythologische und reli­giöse Vorstellungen in ihrem Inhalt nicht geklärt werden, so Bagley (ebd. 13– 15). Die bisherige Latène-Forschung klammert die Frage des Inhalts apodiktisch aus, ein Konsens scheint darin zu liegen, dass die Bilder nicht narrativ zu verstehen sind (z. B. Megaw, Megaw 2001: 20 –23), sondern Symbole aus

ihrer religiösen Vorstellungwelt beinhalten (Frey 2002: 193). Sabine Rieckhoff (2010) betont hingegen, dass die figürliche frühlatènezeitliche Kleinkunst als „ornamental konzipierte Narrative“ zu verstehen ist, deren Einzelgestalten aus dem „ursprünglichen narrativen Kontext der italischen Vorbilder herausgelöst und neu verfasst“ worden sind. Die damit einhergehenden „inhaltlichen Transformationen“ kennen wir nicht, sicher sei aber, dass das Endprodukt den Benutzern bekannt war (ebd. 220). Dieser Beitrag setzt genau an dieser Stelle an und sucht zunächst Muster in den Bildern, die Impulse geben könnten, welche Inhalte sich in den Bildern verbergen könnten. These ist, dass die Bilder, erkennbar an der Kombination Mensch, Tier, Pflanze, Chiffren1 sind, hinter denen eine Botschaft steht. Der Beitrag unternimmt einen Ordnungsversuch der Gesichter hinsichtlich der mit ihnen vergesellschafteten Elemente. Folgende Kategorien wurden voneinander getrennt: Gesichter solo oder dupliziert, Gesichter in Interaktion mit Tieren sowie Misch­wesen mit anthropomorphen und ­zoomorphen Elementen bzw. Halbwesen. Aus dem Katalog eines aktuellen Verzeichnisses der ­figürlichen Kunst lassen sich 1159 figürlich verzierte ­Objekte fassen (Bagley 2014: 59). Mit einem Wert von 35 % ist ein gutes Drittel der Bilder anthropomorph verziert (Bagley 2014: 210f. Abb. 130). Häufig ist nur ein Gesicht ohne weitere Motive wiedergegeben. Ein Beispiel 155

hierfür ist die Maskenfibel von Mutterenz-Holder­stüdeli (Müller 1979), die ein menschliches Gesicht in Frontalansicht zeigt. Wie für die frühkeltische Kunst typisch ist sie doppelt lesbar, d. h. von der Seite her betrachtet lässt sich ein „tierisches Wesen mit schwerfälliger Schnauze“ (Müller 1979: 167) erahnen. Trotz der Vielzahl von Gesichtern sind Abbildungen ganzer Menschenfiguren selten, wie jene aus Manetin Hrádek (Bez. Plzeˇn-sever) (Soudská 1968: 451ff.) und ein Beispiel von Dürrnberg (Hallein) Grab 134 (nach Katalog der Glauberg-Funde: In: Baitinger, Pinsker 2002: 280f.). Auf die Präsenz des anthropomorph zu erkennenden Gesichts wird aber Wert gelegt. Im Falle des Neufundes einer Maskenfibel im Bereich der Donau unterhalb der Heuneburg (Lkr. Hundersingen) (Beilharz, Krausse 2012: 206 Abb. 258) sind sogar drei identische menschliche Gesichter auf einer Fibel zu finden. Viele Gesichter stehen in Zusammenhang mit Tierdarstellungen. Anlass genug, darin eine Interaktion von Mensch und Tier zu vermuten. Nachvollziehbar ist dies im Falle der figürlichen Fibel vom Glauberg (Wetteraukreis) Hügel 1 Grab 1 (Frey, Herrmann 1997: 242 Abb. 243). Hier nähert sich ein pferdeartiges Fabelwesen einem menschlichen, bärtigen Gesicht. Bei der Maskenfibel von Berlin-Niederschönhausen (AuhV 3,9 1881, Jacobstahl 1944: Nr. 308.) stehen zwei wie aufgeklappt präsentierte Gesichter einem Widderkopf gegenüber. Das dem Widder zugewandte Gesicht zeigt noch einen im Relief zu erkennenden Körper. Die Tatsache, dass das Tier den Menschen berührt, muss eine Bedeutung narrativer Art gehabt ­haben.Vermutlich ergab sich die Bedeutung in Form von ­Anspielungen dem damaligen Betrachter zu erkennen. Häufig belegt sind auch Mischwesen, die anthropomorphe und zoomorphe Elemente auf einem Gesicht vereinen. Überwiegend handelt es sich um menschliche Gesichter, die mit Tierohren versehen sind, so in Kleinmittersdorf (Lkr. Neumarkt, Opf.) (Beltz 1911: 703 Kat. 68). Bei dem verzierten bronzenen Gürtelverschluss, der mit zwei Pferdchenfibeln und zwei Vogelkopffibeln vergesellschaftet ist, war diese Zusammenstellung Indiz für die Bestattung einer weiblichen Person (Metzner-Nebelsick 2007: 717f.). Für einige dieser Bilder mit Mischwesen hat Matthias Jung (2009) die Deutung der Mischwesen als Gestaltwandler über Parallelen der antiken Kunst diskutiert. Die Maskenfibel aus Parsberg (Lkr. Neumarkt) könnte so ein 156

Wesen mit wechselnder Gestalt meinen. Zuoberst positioniert sich ein menschliches Gesicht mit weit geöffneten Augen, darunter sein Pendant, jedoch unverkennbar etwas abweichend gestaltet. Im Augenbereich ist das Gesicht noch identisch, aber die spitzen Ohren (häufig als Hinweis auf einen Silen oder Satyr gedeutet: Nortmann 2006: 243–245 bes.Anm. 10) und der weniger runde Wangenbereich sowie das Fehlen eines Kinns dokumentieren tierische Züge. Unterhalb findet sich wieder eine aufgeklappte Darstellung eines Fabelwesens, das Jacobsthal an einen Greif erinnert, aber auch Ähnlichkeiten zu griechischen Sphingen zeige ( Jacobstahl 1944: 42). Dieses Wesen, mit spitzen Ohren und Augen dem menschlichen Satyrgesicht ähnlich, ist nicht menschlich. Das Objekt vereint somit Mensch, Halbwesen und Fabelwesen, und dies in einer Rangfolge von oben nach unten. Dies macht plausibel, dass der Moment der Verwandlung oder eine Anspielung auf das Potenzial zur Verwandlung gemeint sein könnte. Die Erscheinung – Mischwesen – wird bisweilen auch als Halbgesicht/er bezeichnet (Guggisberg 2000: 170). Auf dem Nackenteil der drei Halsringe E 1, 2 und 3 des Goldschatzes von Erstfeld (Kt. Uri) sind jeweils zwei frontal aus dem Ring herausblickende Masken (A/K bzw. A/J) angeordnet. Augen und Nase sind anthropomorph dargestellt ( Jacobstahl 1944: Abb. 37). Hingegen sind die wulstigen Brauenbögen und die spitzen Tierohren zoomorph. Guggisberg betont, dass sie als einziges Element der Bildkomponenten in Erstfeld in Frontalansicht wiedergegeben sind und so bei entsprechender Ausrichtung in direkteren Blickkontakt mit dem Betrachter treten ( Jacobstahl 1944: 170). Keineswegs ist dies zufällig sondern gewiss gewollt und hat folglich Konsequenzen für ihre Interpretation. Ein wiederkehrendes geradezu musterhaftes Phänomen der frühlatenezeitlichen anthropomorphen Kleinkunst ist die Kombination der Elemente Mensch, Tier und Pflanze. Ein Beispiel für diese Motivkombination ist der eiserne Achsnagel aus St. Pölten-Unterradlberg (VB St. Pölten) (Megaw, Megaw, Neugebauer 1989: 492 Abb. 14.15.1). Ein menschlicher Kopf, von einer aus seinem Kopf herauswachsenden Lotosblüte bekrönt, wird beiderseits von S-Schleifen mit je zwei Vogelköpfen umrahmt. Das menschliche Gesicht zeichnet seine großen Augen wie auch die nach unten auslaufende Mundpartie aus. Die flankierenden Vögel sind antithetisch ausgeführt. Insgesamt sind vier dieser Köpfe zu erkennen. Obgleich

sie den menschlichen Kopf umrahmen, ist kaum Spannung im Bild zu erkennen. Weder Mensch noch Tier scheinen in Gefahr zu sein. Ebenfalls Vertreter der Kombination Mensch, Tier Pflanze ist die Gürtelschließe aus dem Prunkgrab von Weiskirchen (Lkr. Merzig-Wadern) (Abb. 3). Es zeigt mittig in Frontalansicht ein Gesicht. Es wird von vier Fabelwesen umrahmt, deren Gesichter mit dem mittleren fast identisch sind. Ob menschlich oder tierisch ist kaum zu entscheiden. Paul Jacobsthal spricht von zwei Greifenpaaren, wobei die äußeren als Akrotere fungieren ( Jacobsthal 1944: 42). Er erwähnt, dass sie zurückblicken, ein Detail, das in der frühlatènezeitlichen Kunst regelmäßig auftritt (z.B. bei den Sphingen auf der Schnabelkanne vom Glauberg, auf dem Fries auf der Linsenflasche von Matzhausen)2. Die Fabelwesen tragen, und das ist typisch wie auch merkwürdig, teils Schnabelschuhe an den Füßen und ihre Köpfe sind dem mittigen Kopf zu- bzw. abgewandt. Jeweils die beiden Äußeren zeigen im Bereich der Wange eine Andeutung eines Bartes. Ist dies ein Indiz für eine gerade beginnende Verwandlung vom Mensch zum (gefährlichen) Raubtier oder Fabelwesen? Die Darbietung der Fabeltiere belegt, dass hier die Regeln perspektivischer Darstellung ignoriert werden3. Diese Darstellungsart bezeichnete Emma Brunner-Traut in der altägyptischen Kunst als „Aspektive“ (BrunnerTraut 1963; Brunner-Traut 1990). Kennzeichnend seien flächig ausgebreitete bzw. „umgeklappte“ Bilder, deren einzelne nebeneinandergestellte Teile ein Gesamtbild ergeben.Aspekt um Aspekt gelesen wird der Gegenstand im schrittweisen Erfassen der Teile greifbar (Brunner-Traut 1990: 13). Die Arbeit Brunner-Trauts geht auf H. Schäfers „Geradevorstelligkeit“ zurück. Im Mittelpunkt steht die Wechselansicht der Bilder. Das Auge soll die Bilder nicht wie gewohnt in Zentralperspektive sondern als in Flächen gegliedert betrachten. Die neuere ägyptologische Forschung schlägt den Begriff „Objektive“ für das Gesamtsystem der Darstellungsweise vor (Vomberg 2004: 54; Stadler 2009: 19-21). Hier wird der Begriff „aufgeklappt“ bevorzugt, weil er wertfrei ist und dem französischen Pendant „dépliage“ nach Laurent Oliver (2008: 115) nahe kommt. Warum allein die Fabeltiere in dieser Weise dargestellt werden, ist eine berechtigte Frage.Wenn dieses Bild mehrere Ansichten auf demselben Gegenstand in einem Bild vereint, wären zwei Sphingen4 gemeint, die aus zwei Blickwinkeln abgebildet werden, wie Olivier bereits nahelegte. Das Einrahmen des Kopfes wird häu-

Abb. 3: Gürtelschließe aus Weiskirchen (LM Trier Foto: Th. Zühmer).

fig „Flankieren“ genannt und gilt als Kennzeichen des Denkmodells „Herr der Tiere“. Gedeutet werden könnte das Bild als Gestalt in verschiedenen Ansichten und mit zweifacher Gestalt bzw. in Metamorphose befindlich. Die viermal präsenten Sphingen könnten zwei meinen oder es wurde bewusst Wichtiges verdoppelt. Eine Verdoppelung ist nicht nur Verstärkung sondern soll auch Doppel– sinnigkeit der Aspekte der Darstellung betonen (Crestu 1968: 43; „Seriation immer gleicher Motive“ siehe Huth 2003: 290). Die Weiskirchener Gürtelschließe ist somit einerseits als Gestaltwandler vorstellbar, andererseits ist auch das Flankieren der Fabelwesen auf den Kopf aussagekräftig, lässt dies doch eine Art Schutzgedanken zu. Die Bilder geben somit Gelegenheit, sich über ihre Botschaften konkret Gedanken zu machen.Außerdem soll der Blick darauf gelenkt werden, inwieweit Aussagen möglich sind, ob die Gegenstände selbst zu Lebzeiten getragen wurden oder allein für Grab bzw. Deponierung angefertigt wurden. Zuletzt muss sich dem Aspekt der Inszenierung eines Grabinhabers gewidmet werden. Botschaften Die Frage nach den Botschaften der Bilder wurde als Desiderat der Forschung benannt (Frey 2012: 39). Dass diese Bilder für den Betrachter eine Botschaft enthielten, steht außer Frage. Aber um welche Art von Mitteilungen 157

es sich gehandelt haben könnte, klammert die Forschung weitgehend aus. Bisweilen wird den Bildern ein apotropäischer Charakter attestiert, z. B. im Falle der figürlichen Fibeln (Binding 1993: 12; Bagley 2014: 280). Die Inhalte zu rekonstruieren, erfordert eine systematische Analyse auf technischer Ebene, die wertfrei erfolgt und auf bisherige Denkmodelle (z. B. Herr/in der Tiere) zum Zwecke einer Unvoreingenommenheit, soweit dies möglich ist, verzichtet. Sich durchziehende Muster erlauben Schlüsse zu den Botschaften der Bilder. Die frühlatènezeitliche Kunst galt gemeinhin als nicht erzählend (Frey 2002: 193), neuerdings wird ihre narrative Funktion ausgesprochen (Rieckhoff 2010). Die Verbindung oder Gegenüberstellung der Gesichter zu Fabelwesen lässt klar erkennen, dass es sich um eine Begegnung von Mensch und Tier handelt, die mythologischer Natur gewesen sein kann und mündlich vielleicht auch gruppenspezifisch tradiert wurde. Die Botschaften der Bilder zu entschlüsseln, kann in der Weise erfolgen, indem die Bilder systematisch zerlegt ­werden und auf die Wechselwirkung der Elemente zu einander geachtet wird, z. B. Mimik, Körperhaltung/ Gestik. Wenn Erkenntnisse aus Kulturanthropologie und ­Psychologie einbezogen werden, können neue Impulse zur Deutung der Bilder gewonnen werden. Ethnologisch wie humanethologisch nachgewiesen ist, dass bestimmte Gesichtsausdrücke in allen Kulturen gleichbedeutend sind (Eibl-Eibesfeldt 1992: 58; Ekman 1974: 128). Es sind jene Gesichtsausdrücke, welche die Basisemotionen spiegeln, also Freude, Trauer, Wut, Ekel, Angst und Überraschung. Mimik unterteilten die Psychologen und Anthropologen Paul Ekman und Wallace V. Friesen in „action units“ (FACS: Facial Action Coding System, nach Ekman 1978). Aufgerissene Augen, wie häufig bei den frühlatènezeitlichen Gesichtern erkennbar (z. B. Parsberg, Abb. 1), sind beispielsweise ein Indikator für Angst und ein nach unten geneigter Mund, wie plastisch am Beispiel der Statue vom Glauberg zu erkennen, steht kulturunabhängig für Traurigkeit (Ekmann1988: 52f. Tab. 1.1). Humanethologische Forschungen belegen, dass das Motiv z. B. des angstverzerrten Gesichts zeit- und ortsübergreifend an schützenswerten Plätzen (Haus, Sakralbau) zu finden ist (Eibl-Eibesfeldt 1992: 283, 308). Folglich muss ihm eine bestimmte womöglich abwehrende Funktion zugesprochen worden sein. Dies führt zu der Frage, wer anthropomorphe Objekte, wie Fibeln, Ringe, etc. getragen hat. 158

Die Träger Vermutlich sind die mit anthropomorphen Bildern verzierten Gegenstände kein Alltagsgut und wurden zu bestimmten Anlässen getragen, womöglich als Teil eines Festgewandes. Nachdem sie zweifellos einer bestimmten Klientel zugänglich waren, bekommen gewisse Personen sie ins Grab, möglicherweise Angehörige einer Gruppe, die ein bestimmtes Ritual durchlaufen haben oder eine spezifische Rolle innerhalb ihrer Gesellschaft einnehmen. Dass diese Leute nicht mit den in Prunkgräbern Bestatteten identisch sind, wird nachfolgend zu sehen sein. Die wenigen Abriebspuren beweisen, dass die Objekte eher selten getragen wurden. Welche Grabbeigaben zu Lebzeiten in welcher Regelmäßigkeit getragen wurden und welche Güter allein für die Bestattung gefertigt wurden, veranschaulicht das prominente Beispiel der skythischen Prunkbestattung im ­sibirischen Grabhügel Aržan 2. Hier ließ sich erkennen, dass der Goldhalsring häufig, das Pektorale jedoch selten ˇ getragen wurde (Cugunov u. a. 2010: 33, 308.). Die Objekte sind aus Gold, insofern ist es fraglich, ob eine derart dezidierte Aussage auch bei Bronze möglich ist, was in der frühgeschichtlichen Archäologie bei Fibeln erfolgen konnte (Richthofen 1994; Richthofen 2000). Mit bloßem Auge sichtbare Abriebspuren sind bei einer der Maskenfibeln vom Kleinen Gleichenberg (Thüringen, Steinsburgmuseum Römhild) zu erkennen. Sie sind als Siedlungsfunde angesprochen und als abgerieben beschrieben (Neumann 1973: 20). Die Abbildungen zeigen einen Abrieb der Patinierung und sind folglich neuzeitlich und bei der Fundverlagerung entstanden. Häufiges Tragen ist bislang bei einer Maskenfibel in einem Grab in Muttenz-Holderstüdeli erkannt worden, was Spuren einer Reparatur (zwei Nieten) bezeugen (Mueller 1979: 167).Wenn getragen, ist zu postulieren, dass die Fibeln bei besonderen Anlässen zum Einsatz kamen. Dies steht im Kontrast zu hallstattzeitlichen Fibeln, die stark abgerieben und somit über längere Zeit getragen wurden und wohl als Bilder dienten5. Folglich müssen Neufunde hinsichtlich dieser Frage untersucht werden. Paradebeispiel für eine geglückte Untersuchung ist der Goldschatzfund von Erstfeld (Kt. Uri). Hier konnten keinerlei Gebrauchsspuren festgestellt werden, der Ringschmuck ist somit eigens für die Deponierung gefertigt worden (Guggisberg 2000: 277).

Sichtbarer Abrieb kann allerdings im Zuge der Restaurierung verschwinden und somit heute nichts mehr darüber ausgesagt werden. Dies lässt sich über ein Auswerten der Restaurierungsprotokolle klären. Beim Hügel 1 vom Glauberg (Wetteraukreis) sind zu dieser Frage Angaben zu finden. Der goldene Halsring aus Grab 1 „lässt nur geringe Gebrauchsspuren erkennen. Es sind nur wenige Abnutzungserscheinungen an den beweglichen Teilen festzustellen, auch Merkmale häufiger Benutzung wie Kratzer und Schleifspuren sowie abgegriffene Stellen fehlen weitestgehend. Die Gebrauchszeit scheint sehr kurz gewesen zu sein oder das Objekt wurde äußert schonend behandelt“ (Will 2002: 135). Unerwartet waren die zahlreichen Herstellungsfehler, besonders auf der Rückseite. Der goldene Fingerring hingegen (keine anthropomorphe Verzierung) weist an der Außenseite des Ringkopfes eine starke Abflachung des Perldrahtes auf, was belegt, dass der Ring häufig getragen wurde6. Neufunde, wie die Maskenfibel aus dem Hügel 2 vom Glauberg (Hessen), geben ebenfalls eindeutigere Hinweise auf das Tragen zu Lebzeiten, weil „die Nadel mehrereVerbiegungen aufweist. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie mehrfach vor dem Einrasten in den Nadelhalter durch gröberen Stoff oder Textilschlaufen geschoben wurde“7. Abnutzungs- oder Tragespuren der Maskenfibel sind wegen der weit fortgeschrittenen Korrosion der originalen Oberfläche nicht mehr auszumachen. Folglich sind es zwar Stichproben, die Aussagen über die Nutzung der anthropomorph verzierten Gegenstände liefern, dennoch sollte ihnen Beachtung geschenkt werden, denn sie sagen etwas aus, nämlich, dass es sich um besondere Objekte handelt, die kaum getragen wurden, zumindest nicht in den Kreisen, die wir heute als Prunkgräber (zur Definition: Echt 1999: 255–257; grundlegend: Kossack 1974) fassen. Inszenierung Dass die anthropomorphen Bilder im Kontext der Selbstdarstellung des Grabinhabers in Prunkgräbern stehen, wird regelmäßig angesprochen. Eine kulturvergleichende Analyse der Prunkgräber des Zeithorizontes der Frühlatènezeit sieht figürliche Kunst generell als wichtigen ­Aspekt der funerären (Selbst-)Darstellung (Schneider 2012: 136). Der Gedanke an eine Inszenierung wurde auch zuletzt von Bagley geäußert und zwar greifbar, als

dass der Grabinhaber mit Hilfe von Bildern und Grabbeigaben als „Abbild des [vorherrschenden (Krieger-)] Ideals stilisiert“ werde (Bagley 2014: 74). Für die frühe Eisenzeit sah Christoph Huth bestimmte Grabinhaber in der Rolle als „sakrosankter Herrscher“ inszeniert (Huth 2003: 106). Auf die religiöse Dimension der Bilder wird wiederholt hingewiesen, so stehe der religiöse Gehalt der Bilder außer Frage, weil vorgeschichtliche Menschenbilder wohl insgesamt wahrscheinlich Ausdruck religiös-kosmologischer Überzeugungen sind (Huth 2003: 27). Ein inszenatorischer Zusammenhang zwischen anthropomorphen Bildern und Gräbern ist somit zwar konsens­ fähig, was aber heißt dies konkret? Bei den Prunkgräbern, wie am Glauberg, ist es eine Menge an anthropomorphen Bildern (Gürtel: Menschenkopf aus tierischem Maul, Kanne: Mensch zwischen Sphingen, Fibel: Mensch-TierKonfrontation).Wie aber verhält es sich mit solchen Gräbern, die nicht unter die Definition Prunkgräber fallen? Es sind bezeichnenderweise nicht allein elitäre Gräber, die anthropomorph verzierte Gegenstände enthalten, und gleichzeitig sind frühlatènezeitliche Prunkgräber nicht unbedingt mit Bildern versehen. Somit ist eine wichtige Aufgabe, den gemeinsamen Nenner der Gräber mit anthropomorph verzierten Gegenständen zu filtern. Sicherlich diffundierte die in den Zentren der frühlatène­ zeitlichen Eliten (Dürrnberg, Hunsrück) entstandene „Hofkunst“ nach unten, d. h. gesellschaftlich geschah eine Orientierung nach oben (Neunert 2010: 15). Jennifer Bagley nennt dies Nachahmungseffekt (Bagley 2014: 30, 34). Dieses Phänomen äußert sich darin, dass in weniger prunkvoll ausgestatteten Gräbern zwar auch figürliche Kunst mit anthropomorphen Motiven zu finden ist, selten aber komplexe Motivkombinationen, sondern allein das Motiv des menschlichen Gesichts (z. B. Hochscheid Lkr. Bernkastel-Wittlich, Hügel 3 (Haffner 1992: 71 mit Abb. 35.2.). In diesem Fall ist ein den Beigaben (drei Lanzenspitzen, Hiebmesser) nach männlicher ca. 1,8 m großer Mann bestattet. Neben Reinigungsbesteck lag eine Fibel mit anthropomorpher Kopfzier in Ellenbogenhöhe des Skeletts rechts und zwar so, dass die Person selbst das Gesicht nicht erkennen konnte. Das Gesicht lässt einen Schnurr- und Backenbart in Ansätzen erkennen und ist das einzige anthropomorphe Bild auf dem Areal (4 Hügel aus Latène A). Von Interesse mag die Gürtelgarnitur sein. Figürliche Gürtelhaken gelten als Kennzeichen einer kriegerischen Elite.8 Der Befund von Hügel 3 steht 159

im Kontext von vier Hügeln, die jeweils einen bewaffneten Krieger in ihrem Zentrum bergen. In den anderen Hügeln waren neben den Waffen auch Importe (etruskische Schnabelkanne: Hügel 1) belegt. Welche Konsequenzen hat dies? In Prunkgräbern könnte die Vielzahl der Bilder bedeuten, dass hier auf eine vielleicht mythologische Geschichte angespielt wird, über die sich dieser Personenkreis definiert oder abgrenzt. Die Geschichte beinhaltet eine Begegnung von Mensch und Tier, wobei der Grabinhaber von seiner Bestattungsgemeinschaft möglicherweise als Held präsentiert wird. Die mittels der Bilder angespielte Geschichte hat nicht lange überlebt. Die Frühlatènekunst ist in einem kurzen Zeitfenster von ca. 80 Jahren fassbar. Dieses Phänomen lässt sich in das Spannungsfeld zwischen kommunikativem wie auch kulturellem Gedächtnis einordnen und bewerten. Das kommunikative Gedächtnis umfasst einen beschränkten Zeithorizont von drei Generationen und wird sozial und gruppenbezogen vermittelt, sein „Horizont wandert mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit“ (Assmann 1988: 10f.). Hingegen meint das kulturelle Gedächtnis bezogen auf Bildkunst, den eigen-

tümlichen Bestand an Bildern einer spezifischen Epoche, der zur Pflege des Selbstbildes genutzt wird (Assmann 1988: 15). Die frühkeltische Bilderwelt trifft Aussagen über sowohl kommunikatives als auch kulturelles Gedächtnis und verrät vielleicht, warum diese Kunst so kurzlebig war. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen ­Gedächtnis wird von Assmann als „floating gap“ bezeichnet. Damit soll es sich nicht um eine Lücke als vielmehr um ein Aufeinandertreffen handeln, wodurch auch ein ­Nebeneinander der beiden Gedächtnisformen möglich sei (Assmann 2007: 48f.). Resultat dieser „floating gap“ ist für diesen Fall eine Kunst voller Chiffren und Anspielungen, die der archäologischen Forschung Rätsel aufgibt, weil sie wohl eben nur einem bestimmten Personenkreis zugänglich war und ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht weiter tradiert wurde. Damit wäre auch erklärt, warum sich in anderen Gräbern häufig nur noch einzelne Elemente, sprich allein das menschliche Gesicht, finden lässt. Das Wissen um die gesamte Geschichte ging verloren, einzig das menschliche Gesicht wurde noch als bedeutungs­geladen weitertradiert.

Anmerkungen 1 L. Olivier verwendete bereits den Begriff Chiffren für die frühlatènezeitliche Bildkunst, siehe Olivier 2008. 2 Weitere Beispiele aus der Situlenkunst siehe Frey 2004: 116. Zum rückblickenden Tier siehe Behrens 1952. 3 Bereits von Laurent Olivier ebenso erkannt, siehe Olivier 2008. 4 Bagley spricht die Wesen im Sinne einer syntaktischen nicht interpretierenden Weise als Mischwesen mit zoomorphem Körper und anthropomorphen Kopf an, siehe Bagley 2014: 237, 454.

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5 Freundliche Auskunft Dr. B. Glunz-Hüsken. 6 Geilenkeuser in Bartel 2002: 138. 7 Freundl. Information von A. Ulbrich, Restauratorin Wiesbaden, 10.06.2013. 8 Entsprechende Gürtelhaken gelten als ein Attribut keltischer Kriegertracht in Oberitalien und der Champagne, siehe Frey 2002: 56.

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Menschen- und Hausdarstellungen der älteren Eisenzeit: einige Überlegungen Roberto Tarpini

Zusammenfassung Dieser Beitrag bespricht die figürlich-symbolische Verzierung einer Olla aus Grab 97 der Nekropole von Fossa, nahe L‘Aquila, Abruzzo, Mittelitalien (männliche Körperbestattung, 3. Viertel 7. Jahrhundert v. Chr.). Unter der Schulter des Gefäßes wechseln sich vier menschliche (weibliche?) Figuren mit erhobenen Armen mit Symbolen, die scheinbar einen „Dolch“ (?) und „Kämme“ oder „kammförmige Anhänger“ (?) darstellen, ab. Das Dekorationsprogramm lässt viele interpretative Fragen offen, sowohl bezüglich der Form als auch des Inhaltes, und erlaubt so alternative Interpretationen. Grundsätzlich scheint es ein gutes Beispiel für die unerschöpfliche Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation antiker figürlicher Darstellungen zu sein, nicht zuletzt wegen der formellen Unklarheit und Polysemie vieler Beispiele, die aus einem aus heutiger Sicht bestenfalls nur fragmentarisch rekonstruierbaren Kontext entstanden sind, in dem sie mit ihrer einstigen symbolischen Bedeutung belegt wurden. Für die schriftlosen Kulturen der späten Bronze- und frühen Eisenzeit fehlen weitgehend Kenntnis der nötigen Entschlüsselungscodes sowie direkter Zugang zu den entsprechenden Bildkonventionen. Dies führt immer wieder zu „neuen“ Interpretationen für bestimmte Darstellungen. Im Mittelpunkt steht hier besonders die Interpretation der sogenannten dreieckigen „Kammsymbole“. Verschiedene Vorschläge (Kämme oder kammförmige Anhänger? Webkämme? Häuser oder Hütten?) werden auf Grundlage von Belegen aus dem weiteren und engeren archäologischen Kontext diskutiert. Im zweiten Teil dieses Beitrags wird den italischen Hausdarstellungen, hauptsächlich denen in Verbindung mit menschlichen Figuren, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Hierzu werden mehrere auf unterschiedlichen Medien (Keramik, Hausurnen oder -modellen, Holzobjekten, Steinstelen, Felsritzungen, etc.) vertretene Beispiele der späten Bronze- und frühen Eisenzeit verwendet, um die Vielfältigkeit dieser Erscheinungsform deutlich zu machen. Hausdarstellungen sind nur selten auf Protovillanova-, Villanova- oder orientalisierender Keramik vertreten oder werden wegen ihrer betont geometrischen Stilisierung nur selten wahrgenommen. Dies trifft noch verstärkter auf die Keramik der transalpinen Hallstattkultur zu. Am Beispiel italischer Parallelen (Holzthron von Verucchio, Felsritzungen des Valcamonica, etc.), wird die Vermutung aufgestellt, dass in der reichen geometrischen und symbolischen Verzierung der Hallstattkeramik, insbesondere in einigen komplizierten dreieckigen oder eckigen Figuren aus dem Bereich der nordöstlichen Alpenregion oder Nordostbayern, auch als stilisierte Hausdarstellungen erkannt werden könnten, die in bestimmten ikonographischen Kontexten beispielsweise in Kombination mit anthropomorphen, zoomorphen, pflanzlichen oder kosmologischen Elementen „lesbar“ werden. 163

Summary This contribution discusses the figurative-symbolic decoration of an olla from grave 97 of the necropolis of Fossa, near L’Aquila, Abruzzo, Central Italy (male inhumation; third quarter 7th century BC). Below the shoulder of the vessel four human (female?) figures with raised arms alternate with symbols, seemingly representing a “dagger” (?) and “combs” or “comb-pendants” (?). The decorative program leaves several interpretative questions unanswered, in both form and content, allowing alternative proposals. More generally, it seems a good example for the inexhaustible discussion about possibilities and limits of interpretation of antique figural representations, due not at least to the formal ambiguity and polysemy of many of them, which arose in a for today’s viewer at best only fragmentary reconstructable context, where they were provided with their original symbolic meaning. For the Late Bronze Age or Early Iron Age non-literate cultures the necessary decryption keys and the direct access to the corresponding image conventions are largely lacking, which leads over and over to “new” interpretations for certain motifs. Our attention focuses particularly on the interpretation of the so-called triangular “comb-symbols”. Different proposals (combs or comb-pendants? weaving-combs? houses or huts?) are discussed on the basis of the evidence both of broader and tighter archaeological context. Special attention is given in the second part of the contribution to the Italic house representations, mainly to those related with human figures, using several examples of the Late Bronze and Early Iron Age on different media (ceramics, house urns or models, wooden objects, stone steles, rock carvings, etc.), in order to document the variability of the manifestations. House motifs are still rare on Protovillanovan,Villanovan or Orientalizing ceramics or are rarely perceived due to their accentuated geometrical stylization. This applies even more to the pottery of transalpine Hallstatt culture groups. Also with the help of Italic parallels (wooden throne of Verucchio, Camunnian Rock Art, etc.), the assumption is formulated that in the rich geometric and symbolic decoration of the Hallstatt ceramics, especially in some elaborate triangular or angular figures from the area of the Northeast Alpine region or Northeast Bavaria, could also be recognizable stylized house representations, which may become “readable” in particular iconographic contexts, for example in combination with anthropomorphic, zoomorphic, vegetable or astral elements.

Die Besprechung des Verzierungsprogramms eines Ton­ gefäßes aus dem Gräberfeld von Fossa, bei L’Aquila in den Abruzzen, Mittelitalien (Abb. 1,A), will hier Anlass für einige Überlegungen zur Deutung vorgeschichtlicher figural- und symbolverzierter Dokumente sein. Das 1996 von V. D`Ercole ausgegrabene Grab 97 von Fossa lag unter einem kleinen Stein-Erdgrabhügel (Durchmesser 4,60 m, Höhe 0,50 m) und beinhaltete eine männliche, schlecht erhaltene, SO-NW orientierte Körperbestattung (Alter 21–31) (Abb. 1,B). Zum Grabinventar, das in das dritte Viertel des 7. Jh. datiert worden ist, gehörten ein Eisendolch samt -scheide, zwei eiserne Speerspitzen und -schuhe, drei eiserne Omega-Haken und eine ovoide Olla in rotem Impasto mit einer Bucchero-Ko164

tyle im Inneren (Benelli 2004: 43–4, Abb. 18, Taf. 22–3) (Abb. 1,C). Die Olla mit ausladendem Rand, einziehendem Hals und vier durchlochten Schulterknubben zeigt am Hals und am Schulter-Bauchbereich eine etwas grob ausgeführte Ritzverzierung: am Hals ein zweibändiges, unregelmäßiges Zickzack-/Winkelmuster, unter der Schulter vier große, stilisierte Menschenfiguren mit nach oben abgewinkelten Unterarmen und erhobenen Händen, sanduhrförmigem Körper und unten gesäumtem rock- oder hosenartigem Gewand, dazwischen, etwa auf Schulter­ höhe der Menschenfiguren, vier kleinere Dreieckszeichen, eines mit einem griffartigen Ansatz und drei mit einem Bündel paralleler Senkrechtstriche unten, die E.

Abb. 1:  Fossa, Prov. L`Aquila (I), Grab 97 (B: nach Benelli 2004: Abb. 18; C: nach Benelli 2004: Taf. 22) (Umzeichnung: R. Tarpini).

Benelli (2004: 44–5, Taf. 23) respektive als „Dolch?“ und „Kammanhänger?“ deutete (Abb. 2). Im Folgenden werden dafür die Hilfstermini „Dolchsymbol“ und „Kammsymbol“ verwendet, die sich einerseits auf die symbolische Funktion der Zeichen, andererseits auf deren formalen Aspekt beziehen, ohne sich zunächst auf eine genauere semantische Interpretation festlegen zu wollen. Durch den roten Impasto, der in der Region um L’Aquila bis in die zweite Hälfte des 7. Jh. v. Chr. fortdauerte, wurden in Mittelitalien Prestigegefäße gezielt hervorgehoben; außerdem kam im 7. Jh. v. Chr. der Olla – traditioneller Behälter für zeremonielle Spenden – eine wichtige Rolle als Träger „erzählender“ Darstellungen zu (Chiaramonte Treré 2011: 141–2). Das Verzierungsprogramm der Olla aus Grab 97 von Fossa lässt formal wie inhaltlich viele Fragen offen, auf die man versuchen wird, näher einzugehen. Unsere Aufmerksamkeit dient vor allem den „Kammsymbolen“ und deren gängigen Interpretation als Kammanhängerdarstellungen (z. B. Weidig 2014: 417). Zunächst soll untersucht werden, was der breitere und der engere archäologische Kontext dazu beitragen kann. In Fossa treten bronzene Kammanhänger mit drei­ eckiger oder trapezförmiger Griffplatte, kurzen, aus dem Bronzeblech ausgeschnittenen Zinken, die beiden äußersten jeweils breiter und rechtwinkelartig, sowie zumindest eine kleine Öse an der oberen Spitze nur dreimal auf (Cosentino, D’Ercole, Mieli 2001: 165–7,Taf. 70,1A–B): in

Abb. 2:  Fossa, Prov. L`Aquila (I), Grab 97. Verzierte Olla (nach Benelli 2004: Taf. 23).

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Abb. 3:  Fossa, Prov. L`Aquila (I), Grab 97: 1–3. Kammanhänger aus Bronze (nach Cosentino, D’Ercole, Mieli 2001: Taf. 24,6, 27,4, 13,12); 4. Kammanhänger aus Eisen (nach Benelli 2004: Taf. 130,3) (Umzeichnung: R. Tarpini).

Grab 57, weiblich, Alter 20–30 (Abb. 3,1); Grab 86, Alter 5–9, männlich wegen Schwertbeigabe (Abb. 3,2); Grab 11, männlich wegen Schwert- und Lanzenbeigabe (Abb. 3,3) (Cosentino, D’Ercole, Mieli 2001: 61–3, 85-8, 92–3). Die Beigabe eines eher weiblich konnotierten Kammanhängers im Grab eines männlichen Infans soll aufgrund des jungen Alters des Bestatteten nicht weiter überraschen (Camporeale 2003: 228). Bronzene Kammanhänger mit dreieckiger Griffplatte treten in verschiedenen Kontexten der zweiten Hälfte des 8. und zu Beginn des 7. Jh. v. Chr. auf: in den Abruzzen in den Gräberfeldern Fossa, Castelvecchio SubequoLe Castagne und Barisciano (Cosentino, D’Ercole, Mieli 2001: 166–7), und in den Marken in Matelica und Pieve Torina; außerdem in Bologna, Bolsena,Veji, Praeneste oder Sarteano. Ein Verbreitungsschwerpunkt liegt jedoch eindeutig am unteren Tiber, im agro falisco-capenate (Falerii Veteres, Capena, Narce), wo möglicherweise die Werkstattzentren zu suchen sein sind (Camporeale 2003: 227, Anm. 84; Weidig 2014: 416–7). Bronzekammanhänger sind auch von der östlichen Adria, von Histrien, bekannt, womöglich im Zusammenhang mit pikenischen Einflüssen stehend (Mihovili´c 2013: 202–9). Grab 57 (zweite Hälfte 8. Jh. v. Chr.) sticht unter den Gräbern mit Kammanhängern aus Fossa durch den Beigabenreichtum und das Bestattungsritual – die Körper166

bestattung im Baumsarg – heraus (Cosentino, D’Ercole, Mieli 2001: 85–8). Nach G. Camporeale (2003: 227–8) dürfte die Beigabe des „exotischen“ Kammanhängers die Zugehörigkeit der Frau zu einer spezifischen kulturellen und ethnischen – faliskischen – Identität bzw. deren Integration in das lokale Milieu zum Ausdruck gebracht haben und wäre möglicherweise mit einer exogamen Heiratsbeziehung in Zusammenhang zu bringen; die ebenfalls auf das Faliskergebiet oder den Latium hinweisende Baumsargbestattung würde dieses Bild untermauern. Sind solche identitätsbezogenen Überlegungen auch auf das Verzierungsprogramm der Olla aus Grab 97 übertragbar? Voraussetzung dafür wäre zumindest eine erkennbare formaleVerbindung zwischen Zeichen/Symbol und Objekt/Signifikant, sonst bleiben die Zeichen für uns „unlesbar“. Die ursprüngliche Verbindung zwischen Symbol und Objekt ist durch eine Interpretation hergestellt worden, in der das Symbol seine Bedeutung/Signifikat erhalten hat (Burmeister 2003: 266–8). Die Interpretation der Zeichen könnte deshalb theoretisch auch auf bildlichen Konventionen beruhen, ohne kausale Verbindung zwischen Form der Zeichens und des Objektes. Eine formale Verbindung zwischen Symbol und Objekt ist demnach für die Interpretation, durch die das Symbol seine Sinnzuweisung erhalten hat, nicht zwingend erforderlich (Burmeister 2003: 271). Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Zeichen und entsprechenden Objekten ist in unserem Fall durchaus vorhanden, eine eindeutige formale Verbindung und Identifikation ist jedoch meines Erachtens weder für die kamm(anhänger)artigen noch für das dolchartige Symbol gegeben. Bei genauerem Vergleich fällt zum Beispiel auf, dass die Zinken der Kammanhänger meist deutlich kürzer sind als in den Zeichnungen aus Fossa, wo auch die charakteristischen Hängeösen fehlen, was aber auch auf die flüchtige Darstellungsart zurückgeführt werden kann. Kamm- bzw. Kammanhängerdarstellungen sind soweit bekannt eher unüblich im ältereisenzeitlichen italischen Motivschatz, was jedoch nicht automatisch als Gegenargument angewendet werden soll. Kammdarstellungen sind durchaus von anderen Kulturräumen bekannt, zum Beispiel von der nord- und mittelpolnischen Gesichtsurnenkultur, mitVerbindungen zu Schlesien, Mitteldeutschland und Skandinavien (Kneisel 2007: 590, 595, Abb. 7; 2012: 284–91). In Fossa treten bronzene Kammanhänger nur in einer

Abb. 4: Ältereisenzeitliche italische Spinn- und Webdarstellungen: 1. Bologna, „Tomba degli Ori“, bronzenes Tintinnabulum (nach Morigi Govi 1971: Taf. LII, LIV); 2.Verucchio, Grab Lippi 89/1972, hölzerne Thronlehne (nach Boiardi, von Eles 2002: Abb. 127); 3. daunische Steinstele (nach D´Ercole 2000: Abb. 1) (Umzeichnung: R. Tarpini).

älteren Belegungsphase (zweite Hälfte 8. Jh. v. Chr.) auf; aus der orientalisierenden Phase, zu der Grab 97 gehört, ist ein einziger Kammanhänger aus Eisen bekannt (aus Grab 399, erste Jahrzehnte 6. Jh. v. Chr.; Benelli 2004: 160, Taf. 130,3), der sich stärker von den hier besprochenen „Kammsymbolen“ unterscheidet (Abb. 3,4). Die Waffenbeigabe konnotiert Grab 97 eindeutig als männlich und über das „Dolchsymbol“ scheint zumindest auf einer unmittelbaren Deutungsebene eine gewisse „Verankerung“ zur Grabausstattung zu entstehen. Nur die Verzierung der Olla mag, der gängigen Interpretation der Einzelelemente folgend, überwiegend „weiblich“ wirken. Hielte man an der Deutung als Kammanhängerdarstellung fest, so könnte das „Kammsymbol“ theoretisch als symbolischer Ersatz für die fehlende Kammanhängerbeigabe gedeutet werden (aber Achtung, die fehlende Kammanhängerbeigabe kann allerdings ebenso gut gegen eine Deutung als „Kammsymbol“ angewendet werden!). Führte man diese Gedankenspielerei weiter, so kämen möglicherweise durch das „Dolchsymbol“ eine männliche (einheimische?), durch die „Kammsymbole“ eine

weibliche (fremde?) Komponente zum Ausdruck; ginge man noch einen Schritt weiter, so könnte das „Dolchsymbol“ den bestatteten Mann, das „Kammsymbol“ eine im Grabritual sonst „unsichtbare“ bestattende (?) Frau konnotieren. Der Dolch und der Kammanhänger als materielle und/oder immaterielle Zeichen wären somit im Grabritual als komplementär zu betrachten, vorausgesetzt, es bestehe ein direkter – expliziter oder impliziter – Zusammenhang zwischen Verzierung und Bestattung, der jedoch meist nicht eindeutig zu belegen ist. Obwohl für die ältereisenzeitliche Grabkeramik oft angenommen wird, dass zumindest ein repräsentativer Teil davon speziell für den Grabbrauch angefertigt worden sei, stellt sich die Frage, ob ein bestimmtes Gefäß samt Verzierung intentionell für eine bestimmte Bestattung hergestellt worden sei. Dies mag vielleicht in einigen Fällen möglich sein, kann jedoch nicht allgemein angenommen werden, schließlich können bei der Gefäß- bzw.Verzierungswahl auch andere, zum Beispiel rein ästhetische, Komponenten mitgewirkt haben.Anhand des Fundkontextes sind solche Fragenstellungen leider meist nur bedingt zu beantworten. Außerdem ist zu beachten, dass „Geschlecht“ der Verzie167

Abb. 5: Verucchio, Prov. Rimini (I), Grab Lippi 89/1972, hölzerne Thronlehne mit Figuralverzierung (nach Boiardi, von Eles 2002: Taf. XXVI (A), Abb. 120–1, 123, 126–8 (B)) (Umzeichnung: R. Tarpini).

rung und Geschlecht der/des Bestatteten nicht unbedingt übereinstimmen müssen. Das Kegelhalsgefäß aus Tumulus 27 (neu 128) von Sopron-Várhely (Abb. 6,1) wie das bronzene Tintinnabulum aus der „Tomba degli Ori“ von Bologna (Abb. 4,1), beide mit inhaltlich „weiblich“ geprägten Web- und Spinnszenen, stammen aus anthropologisch bestimmten Frauenbestattungen (Jungwirth 1966: 471–2; Morigi Govi 1971: 228); der ebenfalls überwiegend mit „weiblichen“ Bildthemen verzierte Holzthron von Grab 89/1972 Lippi von Verucchio (Abb. 5) hingegen aus einer archäologisch bestimmten Männerbestattung (Torelli 1997: 73–4). Es besteht offensichtlich kein zwingender kausaler Zusammenhang zwischen der interpretativen „Geschlechtszuweisung“ der Bildinszenierungen und der anthropologischen bzw. archäologischen Geschlechtszuordnung. Die Gründe dafür, dass eine gewisse Darstellung einer bestimmten Bestattung assoziiert werden konnte sind möglicherweise vielfältiger, als wir uns das vorstellen können. M.Torelli (1997: 73–4) nimmt zum Beispiel an, dass der Thron von Verucchio ursprüng168

lich einer Frau gehört habe, um dann als Erbstück zur Betonung des persönlichen Status in das Grab desVerstorbenen zu gelangen (kritisch dazu Huth 2003: 211–3). Schwer zu beurteilen ist auch, in welchem inhaltlichen Verhältnis „Dolch-“ und „Kammsymbole“ zu den Menschenfiguren mit erhobenen Armen stehen. Letztere werden gewöhnlich als Frauen gedeutet (Benelli 2004: 44; Chiaramonte Treré 2011: 142), das hosenartige Gewand lässt jedoch eine Deutung als Männer nicht ganz ausschließen. Die in der in der archäologischen Literatur vielfach diskutierte „universelle“ Haltung mit erhobenen Armen bzw. Händen wird gewöhnlich mit dem Ausdruck von Ausnahmezuständen oder außeralltäglichen Handlungen wie Anbetung, Adoration,Tanz,Trauer oder ähnliche, in Zusammenhang gebracht (dazu z. B. Eibner 1997: 132). Die Menschenfiguren von Fossa können in der Darstellungsform allgemeine Parallelen (nach unten und dann nach oben abgewinkelte Arme, gespreizte Finger, sanduhrförmiger Körperbau) zu den anthropomorphen Figuren der enotrischen (Basilicata, ab 8. Jh. v. Chr.)

oder ferner peuketischen (Zentralapulien, ab Mitte 7. Jh. v. Chr.) geometrisch bemalten Keramik aufweisen (Orlandini 1980: Taf. I–II, IV, 2; De Juliis 1995: Taf. XXXIX, 89, LI, 63). Nähme man an, das „Dolchsymbol“ repräsentiere den Bestatteten und das „Kammsymbol“ die/eine Bestattende, so könnten die Menschendarstellungen auf die Bestattungsgemeinschaft hinweisen. Der ursprüngliche Handlungskontext, in dem diese Assoziation und symbolische Sinnzuweisung entstanden sein könnte, lässt sich bestenfalls nur bruchstückhaft rekonstruieren, weshalb wir uns auf einem sehr schmalen Grat bewegen. Kämme galten als polyfunktionale Gegenstände, die sowohl im profanen als auch religiösen BereichVerwendung fanden (Hansen 2010: 156, Anm. 806). Die Funktion der ältereisenzeitlichen Kämme als Geräte für die Körperpflege oder als Arbeitsgeräte ist nicht immer eindeutig aus dem Fundkontext zu erschließen. Die Verwendung als Anhänger dürfte jedoch auf die starke magisch-symbolische Wirkungskraft dieser Gegenstände sowie ihrer bildlichen Wiedergabe hinweisen (z. B. Buchholz 1985; Berggren 1995; van den Boom 2001). Um weiter im Bereich der Betonung einer hauptsächlich weiblichen Komponente zu bleiben, möchte man hier auch die Möglichkeit ansprechen, ob mit den „Kammsymbolen“ in Fossa nicht etwa Webkämme gemeint sein könnten. Eine solche Anspielung auf die Webtätigkeit nimmt zum Beispiel K. Mihovili´c (2013: 202–7) für die bronzenen Kammanhänger aus Istrien an. Webkämme werden zwar auch für die eisenzeitliche Textilproduktion vorausgesetzt (Grömer 2012: 59–61), sie sind jedoch im archäologischen Befund extrem selten nachzuweisen, da sie meist aus Holz waren. Es ist nicht weiter zu betonen, welche symbolische Bedeutung Textilarbeit und Textilgerät in der älteren Eisenzeit für die Definition der sozialen Identität der Frauen, vor allem hohen sozialen Ranges, gespielt haben, wie die häufige Grabbeigabe von Spinn- und Webzubehör oder die prachtvollen Frauengarnituren im italischen Bereich bezeugen (z. B. von Eles 2007a; Gleba 2011). Es ist daher kein Zufall, dass unter den ältereisenzeitlichen Bilddarstellungen (Ende 8.–7. Jh. v. Chr.) das Spinnen und Weben besonders im Vordergrund stehen. Spinn- und Webdarstellungen treten im ältereisenzeit­ lichen Italien auf unterschiedlichen Medien auf, zum Beispiel auf dem bronzenen Tintinnabulum der „Tomba degli Ori“ in Bologna und dem hölzernen Thron von

Grab Lippi 89 in Verucchio. Auf dem Tintinnabulum sind verschiedene Phasen der Textilarbeit dargestellt: die Vorbereitung des Vlieses und das Spinnen, das Scheren der Kette und das Weben (Morigi Govi 1971: 213–9) (Abb. 4,1). Auf der Thronlehne von Verucchio sind im oberen Fries zweimal zwei thronende Weberinnen an einem großen Webstuhl dargestellt (Boiardi, von Eles 2002: 265–6). Nach G. V. Gentili (1988: 244) und M. Torelli (1997: 58– 61) wären noch weitere Phasen der Textilarbeit zu erkennen: die Schafschur, das Spinnen, das Wollefärben bzw. Wollezupfen (entgegen Boiardi, von Eles 2002: 265-8) (Abb. 4,2; 5,B,1-2). Eng damit verbunden sind die Webund Spinnszenen auf dem Kegelhalsgefäß aus Tumulus 27 von Sopron-Várhely (Eibner-Persy 1980: 135–6, Taf. 16– 7, Beil. 6) (Abb. 6,1). Frühe Webstuhldarstellungen sind auch unter den Felszeichnungen der Valcamonica anzutreffen (Zimmermann 1988). Nicht zuletzt wegen der geografischen Nähe möchte man hier noch besonders auf die „daunischen Stelen“ Nordapuliens, an der unteren Adria, hinweisen (Nava 1980: 9–11, Abb. 2). Die wahrscheinlich im 7. Jh. v. Chr. einsetzenden anthropomorphen Kalksteinstelen werden in zwei Hauptkategorien unterteilt – „mit Waffen“ und „mit Schmuck“ (Nava 1980: 14–26). Verschiedene Stelen sind flächig mit figurativen Darstellungen verziert. Unter den Bildthemen treten mindestens zwölfmal (elfmal auf Stelen „mit Schmuck“) auch Webszenen mit einer thronenden Frau an einem senkrechten Webstuhl auf (D´Ercole 2000: 329–37, Abb. 1–3; Norman 2011: 38–46). Es wird dieVerknüpfung zwischen Stelen „mit Schmuck“, Web- und Prozessionsszenen betont, die möglicherweise Frauenbilder erkennen lässt (Norman 2011: 39–42). M. C. D´Ercole (2000: 334, Abb. 1) unterstreicht den Zusammenhang zwischen Darstellungen und Bestatteten und weist auf eine Stele „mit Schmuck“, an deren Rückseite eine thronende Weberin dieselbe kurzärmlige Weste mit einem Kreuz auf den Ärmeln trägt wie das Porträt der Verstorbenen an der Vorderseite (Abb. 4,3). Man möchte schließlich noch einen weiteren alternativen Deutungsvorschlag für die „Kammsymbole“ von Fossa zur Diskussion stellen, nämlich den, ob es sich dabei nicht um extrem schematisierte Hausdarstellungen handeln könne. Dieser Vorschlag basiert einerseits auf der Form der Zeichen, die grob an Gebäude erinnern mag (Dach- und Pfahlkonstruktion), andererseits auf Überlegungen zur Zusammensetzung des Verzierungsprogram169

Abb. 6:  Sopron (HU), figuralverzierte Tonkegelhalsgefäße: 1. Sopron-Várhely, Hügel 27 (nach Dobiat 1982: Abb. 7); 2. Sopron-Várhely, Hügel 28 (nach Eibner-Persy 1980: Taf. 28–9); 3. Sopron-Várhely, Hügel 80 (nach Dobiat 1982: Abb. 9,1); 4. Sopron-Váris, Hügel 3 (Dobiat 1982: Abb. 12) (Umzeichnung: R. Tarpini).

mes und transkulturellen Vergleichen, wobei man sich insbesondere auf italische Hausdarstellungen der Endbronzezeit und älteren Eisenzeit bezieht, vor allem auf solche in Zusammenhang mit Menschendarstellungen. Die aufgezeichneten Beispiele sollen vor allem diese Assoziation unterstreichen. Menschendarstellungen auf Tongefäßen oder -gegenständen der Protovillanova- und Villanovakultur sowie des Orientalizzante sind keine absolute Seltenheit und sind trotz ihrer Schematisierung bzw. wegen ihrer Standardisierung meist relativ gut erkennen (Zipf 2003: 494–9; Tarpini 2010: 328–31). Explizite Hausdarstellungen dagegen sind äußerst selten oder aufgrund starker Stilisierung nur schwer wahrzunehmen. Als Beispiel wird häufig ein 170

protovillanovazeitliches Askos aus Tarquinia mit stilisierten Menschenfiguren und als Wohn- bzw. Speicherbauten interpretierten linearen Strukturen zitiert (Bartoloni 2002: 75–6, Abb. 3.7). Eine eigene Kategorie stellen die spätbronze- bis früheisenzeitlichen (10.–8. Jh. v. Chr.) tönernen Hausurnen des Latiums und Etruriens dar, die mehrfach mit stilisierten Menschenfiguren verziert sind (Bartoloni et al. 1987; Leighton 2005). Die dreidimensionalen Miniaturhausreproduktionen liefern einen wesentlichen Beitrag zur Kenntnis zeitgenössischer Hausarchitektur, als Ergänzung einer meist spärlichen archäologischen Befundlage (Bartoloni 2002: 121–9). Gleichzeitig gewähren sie auch einen wichtigen Blick in die geistige Kultur der ältereisenzeit­

Abb. 7:  Felszeichnungen der Valcamonica, Prov. Brescia (I), Hausdarstellungen: Campanine di Cimbergo, Roccia 11 (nach Savardi 2007b: Abb. 7); 2. Campanine di Cimbergo, Roccia 7 (nach Savardi 2007b: Abb. 18, rechts).

lichen Bevölkerungen Mittelitaliens, in dem sie eine starke symbolischeVerbindung zum Haus, dem oikos, als privilegierter Ort familiärer und sozialer Handlungen im Grabritual herstellen; wie bei der Anthropomorphisierung der Urnen komme durch die Hausurnenbeigabe möglicherweise eine „magische“ Kompensierung der Körperzerstörung durch das Feuer zum Ausdruck (Bartoloni et al. 1987: 225; Menichetti 1994: 16–7). Die Vereinigung von Haus- und Menschendarstellung in einem Gegenstand verstärkt diese „magische“ Komponente. Auf einigen Hausurnen, vermutlich ausVisentium (9. Jh. v. Chr.), sitzt auf dem Dachgiebel eine plastische Menschenfigur, die möglicherweise den Bestatteten darstellt (Delpino 1977: 177–8; Torelli 1997: 37). Es mag ein symbolisch-ritueller Zusammenhang mit der Beigabe von Statuetten von spendierenden Menschenfiguren in Gräbern mit Hausurnen des 10.– 9. Jh. v. Chr. aus dem Latium bestehen (Müller-Karpe 1959: 52–6,Taf. 11–4;Torelli 1997: 13–24). Auf anderen Hausurnen Etruriens und des Latiums sind neben geometrischen Ornamenten ebenfalls in geometrischer Manier stilisierte Menschenfiguren einzeln, paarweise oder reigenartig eingeritzt (Bartoloni et al. 1987: 225, Abb. 39, 62, 71). Die dicht aneinander gereihten Figuren werden gerne als „choròs“ der Trauernden interpretiert (Torelli 1997: 30–1). Nach F. Delpino (1977: 178) mögen die Giebelfiguren der Visentiner Hausurnen das Binde-

glied zwischen den älteren vollplastischen Statuetten des Latiums und den auf den Hausurnen eingeritzten Menschenfiguren dargestellt haben. Im erweiterten Sinne könnte sich die Assoziation von Menschen- und Hausdarstellung auch in den bikonischen Villanovaurnen mit Dachdeckeln andeuten (Menichetti 1994: 17, Anm. 11), betrachte man die Urnen als anthropomorphisierte Leichenbrandbehälter, obwohl F. Delpino (2009: 154–6) vor einer (zu) generalisierten Interpretation der Urnendeckel als Reproduktionen von Hütten­dächern warnt. In eine ähnliche Richtung dürften auch die als ­Urnendeckel verwendeten Tonhelme mit aufgesetzten Hüttendächern oder mit eingeritzten Dachelementen weisen. Nach F. Delpino (2009: 157) können Anspielungen auf die menschliche Körperlichkeit und auf das Haus auf demselben Gegenstand koexistieren und sich ergänzen: die Assimilierung der Urne und seines Deckels an das Haus bzw. an den Körper der/desVerstorbenen seien als unterschiedliche Ausdrucksformen einer einheitlichen Grabideologie zu betrachten. Eine ähnliche symbolische Verbindung zwischen oikos und Bestattungsritual bringt auch die Sandsteinstele mit Hausdarstellung aus Grab 793 von Bologna, Porta San Vitale (etwa Mitte des 8. Jh. v. Chr.) zum Ausdruck (von Eles 2007b: 83, Abb. 15). Darstellungen von „Hütten“ („capanne“) zählen zu den beliebtesten Bildthemen der eisenzeitlichen Felsritzungen 171

Abb. 8:  Felszeichnungen der Valcamonica, Prov. Brescia (I), Hausdarstellungen: 1. konstruktive Elemente und Makro-Typologien (nach Savardi 2007b: Abb. 2); 2. Beispiele von Dachkonstruktionen (nach Savardi 2009: 293).

der Valcamonica: E. Savardi (2005; 2012) konnte bis 2012 fast 2000 solcher Figuren erfassen (Abb. 7). Die Darstellungen bestehen aus zwei bis vier aufeinandergesetzten geometrischen Elementen: einer unteren, meist schmaleren, rechteckigen „Basis“, in einigen Fällen auf einem horizontalen rechteckigen „Sockel“; einem rechteckigen, horizontalen „Mittelteil“; einem meist drei- oder fünfeckigen „Dach“ (Abb. 8,1). Die unterschiedliche Zusammensetzung und Gestaltung dieser Hauptelemente führt zu einer breiten typo-morphologischen Variabilität (Sa172

vardi 2009; Lopatta 2008–2009: 7–29). Die Darstellungen weisen stets individuelle, oft nur minimal voneinander abweichende Züge auf. Eine besondere Vielfalt zeigen vor allem die Dächer, mit kurzen, rechtwinkelig von der Dachlinie abstehenden Strichen oder oben gekreuzten Firstbalken mit verschiedenartigen Fortsätzen bzw. „Protomen“, über die weiter unten nochmals zu sprechen sein wird (Savardi 2007a: 407, 414, Abb. 2–3) (Abb. 8,2). Die Hausdarstellungen der Valcamonica stehen in enger Konnexion mit Menschenfiguren, vor allem Krie-

gern: Haus- und Menschenfiguren überschneiden sich oder verschmelzen (Savardi 2007a: 409, Abb. 16–7), es ist jedoch oft nicht einfach, deren relativchronologische Abfolge zu rekonstruieren. Nur selten ist die Menschenfigur kohärent proportioniert in eine Hausfigur eingezeichnet (Savardi 2007b: 83–4, Abb. 18) (Abb. 7,2). E. Savardi (2012: 15–6) vergleicht die Hausdarstellungen der Valcamonica mit Speicherbauten, wie sie vom alpinen Bereich bekannt sind, unterstreicht jedoch deren mögliche symbolische Bedeutung (dazu auch Lopatta 2008–2009: 87–8). In Verbindung mit der Hausdarstellung ist jedoch der Holzthron aus Grab Lippi 89 von Verucchio (Ende 8. Jh. v. Chr.) von besonderer Bedeutung. Im unteren Fries konvergieren von links und rechts zwei Zeremonienwagen, jeweils mit einer Frau und einem Mann auf einem Thron, auf ein erhöhtes Podium zu, auf dem zwei Frauen zwischen Kriegern und anderen Figuren eine schwer zu interpretierende rituelle (?) Handlung ausüben: möglicherweise ein Opfer nach G. Kossack (1992: 236) oder A. Boiardi und P. von Eles (2002: 264) bzw. ein symbolischer Austausch von Stoffen in einer Hochzeitzeremonie nach M. Torelli (1997: 68) (Abb. 5, B, 3–4). Interessant ist hier jedoch besonders der obere Fries, in dem neben den zentralen Web- und Spinnszenen auch zwei Häuser mit je zwei davor in einem umzäunten Hof stehenden Frauen, die mit einem Stab in einem Behälter herumrühren oder -stochern, dargestellt sind (Abb. 5, A, 2). Die Szene wird unterschiedlich gedeutet: als Wollefärbung (Gentili 1988: 244),Wollezupfen (Torelli 1997: 58–61),Vorbereitung ­eines Mahls oder Bearbeitung eines Stoffs (Boiardi, von Eles 2002: 266–7). Das Haus und die Aufteilung der Handlungen auf einen nur angedeuteten oder explizit dargestellten „Innen-“ bzw. „Außenraum“ scheint jedenfalls eine wichtige Rolle in der Gestaltung des Bildprogrammes gespielt zu haben (Torelli 1997: 72–3, Abb. 57). Verschiedene Bildthemen vonVerucchio finden formale Parallelen auf Tongefäßen aus Sopron: in der Web- und Spinnszene aus Várhely, Hügel 27 (neu 128) (Eibner-Persy 1980: Taf. 16–7, Beil. 6) (Abb. 6,1); in den Wagenfahrten aus Várhely, Hügel 28 (neu 127) (Eibner-Persy 1980: Taf. 28– 9, Beil. 5) und 80 (neu 140) (Dobiat 1982: Abb. 9,1) (Abb. 6,2–3); in der sogenannten „Opferszene“ aus Váris, Hügel 3 (Dobiat 1982: Abb. 12; dazu auch Huth 2003: 135–6) (Abb. 6,4). Die Ikonographie kann zumindest auf formaler Ebene zum Teil auffallende Ähnlichkeiten aufweisen,

wie die Figuren, die jeweils den Wagen folgen (dazu z. B. Huth 2003: 136–7). Ob damit auch die ursprüngliche Bedeutung der Zeichen übertragen wurde, lässt sich jedoch schwer beurteilen. Weder von Sopron noch vom Osthallstattraum sind bisher hingegen eindeutige bzw. explizite Hausdarstellungen wie aus Italien bekannt. Dass in das verhältnismäßig reiche Panorama der ältereisenzeitlichen Figuralverzierung am Ostalpenrand in irgendeiner Form auch die Hausdarstellung und die entsprechenden Symbolwerte Eingang gefunden haben könnten, erscheint zumindest denkbar. Nur ist es schwer, im geometrischen Motivschatz der Hallstattkeramik stilisierte Hausdarstellungen auszumachen, zumal selbst die Menschendarstellungen aufgrund ihrer geometrischen – dreieckigen, rhomben- oder sanduhrförmigen – Stilisierung oft nicht eindeutig vom Ornament abzugrenzen sind (z. B. Dobiat 1982). Als mögliche schematische Hausdarstellungen würden vor allem die Dreiecke oder Winkel mit winkelhaken- oder bogenartigen Fortsätzen an der Spitze in Frage kommen (Abb. 9). A. Stroh (1988: 263) interpretiert entsprechende Dreiecksfiguren aus dem Gräberfeld von Schirndorf, Nordostbayern, als „Hütten“ oder „Zelte“; die oben abstehenden Winkelhaken deutet er als „Zeltstäbe“ und vergleicht sie mit Pferdeprotomen am Giebel altertümlicher Bauernhäuser.Ähnliche Andeutungen finden sich auch bei H. P. Uenze (1993: 192) und G. Kossack (1999: 138). Chr. Huth (2003: 75–6, Anm. 113) bezeichnet A. Strohs Deutung als nicht stichhaltig, aus dem Grund, dass es nördlich der Alpen keine Gebäudedarstellungen gäbe, was jedoch als Gegenargument eben so wenig überzeugend erscheint. Auch die Tatsache, dass die Spitzen der Dreiecke oft nach unten weisen, muss nicht unbedingt gegen eine Deutung als verkürzte Haus- bzw. Menschendarstellungen sprechen und könnte auch im Sinne einer gezielten symbolischen „Umkehrung“ zu verstehen sein. E. Savardi (2005: 86–7, Abb. 12) weist explizit auf die Ähnlichkeit der Dachgiebelprotomen vieler Hausdarstellungen der Valcamonica zu den winkelhakenverzierten Dreiecken der Hallstattkeramik hin, speziell zu jenen osthallstättischen Dreiecksfiguren, von denen A. Eibner (1997: 129, 132, Abb. 47,2) betont, dass abstrakte Wiedergabe und reine Ornamentik kaum voneinander zu trennen seien (Abb. 9,1). Skeptisch zu A. Strohs und E. Savardis Andeutungen äußerst sich auch A. Lopatta (2008–2009: 40). Dennoch sind meines Erachtens gewisse Ähnlich173

Abb. 9: Winkelhakenverzierte Dreiecke: 1. Keramik des Osthallstattraumes (nach Dobiat 1982: Abb. 13); 2. bemaltes Straußei, Tarquinia, Prov.Viterbo (I), Museo Nazionale (nach Torelli 1965: Abb. 1) (Umzeichnung: R. Tarpini).

keiten der Dachgiebeldarstellungen der Felsbildkunst zu den winkelhakenverzierten Dreiecken nicht zu ignorieren, was jedoch nicht bedeutet, dass diese ohne weiteres als verkürzte Hausdarstellung zu verstehen seien. Außerdem ist zu beachten, dass hier ein Teilaspekt – die Dachkonstruktion – aus dem ursprünglichen Bildkontext herausgenommen und zur Deutung eines Ganzen – des Hauses – herangezogen wird. Eine ähnlich mögliche Deutung als abstrakte Hauszeichnungen könnte im Osthallstattraum auch für die komplexeren Winkelmotive mit seitlichen Mäanderfortsätzen und/oder Kurzstrichen vorgeschlagen werden, die zum Beispiel in Nové Košariská, Slowakei, allein oder mit Menschen- und Tierfiguren sowie Astralsymbolen auftreten (Pichlerová 1969: Taf. I–VII) (Abb. 10). Auch hier beruht die Interpretation hauptsächlich auf forma-

len Assonanzen zwischen Zeichen/Symbol und Inhalt, der bildliche Zusammenhang würde jedoch grundsätzlich nicht dagegen sprechen, ganz im Gegenteil: Die figürlichen Motive scheinen den geometrischen Zeichen Bedeutungen zu verleihen, die ansonsten möglicherweise nicht fassbar wären. Wie bereits oben angedeutet, entspringen die Menschen- und vermeintlichen Hausdarstellungen des Osthallstattraums meist einer ähnlichen geometrischen Figur und sind deshalb oft nicht voneinander und von dem dreiecks- und winkelgeprägten geometrischen Ornament eindeutig zu trennen, vor allem am Nordostalpenrand (Schappelwein 1999; Tarpini 2013; 2014). Aufgrund des polysemischen Charakters der Zeichen stehen Figur, Symbol und Ornament jedoch nicht unbedingt in Opposition, sondern können, je nach Bildzusammenhang, in

Abb. 10:  Nové Košariská (SK), Hügel I, figuralverzierte Tonkegelhalsgefäße (nach Pichlerová 1969: Taf. I, III–V) (Umzeichnung: R. Tarpini).

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den Vorder- oder Hintergrund treten und unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Mit den mutmaßlichen Hausdarstellungen der Hallstattkeramik liegt uns möglicherweise eine abstrakt-ornamental-symbolische Komponente vor, die sowohl auf eine „private“ als auch „kollektive“ Sphäre bezogen sein und komplementär zur figürlichen Komponente stehen dürfte.Vergleicht man zum Beispiel die Bildkompositionen aus Hügel I von Nové Košariská (Abb. 10) mit der komplexen Szenerie des hölzernen Throns vonVerucchio (Abb. 5), so könnte man mit aller gebührenden Vorsicht den Eindruck einer schematisch angedeuteten evokativen „Landschaft“, in der sich vor dem Hintergrund der damaligen Vorstellungswelt Handlungen hoher symbolischer Bedeutung abspielen, gewinnen (vgl. Huth 2003: 286). Deutet sich vielleicht auch in Fossa eine solche symbolische Raumdarstellung an? Die Möglichkeit möchte man zumindest nicht ausschließen. Als Beispiel für ähnliche Diskussionen im italischen Bereich kann hier ein bemaltes Straußei von Montalto di Castro (Viterbo), vermutlich aus Tarquinia (Anfang des 7. Jh. v. Chr.), herangeführt werden (Abb. 9,2). Die mit stilisierten Menschenfiguren alternierenden winkelhakenverzierten Schachbrettdreiecke im unteren Fries wurden von M. Torelli (1965: 354, Anm. 57) als schematische „Palmen“ spätgeometrischen, rhodisch-zykladischen Ursprungs gedeutet; A. Palmieri (2003: 33–4) hingegen interpretiert sie als „Hütten“ und fügt sie in die etruskische bildliche Tradition ein, mit besonderem Bezug auf die Assoziation mit Menschenfiguren. Abschließend nochmal zurück zur Olla aus Grab 97 von Fossa und zu deren Verzierung. Zusammenfassend kann formuliert werden, dass, obwohl einiges dagegen sprechen mag, die Deutung der sogenannten „Kammzeichen“ als

Kamm- bzw. Kammanhängerdarstellungen aufgrund der Untersuchung der Ikonographie und des engeren wie breiteren Kontextes bislang vermutlich am wahrscheinlichsten bleibt. Nichta destotrotz soll deshalb nicht auf alternative Deutungsvorschläge verzichtet werden, die jedoch beim aktuellen Stand nichts mehr als Arbeitshypothesen darstellen wollen. In diesem Sinne ist vor allem der Exkurs zu den ältereisenzeitlichen Hausdarstellungen und den damit zusammenhängenden Menschendarstellungen zu verstehen. Der tiefere Sinn des gesamten Bildprogrammes bleibt uns jedoch weitgehend verschlossen. Das Beispiel aus Fossa und die davon ausgehenden Interpretationsdiskurse fügen sich gut in die unerschöpfliche Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen der Deutung vorgeschichtlicher figuraler Darstellungen ein. Diese Interpretationsdiskurse nähren sich einerseits von der formalen Mehrdeutigkeit vieler der betreffenden Darstellungen, andererseits von der Tatsache, dass auch scheinbar „lesbare“ Darstellungen in einem für den heutigen Betrachter fremden, bestenfalls nur bruchstückhaft rekonstruierbaren, Handlungskontext entstanden sind, in dem sie als Zeichen ihre ursprüngliche symbolische Sinnzuweisung erhalten haben. Dies führt dazu, dass uns vor ­allem im Zusammenhang mit den schriftlosen Kulturen der jüngeren Bronzezeit und der älteren Eisenzeit weitgehend die nötigen Entschlüsselungscodes und der ­direkte Zugang zu den entsprechenden Bildkonventionen fehlen. Dies hat nicht zuletzt als Folge, dass bestimmte Darstellungen immer wieder „neu“ aufgegriffen und interpretiert werden, wie zum Beispiel die auf den figuralverzierten Tonurnen von Sopron – vor allem die vielfach aufgegriffene vermeintliche „Opferszene“ (zuletzt Kern 2009) – oder auf der Thronlehne von Verucchio.

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Dr. Roberto Tarpini Regierungspräsidium Stuttgart Landesamt für Denkmalpflege Referat 84.1 – Projekt Heuneburg Berliner Straße 12 D-73728 Esslingen am Neckar Tel.: 0711 90445 116 Email: [email protected] Email: [email protected]

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Die Anwendung des Horizont-Konzeptes bei der Konstruktion von Fibelchronologien Carla Backhaus

Zusammenfassung Gegenstand dieses Artikels sind methodische Überlegungen zur chronologischen Auswertung von Fibeln aus Siedlungsgrabungen. Die Problematik der sekundären Verlagerung, der meist hohe Fragmentierungsgrad sowie generelle Probleme mit dem derzeitigen Chronologiesystem der Eisenzeit, auf die insbesondere John Collis (2008, 2009) mit Nachdruck aufmerksam gemacht hat, sprechen meines Erachtens gegen eine „klassische“ Auswertungsmethode. Als Alternative hat Collis das flexiblere Konzept der „Horizonte“ vorgeschlagen (Collis 2008; 2009). Der Beginn eines Horizontes ist demnach durch das Auftauchen einer neuen Eigenschaft gekennzeichnet (typologisches Merkmal, Artefakttyp, Brauch etc.). Im Gegensatz zur Periode hat ein Horizont kein Ende. Ferner hat Collis dafür plädiert, die Horizonte anhand von einzelnen Merkmalen anstatt von Leittypen zu definieren, und klar zwischen überregionalen, regionalen und lokalen Chronologiesystemen zu unterscheiden. Der theoretisch-methodische Ansatz von Collis wird zunächst kurz erklärt und anschließend praktisch auf das Beispiel der Fibeln aus dem Oppidum Bibracte-Mont Beuvray (Burgund, Frankreich) angewendet und diskutiert. Es wird aufgezeigt, wie anhand der Stratigrafie die Anfänge von Horizonten abgeleitet und mittels des Fundmaterials inhaltlich definiert werden können. Schließlich werden einige Vorschläge für eine Weiterentwicklung der Ideen Collis’ vorgestellt.

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Abstract In this article, a theoretical-methodological approach to the chronological analysis of brooches from excavations of settlements is analysed. The problem with secondary deposition, namely a mostly high degree of fragmentation, and general problems with the current chronological system of the Iron Age – that in particular John Collis (2008, 2009) pointed out – in my view, argues against ‘traditional’ methods of analysis. Collis proposed the more flexible concept of ‘horizons’ as an alternative (Collis 2008; 2009). The beginning of a horizon is characterized by the appearance of a new feature (typological attribute, artefact type, funeral custom etc.). In contrast to a period, a horizon has no end. Furthermore, Collis suggested defining the horizons on the basis of individual attributes rather than on type fossils, and to distinguish clearly between universal, regional and local chronology systems. In this work, the theoretical-methodological approach of Collis is first briefly explained and then applied in practice and discussed using the example of the brooches from the oppidum Bibracte-Mont Beuvray (Burgundy, France). It is shown how the start of horizons can be derived on the basis of stratigraphy and defined by the material. Finally, some suggestions for a further development of Collis’ ideas are presented.

Die Geschichte der Chronologie der späten Eisenzeit ist untrennbar mit der Fundgattung der Fibeln verbunden. Die Konstruktion des Fibelfußes diente Otto Tischler zur Gliederung der Latènezeit in eine frühe, mittlere und späte Phase (Tischler 1885). Die Unterteilung der Stufe Latène D nach Reinecke (1902) wiederum basiert unter anderem auf den Arbeiten von Alfred Haffner (1969; 1974) und Sabine Rieckhoff (1972; 1975), die insbesondere anhand des Fibelspektrums eine Übergangsperiode (= Latène D2) zwischen einer älteren, rein spätlatènezeitlichen Periode mit Nauheimer Fibeln (= Latène D1) und einer jüngeren Periode der frührömischen Militärlager definierten. Auch die anschließende weitereVerfeinerung der Periode Latène D1 und analog der Periode Latène D2 erfolgte maßgeblich anhand der Fibeln. Erinnert sei hier beispielsweise an Andrei Mirons Differenzierung der ­Periode Latène D1 in eine frühe Phase (= Latène D1a) mit Drahtfibeln im Spätlatèneschema und eine späte Phase (= Latène D1b) mit Nauheimer Fibeln (Miron 1986) sowie Rieckhoffs Untergliederung der ­Periode Latène D2 anhand der geschweiften Fibel (Rieckhoff 1992; 1995). Fibeln gelten als chronologische Marker par excellence. Da Fibeln als Trachtbestandteile mehr als andere Fundgattungen einer schnell wechselnden Mode unterworfen waren, eignen sie sich besonders gut für die 180

(Re-)Konstruktion von zeitlichen Abläufen (Rieckhoff 2007: 421; Kaenel 2008). Die letzte umfassende Studie zu den ­Fibeln des Oppidums Bibracte-Mont Beuvray (Burgund, Frank­reich) ist die 1984 erschienene Auswertung der ­circa 280 Fibeln aus den Altgrabungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Guillaumet 1984). Mittlerweile ist der Bestand an Fibeln auf knapp 1000 Exemplare angewachsen, die im Rahmen meines Dissertationsprojektes neu beziehungsweise erstmals bearbeitet werden (Backhaus i. Vorb.), wobei der Fokus zunächst primär auf den Fibeln aus den modernen Grabungen seit 1984 liegt.Aufgrund der ­modernen Grabungsdokumentationen besteht hier die Möglichkeit einer chronologischen Auswertung anhand des stratigrafischen Kontextes. Verschiedene Gründe haben mich dazu bewogen, die Fibeln nicht wie in der Forschung allgemein üblich ­auszuwerten. Stattdessen habe ich einen theoretisch­methodischen Ansatz von John Collis (2008; 2009) aufgegriffen und diesen auf die Fibeln von Bibracte angewendet. Im Folgenden soll dieser Ansatz kurz vorgestellt und anschließend dargelegt werden, wie dessen Anwendung in der Praxis aussehen kann. Außerdem werden Vorschläge für die Weiterentwicklung der Ideen von Collis vorgestellt. Dieser Artikel umreißt damit die methodischen Grund­ lagen meines Dissertationsprojektes (Backhaus i.Vorb.).

Warum keine klassische Fibelauswertung? Vereinfacht gesagt, werden Fibeln traditionellerweise nach Typen klassifiziert und anschließend möglichst anhand der Stratigrafie oder mittels geschlossener Funde chronologisch interpretiert. Die so gewonnenen Datierungen der Laufzeiten der Typen werden mit jenen an anderen Fundorten abgeglichen. Verschiedene Aspekte sprechen im ­Allgemeinen und insbesondere im Falle von Bibracte gegen eine solche „klassische“ Auswertung. Hierzu zählt zunächst das Problem der sekundären Verlagerung von Altmaterial, das eine Siedlungsgrabung wie Bibracte mit sich bringt. Diese Tatsache führt dazu, dass eine Datierung, die über eine Siedlungsstratigrafie gewonnen worden ist, nur bedingt verlässlich ist. Generell kann eine solche Datierung nicht als terminus ante quem für die Herstellungs- oder Nutzungszeit eines Typs herangezogen werden, da es sich immer auch um sekundär verlagertes Material handeln kann. Ein ähnlicher Vorbehalt gilt auch für Schichten, die während der Nutzung entstanden sind – das heißt nicht durch sekundäreVerlagerung. Eine Siedlungsschicht stellt per se keinen geschlossenen Fund dar, da ein Objekt zum Zeitpunkt seiner Ablagerung schon längere Zeit nicht mehr in Gebrauch gewesen sein kann. Dies bedeutet, dass von einer Siedlungsstratigrafie stets nur ein terminus post quem für die Existenz eines Typs abgeleitet werden kann – entscheidend ist demnach nur das erstmalige Auftreten. Insofern ist beispielsweise die Tatsache irrelevant, dass Nauheimer Fibeln in Besançon noch in der Siedlungsphase 1c (60 –40 v. Chr.) vorliegen, da der Typ für diese Siedlung bereits in Phase 1a (120 –80 v. Chr.) belegt ist und es sich bei den Fibeln aus Phase 1c um Altmaterial handeln kann. Selbst wenn ein solcher Siedlungsfund theoretisch die Laufzeit eines Fibeltyps anzeigen könnte – und in Einzelfällen mag dies auch zutreffen – so handelt es sich jedoch aufgrund der vorgebrachten Einschränkungen nicht um ein schlagendes Argument für eine generelle Verlängerung der Laufzeit der Nauheimer Fibel bis in die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. (vergleiche beispielsweise Leifeld 2007: 53). Ein weiterer Punkt ist der relativ hohe Fragmentierungsgrad der Fibeln. Insgesamt sind in Bibracte aus dem Bereich der modernen Grabungen seit 1984 889 Fibelfragmente gefunden worden, was einer Mindestindividuenzahl (MIZ) von 412 Fibeln entspricht. Von diesen sind nur 13 Fibeln vollständig erhalten. Tendenziell sind

der Fibelkopf und der obere Bügelteil am besten erhalten, der Fuß hingegen am schlechtesten. So weisen mehr als die Hälfte der Objekte einen vollständigen Fibelkopf (MIZ: 216) auf, aber nur 8 % einen vollständigen Fibelfuß (MIZ: 31). Auch lässt sich bei fast 70 % der Objekte (MIZ: 279) das Merkmal „Bügelaufsicht” („drahtförmig”, „lanzettförmig” etc.) klassifizieren, jedoch nur bei 9 % (MIZ: 38) das Merkmal „Fußform” („trapezförmig”, „dreieckig” etc.). Der Fragmentierungsgrad führt dazu, dass ein Teil der Fibelfragmente bei einer chronologischen Auswertung nach Typen nur eingeschränkt berücksichtigt werden kann. Nicht zuletzt sprechen auch generelle Probleme mit dem derzeitigen Chronologiesystem dafür, nach einer ­alternativenVorgehensweise zu suchen. Insbesondere John Collis hat in den letzten Jahren auf diese Probleme hingewiesen. Seine Kritikpunkte werden im Folgenden kurz zusammengefasst (ausführlich siehe Collis 2008; 2009). Das derzeitige Chronologiesystem der Eisenzeit ist nach dem Schubladen-Prinzip aufgebaut, wie Collis treffend formuliert hat (ähnlich auch Miron 1998: 431). So wie im Sinne Kossinnas Kulturen in begrenzten, abgeschlossenen Räumen gedacht wurden, so wurde und wird bis heute auch die zeitliche Dimension der materiellen Kultur in abgeschlossene Abschnitte sprich Perioden unterteilt, für die jeweils bestimmte Leittypen charakteristisch sein sollen. Dieses Schubladensystem aus Perioden ermöglicht zum einen eine überregionale Vergleichbarkeit, suggeriert zum anderen aber auch, dass sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem wir einen Periodenwechsel annehmen, die komplette materielle Kultur beziehungsweise die Leittypen plötzlich ändern. Auch wenn man davon ausgeht, dass ein Chronologiesystem als Modell zur chronologischen Gliederung eine „Realität“ nie exakt widerspiegeln kann, stößt das der­zeitige Chronologiesystem nach Collis mittlerweile als heuristisches Hilfsmittel an seine Grenzen. Da immer mehr Fundmaterial und Fundkomplexe zur Verfügung stehen, die in das System eingepasst werden, verschwimmen zunehmend die Periodengrenzen, die sich zu Beginn der Forschung noch als scharf dargestellt hatten.Weil klare Zäsuren in der Entwicklung der materiellen Kultur eben nicht existieren, überschneiden sich die Laufzeiten verschiedener Leittypen an den Periodenübergängen, und es stellt sich immer öfter die Frage, ob wir ein entsprechendes Objekt oder einen bestimmten Fundkomplex 181

noch dieser oder bereits der nächsten Zeitperiode zuordnen (hierzu auch Kaenel 2008: 334 f.). Darüber hinaus werden in verstärktem Maße auch re­ gionale Chronologien erarbeitet und in das bestehende System eingepasst, ohne dass es jedoch eine einheitliche und verbindliche Methode gibt, wie verschiedene Phasen regionaler Chronologien miteinander verknüpft werden sollten. Dies führte, wie bekannt, zu einem „Durcheinander“ in der Terminologie, da unter der gleichen Periodenbezeichnung von verschiedenen Forschern unterschiedliche Dinge verstanden werden (hierzu auch: ­Miron 1998; Rieckhoff 2008, Kaenel 2008: 337). Nicht zuletzt basieren regionale Chronologien Collis zufolge häufig auf Siedlungsbefunden, was mit ­weiteren Schwierigkeiten einhergeht wie beispielsweise sehr komplexen Ablagerungsprozessen (hierzu auch Sommer 1991). Auf das Problem der sekundären Verlagerung wurde bereits eingegangen. Ferner ist anzunehmen, dass bestimmte Bereiche wie Wohnräume und Aktivitätszonen sauber gehalten und regelmäßig ausgekehrt worden sind sowie die Abfallentsorgung in irgendeiner Form organisiert worden ist, was nach Collis zu einer selektiven oder bewussten Ablagerung führen kann. Darüber hinaus basieren regionale Chronologien meist auf Keramik ­– eine Fundgattung, die erstens regionaler ist als Metallobjekte, so dass sich Keramikfunde aus verschiedenen Regionen nur begrenzt miteinander vergleichen und chronologisch in Beziehung setzen lassen und die zweitens je nach Warenart ein eigenes Bruchverhalten aufweist, was zu Verfälschungen bei der Fundauswertung führen kann. Wie denn dann? – Ein alternativer Ansatz Ausgehend von diesen Problemen mit dem derzeitigen Chronologiesystem und der gegenwärtigen Methode der Bildung von Chronologien hat Collis einen alternativen Lösungsansatz ausgearbeitet und in den letzten Jahren in die Forschungsdiskussion eingebracht (zuletzt Collis 2009: besonders 387–388; 416 –417). Neben einer klar definierten Terminologie und Methodik schlägt Collis primär drei Dinge vor: 1. das Horizont-Konzept als Basis für die Konstruktion von Chronologien, 2. die Konzentration auf Merkmale statt auf Typen und, 3. eine Hierarchie von Chronologien. 182

Das Horizont-Konzept Im Gegensatz zur Periode besitzt ein Horizont lediglich einen Anfang, jedoch kein festes Ende (Abb. 1). Für die Konstruktion einer Chronologie anhand einer Siedlungsstratigrafie, wie im Falle von Bibracte, bietet sich die Anwendung des Horizont-Konzeptes daher geradezu an. Aufgrund des Problems der sekundären Verlagerung ist es – wie oben dargelegt – ohnehin nur möglich, einen terminus post quem für den Beginn der Laufzeit eines Typs oder Merkmals abzuleiten. Das heißt, man kann per se nur mit Anfängen arbeiten. Der Beginn eines Horizontes ist nach Collis durch das Auftauchen einer neuen Eigenschaft gekennzeichnet. ­Diese muss nicht zwingend ein neuer Typ sein wie die Nauheimer Fibel, sondern es kann sich stattdessen auch nur um ein einziges Merkmal wie den Sehnenhaken oder um einen neuen kulturellen Brauch wie eine Bestattungssitte handeln. Ein Horizont wird zwar terminologisch von dem darauf folgenden Horizont abgelöst, es wird jedoch davon ausgegangen, dass die entsprechenden Charakteristika des ersten Horizontes auch weiterhin auftreten. Darüber hinaus können Horizonte auch gleichzeitig auftreten. Das Konzept des Horizontes ist nicht neu, es wurde bereits von einigen Forschern angewendet, wie Collis aufzeigt. So handelt es sich bei den von Jacobstahl definierten keltischen Kunststilen um Horizonte, die wie im Falle des Schwertstils und des plastischen Stils gleichzeitig bestanden haben (Jacobstahl 1944). Ein weiteres Beispiel ist die Studie von Rolf Hachmann zur frühen Bronzezeit im westlichen Ostseegebiet. Er erfasste insgesamt sechs Ströme von Importgütern in die Region, die er anhand ihres Beginns als Horizonte definierte und die seiner Meinung nach teilweise gleichzeitig begonnen haben müssen (Hachmann 1957: 153). Insbesondere in der deutschsprachigen Eisenzeitforschung wird das Horizont-Konzept vor allem mit der Studie Hermann Parzingers zur Chronologie der Späthallstatt- und Frühlatènezeit inVerbindung gebracht (Parzinger 1989). Parzinger nutzt Horizonte, um die Perioden regionaler Chronologiesysteme anhand bestimmter Leittypen, vor allem Fibeln, überregional miteinander in Beziehung zu setzen. Das Horizonte-Konzept nach Parzinger ist jedoch von jenem nach Collis klar abzugrenzen. Parzinger versteht seine Horizonte als „gedachte Linie“,

Abb. 1:  Schematische Darstellung der Unterschiede zwischen dem Perioden- und dem Horizont-Konzept.

die lediglich der Synchronisation von kulturellen Phänomenen verschiedener Regionen dienen sollen und „keine zeitliche Tiefe besitzen“, das heißt weder Anfang noch Ende (Parzinger 1989: 125). Parzingers Grundannahme ist, dass jene Phasen, die sich über die Horizonte verknüpfen lassen, zumindest zu einem Zeitpunkt gleichzeitig gewesen sein müssen. Er setzt damit diese Phasen be­ziehungsweise ­ einen Zeitpunkt im Verlauf der Phase überregional absolut­chronologisch gleich. Zudem geht er davon aus, dass die Reihenfolge seiner Horizonte überregional gleich gewesen ist. Auch die von Collis definierten überregionalen Horizonte eines universellen Chronologiesystems der ­Eisenzeit (siehe unten) können als relativ-chronologische Abfolge verstanden werden. Aus diesem Grund sind sie auch auf wenige Kriterien beschränkt, das heißt relativ grob konzipiert, da die Entwicklung der materiellen Kultur in den meisten Fällen zumindest grob überregional übereinstimmt. Im Horizont-Konzept nach Collis wird aber konzeptuell nicht ausgeschlossen, dass die überregionalen Horizonte im Einzelfall nicht in allen Regionen in der gleichen Reihenfolge ablaufen.Vor allem wird nicht davon ausgegangen, dass sich die Horizonte eines univer-

sellen Chronologiesystems überregional synchron zur gleichen Zeit ereignen, beziehungsweise sich im Sinne Parzingers europaweit zwingend in einem Zeitpunkt – der gedachten Linie – überschneiden. Konzentration auf Merkmale Bei der Definition von Horizonten misst Collis einzelnen Merkmalen ein größeres Gewicht bei als Typen. Beispielsweise habe sich gezeigt, dass Chronologien, die nur auf einzelnen Merkmalen beruhen, in der Forschung beständiger sind, wie etwa Tischlers Einteilung in Früh-, Mittel- und Spätlatènezeit anhand des Fibelfußes. Zudem existieren insgesamt mehr Merkmale als Typen, und die Vergesellschaftung von Merkmalen auf ein und demselben Objekt bezeugt eine sichere gleichzeitige Herstellung, ganz im Gegensatz zurVergesellschaftung von Typen in einem Befund. Auch hinsichtlich des genannten hohen Fragmentierungsgrads der Fibeln von Bibracte ist die Konzentration auf Merkmale sinnvoll. Da der Fibelfuß in der Regel fehlt oder unvollständig ist, gängige Definitionen von Fibeltypen jedoch die Form und Beschaffenheit des Fußes 183

sprachigen Raum die Abkürzung SEZ für Späte Eisenzeit. Für die Spätlatènezeit, die den Fundort Bibracte betrifft, definiert er knapp zusammengefasst folgende Horizonte (Collis 2009: 403): Abb. 2:  Bügelfragment einer Nauheimer Fibel (Inv.-Nr. Bibracte: B997.9.4701.9, nach Fleischer 2007b, 8 n°134, Taf. 12, 134).

für gewöhnlich miteinschließen, könnte theoretisch nur bei einer geringen Zahl an Fibeln der Typ eindeutig klassifiziert werden – zumindest wenn man nach Eggert streng monothetisch klassifiziert, das heißt anhand einer konstanten Kombination von Merkmalen. In der Praxis wird zweifelsohne selten derart strikt klassifiziert und die ­polythetische Klassifikation ist der Standard, bei der nicht zwingend alle diagnostischen Merkmale vorhanden sein müssen (Eggert 2012: 138–139). So ist davon auszugehen, dass die meisten Archäologen das Fragment in Abbildung 2 ohne Bedenken als Nauheimer Fibel klassifizieren würden – und das, obwohl weder die laut Typdefinition erforderliche vierschleifige Spirale mit unterer Sehne noch der flache, schwach gewölbte Bügelschwung und auch nicht der einfach durchbrochene Fuß erhalten sind (Werner 1955: 170). Wenn wir also dieses Fragment bereits anhand eines einzigen Merkmals – des lanzettförmigen Bügels – klassifizieren und auch chronologisch einordnen, warum konzentrieren wir uns dann nicht gleich nur auf Merkmale? Hierarchie von Chronologien Schließlich plädiert Collis für eine Abstufung von überregionalen, regionalen und lokalen Chronologien. Die überregionalen Horizonte eines universellen Chronologiesystems sollten an so wenigen Merkmalen wie möglich definiert werden. Dadurch sei das System zwar relativ grob, aber auch beständiger. Hierfür eignen sich vor allem Merkmale an Fibeln, da diese in so gut wie allen Befundarten und allen Regionen nachgewiesen sind. Als gemeinsamen Bezugspunkt schlägt Collis für die Späte Eisenzeit eine Abfolge von 16 Horizonten vor. Als neue Nomenklatur – auch, damit es nicht zu Verwechslungen mit dem alten System kommt – verwendet Collis für den deutsch184

SEZ 10: Einfacher Rahmenfuß und draht- oder stabförmiger Bügel SEZ 11: Einfacher Rahmenfuß und Bügel mit dreieckiger Verbreiterung des Bügels am Fibelkopf (= Lauteracher Fibel) SEZ 12: Einfacher Rahmenfuß und lanzettförmiger Bügel; bronzene und silberne Exemplare verziert, eiserne Exemplare unverziert (= Nauheimer ­Fibel) SEZ 13: Einfacher Rahmenfuß und löffelförmiger Bügelkopf (= Schüsselfibel) SEZ 14: Rahmenfuß mit einem Steg SEZ 15: Mehrfach durchbrochener Fuß SEZ 16: Spiralkonstruktion mit Sehnenhaken Im Gegensatz zu dieser überregionalen, universellen Chronologie sollten die regionalen und lokalen Chronologien nach Collis auf möglichst vielen Merkmalen ­basieren. Hier gilt: Je detaillierter eine Chronologie ist, desto kleinräumiger sollte sie angewendet werden. Im Grunde sollte im Falle eines lokalen Chronologiesystems jedes Merkmal beziehungsweise jede Merkmalsausprägung als eigener Horizont aufgefasst werden. Der Ansatz in der Praxis Abschließend möchte ich am Beispiel der Fibeln des Fundortes Bibracte den Versuch einer praktischen Umsetzung des Ansatzes vorstellen. 1. Erarbeitung der Horizontanfänge Ausgangspunkt für die Erarbeitung einer Chronologie – egal ob nach dem Horizont- oder Periodenkonzept – ist im Falle einer Siedlungsgrabung möglichst die Stratigrafie. Für den Fundort Bibracte konnten in vielen Siedlungsbereichen mehrere aufeinanderfolgende Bauperioden identifiziert werden. Die erste Frage, die sich stellt, ist: Wie kann die Zeitspanne einer Bauperiode in einen Zeitpunkt umgewandelt werden? Denn das Horizont-Konzept arbeitet bekanntlich nur mit dem Anfang.

Abb. 3:  Schematische Darstellung der Ableitung von Horizontanfängen anhand einer Stratigrafie mit Bauperioden.

Nach dem Periodenkonzept würde man vereinfacht gesagt die Bauperiode nach den Perioden der Latènezeit datieren. Wenn beispielsweise Bauperiode 1 an den Beginn der Periode Latène D1b datiert wird, hieße das folglich: Eine Fibel, die zum Fundmaterial der Bauperiode 1 gehört, ist ab der Periode Latène D1b nachgewiesen, das heißt ab dem Beginn dieser Latèneperiode. Für die Ableitung eines Horizontanfangs ist es hingegen methodisch unsauber, einfach den Beginn einer Bauperiode mit dem Beginn des Horizontes gleichzusetzen, denn Objekte, die erst am Ende der Bauperiode abgelagert worden sind, würden chronologisch zu früh eingeordnet werden. In Bibracte besteht im Hinblick auf die Ableitung der Horizontanfänge der entscheidende Vorteil, dass aufgrund der dort üblichen Methode der Grabungsauswertung in der Regel alle Befunde funktional als Konstruktions-, Nutzungs- oder Zerstörungsschichten angesprochen werden (siehe Paunier, Luginbühl 2004: 187–188). Infolgedessen kann feiner differenziert werden, ob ein Objekt bereits am Anfang oder erst am Ende der Bauperiode in

das Sediment gelangt ist (Abb. 3). Zum Zeitpunkt der Errichtung eines ersten Gebäudes ist das Fundmaterial der Konstruktionsschichten de facto vorhanden. Vom Errichtungszeitpunkt dieses Gebäudes lässt sich daher ein erster Horizontanfang ableiten, der inhaltlich durch das Fundmaterial der Konstruktionsschichten charakterisiert wird. Das Fundmaterial, das sich während der Nutzung bis zur Zerstörung des Gebäudes angereichert hat, ist spätestens nach dem Ende der Bauperiode vorhanden gewesen beziehungsweise – da sich die Zerstörungs- und Konstruktionsschichten oft nicht trennen lassen – spätestens bis zum Errichtungszeitpunkt des zweiten Gebäudes. Dieser Errichtungszeitpunkt bildet einen weiteren ­Horizontanfang, der inhaltlich durch das Fundmaterial der Nutzungs- und Zerstörungsschichten des ersten ­Gebäudes sowie der Konstruktionsschichten des zweiten Gebäudes charakterisiert wird. Auf diese Art lassen sich anhand einer Stratigrafie mehrere potentielle Horizontanfänge ableiten. Im Falle von Bibracte habe ich dies für insgesamt sechs publizierte oder fertig ausgewertete Grabungsbereiche durchführen kön185

nen. Die entsprechenden Informationen über die Abfolge der Bauperioden dieser Grabungsbereiche sind mir freundlicherweise von den jeweiligen Grabungsteams zur Verfügung gestellt worden. Für die Synchronisation der nicht zwangsläufig ­ deckungsgleichen Bauabfolgen habe ich die bereits ­bestehende Typo-Chronologie der Keramik von Bibracte herangezogen, auf der derzeit im Wesentlichen die Datierung der Bauperioden basiert. Diese hat mir eine von den Fibeldatierungen unabhängige, chronologischeVerknüpfung der Bauabfolgen (Abb. 4) ermöglicht. Die Keramikdatierungen sind jedoch zwangsläufig an das derzeitige Chronologiesystem der Eisenzeit und damit an das ­ Perioden-Konzept gekoppelt. Dieser Umweg über die ­ Perioden der Latènezeit ist jedoch erforderlich, da eine konsequente Anwendung des Horizont-Konzeptes zunächst die Erarbeitung einer entsprechenden Keramik-Chronologie nach dem Horizont-Konzept bedeutet hätte, die aufgrund des Zeitaufwands nicht Teil meiner Arbeit sein kann. Meines Erachtens ist dieses Vorgehen aber vertretbar, da die relativ-chronologische Abfolge der Keramik in Bibracte – auf der die Synchronisation beruht – weitgehend unabhängig anhand der Stratigrafie erarbeitet worden ist. Mit Hilfe der Synchronisation über die Latèneperioden können nun die Horizontanfänge, die separat anhand der Bauabfolge für jeden einzelnen der sechs Grabungsbereiche abgeleitet worden sind, in eine chronologische ­Reihenfolge gebracht werden, die für den gesamten Fundort Gültigkeit besitzt. Für Bibracte ergeben sich auf diese Weise (Abb. 4) insgesamt 15 Horizontanfänge (I-XV). Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass diese ­modellhafte Darstellung der Methode zur Ableitung der Horizontanfänge in der Praxis leicht abgewandelt werden musste. Für gewöhnlich wird bei der Grabungspublikation zwar methodisch, aber nicht immer hinsichtlich der Datierung zwischen dem Beginn einer Bauperiode, das heißt dem Beginn der Konstruktionsphase, und dem zeitlich späteren Errichtungszeitpunkt des Gebäudes unterschieden. Aus diesem Grund ist für alle Grabungsbereiche die Datierung der Bauperiode herangezogen worden, um die abgeleiteten Horizontanfänge chronologisch einzuordnen. Beispielsweise datieren die Bearbeiter des Grabungsbereichs von PC1 ihre erste Bauperiode in den Zeitraum 130/120 –90/80 v. Chr. (Paunier, Luginbühl 2004: 159). Der erste mögliche Horizontanfang, der – wie oben ge186

zeigt – dem Errichtungszeitpunkt des ersten Gebäudes entspricht, wird daher absolutchronologisch um 130/120 v. Chr. eingeordnet. Dieser Horizontanfang wird inhaltlich durch das Fundmaterial der Konstruktionsschichten der ersten Bauperiode charakterisiert, das bedeutet die Konstruktionsphase wird gewissermaßen auf einen Zeitpunkt reduziert. 2. Inhaltliche Erarbeitung der Horizonte Die so abgeleiteten Horizontanfänge werden nun auf Grundlage des Fundmaterials inhaltlich definiert. Hierfür habe ich jeweils einzelne Merkmale analysiert und ausgewertet, ab wann – das heißt in welcher Konstruktions-, Nutzungs- oder Zerstörungsschicht und damit ab welchem Horizontanfang – welche Ausprägung dieses Merkmals das erste Mal auftritt (Abb. 5). Berücksichtigt worden sind hierbei sowohl morphologische Merkmale wie die Form oder Verzierung als auch technische Merkmale wie der Schließmechanismus oder die Anzahl der zur Herstellung verwendeten Teile. Auf diese Weise sind von mir so viele Merkmale wie möglich in das neue Chronologiesystem integriert worden. Jede Merkmalsausprägung bildet nun einen eigenen Horizont. Zusammengefasst charakterisieren diese einzelnen Horizonte der Merkmalsausprägungen nun die zuvor abgeleiteten Horizontanfänge I–XV, die als übergeordnete Fibelhorizonte eines lokalen Chronologiesystems des Fundorts Bibracte fungieren und der bestehenden Typo-Chronologie der Keramik zur Seite gestellt werden können. Diese Fibelhorizonte I-XV sind in der Praxis übersichtlicher und anschaulicher als die bloße Einordnung eines Fragments in den Horizont der entsprechenden Merkmalsausprägung. Beispielsweise wird das in Abbildung 2 dargestellte Fragment in den Horizont der Merkmalsausprägung „lanzettförmiger Bügel“ eingeordnet werden – für eine chronologische Auswertung entscheidender ist aber, dass dieser Horizont selbst wiederum in den Fibelhorizont I von Bibracte eingeordnet werden kann, das heißt im Vergleich zu anderen Merkmalsausprägungen an den Beginn der Entwicklung. Im Allgemeinen hat sich bei der Auswertung eine Tatsache nachteilig ausgewirkt: Bestimmte Merkmale konnten aufgrund des genannten schlechten Erhaltungszustands nicht besonders häufig beobachtet werden. Um dieses Defizit auszugleichen, habe ich die erarbeiteten Hori-

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Abb. 4: Synchronisation der Bauabfolgen verschiedener Grabungsbereiche des Fundorts Bibracte (Backhaus i.Vorb.).

Abb. 5: Schematische Darstellung der inhaltlichen Definition der Horizontanfänge beziehungsweise Fibelhorizonte des lokalen Chronologiesystems von Bibracte anhand von Merkmalsausprägungen.

zonte der Merkmalsausprägungen korrigiert, indem ich die Merkmalskombinationen berücksichtigt habe. So ist der Fuß zwar selten erhalten, aber an vollständigen Fibeln kann potentiell abgeleitet werden, dass eine bestimmte Merkmalsausprägung oder Kombination von Merkmalsausprägungen regelhaft mit einer bestimmten Fußform auftritt. Diese Kombination muss nicht nur häufig, sondern immer mit der betreffenden Fußform auftreten. So weist die Kombination „lanzettförmiger Bügel + vierschleifige Spirale + unterer Sehne“ (= Nauheimer Fibel) zwar meist einen „einfachen Rahmenfuß“ auf, selten jedoch auch einen „Rahmenfuß mit Mittelsteg“. Demnach kommen mehrere Fußformen infrage. Nur wenn eine bestimmte Kombination von Merkmalsausprägungen immer dieselbe Fußform aufweist, kann davon ausgegangen werden, dass diese Fußform zur gleichen Zeit das erste Mal auftritt wie die genannte Kombination. Die Fußform kann dementsprechend im Chronologiesystem ergänzt werden. Hier zeigt sich die Flexibilität des Chronologiesy188

stems mit Horizonten. Wenn der Anfang eines Horizontes aufgrund neuer Erkenntnisse korrigiert werden muss, kann dieser einfach angepasst werden, und es ist nicht notwendig, das komplette Chronologiesystem neu zu strukturieren. 3. Einordnung in das überregionale Chronologiesystem nach Collis Als letzter Schritt erfolgte die Verknüpfung der Fibelhorizonte des lokalen Chronologiesystems von Bibracte mit dem überregionalen Chronologiesystem nach Collis (Abb. 5). Als problematisch erwies es sich, dass das vorgeschlagene System von Collis häufig auf dem selten erhaltenen Fibelfuß basiert. Darüber hinaus halte ich es für nicht notwendig und teilweise unpraktisch, die überregionalen Horizonte anhand von Merkmalskombinationen statt Einzelmerkmalen zu definieren. Beispielsweise könnte eine unvollständige Nauheimer Fibel mit lanzettförmigem Bügel aber ohne Fuß nicht in das Schema eingeordnet werden – und wenn wir dies doch tun, dann

bräuchten wir den Fibelfuß gar nicht erst in die Definition des Horizontes einzubeziehen. Stattdessen ist es meiner Meinung nach sinnvoller die beiden genannten Merkmalsausprägungen im Falle einer vollständigen Nauheimer Fibel einfach einzeln zu betrachten und dementsprechend die zwei Horizonte als parallel laufend anzusehen, so wie dies im Horizont-Konzept nach ­Collis auch vorgesehen ist. Ich würde daher noch einen Schritt weiter gehen und die Ideen von Collis konsequenter anwenden. Ich schlage vor, einen Horizont jeweils nur anhand eines einzigen Merkmals zu definieren und die übrigen Merkmale zu streichen: SEZ 10: Einfacher Rahmenfuß und draht- oder stabförmiger Bügel SEZ 11: Einfacher Rahmenfuß und Bügel mit dreieckiger Verbreiterung des Bügels am Fibelkopf (= Lauteracher Fibel) SEZ 12: Einfacher Rahmenfuß und lanzettförmiger Bügel, bronzene und silberne Exemplare verziert, eiserne Exemplare unverziert (= Nauheimer Fibel) SEZ 13: Einfacher Rahmenfuß und löffelförmiger Bügelkopf (= Schüsselfibel) SEZ 14: Rahmenfuß mit einem Steg SEZ 15: Mehrfach durchbrochener Fuß SEZ 16: Spiralkonstruktion mit Sehnenhaken Die verwendeten Merkmale sollten sich meines Erachtens möglichst am oberen Teil der Fibel ablesen lassen („Fibelkopf/Schließmechanismus“, „Bügelaufsicht“). Gleichwohl halte ich das Merkmal „Fibelfuß“ ebenfalls für einen wichtigen chronologischen Marker und behalte die entsprechenden Horizonte daher prinzipiell bei.

Fazit Meiner Meinung nach kann uns der neue (alte) Ansatz von Collis zukünftig bei der Konstruktion von Chronologien entscheidend voranbringen. Das Horizont-Konzept erfordert zwar eine fundamentale Umstellung in der Art und Weise, wie wir Chronologie denken und definieren, es bietet aber zusammen mit der Konzentration auf Merkmale in der Praxis diverse Vorteile: Das Horizont-Konzept bildet die „Realität“ als Modell besser ab, denn es berücksichtigt die Tatsache, dass Merkmale oder Typen, die einmal existieren, über die Herstellungs- und Hauptnutzungszeit hinaus – theoretisch bis heute – verlagert und auch verwendet werden können. Da ein Horizont kein Ende besitzt, werden keine künstlichen Brüche in der chronologischen Entwicklung erzeugt, wo eigentlich keine sind. In der Praxis ist die Datierung von fragmentiertem Fundmaterial leichter möglich, und es ist transparenter, worauf die jeweilige Datierung basiert, nämlich auf dem chronologisch jüngsten Merkmal. Das Horizont-System ist zudem wesentlich flexibler als das Perioden-System. Dadurch lassen sich Änderungen aufgrund neuer Erkenntnisse schneller einarbeiten und unterschiedliche Entwicklungen an verschiedenen Orten besser miteinander in Einklang bringen. Danksagung Für kritische Hinweise während der Erarbeitung meiner methodischen Vorgehensweise sowie bei der Entstehung dieses Artikels danke ich Sabine Rieckhoff, John Collis, Doreen Mölders, Ralf Hoppadietz und Matthias Wöhrl.

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Antike Geographie und Ethnographie: Quellensteinbrüche für die Eisenzeitarchäologie? Karl Strobel

Zusammenfassung Archäologie und Sprachwissenschaft verwenden mit der Bezeichnung „Kelten“ und „keltisch“ in Wirklichkeit die Begrifflichkeit der antiken Ethnographie, und im Bestreben nach regionaler Verortung „der Kelten“ oder „keltischer“ Ethnien die geographischen Konzepte der antiken Ethno- und Kulturgeographie, letztere allerdings nicht nur in der Form von Eintragungen in moderne Karten, sondern auch in einer vom modernen geographischen Weltbild ausgehenden Interpretation. Auch die Modelle der „Keltenwanderungen“ gehen direkt auf antike ethno­ kulturelle wie philosophische Vorstellungsschemata und literarische Topoi in der antiken Überlieferung zurück. Dabei werden entsprechende Textpassagen aus ihrem Kontext von Werk und Autor herausgelöst oder überhaupt nur mehr aus zweiter oder dritter Hand verwendet. Werkproblematik, Abhängigkeiten, Fragen der Textüberlieferung und philologische wie historisch-kritische Quellenkritik werden dabei kaum beachtet, zumal der Zugang zu den Originaltexten ständig abnimmt. Unrichtige Deutungen werden so weitergegeben, aber nicht mehr am Original und dessen Kontext überprüft. Aus diesem Grunde sollen hier eine Reihe von antiken Autoren, die in der Eisenzeit- und Keltenforschung eine besondere Rolle spielen, hinsichtlich der Frage ihres Aussagegehalts und dessen Beschränkung bzw. Inkompatibilität mit heutigen geographischen Vorstellungen diskutiert werden, von Rufius Festus Avienus über Herodot, Stephanos Byzantios, die Tabula Peutingeriana und die ominöse AgrippaKarte zu Klaudios Ptolemaios, Strabon, Poseidonios, Timagenes, Pompeius Trogus und Caesar. Dabei werden zahlreiche lange als erwiesen betrachtete „Fakten“ hinterfragt und die Brüchigkeit der Interpretationsgrundlagen von nur scheinbar eindeutigen Quellenaussagen verdeutlicht. Zum Abschluss wird die Problematik willkürlicher Quellenbenutzung an einem aktuellen Beispiel demonstriert.

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Abstract In reality, archaeology and linguistics use the term “celts” and “celtic”in the sense of the ethnography of antiquity and in an attempt to localise “the celts” or “celtic” ethnic communities use the geographic concepts of the ethnoand cultural geography of antiquity. However, the latter is not only used for recordings on modern maps, but also in terms of an interpretation which is influenced by the modern geographic world view. The models of “celtic migrations” also go back on ancient ethnocultural and philosophic ideas and literary topoi in ancient traditions. Relevant passages are separated from the context of the work and the author or are taken from secondary or tertiary sources. Problems relating to the work itself, dependences, questions regarding the preservation of the text and philological as well as critical historic source criticism are rarely considered.The access to the original sources is declining. Incorrect interpretations are passed on without being checked against the original or its context.Therefore, this paper discusses classical authors relevant to Iron Age and Celts research regarding their meaningfulness and its limits or incompatibility with modern geographical ideas. This includes Rufius Festus Avienus, Herodotus, Stephanus Byzantius, the Tabula Peutingeriana and the ominous Map of Agrippa as well as Klaudios Ptolemaios, Strabo, Poseidonios,Timagenes, Pompeius Trogus and Caesar. Numerous “facts” generally considered proven will be analysed and the fragility of the basis of interpretation of seemingly incontestable classical sources highlighted. Finally, problems arising from arbitrary use of sources will be demonstrated on a current example.

„First, the ethnic categories from Greek and Roman textual sources are not useful … for identifying distinct ­peo­ples on the basis of material evidence” (Wells 2014: 321). Betrachten wir jedoch die Literatur zu den konventionell als ‚keltisch‘ bezeichneten eisenzeitlichen Kulturen1, so ist die Verwendung antiker Texte omnipräsent, insbesondere bei der Postulierung ethnisch-kultureller Gruppen im geographischen Raum mit seiner Verteilung materieller Kulturphänomene. Dabei hat heute die Mehrzahl der Prähistoriker keinen sprachlichen Zugang zu den antiken Quellen, und auch die Rezeption der althistorischen und altphilologischen Forschung ist immer mehr verengt, was sich nicht zuletzt bei der Verwendung antiker ethnographischer und geographischer Informationen verheerend auswirken kann.2 So werden in der Quellenfrage einseitig und unkritisch arbeitende Zusammenstellungen wie bei dem ‚over-Posidonising‘ von J. J.Tierney (1959/1960; dazu Nash 1976), der selbst für Caesar eine weitgehende Ab192

hängigkeit von Poseidonios postuliert und die Benutzung weiterer Quellen durch Strabon nahezu negiert, nicht selten als angeblich erwiesener Forschungsstand übernommen. Gleiches gilt für jene im Umgang mit den antiken Quellen unzuverlässigen Publikationen wie etwa von Ph. Freeman (20013; 2006) oder leider auch B. Cunliffe (1997; 2001). Ebenso problematisch ist eine missbräuchliche Heranziehung archäologischer materiellen Kulturelemente als ‚Indizien‘ für angenommene linguistische und ethnische Entwicklungen wie in Teilen der Sammelbände zu den methodisch äußerst problematischen ­Thesen von J. T. Koch und B. Cunliffe unter dem Stichwort „Celtic from the West“ (Koch, Cunliffe 2010; 2011; dazu Zeidler 2011; Eska 2013). Die abnehmende Qualität großer Ausstellungskataloge hinsichtlich der historischen Ausführungen, die zudem immer mehr bis zur Unkenntlichkeit verkürzt werden, ist erschreckend. Die heute stark differenzierte Analyse der Wahrnehmung des ‚Anderen‘ durch

die Eliten des mediterranen Kulturraumes gerade für die antike Ethnographie des römischen Westens (etwa Lund 1990; Dick 2008; Derks, Roymans 2009; Bichler, Rollinger 2011; Bonfante 2011; Woolf 2011; Dunsch, Ruffing 2013) bleibt dabei vielfach unberücksichtigt. Begrüßenswert sind deshalb die von A. Hofeneder (2005; 2008; 2011) mit umfangreichen Kommentaren und kritischer Wertung zusammengestellten antiken Zeugnisse zur keltischen Religion, wobei zahlreiche gängige Thesen ­widerlegt werden. Doch selbst hier darf in der Auswertung nicht auf eine eigenständige Vertiefung der Probleme des jeweiligen antiken Gesamtwerkes und seiner kontextuellen Tradition verzichtet werden. So stellt Hofender beispielsweise Testimonia aus Rufius Festus Avienus unter der Überschrift „[Rufii Festi Avieni] Periplus Massiliensis“ an den Anfang seiner Sammlung (2005: 16-24). Er betont zwar gegen die Thesen von A. Schulten, der hier einen massaliotischen Periplus der Zeit um 520 v. Chr. in einer lateinischen Fassung überliefert sah, dass es sich bei dem Gedicht, von dem die ersten 713 Verse erhalten sind, nach anderer Ansicht primär um ein Werk aus dem späteren 4. Jahrhundert n. Chr. handelt und sein Verfasser ­Avienus dafür Vorlagen verarbeitet hat, deren Art und ­ Alter unklar bleiben (Berthelot 1934; auch Tomaschitz 2002: 20–24). Zugleich warnt er vor der kritiklosen Übernahme der Thesen Schultens durch die keltologische Forschung. Dennoch evoziert die Vorstellung als erstes und damit auch ältestes Zeugnis, noch dazu als „Periplus Massiliensis“ gerade beim fachfremden Benutzer den Eindruck, dass hier von einer sehr alten Vorlage auszugehen sei und Avienus deren Informationen zuverlässig weitergebe. Dies zeigt sich dann auch in den folgenden Kommentierungen der einzelnen Testimonia, die den anfänglichen Vorbehalt nicht mehr widerspiegeln. Hofen­ eder lässt damit die Entscheidung zwischen den konträren Standpunkten nur scheinbar offen. Das in iambischen Senaren verfasste Werk dieses spätantiken Dichters, welcher der ­paganen Ausrichtung des stadtrömischen Adels verpflichtet war (ILS 2944), ist der poetischen Unterhaltungsliteratur (sogenannte Lehrgedichte) zuzuordnen, ebenso seine ­Descriptio orbis terrae, die er nach dem Vorbild des Dionysios Periegetes (2. Jh. n. Chr.; Ilyushechkina 2013) in Hexametern verfasst hat. In dem Werk ist primär die ­eigenständige poetische Berarbeitung griechischer und lateinischer Quellen der Kaiserzeit, und auch diese wohl nur über Zwischenstufen verwendet, zu sehen. Dabei ist

an den Oikumene-Periplus des Isidoros von Charax, eines Geographen der augusteischen Zeit (FGrHist 781 T 1–3 mit F 6), an den wahrscheinlich unter Tiberius schreibenden Geographen Philemon, den Autor einer Beschreibung des nördlichen Ozeans (Plin. n. h. 4, 95– 97.104; 37, 34-36; Kroll 1938), an den aus der ­Region von Gibraltar stammenden Pomponius Mela, ­dessen Werk wohl Mitte der 40er Jahre publiziert wurde, und insbesondere an den Grammatiker Skribonios Demetrios von ­Tarsos (Haider 2004; Hofeneder 2008: 532-535; PIR S 260) zu denken. Letzterer erscheint in Plutarchs De defectu oraculorum, dramatisches Datum 83/4 n. Chr. (geschrieben ca. 100 n. Chr.; dazu Ziegler 1951: 832–838; Mossman 1997), als einer der Dialogpartner. Sein Auftritt bei den damaligen Pythien ist als historisch zu werten. Er hat sich sehr wahrscheinlich seit den späten 70er Jahren bis 82/83 n. Chr. im Stab des Cn. Iulius Agricola in Britannien befunden. Nach der endgültigen Eroberung von Wales und im Zusammenhang mit der Besetzung der nordenglischen und südschottischen Westküste sowie einer möglichen Invasion Irlands (Tac. Agric. 24, 1–3) hat er „im Auftrag des Kaisers“, realiter natürlich des mit den entsprechenden Vollmachten zum offensiven Vorgehen ausgestatteten kaiserlichen ­Legaten Agricola, die Inselwelt in der Irischen See mit einer Flottenexpedition erkundet. Darüber hat er eine Plutarch bekannte Schrift über den nördlichen Ozean verfasst (Plut. mor. 410A ; 419E-420A). Demetrios scheint die Inselwelt, wohl einschließlich Irlands, als Teil einer magischen sakralen Zone beschrieben zu haben, wie sich aus Plutarch (Hofeneder 2008: Nr. 59 T 5) erschließen lässt. Die Bezeichnung Irlands als sacra insula bei Avienus (ora marit. 108-112 = Hofeneder 2005: Nr. 1 T 1) dürfte entsprechend entgegen Hofeneder auf Demetrios ‒ für die britizurückzuführen sein. Der Name Alouíon sche Insel wiederum ist erst im Oikumene-Periplus des Isidoros von Charax belegt, und zwar in der Übernahme bei Plinius d. Ä. (Albion ipsi nomen fuit; n. h. 4, 102), ferner über Demetrios bei Ptolemaios (Ptol. geogr. 2, 3, 1.31; 7, 5, 11 Alouío¯ n, eine britannische Insel) als Name für die größte der Britannischen Inseln, nicht aber bereits für das 6. oder 5. Jh. v. Chr.4 So ist auch die Bezeichnung der Bewohner Britanniens als Albiones kaum als deren „offensichtliche Eigenbezeichnung“ als „Weltbewohner“ zu sehen, wofür es keinen Anhaltspunkt gibt; vielmehr ist der Stamm * a¯ lw/u- als ursprünglich anzusehen. Der Name wurde in dem bei Plinius belegten römischen Sprachgebrauch of193

fenbar albus, weiß, nachgebildet, vergleichbar dem Namen Irlands5 von hibernus, winterlich. Für Küstenstreifen der iberischen Halbinsel und des Golfs von Lyon ist bei Avienus über die entsprechenden Zwischenstufen ältere Überlieferung eingegangen, ohne dass wir Indizien dafür hätten, diese vor das 4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. zu datieren. Ein eigener Augenschein ist für den Autor nirgends nachzuweisen. Auch für die bekannten Herodot-Passagen zu Pyrene und der Quelle des Istros (Hdt. 2, 33, 3; 4, 49, 3) muss man sich zuerst das geographische Weltbild Herodots vor Augen stellen (Sieberer 1995: 50–60; Gehrke 2007: 29–30 mit Skizze; Bichler 2007: 69–72; 2013), in dem der Ober- und Mittellauf der Flüsse Nil und Istros parallel zu einander von West nach Ost fließen, wobei ihre Quellen jeweils im Westen der Kontinente angenommen sind. Der Thraker und Skythen trennende Unterlauf des Istros wird als von Nord nach Süd zur Mündung verlaufend auf ­gleicher geographischer Länge wie der Nil in Ägypten gesehen (Hdt. 2, 33–34). Die Quelle des Istros bei der „Polis ­Pyrene“ wird im äußersten Westen Europas weit nördlich der Säulen des Herakles, aber bereits auf einer Länge westlich dieses Punktes lokalisiert, wobei Herodot betont, dass ein Meer im Norden der Oikumene nicht nachgewiesen sei und für ihn die Küstenlinie Europas kurz nach Gades endet, wo sich die Landmasse der nördlichen Hemisphäre bis zu der auf Grund der Kälte unzugänglichen nördlichsten Klimazone erstreckte. Sein Pyrene liegt so inmitten der nordwestlichen Landmasse des Nordteils der Oikumene, wobei ihm die Kynesier6 als westliche Nachbarn der Kelten und westlichstes Volk Europas gelten. Noch in den 330er Jahren war der Kenntnisstand nicht wesentlich verbessert, wie der geographische Überblick des Aristoteles (meteor. 1, 13, 350a–b) zeigt: Aus dem Pyrene-Gebirge fließen zwei Ströme, einmal der Tartessos, der außerhalb der Säulen des Herakles in den Ozean mündet, zum anderen der Istros, der quer durch Europa zum Schwarzen Meer fließt (350b, 1–4). Die meisten anderen Flüsse Europas würden von den Arkynischen Bergen, welche das nach Höhe und Ausdehnung größte Gebirge bilden, heraus nach Norden fließen (350b, 4–7). Die Alpen kennt ­Aristoteles nicht, nur einen zentraleuropäischen Gebirgszug nördlich des Istros. Ganz im Norden und jenseits des äußersten Skythien nennt er noch das Rhipäische Gebirge, über das nach seinen Worten nur unglaubwürdige Geschichten kursieren und wo die nach dem Istros 194

größten Flüsse Europas entspringen sollen (350b, 7–11). Eine typische Fehlinterpretation ist schließlich die oftmals wiederholte Behauptung, aus der Notiz bei Stephanos von Byzanz s.v. Nárbo¯ n, Ethnikon Narbo¯ nite¯s (Markianos)/Narbo¯ ne¯sios (vgl.Strabos, 4, 1, 1), folge, dass bereits Hekataios Narbon als keltische Stadt bezeichnen würde.7 Dabei werden hier Strabon und der spätantike Geograph Markianos zitiert. Für Strabon war die Gallia Narbonenis selbstverständlich ein Teil der Keltike gleich Galliens. Der vermeintliche Nachsatz, dass Stephanos bei Hekataios das Ethnikon Narbaíoi gefunden habe, ist in der Textüberlieferung nach oben gerutscht und gehört in Wirklichkeit zum folgenden Lemma Narbís, eine illyrische Polis.Außerdem hat der Grammatiker Stephanos von Byzanz für sein wohl um 530 n. Chr. entstandenes grammatikalisch-philologisches Lexikon von Toponymen und Ethnonymen, das ursprünglich über 50 Bücher umfasste, aber nur in rudimentären und uneinheitlich exzerpierenden Auszügen überliefert ist8, Hekataios nicht mehr im Original, sondern über Zwischenstufen, insbesondere die Grammatiker Ailos Herodianos, Oros von Milet und Herennios Philon von Byblos, benutzt. Außerdem sind etwa 40 % der geographischen Zuweisungen bzw. Lokalisierungen nicht den ursprünglichen Quellen entnommen, sondern sekundär, teilweise erst von Stephanos selbst hinzugefügt und zu einem nicht unerheblich Teil unrichtig. So ist auch dem Lemma Nyrax, Stadt in der Keltike, für Hekataios im Grunde nichts zu entnehmen. Der Grundsatz der antiken Geographie und Ethnographie „Gleiche oder auch nur verwandt scheinende Namen bedeuten gleiche Völker oder Völker gemeinsamer Abstammung“ führt in den antiken Quellen, von Hekataios und Herodot angefangen, wo es dafür genügend drastische Beispiele gibt, immer wieder zu spekulativen Konstruktionen mit postulierten Wanderungs- und Rückwanderungsgeschichten, die vielfach bis in die Forschung der Gegenwart nachwirken.9 Ein klassisches Exempel hierfür ist etwa die Kimmerier-Kimbern-Gleichung bei Poseidonios (F 44a ed. Theiler; vgl. Strab. 7, 2, 2; Plut. Mar. 11) oder das Konstrukt Strabons (5, 1, 6), dass die Boier von den Römern aus Oberitalien vertrieben in einen Teil von Illyrien gewandert seien, wo sie dann zusammen mit den Tauriskern wohnten. Grundlage ist allein, dass Strabon aus seinen Quellen einerseits die oberitalischen Boier kannte, andererseits Boier in Illyrien nahe dem Ostende der Alpen, und das heißt südlich (!) der Donau. Im Übrigen

sollte nicht vergessen werden, dass Polybios aus eigener Autopsie (34, 10, 6–7) bei der Skizzierung der Oikumene (3, 3, 37) die Wohngebiete der Kelten nur zwischen dem Narbo-Fluss (Aude) und den Pyrenäen ansetzt, während er Iberien von den Pyrenäen bis zu den Säulen des ­Herakles als „ganz von barbarischen, volkreichen Stämmen bewohnt“ beschreibt. Ernüchternd sind auch die Ergebnisse zur Tabula Peu­tingeriana (Rathmann 2013b), die oft fälschlich als I­tinerarium pictum bezeichnet wird, aber trotz ihrer starken Verzerrung durch das Rollenformat in der Struktur gerade mit der Karte des Artemidor-Papyrus (Hammerstaedt 2013) zu vergleichen ist. Ihre chorographische Grundkarte ­ datiert in den frühen Hellenismus und bleibt im Wesent­lichen unverändert. Derartige Weltkarten in Rollenformat waren in der römischen Elite offenkundig weit verbreitet (Suet. Dom 10, 3). Im Laufe ihres Redaktionsprozesses vermutlich bis ins frühe 5. Jh. n. Chr. (Weber 2012) wurde diese mit Informationen der römischen Zeit gefüllt und erhielt durch das römische Straßennetz eine einheitliche Binnenstruktur, die sie wiederum einem Itinerarium annähert. Hinsichtlich der immer wieder in die Diskussion geworfene Karte des Agrippa (Arnaud 2007/2008; Hänger 2007; Brodersen in Dueck 2013: 124–125; Rathmann 2013a: 24), ist davon auszugehen, dass Agippa lediglich die Anbringung einer Bronzetafel mit einer schematischen Darstellung der römischen Provinzen und der Oikumene in der Porticus Vipsaniae plante und diesesVorhaben nach seinem Tod von Augustus ausgeführt wurde (Plin. n.h. 3, 17). Es war also keine wissenschaftliche, sondern eine eher populär gedachte Darstellung des Orbis Terrarum mit Einzeichnung der römischen Provinzen auf der Basis des gängigen Oikumene-Bildes (Arnaud 2007/2008: 115–121), also keinesfalls ein Itinerarium oder eine monumentale Weltkarte. Dazu hatte Agrippa offenkundig in einer das Projekt begleitenden Schrift Angaben zu Distanzen sowie Längen- und Breitenausdehnung der Provinzen gesammelt.Weder von ­einer Karte noch von Agrippas Textversion sind Fragmente erhalten. Die einzige fassbare Rezeption des offensichtlich in Tabellenform ­publizierten Textes mit seinen meist aus der Literatur gewonnenen Daten sind die bei Plinius d. Ä. übernommenen Distanzangaben bzw. ­Längen- und Breitenerstreckungen von Gebieten. Eine Verwendung durch Strabon ist mit ­Sicherheit auszuschließen. Demnach war die Darstellung der Provinzen bei Agrippa in geometri-

schen Figuren, in Rechtecken und Trapezen, schematisiert, wobei offensichtlich die Weltkarte des Eratosthenes als Grundgestalt der Oikumene diente und so das Kaspische Meer noch als Ausbuchtung des nördlichen Okeanos (Eratosthenes Frg. III A 68 ed. Berger) erschien. Auch ­Strabon (2, 5, 18; 11, 6, 1) folgt darin noch Erathosthenes, ­obwohl Kaspisches Meer und Aralsee seit der Alexanderzeit als Binnengewässer bekannt waren (Aristot. meteor. 2, 1, 354a). Das Konstrukt einer allgemeinen Abhängigkeit geographischer Abhandlungen kaiserzeitlicher Autoren oder gar der Tabula Peutingeriana von einer Weltkarte des Agrippa (so etwa Weber 1976) hat sich als Forschungslegende erwiesen. Wir müssen stets berücksichtigen, dass die Aussagen ­älterer Autoren bzw. entsprechender geographischer und ethnographischer Traditionen in dem Literaturbetrieb und in den literarisch gebildeten Kreisen erhalten blieben, obwohl sie im Widerspruch zu dem eigentlich zeitgenössisch zur Verfügung stehenden Wissen standen. So werden etwa die Quaden und Markomannen von Arrian noch als Kelten bezeichnet (Arr. 1, 3, 1), und Poseidonios hat in seinem Konservatismus gegen Herodot und Polybios (gefolgt von Strabon 7, 3, 1) die Existenz der mythischen Hyperboreer verteidigt und sie in den Alpen Italiens gesucht (F 70 ed.Theiler) oder die Alpen mit dem legendären Rhipäischen Nordgebirge gleichgesetzt (F 402 ed. Theiler). Auch Plinius d. Ä. bezweifelte die Existenz der Hyperboreer nicht (n. h. 4, 89–91), und zwar mit der Begründung tot auctores produnt. Die Identität der Flüsse mit den Namen Danuvius und Ister war noch Poseidonios in seinem Werk „Über den Okeanos“ nicht bekannt, der die Donau und den Rhein parallel zueinander in den nördlichen Ozean münden lässt (Diod. 25, 3–4; Malitz 1983: 185). Die Quelle des Ister wiederum lokalisierte Poseidonios nördlich des Caput Adriae, worin ihm Strabon ursprünglich folgte (s. u.). Die Gleichsetzung beider Flussnamen ist erst in Sallusts Historien ausdrücklich thematisiert (3, 79.80 ed. Maurenbrecher; frühe 30er Jahre), die Einheit des Flusslaufes war natürlich Caesar bekannt. AlleVersuche, die Angaben bei Strabon, Caesar oder Klaudios Ptolemaios in moderne Karten zu übertragen und so etwa den Donauraum oder Germanien in augusteischer Zeit historisch und ethnographisch auf der Basis unseres geographischen Bildes zu rekonstruieren, sind von vorne herein verfehlt und müssen zu ­falschen Schlüssen führen.10 Klassisches Beispiel ist nicht zuletzt Strabons geographi195

sches Bild für Gallien (Thollart 2009: 17), das er als einem Rechteck jeweils nördlich und südlich der Cevennen, zwischen Pyrenäen und Alpen bzw. zwischen Pyrenäen und Rhein konstruiert, wobei die Pyrenäen in gerader Nord-Süd-Erstreckung angenommen werden. Garonne und Loire werden von Süd nach Nord parallel zu Seine und Rhein fließend gedacht und münden bei Strabon in den Sund zwischen Gallien und Britannien, wobei Britannien als Dreieck konstruiert und Irland noch nördlich der Nordspitze Britanniens lokalisiert werden (Strab. 1, 4, 3; 2, 1, 13; 2, 5, 34). Britannien erstreckt sich dabei entlang der gesamten Nord­küste der Keltike von den Pyrenäen bis zur Rheinmündung. Noch methodisch unhaltbarer wird ein Vorgehen, bei dem etwa Strabon und Caesar bzw. Strabon und Ptolemaios kombiniert werden. Deshalb sind die Kartenkonstruktionen in der Ptolemaios-Ausgabe von A. Stückelberger und G. Graßhoff (2006) beispielhaft. Im Gegensatz zu Ptolemaios fehlen uns bei Strabon die notwendigen konkreten geographischen Angaben in Form von Koordinaten als unabdingbare Grundlagen, um seine Angaben überhaupt in Form eines Kartenbildes darzustellen. Geographie im 2. Jh. n. Chr.: Klaudios Ptolemaios Der wesentliche Fortschritt in Klaudios Ptolemaios‘ bald nach 150 n. Chr. verfassten Geographiké hyphégesis ­(Stückelberger, Graßhoff 2006; Stückelberger, Mitten­ huber 2009; Mittenhuber 2009) bestand nicht in der Sammlung aktueller oder auch nur aller verfügbarer Daten oder gar eigener Forschungsreisen bzw. eigener Messungen, sondern darin, aus dem von ihm verwendeten, teilweise sehr alten Datenmaterial auf mathematischem und kombinatorischem Wege zu neuen Ergebnissen zu kommen (Stückelberger, Graßhoff 2006: 13–27; Stückelberger, ­ Mittenhuber 2009: 254–318; Geus 2007; 2013). Dabei nahm er in sein Handbuch nur jene Daten auf, die er für die mathematisch-astronomische Darstellung des geographischen Raumes in seinen Umrissen und wesentlichen Binnenstrukturen für erforderlich betrachtete. Den seit dem 3. Jh. v. Chr. gefertigten Tages- und Schattenlängenverzeichnissen, die Ptolemaios in den Listen seines älteren Zeitgenossen Marinos von Tyros (+ ca. 130)11, seines Hauptgewährsmannes, zusammengestellt fand, standen nur äußerst selektive und lückenhafte Längenwerte im Verzeichnis „der sogenannten gegen­überliegenden 196

Orte“ (Ptol. geogr.1, 4, 2; 1, 17, 1) gegenüber. Die noch bei Marinos getrennten Verzeichnisse von Breiten- und Längenwerten12 wurden erst von Ptolemaios in kombinierten Tabellen zusammengeführt und für jeden Ortspunkt Breiten- und Längenkoordinaten in einem einheitlichen Koordinatensystem ermittelt. Die erfassten Breitenwerte (Polhöhen) sind im Gegensatz zu den Längenangaben meist relativ zutreffend, wobei den von Hipparch (ca. 190–125 v. Chr.; Dicks 1960; Shcheglov 2003/2007; 2005; 2007; Stückelberger, Mittenhuber 2009: 136 –138) stammenden Listen eine wesentliche Bedeutung zukam (geogr. 1, 4, 2), die auch Strabon in Teilen überliefert (2, 5, 34–43). Jedoch waren sie in bestimmten Fällen bereits bei Hipparch fehlerhaft, was noch bei Ptolemaios u. a. zu einer massiven Verzerrung der nordafrikanischen Küste oder zur Fehlplatzierung von Byzanz führte (Mittenhuber in Stückelberger, Mittenhuber 2009: 245–252). Fehlende astronomische Ortsdaten suchte Ptolemaios aus Reiseberichten und literarischen Distanzangaben zu errechnen bzw. deren Umrechnung bei Marinos zu korrigieren (geogr. 1, 2, 2; 1, 4, 2; 1, 18, 6; Stückelberger in Stückelberger, Mittenhuber 2009: 122–128, 219– 244). Für die geographischen Distanzangaben mussten dabei die Informationen über Reisedauer zu Land und zur See auf Schätzbasis umgerechnet werden. Welche großen Unterschiede in der Qualität der Ptolemaios vorliegenden Daten noch im mittleren 2. Jh. zu finden sind, zeigt bereits der Blick auf Gallien und Germanien im Rahmen der Europakarte (Mittenhuber in Stückelberger, Mittenhuber 2009: 271–273). Relativ korrekt ist die geographische Dar­stellung der Mittelmeerküste im Gegensatz zur sehr fehlerhaften Wiedergabe der Atlantikküste. In der Hydrographie fehlen Mosel und Maas, in Germanien Neckar und Main; das Adula-Gebirge13, das sich von den Quellen des Rheins bis zu den Alpen erstrecken soll (geogr. 2, 9, 5), also ein vermeintlicher nördlicher Ausläufer der Alpen, ist ein grober geographischer Irrtum. Über das Binnengebiet Germaniens besaß er bzw. Marinos keine genauen Kenntnisse; das Abnoba-Gebirge (Schwarzwald), seit Sallust als Quellgebirge der Donau bekannt (Avien. descr. orb. 435–438), ist als eine Gebirgskette Odenwald bis Rothaargebirge gesehen. Anstelle des Schwarzwaldes lässt Ptolemaios ein großes, mit den Alpen gleichnamiges Gebirge nördlich der Donauquellen (geogr. 2, 11, 7) in nordöstlicher Richtung beginnen, offensichtlich die Schwäbische und Fränkische Alb. Das

geographisch stark verzerrte und zerdehnte Bild der Germania Magna (Reichert 2005; Mittenhuber, Grünzweig in Stückelberger, Mittenhuber 2009: 272–273, 305–311) mit einem geraden Verlauf des Rheins von Süd nach Nord als Westgrenze ist nur hinsichtlich der Einfügung des Ortes Arae Flaviae (Rottweil; geogr. 2, 11, 30) auf die nachaugusteische Zeit hin aktualisiert. Im südlichen Bereich, in dem keltische Ortsnamen eindeutig dominieren, ist zweifellos noch die Oppida-Kultur des frühen 1. Jh. v. Chr. gespiegelt, in vielen Fällen aber wohl durch die Kontinuität der Ortsbezeichnung. Das Melibocum-Gebirge, das eigentlich Rhön, Thüringer Wald und Erzgebirge zusammenfasst und als gerade von West nach Ost verlaufend gedacht ist, wird viel zu weit nördlich angesetzt, die Elbquelle dafür im Sudeta-Gebirge, das sich 3° südlicher parallel dazu mit größerer Ostausdehnung erstrecken soll (Europa Karte 4, Stückelberger, Graßhoff 2006: 788–789). Das Acisburgium-Gebirge wiederum ist eine fehlerhafte Verdoppelung der Sudeten unter Einschluss der nördlichen Beskiden, jedoch ganz weit nach Norden verschoben. Ursache hierfür sind offenkundig unterschiedliche Angaben zur Lage, die einmal von Norden, von der Küste aus, und einmal von Süden, von der Donau aus rechneten bzw. die Verwendung unterschiedlicher Vorlagen, wo offenkundig der ganze Mittelgebirgszug vom Fichtelgebirge bis zum Riesengebirge als Sudeta-Gebirge bezeichnet war. Eigentlich müssten das Mittelgebirge westlich des Elbdurchbruchs (Melibocum-Gebirge) nach Osten fortgesetzt durch das Asciburgium-Gebirge (offenbar das Lausitzer- und Elbsandsteingebirge) und die anschließenden Sudetae Montes mit der Elbquelle bis zur Mährischen Pforte mit der Oderquelle gezeichnet sein. Nehmen wir als konkretes Beispiel das Bild bei Ptolemaios für Dakien, so fällt als erstes auf, dass die Theiß mit dem Tibiscus/Tibiskos als der Westgrenze Dakiens und Ostgrenze der „Ausgewanderten Iazygen“ verwechselt ist, hingegen der Unterlauf der Theiß wie der Marisos/ Mures¸ völlig fehlen (geogr. 3, 7, 1; 3, 8, 1; Europa Karte 4, Stückelberger, Graßhoff 2006: 812–813). Dabei hatte Ptolemaios sein Werk wahrscheinlich um oder bald nach 150 n. Chr., also lange nach der Eroberung und dem Ausbau des römischen Dakiens, begonnen. Zweifellos hatte er für den dakischen Raum und die Donau-Theiß-Ebene eine nicht zeitgenössische Informationsgrundlage zur Hand, die zudem äußerst lückenhaft und mit schwerwiegenden Fehlern behaftet war. So fehlt im Gegensatz zu

der hadrianisch-zeitlich dargestellten Situation in Moesia Superior14 und Inferior auch die Nennung der Legio XIII ­Gemina und ihrer Garnison in Apulum.Vom Tibiskos wird gesagt, dass er nach Norden führe, im karpatischen Gebirge entspringe, vor der Mündung in die Donau nach Osten biege, die auf einem Längengrad (46°) mit Tricornium (Ritopek) gelegt ist. Die Beschreibung des ­Unterlaufs trifft auf den tatsächlichen Tibiscus/Temesch zu. Auch seine Mündung in die Donau ist in etwa zutreffend verortet, wenn auch die Entfernung zu Singidunum (45°30‘) viel zu groß ist und die Breitengrade zu vertauschen sind (Tricornium 44°15‘, Mündung 44°30‘). Ferner sagt Ptolemaios, dass der Tibiskos südlich des Karpatischen Gebirges endet. Mit dem „Karpatischen Gebirge“, dessen Koordinaten mit 46° Ost und 48°30‘ Nord angegeben werden (geogr. 3, 5, 6.15; 3, 7, 1) können somit nur Waldkarpaten mit Karpato-Ukraine gemeint sein. Es überrascht sehr, dass Ptolemaios den charakteristischen Gebirgsgürtel Dakiens nicht kennt, auch nicht die Nordkarpaten als Grenze zum „Europäischen Sarmatien“. Für Dakien (geogr. 3, 8, 1) wird die Grenze im Norden vom Karpatischen Gebirge bis zur Biegung des Flusses Tyras/ Dnjestr gezogen (53° Ost, 48°30‘ Nord), im Westen durch den Tibiskos zu den „Ausgewanderten Iazygen“, im Süden durch die Donau von der Mündung des Tibiskos bis Axio­polis; von dieser Stadt an heiße die Donau bis zur Mündung Istros. Die Ostgrenze (geogr. 3, 8, 4) ist die Biegung der ­Donau nach Norden bis Dinogetia und weiter nach Norden der Fluss Hierasos, der bei Dinogetia in die ­Donau münde und nach Norden bis zur genannten Biegung des Tyras verlaufe. Der Hierasos/Sereth ist hier offenkundig mit dem Pyretos/Pruth verwechselt, der tatsächlich von Dinogetia nach Norden (und Nordwesten) bis in die Nähe der Dnjestr-Biegung bei Chotin verläuft. Die West- und Ostgrenze werden demnach bei Ptolemaios realiter durch Theiß und Pruth gebildet. Eine wesentlich ältere Abgrenzung der Geten (hier nun als Dakien bezeichnet) gegenüber den Sarmaten am Tyras (Dnjestr) gibt hingegen Ptolemaios in der Beschreibung des Europäischen Sarmatien (3, 5, 17) an. Für das Innere Dakiens (geogr. 3, 8, 2–3) liegen folgende Angaben vor: Auf der gleich östlichen Länge wie Ratiaria münde der Fluss Rhabon, der nach Dakien führe, zweifellos ist der Jiu gemeint (Mündung realiter weiter östlich). Der Alutos (Alutus, Olt) wiederum eile nach Norden und teile Dakien in einen westlichen und östlichen Teil; sein Lauf 197

soll demnach bei 50°15‘ östlicher Länge von Nord nach Süd verlaufen, was vor dem Südkarpatendurchbruch ein grober Fehler ist. Während bei Ptolemaios der Pyretos/Pruth fehlt, führt er zwischen Tyras/Dnjestr und Borysthenes/Dnjepr den Axiakes (geogr. 3, 5, 18) an, der in den Karpaten entspringen soll; dabei kann es sich nur um den ukrainischen Bug handeln, der aber eben nicht in den Karpaten entspringt; offensichtlich ist der Oberlauf des Dnjestr fälschlich mit dem Oberlauf des Axiakes gleichgesetzt und der angegebene Oberlauf des Tyras realiter jener des Pruth. Das ominöse Peuke-Gebirge im Europäischen Sarmatien (geogr. 3, 5, 1–31; Europa, Karte 8), nordwestlich des Ursprungs eines westlichen Quellarms des Borysthenes, sehr wahrscheinlich der Fluss Ros, kann nur das mittelgebirgsartige Zentrum des Podolischen und Dnjepr-Hochlandes bezeichnen, eine offenkundig kaum bekannte und zu weit nördlich angesetzte Region. Als ihre Bewohner erscheinen die Peukiner, als deren Nachbarn in der gleichen ­Breitenzone die Karpianoi, offensichtlich die Karpen, und die Bastarnen (geogr. 3, 5, 24), also realiter zwischen Nordkarpaten, Wolynien und Bug. Südlich der Bastarnen sind „bei Dakien“ die Tagroi (südliches Moldawien?) und noch weiter südlich (realiter offensichtlich östlich) die Tyrageten (unteres Dnjestr-Gebiet) genannt (geogr. 3, 5, 25). In der Liste der in Dakien genannten „bedeutenderen Städte“ (geogr. 3, 8, 6 –10) fällt sofort auf, dass die ­Colonia Ulpia Traiana Sarmizegetusa fehlt, mehr noch, mit Ausnahme von Ulpianon, Salinai, Augustia und Praetoria Augusta keine römischen Ortsnamen erscheinen, sondern nur dakische bzw. thrakische. Prominent erscheint aber Zarmizegethusa ­basileios bzw. basileion, der Residenzort des Decebalus (geogr. 3, 8, 9; 8, 11, 4). Dies ist bezeichnend und verleiht den Angaben zu Siedlungen und Völkerschaften (geogr. 3, 8, 5) ihre besondere Aussagekraft für das vorrömische Dakien, zumal in den dakischen Provinzen nach Eroberung und Organisation des Landes keine Civitates eingerichtet waren. Sieht man sich die Ortsliste genauer an, so wird deutlich dass Ptolemaios für die Orte von ­ Porolissum im Norden bis Frateria/Fraterna einer Meridian-Liste des Marinos folgt, die allerdings zu nahe an den Meridian der Oltmündung herangerückt ist, ebenso für Sandava bis ­Sornon, Tripohulon bis Netindava und Patridava bis ­Paloda, wobei er diese Listen aber in seine Breitenzonen-Gliederung aufteilt. In 3, 8, 5 gibt Ptolemaios eine Aufzählung der Dakien 198

bewohnenden Völkerschaften, die er in drei Spalten gliedert, einmal die Bewohner des Westteils, dann jene des mittleren Teils und des östlichen Teils, aber wiederum in ­seine Breitenzonen jeweils von Westen beginnend eingruppiert.15 Die ursprüngliche Auflistung ergibt sich jeweils in der Reihenfolge von Nord nach Süd: Westeil: Anartoi – Predauensioi/Piedauensioi – Biephoi – Albokensioi - Saldensioi; Mitte: Teuriskoi – Rhatakensioi – Buridauensioi – Potulatensioi/Potulakensioi – Keiagisoi; Osten: K(o)istobokoi – Kauko(s)ensioi – Kotensioi – Sinsioi/Kinsioi – Piephigoi. Die Anarter sind dabei nicht, wie traditionell angenommen, als Kelten zu betrachten und in Nordostungarn und dem sklowakisch-ukrainischen ­Theißgebiet zu lokalisieren (etwa Mócy 1974: 18–20). Vielmehr ist in ihnen die mächtige Stammesgruppe mit Zentrum im Becken von S¸imleu Silvaniei, welche die Regionen S˘alaj, Maramures¸ und östliches Satu Mare gegen das Einsiedeln von Latènegruppen und gegen Latène-Einfluss abschirmte, zu sehen.16 Allerdings fehlt die zentralsiebenbürger Stammesgruppe der Apuli mit ihrem Zentrum Apulon (Piatra Craivii und weiträumig umgebende Terrassenkomplexe), mit denen es im Rahmen der Feldzüge unter dem Oberbefehl des Tiberius im Karpatenraum17 zu einer ­militärischen Auseinandersetzung gekommen war (Consolatio ad Liviam 387–388). Analysiert man die bei Ptolemaios gegebenen Daten und Informationen, so kommt man zu mehreren Quellenschichten: Einmal eine Aufzählung der in Dakien wohnenden Völkerschaften nach Westteil, Mitte und Osten, die aus vor-mittelaugusteischer Zeit stammen muss und noch nicht die Räumung des nördlichen Donauufers in den Walachischen Ebenen durch Aelius Catus kannte. Sie kann mit gutem Grund auf Timagenes zurückgeführt werden. Sodann eine Beschreibung der nördlichen Donau-Anrainer nach dem Eindringen der Jagygen in die Ebene zwischen Donau und Theiß, wo die Grenzen Dakiens mit dem Lauf des Pruth im Osten und einem von Nord nach Süd vom Karpatengebirge zur Donau verlaufenden Fluss im Westen (Theiß) definiert sind. Diese dürfte noch in vorneronischer Zeit, jedenfalls vor die weitreichenden Operationen des Plautius Silvanus Aelianus gehören. Zuletzt schließlich bis in flavisch-domitianische Zeit aktualisierte Ortsangaben, die Marinos in Meridianlisten erfasst hatte. In keiner von Marinos oder Ptolemaios erfassten Vorlage war jedoch der Gebirgsgürtel Siebenbürgens beschrieben, so dass beiden West, Süd- und

Ostkarpaten ebenso unbekannt waren wie die tatsächliche Bedeutung der Nordkarpaten. Marinos‘ Datensammlung für den Donauraum endete offenkundig vor den Dakerkriegen Traians wie generell vor dessen Partherkrieg. Während Ptolemaios für Moesia Superior und Inferior die Situation in frühhadrianischer Zeit erfassen konnte, hat er für die 106 zur Provinz gewordenen Gebiete Dakiens nur drei Ortsdaten römischer Neugründungen vorgefunden, aber keine Angaben zur neuen Metropole der Colonia Ulpia Traiana Sarmizegetusa. Hingegen war ihm bekannt, dass der Hierasus nach 106 die Ostgrenze des römischen Herrschaftsbereichs darstellte, hat diesen Fluss aber mit den geographischen Daten der alten Ostgrenze Dakiens gleichgesetzt. Ferner war ihm offenkundig bekannt, dass seit 118/119 v. Chr., die Westgrenze der Provinz Dacia bzw. Dacia Superior gegenüber den Jazygen vom Mittel- und Unterlauf des Tibiskos/Temesch gebildet wurde, wobei ihm für diesen Grenzabschnitt relativ präzise geographische Daten vorlagen. Nur hat er nun den Tibiskos mit jenem Fluss gleichgesetzt, der in der Mitte des 1. Jh. n. Chr. als Grenze zwischen Dakien und den Jazygen gegolten hat. Bei den im Land der ausgewanderten Iazygen aufgelisteten Orten (3, 7, 2) dürfte es sich realiter meist um Spätlatènesiedlungen im Norden des Raumes zwischen Donau und oberer Theiß handeln, die noch in augusteischer oder auch domitianischer Zeit bestanden. Historiographie, Ethnographie und Geographie im späten Hellenismus: Strabon, Poseidonios, Timagenes und Pompeius Trogus Der aus Amaseia (Amasya) stammende, 63 v. Chr. geborene Historiker und Kulturgeograph Strabon (Clarke 1997; 1999; Engels 1999; 2007; 2013a.b; Dueck 2000; 2010; Prontera 2011: 225–238), der sein Leben als Wissenschaftler weitgehend in Alexandria verbrachte, hat sich zwar mehrmals in Rom aufgehalten, so zum letzten Mal 17 n. Chr. (Strab. 7, 1, 4), jedoch für den Westen der Oikumene ein persönliches Wissen nur für Teile und einige Küstenabschnitte (bis Populonia in Etrurien) Italiens erworben. Für den Westen des Mittelmeerraumes war er allein auf seine literarischen Vorlagen angewiesen, wobei Eratosthenes von Kyrene (Geus 2002; Roller 2010), Artemidor von Ephesos (Hammerstaedt 2013) und das Ozean-Buch des Poseidonios (Engels 2013b) die wichtigsten geographischen Quellen für sein Weltbild darstellten.

Im Gegensatz zu Poseidonios hatte Strabon kein Interesse an Forschungsreisen (Engels 2014). Grundlage für seine Geographiká waren dabei die Werke griechischer Autoren, wobei er ganz im Gegensatz zu Eratosthenes (Geus 2007: 118) der kanonischen Autorität Homers verbunden blieb; so hat er sich bei seinen Beschreibungen Griechenlands vielfach auf Homer und Homerkommentatoren gestützt. Autopsie ist in seinem Werk primär für Kleinasien und Ägypten gegeben. Die Grundgedanken seiner kulturgeo­ graphischen Lehre übernimmt Strabon (vgl. 2, 5, 26) in der Vermittlung durch Poseidonios, so etwa die Typisierungen, dass die Bewohner eines kargen Landes kämpferisch und mannhaft seien, kalte und gebirgige Gebiete dürftig und nach Räuberart bewohnt seien, ebenso Poseidonios‘ Klimazonentheorie und Rassengeographie (vgl. Vitr. 6, 1, 9f.; Malitz 1983: 81–85). Strabons Versuch einer kulturgeographischen Beschreibung der Oikumene ist Teil seiner Verbindung von Universalgeschichte und Oikumene-Geographie in hellenistischer Tradition. Dabei ist aber seine Beschreibung des Raumes wesentlich durch die historisch-politische Perspektive bestimmt, worin Strabon dem Stil geographisch-ethnographischer Exkurse bei Polybios und in den Historien des Poseidonios folgte, die auch seine historiographischen Vorbilder und Vorlagen waren (Engels 1999: 145–201; Clarke 1999: 77–129). Bei der Benützung Strabons ist zu beachten, dass er seine Geographiká als komplementäre Ergänzung zu seinem Geschichtswerk, mit dem er die Historien des Polybios fortsetzte, geschrieben hat, wie er selbst im Prooemium zu Buch I betont (1, 1, 22; Engels 1999: 90–114). Die Historiká Hypomnemata in 47 Büchern, davon 43 in Fortsetzung des Polybios und 4 als Prolegomena, einer summarischen Vorgeschichte ab Alexander d. Gr. (auch hierin Polybios folgend, der zwei Bücher vor den Beginn mit 220 v. Chr. vorschaltet) hat Strabon wahrscheinlich in den späten 20er Jahren und im folgenden Jahrzehnt des 1. Jh. v. Chr. verfasst. Das Geschichtswerk hat auf jeden Fall bis 27 v. Chr. herabgeführt, wie auch die Geographika zeigt (Engels 1999: 80– 84). Die Welt Roms sieht Strabon 27 v. Chr. zwischen Augustus sowie Volk und Senat geteilt, wobei er die Aufzählung der Provinzen am Ende der Geographika entsprechend der ersten Fassung des Werkes nicht über 27 v. Chr. hinaus aktualisiert. Was das Ende des Geschichtswerkes betrifft, so ist mit Blick auf die Darstellung der Geschichte der Galater und des Amyntas in der Geogra199

phika mit gutem Grund bis 25/24 v. Chr. herabzugehen, doch auch der Abschluss der Kriege in Spanien 19 v. Chr. sowie die Rückgabe der Feldzeichen durch die Parther und damit die neue stabile Ordnung im Osten können in einer letzten Fassung dieses Werkes noch Erwähnung gefunden haben. In einer kompilatorischen Arbeitsweise hat Strabon die Summe des älteren kultur- und anthropogeographischen Wissens zu ziehen gesucht, wobei sein Eigenanteil als Schriftsteller am gebotenen Text in der Forschung lange unterschätzt wurde, ebenso sein Streben nach Erkenntnisgewinn durch die eigenständige Kombination mehrerer Vorlagen. Sein Ziel ist ein enzyklopädisches Bild der historisch wissenswerten geographischen Kenntnisse über die Oikumene im Sinne einer hellenistischen Kulturgeo­ graphie mit historisch-politischen und philosophischen wie philologischen Notizen und Bemerkungen. Älteren Beschreibungen griechischer Autoren, beginnend mit Homer, gab er immer wieder gegenüber jüngeren oder zeitgenössischen Werken die größere Autorität, selbst wenn letztere sich auf neuere Autopsie stützen konnten; so bleibt Eratosthenes seine wesentliche geographische Quelle. Autoren, die er nicht dem Gelehrtenniveau zurechnete wie etwa Pytheas von Massalia (Olshausen 2013: 46; Magnani 2002; Roller 2006; wenig überzeugend der aus dritter Hand schöpfende Elmers 2010) werden polemisch abqualifiziert. Ältere, als kanonisch gesehene griechische Literatur einschließlich Homers hatte für ihn Vorrang. In der griechischen intellektuellen Welt tradierte, längst überholte Anschauungen und Topoi, ja sogar die gängige Mythenrezeption bleiben so Teil seines Werkes. Lateinische historisch-geographische Literatur galt ihm dagegen grundsätzlich als minderrangig und selbst für Caesar ist eine nur sehr mangelhafte Rezeption festzustellen. So bleibt er abhängig von seinen unterschiedlich aktuellen griechischen Hauptquellen – Polybios, Poseidonios und als älterer Zeitgenosse der griechische Vielschreiber Timagenes – sowie von deren Zuverlässigkeit bzw. Abhän­gigkeit von Vorlagen.18 Dabei folgt er etwa Poseidonios gegen Eratosthenes in der falschen Berechnung des Erdumfanges mit nur 180.000 Stadien. Entgegen S. Pothecary, die von einer Niederschrift der Geographika in einem Zug 17/18–23 n. Chr. ausgeht und alle Verbformen im Präsens auf die frühtiberische Zeit beziehen möchte (Pothecary 2005), ergibt eine Analyse unzweifelhaft, dass Strabon über längere Zeit in einen schon 200

bestehenden Text aktualisierende Zusätze eingefügt hat, die oft nur oberflächlich mit dem Text verbunden sind oder sich am Textaufbau sogar stoßen und wiederholt zu offenen Widersprüchen mit anderen Partien führen (auch Engels1999: 25, 37–40). Es ist eher unwahrscheinlich, dass das Gesamtwerk beim Tod des Autors wohl 24 n. Chr. bereits veröffentlicht gewesen ist, eine Endredaktion fehlt mit Sicherheit.19 Die auffallenden Widersprüche zeigen jedenfalls, wie selektiv und punktuell neue Informationen gegenüber den literarischen, vorrangig griechischen Quellen in Schichten wohl parallel zum zeitlichen Fortschreiten des Werkes eingefügt sind.An der sich zeitgenössisch entwickelnden Provinzordnung und administrativen Gliederung zeigt er dabei kaum Interesse. Den Aktualitätsanspruch, den Strabon als ‚Alleinstellungsmerkmal‘ erhebt (1, 1, 17; 1, 2, 1; 7, 1, 4; 7, 2, 4), hat er so nur sehr punktuell, oft in unorganischen Einschüben, und ganz unsystematisch realisiert (auch Engels 1999: 37–39), wobei offenkundige Widersprüche gegenüber der ursprünglichen Gestalt des Textes, die offenkundig noch keine aktualisierenden Einschübe und Ergänzungen enthielt, stehen blieben. In B. VII fehlen wesentliche neue Kenntnisse der caesarischen und augusteischen Zeit bis 16 n. Chr., während für die ethnographische Beschreibung der Randzonen die traditionellen Topoi der griechischen Barbaren- und Randvölkerethnographie fortgeführt werden (van der Vliet 1984; Engels 2013: 66–67, 72–73; Keyser 2011). Pothecary (2005) betont zu Recht, dass bereits für die gallischen Provinzen im mittleren und nördlichen Teil nur sehr schematische geographische Vorstellungen erkennbar sind und Strabon, wie schon lange gesehen, die Details der augusteischen Provinzordnung (Grenzen, innere Organisation) nicht interessieren. Grundprinzip seiner geographischen Gliederung sind die vorrömischen ethnisch-politischen Unterteilungen des Raumes in einem durch die Natur vorgegebenen geographischen Rahmen. So war Strabons geographisches Werk bereits bei seinem Abschluss in großen Teilen veraltet, was im Übrigen auch für Pomponius Mela auf Grund seiner Bindung an autoritativ gesehenen älterenVorlagen gilt (Brodersen 1994: 5– 14). So folgt Mela der mythologischen Tradition, dass ein Arm des Istros in die Adria münden würde (Apoll. Rhod. 4, 241–337) und nach griechischer Namensetymologie Istrien daher seinen Name habe, eine falsche Ansicht, die, wie der ältere Plinius (n. h. 3, 127f.) tadelt, noch Cornel-

ius Nepos eben sehr vielen Autoren folgend (plerique dixere falso) vertreten hat. Nun zu Strabons geographischen Bild. Strab. 7, 1, 1 sieht das Gebiet des „restlichen Europa“ vom Rhein bis zum Tanais und von der Adria bis zur westpontischen Küste vom Istros in zwei Teile geteilt: ein Europa, das der Istros nach Süden hin zwischen Adria und Westpontischer Küste abtrennt, und eines außerhalb des Istros, wobei für die Donau eine völlig verfehlte geographische Vorstellung deutlich wird. Sie würde zuerst nach ihrer Quelle ein kurzes Stück nach Süden fließen, dann aber sogleich geradewegs von West nach Ost bis zum Schwarzen Meer verlaufen. Das Donauknie bei Esztergom kennt Strabon nicht. Auch alle Gebirge von den Alpen bis zum Haemus würden sich parallel zur Donau geradewegs von West nach Ost erstrecken. Deren Quelle „beim westlichen Ende Germaniens“, dies Strabons aktualisierender Einschub, sei nur 1000 Stadien (125 mp) vom Caput Adriae entfernt, eine derart falsche Angabe, dass sie die mangelhafte Konzeption für den geographischen Raum nördlich und östlich von Oberitalien deutlich belegt. Strabon folgt hier Poseidonios, der, wie bereits ausgeführt, die Donau noch als eigenen, in den nördlichen Ozean mündenden Fluss betrachtete und für den Istros offensichtlich eine Quelle im östlichen Teil der Alpen annahm. Es spricht einiges dafür, dass Poseidonios wie seine Vorlage die Mur ab ihrem Austritt aus den Alpen für den Oberlauf des Istros gehalten haben. Besonders deutlich wird die grundsätzliche Problematik des von Strabon übernommenen und nicht aus zeitgenössischer Wissenserweiterung heraus korrigierten geographischen Bildes, wenn man den Raum zwischen Ostalpen und Donau betrachtet. So erscheint Tergeste noch als nichtstädtische Siedlung der Karner (Strab. 7, 5, 2), Nauportus als eine Siedlung der Taurisker (Strab. 7, 5, 2, C 314), beides nach 50 bzw. 35 v. Chr. obsolet. Die Skordisker wohnen entlang des Istros und sind zweigeteilt, die Großen Skordisker zwischen dem Noaros, der an Segestike (Siscia, Sisak) vorbeifließe, und dem Margos (Morava), die beide in die Donau münden, die Kleinen Skordisker jenseits davon bis zu den Triballern und Mysiern (7, 5, 12). In der Nähe von Nauportos sei der Fluß Korkoras, wo die von Aquileia kommenden Waren auf Schiffe verladen werden; dieser fließe in den Sauos (Save), dieser wiederum in den Drauos (Drau), die Drau bei Segestike in den Noaros, der noch den vom AlbionGebirge (die Fortsetzung der Ostalpen zu den Iapoden

hin) durch das Gebiet der Iapoden kommenden Kalapis (gleich Kolapis) aufnehme und bei den Skordiskern in die Donau fließe (7, 5, 2, 314C, Z. 9–13). Neben der völlig falschen Sicht von Save und Drau wird auch noch postuliert, dass die Fahrt auf diesen Flüssen zum Istros größtenteils nach Norden gehe (ebd. Z. 13–14). Für Strabon sind also die Flussläufe und damit der Weg zur stets geradewegs von West nach Ost fließend gesehenen Donau von Süden her nach Norden gerichtet; eine Ostausdehnung des Raumes zwischen Alpen und Segestike/Noaros fehlt damit weitgehend. Dass mit dem Kalapis/Kolapis die Kolpa/Kupa gemeint ist, steht außer Zweifel, ebenso dass der Fluss Korkoras mit der Kkra/Gurk zu identifizieren ist, deren westliche Quellflüsse aber rund 20 km südöstlich von Emona (Ljubljana) entspringen; die Hauptquelle befindet sich in der Karsthöhle von Krka südlich von Ivanˇcna Gorica. Nach der Beschreibung des Noaros als westliche Grenze der Skordisker kann dieser Fluss nur mit der tatsächlich von Süden nach Norden fließenden, kurz vor Sirmium in die Save mündenden Drina gleichgesetzt werden, die aber nach Strabons Quelle in Richtung Norden an Segestike vorbei in die Donau fließen und Drau und Kolpa aufnehmen würde. Dieses falsche geographische Bild war spätestens mit dem Illyrienkrieg Octavians 35 v. Chr. überholt, jedoch hat es Strabon nur durch die Erwähnung der römischen Militärbasen Siscia und Sirmium „am Weg von der Donau nach Italien“ aktualisiert, wobei er beide aber fälschlich nahe bei Segestike ansetzt (7, 5, 2, 314C, Z. 15–16). Für die tatsächliche Raumdimension zwischen Segestike und der Donau besaß Strabon offensichtlich keine konkreten Angaben und auch keine eigene Vorstellung. Segestike legt er an den Fuß der Alpen, was natürlich zu falschen Vorstellungen über die geographischen Entfernungen führen muss. Dies gilt insbesondere für die absurde Angabe, die Entfernung zwischen Tergeste und der Donau (auf einem nach Norden gedachten Reiseweg) würde nur etwa 1200 Stadien (150 mp) betragen (7, 5, 2, 314C, Z. 14–15). Wir können mit gutem Grund davon ausgehen, dass Strabon diese geographischen Angaben aus Poseidonios‘ Darstellung des Kimbernzuges und der römischen Niederlage von 113 v. Chr. entnommen hat. Die nicht abgestimmteVerwendung verschiedener Vorlagen zeigt eine zweite Beschreibung des Handels- und Verkehrsweg zur Donau (4, 6, 10): Von Aquileia werden die Waren auf Wagen über den Okra-Durchgang durch die 201

Alpen über eine Strecke von etwas über 400 Stadien (ca. 75/80 km gegenüber tatsächlichen 115 km) in das sogenannte Pamportos20 transportiert. An Pamportos fließe ein schiffbarer Fluss – den Namen nannte die von Strabon hier gebrauchte Quelle offenbar nicht, auch nicht den Ortsnamen Nauportus – vorbei, der in den Sauos (Save) münde, so dass Waren in großer Menge mühelos nach Segestike und zu den Pannoniern und Tauriskern sowie bis zur Donau gebracht werden können. Auch der Kolapis, der bei Segestike in die Save münde, sei schiffbar (Vgl. Plin. n. h. 3, 147.148). Hier fließt im Gegensatz zu 7, 5, 2 die Save richtig an Segestike/Segestica vorbei und mündet selbst in die Donau. Es handelt sich wohl um eine zeitgenössische Quelle, die Transportweg im Kontext einer Schilderung des Illyrienkrieges Octavians beschrieb. Der offene Wiederspruch wurde von Strabon nicht bereinigt. Pamportos/Pamportus kann durchaus der vorrömische Name der Verladestation an der Bela gewesen sein, offenbar eine der üblichen griechisch-lateinischen Mischbildungen (Pan-Portus). Der um 135 v. Chr. geborene stoische Philosoph und Universalgelehrte Poseidonios21, Schüler des Panaitios, verband in seinem an Polybios anschließenden, verlorenen Geschichtswerk in 52 Büchern (Malitz 1983: 34– 74; Engels 1999: 174–189) für die Zeit 145/44–87/86 v. Chr. die Ereignisgeschichte mit breiten ethographischen Exkursen und geographischen Darstellungen, die er im Stile Herodots auf die einzelnen Bücher verteilte (Müller 1972, 310–347). Sicher kannte Caesar Panaitios persönlich und wohl auch dessen Buch über den Ozean, aber dessen Historien hatte er während der Jahre des Gallischen Krieges kaum gelesen. Als Quelle für Caesars Ausführungen in seinen Kommentaren des Gallischen Krieges kommen Poseidonios‘ Historien entgegen zahlreichen Thesen nicht in Frage. Pompeius besuchte Poseidonios 66 v. Chr. während des Seeräuberkrieges auf Rhodos und dann nochmals im Jahre 62 den bereits gichtkranken Philosophen (Cic. Tusc. 2, 61). Cicero bat ihn im Jahre 60 um eine Darstellung seines Kampfes gegen Catilina, wofür er ihm gleich einen eigenen Entwurf zusandte; Poseidonios lehnte ab (Cic. Att. 2, 1, 2). Es ist eindeutig, dass Cicero zu dieser Zeit weder die Historien kannte, noch von der Arbeit an dem Geschichtswerk wusste. Für eine späte Publikation und ein spätes Bekanntwerden der Historien spricht zudem, dass Strabon diese beim Abfassen seines Geschichtswerkes im Gegensatz zu Timagenes, den 202

er nachweislich ausführlich benutzte (Ios. AJ 13, 319 = FGrHist 91 F 11 = 88 F 5), noch nicht als Vorlage kannte (Strab. 11, 9, 3 = FGrHist 91 F 1; Malitz 1983: 32, 43–46). Auch ist es eher unwahrscheinlich, dass er dann nochmals an Polybios angeschlossen hätte. Poseidonios’ Tod fällt in die zweite Hälfte der 50er Jahre, wahrscheinlich in das Jahr 51 v. Chr. Sein Geschichtswerk ist unvollendet geblieben22 und wohl erst postum veröffentlicht worden. In welchem Umfang einzelne Teile bereits in den 50er Jahren zirkulierten, ist unbekannt. Poseidonios galt in erster Linie als Philosoph und Universalgelehrter; seine Historien sind dagegen nur sehr wenig rezipiert worden.23 Weder Dionysios von Halikarnassos (comp. verb. 4, 30) noch Quintilian (10, 1, 75) nennen ihn im Gegensatz zu Timagenes unter den bedeutenden Historikern. Da die Benutzung des Ozean-Buches durch Strabon selbst bezeugt ist (2, 2, 1–3), bleibt die Zuweisung von ausdrücklich genannten Bezügen auf Poseidonios zwischen diesem und den Historien offen. Zudem hat Strabon in Timagenes sehr wahrscheinlich auch poseidonisches Material in überarbeiteter Form vorfinden können (F. Jacoby, FGrHist IIC, p. 170; Malitz 1983: 184 Anm. 118), wenn auch die Frage von Poseidonios‘ direktem Einfluss auf Timagenes offen bleibt. Diodor (K. Meister, DNP 3 (1997) 592–594; Wirth 1993; 2007) hat die Historien nach Polybios als Hauptquelle benutzt, jedoch sicher auch Timagenes, der für die Zeit nach 86 v. Chr. eine wesentliche Quelle darstellte und dessen Exkurse bisher in der Frage der Zuweisung von Diodor-Passagen auf Poseidonios nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Eine Aktualisierung Diodors in Poseidonios’ Geographie Galliens ist die Erwähnung von Caesars Rheinübergang wohl aus Timagenes (5, 25, 4). Diodors aus seinen Vorlagen kompilierte Historische Biblio­ thek, die zuerst nur bis zum Consulat Caesars 59 v. Chr. reichen sollte (1, 4, 6; 5, 1), umfasste dann jedoch auch die Eroberung Galliens (3, 38, 2–3; 5, 21, 2; 5, 22, 1). Entgegen Engels (1999: 202–216) kann aus der Erwähnung der Ptolemäer als regierende Dynastie im Rahmen der 56 v. Chr. geschriebenen Skizze der Geschichte ­Ägyptens (1, 44) nicht darauf geschlossen werden, dass Diodor schon kurz vor Actium gestorben sei. Diodor arbeitete nach 59 v. Chr. 30 Jahre an seinem Werk (Abschluss vor 27 v. Chr.); er erscheint als Autor der spätcaesarisch-augusteischen Zeit (1, 4, 1; Hieron. chron. p. 155 ed. Helm; Suda s.v. Diodoros). Den Bürgerkrieg ab 49 v. Chr. sparte er offenkundig bewusst aus (kein Hinweis auf Sex. Pompeius

in 16, 7, keine Erwähnung des Antonius), jedoch wurde die Thronbesteigung Kleopatras VII. 51 v. Chr., die noch im Vorjahr Mitregentin ihres Vaters geworden war, verbunden mit einer ausführlichen Behandlung sicher ausgreifend bis Actium, behandelt (Tzetzes hist. 2, 31–33). Strabon hat sich für die Konzipierung seiner Geographiká vor allem auf das Poseidonios als umfassendes geographisches Handbuch konzipierte Werk Über den Okeanos gestützt (2, 2, 1–3). Die Schrift über den Ozean charakterisiert Strabon als ein primär geographisches Werk, wobei er durchaus Kritik an Poseidonios‘ Wissensstand artikuliert (2, 2, 1; 11, 1, 5–6). Für das in den späteren 80er Jahren publizierte Werk hat Poseidonios im Zeitraum 100/95 v. Chr. eine große Forschungsreise bis nach Gades unternommen, im Übrigen seine einzige Forschungsreise in den Westen des Mittelmeerraumes24, die ihn über die Küstenzonen von Italien, Ligurien und der Gallia Transalpina mit einem längeren Aufenthalt in Massalia nach Spanien führte. Auf der Rückreise berührte er Nordafrika und besuchte Sizilien. Entweder jetzt oder bei der Rückfahrt von seiner Gesandtenreise 87/86 v. Chr. nach Rom segelte er auch in die Adria, wo er die Naturphänomene der Timavusquelle und des Timavus (Oberlauf der Reka bei Ilirska Bistrica) beschrieb (Strab. 5, 1, 8). Sein Aufenthalt in Gallien wird vielfach überschätzt; weder Reisen nach Aquitanien oder zu den Avernern noch ein Besuch des Rhonetales über das Hinterland Massalias hinaus sind nachzuweisen. Auch Tolosa oder das weitere Hinterland von Narbo hat er kaum besucht, wie die falsche Ansicht über den Lauf der Garonne und der falsche Ansatz der Cevennen zeigen. Poseidonios‘ Ausführungen zu Gallien und den Galliern sind keineswegs stets auf Autopsie zurückzuführen, wie oft behauptet, denn selbstverständlich lagen ihm bereits ethnographische und landeskundliche Informationen wie Polybios‘ Angaben zu den Kelten vor. Für die iberische Halbinsel konnte er die aktuelle Beschreibung durch Artemidor benutzen, dessen um 100 publizierte Geographúmena, eine Erdbeschreibung in 11 Büchern25, die er wie später Strabon ausführlich heranzog (Engels 1999: 222–223). Gallien hatte Artemidor im dritten Buch seines Werkes beschrieben; Poseidonios ist in seinem geographischen Wissen kaum darüber hinausgekommen. Den Schädelkult und Festbräuche konnte er bereits bei den Salluvii, Cavares26 und Volcae Arecomici im Hinterland von Massalia und im Bereich des Rhonedeltas kennenlernen; außerdem hat ihn sein Gastfreund in

Massalia, Charmoleos, reiche Informationsquellen eröffnet (Strab. 4, 3, 17). Das Rhonetal und der Weg nach Burgund waren den massaliotischen Händlern schon seit dem 6. Jh. v. Chr. bekannt. Timagenes von Alexandria (FGrHist 88; Sordi 1982; Engels 1999, 229 –242) kam im Jahre 55 v. Chr. bei der Wiedereinsetzung des Ptolemaios XII. durch Aulus Gabinius als Kriegsgefangener nach Rom und wurde nach kurzer Zeit in der Sklaverei vom Sohn Sullas freigekauft. Offensichtlich hatte er bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad als Rhetor und Literat. Er hatte jedenfalls vor 55 eine umfassende Bildung in Alexandria durchlaufen und sich politisch auf Seiten Berenikes IV. 57–55 v. Chr. exponiert. Er dürfte demnach etwa 85 v. Chr. geboren sein. Er lebte als geachteter Rhetor und Rhetoriklehrer in Rom, fand noch in den 50er Jahren Aufnahme in die Umgebung des Pompeius, gewann später die Freundschaft des Antonius und wechselte dann rechtzeitig zu Octavian. Nachdem die Mahnungen des Augustus, seine polemische Zunge zu mäßigen, nicht fruchten und er Livia und den Hof beleidigte, schloss ihn Augustus aus seinem Freundeskreis aus, worauf er in einer pathetischen Pose seine enkomiastische Schrift über die Taten des Princeps verbrannte. Er fand schließlich Asinius Pollio als seinem dritten Patronus. Er starb im Alter an einem Schlaganfall (FGrHist 88 T 1–11). Sein Jähzorn und überspitzte Polemik bzw. zugespitzte Ausdrucksweise waren bekannt (Sen. contr. 10, 5, 22), eine antirömische Haltung wurde dagegen in der Forschung zu Unrecht angenommen. Sein historisches Hauptwerk Peri Basile¯on, Über die Könige, eine Universalgeschichte der Zeit seit Alexander, die sich auf die hellenistischen Dynastien konzentrierte, schloss im Kontext der Herausstellung der Person Caesars auch die römische Eroberung Galliens ein, wie die Caepio-Episode, der große ethnographisch-kulturgeographische Gallien­ exkurs (Amm. 15, 9, 2) oder die geographische Bestimmung der Länge und Breite der Alpen27 zeigen.Trotz einer breiten Rezeption sind nur wenige Fragmente erhalten. Die Annahme, sein Geschichtswerk sei erst nach der biographischen Schrift über die Taten des Augustus geschrieben, die vermutlich um das Jahr 30 v. Chr. zu datieren ist, kann auf Sen. de ira 3, 23, 6 nicht gestützt werden. Die auffallende Verwendung des Namens Octavianus im großen Gallien-Exkurs legt eine Publikation des Gesamtwerkes vor 27 v. Chr. nahe. Sehr wahrscheinlich waren Teile des Werkes, insbesondere über Caesar und Gallien, bereits 203

durch Lesungen (Sen. de ira 3, 23, 6) Anfang der 30er Jahre bekannt und ebneten ihm den Weg zu Augustus’ Freundschaft. Das Werk behandelte in einem dynastischen Gliederungsschema die Geschichte der Diadochenreiche und des Hasmonäerreiches von ihren Gründern (Curt. Ruf. 9, 5, 21 = FGrHist 88 F 3 zu Ptolemaios I., offensichtlich unter Zitierung des Kleisthenes) bis zum Untergang des Prolemäerreiches, wobei er im Zusammenhang mit der Ostpolitik des Seleukidenreiches einen Indienexkurs einlegte und dabei auch Fabulöses übernahm (Strab. 15, 1, 57 = FGrHist 88 F 12). Seine Darstellungsweise kennzeichneten rhetorisch pointierte Formulierungen, Polemik, Sarkasmus, Überzeichnung, dramatische Phraseologie und Gestaltung (auch Sordi 1982: 776–777), ebenso ein intensives Interesse an der barbarischen Randzone der östlichen Mittelmeeroikumene und an geographischen und ­ethnographischen Informationen (Plin. n. h. 1, 3). Das ältere Material hat er mit Informationen der Caesarischen und nachcaesarischen Zeit erweitert. Strabon hat Timagenes in seinen beiden Werken ausführlich benutzt; die chronologisch geordneten Exkurse in der Geographika gehen sicher auf Timagenes zurück. Der Gallien-Exkurs galt noch Ammianus Marcellinus für seinen Exkurs als maßgebend (15, 9, 1–15, 12, 4; Sordi 1982, 778–780, 789–793). Dort erhob Timagenes den Anspruch, Material aus zahlreichen Werken gesammelt zu haben (Amm. 15, 9, 2). In der Geschichte von der Herkunft des vom Consul Q. Servilius Caepio 106 erbeuteten und auf dem Transport nach Rom ‚verschwundenen‘ Aurum Tolosanum (Strab. 4, 1, 13; Nachtergael 1975: 99–105) folgt er gegenüber der rationalen historischen Darlegung des Poseidonios der Überlieferung von einer Plünderung Delphis durch die Kelten und fügt mit dem angeblich elenden Schicksal der Töchter des Consuls ein typisches Element der dramatisch-moralisierenden hellenistischen historiographischen Tradition an. Das ältere Material hat er mit Informationen der caesarischen und nachcaesarischen Zeit erweitert. Von Timagenes übernahm Strabon Barden, Euhagen (Vorzeichendeuter) und Druiden als Träger einer hohen Kultur (Amm. 15, 9, 8 – Strab. 4, 4, 4) und die Dreiteilung Galliens (Amm. 15, 11, 1 – Strab. 4, 1, 1), die Poseidonios nicht kannte. Gleiches gilt für die Geschichte des Königs Cottius, wo Augustus unter dem ungewöhnlichen Namen Octavianus erscheint (Amm. 15, 10, 2–3 – Strab. 4, 1, 3; 4, 6, 6). Strabons sehr vage Angabe (7, 3, 12), dass die Bevölkerung des Landes zum Schwarzen 204

Meer und nach Osten hin als Geten, jene in entgegengesetzter Richtung nach Westen hin als Daker bezeichnet werde, stammt mit einiger Sicherheit ebenfalls aus Timagenes, ebenso die Nachricht, dass Geten und Daker gemeinsam unter Byrebistas ein Heer von 200.000 Mann aufbieten konnten (7, 3, 13). Offensichtlich hatte Timagenes in seinem Burebista-Exkurs die seit caesarischer Zeit übliche römische Bezeichnung „Daker“ für seine zeitgenössischen Leser erklärend eingebracht und neben den traditionellen Getenbegriff der griechischen Literatur gestellt. Dagegen hat Strabons Vorlage Poseidonios den Dakernamen noch nicht gekannt oder zumindest nicht verwendet (7, 3, 1–2; Radt 6, 250). Aus derselben Quelle stammt Strabons Bericht über Zalmoxis als Pythagoräer und den religiösen Eifer der Geten (7, 3, 4/28–5). Ein typischer aktualisierender Einschub ist hier die Angabe, dass unter Byrebistas28, gegen den Caesar der Gott einen Feldzug vorbereitet hat, Dekaineos die Position als oberster Priester innehatte; Poseidonios hat Byrebistas (Burebista) in seinen bis Anfang 86 reichenden Historien noch nicht erwähnen können. Der Getenname wurde in der griechischen ethnographischen Tradition noch für die Dakerkriege Domitians und Traians gebraucht. Entsprechend sagt Strabon, dass Sex. Aelius Catus (ordentlicher Consuls des Jahres 4 n. Chr. und Legatus Augusti des moesischen Heeres sowie Proconsul von Macedonia 7 –11/12 n. Chr.) 50.000 Geten von nördlich der Donau nach Moesien umgesiedelt habe (7, 3, 10). Die frühere Geschichte der Geten wolle er übergehen (7, 3, 11) und schöpft dann aus einer anderen Quelle, mit Sicherheit Timagenes, seinen Exkurs zur Geschichte des Byrebistas, den er hier ebenfalls als Geten bezeichnet, und des Dekaineos als seines Propheten (7, 3, 11; 16, 2, 39). Nur in 7, 3, 12 führt er im Rahmen seiner Aktualisierung der Dakergeschichte nach Byrebista29 den seit Caesar in Rom gebräuchlichen Dakernamen (die Geten, die von den Römern Daker genannt werden; Plin n. h. 4, 80) ein, ohne seine sonstige Verwendung des Getennamens zu ändern.30 Eine für Timagenes typische Polemik ist die Charakterisierung des Dekaineos: Um das Volk gefügig zu machen, habe sich Byrebistas der Hilfe des Dekaineos bedient, „eines Scharlatans, der in Ägypten umhergeschweift war und irgendwelche Vorzeichen kennengelernt hatte“, damit den Willen der Götter deutete und bald zum Gott ausgerufen wurde (7, 3, 11, 304C, Z. 7–9) – ein deutlicher Kontrast zur Schilderung des Zalmoxis bei

Poseidonios. Timagenes gab im Kontext des von Caesar geplanten Feldzuges gegen Byrebistas offensichtlich einen Abriss der Geschichte der Daker, den auch Pompeius Trogus für seinen Illyrienexkurs im 32. Buch (Pomp. Trog. prol. 32) benutzte, von ihrem Kampf gegen die Bastarner unter Oroles (Pomp. Trog.-Iustin. 32, 3, 15–16) in frühen 2. Jh. und dem Machtaufstieg unter Rubobostes (Pomp. Trog. prol. 32: incrementa Dacorum per Rubobosten (weitere Namensformen in der Textüberlieferung: Rubobusten, Ruboboten) regem) über die Reichsbildung des Byrebistas, unter dem Geten und Daker ein Heer von 200.000 Mann in Feld schicken konnten (Strab. 7, 3, 13), bis zur Auflösung des Reiches nach dem Sturz des Byrebistas durch eine innere Revolte, wobei er auch eine Definition der Daker als Abkömmlinge der Geten gab (32, 3, 16: Daci quoque suboles Getarum sunt). Zu Timagenes’ Darstellung gehörte auch der Krieg zwischen Byrebistas und den in Illyrien wohnenden, benachbarten Völkern der Boier und Taurisker; beide seien im Kampf gegen die Daker zugrunde gegangen und hätten ihr Land den Umwohnenden als Schafweide hinterlassen, eine für Timagenes typische überspitzte Formulierung und selbstverständlich nicht wörtlich zu nehmen. Dies übernimmt Strabon in mehreren Passagen mitsamt dem Dakernamen (5, 1, 6; 7, 5, 2). Anlass des Krieges sei der Anspruch der Daker auf das Land jenseits des Grenzflusses Marisos, der von den Bergen zum Istros ströme und gegenüber den Skordisker genannten Galatern einmünde, gewesen. Letztere seien Verbündete der Daker gewesen. Strabon kennt aus seinen geographischen Vorlagen den durch das Land der Daker fließenden Marisos (7, 3, 13, 304C, Z. 30), den als Verkehrsweg nach dem rohstoffreichen Zentralsiebenbürgen den Griechen früh bekannten Mures¸ (Hdt. 4, 48), nicht jedoch die Theiß31, so dass deren Unterlauf zum Mures¸ wird. Pompeius Trogus, der lateinische Universalhistoriker der augusteischen Zeit32, schrieb in 44 Büchern eine Geschichte der nichtrömischen, hellenistischen Welt (Historiae Philippicae) von dem sagenhaften Assyrerkönig Ninos bis zum Ende der Diadochenreiche unter Einschluss Karthagos (B. 1–40) und Spaniens (B. 44) sowie eine Geschichte des Partherreiches (B. 41–42), ging aber auf Rom nur bis Tarquinius Priscus ein (B. 43). Charakteristisch waren große historisch-geographische und ethnographische Exkurse. Gallien blieb mit Ausnahme der Geschichte von Massalia und seinen Beziehungen zu

den einheimischen Nachbarn (Iustin. 43, 3, 4–5, 10; prol. 43) völlig ausgespart. Das Werk ist nur in den Auszügen des M. Iunianus Iustinus vermutlich in einem Siebtel des ursprünglichen Umfangs sowie in ausführlichen Inhaltsangaben (Prologi) erhalten. Die Epitome des Iustin ist um die Wende 2./3. Jh. n. Chr. zu datieren, wobei Iustin oft große, für das Verständnis wichtige Partien ohne überleitende Zusammenfassungen ausgelassen, selbst in die Textgestalt eingegriffen und auch Eigenes hinzugefügt hat (Yardley, Heckel 1997: 8–19; Yardley 2003). Ver­loren ist Trogus zoologisches Werk De Animalibus, das der ältere Plinius benutzte und das auf Aristoteles und Theo­phrast aufbaute. Trogus stammte aus einer angesehenen gallischen Adelsfamilie der in den Westalpen lebenden Vokontier, die nach den Kämpfen gegen die Römer 125 und 124/123 v. Chr. als civitas foederata zur Provinz Gallia Transalpina/ Narbonensis gehörten und in der Provinz eine gewisse Autonomie genossen (Plin. n. h. 3, 37; 7, 78; Strab. 4, 6, 4). M. Fonteius, 76–74 v. Chr. proprätorischer Statthalter der Provinz, hatte für den Feldzug des Pompeius in Spanien (77–71 v. Chr.) den gallischen Civitates die Stellung zahlreicher Auxiliarkavallerie sowie Infanterie und die Lieferung einer großen Menge an Getreide und Geld befohlen (Cic, Font. 13+Exc. XII). Trogus’ Groß­vater erhielt im Sertorius-Krieg zweifellos als Kommandeur der vokontischen Auxiliarkavallerie das römische Bürgerrecht, sein Onkel, der sicher ebenfalls in Spanien gedient hatte, war im Mithradatischen Krieg der Kommandeur der gesamten Auxiliarkavallerie des Pompeius, sein Vater während des gallischen Krieges Vorsteher der Kanzlei für die Korrespondenz Caesars und zuständig für die diplomatischen Missionen, außerdem Verwahrer und Verwalter des Siegelringes Caesars (Iustin. 43, 5, 11–12). Die vokontischen Auxiliartruppen haben Caesar mit großer Wahrscheinlichkeit von Gallien in den Bürgerkrieg begleitet.33 Die Civitas erhielt, wie mit guten Gründen anzunehmen ist, für ihre treue Unterstützung von Caesar das latinische Bürgerrecht. Trogus’ Familie gehörte zweifellos dem Ritterstand an. Trogus hat seine hervorragende Bildung und rhetorische Ausbildung sicherlich in Rom erhalten, wo er wohl schon seit seiner Kindheit lebte. Die jüngsten in seinem Geschichtswerk erwähnten Ereignisse fallen in die Jahre 19 und 2 v. Chr. (42, 4, 16; 42, 5, 11–12; 44, 5, 8) sowie 6 n. Chr. (prol. 42). Er kannte Sallusts Historien und zumindest einen großen Teil des livianischen Geschichtswerkes (38, 3, 11). Nach 41, 4, 8 hat er das Werk erst in 205

tiberischer Zeit abgeschlossen (nicht überzeugend Yardley, Heckel 1997: 5–6 gegen eine Datierung unter Tiberius). Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme kann in Trogus‘ Werk nicht von einem Einfließen von Wissen aus seiner gallischen Herkunftsfamilie ausgegangen werden; er war in seiner Darstellung ganz den von ihm verwendeten, im wesentlichen griechischen Autoren verpflichtet. Dies gilt auch für die Erzählung über die Gallier in B. 24 und 32 (auch Urban 1982b; Engels 1999: 253), wo er im Übrigen die Tradition einer Herkunft des aurum Tolosanum aus der Plünderung Griechenlands (32, 3, 6–11) rezipiert. Der Versuch von H.-D. Richter (1987), Timagenes als wesentliche Quelle für Trogus zu leugnen, kann nicht überzeugen, zumal er dann für die Zeit nach 86 v. Chr. keine Vorlage mehr benennen kann. Für die Zeit nach Alexander ist keine direkte Verwendung primärer Quellen wie Hieronymos von Kardia, Duris von Samos oder Phylarchos anzunehmen, sondern deren Rezeption über einen vermittelnden Autor, mit größter Wahrscheinlichkeit Timagenes (Yardley, Wheatley, Heckel 2011: 3–8). Daneben wurden ­Timaios (Baron 2013: 54), Polybios und Poseidonios benutzt. Der Epitomator ist dabei für eine oftmalige Verunklärung der Darstellung verantwortlich (Yardley, Heckel 1977: 41). Selbstverständlich war Trogus’ Werk keine lateinische Version des Timagenes wie etwa von F. Jacoby in FGrHist 88, p. 220 angenommen, aber dessen Werk war dennoch eine wesentliche Quelle (Engels 1999: 240–242, 248). Caesars Tatenbericht – keine unproblematische Quelle Das erste Buch des Bellum Gallicum ist ein Paradebeispiel der Verschleierung und suggestiven Propaganda, mit der Caesar seine evident rechtswidrige Kompetenzüberschreitung als Proconsul der Provinz Gallia Transalpina zu legitimieren trachtete und ebenso seine unprovozierten Angriffskriege, im römischenVerständnis klassische bella iniusta, ungerechte Kriege, erst gegen die Helvetier, dann gegen den amicus populi Romani Ariovist, rechtfertigte.34 Caesar liefert hier ein Meisterstück des Spiels mit den mental und politisch äußerst wirksamen Topoi von furor Gallicus und furor Teutonicus (Kremer 1994), mit der Furcht vor einer wie 113 v. Chr. drohenden Gefahr für die Sicherheit Roms und des Imperium populi Romani. Da Caesar seine Provinz ohne Erlaubnis verlassen hatte, 206

drohte ihm eine Anklage auf Grund der von ihm selbst in seinem Konsulat 59 v. Chr. durchgesetzte lex Iulia de pecuniis repetundis und ebenso der lex Cornelia de maiestate, welche einem Statthalter das Überschreiten der Grenzen seiner Provinz bzw. derenVerlassen oder unautorisiert Krieg anzufangen verboten (Cic. Pis. 50 und Dig. 1, 16, 10, 1). Einer sich abzeichnenden ‚existentiellen Gefahr‘ für Rom und dessen Freunde musste er dagegen in seiner Verantwortung gegenüber der securitas und maiestas des römischen Volkes selbstverständlich immer und überall entgegentreten35. Asinius Pollio warf Caesar vor, in seinen historischen Darstellungen die Wahrheit zu wenig beachtet zu haben; Berichten anderer Personen habe er blindlings geglaubt, eigene Aktionen sei es mit Absicht, sei es „weil sie seinem Gedächtnis entfallen waren“ unrichtig dargestellt (Suet. Iul. 56, 4). Schon die immer wieder herangezogene Passage aus Casars Commentarii de bello Gallico „Boiosque, qui trans Rhenum incoluerant et in agrum Noricum36 transierant Noreiamque oppugnarant, receptos ad se socios sibi adsciscunt“ (b. G. 1, 5, 4) erweist sich bei einer kritischen Analyse als ein gezielt eingesetztes propagandistisches Konstrukt Caesars. Sie soll die grundsätzliche, allgemeingefährliche Aggressivität jener Boier aufzeigen, welche die Helvetier für ihren Zug 58 v. Chr. als Bundesgenossen aufgenommen hatten (b. G. 1, 5, 4; 25, 6; 28, 5; 29, 2). In Rom sollte eine schwerwiegende Bedrohung für das Imperium Romanum, seine Besitzungen und Interessen wie für seine Bundesgenossen respektive amici, diplomatisch anerkannte befreundeten civitates, suggeriert werden. Die Boier werden dabei auf zwei Ebenen charakterisiert, einmal durch die geographische Einordung – sie hatten ihre Heimat jenseits des Rheins gehabt –, zum zweiten durch aggressive Akte gegen historische Größen, die in Rom als bekannt vorauszusetzen waren: a) sie waren aus ihrem Gebiet in das norische Territorium hinübergegangen (Kurzformel für e suis finibus transire) und b) sie hatten Noreia bestürmt. Damit stellt Caesar zielgerichtet für den römischen Leser eine direkte und eindeutige Parallele zum Kimbernzug und zur Schlacht bei Noreia im Jahre 113 v. Chr. wie den folgenden römischen Katastrophen bis Arausio her (vgl. Caes. b. G. 1, 33, 4; 1, 40, 5; 2, 4, 2; 2, 29, 4; 7, 77, 12–14). Diese Parallelisierung ist das augenfällige Ziel Caesars, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er dazu das angeblich dem Erscheinen in Gallien vorausgehende Eindringen in das Gebiet der Noriker und die Bestürmung des den

Römern eindringlich bekannten „Noreia“ durch diese Boier, nach Caesar 32.000 Köpfe stark, gegen die er nun ‚pflichtgemäß‘ zum Schutze Roms und seiner Freunde ziehen musste, glatt erfunden hat. Für dasselbe Geschehen haben wir eine auf Asinius Pollio zurückgehende Überlieferung, die wir in Cassius Dio fassen (38, 31–33: Überfall auf die Nachhut der Helvetier beim Übergang über den Arar, Niederlage von Caesars Kavallerie und folgend der Angriff der Helvetier auf Caesar, Furcht Caesars, Sieg Caesas in drei Etappen; Boier erscheinen nicht als Gegner). Demnach haben sich die Helvetiergruppen geteilt; während ein Teil mit Caesar einen Vertrag schloss und in sein altes Land zurückkehrte, weigerte sich der andere Teil, die Waffen niederzulegen und zog zum Rhein, um in sein altes Gebiet heimzukehren, wurden aber auf dem Marsch von den Häduern und Sequanern vernichtet (38, 33, 6; anders Caesar 1, 27, 4–28, 1). Das von ihnen verlassene Siedlungsgebiet lag demnach östlich des Rheins. Nach ihrer Kapitulation hat Caesar den Boiern auf Bitten der Häduer, die sich von deren Kriegsruhm einen Vorteil versprachen, im Gebiet der Häduer angesiedelt, die den Boiern Land zur Verfügung stellten und sie später als vollberechtigten Teil in ihre Civitas aufnahmen. Das dortige neue oppidum Boiorum Gorgobina/Gergobina wurde 52 v. Chr. von Vercingetorix angegriffen; die Boier standen demnach loyal zu Caesar, den sie zusammen mit den Häduern mit Proviant zu versorgen hatten (Caes. b. G. 1, 28, 5; 1, 29, 2; 7, 9, 6; 10, 3; 17, 2–3). Auf die Aufforderung der gesamt­gallischen Versammlung hatten sie nur einen Teil der Wehrfähigen, 2000 Krieger, für das Entsatzheer gegen Alesia zu stellen (b. G. 75, 3). Mit der kritischen Analyse der Darstellung Caesars verbindet sich die Frage nach der Publikation der Commentarii de bello Gallico (Meier 1982: 309–318;Wiseman 1998; Canfora 2044: 346; Albrecht 2012: 347–358). Hierbei ist zwischen den regelmäßig nach größeren Kampagnen nach Rom gesandten, geschickt aufgemachten und rhetorischemphatischen Berichten (Canfora 2004: 107), wie etwa nach dem Belgerfeldzug, worauf im September 57 v. Chr. in Rom ein 15tägiges Dankfest vom Senat beschlossen wurde (ex litteris Caesaris b. G. 2, 35, 4; Cic. fam. 1, 10, 14), oder nach dem Sieg über Vercingetorix (b. G. 7, 90, 8), und dem durchkomponierten Gesamtwerk zu unterscheiden, das Caesar vor dem Nahen des Bürgerkrieges im Herbst 50 nicht mehr vollenden konnte. Diese Feldzugsberichte, als innenpolitische Rechtfertigungs- und Propa-

gandaschriften konzipiert, hat Caesar in Rom öffentlich verbreiten lassen und vermutlich in den ersten Jahren bis zum Winter 55/54 jeweils als Commentarii des vorausgegangenen Jahres ausgearbeitet und publiziert (dann 54/53 und 53/52 jeweils Winteraufenthalt in Gallien). Gerade der enorme Rechtfertigungszwang für die ungesetzlichen Angriffskriege des Jahres 58 machte jeweils nach dem Ende der beiden Kampagnen breitangelegte, eine ausgefeilte Rechtsfertigungsstrategie vortragende Berichte (auch Suet. Iul. 56, 6) notwendig, deren sofortige öffentliche Publikation notwendig war, um Angriffen seiner innenpolitischen Gegner zuvorzukommen. Die Publikation einer Gesamtdarstellung des Jahres 57 wiederum ließ ihn propagandistisch zu den militärischen Taten des Pompeius aufschließen; zudem war die eigenmächtige Aufstellung von zwei neuen Legionen zu rechtfertigen. Die Arbeit an dem literarisch durchkomponierten Gesamtwerk kann mit gutem Grund ab dem Winter 51/50 v. Chr. angesetzt werden (vgl. Hirtius b. G. 8, 48, 10–11). Für die Fortsetzung hat Hirtius bis 8, 48, 9 offenkundig in großen Teilen die entsprechenden Berichtstraktate ­Caesars aus dem Jahr 51 (typisch hierfür 8, 45–46) zusammengearbeitet sind. Das bis Buch VII mit dem Sieg über die große gallische Erhebung vorläufig abgeschlossene Werk hat Caesar wohl im Jahre 50 zur Stärkung seiner Stellung im Machtkampf gegen seine Gegner im Senat publizieren und verbreiten lassen (Hirtius b. G. 8, 1, 5). Natürlich beruhte die literarische Endfassung der Commentarii auf einer Zusammenführung der einzelnen, bereits rhetorisch-­stilistisch ausgearbeiteten Berichte und Vorpublikationen, hat aber in Exkursen und insbesondere in Buch VI Material hinzugefügt, das Caesars Kanzleistäbe für ihn aus der geographischen und ethnographischen Literatur aufbereitet hatten, und das sicher bereits vor dem Antritt seiner Statthalterschaft in der Gallia Cis- und Transalpina. Dass Caesar selbst aus politisch-ideologischen Gründen nicht nur die schematische Dreiteilung der Civitates Galliens in die von Aquitaniern, von Kelten gleich Galliern und Belgern bewohnten Gebiete erfunden hat, sondern insbesondere die Rheingrenze als Trennlinie von dem von ihm ebenfalls erfundenen Groß-Ethnos der Germanen, braucht hier nicht mehr ausgeführt zu werden, da dies als allgemein bekannt vorauszusetzen ist (Lund 1990; 1998; Timpe 2006; Riggsby 2006).37 Kommen wir abschließend zu dem geographisch­ethnographischen Exkurs b. G. 6, 11–28 (Lund 1996; Burns 207

2003: 88–139; Krebs 2006; Riggsby 2006: 47–71; Schadee 2008; Gruen 2011: 141–158; Krebs 2011), wo die Kapitel 25–28 oftmals als Interpolation angesehen werden. Zur Echtheitsfrage gibt Dobesch (2001: 439–452.453– 505; zum Herkynischen Wald bes. 477–481) eine breite Diskussion; er hält zwar an der Unechtheit des Exkurses zum ­Herkynischen Wald und seine Tierwelt fest (6, 25– 28), kommt aber zu dem Ergebnis, dass dies von Hirtius oder einem Mitglied des Stabes in die Endredaktion eingefügt sei, und zwar aus dem in der Kanzlei gesammelten Informationsmaterial aus Literatur und mündlichen Erzählungen.An einer Zuordnung zu dem für Caesar aufbereiteten Wissenstand hält Dobesch mit guten Grund fest.Trotz der verschiedentlich vorgetragenen stilistischen und eher subjektiven Gegenargumente kann aber an der Authentizität des Exkurses festgehalten werden (Beckmann 1930; Holzberg 1987; Riggsby 2006: 11–12; Krebs 2006: bes. 121–123 und Anm. 21.51; Schadee 2008: bes. 178–179; Allen-Hornblower 2014). Auch die Erwähnung wundersamer Tiere im Herkynischen Wald ist nicht ungewöhnlich, wie Entsprechendes (Thema der tháumata) bei Polybios (34, 10, 8-9 = Strab. 4, 6 10 zu den Alpen), Plinius (n. h. 10, 132) oder Poseidonios zeigt; die Jagd­ geschichte von den Elchen, die in Diod. 3, 27 (Elephanten) eine direkte Parallele hat, kann durchaus zu Mirabilia gehören, die bei Poseidonios zu finden waren. Eine entsprechende Mirabilia-­Tradition lag offensichtlich in der vorcaesarischen Literatur, wohl auch bei Artemidor und Poseidonios, vor. Caesars ethnische und geographische Exkurse waren unter Verwendung der für den römischen Leser gedachten Topoi, Literaturanspielungen und Deutungsmuster in ihrer Struktur zielgerichtet und dienten hier einer bewussten Deformation des Bildes Germaniens als extreme Antithese zur Welt der Römer, aber auch der Gallier (Dauge 1981: 482–486; Holzberg 1987; Walser 1995; Lund 1996; Krebs 2006; Schadee 2008; Woolf 2011: 83–89; Allen-Hornblower 2014: bes. 689– 693). Germanenexkurs und zoologischer Exkurs zeigen eine deutliche Ringkomposition. Durch die fantastisch überzeichneten Mirabilia der Tierwelt wird dieser geradezu unendliche Wald zur halbmythischen Grenze der Oikumene; UrWildheit der Bewohner paart sich mit der Urwildnis der Landschaft Beschrieben wird in b. G. 6, 25, 2 der Verlauf des Her­ kynischen Waldgebirges38, das bei den Helvetiern, Nemetern und Raurakern beginne (offensichtlich als Beginn 208

der Schwarzwald) und sich in gerader Richtung parallel zur Donau bis zu den Gebieten der Daker und der Anartes erstrecke; von dort verzweige es sich zur Linken hin in verschiedene, von der Donau abgewandte Richtungen und berühre wegen seiner großen Ausdehnung die Gebiete vieler Völker (6, 25, 3). Es wird deutlich, dass auch Caesar aus seinen Vorlagen das ungarische Donauknie nicht kannte und wie dann Strabon von einem geradlinigen West-Ost-Verlauf der Donau ausgegangen ist. So wird die wachsende Entfernung von der Donau zu einem Verzweigen des Gebirges „nach links“, d. h. nach Norden. Das Waldgebirge sei in neun Tagen zu Fuß zu durchqueren, andere Messungen gebe es nicht; auch gebe es niemand, der nach 60tägiger Wanderung das Ende des Gebirges erreicht oder auch nur gehört hätte, wo dieses Ende liegt (6, 25, 1.4). Es sei (aus der Literatur) bekannt, dass dort viele sonst unbekannte Tierarten leben (6, 25, 5). Wie Caesar sagt, stammen seine Informationen aus Eratosthenes (Eratosth. F 150 ed. Roller) und anderen griechischen Autoren, welche das Gebirge, das sie vom Hörensagen kannten, Orcynia benannt haben (6, 24, 2). Die Gallier seien einst den Germanen militärisch überlegen gewesen und hätten damals auch Gebiete östlich des Rheins kolonisiert, so die Volcae Tectosages ursprünglich die fruchtbarsten Gebiete Germaniens um den Herkynischen Wald herum (6, 24, 1–4). In seinem aktuellen Wissen erstreckt sich das Waldgebirge vom Rhein bis zu den rumänischen Nordwestkarpaten. Nach Strab. 7, 2, 2 erwähnte Poseidonios das Herkynische Waldgebirge (drymós) als Wohnsitz der Boier (Poseid. F. 272 ed. Edelstein-Kidd), wobei das „früher“ im Text ein Zusatz Strabons ist, der ja die Sueben als Bewohner angibt (s. u.). Die bei Diodor 5, 32, 1 übernommene, „bisher unbekannte“ Definition von Kelten und Galatern/Galliern ist zwar nicht sicher mit Poseidonios zu verbinden, aber sehr wahrscheinlich bereits aus seinem Ozeanbuch stammend. Demnach wird die Bevölkerung im Hinterland von ­Massalia zwischen Alpen und Pyrenäen Kelten genannt, jene in dem Teil der Keltike oberhalb von diesen nach Norden hin und alle Völker über diese hinaus bis nach Skythien Galater. Die Römer dagegen nennen alle Galater. Dabei wird jener nördliche Teil der Keltike als zum Ozean und zum Herkynischen Gebirge hin (óros) liegend verortet, also als eine Art östlicher Abschluss der als Rechteck gedachten Keltike im eigentlichen Sinne (Pyrenäen – Ozean – Herkynisches Gebirge). Da Poseidonios die Kimbern als ausgewandertes keltisches Wander- und

Räubervolk mit den Kimmeriern identifizieren (Strab. 7, 2, 2; auch Diod. 5, 32, 4) und ihren Zug damit von Osten her annehmen möchte, bleibt seine Raumkonzeption für die Wohnsitze der Boier zwischen nördlichem Ozean und Istros, wohin die Kimbern nach der Abwehr durch die Boier zu den Skordiskern gezogen sind, ganz vage. Das Herkynische Gebirge ist hier in nord-südlicher Richtung gedacht, ebenso in Diod. 5, 21, 1–2, wo die Lage Britanniens als dem am Ozean liegenden Teil Galatiens (Galliens) und geradewegs dem Herkynischen Waldgebirge (drýmos), dem größten Wald in Europa, gegenüberliegend definiert ist. Die Passage mit dem Hinweis auf die Eroberung der Insel durch Caesar geht sicher auf Timaigenes zurück. Bei Plin. n. h. 16, 6 erstreckt sich der Herkynische Wald als Gesamtbezeichnung der Mittelgebirge Germaniens bis in dessen Norden; dabei ist aber Plinius’ enge Bindung an die Autoritäten der Bildungstradition zu beachten, die aktuelles Wissen in den Hintergrund drängten, wie etwa das überholte Indienbild zeigt (Dihle 1984: 185–188). Ja selbst bei Ptolemaios führte die Autorität des Eratosthenes noch zu einer geographischen Verzerrung. Für Caesar lag das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Boier irgendwo rechts des Rheins (b. G. 1, 5, 4).39 In dem ethnisch-geographischen Bild des Tacitus (Germ. 28, 1–2) waren sie ursprünglich die östlichen Nachbarn der Helvetier zwischen Herkynischem Wald und Donau: Einst ­hatten die Gallier den Rhein nach Germanien überschritten, und zwischen Hercynia Siva und Rhein sowie Main hatten das diesseitige Gebiet die Helvetier, das entferntere die Boier bewohnt. Die Erinnerung sei, obwohl das Land jetzt von anderen bebaut werde, in dem Namen Boihaimum geblieben. Die Markomannen wiederum hätten durch ihre militärische Überlegenheit ihre Wohnsitze erworben, aus denen sie einst die Boii vertrieben hätten (Germ. 42, 1). Aus Tacitus Aussage über die Wohnsitze der Markomannen, die mitVelleius Paterculus korrespondiert (2, 109, 5 Boiohaemum ist der Name der Region, die Marbod und die Markomannen bewohnen) sind vielfach falsche Schlüsse gezogen worden.Tacitus kannte den Namen Boiohaemum und seine Herleitung von den Boiern wahrscheinlich aus dem verlorenen Werk des älteren Plinius über die Germanenkriege, dem wiederum Velleius, ein Offizier des Tiberius, vorausging. Da andererseits die militärische Überlegenheit der Markomannen unter Marbod allgemein bekannt war, lag für Tacitus und jeden Römer der Schluss klar auf der Hand: Wenn zuerst die

Boier in Boiohaemum gelebt haben und jetzt das Land im Besitz der Markomannen ist, so müssen sie die vorherigen Besitzer mit Waffengewalt vertrieben haben. Ein tatsächliches historisches Wissen ist mit dieser Folgerung nicht zu verbinden. Strabon (7, 1, 3) wiederum, der die älteren geographischen Vorstellungen seiner Vorlagen mit der caesarischen Darstellung Germaniens und punktuell mit aktuellen Informationen vermischt und dabei in Widerspruch zu anderen Partien der Geographiká gerät, spricht von einem sich durch Germanien ziehenden Gebirgsrücken, der (im Westen) an die Alpen stößt. Dort seien der Herkynische Wald und die Völker der Sueben, die teilweise wie die Quaden innerhalb des Waldes wohnen; bei ihnen, den Quaden liege auch das Bouiaimon, die Residenz des Marbod, der dorthin seine Landsleute, die Markomannen und noch andere Stämme verpflanzt hat. Diese letztgenannte Information, die auf den römischen Wissensstand über die Völkerbewegungen während der Germanienfeldzüge zurückgeht, ist ernst zu nehmen und spiegelt dieVerlagerung germanischer Gruppen nach Böhmen und Mähren. Die Völker der Sueben wohnen teils innerhalb, teils außerhalb des Waldes und grenzen an die Geten (7, 1, 3); diese sind für Strabon in seiner west-östlichen Abfolge der Völker die Nachbarn der Sueben und wohnen dann bis zur westpontischen Küste. Die hier von Strabon verwendete griechische Vorlage kennt den Dakernamen nicht. Mit 7, 1, 3, Z. 32ff. (ed. Radt) werden in einem deutlichen Quellenwechsel die Sueben konkreter verortet: Die Sueben sind das größte Volk der Germanen, sie reichen vom Rhein bis zur Elbe und ein Teil wohnt noch jenseits der Elbe, so die Langobarden und die Hermunduren. Dann kommt der klassische Barbarentopos, den die griechische Ethnographie zuvor auf die Kelten angewendet hatte: Sie wechseln leicht die Wohnsitze, da das Leben in Hütten und die Einfachheit des Lebens ohne das Land zu bebauen oder Vorräte anzulegen und sich hauptsächlich vomVieh zu ernähren ihnen eine fast nomadische Lebensweise ermögliche. Diese Übertragung ist bereits Teil des caesarischen Germanenexkurses (b. G. 6, 22). Den südlichen Teil Germaniens (gemeint ist nördlich des Istros) jenseits der Elbe weist Strabon in dem unmittelbar an die Elbe anschließenden Teil den Sueben zu, woran sich das Land der Geten anschließe, das zu Beginn schmal sei und sich dann zu den Tyrageten nach Norden verbreitere; die genauen Grenzen könne man nicht 209

angeben (7, 3, 1). Das Land der Geten erstrecke sich entlang des Istros und im entgegengesetzt liegenden Teil entlang der Hänge des Herkynischen Waldes, von dessen Bergen es einen Teil mitumfasste. Auch hier erweist sich Strabons Quellenlage als sehr vage. Dabei stellt sich Strabon die Erstreckung des Herkynischen Waldes parallel zur Donau in geradewegs west-östlicher Richtung vor. Wo er hier die Grenze zwischen Sueben und Geten ansetzt, bleibt völlig im Unklaren. Generell sagt Strab. 7, 1, 3 ganz unpräzise, dass die Völker der Sueben teils innerhalb, teils außerhalb des Waldes und die außerhalb des Waldes leben an die Geten grenzen. Von den Gebieten jenseits der Sueben und Geten kann Strabon für Bastarner, Iazygen, Roxolanen, Sauromaten oder „irgendwelche andere Wagenbewohner“ keine geographischen Angaben machen (7, 2, 4). Typisch für Strabons unorganische Einfügung neuer Informationen ist die ‚angeklebte‘ Erwähnung eines weiteren Waldgebirges mit Namen Gabreta am Ende von 7, 5, 1, das ebenfalls den Sueben gehöre: „Es gibt auch noch einen anderen großen Wald, Gabreta, auf dieser Seite der Sueben, auf der jenseitigen ist nämlich der Herkynische Wald“, was mit der bisherigen Skizze, wo der Herkynischen Wald gerade nicht an der anderen Seite der Sueben liegt, nicht vereinbar ist. Was konkret gemeint ist, bleibt offen. Aus Ptol. geogr. 2, 11, 5 ergibt sich, dass der zweite von ihm angeführte nördliche Zufluss der Donau, der aus dem Gabreta-Wald komme, nur der im Waldviertel (Weinsberger Wald) entspringende Kamp mit dem als Verkehrsweg wichtigen Kamptal sein kann, der nächste Zufluss dann, der am Luna-Wald, offensichtlich den Kleinen Karpaten, entlangfließe, nur die March (Stückelberger, Graßhoff 2006: 223). Der Gabreta-Wald ist somit nicht der Böhmerwald, sondern das Mittelgebirgsland von Mühlviertel und Waldviertel zusammen mit den Südausläufern von Bayerischem und Böhmer Wald als Südbegrenzung des Böhmischen Beckens (so auch Ptol. 2, 11, 7). Die Ostgrenze Germaniens zieht Ptol. 2, 11, 6 vom großen Donauknie zu den Sarmatischen Bergen (eindeutig gemeint sind damit die Waldkarpaten, nicht die Westkarpaten, so Stückelberger, Graßhoff 2006: 225) und von dort zum Quellgebiet der Weichsel, unter deren Oberlauf aber offenkundig der San oder wahrscheinlicher der Bug verstanden ist, und dann dem Fluss folgend bis zur Vistula-Mündung (2, 11, 4.6). Die Bezeichnung Herkynischer Wald ist bei Ptolemaios auf die Beskiden mit der Tatra zwischen dem Sudeta-Gebirge (offensichtlich 210

Erzgebirge und Sudeten als Einheit; vgl. 2, 11, 23) und den Sarmatischen Bergen (2, 11, 7) beschränkt. In 2, 11, 25 werden dann aber die Markomannen südlich des GabretaWaldes, südlich von diesen Sudiner (Sudianer) und südlich von diesen bis zur Donau die Adrabaikampoi (in 2, 11, 26 nur als Kampoi benannt) angesiedelt, letztere tatsächlich mit der Region des Kamp, dessen Name zu den alten Flussnamen zählt, im Waldviertel und der ManhartsbergRegion zu verbinden. Hier muss eine Verwechslung vorliegen, denn in 2, 11, 26 sind die Quaden richtig südlich seines Herkynischen Wald lokalisiert, und in 2, 11, 23-25 südlich des Sudeta-Gebirges die Nouaristoi oder Ouaristoi, auf die dann der Gabreta-Wald folge. Er setzt dann aber den Luna-Wald, offenkundig die Kleinen Karpaten, unrichtig südlich der Quaden an, gefolgt von der Angabe, dass südlich des Luna-Waldes das große, sonst nirgends belegte Volk der Baimoi (Baianoi) bis zur Donau anzusiedeln sei, zwischen den Baimoi und den Kampoi noch die Rakatriai (oder eher Terakatriai; die Abtrennung zu o‡ te ÑRakatr¤a, so Stückelberger, Graßhoff 2006: 228, ist nicht zwingend). Da diese Namen weder mit Tacitus noch Cassius Dio zu vereinbaren sind, ist zu fragen, ob hier alte Stammesnamen der Zeit 30/20–15/14 v. Chr. überliefert sind, als sich italische Händlerniederlassungen, wie die neuen Ausgrabungen zeigen, im Oppidum von Bratislava und in der keltischen Großsiedlung von Vindobona etabliert hatten. Ähnliches gilt für die Angabe der Baginochaimai (Bainochaimai) als Bewohner um die Elbe oder der Parmaikampoi als Donauanrainer im westlichen Germanien (geogr. 2, 11, 20.24). Ein konkretes Beispiel zum Schluss: Harls historische Thesen zur Glocknerroute Die Untersuchungen zum Passheiligtum am Großglockner in den 90er Jahren hat O. Harl (2014) nunmehr unter Mitarbeit zahlreicher Kolleginnen und Kollegen insbesondere für die Kleinfunde in einem gut dokumentierten Band vorgelegt. Umso bedauerlicher ist es, dass er seine bereits von der althistorischen Fachwelt einhellig als nicht tragfähig abgelehnten weitergehenden Thesen (Harl 2011; dazu etwa Strobel 2011/2012: 153–166) hier nochmals aufgenommen hat, ja sogar noch zuspitzt (2014: 175–201). So sollen Gesandte des römischen Senats schon im frühen 2. Jh. v. Chr. die Glocknerroute nach Norden zu den Galli Transalpini begangen haben, Polybios sei auf ihr über

Iulium Carnicum nach Noreia gereist, und der Reichtum der „Könige der Taurisker“ habe auf der Verfügung über die nordalpinen Salzlager und Alpengold gefußt. Ja Polybios habe Noreia (natürlich die Residenz des Königs Cincibilus) als eine ummauerte Stadt (pólis sei „mittelrepublikanisch“ mit castellum zu übersetzen) auf einem Hügel mit florierender Eisenerzeugung beschrieben, die Taurisker wiederum als nördlich von Aquileia lebend, und er habe diese als Noriker bezeichnet. Die Stadt Noreia sei bereits in der Hallstattzeit entstanden, um 150 das Gold aus dem Lavanttal nach Noreia gebracht und von dort nach Italien verhandelt worden. Die Kimbern seien die Drau aufwärts in Kärnten einmarschiert und der Consul Carbo habe sein Heer 113 v. Chr. am Plöckenpass aufgestellt, dann seine Niederlage bei Noreia kassiert. Die Kimbern hätten das goldreiche Noreia geplündert. Die Lokalisierung des ‚alten Noreia‘ angeblich im Umkreis der Glocknerroute im Westen Noricums lässt Harl offen, nach 113 sei die „Hauptstadt der Taurisker und Noriker“ auf den Magdalensberg verlegt worden (sic!). Das von Harl entworfene „breite Spektrum an neuen Informationen“ zu Tauriskern, Cato, Scipio Aemilianus und Polybios kann nur mehr als historischer Roman bezeichnet werden (vgl. Strobel 2012a; 2013; 2014a). Harls Umgang mit den antiken Quellen neigt leider zu pseudowissenschaftlichem Dilettantismus, so die Behauptung, Polybios sei die ausschließliche Quelle Strabons für den Alpenraum, und zwar in einen Bericht seiner Reise nach Noreia, oder noch drastischer die hartnäckige Beibehaltung der falschen Übersetzung von Strab. 4, 6, 12 „über die Alpen schaffe es man nicht einmal in fünf Tagen, die Entfernung beträgt 2.200 Stadien, von einer Ebene zur anderen“. In Wirklichkeit gab Polybios in B. 34 für den griechischen Leser einen Eindruck von der Höhe und Ausdehung der ihnen unbekannten Alpen (Pol. 34, 19, 15–21 bei Strab. 4, 6, 12): „Derselbe Mann [Polybios] vergleicht, wenn er von dem Umfang und der Höhe der Alpen spricht, die größten Berge der Griechen … und sagt, jeder einzelne von diesen könne mit leichter Ausrüstung fast an einem Tage bestiegen und auch an einem Tage umwandert werden; die Alpen dagegen könne man in nicht einmal fünf Tagen besteigen, und ihre Länge entlang der Ebenen [Norditaliens] beträgt 2.200 Stadien“ (Übersetzung S. Radt). Mit dieser falschen Übersetzung steht und fällt Harls ganzes Hypothesengebäude, von der philologischen und inhaltlichen Fehldeutung von Strab.

5, 1, 8, wo nur die Diskussion der Timavus-Quelle Polybios und Poseidonios erwähnt, ganz zu schweigen. Harls Ausführungen zu den Galli Transalpini bei Livius sind ohne jede Grundlage (nach Harl zur Einschärfen der Karnischen Alpen (Plöckenpass, Kanaltal) als Südgrenze der Taurisker als Überlebensfrage der Kolonie Aquileia [sic!]); ein König der Taurisker erscheint weder bei Livius noch bei Polybios. Dieser hat weder Noreia noch die Noriker noch die Germanen jemals erwähnt, schon gar nicht ist Steph. Byz. s. v. Magistriké auf ihn zu beziehen. Aus Plin. 3, 133 Raeti et Vindelici omnes in multas civitates divisi a. O. 197 eine Vorherrschaft der Noriker „über die einzelnen Alpenvölker in Form eines Stammesverbandes“ abzuleiten, kann nur mehr als abstrus bezeichnet werden. Dass der Sturz des Goldpreises in Italien auf den Zustrom enormer Kriegsbeute zurückging, sieht Harl nicht, der Feldzug des C. Sempronius Tuditanus ist verfälscht dargestellt. In seinen Ausführungen zu Iulium Carnicum (a. O. 225–236) ignoriert Harl, dass die römische Bezeichnung Carni alle Gruppen am Rand der Ostalpen und der Iulischen Alpen von Bellunum bis zur Adelsberger Pforte umfass­te und M. Aemilius Scaurus 115 v. Chr. die Revolte der Segestani im Bereich von Natisone und mittlerem Isonzo niedergeschlagen hat. Seine These zum Namen des Alpenzuges südlich der Provinz Noricum als Teil des Grenzgebirges Italiens bei Ptol. 3, 1, 1 und 8, 8, 2 übersieht, dass Ptolemaios in 2, 12, 2 das Okra-Gebirge, d. h. die Iulischen Alpen, völlig falsch an die Südgrenze Rätiens westlich der Quelle des Inns verlegt und somit die Karawanken als daran anschließendes Gebirge (3, 1, 1) bis an die Ostgrenze Raetiens ausdehnt, gleichzeitig in 2, 13, 1 deren ‚Ostteil‘ als nördlich von Istrien gelegen angibt. Ausgangspunkt für die Fehlberechnung waren die falsche Längenangabe und Orientierung für das Okra-Gebirge als Grenzgebirge Italiens; Harls Ausführungen a. O. 232– 234 sind ohne Wert, zudem er wieder auf der philologischen Unmöglichkeit beharrt, dass mons bzw. óros mit „Gebirgs-/Passübergang“ zu übersetzen seien. Als geographisch in der Grenzzone zwischen Italien und der Provinz Noricum gelegen bezeichnet Ptolemaios Iulium Carnicum in 2, 13, 4, ebenso in 2, 14, 7 Emona als in der geographischen Grenzzone zwischen Italien und der Provinz Oberpannonien, und zwar südlich von Noricum, gelegen. Für die Karte Europa 5 nennt Ptolemaios dann in 8, 7 als Basispunkte der Koordinatenbestimmung (mit Länge von Alexandria Richtung Westen und Angabe des läng211

sten Tages für die Breite) in den Provinzen für Raetia Brigantium, für Vindelicia Augusta Vindelicum, für Noricum Arelape und Iulium Carnicum, für Oberpannonien Poetovio, Scarbantia und Emona. Aus 8, 7 können keine Schlüsse auf die administrative Zugehörigkeit von Iulium Carnicum oder Emona gezogen werden, wie auch Ptol. 1, 16, 1 mit der Kritik an den Fehlern des Marinos bei den Grenzbeschreibungen zeigt, der einmal die Nordgrenze Italiens mit den Provinzen Raetia, Noricum und Pannonia angab, dann aber nicht Pannonien, sondern Dalmatien an Italien grenzen ließ. In 8, 7 hatte Ptolemaios noch die von Marinos gesammelten Daten zugrunde gelegt. Natürlich war der ursprüngliche Name der caesarischen Gründung Forum Iulium Carnicum im Unterschied zu dem ebenfalls gegründeten Forum Iulii gewählt; Harls Spekulationen zum Namen sind ohne Basis, zumal er die Überlieferungsvarianten in Ptol. 3, 1, 1 zum Karawankennamen mit paläographisch leicht erklärlichen Lesefehlern (Buchminuskel a>s, g >d und kaw > ivi) mit folgenden Schreiberkorrekturen hätte beachten müssen. Dass auch Meilensteine nicht zu eindeutigen Lokalisierungen führen können, zeigt der Versuch von G.Winkler (in Harl 2014: 271–279), anhand der Entfernungsangaben den Ortskern von Lienz als Platz des Municipium Claudium Aguntum zu erweisen. Allerdings führt die Entfernungsangabe von 45mp (CIL 17/4, 165) sehr wohl von Oberolang bis zum Grabungsgebiet von Dölsach/­ Striebach, zumal davon auszugehen ist, dass ein Übergang über die stets stark strömende, oft reißende Isel vermieden und die Strecke Amlach-Tristach gewählt wurde.40 CIL 17/4, 1257 wiederum gibt genau die Entfenung von Döls­ach nach Oberdrauburg. Die Behauptung, die Angabe von 8mp würde sich auf die Straßenstation Loncium im Gailtal als caput viae beziehen, ist haltlos. Eine Straßenstation kann nie caput viae gewesen sein, zumal das obere Gailtal mit dem Gailbergsattel, der Straßenverbindung nach Ober­drauburg und Aguntum, zum Aguntiner Stadtterritorium gehörte. Der „Römersiedlung Striebach“, also die ausgegrabene städtische Siedlung mit Forum, Macellum und öffentlicher Therme sowie spätantiken Kirchen, spricht Harl (a. O. 237–270) erneut die Identifizierung mit Aguntum ab, obwohl er selbst sie als Drehscheibe des inneralpinen Verkehrs (mit Beginn der Glocknerroute) anspricht, deren große Bedeutung durch die Ausstattung mit einer „städtischen Schaufassade, der sog. Repräsentationsmauer“ dokumentiert werde. Harls 212

oftmals sehr spekulationsreiche archäologische Argumentation ist durch die jüngsten Untersuchungen (FÖ 51, 2012: 341–345; Tschurtschenthaler, Auer, Bleibinhaus 2013;Tschurtschenthaler, Auer 2015; Jahresberichte Institut für Archäologien Innsbruck) überholt. Die erste Phase der Thermenanlage und des Forums datiert in frühclaudische Zeit; die erheblich später errichtete ‚Repräsen­ tationsmauer‘ hatte ursprünglich nur 3,5 m breite einfache Durchlässe, das repräsentative Tor datiert wohl erst in severische Zeit. Durch Georadar konnte weitere städtische Verbauung unter hoher Murenverschüttung erfasst werden, ebenso die Fortsetzung des Zweischalenmauerzuges mit Erde-Stein-Füllung ohne Türme, der weder in Architektur noch Technik einer römischen Stadtmauer entspricht. Entgegen Harls Plan (a. O. 240, Nr. 103) ist die später durch die repräsentative Toranlage geführte Straße zweifellos der Verlauf der Reichsstraße Virunum-­Teur­niaAguntum-Brenner, deren Verlauf bereits vor der Anlage des Municipiums festgelegt war und die Durchgangsstraße für den überregionalen Verkehr blieb. Gleiches gilt für die zweite Straßenachse, auf die das Forum ausgerichtet ist; sie führte wohl im weiteren Verlauf zum Übergang des Iselsberges ins obere Mölltal sowie in einer Nebenroute ins Iseltal Richtung Matrei. Außerdem war der Grabbezirk des Kultvereins für den Genius des Municipiums Aguntum (CIL 3, 11845) sicher nicht 5 Meilen vom Municipium entfernt im Gräberbereich einer benachbarten eigenständigen Siedlung gelegen; derartige Kulte gehören stets zum städtischen Zentralort. Entgegen Harl ist die antike, sich im Laufe der Zeit nach Westen vorschiebende (wegen des Debant-Baches?) Siedlungsfläche nur zu einem Bruchteil bekannt. Für Harls These, das Municipium Aguntum nach Lienz-Patriasdorf zu verlegen, reicht der Fund einer spätantiken Kirche in einem dortigen Vicus am Fuß eines kleineren ländlichen Heiligtums auf einem ansteigenden Rückfallhang (aktuelle Forschungen G. Grabherr, Innsbruck) nicht aus, wo durch römische Katapultbolzen, die in Schussrichtung im Hangbereich in den Boden drangen, erstmals Spuren des bellum Noricum des Jahres 16 v. Chr. fassbar scheinen, mit dem Livius seine Darstellung des Alpenkrieges von 15 v. Chr. begonnen hat (Flor. 2, 21, 3; 2, 22). Zentral für Harls Gesamtargumentation ist die These, dass die Reichenhaller Solequellen im 2. Jh. v. Chr. unter tauriskischer Herrschaft zur führenden Salzerzeugungsstätte in den Ostalpen aufgestiegen seien und Salz in

g­ roßem Stil über die Glocknerroute nach Italien (das einen Überschuss an billigem Salinensalz produzierte!) verhandelt worden sei. Der in lateinischen kirchlichen Urkunden karolingischer Zeit für Reichenhall erscheinende Ortsname Salinae bzw. locus ad salinas (statt des bayerischen volkssprachlichen Hall) ist natürlich kein Beweis für einen römischen Ortsnamen Ad Salinas. Auch bleiben die in der Nachfolge des Heimatforschers J. Lang 41 postulierte keltische und römische Nutzung der Solequellen eine reine Hypothese, die nur mit einer angeblich 12m hohenVerschüttung im Bereich des Soleaustritts seit der Antike und dem so verursachten Fehlen archäologischer Spuren des angeblich von den Tauriskern eingeführten neuen Sudverfahrens ‚untermauert‘ wird. Eine hallstattzeitliche Solesalzgewinnung (Briquetagen, Ha C und D) ist nur bei Unken-Maislkogel/Heutal nachgewiesen, worauf auch Harl hinweist; dies liegt aber jenseits des Steinpasses bereits im Gebiet der Ambisonten. Insgesamt sind seine Ausführungen zum Siedlungskomplex Karlstein-Burgstein/St. Pankraz unzutreffend; die Altgrabungen geben keinen Aufschluss über die tatsächliche Struktur der Siedlung, das Gebäude mit Mörtelestrich ist erst in augusteisch-tiberische Zeit zu datieren, die

Kleinfunde zeigen eine Kontinuität von Lt A bis in tiberische Zeit; Terra Sigillata-Importe und die frühe Anwesenheit römischen Militärs dokumentieren die Bedeutung des Platzes in augusteischer Zeit.42 Hinzu kommt, dass der Gott Iuvavus als personifizierter Stadtgott von Iuvavum anzusprechen ist und nicht als Flussgott und Name der Salzach. Auch den ‚pan-venetischen‘ namenskundlichen Spekulationen des ‚Multilinguisten‘ D. Schürrs sollte man mit Abstand begegnen. Die wirtschaftliche Bedeutung des Ortes, der sehr wahrscheinlich als Zentralsiedlung der Elveti anzusehen ist, liegt in der Saalach-Verkehrsachse (einschließlich der Parallelroute über den Thumer See) nach Zell am See und ins Pinz- und Pongau sowie zum Hochtor, Radstädter Tauern und Tirol (Strobel 2014b: 300–301; Höglinger 2014). Zeugnisse des Fernverkehrs zwischen Oberitalien und Böhmen finden sich bereits in der Bronzezeit.

Abkürzung: Radt = S. Radt (ed.), Strabons Geographika I–X, Göttingen 2002–2011.

Anmerkungen 1 Hinsichtlich der Verwendung eines undifferenzierten Keltenbegriffs problematisch Maier 2012 („aus rein pragmatischen Gründen“ die Verwendung der Begriffe Kelten bzw. keltisch „dem Sprachgebrauch der Mehrheit“ folgend; a. O. 35). R. Karl 2012 spricht zu Recht von einem „keltisch etikettierten Assoziationsprinzip“; nicht immer überzeugend Karl 2010. Collis (2014) fasst seine Kritik an den konventionellen Keltendefinitionen nochmals zusammen. 2 Zu den Grundlagen und Prinzipien der antiken Anthropologie, Ethnographie und Geographie Trüdinger 1918; Sallmann 1971; Müller 1972–1980; Schmidt 1980 (Klimazonentheorie); Dauge 1981; Thomas 1982; Dihle 1984: 21–46, 174–190; 1994; Lund 1990; Prontera 1990; 2011; Geus 2002; Isaac 2004;Talbert, Brodersen 2004; Timpe 2006: 3–62; Rathmann 2007; Raaflaub, Talbert 2010; Bichler 2011; Gruen 2011; Kowalski 2012; Talbert 2012; Dueck 2013; Boschung, Greub, Hammerstaedt 2013; Cobet 2013; Geus, Rathmann 2013; Olshausen 2013. 3 Die Zusammenstellung von Textstellen mit teilweise interpretierender Übersetzung wirkt nur im ersten Moment zuverlässig. Abzulehnen sind etwa die wenig überzeugenden sprachlichen Spekulationen mit den Namensformen Irlands a. O. 29f.

4 Pytheas verwendete bereits die Bezeichnung „Britannische Inseln“; Der Name Albion kann für ihn nicht belegt werden; die pseudo-aristotelische Schrift De mundo ist nicht vor das mittlere 1. Jh. v. Chr. zu datieren und zudem nur in der ­lateinischen Version des Apuleius sowie in kontaminierten ­syrischen bzw. arabischen Übertragungen fassbar. 5 Gegen die Überlieferung Iern¯e (