Interkulturelles Philosophieren: Kant und Foucault in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie 9783839464281

Interkultureller Austausch geht von der Gleichwertigkeit der Kulturen aus und ist vom Gedanken des produktiven Dialogs,

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Interkulturelles Philosophieren: Kant und Foucault in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie
 9783839464281

Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
1. Einführung
1.1 Allgemeine Vorüberlegungen
1.2 Zum Konzept der Interkulturellen Philosophie
1.3 Zeitgenössische afrikanische Philosophie – Kulturräume in Bewegung
1.4 Was ist afrikanische Philosophie?
1.5 Zur Methode und zum Vorgehen
2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant
2.1 Kant in der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie
2.2 Kants epistemischer, ethischer und politischer Kosmopolitismus
2.2.1 Zu den Theoremen Person und Menschheit bei Kant
2.2.2 Kosmopolitismus, Weltbürgerschaft und ewiger Frieden bei Kant
2.2.3 Universalismus und Kants Konzept der Rasse
2.3 Kosmopolitismus in der Philosophie von Appiah und Mbembe – eine kritische Auseinandersetzung mit Kant
2.3.1 Appiah’s Partial Cosmopolitanism zwischen Kant und Mill
2.3.1.1 Kant und Appiahs Kosmopolitismus und Universalismus
2.3.1.2 Identität, Ethik und Kosmopolitismus bei Appiah
2.3.2 Thinking outside the frame. Mbembes Projekt Zukunft und die Politik der Möglichkeit
2.3.2.1 Mbembes Afropolitanismus und das Konzept der pluriversality
2.3.2.2 Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft und sein Konzept von Rasse
2.3.2.3 Afropolitanismus und die Ästhetik der Verwobenheit
2.4 Der kritische Dialog mit Kants epistemologischem und ethischem Universalismus bei Wiredu und Gyekye
2.4.1 Kants Universalismus aus der Sicht Wiredus
2.4.1.1 Wiredu und Kants epistemischer Universalismus
2.4.1.2 Sprache, Schlussformen und konzeptionelle Schemata bei Wiredu – ein Vergleich mit Kant
2.4.1.3 Moraltheoretische und politische Implikationen bei Wiredu und Kant
2.4.1.4 Wiredus Modell der Konsensdemokratie
2.4.2 Der kritische Dialog mit Kants Universalismus bei Kwame Gyekye
2.4.2.1 Kwame Gyekye − Kants Menschenbild, Universalismus und Kosmopolitismus in der Kritik
2.4.2.2 Gyekyes moderater Kommunitarismus und Kants Ethik
2.4.2.3 Kritik, cultural borrowing und afrikanische Traditionen bei Kwame Gyekye
2.4.2.4 Politische Konsequenzen der Ethik Gyekyes
2.5 Rereading Kant. Philosophie als Kritik im philosophischen Konzept von Serequeberhan und Odera Oruka
2.5.1 Kritik am Eurozentrismus in der Philosophie von Tsenay Serequeberhan
2.5.2 Philosophie als visionäre Kritik bei Odera Oruka
2.5.2.1 Kritik, Ethik und Politik. Globale Gerechtigkeit bei Odera Oruka
2.5.2.2 Umweltethik und Philosophie der Natur bei Odera Oruka und Kant
3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie
3.1 Foucault und der (Post-)Kolonialismus
3.2 Kritik, Parrhesia und Philosophie bei Foucault
3.2.1 Parrhesia und Kritik im Kontext von Politik und Philosophie bei Foucault
3.2.2 Zum Konzept der Philosophie bei Michel Foucault
3.3 Aufklärung und Kritik. Foucault und Kants Auffassung vom Menschen
3.4 Die Sprache bei Kant und Foucault. Die Sprache von Kant und Foucault
3.4.1 Die Verdrängung der Sprache bei Kant und Kants latente Sprachphilosophie
3.4.2 Sprache bei Kant aus der Sicht Foucaults
3.4.3 Sprache, Diskurs und das Gemurmel der Sprache bei Foucault
3.4.4 Zur philosophischen Sprache bei Kant und Foucault
3.5 Sprache, Literatur und Kunst in Foucaults Philosophie
3.5.1 Philosophie und Theater. Zum stilistischen Aspekt von Foucaults philosophischem Schreiben
3.5.2 Sprache, Literatur und Visuelle Kunst bei Foucault
3.6 Geschichte, Fortschritt und Macht bei Foucault
3.6.1 Geschichte und Gegengedächtnis – Foucaults Geschichtsverständnis
3.6.2 Macht im Kontext von Geschichte und Philosophie bei Foucault
3.6.3 Literatur und Geschichte – Monumente und Geschichtsschreibung
3.7 Foucault und die zeitgenössische afrikanische Philosophie
3.7.1 Diskurs und Macht. Mudimbes rethinking von Foucaults Philosophie
3.7.2 Mbembe reading Foucault. Die Kritik der schwarzen Vernunft, Rasse und Nekropolitik
4. Resümee
5. Bibliographie

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Marita Rainsborough Interkulturelles Philosophieren

Edition Moderne Postmoderne

Marita Rainsborough lehrt als Privatdozentin am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg und am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie ist assoziiertes Mitglied am Centre of Philosophy University of Lisbon (CFUL) und Mitherausgeberin der Zeitschrift »Estudos Kantianos«. Ihr Forschungsschwerpunkt bezieht sich – vom Konzept der interkulturellen Philosophie ausgehend – auf Schnittstellen zwischen zeitgenössischer französischer und afrikanischer Philosophie und dem Erbe der klassischen deutschen Philosophie von Kant und Hegel.

Marita Rainsborough

Interkulturelles Philosophieren Kant und Foucault in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6428-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6428-1 https://doi.org/10.14361/9783839464281 Buchreihen-ISSN: 2702-900X Buchreihen-eISSN: 2702-9018 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort ............................................................................ 9 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Einführung.................................................................... 11 Allgemeine Vorüberlegungen ................................................... 11 Zum Konzept der Interkulturellen Philosophie .................................. 14 Zeitgenössische afrikanische Philosophie – Kulturräume in Bewegung .......... 19 Was ist afrikanische Philosophie? ............................................. 24 Zur Methode und zum Vorgehen ............................................... 29

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant ........ 37 2.1 Kant in der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie .................. 37 2.2 Kants epistemischer, ethischer und politischer Kosmopolitismus .............. 42 2.2.1 Zu den Theoremen Person und Menschheit bei Kant .................... 42 2.2.2 Kosmopolitismus, Weltbürgerschaft und ewiger Frieden bei Kant........ 47 2.2.3 Universalismus und Kants Konzept der Rasse............................ 51 2.3 Kosmopolitismus in der Philosophie von Appiah und Mbembe – eine kritische Auseinandersetzung mit Kant ................................... 56 2.3.1 Appiah’s Partial Cosmopolitanism zwischen Kant und Mill ................ 56 2.3.1.1 Kant und Appiahs Kosmopolitismus und Universalismus ............................................... 56 2.3.1.2 Identität, Ethik und Kosmopolitismus bei Appiah ................ 61 2.3.2 Thinking outside the frame. Mbembes Projekt Zukunft und die Politik der Möglichkeit ................................................. 68 2.3.2.1 Mbembes Afropolitanismus und das Konzept der pluriversality .. 68 2.3.2.2 Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft und sein Konzept von Rasse ............................................ 77 2.3.2.3 Afropolitanismus und die Ästhetik der Verwobenheit ........... 85

2.4 Der kritische Dialog mit Kants epistemologischem und ethischem Universalismus bei Wiredu und Gyekye ........................................ 88 2.4.1 Kants Universalismus aus der Sicht Wiredus............................ 88 2.4.1.1 Wiredu und Kants epistemischer Universalismus .............. 88 2.4.1.2 Sprache, Schlussformen und konzeptionelle Schemata bei Wiredu – ein Vergleich mit Kant ................. 92 2.4.1.3 Moraltheoretische und politische Implikationen bei Wiredu und Kant .............................................. 101 2.4.1.4 Wiredus Modell der Konsensdemokratie ....................... 106 2.4.2 Der kritische Dialog mit Kants Universalismus bei Kwame Gyekye ...... 109 2.4.2.1 Kwame Gyekye − Kants Menschenbild, Universalismus und Kosmopolitismus in der Kritik............. 109 2.4.2.2 Gyekyes moderater Kommunitarismus und Kants Ethik ......... 112 2.4.2.3 Kritik, cultural borrowing und afrikanische Traditionen bei Kwame Gyekye................................. 118 2.4.2.4 Politische Konsequenzen der Ethik Gyekyes ................... 124 2.5 Rereading Kant. Philosophie als Kritik im philosophischen Konzept von Serequeberhan und Odera Oruka ........................................ 128 2.5.1 Kritik am Eurozentrismus in der Philosophie von Tsenay Serequeberhan ............................................... 128 2.5.2 Philosophie als visionäre Kritik bei Odera Oruka ....................... 140 2.5.2.1 Kritik, Ethik und Politik. Globale Gerechtigkeit bei Odera Oruka.................................................. 140 2.5.2.2 Umweltethik und Philosophie der Natur bei Odera Oruka und Kant............................................... 148 3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie........... 153 3.1 Foucault und der (Post-)Kolonialismus ....................................... 153 3.2 Kritik, Parrhesia und Philosophie bei Foucault ................................157 3.2.1 Parrhesia und Kritik im Kontext von Politik und Philosophie bei Foucault ...........................................................157 3.2.2 Zum Konzept der Philosophie bei Michel Foucault.......................167 3.3 Aufklärung und Kritik. Foucault und Kants Auffassung vom Menschen .......... 172 3.4 Die Sprache bei Kant und Foucault. Die Sprache von Kant und Foucault ....... 178 3.4.1 Die Verdrängung der Sprache bei Kant und Kants latente Sprachphilosophie ............................................ 178 3.4.2 Sprache bei Kant aus der Sicht Foucaults ............................. 187 3.4.3 Sprache, Diskurs und das Gemurmel der Sprache bei Foucault .......... 191

3.4.4 Zur philosophischen Sprache bei Kant und Foucault ................... 193 3.5 Sprache, Literatur und Kunst in Foucaults Philosophie ......................... 197 3.5.1 Philosophie und Theater. Zum stilistischen Aspekt von Foucaults philosophischem Schreiben.................................. 197 3.5.2 Sprache, Literatur und Visuelle Kunst bei Foucault..................... 202 3.6 Geschichte, Fortschritt und Macht bei Foucault .............................. 207 3.6.1 Geschichte und Gegengedächtnis – Foucaults Geschichtsverständnis .. 207 3.6.2 Macht im Kontext von Geschichte und Philosophie bei Foucault ......... 211 3.6.3 Literatur und Geschichte – Monumente und Geschichtsschreibung ......215 3.7 Foucault und die zeitgenössische afrikanische Philosophie ....................219 3.7.1 Diskurs und Macht. Mudimbes rethinking von Foucaults Philosophie ..... 219 3.7.2 Mbembe reading Foucault. Die Kritik der schwarzen Vernunft, Rasse und Nekropolitik ............................................... 228 4.

Resümee.....................................................................241

5.

Bibliographie ............................................................... 251

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  »We have to counter, to the nature sanctioned logic of brute force, a logic of recognition, respect, and dialogue – a logic grounded in the finitude, or humanness, of our shared existence.«1 Tsenay Serequeberhan »Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.«2 Immanuel Kant »Wenn es also eine Philosophie der Zukunft gibt, muß sie außerhalb Europas entstehen, oder sie muß als Folge der Begegnungen und Erschütterungen zwischen Europa und Nicht-Europa entstehen.«3 Michel Foucault

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Serequeberhan, Tsenay: Existence and Heritage: Hermeneutic Explorations in African and Continental Philosophy. New York (State University of New York Press), 2016, S. 72. Kant Anth, AA 7: 130. Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hg.: Bd. 1-22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff. Auch bei fremdsprachigen Texten werden die Siglen des Originals nach dem Verzeichnis der Kantstudien angegeben. Siehe dazu: https://www.kant-gesellschaft.de/de/ks/Hinweise_Autoren_2018.pdf; letzter Zugriff am 08.03.22. Foucault, Michel: »Michel Foucault und das Zen: ein Aufenthalt in einem Zen-Tempel (Gespräch)«. In: Foucault, Michel: Dits et Escrits. Schriften. Bd. III. 1976-1979. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003, S. 780f.

Vorwort

Das Buch basiert auf einer Vortragsreihe zum Thema Reler Kant na filosofia contemporânea africana (Die Neuinterpretation Kants in der zeitgenössischen afrikanischen Philosophie) und einem Seminar mit dem Titel Reler Kant. O dialogo crítico com o universalismo epistemológico, ético e político de Kant na filosofia contemporânea africana (Kant neu lesen. Kritischer Dialog mit dem erkenntnistheoretischen, ethischen und politischen Universalismus Kants in der zeitgenössischen afrikanischen Philosophie) sowie einem Seminar zu Michel Foucault, betitelt Repensar Foucault. Diálogos, dissidências e experimentações na filosofia (Rethinking Foucault. Dialoge, Dissidenzen und Experimente in der Philosophie), die ich im Mai, Juni und Oktober 2019 an der Universität Lissabon angeboten habe. Ermöglicht wurden die ›Lisbon Lectures‹ vom Center of Philosophy University of Lisbon (CFUL), dort im Besonderen von der Forschungsgruppe HPhil, und vom Center for Comparative Studies (CEC) in Zusammenarbeit mit dem Forschungsprojekt Experimentation & Dissidence der Universität Lissabon. Ich möchte mich besonders bei der Vizedirektorin des CFUL und Leiterin der Forschungsgruppe HPhil Frau Prof. Dr. Filipa Afonso, bei der ehemaligen Direktorin des CEC Frau Prof. Dr. Fernanda Mota Alves und dem Leiter des Forschungsprojekts Experimentation & Dissidence Herrn Prof. Dr. José Miranda Justo für die Möglichkeit zur Realisierung meiner Vorträge und Seminare in Lissabon, die Anregung zu diesem Buchprojekt und die gute Zusammenarbeit bedanken. Dieses Buch stellt den Versuch dar, im Sinne eines inter- und transkulturellen Dialogs »anders zu denken«,1 in – mit Serequeberhans Worten – »a logic of recognition, respect, and dialogue – a logic grounded in the finitude, or humanness, of our shared existence.«

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Vgl. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 5 1997, S. 15f.

1. Einführung

1.1

Allgemeine Vorüberlegungen

Afrikanische Gegenwartsphilosophie, insbesondere in ihrer Form als wissenschaftlich-universitäre Philosophie, reflektiert sich selbst und andere Elemente afrikanischer und afrodiasporischer Kultur. Philosophieren in Afrika und in der afrikanischen Diaspora versucht sich aktuell in die philosophischen Diskurse im globalen Kontext einzuschreiben und gleichermaßen kann auch außerhalb Afrikas ein zunehmendes Interesse an afrikanischer und afro-diasporischer Philosophie konstatiert werden. Dennoch kann immer noch von einer Marginalisierung dieser Philosophien gesprochen werden. Hier Abhilfe zu schaffen ist ein wesentliches Ziel dieser Untersuchung. Im Mittelpunkt des afrikanischen bzw. afrodiasporischen philosophischen Schaffens in seinen unterschiedlichen Ausformungen wie Sage-Philosophie, Ethnophilosophie, nationalistische Ideologie und akademische Philosophie steht die Verarbeitung der Erfahrungen der afrikanischen und afrodiasporischen Lebenswelten, die immer schon von Begegnungen mit anderen Kulturen geprägt sind. Der Dialog mit anglo-europäischer Philosophie ist für die afrikanische und afrodiasporische Philosophie seit ihrer Entstehung als akademische Disziplin von zentraler Bedeutung, wobei auf sehr unterschiedliche philosophische Konzepte Bezug genommen wird. So wird z.B. in der sozialistisch-nationalistischen Ausrichtung insbesondere auf Marx rekurriert. Auch Hegels Herr-Knecht-Dialektik und die damit verbundenen Fragen nach Macht und Anerkennung wie auch Hegels Geschichtsverständnis und seine rassischen Unterscheidungen stehen immer wieder im Fokus der kritischen Auseinandersetzung. Anglo-europäische Philosophie wird in der akademischen afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie in ihrer

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Interkulturelles Philosophieren

ganzen Breite von der antiken Philosophie bis zur Gegenwartsphilosophie1 rezipiert. Dabei lässt sich im interkulturellen Dialog neben einer ablehnenden und kritisch-entlarvenden Herangehensweise auch ein konstruktiver Umgang beobachten. Inzwischen lässt sich auch im Westen ein kritischproduktiver Rekurs auf afrikanische und afrodiasporische Philosophie feststellen. Allerdings kann bei weitem noch nicht von einem Verhältnis der Reziprozität gesprochen werden. Interkulturelles Philosophieren soll zu einer Ausweitung des Dialogs bzw. Polylogs auf Augenhöhe beitragen. In dieser Untersuchung steht die afrikanische Kant- und Foucaultrezeption im Mittelpunkt und es wird versucht, die unterschiedlichen Funktionen dieser Relektüre in den Theorien der afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophen herauszuarbeiten. Kant und Foucault gehören zu den wichtigsten kritisch rezipierten anglo-europäischen Philosophen in Afrika und in der afrikanischen Diaspora. Kants Philosophie steht als Prototyp der philosophischen Aufklärung wegen des in ihr enthaltenen Essentialismus und Universalismus, der mit einer Hierarchisierung der Rassen Hand in Hand geht, und des in ihr formulierten Anspuchs auf kulturelle und politische Dominanz der Europäer in besonderem Maße in der Kritik. Auch Foucault wird von Seiten

1

In der afrikanischen bzw. afodiasporischen Philosophie findet sich u.a. eine Auseinandersetzung mit antiker Philosophie (z.B. Platon und Aristoteles bei Outlaw), deutschem Idealismus (z.B. Hegel und Kant bei Serequeberhan), Utilitarismus (z.B. Mill bei Appiah), Poststrukturalismus (z.B. Levinas und Foucault bei Mbembe) und der Postmoderne (Layotard, Derrida, Vatimo etc. bei Outlaw). Bei Bernasconi heißt es z.B. hinsichtlich des Bezugs der philosophischen Überlegungen von Lucius Outlaw zum Dekonstruktivismus Derridas: »Outlaw argues that African philosophy challenges the very idea of Philosophy in a way that can be called deconstructive because it can be associated with the complex set of practices within the enterprise of Western philosophy that goes under the name.« In: Bernasconi, Robert: »African Philosophy’s Challenge to Continental Philosophy«. In: Eze, Emmanuel Chukwudi (Hg.): Postcolonial African Philosophy: A critical Reader. Cambridge, M.A. (Blackwell Publishers), 1997, S. 187. Outlaw selbst verdeutlicht seine Intention in folgender Äußerung: »However, ›decontruction‹ is but another strategy by which to read ›texts‹ of various kinds, though one guided by decidedly different agenda, logos, and form of selfconciousness, and with different consequences. It is a strategy that, when called ›deconstruction,‹ is principally identified with the work of Jacques Derrida, among others (including Nietzsche and Heidegger). […] Rather, it is my contention that contemporary discussions about ›P/philosophy‹ in Africa have been ›deconstructive‹ […].« In: Outlaw, Lucius T. (JR.): On Race and Philosophy. New York, London (Routledge), 1996, S. 53.

1. Einführung

der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie Eurozentrismus vorgeworfen. Trotz dieser grundlegenden Kritik werden in essenzieller und konstruktiver Weise Theoreme und/oder Verfahren aus beiden Theorien in afrikanische und afrodiasporische Konzepte integriert. So geht es bei Kant primär um seinen ethischen und erkenntnistheoretischen Universalismus und Kosmopolitismus und seine Theoreme Person und Menschheit. Bei Foucault stehen die Theoreme Diskurs, Macht und Subjekt im Mittelpunkt des interkulturellen Dialogs. Relevant für die Auswahl der beiden Philosophen ist darüber hinaus, dass Foucault in seinem philosophischen Denken in essenzieller Weise auf Kant rekurriert. So entwickelt er ausgehend von Kants Theoremen apriorisches Wissen, Aufklärung und Kritik – auf der Basis eines neuen Philosophieverständnisses, das bei Geschichte, Literatur und Wissenschaften wie Kriminologie und Psychologie Anleihen nimmt – das Konzept des historischen Apriori, eines sich selbst im Rahmen von bestehenden Wissensund Machtbezügen nach dem Vorbild des Kunstwerks formenden freien und kritischen Subjekts und die Vision einer freiheitlichen Gesellschaft. Die experimentellen Wege Foucaults werden in dieser Untersuchung insbesondere im Hinblick auf sein Philosophie- und Geschichtsverständnis, die Bedeutung von Parrhesia, Aufklärung und Kritik und die Auffassung von Literatur und Visueller Kunst beleuchtet. In der zeitgenössischen afrikanischen/afrodiaporischen Philosophie wird auf Foucault neben seiner Diskurs-, Macht- und Subjekttheorie insbesondere auf die Verfahren Archäologie und Genealogie in kritisch-produktiver Weise Bezug genommen. Es stellt sich in dieser Untersuchung die Frage, welche Ausrichtung der Kantrezeption bei Foucault vorliegt und welche Funktion sie im Hinblick auf die Formulierung seiner grundlegenden Theoreme und auf seinen Argumentationsgang erfüllt. Ist diese Auseinandersetzung gleichermaßen für die afrikanische Gegenwartsphilosophie interessant oder werden hier andere Schwerpunkte gesetzt? Mit welcher Intention lesen die afrikanischen Gegenwartsphilosophen die Schriften von Immanuel Kant und/oder Michel Foucault, auf welche Teile ihrer Philosophie beziehen sie sich und in welcher Weise rekurrieren sie auf diese Denker? Welche Funktionen hat die Auseinandersetzung mit den beiden Denkern für die verschiedenen Konzeptionen der afrikanischen Gegenwartsphilosophie? Diesen Forschungsfragen soll auf der Basis des Konzepts der interkulturellen Philosophie nachgegangen werden.

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Interkulturelles Philosophieren

1.2

Zum Konzept der Interkulturellen Philosophie

Der gegenseitige Austausch2 geht in der Interkulturellen Philosophie von der Gleichwertigkeit der Kulturen aus und ist vom Gedanken des produktiven Dialogs und der gegenseitigen Anregung, aber auch der Korrektur bestimmt. Dies wird mit dem Begriff Interkulturalität3 zu fassen versucht, der immer auch als Methodenbegriff zu verstehen ist, da mit ihm eine bestimmte Vorgehensweise verbunden wird.4 Die Interkulturelle Philosophie bemüht sich um eine Klärung des Begriffs Interkulturalität ausgehend vom Charakter des Philosophischen selbst. Kapumba Akena macht das »dialogische Wesen der Philosophie«5 als ihr zentrales Charakteristikum aus, das sowohl die Bedingung für Interkulturalität als auch für Interdisziplinarität darstellt.6 Aus den Interaktionen ergeben sich »fruchtbare Reibungen und konstruktive Übereinstim-

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Die folgende Textpassage findet sich auf Englisch in der Einleitung der Sonderausgabe der Estudos Kantianos, siehe: Rainsborough, Marita: »Introduction«. In: Jesus, Paulo; Rainsborough, Marita; Inácio, Valentim (Hg.): Estudos Kantianos. Kant em Africa e África em Kant (Special Edition). 9(2), Marília Jul./Dez. 2021, S. 10f. Elberfeld weist darauf hin, dass der Begriff Interkulturalität im Jahre 1922 zum ersten Mal in der Biologie verwendet wird und 1927 in die Geisteswissenschaften übernommen wird, zunächst in der Religionswissenschaft. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt Stewart Hall das Konzept der Intercultural Communication, das zur Etablierung eines neuen universitären Faches führt. In der Philosophie lässt sich eine frühe Verwendung des Begriffs schon 1947 belegen. Vgl. Elberfeld, Rolf: »Forschungsperspektive ›Interkulturalität‹: Transformationen der Wissensordnungen in Europa«. In: Konersmann, Ralf; Krois, John Michael; Westerkamp, Dirk (Hg.): Zeitschrift für Kulturphilosophie. 2(1), 2008, S. 16. Der Begriff Transkulturalität wird ab den 1940er Jahren verwendet, insbesondere in Psychologie und Philosophie. Er unterscheidet sich von dem schon vorher – auch in den vierziger Jahren – von Fernando Ortiz verwendeten Begriff der transculturación, verstanden als cultural transformation bzw. Kulturwandel. Vgl. Ortiz, Fernando: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. Madrid (Cátedra), 2002. 1956 spricht Arthur Danto in einer Rezension von ›transcultural values‹ und 1959 bezeichnet er Wissenschaft als transkulturell und betont die Möglichkeit zum Entdecken transkultureller Normen in der wissenschaftlichen Praxis. (Vgl. Elberfeld 2008: 22f.) Vgl. Elberfeld 2008: 35. Kapumba Akenda, Jean-Chrysostome: »Die Kultivierung transversaler und transkultureller Tugenden als Voraussetzung für Interkulturalität«. In: Dhouib, Sarhan; Jürgens, Andreas (Hg.): Wege in der Philosophie: Geschichte – Wissen – Recht – Transkulturalität. Weilerswist (Velbrück Wissenschaft), 2011, S. 388. Ibd.

1. Einführung

mungen«.7 Dabei geht es auch um »die Wahrnehmung der vielen Stimmen, des Neuen und Ungewohnten, des Fremden«, welche »die Grundfigur interkulturellen Philosophierens« bildet.8 Im Bereich der Philosophie möchte die Interkulturelle Philosophie nicht nur als Disziplin unter anderen verstanden werden, sondern als ein grundlegend anderes Konzept, das die Eurozentrik innerhalb der Philosophie überwinden möchte, ausgehend von der Vorstellung, dass die abendländische Philosophie schon immer als Produkt eines interkulturellen Austauschs, einer interkulturellen Auseinandersetzung und als Integration von Auffassungen anderer Kulturen verstanden werden müsse, so z.B. aus Ägypten und Indien – ein blinder Fleck der Philosophiegeschichtsschreibung. Die Behauptung, sie sei in Griechenland entstanden, lasse sich nicht aufrechterhalten: Philosophie hat verschiedene Entstehungsorte auf der Welt. Interkulturelle Philosophie »ist ein offenes Projekt, das auf einer ›Philosophie des Aufsuchens‹ gründet, die uns Menschen ein neues Mitsein ohne jeglichen exklusiven normativen Gehalt verspricht.«9 Philosophisches Denken kann nach Vorstellung der Interkulturellen Philosophie demnach einen sehr unterschiedlichen Charakter aufweisen. Hierbei geht es auch darum, andere Arten des Philosophierens gelten zu lassen. Der Begriff der Philosophie selbst muss in diesem Kontext radikal hinterfragt und neu bestimmt werden. Aus diesen Schwierigkeiten heraus lässt sich auch eine Tendenz zur Vermeidung einer Bestimmung des spezifisch Philosophischen feststellen, so wird z.B. von Fornet-Betancourt im Hinblick auf die Interkulturelle Philosophie lieber von ›interkulturellem Denken‹10 gesprochen. Er geht, wie es auch bei

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Dhouib, Sarhan: »Zur Transkulturalität der Menschenrechte«. In: Dhouib, Sarhan; Jürgens, Andreas (Hg.): Wege in der Philosophie: Geschichte – Wissen – Recht – Transkulturalität. Weilerswist (Velbrück Wissenschaft), 2011, S. 291. Boteva-Richter, Bianca; Gmainer-Pranzl, Franz: »Einleitung: Auf der Suche nach Methoden interkulturellen Philosophierens«. In: Polylog. Zeitschrift für Interkulturelles Philosophieren. 27, 2012, S. 2-4. Dhouib 2011: 278f. Dhouib bezieht sich hier auf Meskini, Fethi: »Entschuldigung, Verzeihen und Rechtfertigung oder Monotheistische Politiken«. In: Poulain, Jacques; Sandkühler, Hans Jörg; Triki, Fathi (Hg.): Gerechtigkeit, Recht und Rechtfertigung in transkultureller Perspektive. Frankfurt a.M. u.a. (Lang), 2010, S. 18f. Vgl. Fornet-Betancourt, Raúl: »Die interkulturelle Philosophie aus einer lateinamerikanischen Sicht«. In: Dhouib, Sarhan; Jürgens, Andreas (Hg.): Wege in der Philosophie: Geschichte – Wissen – Recht – Transkulturalität. Weilerswist (Velbrück Wissenschaft), 2011, S. 348.

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Interkulturelles Philosophieren

anderen Denkern zu beobachten ist, von einem weit gefassten Philosophiebegriff aus, der sich mehr oder weniger auf jede Form des rationalen Denkens zur Welterklärung bezieht. Fornet-Betancourt formuliert darüberhinaus einen weiter gehenden Anspruch und fordert einen »Beitrag der interkulturellen Philosophie zur Verbesserung der Welt«.11 Er spricht von der interkulturellen Philosophie als einer »engagierte[n] Philosophie«12 und einer »historischen Verantwortung der Philosophie«.13 Sie strebt ausgehend von der Idee der Globalität ein »friedliches und respektvolles Zusammenleben der Menschheit«14 an. Damit übersteigt sie deutlich den Rahmen einer komparatistisch ausgerichteten Philosophie.15 Bei Dhouib heißt es: »Das Konzept der Interkulturalität geht über den faktischen Pluralismus der Kulturen hinaus, indem es das Verbindliche zwischen den Menschen erkennt und rekonstruiert, um die Einheit des Menschlichen zu bewahren. Darauf aufbauend versucht Transkulturalität die Universalität der Normen als gemeinsamen Anspruch zu denken und nach einem entsprechenden Handeln zu streben.«16 Ziel ist ein humanes Zusammenleben von

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Fornet-Betancourt 2011: 355. Fornet-Betancourt 2011: 354. Des Weiteren spricht er von den »Paradigmen Befreiung und Interkulturalität« (Fornet-Betancourt 2011: 355) und der Notwendigkeit dem hegemonialen Zivilisationsmodell etwas entgegenzusetzen. (Vgl. ibd.) Ibd. Estermann, Josef: »Diatopische Hermeneutik am Beispiel der Andinen Philosophie«. In: Polylog. Zeitschrift für Interkulturelles Philosophieren. 27, 2012, S. 25. Insbesondere die dialogische Form des Philosophierens, die Offenheit des Philosophiebegriffs und die Vorstellung von der Gleichberechtigung unterschiedlicher Formen des Philosophierens unterscheidet die Interkulturelle Philosophie von der komparatisch ausgerichteten. Dhouib 2011: 292. In diesem Zusammenhang zitiert er auch Fathi Triki: »[D]ie Transkulturalität [nimmt] wieder den kritischen Aspekt aller Kulturen auf, um zugleich auf einer transversalen und transzendenten Weise zu bestimmen, was universell sein könnte und somit ein kritisches Korpus und ständig erneuerbare gemeinsame Werte zu bilden, die für die Menschheit gelten sollen«. In: Triki, Fathi: »Pluralisme culturel et transculturalité«. In: Kühnhardt, Ludger; Takayama, Mamoru (Hg.): Menschenrechte, Kulturen und Gewalt. Ansätze einer interkulturellen Ethik. 2011a, S. 336. Nach Traki verbindet die Kulturen eine transversal hindurchlaufende Bewegung, die ontologische und historische Verbindungen beinhaltet. Davon ausgehend fordert er eine Umschreibung von Geschichte, die eine ›trankulturelle Theorie der Moderne‹ beinhaltet, die die arabische Philosophie des 12. und des 19. Jahrhunderts einbeziehe. Vgl. Triki, Fathi: »Die Transkulturalität der Philosophie: Die Philosophie des Mittelmeerraums«. In: Dhouib, Sar-

1. Einführung

Menschen aus den verschiedenen, sich in einem ständigen Transformationsprozess befindenden Kulturen. Im Unterschied zum Begriff der Interkulturalität vermeidet der Begriff der Transkulturalität wie der des third space von Homi Bhabha17 in positiver Weise jeden Anklang an einen essentialistischen Kulturbegriff, der allerdings nicht per se mit dem Terminus Interkulturalität verbunden werden muss. Er soll in dieser Untersuchung eher im Sinne einer spezifischen Perspektivierung gebraucht werden, in der Kulturen in ihrer differenten Spezifität, als Prozesshaftigkeit verstanden, imaginiert werden, wobei selbstverständlich in den untersuchten Konzeptionen und Werken der afrikanischen und afro-diasporischen Philosophie selbst ein anderer Kulturbegriff zugrundeliegen kann. Choe konstatiert hinsichtlich des Konzepts der Transkulturalität eine Gefahr: »Die Transkulturalität führt dazu, dass die Kultur individualisiert und atomisiert wird« und Machtverhältnisse und verschiedene Arten von Grenzen aus dem Blick geraten.18 Interkulturalität dagegen mache die Beziehungen zwischen den Kulturen stark und Grenzen zwischen den Kulturen werden als Machtgrenzen sichtbar, die nach Kontext jeweils unterschiedlich gezogen werden.19 Dennoch plädiert sie im Weiteren für die Beibehaltung der Verwendung des Begriffs der Transkulturalität in modifizierter Form, da er insbesondere die wichtigen Aspekte der internen Dynamik und Diversität einer Kultur betone.20 Dieser Argumentation möchte ich mich anschließen. Das Konzept der Transkulturalität geht von

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han; Jürgens, Andreas (Hg.): Wege in der Philosophie: Geschichte – Wissen – Recht – Transkulturalität. Weilerswist (Velbrück Wissenschaft), 2011b, S. 358-369. Der third space wird als Aushandlungsort des Differenten und machtbesetzter Raum angesehen. Kultur wird als permanente Übersetzung, translation, verstanden, wobei sich die Frage nach dem Original für Bhabha nicht mehr stellt. Er verzichtet im Unterschied zum Konzept der Transkulturalität auf die Suche nach Übereinstimmungen, z.B. im normativen Bereich und betont die Diversität. Gemeinsam ist den Begriffen die Vorstellung eines fließenden Austauschs und einer kulturellen Offenheit. Vgl. Bhabha, Homi: »The Third Space: Interview with Homi Bhabha«. In: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity, Community, Culture, Difference. London (Lawrence & Wishart), S. 207-221. Choe, Hyondok: »Kulturelle Vielfalt versus Gendergerechtigkeit: Über einen (Schein)konflikt aus einer Diaspora-Perspektive«. In: Dhouib, Sarhan; Jürgens, Andreas (Hg.): Wege in der Philosophie: Geschichte – Wissen – Recht – Transkulturalität. Weilerswist (Velbrück Wissenschaft), 2011, S. 424. Vgl. Choe 2011: 425. Sie bezieht sich hier auf ihren Aufsatz Choe, Hyondok: »Migration, Gender, Transkulturalität – Philosophieren zwischen den Kulturen«. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Philosophie wozu? Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2008, S. 367f. Vgl. Choe 2011: 423.

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Interkulturelles Philosophieren

der grundsätzlichen Hybridität aller Kulturen aus, die aber ohne eine – zumeist idealtypische – Konstruktion einer von anderen Kulturen unterscheidbaren Kultur, die als Ausgangs-, Referenz- und/oder Rückbindungskultur gedacht wird und permanten Resignifikations- und Reinterpretationsprozessen unterliegt, nicht denkbar ist. Interkulturalität und Transkulturalität gehören demnach eng zusammen; transkulturelle und interkulturelle Prozesse greifen ineinander und beinhalten jeweils verschiedene Perspektivierungen und Schwerpunktsetzungen.21 In beiden Konzepten wird der Versuch deutlich, über den Austausch, das Nebeneinander und die gegenseitige Kritik der Kulturen hinauszugehen und auf der Suche nach Gemeinsamem einen verbindlichen Kern festzuhalten, der u.a. in einem neuen Humanismus, einer Neukonzeption von Moralität,22 einem neu konzipierten ethischen Universalismus23 z.B. in Form der Menschenrechte, der Frage der politischen Ausrichtung und Struktur, wie in der Demokratiedebatte sichtbar wird, und einer gemeinsamen Zielsetzung, z.B. als modifizierter Kosmopolitismus – zumeist in Kombination verschiedener Aspekte gedacht – bestehen kann. Diese Diskussion über die Auffassung von Philosophie im Hinblick auf Inter- und Transkulturalität findet sich auf der Ebene der Frage nach der afrikanischen Philosophie und deren Spezifität in vergleichbarer Weise wieder. Hier geht es um die Präferenz der wissenschaftlich ausgerichteten Universitätsphilosophie im Vergleich zur Sage-Philosophie und Ethnophilosophie und der damit verbundenen Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung der Philosophie selbst, um die Integration dieser Formen des Philosophierens, den Austausch mit anderen Kulturen und deren philosophischem Denken und um die Beschäftigung mit der Funktion der afrikanischen Philosophie für ein besseres Zusammenleben auf der Welt. Diese Art des Philosophierens beschreitet neue Wege des Denkens, die in der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie im Polylog mit anderen Kulturen sichtbar werden. Sie soll nach Bohlken in den Rang einer prima philosophia rücken.24

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Vgl. Dhouib 2011: 293. Fathi Triki spricht von einer »Ethik des Zusammenlebens«. (Triki 2011: 368) Triki vertritt ähnlich wie andere Philosophen einen kritischen Humanismus und einen geteilten Universalismus. (Vgl. Triki 2011: 367) Vgl. Bohlken, Eike: »Interkulturelle Philosophie nach transzendentaler Methode«. In: Polylog. Zeitschrift für Interkulturelles Philosophieren. 27, 2012, S. 11.

1. Einführung

1.3

Zeitgenössische afrikanische Philosophie – Kulturräume in Bewegung

Die zeitgenössische afrikanische Philosophie entwickelt Konzeptionen der Zukunftsgestaltung, die Momente der personalen wie kollektiven Identität und die Auseinandersetzung mit politischen Gestaltungskonzepten wie z.B. die Gesellschaftsform der Demokratie, des metanationalen Staates und des Kosmopolitismus und deren ethische Implikationen betreffen. Den politischen Konzepten liegt zumeist ein afrikanischer Humanismus zugrunde. Die kulturelle Verankerung im Afrikanischen ist dabei auffällig: Die Auseinandersetzung mit traditionellen afrikanischen Kulturen, afrikanischen Kulturen im Umbruch und der Dialog der Kulturen – insbesondere der afrikanischen mit der westlichen – bilden Kernpunkte der Überlegungen. Auffällig an den aktuellen Visionen einer afrikanischen Zukunft ist eine Sicht auf den Weltzusammenhang und die deutlich werdende Überzeugung, dass sich anstehende Probleme – unter Berücksichtigung der lokalen Besonderheiten – nur im globalen Kontext lösen lassen. Dabei hat die afrikanische Philosophie nach Kimmerle längst »den Anschluß an den internationalen philosophischen Diskurs gefunden«.25 Er spricht von einer im Entstehen begriffenen Weltphilosophie, zu der die afrikanische Philosophie wie auch die afrikanische DiasporaPhilosophie einen wichtigen Beitrag liefert bzw. liefern könnte. Weltphilosophie26 wird bei Kimmerle im Sinne einer Interkulturellen Philosophie, einer dialogischen Philosophie, verstanden.27 Dabei stellt der 1978 in Düsseldorf stattfindende Weltkongreß für Philosophie unter der Leitung von Alwin Diener einen Wendepunkt dar, da er das Datum einer institutionellen Ein-

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Kimmerle, Heinz: Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie. Nordhausen (Traugott Bautz), 2005, S. 7. »Weltphilosophie kann und soll kein einheitliches Ganzes sein, in dem die unterschiedlichen Traditionen und Denkformen aufgehoben sind, sondern ein dynamisches Geschehen, in dem sich jeweils sowohl Gleiches und Übereinstimmendes als auch Differentes und Verschiedenes herauskristallisieren.« (Kimmerle 2005: 14) »Die inhaltlichen Beziehungen zwischen afrikanischen und anderen in der Welt bestehenden Philosophien werden im Arbeitszusammenhang der interkulturellen Philosophie artikuliert.« (Kimmerle 2005: 12) Dabei sei es entscheidend, dass der Referenzpunkt anderer Philosophien nicht ausschließlich die westliche Philosophie bliebe, sondern »Beziehungen nicht-westlicher Philosophien untereinander« hinzutreten würden. (Kimmerle 2005: 12f.)

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Interkulturelles Philosophieren

beziehung der afrikanischen Philosophie markiert.28 Von da an bleibt die afrikanische Philosophie selbstverständlicher Bestandteil des Konzepts der Weltkongresse. Eberfeld spricht in diesem Kontext von einer »Globalisierung der Philosophie«, »wodurch heute mehr und mehr ein postkoloniales Philosophieren möglich wird, das auch eine neue Sicht auf die Geschichte des Denkens freigibt«,29 womit er sich Ezes Konzeption von afrikanischer Philo28

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Vgl. Kimmerle 2005: 11. Auf dem Kongress sprach der afrikanische Philosoph Tshiamalenga Ntumba aus Zaire zum Thema Die Philosophie in der aktuellen Situation Afrikas. Er wurde 1973 Mitglied des Exekutivkomitees der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie, das immer internationaler besetzt wurde. (Vgl. Elberfeld 2009: 161f.) Zur afrikanischen Philosophie wurden in Wiesbaden und Düsseldorf das Symposium on Philosophy in the Present Situation of Africa (1978) und das International Philosophical Symposium on Culture and Identity of Africa (1982) veranstaltet. Sie können als weitere Anzeichen für die zunehmende Bedeutung afrikanischer Philosophie im globalen Kontext gelten. Ähnlich bedeutsam ist die Zusammenarbeit afrikanischer und niederländischer Philosophen auf einem Symposium in Rotterdam zum Thema Ich, Wir und Körper. In Folge entstand ein gemeinsames Forschungsprojekt zur Interkulturellen Philosophie. 1991 fand in Nairobi ein Kongress zum Thema Philosophy, Man, and Environment statt. In der englischsprachigen Fachliteratur wurden afrikanische Philosophen mit ihren Fragen und Themen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in den philosophischen Diskurs einbezogen. In Frankreich bildete die Zeitschrift Presésence Africaine allerdings schon seit 1947 ein Forum für afrikanische Literatur und später auch für afrikanische Philosophie. (Vgl. Kimmerle 2005: 11) Sie gilt als Sprachrohr für Vertreter der NégritudeBewegung und des Panafrikanismus. Elberfeld, Rolf: »Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert: Die Weltkongresse für Philosophie 1900-2008«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. 1(34), 2009, S. 149. Und weiter: »Im Anschluss an diese Entwicklung geht es heute in einer interkulturell und global orientierten Philosophie nicht nur mehr vorrangig darum in Europa auch ›traditionelle‹ Denkweisen zu rezipieren, sondern um das Gespräch mit zeitgenössischen philosophischen Ansätzen, die auch aus anderen als den europäischen und nordamerikanischen Quellen entstanden und hergeleitet sind.« (Elberfeld 2009: 153) Bezeichnenderweise wurde der ›Internationale Kongress für Philosophie‹ 1973 in ›Weltkongress für Philosophie‹ umbenannt. Ortland spricht in Bezug auf die Weltöffnung der Philosophie von einer Horizontverschiebung. Vgl. Ortland, Eberhard: »Horizontverschiebungen des Denkens. Der 22. Weltkongress der Philosophie in Seoul 2008«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. 1(33/3). 2009, S. 287-296. Hier geht es allgemein um die Öffnung in Richtung asiatische, lateinamerikanische etc. Philosophie. Die Weltkongresse sind, wie schon durch die Umbenennung deutlich wird, inzwischen nicht nur international ausgelegt, sondern global. Dies spiegelt sich nicht nur in den Orten für ihre Veranstaltung wie z.B. Istanbul (Philosophy Facing World Problems, 2003) und Seoul (Rethinking Philosophy today, 2008) – 1963 fand der erste Kongress, der 13. Internationale Kongress, außerhalb Europas und Nordamerikas in Mexiko City statt –,

1. Einführung

sophie als postkoloniale Philosophie annähert, diese aber im Unterschied zu Eze allgemeiner, nicht spezifisch auf Afrika bezogen begreift. Globales Philosophieren ist inhaltlich wie methodisch mit interkulturellem und/oder transkulturellem Denken verbunden. Schon auf dem Symposium International Philosophical Symposium on Culture and Identity of Africa (Düsseldorf 1982)30 wird von Alwin Diemer das Thema Interkulturalität und Transkulturalität in seinem Vortrag Kulturidentität, interkulturelles Verstehen, Philosophie als transkultureller Dialog thematisiert,31 wobei ›transkulturell‹ von ihm im Sinne von ›universal‹ als über die Grenzen unterschiedlicher Kulturen hinweggehend verstanden wird.32 Verbunden ist die Zunahme der internationalen Bedeutung

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sondern auch in der Auswahl der Sektionen (z.B. Philosophy in Africa: Contemporary Issues, 2003), Themenstellungen und Vortragenden wieder. Schon 1988 gab es in Brighton ungefähr ein Dutzend Sektionen zur afrikanischen Philosophie. Zunächst wurden – betrachtet man die Geschichte des Kongresses – indische, japanische und chinesische Philosophien berücksichtigt. (Vgl. Elberfeld 2009: 154ff.) Seit 1978 ist nun, wie oben deutlich wurde, auch die afrikanische Philosophie nicht mehr wegzudenken. Das Ende des zweiten Weltkriegs markiert zwar eine deutliche Wende hin zu einer ›Global Orientation‹, doch dauerte es noch bis 1968, bis sich auch eine internationale Besetzung der Plenarvorträge beobachten lässt. (Vgl. Elberfeld 2009: 159, 161) Der erste Vortrag zur afrikanischen Philosophie mit dem Titel A Thought Pattern of Ethiopian Philosophy wurde 1973 in Varna auf dem 15. Weltkongress für Philosophie vom Kanadier Claude Sumner gehalten. (Vgl. Elberfeld 2009: 161) Auf dem philosophischen Weltkongress von 2008 in Seoul waren erstmals auch asiatische Sprachen, Chinesisch und Koreanisch, neben den Sprachen Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und Russisch zugelassen. Auch hier bildet sich eine Öffnung und Dezentralisierung ab. (Vgl. Elberfeld 2009: 164) Bereits 1978 fand in Wiesbaden unter Leitung von Alwin Diemer das Symposium on Philosophy in the Present Situation of Africa statt. Diemer, Alwin: »Kulturidentität, interkulturelles Verstehen, Philosophie als transkultureller Dialog«. In: Diemer, Alwin (Hg.): Africa and the problem of its identity: L’Afrique et le problème de son identité: Afrika und das Problem seiner Identität. Frankfurt a.M., Bern, New York (Lang), 1985, S. 51-63. Vgl. Elberfeld 2009: 162. In diesem Sinne sagt der Präsident Alwin Diemer des damaligen Kongresses in seinem Vortrag vor über dreißig Jahren: »›Zunächst kann und muß gesagt werden, daß zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Gleichwertigkeit aller Kulturen der Welt […] anerkannt wird. […] Dieses Faktum erfordert den inter- wie transkulturellen geistigen Dialog, in dem der ideo-kulturelle Horizont überschritten werden muß. […] Es ist dies nur möglich in einem philosophischen Bemühen, das transkulturell, […] transnational und transideologisch ist; es wäre ein philosophisches Bemühen, das vielleicht als eine Art Dritte Aufklärung zu verstehen ist.‹« (Ibd.) Elberfeld sieht in diesem Kontext den Bedarf »eines erheblichen hermeneutischen Aufwandes.« (Elberfeld 2009: 165)

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Interkulturelles Philosophieren

von afrikanischer Philosophie ihrerseits mit einem Erstarken der afrikanischen Philosophie in Afrika selbst und in der afrikanischen Diaspora.33 Bei Mbembe findet sich ausgehend vom Aspekt des Nomadentums der Menschen und vom Gedanken der Immersion und Dispersion in Afrika die These der Kulturräume in Bewegung und die Auffassung von Kultur als Prozess der Hybridisierung oder Kreolisierung. Als Vermischung disparater Gebilde lässt sich afrikanische Kultur nicht als autochton, authentisch und autark verstehen, sondern immer schon als interkulturelles bzw. transkulturelles Projekt. Dieser Auffassung von Kultur entspricht sowohl die Betrachtung individueller wie kollektiver Identität im afrikanischen Kontext als auch von Fragen des ethischen Miteinanders und der politischen Organisation im Mikro- und Makrobereich. Partikulares und Universales finden gleichermaßen Berücksichtigung in der Konzeption vom Menschen, vom menschlichen Miteinander und Gesellschaftlichen in allen relevanten Dimensionen wie Recht, Ökonomie und Politik. Die Philosophen Kwame Anthony Appiah und Achille Mbembe setzen in ihren Theorien beim Aspekt des Menschseins im Allgemeinen an, um ihre ethischen wie politischen Konzeptionen eines Partiellen Kosmopolitismus bzw. Afropolitanismus argumentativ zu stützen, wobei Appiahs Philosophie bei der Frage nach der Identität ihren Ausgangspunkt wählt, während bei Mbembe die Konzepte des weltweiten Nomadentums und der Versöhnung im Mittelpunkt stehen. Kwasi Wiredu kritisiert mit seinem Modell der Konsensdemokratie – von afrikanischen Erfahrungen und Denkweisen ausgehend – das westliche

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In einigen afrikanischen Ländern gibt es schon vor der Unabhängigkeit universitäre Einrichtungen, die von den Mutteruniversitäten in London oder Paris abhängen. Nach der formalen Unabhängigkeit kommt es zunächst vielerorts zur Etablierung des Fachbereichs ›Religion und Philosophie‹, doch schon bald bildet Philosophie einen eigenständigen Fachbereich innerhalb der Fakultät für Geisteswissenschaften. Die Ausrichtung des Curriculums ist in den französisch- und englischsprachigen Ländern unterschiedlich, im Fokus steht zum einen die französisch-kontinentale und zum anderen die angelsächsische analytische Philosophie. Die europäisch-westliche Philosophie steht zunächst im Mittelpunkt der Beschäftigung; Schwerpunkt sind Fragen der praktischen Philosophie. Inzwischen ist afrikanische Philosophie vielfältig ausgerichtet, entsprechend den oben genannten Richtungen. Seit 1978 werden in Afrika zahlreiche internationale Kongresse organisiert, z.B. Philosophy and Culture (1980) in Nairobi. Vgl. Kimmerle, Heinz: Spiegelungen westlichen und afrikanischen Denkens. Nordhausen (Traugott Bautz), 2008, 92ff.

1. Einführung

Demokratiekonzept und entwickelt einen kulturellen Universalismus. Kwame Gyekye ist mit seinem Konzept des moderaten Kommunitarismus in dieser Untersuchung insbesondere im Hinblick auf sein Konzept der Person, den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft, die Auffassung von einem metanationalen Staat und die Frage nach der Legitimität von Macht von Bedeutung. Henry Odera Oruka entwickelt eine naturphilosophische Konzeption und beschäftigt sich mit Fragen der Gerechtigkeit im globalen Kontext. Andere afrikanische bzw. afrodiasporische Philosophen wie z.B. Tsenay Serequeberhan leisten primär eine Analyse der westlichen Philosophie im Hinblick auf Fragen wie Eurozentrismus, universales Menschenbild, Rasse etc. und streben – mittels einer hermeneutisch-dekonstruktivistischen Kritik – eine Dekolonialisierung des Denkens an. Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden inter- bzw. transkulturelle Momente der philosophischen Theorien im cross cultural Dialog zwischen Afrika und dem Westen.

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Interkulturelles Philosophieren

1.4

Was ist afrikanische Philosophie?

Afrikanische Philosophie zu bestimmen, erweist sich als schwierig; Ausgangspunkt sind zumeist geographische, ethnische und/oder rassische Momente. Paulin J. Hountondji z.B. betont die geografische Herkunft, indem er afrikanische Philosophie als die Produktion von philosophischen Texten von afrikanischen Autoren definiert und orale Philosophie ausschließt, in der ein reflexiver Selbstbezug nicht möglich sei: »By ›African philosophy‹ I mean a set of texts, specifically the set of texts written by Africans and described as philosophical by their authors themselves.«34 Auch finden sich z.B. Unterscheidungen von traditioneller und moderner afrikanischer Philosophie wie auch von der ethnischen Philosophie Afrikas und der Philosophie der afrikanischen Diaspora, insbesondere afrokaribische und afroamerikanische Philosophie. Odera Oruka unterscheidet zwischen Ethnophilosophie,35 SagePhilosophie,36 nationalistischen Ideologien37 und der akademischen Philoso34

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Hountondji, Paulin J.: African Philosophy: Myth & Reality. Bloomington, Indianopolis (Indiana University Press), 2 1996, S. 33. Ein reflexiver Selbstbezug sei nur in einem schriftlichen Diskurs möglich. Hountondji wird der Vorwurf gemacht, in eurozentrische Denkmuster zu verfallen. Vgl. Dübgen, Franziska; Skupien, Stefan: »Das Politische in der Afrikanischen Philosophie«. In: Dübgen, Franziska; Skupien, Stefan (Hg.): Afrikanische politische Philosophie: Postkoloniale Positionen. Berlin (Suhrkamp), 2015, S. 17. Im Unterschied dazu besteht Kimmerle auf die Einbeziehung der oralen afrikanischen Philosophie. Später ändert Houndondji seine Position zur Mündlichkeit und schlägt auch hinsichtlich der Ethnophilosophie einen versöhnlicheren Ton an, indem er ihre Aufgabe anerkennt und sie der Soziologie innerhalb der ethnosciences zuordnet. Siehe dazu: Hountondji, Paulin J.: The Struggle for Meaning: Reflection on Philosophy, Culture, and Democracy in Africa. Athens, Ohio (Ohio University Press), 2002. Als Pionierwerk der Ethnophilosophie gilt das Werk eines belgischen Missionars über die Bantu-Philosophie. Siehe: Temples, Placide: Bantu Philosophy. Orlando (HBC Publishing), o.J. Die Weisheitsphilosophie erschließt mündlich vermittelte Ideen und Konzepte von Weisen. Dabei unterscheidet Odera Oruka zwischen folk-sages und philosophical sages. Letztere stechen durch originäres reflexives und selbstkritisches Denken hervor und belegen die Existenz einer originär afrikanischen Philosophie als orale Philosophie. Dieser Typus der afrikanischen Philosophie kann nun seinerseits z.B. als Inspirationsquelle, Ausgangspunkt des Denkens und Bezugspunkt in der Argumentation innerhalb der akademischen Philosophie gelten. Auch für die afrikanische Philosophiegeschichtsschreibung ist die Weisheitsphilosophie von Bedeutung. Diese Richtung der afrikanischen Philosophie wird von Kimmerle ›Politische Philosophie der afrikanischen Leiter‹ genannt. Sie ist eng mit dem Kampf um die Unabhän-

1. Einführung

phie Afrikas, zu der er auch die afrodiasporische Philosophie zählt.38 Später werden diese von ihm noch durch die hermeneutische Philosophie39 und durch künstlerisch-literarische Zugänge zur Philosophie40 ergänzt,41 Richtungen, die die in dieser Analyse zugrundeliegende Auffassung von einem Dialog zwischen Philosophie, Literatur und Kunst teilen. Der umbrella-term ›Africana‹ Philosophie von Lucius Outlaw bietet keine Lösung des Problems der Bestimmung der afrikanischen Philosophie, da er von geografischen und rassischen Bestimmungen, insbesondere von einem physische Besonderheiten ausmachenden Genpool, der mit einer geografischen Herkunft zusammenhängt, und einer spezifisch kulturell-historischen Erfahrung ausgeht.42 In kritischer Auseinandersetzung mit Outlaws

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gigkeit und dem Aufbau der formal unabhängigen afrikanischen Nationen verbunden. (Vgl. Kimmerle 2005: 15-23) Dieser Typus der Philosophie entwickelt sich an den Universitäten Afrikas und durch afrikanischstämmige Philosophen an ausländischen Universitäten, insbesondere in den USA, wo z.B. im Bereich Black Studies bzw. später den Afroamerican Studies Lehrstühle für afrikanische Philosophie geschaffen wurden. Hiermit meint Odera Oruka insbesondere die sprachlichen Analysen von Kwasi Wiredu, in denen Sprichwörter den Ausgangspunkt philosophischer Überlegungen bilden. Anders ausgerichtet ist die sogenannte ›kritische Hermeneutik‹ von Tsenay Serequeberhan, in der der spezifisch afrikanische Erfahrungshorizont philosophisch ausgelegt wird. (Vgl. Dübgen/Skupien 2015: 20) Beispielhaft hierfür werden von Dübgen/Skupien Chinua Achebe, Ngügi wa Thiong’o und Wole Soyinka genannt. (Vgl. Dübgen/Skupien 2015: 21) Siehe zu diesem Thema u.a.: Okolo, Mary Stella Chika: African Literature as Political Philosophy. London (Zed Books), 2007 und Mutiso, Gideon-Cyrus Makau: Socio-Political Thought in African Literature. London (Macmillan), 1974. Nach den Autoren Dübgen/Skupien stützen sich auch afrikanische feministische Theorien auf künstlerisch-literarische Zugänge, insbesondere auf Literatur und Musik. (Vgl. Dübgen/Skupien 2015: 21) Sie verweisen hierzu im Weiteren auf Arndt, Susan: Feminismus im Widerstreit. Afrikanischer Feminismus in Gesellschaft und Literatur. Münster (Unrast), 2000 und auf Ogunyemi, Chikwenye: »Womanism. The Dynamics of the Contemporary Black Female Novel in English«. In: Phillips, Layli (Hg.): The Womanist Reader. New York, London (Routledge), 2006, S. 21-36. Vgl. Dübgen/Skupien 2015: 13. Siehe außerdem: Odera Oruka, Henry: »Grundlegende Fragen der afrikanischen ›Sage-Philosophy‹«. In: Wimmer, Franz M. (Hg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien (Passagen Verlag), 1988, S. 35f. Vgl. Eze, Emmanuel Chukwudi: »Introduction: Philosophy and the (Post)colonial«. In: Eze, Emmanuel Chukwudi (Hg.): Postcolonial African Philosophy: A Critical Reader. Cambridge, MA/Oxford (Blackwell Publishers), 1997, S. 2f.

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Interkulturelles Philosophieren

Vorschlag, die Vielfalt afrikanischer philosophischer Erscheinungen begrifflich zusammenfassen zu wollen, schlägt Eze alternativ den Begriff Postcolonial African Philosophy vor. »The idea of ›African philosophy‹ as a field of inquiry thus has its contemporary roots in the effort of African thinkers to combat political and economic exploitations, and to examine, question, and contest identities imposed upon them by Europeans. The claims and counter-claims, justifications, and alienations that characterize such historical and conceptual protests and contestations indelibly mark the discipline of African philosophy.«43 Heute ist Philosophie u.a. auch mit den Fragen der postkolonialen Theorie wie z.B. der nach der epistemischen Gewalt44 befasst, die sich im Rahmen verschiedener Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt haben und sich mit der Thematik des (Post)kolonialismus und Dekolonialismus auseinandersetzen.45 Die postkoloniale Theorie weist teilweise selbst einen philosophischen Charakter auf, so dass bereits von einer postkolonialen Philosophie gesprochen werden kann. Beispiele hierfür sind Herta Nagl-Docekal und Franz Wimmer mit Ihrem Werk Postkoloniales Philosophieren: Afrika, wonach Afrika ein präferierter Gegenstand der postkolonialen Philosophie ist, und Petra Purtschert mit Ihrem Aufsatz »Postkoloniale Philosophie. Die westliche Denkgeschichte gegen den Strich gelesen.«46 Emmanuel Chukwudi Eze be43 44

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Eze 1997: 11f. Der Begriff wird zwar von Foucault nicht selbst gebraucht, hängt aber eng mit seiner Wissensanalyse zusammen, nach der Episteme Wissen einer Zeit strukturieren. Der Begriff epistemic violence findet sich insbesondere in der postkolonialen Theorie, z.B. bei Gayatri Chakravorty Spivak und Walter D. Mignolo, der die epistemic desobedience betont. So konstatiert Dhouib, ein Vertreter der Interkulturellen Philosophie, ähnlich wie dies auch von einem postkolonialen Denker geäußert werden könnte: »Einerseits werden die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Ideale für die ganze Menschheit hervorgehoben; andererseits werden zugleich nicht-europäische Kulturen und Völker in Lateinamerika, in Afrika und Asien systematisch missachtet.« (Dhouib 2011: 291) Nagl-Docekal, Herta; Wimmer, Franz (Hg.): Postkoloniales Philosophieren: Afrika. München (Oldenbourg), 1992. Der Begriff postkoloniales Philosophieren wird leider nicht näher erläutert. Wie aus dem Vorwort zur Auswahlbibliographie von Christian Neugebauer deutlich wird, scheint primär eine zeitliche Bestimmung gemeint zu sein. Er sagt: »Was die Kriterien zur Auswahl betrifft, so nahm ich zunächst – im Blick auf die Thematik des Bandes: ›Postkoloniales Philosophieren: Afrika‹ – eine zeitliche Begren-

1. Einführung

zieht den Begriff der postkolonialen Philosophie in seinem Critical Reader dagegen konkret auf afrikanische Philosophie, wenn er von Postcolonial African Philosophy spricht und den Zusammenhang von Philosophie und Postkolo-

zung vor. Ich wählte das Jahr 1960 als terminus post quem; dieses Jahr ging als das ›afrikanische Jahr‹ in die Geschichtsschreibung ein, weil damals die meisten afrikanischen Staaten formal unabhängig wurden.« In: Neugebauer, Christian: »Wo liegt Afrika? Eine Auswahlbibliographie«. In: Nagl-Docekal, Herta; Wimmer, Franz (Hg.): Postkoloniales Philosophieren: Afrika. München (Oldenbourg), 1992, S. 215. Postkoloniales Philosophieren meint demnach afrikanische Philosophie nach der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten. Dass diese historische Veränderung auch in Folge thematische Schwerpunktsetzungen im Philosophieren mit sich bringt, ist selbstverständlich mitgemeint. Der Begriff findet sich auch in Purtschert, Petra: »Postkoloniale Philosophie. Die westliche Denkgeschichte gegen den Strich gelesen«. In: Reuter, Julia; Karentzos, Alexandra (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden (Springer VS), 2012, S. 343-354. Hier wird postkoloniales Philosophieren mit Hilfe von drei Aspekten zu fassen versucht: die Kritik der Art und Weise, wie die Welt von westlichen Wissensordnungen dargestellt wird, die Freilegung der eurozentrischen Grundlagen und der Versuch philosophische Theoreme für das postkoloniale Projekt anschlussfähig zu machen. Purtschert nennt drei Modi der postkolonialen Philosophie: Kritik, Selbstkritik und Aneignung und verweist in diesem Zusammenhang auch auf richtungsweisende westliche Philosophen wie Marx, Freud, Nietzsche, Gramsci, Althusser, Derrida und Foucault. (Vgl. Purtschert 2012: 343) Purtschert legt eine inhaltlich ausgerichtete Bestimmung der postkolonialen Philosophie vor und geht somit in einer entscheidenden Weise über Nagl-Docekal, Wimmer und Neugebauer hinaus. Erst damit wird der Begriff der postkolonialen Philosophie aussagekräftig und sinnvoll verwendbar. Postkoloniale Philosophie lässt sich zum einen durch einen Dialog mit der postkolonialen Theorie kennzeichnen – wird zum Teil sogar in diese Theorie eingeordnet – und ist zum anderen im Kontext der interkulturellen bzw. transkulturellen Philosophie zu verorten. Ihr muss insgesamt als primäres Anliegen die Aufarbeitung der (post)kolonialen Situation und die Dekolonialisierung des Denkens, Fühlens und Handelns zugesprochen werden. Als Abgrenzung gegenüber der postkolonialen Theorie definiert die Autorin Philosophie folgendermaßen: »Beides hat mit dem Selbstverständnis der Philosophie als Disziplin zu tun, die sich nicht in erster Linie mit partikularen Phänomenen befasst, sondern mit den Grundlagen des Seins und Denkens. Entsprechend geht es in der Philosophie darum, Aussagen über den Menschen, die Welt, die Gesellschaft oder die Sprache zu treffen, die nicht historisch oder kulturell gebunden, sondern allgemein gültig sind.« (Purtschert 2012: 343) Diese Auffassung von Philosophie müsste in einer postkolonialen Philosophie entsprechend eines inter- bzw. transkulturellen Konzepts verändert werden, um anschlussfähig zu bleiben.

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Interkulturelles Philosophieren

nialität als zentrales Charakteristikum der aktuellen afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie ausmacht.47 Eze bindet zeitgenössische afrikanische Philosophie schwerpunktmäßig an die philosophische Aufarbeitung des Projekts Moderne, das mit der Kolonialisation begann, und die Auseinandersetzung mit »the multiplicities and the pluralisms of these historical ›African‹ experiences.«48 Zunehmend wird diese kritische Aufarbeitung mit Konzepten für die Erfassung der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation im globalen Kontext und für die Veränderung und Verbesserung des weltweiten Zusammenlebens verbunden. Dabei lässt sich eine Tendenz der afrikanischen Philosophie ausgehend von den spezifischen Erfahrungen des (Post)kolonialismus und den Versuchen der Dekolonialisierung des Denkens, Fühlens und Handelns hin zu einer Öffnung für allgemeinmenschliche Überlegungen in anthropologischer, erkenntnistheoretischer, ethischer, machttheoretischer, politischer und ästhetischer Hinsicht ausmachen. Dieser Typus des afrikanischen Philosophierens, der sich nach Odera Orukas Unterscheidungen hauptsächlich mit der Richtung der universitären afrikanischen Philosophie deckt, die inzwischen auch in Form des Rekurses auf afrikanische Symbole, Sprichwörter und Praktiken auf ethnophilosophische Überlegungen und Elemente der Sage-Philosophie sowie literarisch-künstlerische Zugänge und Verfahren der kritischen Hermeneutik rekurriert, steht aktuell im Mittelpunkt der afrikanischen Philosophie. Bei der akademischen Philosophie lässt sich also ein kritisch-reflexiver Umgang mit den von Odera Oruka unterschiedenen Formen afrikanischen Philosophierens beobachten. Es zeigt sich dabei, dass afrikanisches Denken anregende Zukunftskonzepte mit pragmatischen Implikationen für Afrika und die Welt bereitstellt. Dies lässt Hoffnung auf eine positive Bewältigung der Zukunft entstehen und macht sichtbar, dass diese in theoretischer wie praktischer Hinsicht einer globalen Anstrengung bedarf. Zeitgenössische afrikanische Philosophie entwickelt von (post)kolonialen Fragestellungen ausgehend einen neuen Typus von ›universeller‹ Philosophie, eine global African philosophy, die sowohl eine fraglose Orientierung an westlicher Philosophie als auch einen Afrozentrismus vermeidet. Dabei wird deutlich, dass afrikanische und afrodiasporische Philosophie –

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Eze, Emmanuel Chukwudi (Hg.): Postcolonial African Philosophy: A Critical Reader. Cambridge, MA/Oxford (Blackwell Publishers), 1997. Eze 1997: 15.

1. Einführung

eine Bobachtung von Magobe B. Ramose aufgreifend – insbesondere philosophy of memory, memorial philosophy, und philopraxis ist.49 Afrikanische und afrodiasporische Philosophie ist demnach primär Fragen der theoretischen Philosophie integrierende praktische Philosophie, der es – bezogen auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – insbesondere um die Bewältigung anstehender Probleme Afrikas im Weltkontext geht.

1.5

Zur Methode und zum Vorgehen

Die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung wird in den Kontext des Projekts der Interkulturellen Philosophie gestellt, deren Grundkonzept von der Dialogizität der Kulturen und der Norm der kulturellen Gleichwertigkeit ausgeht, eine Ausrichtung von Philosophie, die der Vorstellung von Kulturräumen in Bewegung in einer globalisierten Welt gerecht wird und dabei von gegenseitiger Inspiration, Abgrenzung und/oder Kritik der philosophischen Konzepte ausgeht. Interkulturelle Philosophie bedarf u.a. der Untersuchung der Dialogizität und des Polylogs50 zwischen afrikanischer bzw. afrodiaspori49

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Bei Magobe B. Ramose heißt es dazu: »The above considerations, applied to African philosophy – including indeed the ›wretched of the Earth‹, the now more than ›bottom billion‹ – do more than suggest that for these peoples philosophy is much more than conjuring up theories, especially moral theories, that fail to recognise that philosophy proper is philopraxis. African philosophy takes philopraxis thus defined seriously. She cannot but do so because she is a philosophy of memory. A memorial philosophy that takes her anthropology and ›his-story‹ into cognisance whenever she reflects critically upon the condition of the African anthropos in its relations with other human beings on planet Earth. Her critical reflections lead ineluctably to the submission that epistemic justice is an indispensable complementary to social justice. As philopraxis in pursuit of this submission, African philosophy is a practical question of life and death in the race ›between reason and death‹.« In: Ramose, Magobe B.: »Introduction: Contrasts and contests about philosophy«. In: South African Journal of Philosophy. 34(4), 2015, S. 393f. Die Theorie der Intertextualität hat in Bachtins Konzept der Dialogizität ihren Ausgangspunkt. Er untersucht den Dialog der Stimmen und deren Polyphonie im Bereich des Sprachkunstwerks. In bestimmten Wörtern und Reden zeigen sich nach ihm »alle sozioideologischen Stimmen« einer Epoche. Julia Kristeva entwickelt von Bachtin ausgehend den Begriff des Polylogs, der von einer Vielfalt der Stimmen im universal verstandenen Text ausgeht, und in diesem Kontext ein Konzept von Intertextualität. Vgl. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. Rainer Grübel, Frankfurt (Suhrkamp), 1979, S. 290 und Kristeva, Julia: Polylogue. Paris (Editions du Seuil), 1977.

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Interkulturelles Philosophieren

scher und anglo-europäischer Philosophie und der damit verbundenen intertextuellen Bezüge.51 Interkulturalität rekurriert auf Diskurse, Theorien, Metatheorien, auf ökonomische, rechtliche, wissenschaftliche, technische, mediale und politische Konzeptionen, auf Erinnerungskulturen mit ihren Themen und Motiven, außerdem auf religiös-metaphysische Konzepte und den mit ihnen verbundenen Praktiken. Des Weiteren bezieht sie sich auf das dialogische Zusammentreffen von Alltagskulturen – Phänomene zur Bewältigung des täglichen Lebens – mit den entsprechenden Alltagspraktiken und Sprachen mit ihrer unterschiedlichen Grammatik, Semantik und Pragmatik, wobei Denk- und Wertvorstellungen und Praktiken verschiedener Kulturen miteinander in Beziehung gesetzt werden.52 Dabei ist ggf. auch der Kulturbegriff selbst involviert. In den intertextuellen Untersuchungen der philosophischen Texte steht der Polylog der philosophischen Stimmen in den philosophischen Konzepten im Mittelpunkt, der kritisch analysiert und reflektiert werden soll. Intertextuelle Bezüge meinen mehr als unbestimmt bleibende Ähnlichkeiten zwischen Texten, sie beinhalten z.B. Referenzen auf den Ursprungstext wie Autornamen, Titel von Werken, Paratexte und Zitate, kritische Auseinandersetzungen mit Theoremen des Ursprungstextes, metarefle-

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Die Ausarbeitung des Konzepts der Intertextualität findet sich bei Broich/Pfister. Die Autoren stellen sechs Kriterien auf, anhand derer eine Aussage über die Intensität der Intertextualität gemacht werden kann: Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität. Vgl. Broich, Ulrich; Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen (Max Niemeyer), 1985. Eine ähnliche Theorie findet sich bei Genette, er unterscheidet in seinem Konzept der Transtextualität zwischen Inter-, Para-, Meta-, Hyper- und Architextualität. Vgl. Genette, Gérard : Palimpseste : Die Literatur auf zweiter Stufe: Aesthetica. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1993. Vgl. Bohlken 2012: 10. Bohlken schlägt für das interkulturelle Philosophieren eine transzendentale Methode vor, die nach Kantischem Vorbild von der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des interkulturellen Denkens ausgeht und sich damit selbst zum Gegenstand des Nachdenkens macht. Transzendentale Reflexion führe zu einem relativen Apriori, das die universelle Rekonstruktion von Begrifflichkeit, Verständlichkeit und Übersetzbarkeit von Sinngebilden anstrebt (Vgl. Bohlken 2012: 19-20) Interkulturelle Philosophie besteht nach Bohlken in einem theoretischen und praktischen Strang, wobei ersterer Fragen nach dem Kulturbegriff, nach Universalismus und Relativismus, nach dem interkulturellen Verstehen und dem Subjekt interkultureller Diskurse und letzterer nach der ethischen Grundhaltung dem kulturell Anderen gegenüber, der Lösung interkultureller Konflikte und nach Maßstäben des Urteilens stellt. (Vgl. Bohlken 2012: 20)

1. Einführung

xive Überlegungen zum Bezug auf den westlichen Autor bzw. Text und die allgemeine Dialogizität hinsichtlich philosophischer Theoreme, die bei Texten bzw. Autoren gleichermaßen von Interesse sind, und deren Selektivität bzw. Schwerpunktsetzung. Die Theorie der Inter- bzw. Transtextualität bietet somit ein methodisches Instrumentarium für interkulturelles Philosophieren in seiner primär textlichen Beschaffenheit. Diese Analyse ist gleichermaßen eingebettet in einen historischen Zusammenhang von Kolonisation, Post- bzw. Neokolonialismus und Globalisierung, der Frage nach dem afrikanischen Denken und Glauben und der afrikanischen Tradition, der Suche nach außereuropäischen, z.B. äthiopischen Wurzeln von Philosophie bzw. der Blickausweitung auf den Gesamtkontext der Welt. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die auch in Religion, Kunst, Musik etc. zum Ausdruck kommen, gehen in das kulturelle Gedächtnis ein und prägen das Bild und die Konzeption von Geschichte. Die aufgezeigten Wege der interkulturellen Begegnung im Philosophischen weisen sehr unterschiedliche Facetten auf, in denen Kritik z.B. dekonstruktivistisch, hermeneutisch und/oder rekonstruierend, kritisch entlarvend, konstruktiv aufbauend oder visionär ausgerichtet erscheint. In dieser Untersuchung wird sowohl der hermeneutische, re/konstruktivistische bzw. dekonstruktivistische als auch der spekulativ-visionäre Zugang zu den philosophischen Gedankengebäuden bedeutsam. Insgesamt liegt dem Vorgehen ein im weitesten Sinne verstandenes hermeneutisches53 und komperatives Verfahren zugrunde. Theoretisches 53

Estermann spricht hinsichtlich der ›interkulturellen‹ Hermeneutik von einer ›diatopischen‹ bzw. ›pluritopischen‹ Hermeneutik oder auch ›dia-paradigmatischen‹ bzw. ›poly-paradigmatischen‹ Hermeneutik, der ein interpretierendes Hin und Her bei zumeist unterschiedlichen Rationalitätsidealen – im Sinne einer ›multiplen Rationalität‹ –, die Suche nach ähnlichen oder äquivalenten Funktionen von Begriffen, Symbolen etc. verschiedener kultureller Weltentwürfe und somit eine besondere kulturelle Kontextualität zugrunde liegen. Nach Estermann müssen für das interkulturelle Verstehen unterschiedliche kulturelle Deutungszusammenhänge bzw. Interpretationsrahmen berücksichtigt werden. (Vgl. Estermann 2012: 30-33) Dabei gehe es auch darum, sich ›blinde Flecken‹ oder stillschweigend vorausgesetzte Grundvoraussetzungen bewusst zu machen, was eine interkulturelle Dekonstruktion und auch ›interkulturelle Korrektur‹ notwendig mache (Vgl. Estermann 2012: 38) Bei Estermann heißt es: »Die Methodologie interkultureller Philosophie konzentriert sich nicht auf das Inter als ›ontologischen Ort‹, sondern als lebendigen und offenen Prozess eines steten und kreativen Hin und Her zwischen unterschiedlichen Denktraditionen, was im Letzten heißt: zwischen Subjekten (also konkreten Personen), die diese Denktraditionen ihr eigen nennen.« (Estermann 2012: 39) Denkbar wäre auch ein Rekurs auf Clifford Geertz' Konzept

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Interkulturelles Philosophieren

Rüstzeug bilden in diesem Kontext Theorien des Verstehens, der (De)konstuktion und Rekonstruktion54 und Theorien der Übersetzung,55 die insbesondere den Zusammenhang von sprachlichen und konzeptionellen Dimensionen thematisieren. Die ausgesuchten afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophen stehen u.a. auch selbst für diese unterschiedlichen Herangehensweisen, so verfährt Serequeberhan gegenüber der Kantischen Philosophie in dekonstuktivistischer Manier entlarvend, während Wiredu und Gyekye Elemente der Kantischen Philosophie in ihre philosophischen Konzepte integrieren und in veränderter Form in ihren Argumentationsgang einbauen. Des Weiteren wird in dieser Untersuchung auf Theorien des kulturellen Gedächtnisses56 zurückgegriffen, in denen Themen wie Vergessen, Schwei-

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der dichten Beschreibung, das er im ethnologischen Forschungsrahmen als deutende Theorie von Kultur entwickelt, nach der Verstehen gleichermaßen Kontextualisieren, Rekonstruktion von Bedeutungs- und Sinnsystemen und deren Dekonstruktion voraussetzt. Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 14 2019. Siehe dazu Angehrn, Emil: »Interpretation zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion«. In: Dalferth, Ingolf U.; Stoellger, Philipp (Hg.): Interpretation in den Wissenschaften: Interpretation Interdisziplinär. Bd. 3. Würzburg (Königshausen & Neumann), 2005, S. 137-150; online: https://edoc.unibas.ch/14824/1/BAU_1_005251793.pdf.; letzter Zugriff am 26.08.2021. Walter Benjamin setzt sich mit der Unmöglichkeit der Ähnlichkeit zwischen Original und Übersetzung auseinander. Benjamin, Walter: »Die Aufgabe des Übersetzers«. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. IV/1. Frankfurt a.M., 1972, S. 9-21. Siehe zum Thema der Übersetzung aus dekonstruktivistischer Perspektive auch: Derrida, Jacques (1997): »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege«. In: Hirsch, Alfred (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 119-165. Das Thema Übersetzung steht im Fokus der afrikanischen und afrodiasporischen Denker. Siehe dazu Wiredu, Kwasi: Cultural Universals and Particulars: An African Perspective. Bloomington, Indianapolis (Indiana University Press), 1996, S. 82, 85, 95-104. Wiredu spricht sich für die Möglickeit interkultureller Übersetzungen aus. Auch die Frage nach der Wahl der Sprache im Literatarischen, Philosophischen etc. bewegt die afrikanische und afrodiasporische Philosophie in besonderer Weise. Siehe dazu u.a. Thiong’o, Ngũgĩ wa: »The Language of African Literature«. In: Olaniyan, Tejumola; Quayson, Ato (Hg.): African Literature: An Anthology of Criticism and Theory. Malden, Oxford, Carlton (Blackwell Publishers), 8 2013, S. 285-306. Und: Appiah, Anthony, Kwame: »African Philosophy and African Literature«. In: Wiredu, Kwasi (Hg.): A Companion to African Philosophy. Malden, Oxford, Carlton (Blackwell Publishers), 2004, S. 538-548. Nach Assmann bildet jede Kultur eine konnektive Struktur aus, die in sozialer wie zeitlicher Hinsicht verknüpfend wirkt, dadurch dass sie »einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum bildet«, wobei die Momente ›Erinnerung‹,

1. Einführung

gen, Erinnern und Strategien der Verdrängung57 thematisiert werden, Aspekte, die in der afrikanischen und afrodiasporischen Gegenwartsphilosophie wie z.B. bei Achille Mbembe eine entscheidende Rolle spielen. Mabe warnt vor der unreflektierten Benutzung des Begriffs kollektives Gedächnis in kolonialen Zusammenhängen: »Kolonialisierte und Kolonialisierer konnten deshalb kein gemeinsames Gedächnis kultivieren, weil ihre Erfahrungen mit der Kolonialisation und ihre Erinnerungen an jene Zeit konträr und unvereinbar sind.«58 Er spricht hinsichtlich der Fragen der Erinnerung im interkulturellen Dialog bzw. Polylog vom kommunikativen Gedächtnis.59 Ziel sei es trotz

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59

›Identität‹ und ›kulturelle Kontinuierung‹ mit ihren narrativen wie normativen Aspekten involviert sind. Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. München (C.H.Beck), 5 2005, S. 16ff. In diesem Kontext entwickelt er unter Rekurs auf Maurice Halbwachs (›kollektives Gedächtnis‹) den Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹, bei dem es primär um Symbole, Ikonen und Repräsentationen wie z.B. Denkmäler und Grabmale geht. Das kulturelle Gedächtnis formt die Traditionen und die Kommunikation der Menschen in einer Gesellschaft, es führt aber auch zu »negativen Formen des Vergessens durch Auslagerung und eines Verdrängens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung.« (Assmann 5 2005: 23) Das ›kulturelle Gedächtnis‹ steht in einem engen Zusammenhang mit dem ›politischen Gedächtnis‹, das bei der Konstruktion einer nationalen und persönlichen Identität gleichermaßen mit einer ›Parteilichkeit der Erinnerung‹ und einer kreativen Umgestaltung des Vergangenen verbunden ist. Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München (C.H.Beck), 2003, S. 65. Vergangenheit wird dabei ›sozial-konstruktivistisch‹ aufgefasst: »eine soziale Konstruktion, die sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten ergibt, Vergangenheit steht nicht naturwüchsig dar, sie ist eine kulturelle Schöpfung«. (Assmann 5 2005: 47f.) Vgl. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur: Eine Intervention. München (C.H.Beck), 2013. Mabe, Jacob Emmanuel: Vom kollektiven Gedächtnis zur Konvergenzhistorik – Afrikanische und europäische Erinnerungen an den Kolonialismus hinterfragt: Wissenschaftlicher Aufsatz. München (Grin), 2005, S. 1. Vgl. Mabe 2005: 3. Bei Mabe heißt es wörtlich: »[A]ls kommunikativ [gilt] dasjenige Gedächtnis, das sich aus der gemeinsamen Erfahrung der Menschen mit der Geschichte ergibt.« Des Weiteren unterscheidet Mabe davon das transzendentale Gedächtnis, das dem individuellen Erkennen, Handeln und Erinnern diene. (Vgl. Mabe 2005: 3) Mabe glaubt, dass der Begriff des kollektiven Gedächtnisses nicht für die Untersuchung des Kolonialismus geeignet sei, da er »den politisch und ideologisch motivierten Missbrauch des Gedächtnisbegriffes kaum verhindern kann.« (Mabe 2005: 3) Notwendig im Rahmen der gemeinsamen Erinnerungsarbeit sei die Entwicklung einer ethischen Perspektive. (Vgl. Mabe 2005: 5) »Die Bildung eines gemeinsamen ethischen Prinzips

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Interkulturelles Philosophieren

der »Erinnerungsdifferenzen eine gemeinsame Zukunft aufbauen [zu] können und [zu] müssen.«60 Ausgehend vom Begriff des kommunikativen Gedächtnisses kann im Rahmen der Interkulturellen Philosophie eine kritische Reflexion kollektiver Gedächtnisformen, kollektiven Vergessens und ideologisch-politischer Manipulationen der Erinnerung stattfinden. In der zeitgenössischen afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie finden sich sehr unterschiedliche Intentionen hinsichtlich der Auseinandersetzung mit westlicher Philosophie und deren philosophischer Funktion. Diese Vielfältigkeit aufzuzeigen ist eines der Ziele der vorliegenden Untersuchung. Die Auswahl der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophien spiegelt u.a. das Interesse, verschiedene Zugangswege, Intentionen und Funktionen des interkulturellen Dialogs mit Kant und Foucault exemplarisch darstellen zu können. Mit der Fokussierung auf Kant und Foucault als Beispiel für den Dialog bzw. Polylog mit westlichen Philosophien wird zum einen deren Bedeutungszuweisung vonseiten der afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophie aufgegriffen, die sich mit ihnen kritisch auseinandersetzt und zum Teil in ihren philosophischen Konzeptionen in einer für ihren Argumentationsgang entscheidenden Weise auf diese beiden Autoren zurückgreift, und zum anderen die zwischen Foucault und Kant bestehende Dialogizität reflektiert. Daneben werden auch Bezüge zu anderen westlichen Philosophen wie Mill, Rawls, Layotard, Derrida u.a. thematisiert, sofern sie hinsichtlich der Bearbeitung der Forschungsfragen relevant werden. Die Relektüre Kants in der afrikanischen und afrodiasporischen Gegenwartsphilosophie beinhaltet die Untersuchung des politischen Universalismus Kants bei Achille Mbembe und Kwame Anthony Appiah (Kapitel 2.1), des epistemischen und moralischen Universalismus von Kant – auch in seinen politischen Implikationen – bei Kwasi Wiredu und Kwame Gyekye (Kapitel 2.2), und der Kritik als philosophisches Konzept bei Tsenay Serequeberhan und Henry Odera Oruka (Kapitel 2.3.). Die afrikanischen und afrodiasporischen Philosophien repräsentieren dabei in prägnanter Weise bestimmte Herangehensweisen der mit dem rethinking der Kantischen Philosophie verbundenen Intentionen, Verfahren und Argumentationsweisen, die herausgearbeitet, miteinander verglichen und kritisch reflektiert werden sollen.

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ist unabdingbar für eine ideologiefreie sowie kulturtranszendente und -invariante Interpretation der Geschichte.« (Mabe 2005: 5) Dabei gehe es um die Anerkennung des »Kolonialismus […] als wesentlicher Bestandteil der Geschichte«. (Mabe 2005: 6) Mabe 2005: 4.

1. Einführung

Im dritten Kapitel werden zunächst Foucaults kritischer Dialog mit Kant (siehe Kapitel 3.1 – 3.3), die Aspekte Sprache, Literatur und Kunst (Kapitel 3.4) und Geschichte, Fortschritt und Macht (Kapitel 3.5) analysiert, um davon ausgehend die Relektüre Foucaults in der afrikanischen bzw. afrodiasporischen Gegenwartsphilosophie am Beispiel von Valentin-Yves Mudimbe und Achille Mbembe (Kapitel 3.6) zu untersuchen. Es wird zum einen deutlich, dass Foucaults experimentelles Philosophieverständnis und seine Verfahren Archäologie und Genealogie maßgeblich das methodische Vorgehen der afrikanischen Philosophen bestimmen und dass sie zum anderen auf wichtige Foucault’sche Theoreme wie insbesondere Subjekt, Diskurs und Macht – mit ihren historischen Formen bzw. Strategien Souveränitätsmacht, Disziplinarmacht und Biomacht – zurückgreifen. Die benutzten Verfahren und theoretischen Theoreme bestimmen die philosophischen Konzepte tiefgehend und verweben sich in sie. Im Abschlusskapitel (Kapitel 4) der philosophischen Untersuchung werden theoretischer Ansatz, Fragestellung, Argumentationsgang und benutzte Verfahren einer kritischen Reflexion unterzogen. Das Resümee führt die Ergebnisse der Analyse zusammen und verdeutlicht die Notwendigkeit eines tieferen Verständnisses für vielfältige Weltanschaungen mit ihren unterschiedlichen philosophischen Konzepten und Praktiken und der Aufarbeitung von Verletzungen und Traumata. Gegenseitiger Respekt in der Andersartigkeit, gegenseitiges Verständnis, kreativer Austausch, Kooperation und die Anerkennung der menschlichen Verletzbarkeit und der menschlichen Würde des Anderen können als zukunftsweisende Dimensionen der Interkulturellen Philosophie angesehen werden.

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2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

2.1

Kant in der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie

In der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie bleibt der Philosoph der Aufklärung Immanuel Kant entscheidender Bezugspunkt im interkulturellen Dialog, obwohl bis heute erbittert um die Auslegung der bei ihm konstatierten problematischen Verbindung von Universalismus und latentem Rassismus gerungen wird. Als einer der wichtigsten Impulsgeber für den aktuellen Kosmopolitismus,1 die Etablierung von Menschenrechten und die Schaffung transnationaler Institutionen2 ist er auch im afrikanischen und

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»Despite his Eurocentric perspective, Kant’s thoughts on world citizenship and cosmopolitan right have been heralded as milestones in modern cosmopolitan theory.« In: Uimonen, Paula: »Decolonising cosmopolitanism: An anthropological reading of Immanuel Kant and Kwame Nkrumah on the world as one«. In: Critique of Anthropology. 40 (1), 2020, S. 86. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden transnationale Institutionen wie die League of Nations (1920-1946); die United Nations (1945); der International Monetary Fund (IMF) and die World Bank (1944) gegründet. »In all these processes, many thinkers have played important roles. They held lay, religious, idealist, positivist, socialist, liberal, conservative or revolutionary positions, clearly demonstrating the plasticity and efficacity of cosmopolitanism across political and theoretical persuasions. They thought of an international court and army (Abbé de Saint Pierre), a federation of nations and eternal peace (Kant), technological solutions for rationally organizing the planet (SaintSimon, Goethe), global alliances against oppression (Marx), world government and state (H.G. Wells, Lippmann), world economic regulations (Keynes).« In: Ribeiro, Gustavo Lins: »What is cosmopolitianism?« In: Vibrant: Virtual Brazilian Anthropology. 2(1/2), 2005, S. 22; online: https://www.vibrant.org.br/downloads/v2n1_wc.pdf.; letzter Zugriff am 26.08.2021.

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Interkulturelles Philosophieren

afrodiasporischen Kontext nicht wegzudenken. Kant ist Dialogpartner hinsichtlich erkenntnistheoretischer, ethischer und politischer Fragestellungen und der Auseinandersetzung mit Aspekten wie Kritik, individuelle Autonomie und Handlungsfähigkeit. So kommt der Auseinandersetzung mit Kants ethischem Konzept in der akademischen afrikanischen Gegenwartsphilosophie z.B. bei Wiredu und Gyekye eine hohe Bedeutung zu. Dabei stehen der Gedanke der Autonomie in der Selbstgesetzgebung, nach der der Mensch sich in der Anwendung des kategorischen Imperativs, die nur die Verallgemeinerbarkeit der persönlichen Maxime prüft, selbst moralische Gesetze gibt, und die Selbstzweckformel, nach der ein Mensch unter moralischen Gesichtspunkten niemals bloß als Mittel, sondern als Selbstzweck behandelt werden soll, im Mittelpunkt des Interesses der kritischen Relektüre Kants. Die ethischen Überlegungen der afrikanischen bzw. afrodiasporischen Denker münden wie bei Kant in politischen Visionen. Auch Kants erkenntnistheoretische Überlegungen werden in der afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophie kritisch reflektiert. Die Möglichkeit objektiver und wahrer Erkenntnis beruht nach Kant auf der Apriorität der menschlichen Erkenntnisfähigkeit in den sinnlichen Formen apriori, den Kategorien des Verstandes und den regulativen Prinzipien der Vernunft, die allen Vernunftwesen gleichermaßen zukommt. Die Apriorität der theoretischen Vernunft ist die Grundlage der Universalität der menschlichen Erkenntnis so wie der kategorische Imperativ als Prinzip apriori im Bereich der praktischen Vernunft die Universalität der Moral gewährleistet. Die apriorischen Elemente der theoretischen und praktischen Vernunft begründen von ihrem Grundsatz her die Egalität aller Menschen und ermöglichen das Verstehen, Zusammenleben und Zusammenarbeiten der verschiedenen Menschen und Kulturen über Grenzen hinweg. Der ethische wie erkenntnistheoretische Universalismus Kants stellt u.a. deshalb einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung mit seiner Philosophie in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie dar, wie es sich z.B. in Kwasi Wiredus Kritik des Relativismus, seiner Theorie des kulturellen Universalismus und seinem Prinzip der sympathetic impartiality, das Kants ethischen Grundsatz transformiert, zeigt. Das Interesse bezieht sich dabei insbesondere auf die Frage nach der Notwendigkeit des universalen Denkens wie auch nach der angemessenen Berücksichtigung des Partikularen, der Pluralität und Diversität in den verschiedenen Bereichen und Dimensionen des menschlichen Seins sowie auf die Vereinbarkeit individueller Rechte mit kommunalen Pflichten.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Kants3 Schrift Zum ewigen Frieden (1795) gilt allgemein als eine der wichtigsten Schriften des Philosophen und ihre kosmopolitische Ausrichtung ist auch in heutiger Zeit von besonderer, wenn nicht lebensbestimmender Bedeutung: »In our century, this topic has become literally a matter of life and death for the entire planet.«4 Kant sieht die Möglichkeiten zum ewigen Frieden als im historischen Prozess angelegt an, in dem die Natur die Entwicklung der mit dem menschlichen Wesen verbundenen Fähigkeiten vorsieht, »wobei aber das Charakteristische der Menschengattung in Vergleichung mit der Idee möglicher vernünftiger Wesen auf Erden überhaupt dieses ist: daß die Natur den Keim der Zwietracht in sie gelegt und gewollt hat, daß ihre eigene Vernunft aus dieser diejenige Eintracht, wenigstens die beständige Annäherung zu derselben herausbringe«. (Anth, AA 7: 322) Die kosmopolitische Aufgabe des Menschen ist bei Kant insbesondere in der Rationalität des Menschen, seiner moralischen Verfasstheit, im Weltbürgerrecht und im Konzept des Staatenbundes verankert und mit dem Projekt Aufklärung verbunden. Dabei ist von einer Parallelität der Wege von Vernunft und Natur auszugehen, die einen Optimismus hinsichtlich der Erreichbarkeit kosmopolitischer Ziele begründet. Ist Kants Konzept des Kosmopolitismus nach wie vor aktuell? Bei Wood heißt es: »Kant’s time, of course, is no longer ours. In the past two centuries, his enlightenment project has been developed and expanded, meeting with both victories and defeats. Right now it is under attack from many sides. Its confidence in reason is assailed both with corrosive forms of skepticism and by enthusiasms new and old.«5 Wie bildet sich dieser Prozess der Kritik und Desillusion im Hinblick auf Kants kosmopolitisches Projekt in der zeitgenössischen afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophie ab? Nach Balakrishnan (2017) lässt sich spätestens seit 2000 von einem ›cosmopolitan turn‹ in Afrika und der afrikanischen Diaspora verbunden »with 3

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Der folgende Absatz findet sich auf Englisch in Rainsborough, Marita: »Cosmopolitanism. Universality. World Citizenship. Kwame Anthony Appiah’s Rethinking of Kant’s Philosophy of History«. In: Órdenes, Paula; Alegría, Daniela (Hg.): Kant y el Criticismo: pasado, presente, ¿futuro? Porto Alegre (Editora Fi), 2015, S. 255f. Wood, Allen W.: »Kant’s Project for Pepetual Peace.« In: Cheah, Pheng; Robbins, Bruce (Hg.): Cosmopolitics: Thinking and Feeling beyond the Nation. Minneapolis, London (University of Minnesota Press), 1998, S. 62. Wood 1998: 72.

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Interkulturelles Philosophieren

a new wave of optimism«6 sprechen. Appiahs Aufsatz »Cosmopolitan Patriots« (1997) leitet diese Entwicklung in den African Studies ein und sein Werk Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers (2006) markiert mit seinem Fokus auf gemeinsame moralische Werte, »extra-local forms of belonging« und »a cosmopolitan self-styling« einen wichtigen Meilenstein.7 Die kosmopolitische Ausrichtung in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie markiert einen Bruch mit den auf Rassenunterschieden aufbauenden emanzipatorischen Konzeptionen wie den Pan-Afrikanismus, in denen es insbesondere um eine Aufwertung der Schwarzen geht, hin zu einem auf die Universalität des Menschseins ausgerichteten kosmopolitischen Denken: ein »post-racial universalism«.8 Im Unterschied zu Kants ›Enlightenment legacy‹ ist das Menschen einende universalisierende Prinzip bei Appiah nicht mehr die Vernunft, sondern das auf Gewohnheiten beruhende menschliche Miteinander, dem eine ethische Gemeinsamkeit zugrunde liegt. Er entwickelt in seinem Partial Cosmopolitanism eine kosmopolitische Ethik, die auf einem moralischen Minimalkonsens beruht, und die Konzeption einer kosmopolitischen Identität. Mbembes Afopolitanism (2007) versteht Kosmopolitismus in einem pluralistischen Sinne als Möglichkeit einer emanzipatorischen Politik einer »futuristic post-racial order«.9 Mogobe Ramose fordert »to transcend [the] dogmatic dimension of cosmopolitanism«,10 die bereits im ›-ismus‹ zum Ausdruck komme und die dem Charakter des Seins, der in Bewegung, Fragmentierung, Verbundenheit und Multi-Direktionalität besteht, nicht gerecht werde. Die mögliche Transzendierung beruht nach ihm auf dem ›ubuntu‹-Prinzip,11 wodurch der eurozen-

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Balakrishnan, Sarah: »The African Idea: New Perspectives on Cosmopolitanism in African Studies«. In: History Compass. Special Issue (Online): Making and Unmaking the Nation in World History. 15(2), 2017, S. 1; letzter Zugriff am 26.08.2021. Vgl. Balakrishnan 2017: 5. Balakrishnan 2017: 8. Ibd. Ramose, Mogobe Bernard: »Transcending Cosmopolitanism«. In: Diogenes. 59(3/4), 2014, S. 30-35. Leonhard Praeg unterscheidet zwischen ubuntu als Lebensprinzip und sittlich-gesellschaftlicher Norm, Grundlage eines afrikanischen Humanismus, und Ubuntu als postkolonialem philosophischem Konzept, das als kritisch-dekonstruktive Kraft verstanden werden müsse und nicht ideologisiert werden dürfe. Vgl. Graneß, Anke: »Ubuntu – Afrikanischer Humanismus oder postkoloniale Ideologie? Zu: Leonhard Praeg: Bericht über Ubuntu«. In: Polylog. Zeitschrift für Interkulturelles Philosophieren. 31, 2014, S. 85-93.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

trische Charakter des Kosmopolitismus, der sich im Rekurs auf Kant ausdrückt, überwunden werde. In diesem Zusammenhang sei das Konzept des Cosmubuntuism von Bedeutung, das auf dem Prinzip des afrikanischen Humanismus: »I am human through other humans« basiert – »unity in diversity«.12 In ihm gehe es um die Möglichkeit für eine »peaceful co-esistence« und »conditions for heterogeneity«.13 Werden die beiden Hauptvertreter des afikanischen bzw. afrodiasporischen Kosmopolitismus Appiah und Mbembe mit ihrem Rekurs auf Kant u.a. der Forderung nach einem ›decolonised cosmopolitanism‹14 gerecht? Oder müssen, wie Uimonen es fordert, andere historische Linien für die Entwicklung des Kosmopolitismus gezogen werden: »It appears pertinent to identify other genealogies of cosmopolitanism, so that we can arrive at a more cosmopolitan understanding of the world as a whole, by way of anthropology.«15 Auch stellt sich in der heutigen Zeit die Frage nach anderen theoretischen Ausrichtungen und Argumentationszielen wie z.B. hinsichtlich der Konzeption des enviromentalism in seiner universalistischen Ausrichtung, wie wir ihn im Kontext der afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophie insbesondere bei Odera Oruka vorfinden. Diesen Fragestellungen soll in späteren Kapiteln auch bezogen auf den erkenntnistheoretischen, ethischen und politischen Universalismus, das Theorem der Kritik und auf ökophilosophische Konzeptionen nachgegangen werden. Im nächsten Abschnitt sollen zunächst Kants philosophische Ausführungen im Hinblick auf seinen epistemischen, ethischen und politischen Universalismus dargelegt werden. Im Mittelpunkt stehen die für den interkulturellen Dialog mit der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie relevanten Themen wie Universalismus, Menschenbild, Auffassung von Menschheit, Person, Rasse, politische Handlungsfähigkeit und Kosmopolitismus.

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Vgl. Davids, M. Noor: »Re-imagining Cosmopolitanism in Post-Apartheit South Africa: Reviving Historical ›Cosmubuntuism‹ in forced Removal species for a Democratic Future.« In: The International Journal of Community Diversity. 18(1), 2018, S. 24, 27. Vgl. Davids 2018: 32. Vgl. Uimonen 2014: 81. Uimonen 2014: 97. An anderer Stelle heißt es vergleichbar: »Anthropologists can hopefully add more cosmopolitan genealogies to broaden scholarly and popular understandings of the world as one.« (Uimonen 2014: 97) Uimonen sieht hier z.B. eine Quelle im Consciencism of Nkrumah. Chielozona Eze rekurriert diesbezüglich auf den ›Empathetic Cosmopolitanism‹ von Mandela. Vgl. Eze, Chielozona: »Empathetic cosmopolitanism: South Africa and the quest for global Citizenship«. In: Strategic Review for South Africa. 39 (1), 2017, S. 236-255.

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Interkulturelles Philosophieren

2.2

Kants epistemischer, ethischer und politischer Kosmopolitismus

2.2.1

Zu den Theoremen Person und Menschheit bei Kant

Bei Kant hat der Mensch eine herausgehobene Stellung und die Menschheit ist in seiner Philosophie in erster Linie ein normativer moralischer und rechtsphilosophischer Begriff. Die »Menschheit in uns« (KU, AA 5: 335) bzw. »die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen« (GMS, AA 4: 429) steht im Zentrum der Moralbegründung Kants, insbesondere im Hinblick auf den Selbstzweckcharakter und die Würde des Menschen. Die Menschheit ist bei Kant also deutlich mehr als die Gesamtheit aller Menschen. Kant bettet den Menschen hinsichtlich Natur, Kosmos und Welt − auch in politisch-geschichtlicher Hinsicht − in einer ganzheitlichen Sicht in komplexe Zusammenhänge ein. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht heißt es in der Charakteristik der Menschengattung, dass »die Menschengattung nicht als böse, sondern als eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen [ist]; wobei dann ihr Wollen im Allgemeinen gut, das Vollbringen aber dadurch erschwert ist, daß die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Zusammenstimmung der Einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist, erwartet werden kann.« (Anth, AA 7: 333) Menschen benötigen zur moralischen Vervollkommnung ein kosmopolitisches System, das durch seine Organisation das moralische Bemühen der einzelnen Menschen stützt. Dabei betont Kant die Kulturbezogenheit des Menschen insbesondere im Hinblick auf die Perfektibilität des Menschen als Gattungswesen, das dazu bestimmt ist, seine Anlagen im Verlauf der Geschichte im Sinne eines Fortschritts zu entwickeln.16 Die menschliche Moralität steht dabei im Zentrum seines Menschenbildes der Vervollkommnung des Menschen und der Menschheit, die in seiner praktischen Philosophie durch den kategorischen Imperativ, das Prinzip a priori der praktischen 16

In diesen Prozess darf der Mensch entsprechend der naturteleologischen Grundannahmen Kants darauf vertrauen, mit seinen Projekten und Ambitionen in die Natur hineinzupassen.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Vernunft, eine universalistische Komponente enthält. Dem Menschen wird durch Kants Selbstzweckformel Würde zugesprochen und er beweist gerade in seiner Moralität die Fähigkeit zu Autonomie und Freiheit, Momente, die das Kantische Menschenbild im Wesentlichen bestimmen. Kant betrachtet den Menschen von seinem Potential her, entscheidend ist, was der Mensch aus sich macht. Dabei geht es um die Realisierung der moralischen und im Weiteren auch rechtlichen Menschheit im Sinne des normativen Verständnisses des Begriffs, bei der gleichermaßen das Freiheitsrecht des Menschen im Fokus steht. »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht«. (MS, AA 6: 237) Die Verwirklichung des regulativen Prinzips einer ›Menschheit in uns‹ (KU, AA 5: 335) verstanden als ›vollkommene Menschheit‹ (KrV, A 568/B596) stellt eine Aufgabe für die gesamte Menschheit dar. Die Idee der Menschheit in unserer Person bezieht sich auf den Selbstzweckcharakter des Menschen, wobei der Begriff Person die intelligible Natur des Menschen im Hinblick auf sein moralisches Wesen meint. Die freien und unabhängigen Eigenschaften der Person fasst Kant mit dem Begriff der Persönlichkeit als Achtung erweckende Idee. (Vgl. KpV, AA 5: 87) Der Personenbegriff Kants fokussiert den Aspekt der Vorstellung des Ich17 sowie die Zurechenbarkeit von Handlungen in Bezug auf das Subjekt als ein »mit praktischem Vermögen und Bewusstsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen«. (Anth, AA 7: 324) Der Begriff impliziert des Weiteren auch Pflichten im Hinblick auf die Person (HN, AA 23: 357), deren freies und selbstbestimmtes Handeln zu respektieren ist. Damit impliziert der Personenbegriff sowohl den Aspekt der Möglichkeit eines reflexiven Verhältnisses zu sich selbst als auch den Gesichtspunkt der Zwischenmenschlichkeit, wobei moralisches Handeln voraussetzt, Standpunkte »jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen) nehmen zu müssen«. (GMS, AA 4: 438) Der Begriff

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Bei Kant heißt es: »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person«. (Anth, AA 7: 127) Das Vermögen zu sich Ich zu sagen zentriert das Denken des Menschen und ist mit dem normativen Personenbegriff, der dem Menschen als Zweck an sich selbst im autonomen moralischen Handeln Würde zuspricht, verbunden.

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Interkulturelles Philosophieren

Person bei Kant betont also insbesondere die moralische Autonomie des Individuums, die in selbstbestimmtem Handeln mündet, seine Freiheit und den Anspruch auf Achtung und Respekt. Die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive des Anderen ist Voraussetzung für den respektvollen Umgang miteinander und die Anerkennung der Würde des Anderen. Das Prinzip der ›Menschheit in uns‹ verweist auf den inhärent zukunftsweisenden Charakter des individuellen Menschseins, das generell auf Vervollkommnung des Menschen im geschichtlichen Werden aus ist. Hierin spiegelt sich die Besonderheit der moralischen, rechtlichen und politischen Position des Individuums im Rahmen der Menschheit als moralisch-politisches Projekt wider. Das Theorem der Teleologie aus der Kritik der Urteilskraft (1790) leistet die Begründung für Kants Fortschrittsgedanken und seine utopisch anmutende Geschichtsphilosophie bietet dazu den politischen Rahmen. Der Fokus wird auf das Individuum in seiner kontextuellen Einbindung gelegt, auch wenn Kants kritische Unternehmen zunächst einen solipsistischen Anklang haben mögen. Die Untersuchung der menschlichen Vernunft in ihrem Bezug zum Subjekt blendet das Interpersonelle, Relationale und Kommunikative, den Bezug zum Anderen, nicht aus, obwohl Kant das Prinzip der Moralität nicht ausgehend vom menschlichen Miteinander entwickelt, sondern aus dem Apriori der praktischen Vernunft. Auch das Wirtschaften wird von Kant mit der Vervollkommnung des Menschen in zivilisatorisch-kultureller und moralischer Hinsicht verbunden gedacht, im Prozess der Vervollkommnung der menschlichen Gattung im geschichtlichen Prozess. »Es ist der Handelsgeist der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jeden Volks bemächtigt. Weil unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten (freilich wohl eben nicht durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb in beständigen Bündnisse ständen; denn große Vereinigungen zum Kriege können der Natur der Sache nach sich nur höchst selten zutragen und noch seltener glücken.« (ZeF, AA 8: 368) Im Vorwort zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) wird eine kosmopolitische Konzeption der menschlichen Natur, Wissen über den Menschen als Weltbürger, sichtbar.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

»Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten. – So viel gehört davon zur Anthropologie. Denn was diesen Unterschied nach metaphysischen Begriffen betrifft, so liegt er ganz außer dem Feld der hier abzuhandelnden Wissenschaft. Wenn nämlich blos die Frage wäre, ob ich als denkendes Wesen außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe, so ist sie nicht anthropologisch, sondern blos metaphysisch.« (Anth, AA 7: 130) Eine Denkungsart, die über das Individuelle hinausgeht, öffnet sich nach Kant notwendig der Vielfältigkeit, dem Pluralen. In Kants Anthropologie ist das Selbstverständnis des Einzelnen als Weltbürger Ausgangspunkt seiner Beschäftigung mit dem Menschen. Pragmatische Anthropologie richtet sich auf das, »was der Mensch als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.« (Anth, AA 7: 119) Kants anthropologische Überlegungen sind also in Verbindung mit seiner kosmopolitisch ausgerichteten geschichtsphilosophischen Konzeption zu betrachten und stützen diese. Sein Theorem der ›ungeselligen Geselligkeit‹ kann als Kern der Kantischen Philosophie der Intersubjektivität angesehen werden und gleichzeitig als Motor zur Realisierung der Menschheit in uns. Der Mensch erweist sich »als sozial-antisoziales Wesen [im Verhalten] zu seinen Mitmenschen«.18 Kant überträgt das Theorem auf innerstaatliche, zwischenstaatliche und globale Prozesse und versieht seine Intersubjektivitätstheorie so mit einer politischen Dimension.19 Der Antagonismus lässt demnach »den Zwiespalt verstehen […] zwischen Individualismus und dem Wunsch nach Zugehörigkeit im kleinen,

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Belwe, Andreas: Ungesellige Geselligkeit: Kant: Warum die Menschen einander ›nicht wohl leiden‹, aber auch ›nicht voneinander lassen‹ können. Würzburg (Königshausen & Neumann), 2000, S. 20f. Die ›ungesellige Geselligkeit‹ zwischen Einzelwesen entspricht im zwischenstaatlichen Bereich dem Krieg: Krieg bedeutet nach Kant »Widerstreit der Kultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts«. (Vgl. Belwe 2000: 27) Gleichzeitig treibt er die Kulturentwicklung zunächst voran, bis Menschen Kriege »ganz schwinden zu lassen sich genötigt sehen werden, um eine Verfassung einzuschlagen, die ihrer Natur nach, ohne sich zu schwächen, auf echte Rechtsprinzipien gegründet, beharrlich zum Besseren fortschreiten kann«. (Vgl. ibd.) Belwe zitiert hier Kant, Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt, a.a.O., S. 367.

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Interkulturelles Philosophieren

zwischen Nationalismus und Globalisierung im großen.«20 Dies gilt gleichermaßen für den Widerstreit zwischen Partikularismus und Universalismus und zwischen dem Lokalen und Globalen. Gerade mit diesem Theorem zeigt die Geschichtsphilosophie Kants ihre Bedeutung für sein philosophisches Gesamtkonzept. »In der Geschichte erblickt Kant den Seinsraum, in dem der Mensch auf approximierende und optimierende Weise zu seinem Menschsein gelangen kann.«21 Weiter heißt es bei Belwe: »Die ungesellige Geselligkeit der Menschen ist als anthropologische Faktizität gesetzt. Ohne den Gegensatz verschiedener Naturanlagen, ohne den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft als Mechanismus von Konkurrenz und Selbstbehauptung könnten die zugrundegelegten Naturanlagen nicht zur Verfeinerung gebracht und auch den Menschen als Sozial- und Einzelwesen nicht herausdifferenzieren, denn nur als Sozialwesen kann der Mensch Individualwesen werden. Sowohl autonomes als auch sozialkompetentes Einzelwesen kann der Mensch nur werden, wenn er Sozialwesen geworden ist.«22 Einzelwesen und Sozialwesen Mensch stehen also auch bei Kant in einem engen Bezug zueinander, was in der Kantischen Rezeption zumeist nicht deutlich genug herausgestellt wird: über dem Einzelwesen, dem Sitz der menschlichen Vernunft, wird das Sozialwesen Mensch in seiner theoretischen Bedeutung zumeist geringgeschätzt bzw. vergessen. Schon der Wunsch nach Anerkennung und Geltung zeigt das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein trotz aller ungeselligen Eigenschaften des Menschen. Auch Kants Konzept der erweiterten Denkungsart setzt das Einbeziehen des Anderen voraus und betont das Denken vom Anderen her als gedankliche Realisation anderer Denkweisen und Positionen zur Relativierung des eigenen Standpunkts mit dem Ziel des Respekts gegenüber Anderen aufgrund ihrer menschlichen Würde. Die erweiterte Denkungsart bildet ein Gegengewicht zum universal ausgerichteten Denken in Kants Philosophie. Insbesondere dieses Theorem erlaubt interkulturelles Philosophieren auch ausgehend von Kant zu denken.

20 21 22

Belwe 2000: 9. Belwe 2000: 12. Belwe 2000: 17. Und weiter unterscheidet er: »Freiheit zum Zusammenschluß (Geselligkeit) und als dessen Gegenpol Freiheit zur Unabhängigkeit (Ungeselligkeit) in der gegenseitigen, verfassungsrechlichen Gewährleistung der Autonomie.« (Belwe 2000: 27)

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Kants Universalismus in seiner Konzeption des Menschen, die auf der menschlichen Vernunftausstattung und seiner Moralität basiert, wird von den von Kant konstatierten Unterschieden im Hinblick auf Rasse und Geschlecht zwar konterkariert, aber nicht aufgehoben. Dieser unvollkommene Universalismus bzw. Egalitarismus Kants steht zurecht immer wieder in der Kritik. Sein Konzept des Kosmopolitismus versucht u.a. die weltweiten internationalen Handelsbeziehungen durch vertragliche Übereinkünfte und die Etablierung eines internationalen und weltbürgerlichen Rechts zu regulieren und legitimierbar zu gestalten. Damit schafft er eine Grundlage für die Etablierung von Republiken, die nach Kant auf freiwilliger Basis nach und nach auf globaler Ebene in einen föderativen Bund mit dem Ziel des Ewigen Friedens übergehen. Mit seiner Philosophie erhebt Kant den Anspruch auf die Präsentation universeller Erkenntnisse im Sinne einer universalen Gültigkeit, verbürgt durch die Apriorität der Vernunftausstattung. Grundlage seines kosmopolitischen Konzepts ist seine normative Auffassung vom Menschen, von Menschheit und Person, deren Realisierung im Geschichtsprozess auf der Basis teleologischer Grundannahmen angedacht ist. Die Realisierung der Menschheit in uns erfordert demnach gleichermaßen die kosmopolitische Ausrichtung seiner Philosophie.

2.2.2

Kosmopolitismus, Weltbürgerschaft und ewiger Frieden bei Kant23

Kant spricht sich gegen einen elitären Kosmopolitismus aus, wie er z.B. von Wieland vertreten wird, und vertritt eine egalitäre Position, die auf dem Menschen als Vernunftwesen und damit auf Rationalität24 als Grundvorausset23

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Die folgenden beiden Abschnitte über Kant beruhen auf Passagen aus dem Text: Rainsborough, Marita: »Kant revisited. Die kritische Auseinandersetzung mit Kants Universalismus und Kosmopolitismus in der afrikanischen Philosophie«. In: Falduto, Antonio; Klemme, Heiner (Hg.): Kant und seine Kritiker – Kant and his Critics. Hildesheim, Zürich, New York (Olms Verlag), 2018, S. 373-391. Kants Kosmopolitismus wird vom Romantischen Kosmopolitismus eines Novalis und Schlegel auf Grund seiner Betonung der menschlichen Rationalität vorgeworfen, er vernachlässige die Bedeutung der Gefühle: »For example, key figures in romantic cosmopolitanism, such as Novalis and Friedrich Schlegel, criticized Kant for relying on enlightened self-interest as conductive to peace and for disregarding the importance of feelings. They developed an alternative cosmopolitan ideal that revolved around the emotional and spiritual unity of humankind.« In: Kleingeld, Pauline: Kant and Cosmopolitanism: The Philosophical Ideal of World Citizenship. Cambridge, New York, Mel-

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Interkulturelles Philosophieren

zung für Moralität und Politik rekurriert. »Kant designated all humans, qua rational beings, as fellow citizens of a shared moral world.«25 Die Teilhabe an der moralischen Gemeinschaft aller Menschen qua Menschsein beinhaltet nach Kant auch eine rechtliche Strukturiertheit der Gesellschaft, wobei partikuläre Verbindlichkeiten zum Tragen kommen, aber auch überschritten werden sollen. Kant versteht Kosmopolitismus, wie Kleingeld betont, auch als Haltung: »Instead, on Kant’s view, cosmopolitism is an attitude taken up in acting: an attitude of recognition, respect, openness, interest, beneficence and concern toward other human individuals, cultures, and peoples as members of one global community. One need not travel at all to merit the designation of being a citizen of the world.«26 Das rationale Wesen des Menschen verkörpert eine weltumspannende Gemeinsamkeit, die sowohl dem moralischen als auch dem rechtlichen und politischen Handeln zugrunde liegt. Kants politischem Kosmopolitismus ist sowohl mit einem epistemischen als auch ethischen Kosmopolitismus verbunden, wobei universale Prinzipien im Bereich Erkenntnis, die Apriorität von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft betreffend, und Moral mit dem praktischen Prinzip apriori in Form des kategorischen Imperativs das Fundament seines politischen Konzepts bilden. Kant versteht Weltbürgerschaft also zum

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bourne et al. (Cambridge University Press), 2012, S. 8. Auch wenn sich nach Kleingeld der Vorwurf der Vernachlässigung des Emotionalen bei Kant nicht aufrechterhalten lasse, da er wiederholt die affektiven Voraussetzungen des Kosmopolitismus betone, wie z.B. in seiner Auffassung zum Patriotismus deutlich wird, kann doch bei Kant zurecht vom Primat der Rationalität gesprochen werden. Kleingeld 2012: 17. Kleingeld macht darauf aufmerksam, dass Kant dieser egalitären Position selbst nicht immer gerecht wird: »It should be added straightaway, however, that Kant does not always follow his own egalitarian theory in practice. There is some irony in the fact that Wieland, despite his inegalitarian bent, is more critical of sexism and racism than Kant.« (Kleingeld 2012: 18) Trotz der inneren Widersprüche hält es Kleingeld für wichtig, die grundsätzlich egalitäre Position des Kantischen Kosmopolitismus deutlich herauszustellen. Sie beruhe primär auf Kants ethischem Prinzip, dem kategorischen Imperativ. (Vgl. Kleingeld 2012: 18) Weiter heißt es: »There are subtle differences between these various ideas, but their common core is that all rational beings are conceived (and should conceive of themselves) as fellow citizens in a moral community that transcends all other communities, and that all are united into this community by common laws.« (Kleingeld 2012: 17) Kleingeld 2012: 1.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

einen im Sinne der Stoa als Mitgliedschaft in einer moralischen Weltgemeinschaft, darüber hinaus aber auch als Qualität von Einstellungen und Handlungen im Bereich von Kultur, Ökonomie und Politik, die globale internationale Einrichtungen zu ihrer Praktizierung voraussetzen.27 Nach Kleingeld lässt sich bei Kant eine Entwicklung hinsichtlich der Konzeption eines Staatenbundes beobachten, weg von einem weltstaatähnlichen Zusammenschluss, der im Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) angestrebt wird. Hier wird der lose Staatenbund zunächst nur als erster Schritt zu einem engeren Bund angesehen, hin zu einem föderativen Staatenbund, der in der Schrift Zum ewigen Frieden propagiert wird.28 Kant werde sich im Verlauf der Zeit immer stärker der mit einer Weltrepublik verbundenen Gefahr des Despotismus bewusst. Er entscheide sich deshalb eher aus pragmatischen Gründen als aus einer grundsätzlichen Ablehnung heraus für einen föderativen Verbund.29 Kosmopolitisches Ziel ist nach Kant also ein Völkerstaat als föderativer, alle Staaten der Welt umfassender freiwilliger Bund und keine ggf. mit Zwang errichtete Weltrepublik.30 27

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»Kant, by contrast, does address global political institutions, extending his cosmopolitism beyond the moral context. In Toward Perpetual Peace and The Metaphysics of Morals, he posits an analogy between individuals (who should leave the state of nature and establish a state) and states (which should leave the state of nature and form a federation).« (Kleingeld 2012: 43) »In the third essay in ›On the Common Saying‹ (1793), no mention is made of such a league. Here Kant criticizes the ideal of a world state under one head, with the argument that it is likely to result in dangerous despotism. […] The idea of a loose league is mentioned for the first time in ›Toward Perpetual Peace‹ (1795).« (Kleingeld 2012: 48) Bei Kant heißt es dazu im zweiten Definitivartikel von seiner Schrift Zum ewigen Frieden: »Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß eben so wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer weiter ausbreitenden Bundes den Sturm der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs […].« In: Kant, Immanuel: Kants Werke Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781. Berlin, New York (Walter de Gruyter), 1968, S. 357. Kleingeld macht auf eine Entwicklung von Kants Haltung aufmerksam. Vergleicht man Kants Aussagen aus Mitte der 1790er mit früheren, fällt die Veränderung seiner Posi-

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Interkulturelles Philosophieren

Nur durch die Freiwilligkeit des Vereinigungsprozesses läßt sich nach Kant die Tendenz zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten auf dem Weg zum ewigen, aber stets gefährdeten Frieden zähmen und rechtlichen und institutionellen Lösungen zum Durchbruch verhelfen. In Die Metaphysik der Sitten (1797) spricht Kant anstelle des Völkerbundes auch vom Staatenverein und permanenten Staatenkongreß (MdS, AA 6: 350), vorstellbar als föderativer Staat von Staaten, und betont deren Charakter als anzustrebendes Ideal. Kosmopolitismus ist nach Kant also deutlich mehr als ein individualistisches Nomadentum in einer global verstandenen Welt, und nicht bzw. nicht nur als ein Konzept globaler Gerechtigkeit und der Vorstellung von einer einheitlich regierten Welt zu verstehen. Es geht ihm um die Befriedung der Welt durch Selbstbestimmung und Kooperation in rechtlichen und institutionellen Zusammenhängen auf der Basis der Moralität. Kosmopolitismus und Patriotismus sind dabei nach Kant durchaus miteinander vereinbar.31 Kants Patriotismus als eine Form der Berücksichtigung partikulärer Interessen gelte allerdings nicht bedingungslos und beziehe sich nicht auf das Geburtsland an sich, sondern sei primär an ein gerechtes politisches System eines Staates gebunden. »In the older tradition of republicanism, patriotism is the citizens’ commitment to or love for their shared political freedom and the institutions that sustain it.«32 Die angestrebte Partizipation des Bürgers im Staat setzt danach ein patriotisches Empfinden voraus bzw. fördert es. Dieser Gesichtspunkt ermöglicht dem Einzelnen nach Kant seine Loyalität gegenüber einem Staatswesen an Bedingungen der Partizipation zu knüpfen. Kants Versöhnung von Patriotismus und Kosmopolitismus basiert darauf, dass Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit der Bürger in Selbstgesetzgebungsprozessen ein Gemeinwesen schaffen, das sowohl die Identifikation mit der bürgerlichen Aktivität im Einzelstaat als auch mit der

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tion hinsichtlich dieser Fragestellung auf. Sie beschreibt Kants Ringen um die angemessene Auffassung zu diesem zentralen Aspekt, bis er schließlich zur beschriebenen Position findet. »Moreover, he agrees with Wieland that world citizenship is compatible with loyality and special duties toward particular groups, such as one’s own state or one’s own family. Kant even goes so far as to say that patriotism is a cosmopolitan duty.« (Kleingeld 2012: 19) Kleingeld betont, dass die Kombination von Kosmopolitismus und Patriotismus bei Kant in der Sekundärliteratur zumeist übersehen werde. Kleingeld 2012: 21.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

im Staatenbund möglich erscheinen lässt.33 Sein Patriotismus wurzelt also in seinem Republikanismus, den er als repräsentatives System mit Gewaltenteilung begreift.34 »This duty is not based on consent or received benefits but flows from the special role citizens play in a republic. This is a role that they can play only for the republic in which they are citizens. Therefore, one could usefully distinguish this form of patriotism from other versions by calling it ›civic patriotism‹.«35 Dieser ›zivile Patriotismus‹ führt bei Kant nach Kleingelds Interpretation zu einer friedlicheren Welt.36 Das konstatierte Verhältnis zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus kann als ein Versuch der Verbindung von Universalismus und Partikularismus bei Kant angesehen werden und ist damit für die kritische Kantrezeption besonders auch im afrikanischen und afrodiasporischen Kontext von entscheidender Bedeutung, um z.B. lokalen Bindungen an eine Nation ihren Platz zu geben.

2.2.3

Universalismus und Kants Konzept der Rasse

Die menschliche Gattung weist nach Kant sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Allen Menschen gemeinsam ist ihre sinnlich-affektive Verfasstheit und die Vernunftausstattung, was in Kants Anthropologie und in seinen Kritiken dargelegt wird. Um Varietäten erfassen zu können, entwickelt Kant ein Konzept von Rasse auf der Basis des Theorems der Vererbbarkeit und der Anpassung an klimatisch-geografische Besonderheiten. Kant geht von der Annahme eines Menschenstammes bzw. einer ›Stammgattung‹ (VvRM,

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»Kant’s argument hinges on the fact that a just state is a system of self-government and that, conceptually, such a system entails that its citizens have special concern for their own state, at least to some degree.« (Kleingeld 2012: 28) Vgl. MdS, AA 6: 341, 319, 322 und MdS, AA 6: 315-17; zur Notwendigkeit des Rechts im Staat siehe z.B. MdS, AA 6: 236f., 255-57, 264-66, 311-13. Kleingeld 2012: 31. »Tending toward perpetual peace, which in turn enhances the stability of the republics themselves. In short, Kant’s view is that the more cosmopolitan patriots of the right sort there are in the world, the more people there are who support republican forms of government, and the more this will promote the cause of freedom, right, and worldwide-peace.« (Kleingeld 2012: 33)

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AA 2: 440) aus, die bei der Verteilung auf die geografisch und klimatisch unterschiedlichen Gebiete auf Grund vorhandener Dispositionen verschiedene Rassen ausbildet. Er spricht im Hinblick auf die Möglichkeit zur ›Auswicklung‹ von Keimen und Anlagen von einer Fürsorge der Natur. (Vgl. VvRM, AA 2: 434) Mit dieser Vorstellung wird zwar versucht, neben der Begründung durch die Rationalität aller Menschen auch auf der biologischen Ebene einen egalitären Ansatz zu begründen, doch wird dies durch kulturell-moralische Wertungen bezüglich verschiedener Rassen immer wieder kontakariert. Der Stammgattung am nächsten sind nach Kant »Weiße von brünetter Farbe.« (VvRM, AA 2: 441) Die verschiedenen Rassen weisen große Unterschiede hinsichtlich des Aussehens, des Temperaments und kultureller wie moralischer Fähigkeiten auf.37 Kant spricht Nicht-Weißen die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, ab. (Vgl. Refl, AA 15: 877f.) Viele Textstellen in Kants Schriften enthalten Nicht-Weiße instrumentalisierende Gedanken oder eine paternalistische Auffassung. (Vgl. z.B.: V-Anth Ko, AA 25: 362-365; V-PG, AA 26:178, 189; V-PG, AA 26: 236, 238; VvRM, AA 2: 438f.) Diese Ausführungen stehen Kants egalitärem Verständnis vom Menschen, das eurozentrisch konzipiert zu sein scheint (vgl. Bernasconi 2001, 2002, 2011; Eze 1997), und seinem erkenntnistheoretischen und moralischen Universalismus diametral entgegen und münden in einen inkonsistenten Universalismus bzw. Egalitarismus. Bernasconi spricht von einer »tension within Kant’s philosophy between his racism and his universalism.«38 Dieser Aspekt wird in der philosophischen Auseinandersetzung um Kant äußerst kontrovers diskutiert, zum einen wird dessen Bedeutung für Kants Philosophie bestritten (z.B. Louden 2002), zum anderen dessen Auswirkung auf seine Schlüsselkonzepte (z.B. Hill/Boxill 2001). Mills (2005) geht von einer Skalierung und

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Er teilt sie in seinem Aufsatz Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775) auf Grund von natürlichen Dispositionen in vier Gruppen ein: »Hochblonde (Nordl. Eur.)«, »Kupferrothe (Amerik.)«, »Schwarze (Senegambia)« und »Olivengelbe (Indianer)« (VRM, AA 2: 441). Kant geht dabei von einer Höherbewertung der europäischen Rasse aus. Im Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) klingt der Gedanke der Hegemonie und der Vorbildfunktion Europas an: »so wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Welttheile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird) entdecken.« (IaG, AA 8: 29) Bernasconi, Robert: »Kant’s Third Thought on Race«. In: Elden, Stuart; Mendietta, Eduardo (Hg.): Reading Kant’s Geography. Albany (Suny Press), 2011, S. 311.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Hierarchisierung im Konzept der Person bei Kant aus, von sogenannten ›subpersons‹. Kleingeld weist diesbezüglich nach, dass der Personenbegriff bei Kant mit dem Merkmal der Rationalität verbunden ist und nicht mit hierarchisierenden Klassifizierungen in Zusammenhang gebracht werden kann. Sie konstatiert bei Kant Mitte der neunziger Jahre ein Umdenken hinsichtlich der miteinander zusammenhängenden Aspekte Rasse und Kolonialismus und spricht von Kants Second Thoughts,39 eine These, die insbesondere von Bernasconi (2011) in Frage gestellt wird.40 Kants Umdenken lasse sich u.a. an seinem Konzept des kosmopolitischen Rechts ablesen, das er in seiner Schrift Zum ewigen Frieden und in Die Metaphysik der Sitten darlegt. Die koloniale Herrschaft eines Mutterlandes über die Tochter wird als ›Abwürdigung‹ bezeichnet (vgl. MdS, 6: 348) und der koloniale Status erweist sich als unvereinbar mit politischer Autonomie. Im Aufsatz Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) wird paternalistisches Regieren als despotisch bezeichnet. (Vgl. GTP, AA 8: 290f.) Diese an Beispielen aus der griechischen Antike und Großbritanniens Geschichte erläuterte Ansicht wird gleichermaßen auf den europäischen Kolonialismus bezogen. So heißt es in der MdS, dass »wir nicht in der Absicht, diese [bürgerliche Verbindung] zu stiften und diese Menschen (Wilde) in einen rechtlichen Zustand zu versetzen (wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentotten, die Neuholländer) befugt sein sollten, allenfalls mit Gewalt oder (welches nicht viel besser ist) durch betrügerischen Kauf, Kolonien zu errichten und so Eigentümer ihres Bodens zu werden und ohne Rücksicht auf ihren ersten Besitz Gebrauch von unserer Überlegenheit zu machen.« (MdS, AA 6: 266) Auch in der Schrift ZeF kritisiert er die europäische Gewaltanwendung in kolonialen Zusammenhängen. (Vgl. ZeF, AA 8: 358f.) So heißt es z.B.:

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Kleingeld, Pauline: »Kant’s Second Thoughts on Race«. In: The Philo-sophical Quarterly. 95(229), 2007, S. 573-592. Und: Kleingeld, Pauline: »Kant’s Second Thoughts on Colonialism«. In: Flikschuh, Katrin; Ypi, Lea (Hg.): Kant and Colonialism. Oxford (Oxford University Press), 2014, S. 43-67. Bernasconi wirft Kleingeld u.a. die fehlende Berücksichtigung der historischen Situation zur Zeit Kants vor, die eine andere Lesart erforderlich mache. Das Paradox zwischen moralischem Universalismus, kosmopolitischer Konzeption und Kants Konzept der Rasse ließe sich nicht auflösen. (Vgl. Bernasconi 2011)

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»Vergleicht man hiermit das inhospitable Betragen der gesitteten, vornehmlich Handel treibenden Staaten unseres Welttheils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuchen fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Cap etc. waren bei der Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten, denn die Einwohner rechneten sie für nichts.« (ZeF, AA 8: 358) An die Stelle des Paternalismus tritt das Aushandeln von Verträgen und das Ziel der Herstellung von Übereinstimmung. (MdS, AA 6: 353) Sklavenhandel mit Schwarzen (Refl, AA 23: 174) wie auch die Versklavung der einheimischen Bevölkerung des amerikanischen Kontinents (Refl, AA 23: 173f.) wird explizit als Bruch des Weltbürgerrechts kritisiert. Kolonisten in einem Land zu erlauben wie z.B. deutsche Kolonien in Russland bleibt allerdings denkbar. So sind nach Kant Einwanderung und Auswanderung wie auch die Verbannung in eine Provinz auf der Basis rechtlicher Bestimmungen möglich. Darüber hinaus nimmt er auf die Deutschen als Kolonisten im Hinblick auf unterschiedliche Volkscharaktere Bezug, die in fremden Ländern »eine Art bürgerlichen Verein« bilden und sich damit von den dortigen Bewohnern durch Sprache und Religion absondern.41 (Anth, AA 7: 317) In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) findet sich zur Thematik ›Rasse‹ nur noch ein sehr kurzer Abschnitt betitelt ›Der Charakter der Rasse‹. Kant fokussiert hier im Zusammenhang mit der Verschiedenheit der Rassen die Notwendigkeit den Aspekt der »Heterogenität der Individuen« (Anth, AA 7: 321). Die Thematik ›Rasse‹ scheint insgesamt betrachtet an Bedeutung verloren zu haben bzw. auf die Rolle der Begründungsfunktion für die Verschiedenartigkeit der Menschen reduziert worden zu sein, was gleichermaßen den Ausgangspunkt für die Verwendung des Begriffs darstellt. Kants poli-

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Die Textstelle aus Kants Anthropologie zu den Deutschen wird von Uimonen als Kritik an Pauline Kleingelds These von einer Veränderung des Kantischen Denkens in seinen späteren Schriften und als Beleg für »a wishful thinking of what Kant should have written« angesehen. (Uimonen 2014: 89f.) Dies scheint mir eine Überinterpretation zu sein, da hier keine Hierarchisierung von Völkern oder Rassen vorgenommen wird, sondern eine Tendenz zur Absonderung gegenüber Fremden bei Deutschen angesprochen wird. Diese Behauptung kann sicherlich zurecht bestritten werden. Bei Uimonen heißt es zur Kantischen Anthropologie: »By contrast, Kant maintains an elevated position in western philosophy, his cosmopolitan vision rarely scrutinized in relation to his racist ontology, shrouded as anthropology.« (Uimonen 2014: 97)

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

tische Philosophie betont nun vornehmlich nicht nur in moralischer, sondern auch in politischer Hinsicht – insbesondere von der Konzeption des Weltbürgerrechts ausgehend (vgl. ZeF, AA 8: 357-60; MdS, AA 6: 352f.; Refl, AA 23: 174) – Egalität und Universalität, was Kants Auffassung vom Menschen und das Zusammenleben in einem republikanisch ausgerichteten Staatenbund, der den Ewigen Frieden auf der Basis rechtlicher Vereinbarungen gewährleisten soll, entscheidend bestimmt.42 Das Weltbürgerrecht,43 ein Besuchsrecht, das kein Bleiberecht darstellt, betrifft das Verhältnis mit den Einwohnern anderer Staaten und von Staaten untereinander, soweit es nicht durch internationale Verträge bestimmt ist, und ist Grundlage der weltweiten Entwicklung hin zum auf Freiwilligkeit beruhenden föderativen Kosmopolitismus, wodurch die weltweite Kommunikation, der weltweite Austausch insbesondere von Handelsgütern und das friedvolle Zusammenleben befördert wird. Das Theorem des Weltbürgerrechts gilt als eines der wichtigsten Errungenschaften der Kantischen Philosophie, da mit ihm das Recht des Einzelnen gegenüber Staaten und Staatengemeinschaften theoretisch fundiert und einfordert wird. Damit übersteigt es den Rahmen des Bürger-, Staats- und Völkerrechts und bildet eine wesentliche Grundlage der rechtlichen Neukonzeption des Kosmopolitismus. Weltbürgerrecht trägt zur politischen Freiheit und Autonomie des Einzelnen bei und schützt ihn vor der Rechtlosigkeit gegenüber nationalen, internationalen und transnationalen Institutionen, womit es zur theoretischen Grundlage der Menschenrechte wird. In den folgenden Abschnitten soll die kritische Auseinandersetzung mit Kant in der afrikanischen und afrodiasporischen Gegenwartsphilosophie untersucht werden u.a. auch im Hinblick auf den Aspekt der Menschenrechte im Rahmen eines kosmopolitischen Konzepts.

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Die Ausführungen zum Thema Rasse treten allerdings nicht vollkommen zurück und wandeln sich im Sinne eines konsistenten Egalitarismus, wie Kants Nachschrift seiner Geographievorlesungen von 1792 zeigt. Bernasconi vergleicht Kants Denkfigur hinsichtlich von Rasse und Egalitarismus hiervon ausgehend mit dem Verhältnis von Krieg und Frieden und dem Theorem der ungeselligen Geselligkeit. (Vgl. Bernasconi 2011: 309, 311) Es beinhaltet, freundlich aufgenommen zu werden und bei Gefahr für das Leben nicht abgewiesen zu werden. Es ist nach Pauline Kleingeld weiter als das Asylrecht gefasst und Grundlage des bestehenden Flüchtlingsrechts. Vgl. Kleingeld, Pauline: »Six Varieties of Cosmopolitanism in Late Eighteenth-Century Germany«. In: Journal of the History of Ideas. 60(3), 1999, S. 514.

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Interkulturelles Philosophieren

2.3

Kosmopolitismus in der Philosophie von Appiah und Mbembe – eine kritische Auseinandersetzung mit Kant

2.3.1

Appiah’s Partial Cosmopolitanism zwischen Kant und Mill44

2.3.1.1

Kant und Appiahs Kosmopolitismus und Universalismus

Kosmopolitismus bedeutet nach Kwame Anthony Appiah im Rekurs auf Kant, dass jeder als ›citizen of the cosmos‹ bzw. ›citizen of the world‹ und nicht primär als Teil einer ›community among communities‹ angesehen werden muss. Nach Appiah haben wir aufgrund unserer ›shared citizenship‹ und ›shared humanity‹ Verpflichtungen Anderen gegenüber, die über die Verantwortung im Nahbereich hinausgehen.45 Appiah bezieht sich hiermit in dreierlei Hinsicht auf Kant: mit der Auffassung von der Bedeutsamkeit des Universalismus für den Kosmopolitismus, mit Kants Theorem des Weltbürgertums und seinem Rekurs auf die Menschheit im Sinne einer gemeinsamen Verfasstheit aller Menschen in moralischer Hinsicht und konzipiert diese neu. Auch die menschliche Ausrichtung an Idealen, am Kantischen Als Ob bzw. »our praktische[r] Absicht[,] has a Kantian taproot. The two-standpoints doctrine suggests, then, that talk of agency is guided by different interests or intentions from talk of structure; and we go only a little further when we say that these different interests make different idealizations appropriate, different as ifs useful.«46

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Der Abschnitt über die Philosophie von Kwame Anthony Appiah beruht auf Passagen aus dem Text: Rainsborough, Marita: »Kant revisited. Die kritische Auseinandersetzung mit Kants Universalismus und Kosmopolitismus in der afrikanischen Philosophie«. In: Falduto, Antonio; Klemme, Heiner (Hg.): Kant und seine Kritiker – Kant and his Critics. Hildesheim, Zürich, New York (Olms Verlag), 2018, S. 373-391. Vgl. Appiah, Kwame Anthony: Cosmopolitanism. Ethics in a world of strangers. London, New York, Dublin u.a. (Pinguin Books), 2007a, S. XIIff. Das Kosmopolitische ist nach Appiah in Zusammenhang mit der menschlichen Mobilität zu sehen: »The normadic urge is deep within us. […] We have always been a traveling species.« In: Appiah, Kwame Anthony: The Ethics of Identity. Princeton (Princeton University Press), 2007b, S. 215. Und an anderer Stelle: »[W]e are a traveling species as much as a settled one.« In: Appiah, Kwame Anthony: »Foreword«. In: Sassen, Saskia: Globalization and its Discontents; Essays on the New Mobility of People and Money. New York (The New York Press), 1998a, S. XI. Appiah 2007b: 58.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Auch der Rekurs auf die Kantische Autonomie als Selbstbestimmung im moralischen Handeln bleibt für Appiahs Theorie ein wichtiger Bezugspunkt.47 In Appiahs Philosophie sollen universelle Belange mit dem Respekt vor dem Andersartigen, Unterschiedlichen und Abweichenden zusammengedacht werden: »an obligation can be both special and universal.«48 Dabei will er den moralischen und den kulturellen Kosmopolitismus miteinander verbinden.49 Sein Universalismus erweist sich als moralischer Minimalkonsens, der von der Existenz kulturübergreifender moralischer Werte ausgeht. Er wird im Unterschied zu Kants formalem Vernunftprinzip der Ethik anthropologisch begründet und an gewohnheitsmäßiges Handeln der Menschen gebunden. Die motivationale Grundlage ist nicht Kants guter Wille und die Achtung vor dem Gesetz, sondern ein Konzept der moralischen Ehre, das er in seinem Werk The Honor Code: How Moral Revolutions Happen (2010) darlegt. »I am arguing, against Kant, that honor is another of the calls on us made by reason; it is a call that depends on our recognition of the many different standards presupposed by those codes of honor.«50 Dabei entscheidet er zwischen moralischen und ethischen Verpflichtungen, die eine Unterscheidung hinsichtlich des Grades der Verbindlichkeit aufweisen. Appiah begründet sie unter Rekurs auf Kants Ausführungen in Critique of the Power of Judgment.51 Sein Konzept nennt er Partial Cosmopolitanism bzw. Rooted Cosmopolitanism, der für ihn ein Ideal darstellt und als »project of liberal cosmopolitanism«52 verstanden werden kann. Es zeigt sich, dass Appiah zwar in der Kantischen Tradition steht, aber nicht dessen formale Ausrichtung des Universalismus auf der Grundlage des Prinzips des kategorischen Imperativs, die Konzentration auf die menschliche Vernunft in ihrer

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Appiah 2007b: 156. Appiah 2007b: 225. Vgl. Appiah 2007b: 222. Appiah, Kwame Anthony: The Honor Code: How Moral Revolutions Happen. New York, London (W. W. Norton & Company), 2010, S. 183. Bei Appiah heißt es: »The emotions and practices of honor − esteem, contempt, respect, deference − developed, it is reasonable to suppose, with hierarchy in troops of early humans.« (Appiah 2010: 184) »Kant, in the Critique of Judgment, said that in making aesthetic judgments ›one solicits assent from everyone else.‹ You might suppose there’s a similar distinction to be drawn here: where morality requires compliance, ethics calls for it.« (Appiah 2007b: 235) Appiah zitiert hier aus Kant, Immanuel: The Critique of the Power of Judgment. Trans. Paul Guyer and Eric Matthews. Cambridge (Cambridge University Press), 2000, S. 121. Appiah 2007b: 249. Siehe auch: Appiah 2007b: 258.

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Apriorität und die Auffassung der Naturteleologie übernimmt. Der Kantische Universalismus und Kosmopolitismus wird im Partial Cosmopolitanism – in kritischer Weise – ganz entscheidend verändert. »A cosmopolitanism with prospects must reconcile a kind of universalism with the legitimacy of at least some forms of partiality.«53 Dabei weist Appiah im Hinblick auf die Kritik am ›Enlightenment humanism‹54 darauf hin, dass weder der Universalismus noch die Aufklärung durch Mängel der Theorien von Kant – z.B. hinsichtlich seines Rassismus – gänzlich diskreditiert seien: »What has motivated the recent antiuniversalism has been, in large part, a conviction that past universalism was a projection of European values and interests. This is a critique best expressed by the statement that the actually existing Enlightenment was insufficiently Enlightened; it is not an argument that Enlightenment was the wrong project.«55 Für Appiah verkörpert die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit eine Gemeinsamkeit mit dem Anliegen der Aufklärung. So heißt es bei ihm: »I prefer to speak with the Enlightenment: to think of dialogue—and I don’t mean just the dialogue across nations that cosmopolitans favor—as a shared search for truth and justice.«56 Bezüglich der Forderung nach Gerechtigkeit stellt sich Appiah in die Tradition von Kant und betont immer wieder die Notwendigkeit und Bedeutung der Menschenrechte und den damit verbundenen inter- und transkulturellen Dialog.57 Über Kant hinaus gehend ist Gerechtigkeit bei ihm nicht primär 53

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Appiah 2007b: 223. An anderer Stelle sagt er: »Here is a respect for differance that remains committed to the existence of universal standards.« (Appiah 2007b: 247) Und weiter: »My complaint against antiuniversalism is that it protects difference at the cost of partitioning each community into a moral world of its own. And so you might suppose that such an approach has simply made itself irrelevant to the project of cosmopolitanism.« (Appiah 2007b: 249) Appiah 2007b: 251. Appiah 2007b: 250. Ibd. Und weiter heißt es: »If there is a critique of the Enlightenment to be made, it is not that the philosophes believed in human nature, or the universality of reason: it is rather that they were so dismally unimaginative about the range of what we have in common.« (Appiah 2007b: 258) Appiah, Kwame Anthony: »Grounding Human Rights«. In: Gutmann, Amy (Hg.): Human Rights as Politics and Idolatry: Michael Ignatieff . Princeton, Oxford (Princeton University Press), 2001, S. 101-116. Appiah konstatiert die mangelhafte philosophische Begründung der Menschenrechte und beklagt ihre mangelnde Durchsetzung. Im Hinblick

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

rechtlich zu verstehen, sondern auch mit der Möglichkeit zur Realisierung des persönlichen Lebensplans mit den dazu notwendigen materiellen, rechtlichen psychologischen, kulturellen etc. Bedingungen verbunden. Hinsichtlich der Frage der Wahrheit ruft Appiah zur Bescheidenheit auf und spricht vom »wisdom of epistemological modesty« und »an organized social enterprise of knowledge«.58 Die interkulturelle Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit bedeutet allerdings keine Vernächlässigung der afrikanischen Wurzeln, was Appiah in seinem Werk In my Father’s house: Africa in the philosophy of culture darlegt.59 Appiahs Theoremen liegt ein humanistisches Konzept zugrunde.60 Er begründet seinen Humanismus, »the appeal to human essence«,61 letztlich biologisch und leitet daraus sowohl seinen egalitären als auch seinen universalistischen Anspruch ab.62 Auch hier zeigt sich eine Ähnlichkeit zu Kants biologisch-organischer Naturauffassung, deren Grundannahmen sich in biologischen Metaphern offenbaren, allerdings nicht wie bei diesem teleologisch verstanden werden. Appiahs liberaler Kosmopolitismus betont gleichzeitig die Bedeutung der individuellen Würde des Einzelnen und der menschlichen Identität als individuelles Projekt der schöpferischen Selbstgestaltung im Sinne eines sozialen Konstruktes, wobei z.B. ethnische und nationale Identitäten »fit a personal

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auf die Lösung dieser Probleme plädiert er für einen pragmatischen Umgang mit ihnen, um die Verbreitung und Durchsetzung der Menschenrechte weiter zu befördern. (Appiah 2001: 108f.) Auch Deng weist auf die mit den Menschrechten verbundene Notwendigkeit zum internationalen Aushandeln von Inhalten etc. hin: »cross-cultural perspectives on human rights with a view to balancing universality with relativism«. In: Deng, Francis M.: »Human Rights in the African Context«. In: Wiredu, Kwasi (Hg.): A Companion to African Philosophy. Oxford (Blackwell Publishers), 2006, S. 506. Appiah, Kwame Anthony: In my Father’s house: Africa in the philosophy of culture. New York, Oxford (Oxford University Press), 1992, S. 117, 129. »We all experienced the persistent power of our own cognitive and moral traditions.« (Appiah 1992: 7) »For what I am calling humanism can be provisional, historically contingent, antiessentialist (in other words, postmodern), and still be demanding. We can surely maintain a powerful engagement with the concern to avoid cruelty and pain, while nevertheless recognizing the contingency of that concern.« (Appiah 1992: 155) Appiah 2007b: 252. »I happen to believe that there is such thing as a universal human biology, that there is a biological human nature. I would say, for example, that it is shaped by the more than 99 percent of our genes that we all share, by the fact that our closest common ancestor may have lived a little more than a hundred thousand years ago.« (Ibd.)

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narrative into a larger narrative.«63 Dieses Ringen um Identität in einem narrativen Prozess, der die Anerkennung des Anderen voraussetzt, ist allen Menschen zueigen und verbindet sie miteinander. Appiah setzt auf Verständigung − verstanden als cross-cultural communication − durch gemeinsame Kommunikation: »So I’m using the word ›conversation‹ not only for literal talk but also as a metaphor for engagement with the experience and the ideas of others. And I stress the role of imagination here because the encounters, properly conducted, are valuable in themselves. Conversation doesn’t have to lead to consensus about anything, especially not values, it’s enough that it helps people get used to one another.«64 Appiah glaubt an die Kraft der Gewohnheit im Umgang der Menschen miteinander. Im ethischen Bereich geht es ihm um ein substantielles Konzept des Guten und er spricht sich gegen den reinen Formalismus und Prozeduralismus Kants aus.65 Appiah sagt: »Despite first appearances, then, Kant’s rather abstract universalizability principle is not going to be enough to get us a content for morality.«66 Dennoch möchte Appiah nicht auf die Anwendung von Kants Universalisierungsgebot verzichten, um moralische Fehlurteile zu vermeiden und moralisches Urteilen zu verbessern.67 An anderer Stelle heißt es über die Bedeutung von Rationalität im moralischen Bereich: »We do not need the full apparatus of Kantian ethics to require that morality be constrained by reason.«68 Kants Formel zur Universalisierung ist nach Appiah auch zur Verhinderung diskriminierender Urteile unter Bezug auf rassische Unterschiede

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Appiah 2007b: 23. Appiah 2007a: 85. Appiah, Kwame Anthony: »Identity, Authenticity, Survival: Multicultural Societies and Social Reproduction«. In: Gutmann, Amy (Hg.): MULTICULTURALISM. Examining the Politics of Recognition: Charles Taylor. Princeton, New Yersey (Princeton University Press), 1994, S. 159. Appiah, Kwame Anthony: Thinking It Through: An Introduction to Contemporary Philosophy. Oxford et al. (Oxford University Press), 2003, S. 201. »And if two people share all the properties morally relevant to some action we ought to do, it will be an error – a failure to apply the Kantian injunction to universalize our moral judgments – to use the bare facts of race as the basis for treating them differently.« (Appiah 1992: 18) Appiah 1992: 19.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

geeignet. Moralität erschöpft sich allerdings nicht in diesem formalen Charakter, sondern hat für Appiah damit zu tun, dass Menschen versuchen, »to make a success of their lives.«69 Er möchte, dass materielle und soziale Aspekte in der Moral Berücksichtigung finden und sieht darin eine Nähe seines Ansatzes zur Aristotelischen Ethik.70

2.3.1.2

Identität, Ethik und Kosmopolitismus bei Appiah

Im Zentrum von Appiahs Partial Cosmopolitanism steht sein Konzept der Identität. Appiah betont, dass sein Rekurs auf den Liberalismus insbesondere die individuelle Situation des Einzelnen betrifft. Ausgangspunkt ist Mills71 Aspekt der ›individuality‹. Jeder Mensch steht vor der Aufgabe sein persönliches Leben unter der Berücksichtigung seiner Verantwortung seinen Mitmenschen gegenüber im gegebenen Umfeld zu gestalten und aus den ihn gegebenen Möglichkeiten zu wählen und Entscheidungen zu treffen. Sein Schlüsselbegriff Identität legt zwar das Missverständnis nahe, im Sinne von Ganzheit z.B. in psychologischer Hinsicht oder als ›homogeneity of difference‹ im ethischen Sinne, verstanden zu werden, hat aber gegenüber Konzepten von Rasse oder Kultur den Vorteil, stärker am Individuum ausgerichtet zu sein. »If there is something distinctive in my approach, it is that I start always from the perspective of the individual engaged in making his or her life, recognizing that others are engaged in the same project, and concerned to ask what social and political life means for this ethical project we share. This is then, I want to emphasize, a work of ethics, in the special sense I have picked out, and not of political theory, because it does not start with an interest in the state.«72 Die Gestaltung des eigenen Lebens wird von Appiah als ethisches Projekt verstanden, das nur im Kontext mit den individuellen Lebensplänen der Anderen 69 70

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Appiah 2003: 217. Vgl. ibd. Siehe dazu auch Appiah, Kwame Anthony: »The Illusions of Race«. In: Eze, Emmanuel, Chukwudi (Hg.): African Philosophy: An Anthology. Malden, Oxford, Carlton (Blackwell Publishers), 1998b, S. 275-290. Und: Appiah, Kwame Anthony: »The Uncompleted Argument: Du Bois and the Illusion of Race«. In: Bernasconi, Robert; Lott, Tommy L. (Hg.): The Idea of Race. Indianapolis, Cambridge (Hackett Publishing), 2000, S. 118-135. Appiah würdigt insbesondere Mills Schrift On Liberty. Appiah 2007a: XVII.

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angemessen verstanden werden kann. Die ethischen Vorhaben des Einzelnen sind im Weiteren dann auch politisch im Sinne des Kosmopolitismus zu verstehen. »[T]he others whose ethical projects matter are not only our fellow citizens, they are also the citizens of every other nation on the planet.«73 Bei Appiah heißt es an anderer Stelle: »But he argued with a special fervor that the cultivation of one’s individuality is itself part of well-being, something good in se, and here liberty is not an means to an end but part of the end. For individuality means, among other things, choosing for myself instead of merely being shaped by a constraint of political or social sanction.«74 Appiah übernimmt in diesem Zusammenhang Mills Vorstellung vom individuellen Lebensplan als Teil einer individuellen Verwirklichung: »He who chooses his plan for himself, employs all his faculties.«75 Zugrunde liegt ein Konzept der individuellen Wahl, der Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, der Fähigkeit zu Entscheidungen, der Präferenzenabwägung, von Zielgerichtetheit und des Wunsches zur Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten im menschlichen Denken und Handeln und damit das Menschenbild des Liberalismus.76 Appiah geht dabei von der Konzeption der individuellen Ausgestaltung der singulären Existenz bei Mill aus: »[H]is own mode of laying out his existence«.77 Die Individualität bezieht sich nach Mill und mit ihm Appiah sowohl auf die Voraussetzungen des Einzelnen für seine Lebensgestaltung als auch auf die Ergebnisse der Entwicklungsprozesse des Individuums. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Aspekt der Selbstgestaltung,

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Appiah 2007a: XVII. Die Bedeutung politischer Voraussetzungen für diesen Prozess spricht auch aus folgendem Zitat Mills: »Jeder Schritt voran in der Verbesserung politischer Verhältnisse fördert diese Entwicklung, indem er die Ursachen von Interessengegensätzen beseitigt und die rechtlichen Ungleichheiten zwischen den Individuen und zwischen den Klassen ausgleicht, die es auch heute noch erlauben, das Glück großer Teile der Menschheit außer acht zu lassen.« (Mill 2002: 57) Appiah überträgt diese Vorstellung, die sich auf einen Nationalstaat bezieht auf globale politische Zusammenhänge. Appiah 2007a: 5. Ibd. Appiah zitiert hier aus Mills On Liberty. Vgl. dazu: Mill, John Stuart: On Liberty: Über die Freiheit. Stuttgart (Reclam), 2009. »[F]or Mill the activity of choosing had a rational dimension, was bound up in observation, reason, judgment, and deliberation.« (Appiah 2007a: 7) Appiah 2007a: 5. Appiah zitiert hier aus Mills On Liberty.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

der ›self-creation‹, des Individuums und der Betonung der Notwendigkeit von Freiheit als Voraussetzung für diesen Prozess.78 Appiah hält Kritikern an dieser Konzeption wie Daniel A. Bell, J. L. Mackie u.a. entgegen, dass er Lebenspläne nicht als stringent durchgängig versteht, sondern als disparat und vielfach wechselnd.79 Appiah spricht sich in diesem Zusammenhang für die Eigenverantwortung des Einzelnen hinsichtlich seiner Lebensgestaltung aus: »All of us could, no doubt, have made better lives than we have: but that, Mill says, is no reason for others to attempt to force those better lives upon us.«80 Wie Mill betont Appiah, dass Individualität nicht im Gegensatz zur Soziabilität steht: »This can lead us to think that the good of individuality is reined in by or traded off against goods of sociability so that there is an intrinsic opposition between the self and society.«81 Appiah geht von einer Interdependenz zwischen der Selbstgestaltung des Einzelnen und seiner sozialen Verankerung aus: »individuality presupposes sociability«.82 Er widerspricht sowohl der existentialistischen Auffassung von Selbstgestaltung als auch der Vorstellung von Authentizität, des Sich-selbst-treu-Seins, und betont die Abhängigkeit der Selbstgestaltung von gesellschaftlichen, geografischen und historischen Faktoren und der grundsätzlichen Möglichkeit zu Veränderung. Identität ist bei Appiah, hier besteht eine Verwandtschaft zu Charles Taylors Auffassung,83 dialogisch konzipiert. Die soziale Verankerung der individuellen Identität ist auch als Grundlage der menschlichen Moralität zu betrachten. Appiah zitiert hier Mill: »This conviction is the ultimate sanction of the great-

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»Still, I think it is best to read Mill as finding inherent value not in diversity – being different – but in the enterprise of self-creation. […] On Liberty defends freedom because only free people can take full command of their own lives.« (Appiah 2007a: 6) »The critics have a point. No doubt such plans can be misleading if we imagine that people stride around with a neatly folded blueprint of their lives tucked into their pocket – if we imagine life plans to be singular and fixed, rather than multiple and constantly shifting.« (Appiah 2007a: 8) Nicht jede Wahl muss rational ausfallen: »First, it is hard to accept the idea that certain values derive from my choices if those choices themselves are just arbitrary.« (Appiah 2007a: 14) Appiah 2007a: 14. Weiter heißt es bei Appiah: »the mere fact that I have chosen a plan of life recommends it.« (Appiah 2007a: 14f.) Appiah 2007a: 15. Appiah 2007a: 20. Vgl. Taylor, Charles: The Ethics of Authenticity. Cambridge (Harvard University Press), 1991.

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est happiness morality.«84 Werte sind als der Identität inhärent zu verstehen: »many values are internal to an identity«.85 Appiah spricht von »a person’s ethical self.«86 So verbindet sich in Mills philosophischem Konzept – und von ihm ausgehend auch in Appiahs Theorie – Individualität, Soziabilität, Moralität, Freiheit, Autonomie und Glück. Zwar ist der Gestaltungsprozess des Lebens nicht grundsätzlich als Projekt der individuellen Vervollkommnung zu verstehen, aber diese kann durchaus wesentlicher Bestandteil individueller Lebenspläne sein.87 Dabei beinhaltet die Konstruktion von Identität das Erzählen von Lebensgeschichten individueller wie kollektiver Art. »I made a distinction earlier between a personal and a collective dimension of identity. Both play a role in these stories of the self.«88 Identitäten werden demnach erzählerisch konstruiert.89 Voraussetzung für die Gestaltung der persönlichen Identität sind sowohl rationale Fähigkeiten wie z.B. Kalkulieren und Verarbeiten von Informationen als auch ein ›informed desire‹; in Bezug auf Letzteres rekurriert Appiah auf James Griffin.90 Erziehung in rationalem, emotionalem und sozialem Bereich spielt dabei, wie auch Mill betont, eine große Rolle. Zu den Momenten der Identitätskonstruktion zählen Kategorien wie Rasse, Gender, Nation, Stamm, die auf Fiktionen beruhen. Appiah belegt in seinen Schriften z.B. die wissenschaftliche Haltlosigkeit der Konzepte ›Rasse‹,91 ›Stamm‹ und ›Nation‹ und warnt eindringlich vor einer biologisch begründeten Auffassung von Rasse. »In short, I think it is clear enough that a biologically rooted conception of race is both dangerous in practice and misleading in 84 85 86 87 88 89

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Appiah 2007a: 21. Appiah zitiert hier aus Mills Utilitarism (Collected Works 10, S. 233). Appiah 2007a: 24. Appiah 2007a: 163. Mill glaubt im Unterschied zu Bentham an qualitative Unterschiede hinsichtlich der menschlichen Bedürfnisse, die seinen Konsequentialismus bestimmen. Appiah 2007a: 23. »Every human identity is constructed, historical; every one has its share of false presuppositions, of the errors and inaccuracies that courtesy calls ›myth‹, religion ›heresy‹, and science ›magic‹. Invented histories, invented biologies, invented cultural affinities come with every identity; each is a kind of role that has to be scripted, structured by conventions of narrative«. In: Appiah, Kwame Anthony: »African Identities«. In: Boxill, Bernard (Hg.): Race and Racism. Oxford, New York u.a. (Oxford University Press), 2001, S. 373. Vgl. Appiah 2007a: 170f. Appiah kritisiert u.a. Du Bois, da hinter dessen soziohistorischer Konzeption von Rasse eine biologische verborgen sei. »The truth is that there are no races«, stellt Appiah fest. (Appiah 1998b: 287)

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

theory: African unity, African identity, need securer foundations than race.«92 Er spricht sich gegen eine rassisch fundierte Identitätskonstruktion aus und hält sie für rückschrittlich: »[…] racialized conception of one’s identity is retrogressive.«93 Er glaubt daran, dass das Verkünden theoretischer Wahrheiten langfristig nicht ohne Folgen bleibt, und sieht Intellektuelle94 in der Pflicht, Aufklärung zu leisten. Dennoch denkt er, dass es aus strategischen Gründen sinnvoll sein kann, auf bestimmte ideologisch behaftete Konzepte zurückzugreifen, da sie mobilisierenden Charakter haben und Menschen im gemeinsamen Kampf für eine bessere Welt vereinen können. »I am […] enough of a political animal to recognize that there are places where the truth does more harm than good.«95 Als Beispiel nennt er den Pan-Africanism als internationales Projekt. »In sum, the demands of agency seem always – in the real world of politics – to entail a misrecognition of its genesis; you cannot build alliances without mystifications and mythologies.«96 So kann das Konzept ›Black Person‹ Allianzen zwischen Afrikanern, Afro-Amerikanern und anderen außerhalb Afrika lebenden Schwarzen knüpfen helfen.97 Aus der Relativität der Identitätskonzepte schließt Appiah, dass sie in den unterschiedlichen gesellschaftlich-historischen Situationen jeweils neu betrachtet und bewertet

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Appiah 2001: 375. Appiah 2001: 380. Intellektuelle sind nach Appiah »searchers after truth«. (Appiah 2001: 374) Appiah 2001: 373. In seinem pragmatischen Umgang mit Prinzipien weist Appiah erneut eine Ähnlichkeit zu Mill auf. Es heißt bei Mill: »Nicht eine bestimmte moralische Überzeugung, sondern die Verwickeltheit aller menschlichen Verhältnisse ist der Grund dafür, daß wir die Handlungsregeln nicht so formulieren können, daß sie ohne Ausnahmen auskommen, und daß es kaum eine einzige Handlungsweise gibt, die wir unbedenklich für stets geboten oder stets verboten erklären können.« In: Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Stuttgart (Reclam), 2002, S. 43. Hinsichtlich dieser Spielräume verlässt sich Mill »auf die moralische Verantwortung des Handelnden«. (Mill 2002: 44) Diese ist in einem subjektiven Gefühl verankert. Es heißt bei ihm: »die Gewalt, von der man getrieben wird, ist das subjektive Gefühl, und sie bemißt sich nach der Stärke dieses Gefühls.« (Mill 2002: 51) Appiah 2001: 374. Allerdings können andere Allianzen z.B. mit Migranten anderer Hautfarbe so auch behindert werden.

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werden müssen.98 Erstrebenswert ist nach Appiah eine kosmopolitisch ausgerichtete Identität.99 Weiter heißt es bei ihm: »but in this world of genders, ethnicities, and classes, of families, religions, and nations, it is as well to remember that there are times when Africa is not the banner we need.«100 Auch den Rekurs auf eine afrikanische Authentizität, wie sie z.B. in der Literatur von Soyinka zu finden ist, hält Appiah für problematisch, er spricht von »the mythology of authenticity«.101 Appiahs Betonung der Notwendigkeit von Identitätskonzepten zur politischen Mobilisierung für Frieden und Fortschritt steht deutlich im Gegensatz zu Kants philosophischem Konzept, in dem diese Ziele in der menschlichen Vernunft und in der teleologischen Verfasstheit der Natur angelegt sind. Es zeigt sich, dass Appiah in seinem Rekurs auf Mill zur Vermeidung des Kantischen Universalismus und Formalismus die theoretischen Angebote Kants zur Lösung des Verhältnisses von Partikularismus und Universalismus übersieht und dass sein Partial Cosmopolitanism im Unterschied zu Kant Defizite im Bereich der Konzeptionierung politischer Strukturen und politischer Organisation sowie rechtlicher und institutioneller Implementierung aufweist. Die von Appiah fokussierten Aspekte – wie insbesondere die Frage nach der Identitätsbildung in einer heterogenen Weltgemeinschaft und nach der Herstellung von Konsens im weltweiten Kontext – bedürften für ihre praktische Umsetzbarkeit einer Ergänzung durch Theorieelemente der Geschichtsphilosophie Kants. Wiederum ist es Appiahs Verdienst die Ebene der Identitätsbildung in pluralen Gesellschaften im globalen Kontext durchdacht zu haben.

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»Because the value of identities is thus relative, we must argue for and against them case by case. And given the current situation in Africa, I think it remains clear that another Pan-Africanism – the project of a continental fraternity and sorority, not the project of a racialized Negro nationalism – however false or muddled its theoretical roots, can be a progressive force.« (Appiah 2001: 381) 99 Vgl. Appiah, Kwame Anthony: Identitäten: Die Fiktionen der Zugehörigkeit. München (Hanser Berlin), 3 2021, S. 297. 100 Appiah 2001: 382. 101 Appiah, Kwame Anthony: »African Philosophy and African Literature«. In: Wiredu, Kwasi (Hg.): A Companion to African Philosophy. Malden, Oxford, Carlton (Blackwell Publishers), 2006, S. 540. Appiah kritisiert insbesondere Soyinkas schriftstellerisches Projekt der Suche nach einer afrikanischen Authentizität. (Vgl. Appiah 2006: 540ff.)

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Appiahs102 Ausrichtung am individuellen Glück bzw. an der individuellen Zufriedenheit steht in Kontrast zu Kants Theorem der Glückswürdigkeit. Zwar kann Appiah zentrale Kritikpunkte an der Kantischen Theorie wie formale Strenge, Vernachlässigung des Partikulären, naturrechtliche Begründung der teleologischen Auffassung, Vernachlässigung der soziohistorischen und geografisch-politischen Bedingtheiten in seiner Konzeption umgehen, doch bringt sein Rekurs auf Mill neue Probleme mit sich. Appiah legt den Fokus auf den Aspekt der Identität, die mit Moralität verbunden wird, auf das Modell der Konversation, das im konkreten Umgang der Menschen miteinander neue Gewohnheiten schafft, und auf ideologische Identitätsangebote, die im Handeln für gemeinsame Ziele mobilisieren sollen, sowie auf die Norm der kosmopolitischen Identitätsform. Zugrunde liegt Appiahs philosophischem Konzept außerdem ein universalistisches Modell von Moral, das einen Minimalkonsens aller Menschen als gegeben voraussetzt und die Hierarchie der Werte als verhandelbar ansieht. Dieser Konsens scheint letztlich – unausgesprochen – auf Mills Konsequentialismus hinauszulaufen.103 Mills 102 Dieser Absatz findet sich vergleichbar in Rainsborough, Marita: »Rethinking Kant’s shorter Writings. Kant’s Philosophy of History and the actual Cosmopolitanism«. In: Orden Jimenéz, Rafael V.; Rivera de Rosales, Jacinto; Sánchez Madrid, Nuria; Hanna, Robert; Louden, Robert (Hg.): Kant’s Shorter Writing: Critical Paths outside the Critiques. Newcastle upon Tyne (Cambridge Scholars Publishing), 2016, 478-479. 103 Im Unterschied zu Benthams quantitativem Ansatz entwickelt Mill eine qualitative Form des Utilitarismus, so dass es nicht nur um das größtmögliche Glück der größten Zahl geht, sondern um die Erfüllung herausgehobener menschlicher Bedürfnisse. »Es wäre unsinnig anzunehmen, daß der Wert einer Freude ausschließlich von der Quantität abhängen sollte, wo doch in der Wertbestimmung aller anderen Dinge neben der Quantität auch die Qualität Berücksichtigung findet.« (Mill 2002: 15) Mill geht von der Beteiligung höherer Bedürfnisse und geistiger Interessen des Menschen, die mit dem Glücksempfinden verbunden sind, aus. »Es erscheint zweifelhaft, ob jemand, der für beide Arten von Lust gleichermaßen empfänglich ist, jemals den niedrigeren mit Wissen und Bedacht den Vorzug gegeben hat«. (Mill 2002: 19) Berühmt ist Mills Aussage: »Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.« (Mill 2002: 18) In diesem Zusammenhang sei es entscheidend, dass der Utilitarismus nicht das größte Glück des Einzelnen, sondern das größte Glück insgesamt betrachtet anstrebe. (Vgl. Mill 2002: 20) Dabei gehe es nicht ausschließlich um das Mehren von Glück, sondern auch um das Verhindern und Mildern von Unglück. (Vgl. Mill 2002: 22) Das Glück des Einzelnen soll mit dem Interesse des Ganzen verbunden werden. »Um sich diesem Ideal so weit wie möglich anzunähern, fordert das Nützlichkeitsprinzip erstens, daß Gesetze und gesellschaftliche Verhältnisse das Glück oder – wie man es in der Praxis auch nen-

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Interkulturelles Philosophieren

Ethikmodell scheint Appiahs Ad-hoc-Vorstellung vom gemeinsamen Agieren zur Verbesserung der Welt und der Lebensmöglichkeiten des Einzelnen in ihr implizit zugrunde zu liegen, wenn er hinsichtlich der Rechtfertigung dieser Konzeptionen konsequentialistisch argumentiert und in Bezug auf das menschliche Handeln primär von den Ergebnissen des Handelns ausgeht.104 Kants ethischer Universalismus105 wird bei Appiah durch Mills utilitaristisches Konzept ersetzt. Der Kantische Kosmopolitismus wird so im Partial Cosmopolitanism ganz entscheidend verändert, wenn nicht stillschweigend suspendiert.

2.3.2

2.3.2.1

Thinking outside the frame. Mbembes Projekt Zukunft und die Politik der Möglichkeit Mbembes Afropolitanismus und das Konzept der pluriversality

Mbembe sieht in den globalen Verflechtungen »die Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer Weltgesellschaft, von der Kant wie Habermas träumen«.106 Er hält sowohl die Loslösung vom Nationalstaat als auch die Verabschiedung von anthropozentrischen Konzepten, die eine Instrumentalisierung der Natur begünstigen, für notwendig und fordert die »Dezentrierung des Humanen« und »eine Öffnung hin auf die nichtmenschlichen Elemente nen kann – die Interessen jedes einzelnen so weit wie möglich mit dem Interesse des Ganzen in Übereinstimmung zu bringen«. (Mill 2002: 30) Mill strebt dabei nicht die Maximierung des Glücks des Einzelnen, sondern eher eine individuelle Zufriedenheit an, die insbesondere durch ethisches Handeln befördert wird. Mill kritisiert in diesem Zusammenhang »die Erbärmlichkeit der gegenwärtigen Erziehung und die elenden gesellschaftlichen Verhältnisse«. (Mill 2002: 23) Mill ist aber zuversichtlich, dass sich die Übel der Welt weitestgehend beseitigen lassen: »Kurz, alle wichtigen Ursachen menschlichen Leidens lassen sich in erheblichem Umfang – und viele fast gänzlich – durch menschliche Mühe und Anstrengungen beseitigen.« (Mill 2002: 27) Mill denkt hier z.B. an Armut und Krankheit. 104 Appiah selbst rekurriert in seiner Theorie der Ehre auf Aristoteles' Vorstellung des guten Lebens. (Vgl. Appiah 2010: XIV) Dieser Rückgriff erscheint mir allerdings eher eklektizistisch zu sein. Aristotelische Momente sind in seiner Philosophie im Allgemeinen nicht von Bedeutung. 105 Kants auf dem kategorischen Imperativ basierende deontologische Ethik vernachlässigt nach Appiah den Aspekt der Motivation für das ethische Handeln, den Appiah im Streben nach Ehre verortet. Der Kantische gute Wille könne dies nicht leisten. (Vgl. Appiah 2010: 179ff.) 106 Mbembe, Achille: »Körper in Bewegung. Achille Mbembe im Interview.« In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 27(3), Juni/Juli 2018, S. 69.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

des Seins«.107 Hinsichtlich dieser Ausweitung spricht Mbembe vom Planetarischen und einer »Kohabitation auf der Erde«, nach der alles miteinander in Beziehung stehe.108 Die zu beobachtende Krise der liberalen Demokratie, die mit einer Aushöhlung durch den Neoliberalismus verbunden ist, führt nach Mbembe zu einem »Schwarzwerden der Welt«,109 was eine neue Projektierung der Demokratie in einem planetarischen und kosmopolitischen Rahmen erforderlich mache. Dabei rekurriert er auf Kants Besuchsrecht, ein Weltbürgerrecht, das jedem Menschen auf der Welt auf Grund des gemeinsamen Besitzes an der Erde zukommt.110 Die Metapher vom Menschen als Passanten111 verdeutlicht die anthropologische Grundsituation des Menschen, nur vorübergehend Bewohner der Erde sein zu können, als ein Wesen, das auf seinen Tod hin ausgerichtet leben muss. Seine Aufgabe im planetarischen Zeitalter ist nach Mbembe die Schaffung einer Demokratie, die freie Bewegungsmöglichkeiten auf der Erde ermöglichen soll.112 Mbembe verbindet einen anthropologisch fundierten universalistischen Ansatz113 mit kosmopolitischem Denken und verzichtet auf die Suche nach dem Wesen, der Herkunft und der Möglichkeit zur Teilhaberschaft der Afrikaner aufgrund einer vorgenommenen Aufwertung der schwarzen Rasse. Die Untersuchung des schwarzen Diskurses entlarvt die bekannten Diskursstrategien der Betonung des Autochthonen, der afrikanischen Tradition etc. mit seiner Verteidigungsstrategie als Irrweg in Form von »discourses of inversi-

107 108 109 110 111 112

113

Ibd. Ibd. Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin (Suhrkamp), 2014, S. 23. Vgl. Mbembe, Achille: Brutalisme. Paris (La Découverte), 2020, S. 55. Vgl. Mbembe 2017: 232. »Être de passage, c’est cela finalement la condition humaine terrestre. Assurer, organiser et gouverner le passage et non instruire de nouvelles fermetures, telle est la tâche de la démocratie à l’ère planétaire.« (Mbembe 2020: 56) Bei Mbembe heißt es: »On a more anthropological level, the obsession with uniqueness and difference must be opposed by the thematics of sameness.« In: Mbembe, Achille: »African Modes of Self-Writing«. In: Public Culture. 14(1), 2002, S. 258; online: htt ps://kexchange.files.wordpress.com/2014/11/ply.pdf; letzter Zugriff am 02.07.2021. Und weiter lässt sich auf einer soziologischen Ebene feststellen: »Finally, on a sociological level, attention must be given to the contemporary everyday practices through which Africans manage to recognize and maintain with the world an unprecedented familiarity − practices through which they invent something that is their own and that beckons to the world in its generality.« (Mbembe 2002: 258)

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Interkulturelles Philosophieren

on«,114 die die insbesondere auch bei Kant und Hegel zu findende Abwertung Nichtweißer umzuwenden versuchen. Dieser »discourse of rehabilitation« beruht nach Mbembe auf »a racist paradigm« und perpetuiert die »fiction of race«, ein Begriff, der auf Appiah rekurriert.115 Nach Mbembe benötigen wir Kant als Verfechter des Ewigen Friedens, der den Horizont einer Weltgemeinschaft eröffnet, die als eine Art Eigentümergemeinschaft anzusehen ist.116 Im Unterschied zu Kants kosmopolitischem Konzept der Weltbürgerschaft und des Völkerbundes werden in Achille Mbembes Konzeption des Afropolitanism die kosmopolitischen Überlegungen primär auf den Kontinent Afrika ausgerichtet. Die Weltoffenheit der Afrikaner, die auch mit den traumatischen Erfahrungen von Verschleppung, Exil und Diaspora zusammengedacht werden müssen, und heutige Formen des kosmopolitischen Nomadentums sind Ausgangspunkt seines afrokosmopolitischen Denkens. Mbembe konzipiert Afrika als Zentrum seiner selbst, das zum Anziehungspunkt für Menschen weltweit wird bzw. werden sollte, bedingt durch die interkontinentale und weltweite Mobilität. Die Zentrierung auf Afrika setzt bei Mbembe somit gleichzeitig eine Offenheit gegenüber der Welt voraus. Im Hinblick darauf fordert er die Erleichterung von Grenzüberschreitungen, des Bleiberechts 114

115 116

Mbembe 2002: 256. Mbembe untersucht in diesem Kontext auf Kant und Hegel Bezug nehmend »this darker side of the enlightenment«, nach der Schwarzen »the power of invention and universality peculiar to reason« abgesprochen wurde, und weist auf den Ausschluss der Afrikaner hin: »Because of the radical difference, it was deemed legitimate to exclude them, both de fato and de jure, from the sphere of full and complete human citizenship: they had nothing to contribute to the universal.« (Mbembe 2002: 246) Oder: »at best, assigned to them an inferior status in the hierarchy of races.« (Mbembe 2002: 253) Der Diskurs über afrikanische Identität als Verteidigungsstrategie befindet sich in einem Dilemma: »Does African identity partake in the generic human identity? […] Or should one insist, in the name of difference and uniqueness, on the possibility of diverse cultural forms within a single humanity − but cultural forms whose purpose is not to be self-sufficient, whose ultimate signification is universal.« (Mbembe 2002: 253) Mbembe kritisiert: »Since the racial interpretation is at the foundation of a restricted civic relatedness, everything that is not black is out of place, and thus cannot claim any sort of Africanity. The spatial body, the racial body and the civic body are henceforth one, each testifying to an autochthonous communal origin by virtue of which everyone born of the soil or sharing the same color or ancestors is a brother or a sister.« (Mbembe 2002: 256) Mbembe 2002: 254. Vgl. Mbembe, Achille: »Was bleibt von Immanuel Kant?« In: ZEIT ONLINE. 49, 2015a; online: https://www.zeit.de/2015/49/philosophie-immanuel-kant-vermaechtnis-philos ophen; letzter Zugriff am 26.08.2021.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

und des Erwerbs von Staatsbürgerschaften als institutionell-rechtliche Voraussetzungen für die Verbesserung des Zusammenlebens auf der Welt. Ausschließung und Abschottung lehnt er vehement ab und betont die Bedeutung von Diversität und Pluralität. Nach seinem neu konzipierten Humanismus lassen sich Menschen auf der ganzen Welt als Brüder betrachten. Dabei geht es darum Verantwortung zu übernehmen und den mit der Tendenz zur Viktimisierung verbundenen Opferstatus zu überwinden, der Rachegefühle, Ressentiment und Gewalt perpetuiere.117 In diesem Zusammenhang rekurriert Mbembe auf Kant als Verfechter einer Auffassung vom Menschen als souveränes Vernunftwesen, das seine Leidenschaften und Affekte beherrschen kann und zu einem moralischen Urteil in der Lage ist.118 Universalismus im egalitären Sinne beruht nach Mbembe auf einer anthropologischen Gegebenheit, der allgemeinen Verfasstheit der Spezies Mensch. Das mit seinem afrikanischen Kosmopolitismus verbundene Fortschrittskonzept lehnt die primär technisch-materielle Auffassung des europäisch-amerikanischen Verständnisses und dessen paternalistische Haltung entschieden ab. Mbembe fokussiert in seiner politics of possibility die Ausgestaltung der Zukunft Afrikas im globalen Kontext – eine Zukunft, die mit dem Prozess der Dekolonialisierung von Denken und Handeln verbunden ist.119 Ausgehend von der Tatsache, dass Afrika sowohl Ort der Immersion als auch der Dispersion sei und Moblität heute die allgemeine Lebensart bestimme, er spricht von einem »paradigme de l’itinérance, de la mobilité e du déplacement«,120 kritisiert

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Mbembe betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Geschichte, in der traumatische Erfahrungen aufgearbeitet werden müssen, und einer Haltung des Verzeihens und Vergebens. Vgl. Mbembe, Achille: »What is postcolonial thinking? An interview with Achille Mbembe«. In: Eurozine. 2008, S. 9f.; online: https://www.eurozine.com/pdf/2008-01-09-mbembe-en.pdf; letzter Zugriff am 28.08.2021. 118 Vgl. Mbembe 2015a: 1. 119 »En tant que signe et en tant qu’événement, la décolonisation elle-même était imaginée comme une manière de relation au future. Le future, en retour, était l’autre nom de cette force qu’est la force d’autocréation et d’invention.« In : Mbembe, Achille : Sortir de la grande nuit : Essai sur l’Afrique décolonisée : Suivi d’un entretien avec l’auteur. Paris (La Découverte/Poche), 2013a, S. 56. Zur Dekolonisation heißt es bei Mbembe im Weiteren : »En tant qu’événement historique, la décolonisation est l’un des moments charnières de ce que l’on pourrait appeler notre modernité tardive.« (Mbembe 2013a : 60) 120 Mbembe, Achille : »Afropolitanisme«. In : Africultures. 26.12.2005, S. 1f.; online : https : //www.africultures.com/php/?nav=article&no=4248; letzter Zugriff am 28.08.2021.

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Mbembe Konzepte des Afrozentrismus und stellt seine Theorie eines kosmopolitisch ausgerichteten Afropolitanism vor. Ausgangspunkt ist dabei auch die Erfahrung des Völkermords von Ruanda als extremes Beispiel der jüngeren Geschichte Afrikas dafür, dass der afrikanische Bruder zum Tod bringenden Feind werden könne. Dies zeige u.a., dass Viktimisierung und Gefühle von Ressentiment und Rache fatale Konsequenzen haben können, auch weil sich die aus diesen Gefühlen abgeleiteten Taten in der Regel nicht gegen die ehemaligen Peiniger richten würden, sondern unschuldige Opfer träfen und Gewalt und Leid perpetuierten. Mbembe ruft zur Vergebung auf, die mit der Aufarbeitung und dem Lebendighalten des während der (Post)kolonisation und in Prozessen der Dekolonisation erfahrenen Leids – von Geschichte und von traumatisierenden Erfahrungen, die mit dem Sklaventum, der Arbeit auf der Plantage und im Bergwerk und dem Leben in der Diaspora verbunden sind – Hand in Hand gehen soll. Bei der Konstruktion afrikanischer Identität soll auf den Rekurs auf Kategorien wie Rasse, Nationalität und Topografie verzichtet werden, sie soll in der Vielschichtigkeit und Disparatheit eines inbetween gebildet werden. Mbembes Konzept der pluriversality betont die Verschiedenheit der epistemischen Konzepte verschiedener Kulturen und geht gleichzeitig von der Existenz allgemeiner Universalien der Menschheit aus. »It is a process that does not necessarily abandon the notion of universal knowledge for humanity, but which embraces it via a horizontal strategy of openness to dialogue among different epistemic traditions.«121 Der interkulturelle Dialog auf der Basis unterschiedlicher Denktraditionen der verschiedenen Kulturen kann also durchaus transkulturelle Dimensionen der Suche nach gemeinsamen Denkweisen, Theoremen, Werten und Zielen annehmen. Das Universale hat bei Mbembe die Form des Gemeinschaftlichen, Gemeinsamen und Verbindenden.122 Er 121

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Mbembe, Achille: »Decolonizing Knowledge and the Question of the Archive«. 2015b, S. 19; online: http://wiser.wits.ac.za/system/files/Achille%20Mbembe%20%20Decol onizing%20Knowledge%20and%20the%20Question%20of%20the%20Archive.pdf; letzter Zugriff am 26.08.21. Mbembe kritisiert die westliche Konzeption vom Universellen: »Vielmehr hat er seinen Handlungshorizont stets als unausweichlich und absolut dargestellt und dieser Handlungsraum hat sich stets per definitionem als global und universell gewollt. Das Universelle, um das es hier geht, ist nicht gleichbedeutend mit dem, was für jeden Menschen Geltung besäße. Es ist auch kein Synonym für die Erweiterung meines eigenen Horizonts oder die Übernahme von Verantwortung für die Bedingungen meiner eigenen Endlichkeit. Das Universelle ist hier der Name, den man der Gewalt der Sieger

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

sucht im Prozess der Dekolonialisierung nach Wegen der radikalen Neubegründung und nach radikalen neuen Konzepten,123 wobei er die Gleichberechtigung unterschiedlicher Kulturen, Offenheit für das Andersartige und ein kritisches Durchdenken der bestehenden Wissensordnungen auf der Basis von Foucaults Überlegungen voraussetzt. Diesbezüglich und auch im Hinblick auf den Aspekt Macht rekurriert Mbembe auf Michel Foucault. Auch das Theorem Mensch wie gleichermaßen die klassischen Dualismen wie Körper und Seele, Natur und Kultur erfordern kritisches Hinterfragen und bedeuten, das Eingebundensein in den Kosmos mitzureflektieren und den vorherrschenden Anthropozentrismus zu überwinden. Das kritische Denken ist bei Mbembe mit kultureller, sozialer und ästhetischer Andersheit – dem Woanders, das auch eine interkulturelle Dimension aufweist – und mit dem Potential der Zukunft verbunden. Er fordert ein auf die Zukunft bezogenes Neudenken, ohne die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart zu vernachlässigen. Die Aufarbeitung des Vergangenen, von Gedächtnis und Erinnerung haben hier ihren Ausgangspunkt. Kritik ermöglicht Freiheit und Erneuerung: »Die größte Herausforderung, vor die unser Zeitalter unter diesen Umständen steht, ist die Erneuerung des kritischen Denkens, das heißt eines Denkens, das seine außer sich liegende Möglichkeit mitbedenkt und sich der Grenzen bewusst ist, denen die eigene Einmaligkeit in dem Kreislauf unterliegt, der uns immer wieder an ein Woanders bindet. Eine solche Erneue-

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in Kriegen gibt, die natürlich Raubkriege sind.« In: Mbembe, Achille: Politik der Feindschaft. Berlin (Suhrkamp), 2017, S. 118. Und weiter: »[Z]umal wir uns, solange wir nicht das Gedächtnis der ›ganzen Welt‹ erfassen können, unmöglich vorzustellen vermögen, was eine wirklich gemeinsame Welt, eine wirklich universelle Menschheit und Menschlichkeit sein könnten.« (Mbembe 2017: 138) An anderer Stelle hießt es dazu: »Damit zeigt sich relativ klar die Notwendigkeit vielleicht nicht einer möglichen Universalität, zumindest aber des Gedankens, dass die Erde uns allen gehört und unsere gemeinsame Grundlage bildet.« (Mbembe 2017: 234) Er stimmt Césaire und Senghor hinsichtlich ihrer Konzeption des Universellen zu: »Beide lehnen abstrakte Visionen des Universellen ab. Sie machen deutlich, dass das Universelle sich stets im Register des Besonderen dekliniere. In ihren Augen ist das Universelle der Ort einer Vielzahl an Besonderheiten, deren jede nur das ist, was sie ist, also das, was sie mit anderen Besonderheiten verbindet oder von ihnen unterscheidet. Bei beiden gibt es also kein absolut Universelles. Universelles gibt es nur als Gemeinschaft aus Singularitäten und Differenzen, eine Aufteilung, die zugleich verbindet und trennt.« (Mbembe 2014: 288) Mbembe 2015b: 8.

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rung verweist zunächst notwendig auf eine bestimmte Voraussetzung – dass nämlich die Gesellschaften gegenüber ihrer Zukunft vollkommen und radikal frei sind. Es handelt sich außerdem um ein Denken, das sich seine Welt erklären kann, das versucht, die Geschichte zu verstehen, von der wir ein Teil sind, und das uns in die Lage versetzt, die Macht der Zukunft, die in die Gegenwart eingeschrieben ist, zu erkennen.«124 Kritik dient demnach der verstehenden Analyse des Gewordenen wie dem Aufzeigen von Möglichkeiten für die Gestaltung des Zukünftigen. Unter Rekurs auf Waldenfels betont er den Zusammenhang des Eigenen mit dem Fremden. Er sagt: »Wenn es neuerlich darum geht, gemeinsam zum Weg der Humanität zurückzufinden, dann sollte man vielleicht als erstes anerkennen, dass es im Grunde genommen keine Welt bzw. keinen Ort gibt, an dem wir im Sinne von Hausherrn vollständig ›zuhause‹ sind. […] Das Eigene tritt immer gleichzeitig mit dem Fremden auf.«125 Er charakterisiert Kritik in diesem Zusammenhang folgendermaßen: »Die Heraufkunft eines solchen kritischen Denkens, das sich indirekt auch in Bezug auf den Universalismus als fruchtbar erweisen könnte, verlangt offenkundig die Überwindung der radikalen Entgegensetzung von Eigenem und Fremdem.«126 In seinem Buch Politik der Feindschaft (2017) reflektiert er von diesem Gesichtspunkt ausgehend das Verbundensein der Menschen und das Eingebundensein des Menschen in größere Zusammenhänge im Sinne des gemeinsamen Besitzes der Erde von allem Lebendigen, womit das menschliche Sein in einen ihn übersteigenden Kontext eingeordnet wird.127 Kritik bekommt damit bei ihm eine visionäre Dimension. Mbembe möchte eine »Kritik unserer Zeit« leisten, wobei er die Gegenwart »gegen den Strich liest.«128 Die vier unsere Zeit charakterisierenden Momente sind für ihn das Schrumpfen der Welt, die Neudefinition des Men124 Mbembe, Achille: Ausgang aus der langen Nacht: Versuch über ein entkolonialisiertes Afrika. Berlin (Suhrkamp), 2016a, S. 299. 125 Ibd. 126 Mbembe 2016a: 300. 127 »Im Kontext einer immer kleiner werdenden Welt und einer Neubesiedlung der Erde zugunsten neuer Zirkulationszyklen der Bevölkerungen versucht dieser Essay nicht nur, neue Wege zu einer Kritik atavistischer Nationalismen zu öffnen. Er fragt auch indirekt, worin die Grundlagen einer gemeinsamen Genealogie und damit auch einer über den Menschen hinausreichenden Politik des Lebendigen bestehen könnte.« (Mbembe 2017: 10f.) 128 Mbembe 2017: 23.

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schen – nicht mehr auf der Basis des Theorems der conditio humana, sondern der conditio terrae –, die Computertechnologie und die Verknüpfung zwischen der Möglichkeit zur Unformung des Menschen mit der Macht des Kapitals. Diese Veränderungen stellen gleichermaßen eine Bedrohung des Politischen dar.129 Mbembe fragt von den genannten Aspekten ausgehend: »Und wenn Menschlichkeit letztlich nur dann existiert, wenn sie in der Welt und von dieser Welt ist, wie lässt sich dann eine Beziehung zu den Anderen begründen, die auf der wechselseitigen Anerkennung unserer gemeinsamen Verwundbarkeit und Endlichkeit basierte?«130 Grundlage von Mbembes Kosmopolitismus ist eine Ethik der Verletzbarkeit. Er vertraut auf den verbindenden Charakter der allen Menschen gleichermaßen zukommenden Verwundbarkeit, die sie grundsätzlich gleich macht und miteinander verbindet. Seine ethische Konzeption setzt die »wechselseitige Anerkennung dieser Verwundbarkeit«131 voraus. Es heißt bei ihm: »Sich von anderen berühren zu lassen – oder schutzlos einer anderen Existenz ausgesetzt zu sein – ist der erste Schritt hin zu jener Form von Anerkennung, die sich kaum in das Paradigma des Herrn und des Knechts oder in die Dialektik der Ohnmacht und der Allmacht und oder auch des Kampfes, des Sieges und der Niederlage sperren lässt. Im Gegenteil, die daraus resultierende Beziehung ist eine der Sorge und Fürsorge. Die Verwundbarkeit zu erkennen und zu akzeptieren – oder auch einzugestehen, dass das Leben stets Gefahren bis hin zum Tod ausgesetzt ist – bildet den Ausgangspunkt für jede Entwicklung einer Ethik, deren Ziel in letzter Instanz die Menschlichkeit ist.«132 In Bezug auf die kommende Menschheit spricht er – ausgehend von seinem Theorem des Passanten – des Weiteren von einer »Ethik des Passanten«.133 129 Vgl. Mbembe 2017: 30-34. 130 Mbembe 2017: 12. An anderer Stelle heißt es: »Gibt es irgendwas, das uns mit anderen verbände, sodass wir gemeinsam sagen könnten, dass wir sind? Welche Formen könnte diese Fürsorge annehmen? Ist eine andere Weltpolitik möglich, die nicht notwendig auf Unterschied und Andersheit basierte, sondern auf einer sicheren Idee des Mitmenschlichen und Gemeinsamen? Sind wir nicht dazu verdammt, einander ausgesetzt zu sein, und das zuweilen in ein und demselben Raum?« (Mbembe 2017: 77) 131 Mbembe 2017: 214. 132 Ibd. 133 Mbembe 2017: 232.

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Dessen Solidarität ist zwar durch Distanz, aber nicht durch Gleichgültigkeit geprägt. Mbembe beobachtet, dass Grenzen heute zunehmend trennende Linien sind, und versucht Abschließung und Abgrenzung zu überwinden und globales Denken stark zu machen. »Als ›global‹ kann jedoch nur ein Denken angesehen werden, das der theoretischen Segregation den Rücken kehrt und sich auf die Archive der von Éduard Glissant so genannten ›All-Welt‹ stützt.«134 Die Demokratie der Zukunft muss das Denken von Singularitäten und »einer simplifizierenden Integrationsideologie«135 überwinden. Mbembes Forderung nach Gerechtigkeit impliziert das Teilen aufgrund der gemeinsamen Zugehörigkeit zum Planeten. Die zu beobachtenden Schäden benötigen Wiedergutmachung und Heilung über den menschlichen Bereich hinaus.136 In den liberalen Demokratien prangert Mbembe die Tendenz einer Entwicklung hin zum Sicherheitsstaat und zur Spaltung der Gesellschaft in Gleiche und Nichtgleiche und Freunde und Feinde an, wobei sich »Wahnvorstellungen über die wahre Identität des Feindes«137 beobachten lassen.138 Mbembe konstatiert: »Gastlichkeit und Feindseligkeit waren noch nie derart scharfe Gegensätze.«139 In diesem Kontext fragt Mbembe: »Sind freier Aufenthalt 134 135 136

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Mbembe 2017: 23. Mbembe 2017: 77. »Außerdem wird die Demokratie der Zukunft auf einer klaren Unterscheidung zwischen dem ›Universellem‹ und dem ›Gemeinschaftlichen‹ aufbauen. Das Universelle impliziert den Einschluss in etwas oder in eine bereits bestehende Entität. Das Gemeinschaftliche setzt ein Verhältnis der gemeinsamen Zugehörigkeit oder des Teilens voraus – die Idee einer Welt, die nun einmal die einzige ist, die wir haben und die, wenn sie Bestand haben soll, von allen Nutzungsberechtigten, allen Spezies geteilt werden muss. Damit dieses Teilen möglich wird und diese globale Demokratie, die Demokratie aller Spezies, Gestalt annimmt, ist die Forderung nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung unverzichtbar.« (Mbembe 2017: 77f.) Mbembe verweist hier auf seinen »Epilog: Es gibt nur eine Welt« in Mbembe 2014. Mbembe 2017: 101. Vgl. Mbembe 2017: 103. Mbembe sagt: »Die öffentliche Debatte (eines der Wesensmerkmale der Demokratie) besteht nicht mehr darin, zu diskutieren und gemeinsam unter den Augen der Bürger nach der Wahrheit und letztlich nach Gerechtigkeit zu suchen. Der wesentliche Gegensatz ist nicht mehr der zwischen wahr und falsch, als das Schlimmste gilt vielmehr der Zweifel. Denn im konkreten Kampf mit unseren Feinden hemmt der Zweifel die totale Freisetzung der emotionalen und vitalen Willenskräfte, die notwendig sind, um Gewalt einzusetzen und nötigenfalls Blut zu vergießen.« (Mbembe 2017: 104) Mbembe 2017: 120.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

und freier Verkehr nicht notwendige Voraussetzung für das Teilen der Welt oder für das von Édouard Glissant so genannte ›Weltverhältnis‹? Was könnte der Mensch jenseits der Geburt, der Nationalität und der Staatsbürgerschaft sein?«140 Mbembe entwickelt in seinem afropolitanism die Vorstellung von Afrika als Zentrum seiner Selbst,141 das durch die Erleichterung von innerkontinentaler und weltweiter Mobiltät zum Anziehungspunkt für Menschen weltweit werden soll und kann. »As Europe closes its borders, Africa will have to open its borders.«142 Die Zentrierung auf Afrika wird somit mit einer Offenheit der Welt gegenüber verbunden, die zu einer Rückbewegung in Richtung Afrika führen soll. Es geht ihm insbesondere um die Erleichterung von Grenzüberschreitungen, des Bleiberechts und des Erwerbs von Staatsbürgerschaften, um das weltweite Zusammenleben zu verbessern. Mbembe spricht sich gegen Ausschließung und Abschottung aus und für die Bejahung von Diversität und Pluralität. Diese Forderung erweitert das Kantische Weltbürgerrecht, das als Besuchsrecht konzipiert ist, in erheblichem Maße.

2.3.2.2

Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft und sein Konzept von Rasse

Mbembes Werk Critique de la raison negre143 rekurriert auf den Titel von Kants Kritik der reinen Vernunft, der auf französisch Critique de la raison pure lautet. Die Kritik der schwarzen Vernunft stellt eine Untersuchung des ›schwarzen Diskurses‹ – im Sinne einer Diskursanalyse nach Foucault – dar und bezieht sich zu einem großen Teil auf den Panafrikanismus und die Négritude Bewegung, aber z.B. auch auf die Kolonial- und Afrikawissenschaft und Institutionen wie Museen, Weltausstellungen, Sammlungen etc. als damit verbundene Dispositive. Mbembe fasst zusammen:

140 Mbembe 2017: 232f. Mbembe fährt fort: »Ich hätte natürlich gerne eine erschöpfende Antwort auf all diese Fragen gegeben. Aber hier muss der Hinweis genügen, dass das kommende Denken notwendig ein Denken des Übergangs, der Überfahrt und des Verkehrs sein wird. Es wird ein Denken des fließenden Lebens sein«. (Mbembe 2017: 233) 141 »The ultimate challenge, however, is for Africa to become its own centre.« In: Mbembe, Achille: »Africa and the Future: An Interview with Achille Mbembe«. In: Swissfuture. 3, 2013c, S. 4, online: http://africasacountry.com/2013/11/africa-and-the-future-an-intervie w-with-achille-mbembe/; letzter Zugriff am 26.08.2021. 142 Ibd. 143 Mbembe, Achille : Critique de la raison negre. Paris (Editions La Découverte), 2013b.

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»In diesem Zusammenhang bezeichnet schwarze Vernunft ein Ensemble aus Diskursen wie auch Praktiken – die alltägliche Arbeit, die darin bestand, Formeln, Texte, Rituale zu erfinden, zu erzählen und zu wiederholen, und das alles mit dem Ziel, den Neger als Rassensubjekt und wildes Außenstehendes hervortreten zu lassen, das als solches moralisch abgewertet und praktisch instrumentalisiert werden konnte.«144 Dem Bild des westlichen Identitätsurteils wird das Bild der Identität der Schwarzen aus eigener Sicht zur Seite gestellt,145 bei dem »[e]s darum geht, eine Geschichte zu schreiben, die den Nachfahren der Sklaven wieder die Möglichkeit eröffnet, zu Akteuren der Geschichte zu werden.«146 Mbembe nennt »diesen zweiten Text das schwarze Bild des Negers«, das oft Züge des ersten Textes trägt und in einem Prozess »der intellektuellen Globalisierung«147 entsteht, die er analysieren und kritisieren möchte.148 Mbembe sagt: »[D]ie historische Tat per excellence besteht nun darin, den Übergang vom Status des Sklaven zu dem des Bürgers wie die anderen herbeizuführen.«149 Dieses Vorhaben der schwarzen Vernunft greift die Begriffe Zivilisation und Fortschritt und das Thema der kulturellen Differenz, das auf den Aspekten Rasse, Geographie und Tradition basiert,150 auf. Mbembe kritisiert: »Diese Selbstdefinition stützt sich auf ein Weltverständnis, das später durch ideologische Strömungen erweitert wird, die sich auf Progressismus, Radikalismus und Nationalismus stützen. Im Kern des Paradigmas der Viktimisierung findet sich ein Geschichtsbild, das die Geschichte als Abfolge von Schicksalsschlägen begreift.«151

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Mbembe 2014: 62f. Vgl. Mbembe 2014: 63f. Mbembe 2014: 65. Mbembe 2014: 67. Mbembe 2014: 66. »Jedenfalls lässt der zweite Text hier und dort Spuren, die Zeichen, das unablässige Gemurmel und gelegentlich auch die unbestimmte Aufforderung und die Kurzsichtigkeit des ersten erkennen, und das selbst dort, wo die Forderung nach einem Bruch am lautesten wird.« (Mbembe 2014: 66f.) 149 Mbembe 2014: 65. 150 Vgl. Mbembe 2014: 170. 151 Mbembe 2014: 169.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Mbembe spricht in diesem Zusammenhang von einem konspirativen Geschichtsverständnis, das den Aspekt der Eigenverantwortung unterschlägt.152 Der Diskurs der schwarzen Vernunft ist für Mbembe ein »Diskurs der Widerlegung und Rehabilitierung«.153 Bei diesem Vorhaben rekurriere dieser auf den kritisierten Begriff der Rasse.154 Afrikaner-Sein und Schwarzsein werde dabei gleichgesetzt, so dass die Exklusion nicht-schwarzer Afrikaner die Folge ist.155 Mbembe dagegen sieht es als Aufgabe an, Tradition zu dekonstruieren und ihren erfundenen Charakter offen zu legen. Entscheidend für sein philosophisches Projekt ist, den Menschen eine Orientierung für die Zukunft zu geben, schwarze Identität muss dabei als im Werden begriffen verstanden werden.156 In diesem Prozess ist es wichtig, den eigenen Anteil am kolonialen Geschehen wahrzunehmen und zu reflektieren: »Wir haben dargelegt, dass die Neger sich an den kolonialen Potentaten als ein Urübel erinnern und sich zugleich weigern, den eigenen unbewussten Anteil an der Kolonie als Maschine zur Produktion von Wünschen einzugestehen.«157 Mbembe lehnt die Anwendung von Gewalt als Gegengewalt bzw. als »Ausgang aus der großen Nacht«,158 wie von Fanon gefordert, der sie mit einer ethischen Dimension versieht, entschieden ab. Die Verbindung von Kritik und Kampf müsse mit und über Fanon hinausgehend gedacht und reaktualisiert werden.159 Verbunden damit ist auch eine Analyse von Macht in

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Ibd. Es heißt an dieser Stelle wörtlich: »Das konspirative Geschichtsverständnis wird als radikaler Diskurs der Emanzipation und Autonomie präsentiert, als Grundlage einer angeblich afrikanischen Politik. Aber hinter der Neurose der Viktimisierung verbirgt sich in Wirklichkeit ein negatives und zirkuläres Denken.« (Mbembe 2014: 169f.) Die zu verurteilende Folge davon ist: »Der Neger, kastriertes Subjekt und passives Werkzeug fremden Genusses, kann nur in dem Akt er selbst werden, in dem er den Kolonialherrn die Macht, Blut zu vergießen, entreißt und sie selber ausübt.« (Mbembe 2014: 170) Mbembe 2014: 172. »Man wehrt sich nicht gegen die Zugehörigkeit des Negers zu einer eigenen Rasse, sondern gegen das an diese Rasse geknüpfte Vorurteil ihrer Minderwertigkeit.« (Mbembe 2014: 173) »Der Gedanke eines Afrikanertums, das nicht schwarz wäre, ist schlichtweg undenkbar.« (Mbembe 2014: 175) Vgl. Mbembe 2014: 181. Es heißt z.B.: »Es gibt eine im Werden begriffene Identität«. (Mbembe 2014: 182) Mbembe 2014: 226. Vgl. Mbembe 2014: 309. Vgl. Mbembe 2014: 310.

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ihren veränderten Formen – die Metamorphose der Macht berücksichtigend. Diese erfordert – unter Beibehaltung von Foucaults Bestimmung von Macht als produktiv, veränderbar und sowohl im makro- als auch im mikrophysikalischen Bereich beheimatet – eine Elaborierung und Erweiterung von dessen Machtformen und Machttechniken u.a. durch die Machtform der Nekropolitik. Ein wichtiger Aspekt im kritischen Vorhaben von Mbembe ist »die Kritik der Rasse«160 als »privilegierte Sprache des sozialen Krieges.«161 Bei ihm heißt es: »In mehrfacher Hinsicht ist unsere Welt, auch wenn sie das nicht zugeben möchte, bis heute eine ›Welt der Rassen‹ geblieben.«162 Er definiert: »Unter dem Rassenprinzip ist ein ganzes Spektrum von Formen der Unterteilung und Unterscheidung der Menschen zu verstehen, das sich zu Zwecken der Stigmatisierung, des Ausschusses und der Absonderung einsetzen lässt, mit dem Ziel, eine Gruppe von Menschen zu isolieren, zu eliminieren oder gar physisch zu vernichten.«163 Diese Prozesse sind mit der Konstitution des rassistischen Subjekts verbunden.164 Der soziobiologischen Ausformung im 19. Jahrhundert ging ein Jahrhunderte lang währender Diskurs über den Kampf zwischen den Rassen voraus.165 Mbembe rekurriert zur Kritik des pri-

160 Mbembe 2014: 109. 161 Mbembe 2014: 110. 162 Mbembe 2014: 111. Bei Mbembe heißt es weiter: »Die Kritik der Moderne wird unabgeschlossen bleiben, solange wir nicht verstanden haben, dass ihre Entstehung mit dem Erscheinen des Rassenprinzips und der langsamen Umwandlung dieses Prinzips in die privilegierte Matrix der Herrschaftstechniken zusammenfällt, und zwar heute ebenso wie damals.« (Mbembe 2014: 111) Es ist gleichermaßen mit der »Rechtfertigung des Kolonialismus« verbunden und steht in Zusammenhang mit den »vorgetragenen Argumente[n] ökonomischen, politischen, militärischen, ideologischen oder humanistischen Charakters.« (Mbembe 2014: 128) 163 Mbembe 2014: 110. 164 Mbembe 2014: 123. Auch der Beiname ›Schwarzer‹ verweist auf einen Mangel. »Da spielt es kaum eine Rolle, dass ›Neger‹ bereits den Sklaven, der ›Schwarze‹ dagegen den noch nicht versklavten Afrikaner bezeichnet.« (Mbembe 2014: 141) Und weiter: »Damals ist der Ausdruck ›Schwarzer‹ der Name, den man einer Menschenart gibt, die zwar menschlich ist, aber den Namen ›Mensch‹ kaum verdient. (Mbembe 2014: 142) Mbembe stellt fest: »Wenn man sagt, jemand sei ein ›Schwarzer‹, so sagt man nun damit, er sei ein Wesen, das biologisch, geistig und kulturell durch seine unabänderliche Andersartigkeit prädeterminiert ist.« (Mbembe 2014: 143) 165 Vgl. Mbembe 2014: 111f.

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mär biologisch begründeten Rassebegriffs insbesondere auf Appiah, der ihn als biologische Kategorie für unhaltbar hält. Er stellt fest: »In vielen Ländern grassiert seither ein ›Rassismus ohne Rasse‹. […] Um weiterhin Diskriminierung betreiben zu können und zugleich begrifflich undenkbar zu machen, mobilisiert man statt der ›Biologie‹ nun ›Kultur‹ und ›Religion‹. Man gibt vor, der republikanische Universalismus sei blind für die Rasse, schließt aber die Nichtweißen in ihre angebliche Herkunft ein und vermehrt unablässig die in Wirklichkeit rassifizierten Kategorien«.166 Der Rassebegriff hat bezüglich seiner Tiefenstruktur eine wahnhafte, phantastische und ideologische Dimension, verbunden mit »einer fürchterlichen Verletzungsmacht«,167 wobei der Andere als bedrohlich konstituiert wird.168 Die damit verbundene Schaffung von Herrschaftsverhältnissen ist auch von ökonomischer Bedeutung. »Es wäre ein Irrtum zu glauben, wir hätten endgültig jenes Regime hinter uns gelassen, dessen Urszenen der Handel mit Negersklaven und dann die Plantage oder Bergbaukolonie darstellten. In diesem Taufbecken unserer Moderne setzte man zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Prinzip der Rasse und das Subjekt gleichen Namens unter dem Zeichen des Kapitals an die Arbeit.«169 Von der aktuellen Gesellschaftsanalyse ausgehend lässt sich nach Mbembe das Phänomen des ›Schwarzwerdens der Welt‹ – er spricht auch von der conditio nigra als transnationalem Phänomen170 – beobachten, das die »ganze subalterne Menschheit« betrifft, und die damit verbundene Gefahr für das »Versprechen universeller Freiheit und Gleichheit«, wofür als »manifestes Zeichen der Name Neger« als »soziales Band der Unterwerfung und […] Ausbeutungskörper«171 steht.172 Im Unterschied zur vergangenen Situation ist es heute insbesondere das Überflüssigwerden der subalternen Schichten, das Mbembe

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Mbembe 2014: 23. Vgl. Mbembe 2014: 32. Vgl. Mbembe 2014: 27. Mbembe 2014: 33. Vgl. Mbembe 2014: 37. Mbembe 2014: 43. Vgl. Mbembe 2014: 23.

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beklagt, das Sich-der-Knechte-entledigen, deren Rentabilität nicht mehr gegeben ist. »Aufgrund der Globalisierungsprozesse und ihrer allenthalben zu verzeichnenden widersprüchlichen Auswirkungen bricht allerdings die Rassenlogik erneut in das zeitgenössische Bewusstsein ein.«173 In diesem Zusammenhang sieht Mbembe auch die Gefahr der genetischen Einflussnahme mit Hilfe molekularbiologischer Techniken oder des Einsatzes von Verfahren der Cyborgisierung aufgrund rassischer Kriterien. Er stellt fest: »Rasse und Rassismus haben also nicht nur eine Vergangenheit. Sie haben auch eine Zukunft, vor allem innerhalb eines Kontextes, in dem die Möglichkeit, Lebewesen zu verändern und Mutationen zu erzeugen, keine Science-Fiction mehr ist.«174 In diesem Zusammenhang konstatiert Mbembe verschiedene »Metamorphosen des Ungeheuers«.175 Des Weiteren gehe die »Reaktivierung der Rassenlogik« mit der sich ausbreitenden Sicherheitsideologie einher.176 Er fährt fort: »Ganz wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Beginn des 21. Jahrhunderts in dieser Hinsicht eine große Zeit der Teilung, der universellen Differenzierung und der Suche nach der reinen Identität.«177 In Ergänzung zu Foucault, der Rasse im Hinblick auf den Staat und Machtfragen der Biopolitik hin analysiert und ihn als Rechtfertigungsdiskurs der Legitimierung des Tötens in der Normalisierungsgesellschaft ansieht, untersucht Mbembe – ausgehend von Fanon – die mit dem Rassismus verbundene Imaginationsstruktur des rassistischen und durch die Kategorie Rasse bezeichneten Subjekts, die Realität verändert und Affekte formt.178 Er

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Mbembe 2014: 47. An anderer Stelle heißt es bei Mbembe: »Nach einem kurzen Zwischenspiel ist Ende des 20. Jahrhunderts und um die Wende zum 21. Jahrhundert eine Rückkehr zu einem biologischen Verständnis der Unterscheidung zwischen menschlichen Gruppen zu beobachten.« (Mbembe 2014: 48) Mbembe 2014: 49f. Mbembe 2014: 50. Ibd. Mbembe 2014: 56. So heißt es bei Mbembe u.a.: »Wenn es ein kleines Geheimnis der Kolonie gibt, so liegt es also an der Unterjochung des Eingeborenen durch sein Begehren.« (Mbembe 2014: 224) In diesem Zusammenhang konstatiert er im Rekurs auf Lacan die ›gähnende Leere‹ afrikanischer Schriften über das Thema des Selbst. (Vgl. Mbembe 2014: 225) Und weiter heißt es bei Mbembe: »Das man bei der Konstitution des Subjekts immer noch der Kolonie solch ein gewaltiges psychisches Gewicht beimisst, ist streng genommen eine Folge des Widerstands gegen das Eingeständnis der Unterwerfung der Neger unter das Begehren, der Tatsache, dass sie sich von diesem ›dicken Faden der Phantasiemaschi-

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vergleicht Rassismus mit einer psychischen Störung, in der die Schattenseiten des Unbewussten wirken.179 Mbembe betrachtet in diesem Prozess wie Fanon besonders die Subjektwerdung des durch Anrufung konstituierten Subjekts und dessen Selbstwahrnehmung und füllt damit eine Leerstelle der Foucault’schen Überlegungen. Bei Mbembe bleibt das Prinzip Rasse wie bei Foucault allerdings auch Staatsideologie und -technologie und ist mit dem Sicherheitsdispositiv verbunden.180 Rassistische Kategorisierungen leisten eine Verdinglichung des Menschen und benennen das ›Überschüssige‹, »ohne dass man verpflichtet wäre, Rechenschaft davon abzulegen. Man kann die Arbeit der Rasse daher mit einer Opferung vergleichen«.181 Mbembe stellt fest: »Das rassistische Subjekt sieht das eigene Menschsein nicht in dem, was es mit den anderen gleich macht, sondern in dem, was es von ihnen unterscheidet. In der modernen Welt durchdringt die Rassenlogik die soziale und ökonomische Struktur, interferiert mit Bewegungen derselben Ordnung und verwandelt sich unablässig.«182 Die mit der Kategorie Rasse verbundene Logik geht in die soziale und ökonomische gesellschaftliche Struktur ein und durchdringt sie.183 Des Weitene‹, der die Ware war, haben einnehmen, verführen und täuschen lassen.« (Mbembe 2014: 226) 179 Er führt damit den Interpretationsansatz Fanons weiter, der auf der psychologischen, psychopathologischen und sozialen Ebene das einzelne Subjekt zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung rassistischer Erfahrung macht. Vgl. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Wien (Turia + Kant), 2013. 180 Vgl. Mbembe 2014: 77f. 181 Mbembe 2014: 76. 182 Mbembe 2014: 79. 183 Vgl. Mbembe 2014: 79. Mbembe beschreibt die Betrachtung des Menschen afrikanischer Abstammung als ›Neger‹, das Rassensubjekt, als Phantasma. (Vgl. Mbembe 2014: 84) Andererseits wird Afrika mit seinen Menschen zum Bild der Rückkehr zum Ursprünglichen, insbesondere in der modernen Kunst, zum »schwarzen[n] Vorbild«. (Mbembe 2014: 87) »Die ästhetische, avantgardistisch und anarchistisch geprägte Kritik am Kolonialismus greift einen Großteil dieser Mythen und kolonialistischen Klischees auf und versucht, sie in ihr Gegenteil zu verkehren.« (Mbembe 2014: 90) Ähnliches stellt Mbembe bezüglich der Négritude-Bewegung fest. (Vgl. Mbembe 2014: 90) Zur Verwendung des Begriffs Afrika fasst Mbembe zusammen: »Solch eine Kritik des Lebens als Kritik der Sprache ist es, wozu der Ausdruck ›Afrika‹ uns auffordert.« (Mbembe 2014: 107) Nach Mbembe stellt das Wort ›Afrika‹ die fundamentale Negation von Verantwortungsgefühl und Gerechtigkeit dar. (Vgl. Mbembe 2014: 109) Es heißt bei

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ren untersucht Mbembe den »Appell an die Rasse im schwarzen Diskurs« als »Erinnerung an einen Verlust«184 und analysiert und kritisiert die ihm zu Grunde liegende Umkehrung des westlichen Diskurses, wobei es um die Umwendung des »Symbols der Schande in ein Symbol der Schönheit und des Stolzes«185 gehe. »Ihr Menschsein ist aufgrund der Gewalt der Umstände ein aufgeschobenes Menschsein, das darum kämpft, sich aus der Fixierung und Wiederholung zu befreien und in eine Bewegung autonomen Schaffens zurückzukehren.«186 Die ›Kritik der Rasse‹ bildet für Mbembe die vordringliche Aufgabe, die Ziel seines Philosophierens ist, da das ›Ergebnis der Rassenarbeit‹ »die Negation der bloßen Idee der Gemeinsamkeit und einer menschlichen Gemeinschaft«187 darstellt. Wie bei Appiah steht nicht nur die Kritik an dem die Kolonialisierung rechtfertigenden Begriff der Rasse im Vordergrund, sondern auch die Bedeutung der Rasse im afrikanischen Diskurs wie z.B. in der Négritude-Bewegung. Es gilt die mangelnde theoretische Begründbarkeit und die individuellen und gesellschaftlichen Funktionen und Auswirkungen der Verwendung der Kategorie Rasse sowohl historisch als auch auf die Gegenwart bezogen aufzuzeigen und ihre Wirkmacht durch das kosmopolitische Denken zu durchbrechen. Es wird deutlich, dass Mbembe Kants wertendes und hierarchisierendes Klassifizierungsprinzip Rasse nicht nur grundsätzlich ablehnt, sondern auch eine soziologische und psychologische Erweiterung des Begriffs vornimmt. Dabei zeigt er besonders die gesellschaftliche und politische Funktion der Kategorie und die negativen Folgen ihrer Anwendung im individuellen, sozialen und globalen Bereich auf und bezieht dies auf die aktuelle weltpolitische Situation.

ihm: »Diese Negation ist im Grunde das Ergebnis der Rassenarbeit – die Negation der bloßen Idee der Gemeinsamkeit und einer menschlichen Gemeinschaft.« (Mbembe 2014: 109) Und weiter: »Wir können einen Prozess der ›Afrikanisierung‹ auch anderer Teile der Welt beobachten.« Deshalb gibt es in diesem Namen etwas, das zu Wiedergutmachung, Rückerstattung und Gerechtigkeit auffordert. Diese gespensterhafte Präsenz des Namens in der Welt kann nur im Rahmen der Kritik der Rasse verstanden werden.« (Mbembe 2014: 109) 184 Mbembe 2014: 75. Dabei ist insbesondere die Suche nach Schutz vor dem Verschwinden, nach Reinheit, nach Absonderung und dem Wunsch, dem Opferprinzip zu entkommen, von Bedeutung. 185 Mbembe 2014: 97. 186 Mbembe 2014: 98. Mbembe spricht in diesem Zusammenhang auch vom »suspendierten Menschsein«. (Mbembe 2014: 98) 187 Mbembe 2014: 109.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

2.3.2.3

Afropolitanismus und die Ästhetik der Verwobenheit

Mbembes Ziel ist die Schaffung einer neuen ›afropolitanen‹ Kultur, die transnationalen Charakter hat: »Um das Geistesleben in Afrika und dadurch die Möglichkeit einer Kunst, einer Philosophie und einer Ästhetik, die der ganzen Welt etwas Neues und Bedeutendes zu sagen haben, zu neuem Leben zu erwecken, muss man sich also etwas anderem zuwenden.«188 Diese Kultur zeichnet sich durch Offenheit und Weitblick aus: »Über diesen ›Sinn für das Weite‹ oder Weitblick verfügt über eine noch tiefer gehende Art und Weise auch eine Vielzahl von Künstlern, Schriftstellern, Dichtern, Malern – Geistesarbeitern, die Wache halten in der tiefschwarzen postkolonialen Nacht.«189 Mbembe beschreibt das Projekt des Afropolitanismus mit folgenden Worten näher: »Der Afropolitanismus ist eine Stilistik und eine Politik, eine Ästhetik und eine bestimmte Poetik der Welt. Er ist eine bestimmte Weise des In-derWelt-Seins, die sich prinzipiell jeder Form von Opferidentität verweigert.«190 Er fährt fort: »Der Afropolitanismus vertritt auch eine politische Position in Bezug auf die Nation, die Rasse und die Frage der Differenz im Allgemeinen.«191 In diesem Prozess steht Afrika im Prozess der Immersion und Dispersion in permanentem Austausch. »Im Zeitalter der Zerstreuung und der Zirkulation beschäftigt sich genau diese Kreativität eher nicht mehr mit dem Verhältnis zu sich selbst oder zu einem Anderen, sondern zu einem Intervall, einem Zwischenraum oder Abstand. […] Afrika selbst stellt sich jetzt als riesiger Zwischenraum dar, als unerschöpfliches Zitat, das zu vielerlei Formen kombiniert und zusammengestellt werden kann. Dabei wird nicht mehr auf ein einmaliges Wesen verwiesen, sondern auf eine wiedergewonnene Fähigkeit zur Verzweigung.«192 Er fährt fort: »Die Kulturgeschichte des Kontinents lässt sich ohne das Paradigma der Wanderschaft, der Mobilität und der Umsiedlung kaum verstehen.«193 Mbembe kritisiert in diesem Zusammenhang: 188 189 190 191 192 193

Mbembe 2016a: 290. Ibd. Mbembe 2016a: 289. Ibd. Mbembe 2016a: 280f. Mbembe 2016a: 283. Bei Mbembe heißt es weiter: »Es ist übrigens diese Kultur der Mobilität, die die Kolonialisierung seinerzeit durch die moderne Einrichtung der Grenze stillstellen wollte. An diese Geschichte der Wanderschaft und Mobilität zu erinnern, ist dasselbe wie über Mischungen, Amalgamierungen, Überlagerungen zu sprechen – die

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»Wenn es um ästhetische Kreativität des heutigen Afrikas, ja sogar um die Frage geht, wer ›Afrikaner‹ und was ›afrikanisch‹ ist, neigen die Kritiker von Politik und Kultur zum Verschweigen dieses historischen Phänomens der zirkulierenden Welten.«194 Mbembe konstatiert in diesem Zusammenhang »die Fähigkeit der Afrikaner, in mehreren Welten zu leben und sich gleichzeitig auf beide Seiten des Bildes zu stellen.«195 Mit diesen zirkulierenden Welten ist eine ästhetische Hybridität und ein kultureller Dialog bzw. Polylog verbunden. Die ästhetische Komponente ist zentraler Bestandteil seines Konzeptes des Afropolitanismus. Für Mbembe gehören Ästhetik und Politik eng zusammen. Ästhetik als Bereich der Lebensgestaltung, des Zusammenlebens und der Formung des Selbst und der menschlichen Beziehungen ist mehr als ein erkenntniskritisches Projekt im Sinne Kants. Ästhetik und Politik sind bei Mbembe eng mit dem vermeintlich Privaten verbunden. Ästhetische Objekte in ihrer Formensprache spielen eine wichtige Rolle in Diskurs- und Machtkontexten und bei der Subjektbildung. Kant legt im Unterschied dazu in seiner ästhetischen Schrift Kritik der Urteilskraft Wert auf eine teleologische Grundlegung für seine geschichtsphilosophische Konzeption und führt seine erkenntniskritischen Untersuchungen im Hinblick auf die Suche nach Apriorität im Urteil über das Schöne und Erhabene, das er im interesselosen Wohlgefallen ausmacht, weiter. Damit bestimmt er in der Ästhetik ein universelles Prinzip, dass ein allgemeines Verständnis des Schönen ermöglicht. Für Mbembe dagegen geht es im Ästhetischen in all seinen Bereichen wie Kunst, Musik, Film, Fotografie, Architektur etc. in seiner gestaltenden Dimension insbesondere um eine expressive und verbindende Kraft in der zwischenmenschlichen Kommunikation über Grenzen hinweg. Die ästhetisch-kreative Komponente des Afropolitanismus geht über Kants Kosmopolitismus hinaus, der das strukturpolitische, ökonomische

bereits erwähnte Ästhetik der Verwobenheit. Ob es sich nun um den Islam, das Christentum, die Kleidungs-, Verhaltens- und Sprechweisen, ja sogar die Essgewohnheiten handelt: nichts von alledem hat die Dampfwalze der Metissage und der Vernakularisierung im Sinne einer sprachlichen Eingemeindung überlebt. Das war schon lange vor der Kolonialisierung der Fall. Es gibt nämlich eine präkoloniale afrikanische Moderne, die in den kreativen Prozessen heute noch keine Berücksichtigung gefunden hat.« (Mbembe 2016a: 283f.) 194 Mbembe 2016a: 283. 195 Mbembe 2014: 193.

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und rechtliche Handeln in den Vordergrund stellt. Während Kant die Idee des ›ewigen Friedens‹ als Leitvorstellung imaginiert und im Sinne eines Vertragswerks rechtlich-politisch untermauert, wobei er staatliche, zwischenstaatliche und überstaatliche Verfasstheit und Institutionalisierung, rechtliche Bestimmungen und teleologische Vorstellungen in Bezug auf die Natur dem moralisch-politischen Handeln der Menschen stützend zur Seite stellt, ist bei Mbembe der Mensch in dem Versuch der Realisierung primär auf seine Einsicht, seine Moralität und die Bereitschaft zum Austausch und zur Kooperation angewiesen, lässt aber z.B. mit seiner Forderung nach einer Veränderung des Staatsbürgerrechts auch rechtliche Aspekte nicht unberücksichtigt. Er setzt in der Aufarbeitung der kolonialen und postkolonialen Geschichte auf die Auseinandersetzung mit Traumata, der eigenen Schuld, die Überwindung der Opferhaltung und die Kräfte des Verzeihens und strebt gesellschaftspolitische Umgestaltungsprozesse hin zu mehr Verantwortungsbewusstsein, Teilhabe, Gerechtigkeit und gegenseitigem Austausch an. Nach Mbembe benötigen wir Kant in zweifacher Hinsicht auch heute noch: zum einen als Verfechter des Ewigen Friedens, der den Horizont einer Weltgemeinschaft eröffnet, zum anderen als Verfechter des Menschen als souveränes Vernunftwesen, das seine Leidenschaften und Affekte beherrschen kann und zu einem moralischen Urteil in der Lage ist.196 Des Weiteren rekurriert er auf Kants Begriff der Hospitalität als Weltbürgerrecht, das er entscheidend verändert. Damit bilden Kantische Grundannahmen das allgemeine Fundament seiner Theorie und gehen in seine Zielsetzungen ein, ohne dass sie diese hinsichtlich der Ausgestaltung einzelner Theoreme und der Untermauerung durch einen epistemologischen und ethischen Universalismus – verbunden mit einer teleologischen Position – prägen. So ist z.B. der Aspekt der Verletzbarkeit des Menschen in ihrer stärker leiblich-seelischen Ausprägung als wesensmäßige Bestimmung des Menschen bei Mbembe an die Stelle der Rationalität bei Kant getreten. Anstelle der deontologischen Ethik auf der Basis des kategorischen Imperativs finden wir bei Mbembe eine Ethik der Verletzbarkeit. Im Unterschied zu Kant, der in seinem Kosmopolitismus mit dem Prinzip der Menschwürde anthropozentrisch ausgerichtet ist, versucht Mbembe mit seinem Konzept des Planetarischen den Anthropomorphismus zu überwinden. Während bei Kant Europa den Ausgangspunkt seiner kosmopolitischen Konzeption bildet, liegt bei Mbembe der Fokus auf dem Kontinent Afrika und der afrikanischen 196 Vgl. Mbembe 2015a: 1.

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Diaspora. Es wird deutlich, dass Mbembes ›Afropolitanismus‹ in gewisser Weise einen Afrozentrismus mit kosmopolitischen Elementen verkörpert und dass Kant durch die Grundtheoreme der Weltbürgerschaft, des Völkerbundes und des Gastrechts den Eurozentrismus seiner Philosophie zu überwinden versucht. Mbembe rekurriert mit seiner philosophischen Intention, eine Zeitdiagnose zu erstellen, mit der Betonung des Ästhetischen als Medium der Subjektformung auch in emanzipatorischer Hinsicht und mit der Historisierung der Kantischen Apriorizität in der Diskurstheorie, in der historische Prinzipien, Regeln und Ausschlussverfahren Wissen strukturieren, und seine machttheoretischen Überlegungen auf einen durch Foucault veränderten Kant (siehe dazu Kapitel 3).

2.4

Der kritische Dialog mit Kants epistemologischem und ethischem Universalismus bei Wiredu und Gyekye

2.4.1 2.4.1.1

Kants Universalismus aus der Sicht Wiredus Wiredu und Kants epistemischer Universalismus

Kants epistemischer Universalismus steht im Kontext seiner geschichtsphilosophischen, kosmopolitischen Konzeption. Bei Höffe heißt es im Hinblick auf das politische Potential des Universalismus im epistemologischen und ethischen Bereich, der in einem epistemischen und moralischen Kosmopolitismus mündet: »Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt ein alter Anspruch der Philosophie eine neue Aktualität: wo höchst unterschiedliche Kulturen dieselbe Welt nicht bloß wie bisher ›im Prinzip‹, sondern für alle sichtbar miteinander teilen, dort braucht es eine auf ähnlich sichtbare Weise kulturunabhängige, nicht ethnozentrische, sondern inter- und transkulturell gültige Argumentation. In Analogie zu einer globalen Rechtsordnung kann sie kosmopolitisch heißen, kosmopolitisch freilich nicht in einem rechtlichen, sondern epistemischen Verständnis. Mit ihm erweitert die Kritik den bekannten, politischen Kosmopolitismus Kants um einen noch kaum bemerkten, aber nicht minder wichtigen epis-

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temischen Kosmopolitismus. Über den Hauptzweck der Vernunft erweitert sie ihn zusätzlich um einen moralischen Kosmopolitismus.«197 Höffe erläutert sein Verständnis des Kosmopolitischen in Bezug auf Kant genauer als »auf die gesamte Menschheit gerichtetes Interesse«.198 Diese ›kosmopolitische Lektüre‹199 »versteht die Kritik als Versuch, eine in theoretischer Hinsicht allen Kulturen gemeinsame Welt und eine ebenso allen gemeinsame Menschenvernunft auszuweisen.«200 Diesen Weg der Begründung und des Ausbuchstabierens eines gemeinsamen Wissens auf der Basis inter- und transkultureller Gemeinsamkeiten als Grundlage eines Verständigungsprozesses von Menschen unterschiedlicher Kulturen in einem respektvollen Dialog miteinander201 geht in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie insbesondere Kwasi Wiredu, der sich dabei dezidiert auf Kant bezieht. Er beklagt den zunehmenden Relativismus im Wissen,202 der weder eine gemeinsame Grundlage des Denkens voraussetzt noch schafft und versucht in seiner Theorie Universalismus und Partikularismus zu verbinden.203 Dabei geht es ihm um »the possibilty of universal

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Höffe, Otfried: Kants Kritik der reinen Vernunft: Die Grundlegung der modernen Philosophie. München (C.H.Beck), 2011, S. 19f. Höffe 2011: 29. Vgl. Höffe, Otfried: ›Königliche Völker‹: Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenslehre. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, Kap. 12. Höffe 2011: 20. »The proviso, however, is that the thing must be done in the spirit of respectful dialogue. This is a rather minimal condition, requiring only that ›the other‹ be recognized as an equal participant in rational or, if that is what it actually is, irrational discourse.« (Wiredu 1996: 2) Siehe zur Kritik Wiredus am Relativismus den folgenden Aufsatz: Wiredu, Kwasi: »Knowledge, Truth and Fallibility«. In: Kuçuradi, Ioanna; Cohen, Robert S. (Hg.): The Concept of Knowledge: The Ankara Seminar. Dordrecht (Springer Netherlands), 1995, S. 127-148. »This is the concept of responsibility that is pertinent to discussions of free will and determinism, for instance; and it is in that sense that Arcan moral casuistry would lead one to equate free will with responsability. This argument needs of course, to be continued in a appropriate forum. But it serves here to illustrate a potentially fruitful interplay of conceptual universals with semantical particulars in interlectual discourse.« (Wiredu 1996: 7) Er fasst zusammen: »To sum up the basic message of this book: human beings cannot live by particulars or universals alone, but by some combination of both.« (Wiredu 1996: 9)

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canons of thought and action.«204 Für ihn stellen Universalien die Voraussetzung für eine Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen dar: »This is important because without such universals intercultural communication must be impossible.«205 Wiredu möchte trotz der »colonial and neo-colonial miscommunications« am Universalismus festhalten und die Missverständnisse hinsichtlich des falschen Gebrauchs in (post)kolonialen Machtkontext ausräumen: »More often than not the alleged universals have been homegrown particulars. Not naturally, the practice has earned universals a bad name. But, rightly perceived, the culprits are the hasty purveyors of universals, not the idea of universals itself.«206 Nach Wiredu basieren diese universellen Gemeinsamkeiten, in der Erkenntnis und in der Moral auf biologischen Grundannahmen: Er spricht von seiner »implicit biological orientation«.207 Wiredu bestimmt dabei insbesondere drei universale Prinzipien: »I take the three supreme laws of thought and conduct, namely, the principles of non-contradiction, induction, and the categorical imperative (roughly so called) in the ›[b]iological Foundation of Universal Norms.‹«208 Wiredu stellt fest, dass kulturelle Faktoren diesen Prozess bestimmen. Allerdings haben alle Kulturen neben partikularen Besonderheiten universelle Gemeinsamkeiten. Er sagt: »There are elements of both particularity and universality in culture, in any culture.«209 Interkulturelles Verstehen setzt universell gültige Grundlagen voraus. »Nevertheless, the fundamental biological similarity of all human beings assures the possibility of resolving all such disparities, for the foundation of all communication is biological. Cultural particularities are accidental. What defines the human species are the universals of culture. Thus any fundamental elucidation of the concept of communication must dissipate the cultural relativism which is a bar to intercultural dialogue and, hence, to international understanding.«210

204 205 206 207 208 209 210

Wiredu 1996: 1. Ibd. Wiredu 1996: 2. Wiredu 1996: 1. Wiredu 1996: 1f. Wiredu 1996: 20. Ibd.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Wahrheit als objektive Gültigkeit von Aussagen wird bei Wiredu im Unterschied zu Kant primär unter dem Aspekt des Konsenses in einem interkulturellen Dialog bzw. Polylog betrachtet, der durch die biologisch gegebenen Universalien ermöglicht wird. Kant dagegen präferiert die Korrespondenztheorie und verbindet sie mit den Grundtheoremen der Kohärenz- und Konsenstheorie. »Nach der Kritik gebührt allen drei Gesichtspunkten ein Recht, keinem ein Exklusivrecht, der Korrespondenz sogar ein gewisses Vorrecht, das Kant aber nicht in der naiv-realistischen Weise vertritt, die Kohärenz- und Konsenstheoretiker zu kritisieren pflegen. Seine revolutionär neue, kopernikanisch gewendete Form kritisiert vielmehr die Kritiker, die die Korrespondenz im Sinne eines relativ naiven Realismus verstehen.«211 Um dem Relativismus zu entgehen, gründet Wiredu seine Konsenstheorie auf einen kulturellen Universalismus, wodurch erst die Voraussetzung für einen möglichen Konsens geschaffen wird. Bei genauerer Untersuchung erweist sich, dass der kulturelle Universalismus auf einer epistemischen Basis ruht, die von zugrundeliegenden Begriffen, kognitiven Schemata und Schlussformen ausgeht und somit im Hinblick auf ihre argumentative Funktion der Kantischen Apriorität nahekommt. Wiredu verortet den Garant für Wahrheit und Übereinstimmung in der Ausstattung des menschlichen Erkenntnisvermögens selbst, übernimmt somit in veränderter Form eine Kantische Denkfigur. Dabei integriert Wiredu durch das Theorem der Widerspruchsfreiheit in sein Konzept gleichzeitig eine kohärenztheoretische Annahme. Auch Kant geht von verschiedenen Formen der Kohärenzstiftung aus, so z.B. mit dem obersten Grundsatz der Widerspruchsfreiheit bei analytischen Urteilen, beim synthetischen ›Ich denke‹, das die Einheit des denkenden Subjekts schafft, beim Begriff von Welt, der die Einheit aller Gegenstände gewährleistet, dem Begriff Natur, der einen Zusammenhang von Naturgesetzen impliziert, und nicht zuletzt beim angenommenen teleologischen Zusammenhang, der in einer Fortschrittskonzeption hinsichtlich des Menschen und der Geschichte

211

Höffe 2011: 159. Höffe erklärt: »Erkenntnistheoretisch gesehen ist nach der Korrespondenztheorie eine Aussage wahr, wenn sie der Wirklichkeit entspricht (›korrespondiert‹), nach der Kohärenztheorie, wenn sie mit anderen, sogar mit allen anderen Aussagen zusammenstimmt (›kohäriert‹), nach der Konsenstheorie, wenn sie die Zustimmung anderer, erneut: möglichst aller anderen, findet.« (Ibd.)

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mündet. Bei Wiredu lässt sich wie bei Kant eine Bewegung von der epistemischen Kohärenz – vom Prinzip der Widerspruchsfreiheit ausgehend – zu politisch-ethischen Formen der Kohärenz feststellen, die mit konsenstheoretischen Grundannahmen in Ethik und Politik in Zusammenhang stehen. Höffe stellt in Bezug auf Kant fest: »In der Uneinigkeit klingt der epistemische Naturzustand an, im fehlenden Richtmaß indirekt der epistemische Rechtszustand und in der Übereinstimmung der epistemische Frieden.«212 Wiredu entwickelt in diesem Kontext das Modell einer Konsensdemokratie,213 das er im Gegensatz zur Mehrparteiendemokratie als Vorbild für die politische Entwicklung in Afrika empfiehlt. Da dieses Demokratiekonzept in der afrikanischen Tradition verankert ist und auch durch den ethischen Kommunitarismus in Afrika gesellschaftlich gestützt wird, empfiehlt es sich nach Wiredu für Afrikas politische Ausrichtung.

2.4.1.2

Sprache, Schlussformen und konzeptionelle Schemata bei Wiredu – ein Vergleich mit Kant

Die von Wiredu genannten Elemente des menschlichen Erkenntnisvermögens beziehen sich zunächst einmal auf Schlussformen wie insbesondere in212 213

Höffe 2011: 75. Rechtsfrieden im Rahmen seiner Rechts- und Friedenstheorie bedeutet aber keine »Idylle der Konfliktfreiheit«. (Vgl. Höffe 2011: 74) Wiredu entwickelt sein Modell der Konsensdemokratie ausgehend von der Demokratievorstellung der Akan. Die Herstellung eines Konsenses dient in der Tradition der Akan zur Lösung von Konflikten innerhalb von Verwandtschaftslinien (lineage) und zwischen Ethnien. Siehe dazu den Aufsatz: Wiredu, Kwasi: »Democracy and Consensus in African Traditional Politics: A Plea for a Non-party Polity«. In: Eze, Emmanuel Chukwudi (Hg.): Postcolonial African Philosophy: A Critical Reader. Cambridge, MA/Oxford (Blackwell Publishers), 1997, S. 303-312. Der afrikanische Philosoph Emmanuel Chukwudi Eze erweist sich als strengster Kritiker Wiredus, indem er diesem ein Missverständnis des westlichen Demokratiemodells vorwirft. Vgl. Eze, Emmanuel Chukwudi: »Demokratie oder Konsensus? Eine Antwort an Wiredu«. In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. 2, 1998, S. 32-42. Auch Emmanuel Ifeany kritisiert in seiner Kritik an Bernard Matolinos Aufsätzen zum Thema Wiredus Demokratiekonzept als ›return-to-source project‹, das für die »multi-etnic, culturally diverse and highly pluralistic societies today« nicht mehr geeignet sei. Ifeany, Emmanuel: »The Question of Immanence in Kwasi Wiredu’s Consensual Democracy«. In: Cultura. International Journal of Philosophy and Axiology. 15(1), 2018, S. 169, 162. Er wünscht sich einen weniger nationalistischen Zugang zur Fragestellung. Vgl. auch Matolino, Bernard: »A Response to Eze’s Critique of Wiredu’s Consensual Democray«. In: South African Journal of Philosophy. 28(1), 2009a, S. 34-42 und Matolino, Bernard: »Rationality and Consensus in Kwasi Wiredu’s Traditional African Polities«. In: Theoria. 63(146), 2016, S. 36-55.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

duktive und deduktive Ableitungen. Schließen bedeutet Ableiten und damit verbundenes Urteilen. Bei Kant verweist die Induktion auf die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft als ein Schließen vom Besonderen aufs Allgemeine (vgl. Log, AA 9: 133). Dem induktiven Schließen wie auch dem analogen Schließen kommt nach Kant nur »angenommene und comparative Allgemeinheit zu« (KrV, B 3f.), sie kann demnach keine Wahrheit verbürgen. Die reflektierende Urteilskraft kann also nach Kant zwar eine ›generale‹, aber keine universale Gültigkeit beanspruchen. (Vgl. Log, AA 9: 133) Kant präferiert deduktive Schlüsse und legt dabei einen juristischen Deduktionsbegriff zugrunde, der sich am Vorbild des Erwerbsakts von Eigentum – Kant spricht von einer ›ursprünglichen Erwerbung‹ (vgl. ÜE, AA 8: 221) der strukturierenden Elemente von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft – ausrichtet und in seinen transzendentalen Ableitungen verwandt wird, die die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis untersuchen, wobei reine Anschauungsformen, reine Verstandesbegriffe und transzendentale Ideen wie Gott, Seele und Welt gewonnen werden. Der lateinische Begriff deductio meint dagegen den Schluss im Sinne eines logischen Syllogismus. Es lässt sich feststellen, dass Wiredu das deduktive Schließen im Sinne der deductio versteht. Für Wiredu ist es entscheidend, dass im Kommunikationsprozess ausgehend von induktiven214 und deduktiven Schlüssen ein Konsens hergestellt werden kann. Dabei ist das Gemeinsame des methodischen Vorgehens im Schlussfolgern zentraler Aspekt, nicht die fehlende apodiktische Gewissheit bzw. die Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit in Bezug auf die vollzogene Schlussfolgerung. Diesen Anspruch erhebt Wiredu nicht, er ist mit einer komparativen Allgemeinheit zufrieden, die im Prozess der Konsensbildung ausgehandelt wird. Die transzendentale Frage wird bei Wiredu demnach reduziert auf die Frage nach der Bedingung für einen interkulturellen Konsens auf Grund gemeinsamer Verfahren des Schließens, des Prinzips der Widerspruchsfreiheit und konzeptioneller Schemata. Diesbezüglich lässt sich eine Ähnlichkeit mit Habermas’ Diskurstheorie konstatieren, die vordringlich die Einhaltung von

214 »Let us call the principle of learning from experience the principle of induction (without prejudging any issues about the exact nature of induction). If these two principles, of non-contradiction and induction – principles that are, by any reckoning, basic to human knowledge – are implicit in the power of conceptualization, then it is apparent that together they unite the human activities of understanding and knowing in such a way as to make it impossible that different peoples might be able to communicate, but unable in principle to argue rationally among themselves.« (Wiredu 1996: 27f.)

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Diskursregeln vorsieht. Im Unterschied zu Denkern wie Foucault, der vom historischen Apriori spricht, geht Wiredu nicht von der gesellschaftlichen und historischen Variabilität hinsichtlich der genannten universellen Formationsregeln aus, sondern von deren Invarianz. Den Kantischen Weg der Bestimmung der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit, der Kategorien und der Ideen als synthetische Formen apriori, die die menschliche Erkenntnis strukturieren und in einer ›paradoxen Korrespondenztheorie‹, wie Höffe es nennt, die objektive Erkenntnis der Welt gewährleisten, geht Wiredu nicht mit. Für Kant konstituieren die synthetischen Formen apriori die Gegenstände und ermöglichen so eine objektive Erkenntnis von Welt. In seiner Auseinandersetzung mit Kants synthetischem Apriori in der Geometrie vor dem Hintergrund des Aufkommens der nichteuklidischen Geometrie verteidigt Wiredu Kants Argumentation gegenüber den existierenden ›weekly non-Euclidean‹ Positionen als mit ihnen logisch vereinbar.215 Im Weiteren stellt er fest, dass Kants synthetisches Apriori »is simply a species of intensional truth« und »will became analytic«.216 Er stellt fest: »Finally, regarding my interpretation of the synthetic a priori as notional in the specific sense explained in the text, I wish to stress that this is a matter regarding which one cannot be dogmatic.«217 Wiredu sieht Kants synthetische Apriorität als eine mit dem Begriff verbundene analytisch zu generierende an. Des Weiteren führt er in die Logik im Unterschied zu Kant die Meinung des Sprechers als zentrales Element ein: »we must recognise the cognitive element of point of view as intrinsic to the concept of truth«,218 215

216 217 218

Wiredu, J. E. (alias Kwasi Wiredu): »Kant’s Synthetic A Priori in Geometry and the Rise of Non-Euclidean Geometries«. In: Funke, Gerhard; Kopper, Joachim (Hg.) Kant-Studien. Bd. 61, Heft 1-4, Bonn (H. Bouvier u. Co.), 1970, S. 5-27. In der Nach-Einstein-Ära sind nach Wiredu sowohl die euklidische als auch die nicht-euklidische Geometrie brauchbar, sie seien aber für verschiedene Bereiche anwendbar. So sind die nicht-euklidischen Positionen für die Erklärung von Phänomen im Weltraum angemessener als die euklidische Geometrie. (Vgl. Wiredu 1970: 10) Wiredu 1970: 17. Wiredu 1970: 27. Wiredu, Kwasi: Philosophy and African Culture. Cambridge, London, New York et al. (Cambridge University Press), 1980, S. 115. Wiredus Interesse gilt des Weiteren der Untersuchung des logischen Schließens hinsichtlich Ableitbarkeit und Deduzierbarkeit, des hypothetischen Charakters von Prämissen und Konklusionen und der Relation zwischen Wahrheitswert und Gültigkeit. Gültiges Schließen ist unabhängig vom Wahrheitswert der Propositionen möglich. Seiner Meinung nach benötigt das Axiom der Widerspruchsfreiheit die Annahme eines übereinstimmenden bzw. identischen

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

ohne Kants Betonung des Rationalen aufzugeben. Wahrheit setzt eine rationale Befragung des in der Meinung geäußerten Urteils voraus, in der sich die Angemessenheit des Urteils in der Qualität der Rechtfertigung der Behauptbarkeit und in der Konformität mit Prinzipien der rationalen Überprüfung ergibt: »truth is rationally justified belief.«219 Mit diesen Kriterien – »the canons of rational thinking«220 – versucht Wiredu in seiner Kritik am absoluten Wahrheitsbegriff die Gefahr des Relativismus221 auf der interpersonalen wie auf der interkulturellen Ebene zu vermeiden.222 Ziel ist die Schaffung von Konsens mittels rational überprüfbarer Wahrheitsansprüche auf Grund gemeinsamer rationaler Verfahren und Konzepte. »The deeper reason against relativism is, as is already apparent in my earlier remarks, that it falsely denies the existence of interpersonal criteria for rationality. That is what the denial of objectivity amounts to. Unless at least the basic canons of rational thinking were common to men they could not even communicate among themselves. Thus in seeking to foreclose rational discussion the relativist view is in effect seeking to undermine the foundations of human community.«223 Wiredu fordert in seiner pragmatisch ausgerichteten Wahrheitstheorie den Rekurs auf John Deweys Konzept von »truth [as] the same as warranted as-

Standpunktes als kognitives Moment verbunden mit einem Wahrheitsanspruch. »To return to the notion of truth claims, it is to be noted that the relevance of this too in logic has sometimes be contested. The suggestion is that it is of no interest to logic to determine issues of truth or falsity one way or another.« In: Wiredu, J. E. (alias Kwasi Wiredu): »Deducibility and Inferability«. In: Mind. New Series. 82(325), Jan. 1973, S. 39. Wiredu sieht Logik auch diesbezüglich in der Pflicht: »truth is a constituent of the idea of relevance.« (Wiredu 1973: 53) Wichtig sei es, den hypothetischen Charakter von Widersprüchen und Schlüssen deutlich zu machen und zwischen beweiskräftigem Schlussfolgern und hypothetischem Deduzieren zu unterscheiden. 219 Wiredu 1980: 214. 220 Wiredu 1980: 218. 221 »When the relativist says that truth is personal – let us for convenience restrict our considerations to individualistic relativism – he means that each individual’s opinions are true in their own private ways. In other words, there are no interpersonal criteria for regulating beliefs and opinions.« (Wiredu 1980: 219) 222 Vgl. Wiredu 1980: 232. 223 Wiredu 1980: 222. And: »The relativist just cannot make out any difference between ›true for him‹ and ›held to be true by him‹.« (Wiredu 1980: 220)

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sertibility«224 und das Verfahren des ›rational criticism‹.225 Die Möglichkeit des Irrtums und zur Falschheit bleibt bei der Suche nach Wahrheit immer gegeben. Wiredus konstatiert im Hinblick auf die Wahrheitsfrage eine moralische Dimension und verbindet seine Wahrheitskonzeption mit moralischen Forderungen wie der Kritik an absolutistisch auftretenden Wahrheitsansprüchen, am Aufoktroyieren von Meinungen auf Andere und dem Recht, sich seine eigene Meinung bilden zu können.226 Sein Konzept von Wahrheit versucht Dogmatismus, Fanatismus, Unterdrückung und Authoritarismus entgegenzuwirken.227 Er fordert Offenheit und ruft dazu auf, sich an der wissenschaftlichen Praxis, die eine Haltung des Fehlbarkeitsdenkens fördert, zu orientieren.228 Erkenntnistheorie, Moral und Politik gehen auch an dieser Stelle bei Wiredu eine enge Verbindung ein und führen zur Konzeption einer möglichen Annäherung an die Good Society mittels der Verbesserung gesellschaftspolitischer Zustände und Systeme, hinsichtlich der er sich auf Kants regulative Ideen bezieht, die helfen, die menschlichen Anstrengungen auf ein Ziel auszurichten.229 »A utopian is not necessarily an optimist: or let me put it this way: the optimism inherent in utopism must be an extremely longterm optimism. Consciousness of the multifarious causes which currently operate to keep the prospect of true social regeneration locked in the dim recesses of the future must imbue the utopian with a sense of the tragic character of human life.«230 Das kritisierte korrespondenztheoretische Wahrheitstheorem wird bei Wiredu auch in anderer Weise angesprochen. Zum einen mittels des kognitiven Schemas des Objekts, das kulturübergreifend in der konzeptionellen Grundausstattung aller Menschen verankert ist, wodurch die Frage nach der spezifischen Ausformung des konzipierten Gegenstandsbezugs auf die Welt vom Grundsatz her angelegt ist. Wiredu sagt: »In essence, the answer lies in the 224 Wiredu 1980: XII. 225 Vgl. Wiredu 1980: 221. 226 »No, what I am maintaining is that my theory of the cognitive concept of truth contains the moral principle mentioned as an intrinsic part.« (Wiredu 980: 223f.; vgl. auch Wiredu 1980: 223) 227 Wiredu 1980: 122. 228 Wiredu 1980: 123. 229 Vgl. Wiredu 1980: 88f., 97, 98. 230 Wiredu 1980: 98.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

fact that the concept of object in general is a common possession of all humans. Operating with this concept is an essential aspect of the human way of interacting with the environment. It is what gives it a cognitive dimension.«231 Der Objektbezug ist dabei primär durch direkte Perzeption gegeben. Bei Wiredu heißt es dazu präzisierend: »The word ›direct‹ here does not imply the absence of conceptualization.«232 In diesem Prozess strebt der Mensch Selbsterhaltung und das Herstellen eines Gleichgewichts an: »And because a basic imperative of this cognitive interaction is the drive for self-preservation and equilibrium, the essential descriminations of items of the environment, which the possession of the concept of object in general makes possible, will be of the same basic kind in actuality, if not necessarily in articulation, among all humankind.«233 Der Objektbezug wird im Unterschied zu Kant im Handlungszusammenhang realisiert, konkretisiert, adjustiert und ggf. korrigiert. Zum anderen diskutiert Wiredu die sprachlichen Implikationen einer möglichen Korrespondenz von gedanklicher bzw. sprachlicher Repräsentation und Welt ausgehend von der in der Akan-Sprache zu konstatierenden Begrifflichkeit, die keine Substantivierung und mit ihr verbundene Tendenz zur Essentialisierung vorsieht, wodurch insbesondere Fragen der Übersetzung ins Blickfeld rücken, wobei Wiredu von der grundsätzlichen Übersetzbarkeit aller Sprachen ausgeht.234 Nach Fayemi besteht eine Inkonsistenz im Denken Wiredus zwischen seinem Versuch der Dekolonialisierung des Denkens unter Rekurs auf afrikanische Konzepte wie z.B. The Akan Concept of Mind (1983), An Akan Perspective on Human Rights (1990) and The African Concept of Personhood (1992), der einen Hang

231 232 233 234

Wiredu 1996: 25. Wiredu 1996: 26. Wiredu 1996: 25f. Der Aspekt der Korrespondenz zwischen Erkenntnis und Gegenstandswelt stellt sich nach Wiredu in der Akan-Sprache nicht, in der Wahrheit und Fakt synonym gebraucht werden. »The problem of how the concept of truth is related to that of fact therefore does not arise in Arcan.« (Wiredu 1996: 5) Des Weiteren hält er aber eine Übersetzung der Fragestellung in die Akan-Sprache für möglich und so auch einen Austausch über das angesprochene konzeptionelle Schema. Hallen macht im Zusammenhang mit der Unübersetzbarkeit bzw. mangelhaften Übersetzung von Konzepten verschiedener Kulturen auf das Problem des ›disguised conceptual colonialism‹ aufmerksam. Vgl. Fayemi, Ademola Kazeem: »A Critique of Cultural Universals and Particulars in Kwasi Wiredu’s Philosophy«. In: TRAMES. 3, 2011, S. 269.

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zum Partikularismus offenbare, und seiner Suche nach Universalien.235 Aus meiner Sicht geht es Wiredu gerade um dieses Zusammenspiel von Universalismus und Partikularismus, so dass der Vorwurf der Inkonsistenz nicht aufrechterhalten werden kann. Die universalen Regeln im erkenntnistheoretischen, ethischen und kulturellen Bereich, die Wiredu ausmacht, gehen in die jeweils partikularen Ausformungen ein und gewährleisten die Möglichkeit zu gegenseitigem Verstehen, zu gelungener Kommunikation und erfolgreichem gemeinsamem Handeln, auch über kulturelle Grenzen hinweg. Nach Kant ist Sprache als ›Mittheilung der Gedanken‹ (Refl, AA 16: 39) mit dem Denken verbunden und ermöglicht sprachliche Kommunikation. Kant sagt: »Da die Form der Sprache und die Form des Denkens einander parallel und ähnlich ist, weil wir doch in Worten denken, und unsere Gedanken durch Sprache mittheilen, so gibt es auch eine Grammatic des Denkens.« (VMo/Mron, AA 29: 31) Die Logik des Denkens wird nach Kant vom Gebrauch des Verstandes abgeleitet und ist somit von größerer Allgemeingültigkeit als die Regeln des Sprechens, die sprachübergreifend eine allgemeine Grammatik (Log, AA 9: 12) offenbaren. Die Logik des Denkens ist für Kant in diesem Zusammenhang von herausragender Bedeutung. Die transzendentale Grammatik müsste nach ihm auf den Kategorien des Verstandes basieren und würde somit allen existierenden Sprachen zugrunde liegen. Philosophische Sprache erfordert ein Zergliedern gegebener Begriffe, wodurch ein sicheres Verständnis möglich wird. Sprachliche Neuschöpfungen lehnt Kant im Bereich der Philosophie ab, er präferiert im Falle der Unklarheit einen Rekurs auf tote Sprachen wie Latein. Diese Unterscheidung zwischen einer Logik des Denkens und des Sprechens ist bei Wiredu nicht zu finden. Er verortet alle epistemischen Universalien allein im Bereich der Sprache. Die unterschiedlichen Sprachen schaffen nach Wiredu »Variegations of patterns of thought«,236 die aber einer grundsätzlichen Verständigung über Kulturgrenzen hinweg nicht im Wege stehen. Auch für ihn ist die Logik als Möglichkeit zur Schaffung von Kohärenz und Konsens entscheidend. Allerdings begreift er nicht wie Kant den Gebrauch des Verstandes mit seinen Kategorien als das primäre, das sich im Denken und Sprechen manifestiert, sondern glaubt, dass sich die gemeinsamen Schemata im Kommunikationsprozess durch die Bewältigung vergleichbarer Lebenssituationen mit dem Erwerb von Sprache erst ausbilden. Nach Wiredu formt sich der Geist im Kom235 Fayemi 2011: 267. 236 Wiredu 1996: 24.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

munikationsprozess auf der Basis der mit dem Menschsein verbundenen biologischen Gemeinsamkeiten erst in spezifischer Weise. Kant dagegen geht von einer Strukturierung der Erkenntniskräfte Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft apriori aus – im Sinne seiner Konzeption der acquisitio originaria.237 Neben den Schlussformen des Denkens sind es die konzeptionellen Schemata, die Wiredu als gemeinsame Ausstattung des Erkenntnisvermögens der Menschen stark macht. Sie bilden sich im Kommunikationszusammenhang aus. Durch die mit der biologischen Ausstattung des Menschen verbundene Gemeinsamkeit von Erfahrungen, Welt- und Lebensbezügen und Kommunikationssituationen, ergeben sich überkulturelle Gemeinsamkeiten hinsichtlich der konzeptionellen Schemata. Für Wiredu ist diese Objektivität von epistemischen Konzepten entscheidend für die menschliche Verständigung.238 Weiter heißt es bei ihm zur Bedeutung der sozialen Interaktion im Hinblick auf die Ausbildung sprachlicher Konzepte. »The development of mind is the development of communication. We do not first develop a mind which then has to learn how to communicate. The objectivity of concepts is guaranteed by their social provenance. This remark is not ment atomistically. Language is a system, and a concept is necessarily an element of language. Given the social establishment of a certain minimum of linguistic abilities, individual conceptual inventiveness is possible and its results are interpersonally intelligible because of the rule-governed charcter of language.«239 Wiredu versteht Kultur in einem weiten Sinne als »social forms and customary beliefs and practices of a human group. These phenomena themselves depend on the existence of language, knowledge, communication, interaction, and methods of transmitting knowledge to the 237 Kants Begriff acquisitio originaria entstammt dem naturrechtlichen Diskurs; er überträgt ihn in die Sphäre der Erkenntnistheorie. Bei Kant heißt es: »Ich erwerbe etwas, wenn ich mache (efficio), daß etwas mein werde. – Ursprünglich mein ist dasjenige Äußere, was auch ohne einen rechtlichen Akt mein ist. Eine Erwerbung aber ist ursprünglich [recte: Eine ursprüngliche Erwerbung aber ist] diejenige, welche nicht von den Seiten eines anderen abgeleitet ist. Nichts Äußeres ist ursprünglich mein; wohl aber kann es ursprünglich, d.i. ohne es von dem Seinen irgend eines anderen abzuleiten, erworben sein.« (KrV, AB 76) 238 Er sagt: »As has already been amply emphasized, the objectivity of concepts is an essential condition of communication.« (Wiredu 1996: 18) 239 Wiredu 1996: 19.

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born and the unborn. And this is the fundamental sense of the word ›culture‹. In this sense, one might sum up the proceding discussion by saying that the fact of language itself, i.e., the possession of one language or another by all human societies, is the cultural universal par excellence.«240 Sprache wird danach bei Wiredu zur grundlegenden Universalie. Kant untersucht vergleichbare Fragen menschlicher Unterschiede hinsichtlich ihrer Lebensformen etc. in der Anthropologie und physischen Geographie und versteht Kultur in einem engeren Sinne als Ausbildung menschlicher Fähigkeiten und Praktiken und die im Prozess der Vervollkommnung entstehenden Wissenschaften, Künste etc. »Die Hervorbringung der Tätigkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur« (KU, AA 5: 431) Dabei geht es um die Entwicklung der dem Menschen gegebenen Gattungsanlagen u.a. in einer ›Cultur der Geschicklichkeit‹, einer ›Cultur der Zucht‹ und einer ›Cultur des Geschmacks‹ (vgl. Anth, AA 7: 322; KU, AA 5: 432 und Refl, AA 15: 438). Auch für Kant ist der Kommunikationszusammenhang entscheidend, wobei die dem Menschen eigene ›ungesellige Geselligkeit‹ (IaG, AA 8: 20) zwar einerseits ein konfliktreiches Miteinander, aber andererseits die motivationale Grundlage für den ständigen Prozess des Fortschreitens schafft. Kultivierung stellt also einerseits einen individuellen, andererseits aber auch einen gesamtgesellschaftlichen Prozess der Weiterentwicklung dar. Dieser hängt bei Kant des Weiteren mit der Zivilisierung insbesondere in Fragen des sittengemäßen Umgangs miteinander und in herausgehobener Weise mit der Moralisierung des Menschen, die von der ›Cultur des Geschmacks‹ befördert wird (vgl. Refl, AA 15: 438), zusammen. Der Gedanke einer zunehmenden Vervollkommnung des Menschen und des menschlichen Zusammenlebens auf der Welt ist bei Wiredu nicht zu finden, wohl aber der Aufruf zu größeren menschlichen Anstrengungen zu Verbesserungen – insbesondere im gesamtgesellschaftlich-politischen Bereich. So beschäftigt sich Wiredu z.B. mit der Frage der angemessenen Herrschaft, der Legitimation von Macht, der bürgerlichen Partizipation, der individuellen Verantwortlichkeit, des Auffindens von Gemeinsamkeiten als Voraussetzung für die Schaffung eines Konsensus.

240 Wiredu 1996: 28.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

2.4.1.3

Moraltheoretische und politische Implikationen bei Wiredu und Kant

Auch die ethisch-politische Ausrichtung des Interesses bei der Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Themen haben Kant und Wiredu gemeinsam. Erkenntnistheorie wird bei beiden immer auch im Kontext praktischer Fragestellungen gesehen. Bei Höffe heißt es hierzu in Bezug auf Kant: »Nicht erst in seiner Moraltheorie, sondern schon in seiner Theorie des Wissens philosophiert Kant in praktischer, genauer: moralischer Absicht. Wer das Werk bis zum letzten Teil, der ›Methodenlehre‹, liest, erfährt, was schon im Motto und der zweiten Vorrede anklingt: die Kritik als ganze ist eine im emphatischen Sinn praktische Philosophie.«241 Er folgert: »Damit verbindet sich eine gewaltige Aufwertung der Moral.«242 Und weiter heißt es bei ihm: »Während Kant die reine theoretische Vernunft in die Schranken weist, indem er die metaphysischen Exzesse der Tradition einer rigorosen Diät unterzieht, erhöht er im Gegenzug Rang und Reichweite der Moral als der reinen praktischen Vernunft.«243 Höffe fasst zusammen: »Danach stellt das epistemische Wohlergehen nur das (freilich unerläßliche) Mittel für jenen praktischen Hauptzweck dar, das ›Moralische‹, der allein bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich zählt (B 829).«244 Auch Wiredu betont unter Rekurs auf Kant mit seinem moralischen principle of sympathetic impartiality245 ein universales moralisches Prinzip, das gleichzeitig auch von politischer Bedeutung ist. Bei beiden Philosophen haben erkenntnistheoretische Theoreme Implikationen moralischpraktischer und politischer Art und sind das Fundament praktischer und politischer Philosophie: bei Kant ist es die Ausstattung apriori des menschlichen Erkenntnisvermögens und bei Wiredu sind es die ›common norms of thought‹,246 die wie allgemeine Regeln der Strukturierung des Denkens wirken und im erkenntnistheoretischen Bereich die für die Verständigung notwendigen Gemeinsamkeiten verbürgen. Wiredu konstatiert eine Ähnlichkeit zum kategorischen Imperativ von Kant und beansprucht für das Prinzip sympathetic impartiality vergleichbar eine universelle Geltung im moralischen Bereich.

241 242 243 244 245 246

Höffe 2011: 21. Höffe 2011: 23. Höffe 2011: 24. Höffe 2011: 29. Wiredu 1996: 29. Wiredu 1996: 34.

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»On the [sic!] these grounds it may be asserted that the principle of sympathetic impartiality is a human universal transcending cultures viewed as social forms and customary beliefs and practices. In being common to all human practice of morality, it is a universal of any non brutish form of human life.«247 Das Prinzip schafft somit auch im moralischen Handeln die Möglichkeit zur Konsensfindung über kulturelle Grenzen hinweg. Mit Wiredus Worten: »It seems clear, in any case, whether or not, as a matter of philosophy, people take this principle to be the basis of all morals, that, as a fact of ethical life, it is essential to the harmonization of human interests in society.«248 Nach Wiredu fehlt dem kategorischen Imperativ von Kant nur »the injection of a dose of compassion«,249 um dem Prinzip der sympathetic impartiality zu entsprechen. Wiredus Regel sieht vor, dass ich mich an die Stelle des vom Handeln Betroffenen setze und mitfühlend reagiere, dabei vergleicht er das Vorgehen mit der goldenen Regel. Gerade die Verallgemeinerbarkeit als formale Prüfung der subjektiven Maxime im Hinblick auf ihre mögliche Eignung als allgemeines Gesetz bzw. Naturgesetz soll nach Kant Unparteilichkeit schaffen. Als einziges moralisches Gefühl lässt Kant die Achtung vor dem Gesetz als motivationale Grundlage für moralisches Handeln zu, ein der Rationalität nahestehendes Gefühl. Gefühlen wie z.B. Mitleid misstraut Kant hinsichtlich ihrer Eignung, Verallgemeinerbarkeit herstellen zu können. Die ›harmonization of interests‹ erfolgt bei Kant nicht inhaltlich, sondern durch formale Verfahren. Eine Erweiterung des kategorischen Imperativs – entsprechend des Vorschlags von Wiredu – wäre demnach nicht im Sinne Kants. Allerdings spricht Wiredu an anderer Stelle von einer objektiven Seite der Moral, bei der das Einfühlen in den Anderen von weniger großer Bedeutung zu sein scheint: »It is the kind which seeks its objective through the empathetic harmonization of human interests. […] Empathetic or not, a certain minimum of harmonization of interests is indispensable to any tolerable form of human social existence. Hence morality, at least in its objective side, is humanly essential. Herein lies the universal obligatoriness of moral rules.«250

247 248 249 250

Wiredu 1996: 29. Ibd. Ibd. Wiredu 1996: 64.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Hier geht es primär um die Harmonisierung verschiedener Interessen – auch unabhängig von Empathie. Odera Oruka macht darauf aufmerksam, dass diese Funktion gleichermaßen von Rawls Prinzip des ›rational egoism‹ erfüllt werden könne, als Weg eigene Interessen auf rationale Weise durch Täuschung wahren zu können. Im Naturzustand und sogar im ›civil state‹ fehle dem Menschen nach Rawls ›sympathetic impartiality‹. Wiredu habe es versäumt dieses Argument zu entkräften. »To be human entails (as Wiredu has shown) to be rational. But to be rational must be shown to entail to be human, if Wiredu wishes to forestall the objection of rational egoism. Wiredu could perhaps comfortably provide this requirement, so that rationality and humaneness become coimplicants by invoking the Socratic‘ doctrine of knowledge as virtue or by simply supplying some bridging argument of his own.«251 Odera Oruka irrt hier, denn Wiredu verortet sein Prinzip wie auch seine erkenntnistheoretischen und kulturellen universellen Prinzipien in der biologischen Verfasstheit des Menschen. Die Kritik an Wiredus Universalismus müsste an dieser Stelle – an seinem Biologismus – ansetzen. Wiredu entkräftet das Argument Odera Orukas zum einen durch ein psychologisches Argument, fehlende Empfindungen von Sympathie, Erwartungen von sympathiegetragenen Reaktionen anderer Menschen oder zumindest die Hoffnung darauf würden einen psychologischen Zusammenbruch herbeiführen, und zum anderen durch eine Graduierung von Moralität und vom Gefühl der Sympathie: »In truth, the problem of morality is not that human beings don’t have sympathy, but rather that they don’t always have enough of it. […] Morality is an ideal, and a special one. We cannot do without a modicum of it, but we must do without its maximum. Perhaps some beings can get by with impartiality without sympathy. But we humans need both.«252 Das erste Argument setzt eine psychologische Natur des Menschen voraus, die mit Wiredus Biologismus zusammenhängt, aber noch genauer hergeleitet werden müsste. Das zweite Argument der Graduierung kann Orukas Kri-

251

Odera Oruka, Henry: »Cultural Fundamentals in Philosophy Obstacles in Philosophical Dialogues«. In: Kuçuradi, Ioanna; Cohen, Robert S. (Hg.): The Concept of Knowledge: The Ankara Seminar. Dordrecht (Springer Netherlands), 1995, S. 169. 252 Wiredu 1996: 202.

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Interkulturelles Philosophieren

tik ausgehend vom Rawlschen Prinzip nicht ohne eine zusätzliche Annahme entkräften. Das Täuschen bzw. Imitieren der sympathetic impartiality bei der Anwendung des Prinzips vom ›rational egoism‹ setzt meines Erachtens voraus, dass wohlwollende Unparteilichkeit vom Menschen auch schon im Naturzustand empfunden werden kann. Die Frage ist dann nur, ob dies Theorem zurecht als moralisches Grundprinzip gelten kann. Odera Orukas Vorschlag, Wiredus Universalien, die aus den Bereichen Logik, Wissenschaft, Moral und Kommunikation stammen, durch ›intuition‹ zu ergänzen,253 hängen mit seiner Präferenz für spekulative und utopische Wege in der Philosophie zusammen, die sowohl Weise (sages) als auch ›path-finder‹ bevorzugen.254 Auch im Hinblick auf den interkulturellen Dialog hält Oruka ›intuition‹ als Verständigung ermöglichenden Faktor für unerlässlich.255 Dieser Vorschlag wird von Wiredu mit folgenden Worten akzeptiert: »I am not absolutely shure that this is an attribute of the mind distinct from those already taken note of in my discussion, but I can find no ground of objection to according it the status claimed bei Oruka.«256 Ein weiterer Ergänzungsvorschlag zu den von Wiredu vorgeschlagenen Universalien findet sich bei Fayemi, der sich für das Prinzip Kausalität stark macht, das sich in allen Kulturen der Welt finde. Dabei könne das Prinzip kulturell unterschiedliche Formen annehmen, so liege der Fokus im Westen eher auf einer ›event causation‹, während in Afrika die ›agent causality‹ vorherrsche. Gemeinsam sei diesen Auffassungen: »temporal precedence, necessary connection, transitivity«.257 Es lässt sich vermuten, dass Wiredu diesen Vorschlag ebenfalls wohlwollend prüfen würde. Er selbst widmet sich der Fragestellung im Hinblick auf die Intervention bzw. Einmischung von Gott in der holistischen Weltauffassung der

253 »Intuition is a form of mental skill which helps the mind to extrapolate from experience and come to establish extra-statistical inductive truths or it enables mind to make a correct/plausible logical inference without any established or known rules of procedure.« (Odera Oruka 1995: 171) 254 Vgl. Odera Oruka 1995: 179. 255 »I am not denying the possibility of dialogue whether in formalized philosophical situation or in the world between races and ideologies. What I wish to stress is the necessity to include intuition with all its positive and negative qualities as an important factor in a dialogue.« (Odera Oruka 1995: 176) Odera Oruka macht in seinem Aufsatz auf ›cultural fundaments‹ als Hindernis für den innerphilosophischen Diskurs aufmerksam. (Vgl. Odera Oruka 1995: 174f.) 256 Wiredu 1996: 202. 257 Fayemi 2011: 273f.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Akan, wonach durch die angenommene holistische Homogenität kein Eingreifen von außen im Sinne einer mit einer hierarchischen Ordnung verbundenen Kausalität wie im christlichen Denken denkbar sei. Es zeigt sich, dass das Problem der Kausalität bei Wiredu noch tiefer und umfassender durchdacht werden müsste. Wiredu rekurriert des Weiteren auf Kants Unterscheidung zwischen legalem und moralischem Verhalten, wobei letzteres im Unterschied zur bloßen Regelkonformität eine besondere moralische Einstellung markiert. »An individual is not deserving of moral approbriation merely because he did something which promotes the requisite harmony of interests; he has to have done it in the requisite spirit. This last remark must again remind us of Kant.«258 Als zentraler Unterschied zum Kantischen Denken nennt Wiredu den Aspekt, dass moralisches Handeln einen Beitrag zum Wohlergehen der Menschen leisten soll. Kant dagegen sieht den Pflichtcharakter der Moral im Vordergrund und nennt als möglichen Ausgleich die Hoffnung auf das höchste Gut. Die Universalität des moralischen Prinzips aufgrund ihres formalen Regelcharakters liegt bei Wiredu demnach eindeutig nicht vor. Universalität bezieht sich bei ihm auf die Tatsache, dass sich das Prinzip der sympathetic impartiality überall auf der Welt auffinden lässt, Wiredu nennt insbesondere Beispiele aus Afrika. Auch stellt er fest, dass inter- und transkulturelle Verständigung im Bereich Moral möglich ist, was auf ein gemeinsames Prinzip hinweise. Kant würde zwar diesen von der Erfahrung ausgehenden induktiven Weg ablehnen, bewegt sich aber mit seinem Argument vom kategorischen Imperativ als Faktum der reinen Vernunft durchaus auf einer vergleichbaren Ebene, indem er auf das auffindbare Repertoire der Vernunft hinsichtlich der Vernunftausstattung des Menschen rekurriert. Der Nachweis erfolgt dabei praktisch und nicht theoretisch. Indem der Mensch etwas tun kann, weil er denkt, dass er es tun soll, was sich in einem unbedingten moralischen Anspruch manifestiert, realisiert er seine Freiheit im Handeln. Wiredu dagegen rekurriert hinsichtlich der Herausarbeitung seines Faktums auf das Handeln der Menschen vom Grundsatz gleicher Lebensbedingungen her empirischpraktisch. Das Kantische Verfahren weist demnach große Unterschiede zu

258 Wiredu 1996: 64.

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Interkulturelles Philosophieren

Wiredus argumentativem Vorgehen auf, wenn auch die Suche nach Universalien im Bereich Erkenntnistheorie und Moral wie auch die Tatsache, dass sie daraus gesellschaftliche und politische Implikationen ableiten, wenn auch jeweils in anderer Hinsicht, beide verbindet. Kant muss als wichtiger Dialogpartner Wiredus angesehen werden. Wiredu entwickelt seine eigenen philosophischen Theoreme in einem kritischen Dialog mit Kant.

2.4.1.4

Wiredus Modell der Konsensdemokratie

Wiredu konzipiert ausgehend von seiner Theorie des kulturellen Universalismus im erkenntnistheoretischen und ethischen Bereich das Modell der Konsensdemokratie, das er im Gegensatz zur Mehrparteiendemokratie als Vorbild für die politische Entwicklung in Afrika empfiehlt. Das politische Projekt zeigt, dass Wiredus Plädoyer für den kulturellen Universalismus als theoretische Grundlage für die Möglichkeit zu Kommunikation und Verständnis im globalen Rahmen nicht mit einer Vernachlässigung des Partikularen und Lokalen verbunden ist. Da dieses Demokratiekonzept in der afrikanischen Tradition verankert ist und durch den ethischen Kommunitarismus in Afrika gestützt wird, empfiehlt es sich nach Wiredu für Afrikas politische Ausrichtung. In seinem Modell der Versöhnung als Form des Konsensus rekurriert Wiredu beispielhaft auf die Demokratievorstellung der Akan. Er macht auf die wichtige Rolle des Prinzips des Konsensus im Rahmen der afrikanischen Gesellschaft aufmerksam, das zunächst nicht als politisches, sondern als interpersonelles Phänomen einen Ausgangspunkt für gemeinsames Handeln bildet. Ziel sei es, bei der Lösung von Konflikten innerhalb von Verwandtschaftslinien (lineage) und zwischen Ethnien Versöhnung als eine Form des Konsenses anzustreben. Diese Vorstellung wird nach Wiredu vom Symbol der zwei Krokodile, die über einen gemeinsamen Magen verfügen, verbildlicht. Es symbolisiert, dass alle Menschen gemeinsame Interessen haben und nur gemeinsam überleben können – letzlich ist also von einer Interessengemeinschaft aller Menschen auszugehen. Das Gegensätzliche soll demnach versöhnt und harmonisiert werden, wobei nicht vom Erreichen einer vollkommenen Übereinstimmung auszugehen sei. »It does not necessarily involve a complete identity of moral or cognitive opinions. It suffices that all parties are able to feel that adequate account has been taken of their points of view in any proposed scheme of future action

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

or coexistence. Similarly, consensus does not in general entail total agreement.«259 Obwohl es in der althergebrachten Ashanti-Sprache kein Wort für Wahl gibt, wird das Oberhaupt ohne formalen Wahlakt in einem Konsens bestimmt, in der Regel ein durch Alter, Weisheit, Verantwortlichkeit und Überzeugungskraft herausragendes Mitglied der matrilinear organisierten Verwandtschaftsgruppe. Der Stadtrat ist wiederum aus den Oberhäuptern der Verwandtschaftslinien zusammengesetzt, ihr Chief entstammt in der Regel der königlichen Familie, dessen Wahl durch die ›Königinmutter‹ muss aber vom Rat und von der ›Gesellschaft der jungen Leute‹ bestätigt werden. Der König gilt als Bindeglied zwischen den verstorbenen Ahnen und der lebenden Bevölkerung. Wiredu weist auf den repräsentativen Charakter der Ratsbildung hin, der gleichermaßen auf anderen Regierungsebenen wie Stadtrat, Bezirksrat, nationaler Rat anzutreffen sei, wobei das Repräsentationsprinzip sowohl eine formale als auch eine substantielle Seite habe. So habe jeder Mensch in Bezug auf seine Interessen und die seiner Gruppe das Recht repräsentiert zu werden. Nach Wiredu kreiert formale Repräsentation ohne substantielle Repräsentation Unzufriedenheit.260 Selbst wenn der Konsensus nicht immer erreichbar sei, gilt es ihn anzustreben: »But suppose this is not the case. Even so, it can always be aimed at, and the point is that any system of politics that is seriously dedicated to this aim must be institutionally different from a system based on the sway of the majority, however hedged around with ›checks and balances‹.«261 Von diesem Aspekt ausgehend kritisiert Wiredu die Demokratieform, der ein Mehrheitsprinzip zugrunde liegt, die Mehrheitsdemokratie, und stellt sie dem Modell der Konsensdemokratie gegenüber. Er äußert eine generelle Kritik am gängigen westlichen Demokratiemodell und betont, dass Konsensdemokratie im afrikanischen Kontext adäquater zur Lösung anstehender Probleme sei. Der afrikanische Philosoph Emmanuel Chukwudi Eze erweist sich als strengster Kritiker Wiredus, indem er diesem ein Missverständnis des westlichen Demokratiemodells vorwirft, das im politischen Kontext auch in

259 Wiredu 1997: 304. 260 »Formal representation without substance is apt to induce disaffection.« (Wiredu 1997: 307) 261 Ibd.

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substantieller Weise auf Minderheitenmeinungen im Prozess der Lösungsfindung rekurriere.262 Bei Eze heißt es: »Wenn der Anspruch der ersten im größeren Sinn für Freiheit besteht – die Einladung zum Einfallsreichtum ohne daß die Forderung oder Bedarf nach einer bestimmt gearteten Entscheidung entstünde, der Pluralismus, der wettstreitenden (wie auch zusammenarbeitenden) Kräften innewohnt – dann liegt der Anspruch des letzteren in seinem Versprechen größerer politischer Stabilität – einer ›Stabilität‹, die nichtsdestotrotz keine Garantie dafür anbietet, daß ihre Fundamente auf dem idealen Trachten nach Gemeinwohl ruhen. Mir scheint, daß keine dieser beiden Tendenzen der ›Demokratie‹ ihrem inneren Wesen nach ›westlich‹ oder ›afrikanisch‹ ist, und daß die beste Form der Demokratie diejenige ist, die die zentripetalen und zentrifugalen politischen Kräfte ihrer Konstituenten miteinander so zum Ausgleich bringt, daß jede Tendenz in ihrem vitalsten élan erhalten bleibt. In der Tat kann man nur eine solche politische Kultur als wahrhaft demokratisch bezeichnen.«263 Eze geht es primär um eine politische Kultur des Umgangs mit widerstreitenden Interessen und Positionen, eine Kultur des produktiven Streits, bei dem die unterschiedlichen Strömungen ihre politische Kraft behalten. Außerdem eignet sich nach Eze das von Wiredu vorgeschlagene Modell nicht für größere politische Gebilde. Darüberhinaus sei nicht in Gänze klar, was unter den grundlegenden gemeinsamen Interessen der Menschen verstanden werde, was Harmonie im Gesellschaftlichen bedeute und wie sich die gleichzeitige Berücksichtigung gemeinschaftlicher und individueller Interessen gewährleisten lasse. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt an Wiredu ist die Legitimation von Autorität und politischer Macht264 durch Begriffe des ›Heiligen‹ 262 Eze sagt: »>Zwei Köpfe sind besser als einer< oder, wie die Igbos sagen, Onwe gi onye bu Omada Omachara: ›Kein Individuum ist Mutter Weisheit.‹« Und weiter: »Das unterscheidende Merkmal scheint mir im Prozess selbst zu liegen: in der Debatte und in der Enthaltung vom Machtgebrauch, nicht in einem bestimmten Typus oder Wesen des Ergebnisses.« In: Eze, Emmanuel Chukwudi: »Demokratie oder Konsensus? Eine Antwort an Wiredu«. In: Blackwell Publishers & Polylog e.V. 2000, S. 10; online: http://them.polyl og.org/2/fee-de.htm; letzter Zugriff am 04.07.2021. 263 Eze 2000: 11. 264 Bei Eze heißt es dazu: »[D]ie raison d’être einer Demokratie ist die Legitimation – und das ›Management‹ – dieser immer schon widerstreitenden (d.h. politischen) Verfassung relativierter Begierden. In diesem Sinn können ›Konsensus‹ oder ›Einhelligkeit‹

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

und der ›Ahnen‹ als Quellen der Legitimation von Autorität und die Legitimation durch die den Ideen des Königs innewohnende Überzeugungskraft bei den Akan. Dies stellt für Eze eine Berufung auf Mythologie, Ahnenverehrung und Religion dar. Des Weiteren weist Eze auf die tatsächliche und potentielle Ausnutzung traditioneller afrikanischer Vorstellungen des Konsenses durch afrikanische Diktatoren hin. Theoretische Grundlage von Wiredus politischem Konzept ist seine Erkenntnistheorie, die von universalen Prinzipien ausgeht, und sein ethisches Prinzip der sympatetic impartiality. Damit haben die erkentnnistheoretischen und ethischen Grundannahmen Wirdus politische Implikationen, die zwar durch das Prinzip der politischen Partizipation eine gewisse Verwandtschaft mit Kants Republikanismus aufweisen, aber nicht mit seinem Kosmopolitismus.

2.4.2

2.4.2.1

Der kritische Dialog mit Kants Universalismus bei Kwame Gyekye265 Kwame Gyekye − Kants Menschenbild, Universalismus und Kosmopolitismus in der Kritik

Nach Kwame Gyekye muss Philosophie mit Bezug auf die menschliche Erfahrung betrieben werden, um − basierend auf logischer Apriorität im Denken − Konzepte über Freiheit oder Gerechtigkeit zu entwickeln. »Thus, it is clear that philosophical or conceptual analysis cannot be undertaken or pursued in a social or cultural or historical vacuum; it has an empirical background and connections. This does not imply by any means that philosophical analysis is an empirical inquiry. For it is not: conceptual analysis includes a rigorous form of reasoning, which is an a priori, not empirical, activity. But what all this means is that there is surely a dynamic, practical relationship between the a priori and the empirical, within the framework of

wesentlicher Entscheidungen nicht das letzte Ziel der Demokratie, sondern nur eines ihrer Momente sein.« (Eze 2000: 29f.) Es gehe darum, »ordentliche Sicherstellung eines Mittels oder eines Rahmens um Nichtübereinstimmung und oppositionelle politische Aktivitäten einzubringen, zu kultivieren und aufrechtzuerhalten.« (Ibd.) 265 Dieser Abschnitt beruht auf Passagen aus dem Text: Rainsborough, Marita: »Kwame Gyekye’s Critical Dialogue with Kant’s Ethics and its Political Consequences«. In: Estudos Kantianos. Special Edition ›Kant em África e África em Kant‹. Jesus, Paulo; Rainsborough, Marita; Valentim, Inácio (Hg.). 9(2), Marília Jul./Dez. 2021, S. 53-67.

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the enterprise of conceptual and philosophical analysis, one is indispensable to the other.«266 Diese Fundierung der Philosophie im A priori des Logischen trägt ebenso Kantische Züge wie seine historisch-politische Ausrichtung im philosophischen Denken, wobei Gyekye allerdings das kulturelle Moment stärker betont. Für Gyekye hat die Philosophie schon von der Antike an immer auch zeitspezifische Probleme zu bewältigen versucht. Kants Frage nach der Aktualität der Philosophie für die gesellschaftliche Situation seiner Zeit, die er insbesondere in seinen geschichtsphilosophischen Schriften mit Fokussierung auf die Aspekte Kritik und Aufklärung und sein kosmopolitisches Konzept stark macht, erfährt bei Gyekye eine Ausrichtung auf die Beschäftigung mit den besonderen Bedingungen im postkolonialen Afrika, so z.B. Fragen zur Legitimität von Herrschaft, zur politischen Korruption, zur Entwicklung eines kulturellen Konzepts für die Entwicklung Afrikas, zur Aufarbeitung kolonialer und postkolonialer Erfahrungen, zur afrikanischen Selbstwahrnehmung und Identität, der Definition von Werten und Zielen und zur Entwicklung neuer Denk- und Handlungsweisen. Trotz der Partikularität der philosophischen Aufgaben kann Philosophie aufgrund der allgemeinmenschlichen Gemeinsamkeiten, auf die sie sich bezieht, als universalistisches Projekt gelten.267

266 Gyekye, Kwame: Philosophy, Culture, And Vision: African Perspectives. Accra (Sub-Saharan Publishers), 2013, S. XII. 267 »The universality of philosophical ideas may be put down to the fact that human beings, irrespective of their cultures and histories, share certain basic values; our common humanity grounds the adoption and acceptance of the significance of events taking place beyond specific cultural borders. This being so, problems dealt with by philosophers may be seen as human problems − rather than as African, European, or Asian − and hence, as universal.« In: Gyekye, Kwame: Tradition and Modernity: Philosophical Reflections on the African Experience. New York, Oxford (Oxford University Press), 1997, S. 30. Gyekye unterscheidet diesbezüglich einen essentialistischen Universalismus, in dem gemeinsame Werte benannt werden können, und einen funktionalistischen, der von der allmählichen historischen Durchsetzung bestimmter Werte z.B. aufgrund ihrer Qualität und Überzeugungskraft ausgeht. Auf der anderen Seite gibt es eine besondere kontextuelle Verortung der Philosophie durch die je spezifische historischpolitische Situation: »This is to endorse the doctrine of historical determinism that is belied by the fact that the mode of a colonized people, for instance, will most probably not be the same as that of a colonizing people: the problems of establishing stable democratic institutions in most developing, formerly colonized, nations of the world are a clear case in point. […] The universalist thesis cannot, therefore, be unqualifiedly

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Während Kant sein universalistisches Konzept von Philosophie und die Begründung des Universalismus ausgehend vom Aspekt der Apriorizität aufgrund der Vernunftausstattung des Menschen, der Bedeutung der Rationalität im Allgemeinen und der Logik primär formal und methodisch und durch die strukturbildende Leistung von zugrundeliegenden Kategorien, Prinzipien und Ideen unabhängig von menschlicher Erfahrung begründet, geht Gyekye sowohl von der Bedeutung der Logik und der allgemeinmenschlichen Natur hinsichtlich von Aspekten wie Glück, Respekt für das Leben etc. als auch von je partikularen Bedingungen aus, die entweder in der Analyse und Interpretation Universalien offenbaren oder in der geschichtlichen Entwicklung langfristig eine universale Relevanz entwickeln, eine Kombination von formalem und inhaltlich ausgerichtetem Universalismus. Gyekyes Konzept zeichnet sich durch einen partikularistische Grundannahmen inkludierenden Universalismus aus. Er unterscheidet im Unterschied zu Kant zwischen einem essentialistischen und einem funktionalen Universalismus, wobei sich beobachten lässt, dass der kontingente Universalismus sich fälschlich als essentialistisch ausgeben kann.268 Hinsichtlich der beiden unterschiedlichen Formen des Universalismus stellt Gyekye fest: »African philosophers can make contributions to the global philosophical experience in both of these ways.«269 Und weiter heißt es bei ihm: »While human nature or our common humanity will underpin the universality of some of their philosophical theses, the pecularity of some of the problems that will attract them will underpin the particularity of some of their philosophical ideas, arguments, or proposals.«270 Der Partikularismus bleibt für Gyekyes Philosophie somit bedeutsam, während er bei Kant in seinen geografischen und anthropologischen Untersuchungen der empirischen Seite der menschlichen Natur zugeordnet wird, die keinen Zugang zu universalen Einsichten liefern kann, aber dennoch im Rahmen seiner true. […] This is what I consider the essential point of the particularist thesis.« (Gyekye 1997: 30f.) 268 Vgl. Gyekye 1997: 33. 269 Gyekye 1997: 34. Und weiter: »I conclude, therefore, that African philosophy, like the philosophies produced by other cultures, will have characteristics of both universality and particularity, for it will be concerned with ultimate goals that can be said to be shared by all human beings irrespective of their cultures and nationalities, and with social and cultural experiences and problems some of which may, in some sense, be said to be peculiar to the African people.« (Gyekye 1997: 33) 270 Gyekye 1997: 34.

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philosophischen Untersuchung insofern Relevanz besitzt, als eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen und seine moralische und kulturelle Entwicklung im politisch-historischen Weltzusammenhang der Einbeziehung seiner empirischen Natur bedarf. Die menschliche Natur bestimmt Gyekye im Unterschied zu Kant nicht primär über die menschliche Rationalität, die auch im moralisch-praktischen Bereich bestimmend ist, sondern über Momente wie Freundschaft, Fürsorge und Respekt.

2.4.2.2

Gyekyes moderater Kommunitarismus und Kants Ethik

Gyekyes wichtigster Bezugspunkt im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Kant ist dessen Ethik.271 »Thus, the eighteenth-century German philosopher Kant, on the basis of the rational inquiries into human nature, grounds the notion of human dignity or intrinsic worth on human capacity for moral autonomy, that is, rational freedom. Thus conceived, argues Kant, the human person ought to be treated as an end in himself.«272 Kants Aspekte Freiheit, moralische Selbstgesetzgebung, Selbstzweckcharakter und Würde des Menschen werden von Gyekye betont und im Rahmen seiner Philosophie ausgedeutet und umgedeutet. Sie bilden das Fundament seiner Konzeption des Menschen. Seine Theorie eines restricted oder moderate communitarism,273 die von der Bedeutung individueller Rechte ausgeht, ent271

Auch hinsichtlich der Rechtfertigung der Bedeutung des Religiösen für das menschliche Leben und somit auch für die Beschäftigung mit religiösen Fragestellungen in der Philosophie rekurriert Gyekye auf Kant. »But Kant, the great German philosopher, was also a very religious person; he was a believer; he was a Christian. I don’t think Kant would argue the banishment of religion from public life.« (Gyekye 2013: 73) 272 Gyekye 1997: 63f. Gyekye quotes Kant: »Now I say that man, and in general every rational being, exists as an end in himself, not merely as means for arbitrary use by this or that will: he must in all these actions, whether they are directed to himself or to other rational beings, always be viewed at the same time as an end.« (Gyekye 1997: 64) And: »Act in such a way that you always treat humanity, in your own person or in the person of any other, never simply as a means but at the same time as an end.« (Gyekye 1997: 64) Gyekye zitiert Kant, Immanuel: Groundwork of the Metaphysic of Morals. Trans. H. j. Paton. London (Hutchinson University Library), 1965, S. 95. 273 Gyekye bezeichnet seine Theorie sowohl als konsistent als auch als praktikabel: »It can be said, however, that restricted or moderate communitarianism is a consistent and viable theory, one that is not opposed to individual rights, even though it will consciously and purposively give equal attention to other values of the community, all (or some) of

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

wickelt er ausgehend von Kants Überlegungen. Die Vorstellung von der Autonomie, Freiheit und Würde des Menschen führt bei Kant zu naturrechtlichen Konsequenzen im Hinblick auf eine Konzeption von Menschenrechten, worauf Gyekye sich in seiner Argumentation bezieht. »Thus the conception of human dignity—and moral or natural (human) rights that concomitantly flow from it—can be reached through a purely rational reflection on human nature.«274 Gyekye macht das Kantische Theorem des autonomen Subjekts im Kontext der Kommunitarismus stark: »For, implicit in the communitarianism’s recognition of the dual features of the self—the self as an autonomous, assertive entity capable of evaluation and choice and as a communal being—is a commitment to the acknowledgment of the intrinsic worth of the self and the moral rights that can be said necessarily to be due to it. The recognition by communitarian political morality of individual rights is thus a conceptual requirement.«275 Gyekye schließt daraus: »But the moderate communitarian view suggests that the claims of individuality and community ought to be equally morally acknowledged.«276 Weiter heißt es: »On this showing, communitarism’s absorbing interest in the common good, in the provision for the social conditions that will enable each individual to function satisfactorily in a human society, cannot—should not—result in the willful subversion of individual rights. This is because, even though rights belong to individuals, insofar as their exercise will often, directly or indirectly, be valuable to a larger society, their status and roles will nevertheless (have to) be recognized by communitarian theory. If communitarianism were to shrug off individual rights, not only would it show itself as an inconsistent

which it may occasionally regard as overriding. The foregoing discussion, then, clearly shows, I hope, the falsity of the view that moderate communitarism will have no or very little place for individual rights.« (Gyekye 1997: 64f.) 274 Gyekye 1997: 64. 275 Ibd. Er fährt fort: »In other words, the derivation of individual rights from naturalism (humanism) or supernaturalism can not be confined to an individualistic framework: the derivation is not an activity or a characteristic or a possibility solely of an individualistic moral and social ambience.« (Ibd.) 276 Gyekye 1997: 66. Und: »Communitarism requires a great demonstration of moral sensitivity and expenditure of moral effort by the individual.« (Ibd.)

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moral and political theory, but also it would, in practical terms, saw off the branch on which it was sitting.«277 Individuelle Rechte sind nach Gyekye auch im kommunitaristischen Rahmen bedeutsam und garantieren das Funktionieren der Gemeinschaft. Gyekye spricht dem Theorem wie Kant praktische Bedeutung zu, auch hier allerdings wieder eingebettet in einen kommunitären Kontext.278 Kommunale Werte wie Solidarität, Frieden, Harmonie und gesellschaftliche Stabilität, die bei Gyekye gleichermaßen relevant sind, müssen mit den individuellen Rechten in Einklang gebracht werden, wobei es in Konfliktfällen um die Frage der Präferenzabwägung geht. Hier wird Gyekye oft vorgeworfen, dass er im Zweifelsfall die Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft höher werte. Die Debatte279 darüber ist noch nicht abgeschlossen. Meiner Einschätzung nach versucht Gyekye, das im kommunitären Denken Afrikas empfundene Bedrohungspotential des Prinzips der individuellen Rechte in seine Überlegungen einzubeziehen und aus der Sicht des Kommunitarismus kalkulierbar zu machen, um diesem Prinzip größere Chancen hinsichtlich der Realisierung zu ermöglichen. Seine Argumentation scheint mir an dieser Stelle pragmatisch ausgerichtet zu sein. Auf der theoretischen Ebene könnte dieser Konfliktfall allerdings noch besser durchdacht werden, um der Gefahr der Widersprüchlichkeit zu entgehen. Grundsätzlich betrachtet sind permanente Aushandlungsprozesse über das Verhältnis von individuellen Rechten zu Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft nicht zu umgehen. Während Kant

277 Gyekye 1997: 64. 278 »It is also a practical requirement at the practical level communitarianism would realize that allowing free rein for the exercise of individual rights, which obviously includes the exercise of the unique qualities, talents, and dispositions of the individual, will enhance the cultural development and success of the community.« (Gyekye 1997: 6) 279 Vgl. Kalumba, Kibujjo M.: »A Defense of Kwame Gyekyes’s Moderate Communitarianism«. In: Philosophical Papers. 49(1), März 2020, S 137-158. Er verteidigt Gyekyes Theorie gegenüber Matolino, Famakinwa, Metz und Oyowe. Vgl. auch Famakinwa, J.O.: »How Moderate is Kwame Gyekye’s Moderate Communitarianism?« In: Thought and Practice: A Journal of the Philosophical Association of Kenya (PAK). New Series. 2(1), 2010, S 65-77; Matolino, Bernard: »Radicals Versus Moderates: A Critique of Gyekye’s Moderate Communitarianism«. In: South African Journal of Philosophy. 28(2), 2009b, S. 160-170; Metz, Thaddeus: »Developing African Political Philosophy: Moral Theoretic Strategies«. In: Philosophia Africana. 14(1), 2012, S. 61-83 and Oyowe, Oritsegbubemi Anthony: »Individual and Community in Contemporary African Political Philosophy«. In: Philosophia Africana. 15(2), 2013, S. 117-136.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

antagonistische Kräfte, Konflikte und Auseinandersetzungen in sein Fortschrittskonzept als positive motivationale Kraft integriert und rechtliche und vertragliche Übereinkünfte vorsieht, um das Zusammenleben der Menschen inner-, zwischenstaatlich und global zu ordnen, strebt Gyekye allgemein »a life free vom hostility and confrontation«280 an. »The preservation of the society’s integrity and values enjoins the individual to exercise her rights within limits, transgressing which (limits) will end in assaulting the rights of other individuals or the basic values of the community. An individual exercising of the free speech or expression, for instance, cannot be allowed to run berserk and engage in verbal and physical vandalism«.281 Individuelle Rechte sind nach Gyekye in Verantwortlichkeit für das Gemeinwesen anzuwenden. Bei Kant leistet dies neben der Prüfung der Verallgemeinerbarkeit moralischer Maximen insbesondere die Unterscheidung zwischen der Ausübung von Kritik in der Position als Privatmann und als Gelehrter. Ersterer ist zum Einfügen in die bestehende Gemeinschaft und zum Gehorsam verpflichtet, letzterer kann und soll sich an die Weltöffentlichkeit wenden, um eine kritische Auseinandersetzung mit den beobachteten Missständen und damit auch eine gesellschaftliche Veränderung zu ermöglichen. Kant betont die Notwendigkeit der Einordnung des Individuums in funktionale Zusammenhänge, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten und präferiert einen reformerischen Weg der gesellschaftlichen Veränderung. Es geht ihm darum, die bereits etablierten rechtlichen Strukturen zu erhalten und nicht in den Naturzustand zurückzufallen. Entscheidend ist dabei die menschliche Moralität und eine veränderte Denkungsart, die für die Implementierung von Neuerungen unerlässlich ist. Das Kriterium für das Zurückstellen individueller Rechte ist bei Gyekye deren über den persönlichen Bereich hinausgehende Bedeutung: »Individual rights to expressions that are of a strictly private nature may not be disallowed, unless there is overwelming evidence that such expressions can, or do, affect other innocent members of the society.«282 Daraus folgt für Gyekye: »Individual rights, the exercise of which is meaningful only within the context of human society, must therefore

280 Gyekye 2013: 76. 281 Gyekye 1997: 65. 282 Ibd.

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be matched with social responsabilities.«283 Deutlich wird, dass Gyekye Theoreme der Kantischen Philosophie, insbesonderer seiner praktischen Philosophie mit den kommunitären Grundannahmen der afrikanischen Philosophie kombiniert. Es lässt sich eine Ähnlichkeit zu den kommunitären Theorien von Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, Michael Sandel und Amitai Etzioni konstatieren, mit denen sich Gyekye kritisch auseinandersetzt. Er vermisst in deren Konzepten insbesondere die mangelnde Bedeutung der individuellen Entscheidung und Handlungskraft und des individuellen Rechts. Genau an dieser Stelle benötigt Gyekye zur Stützung seiner Argumentation Kantische Theoreme. Für Gyekye ist die individuelle Autonomie sowohl Wirkfaktor geschichtlicher Veränderungen als auch kreativer Innovationen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Die Vertreter eines strikten Kommunitarismus284 werden der Freiheit des Individuums und den damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen theoretisch wie praktisch nicht gerecht. »It seems to me that the moderate communitarianism offers a more appropriate and adequate account of the self and its relation to the community than the unrestricted or extreme or radical account, in that the former sees the self both as a communal being and as an autonomous, self-assertive being with a capacity for evaluation and choice, while the latter sees the activity of what I have referred to as the ›mental feature‹ of the person as wholly contingent upon, and determind by, the communal structure itself.«285 Und weiter heißt es bei Gyekye: »Extreme or unrestricted communitarianism fails to give adequate recognition to the creativity, inventiveness, imagination, and idealistic proclivities of some human individuals in matters relating to the production of ideas and the experience of visions. The powers of inventiveness, imagination, and so

283 Ibd. Und weiter: »The possession of rights becomes nearly inconsequential if a viable framework for their meaningful exercise does not exist.« (Ibd.) »To the extent that the meaningful and continous enjoyment of one’s rights is a function of the appropriate conditions of a social context, an overwhelming concern for the viability of that context is surely legitimate.« (Gyekye 1997: 66) 284 Gyekye betont allerdings: »even though I believe that not all features of their position can be so characterized«. (Gyekye 1997: 60) 285 Gyekye 1997: 59.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

on are not entirely a function of natural talents or endowments, even though they can only be nurtured and exercised in a cultural community.«286 Dabei kann die innovative Kraft des Individuums – ggf. in Zusammenarbeit mit Anderen – reformerische oder auch revolutionäre Dimensionen annehmen: »The ideals or visions of the individual can be subversive or demolitionary of existing social values, practices, and institutions: what I called a revolutionary action can thus be understood generally as the activity of an idealistic or visionary individual (or; a group of idealistic or visionary individuals).«287 In seiner Konzeption der Person setzt Gyekye in Kantischer Tradition moralische Autonomie, Freiheit und den freien Willen, die Fähigkeit zur Wahl, beim Individuum voraus, ohne jedoch die Bedeutung der Gemeinschaft für die Entwicklung der Persönlichkeit gering zu schätzen. »The community only discovers and nurtures it.«288 Nach Gyekyes Interpretation wird dem Individuum auch in der Akan-Philosophie Rationalität, Moralität und die Fähigkeit zur Wahlfreiheit und zu tugendhaftem Verhalten unabhängig von kommunalen Einflüssen zugesprochen, wobei er zur Begründung auf Sprichwörter der Akan rekurriert. Es ist nicht allein die Gemeinschaft, wie afrikanische Philosophen wie Menkiti und Mbiti behaupten, die die Person formt und prägt, wie es z.B. aus folgendem Zitat von Mbiti spricht: »›I am because we are; and since we are, therefore I am.‹«289 Gyekye charakteriisert den moderaten Kommunalismus als »a moderate communitarianism, the model that acknowledges the intrinsic worth and dignity of the individual human person and recognizes individuality, individual responsibility and effort.«290 Und weiter ist zu lesen: »no human society is absolutely communal or absolutely individualistic«.291 Gyekye spricht von einem »autonomous character of the person«, was nicht bedeutet, dass diese Disposition immer realisiert wird und keine Grenzen hat.292 Individuen tragen durch ihre Visionen, Ideen, Ideale

286 Ibd. 287 Gyekye 1997: 56. 288 Gyekye 1997: 53. Und weiter: »there is no denying the community’s role in the complex process involved in the individual’s realization of her goals and aspirations, though; yet, even so, the communal definition or constitution can only be partial.« (Ibd.) 289 Gyekye 1997: 37. Gyekye zitiert hier John Mbiti. 290 Gyekye 1997: 40. 291 Gyekye 1997: 41. 292 »Even so, it can be exercised to the extent that is possible.« (Gyekye 1997: 57)

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Interkulturelles Philosophieren

und Praktiken, die über den bestehenden kommunalen Rahmen hinausgehen, zu gesellschaftlichen Veränderungen und Neuerungen der Gesellschaft entscheidend bei. Reformanstrengungen und zunehmende gesellschaftliche Perfektionierung werden so im gemeinschaftlich ausgerichteten Leben auf allen verschiedenen Ebenen möglich. »The groth of culture as well as modifications in the cultural heritage of a people is invariably due to the intellectual and moral activities of some autonomous individuals with their unique qualities and endowments.«293 Und weiter: »But, even so, the innovative activities of such an individual are intended to extend and enrich, rather than intirely break with, certain aspects of the community’s history.«294 Die Fähigkeit des Individuums zur Innovation ermöglicht gleichermaßen die Möglichkeit zur individuellen Ausformung der persönlichen Identität. »The upshot is that personhood can only be partly, never fully, defined by one’s membership in the cultural community.«295

2.4.2.3

Kritik, cultural borrowing und afrikanische Traditionen bei Kwame Gyekye

Gyekye bestimmt die Funktion der Philosophie im Sinne eines kritischen Projekts, das sich zunächst einmal auf die Untersuchung, Einschätzung und kritische Würdigung der eigenen Kultur bezieht. So heißt es bei ihm z.B.: »Throughout history, philosophy has been used to criticize features of a culture with a view to improving the cultures and making it more relevant to contemporary times. In this way, philosophy has been most relevant to the development of human cultures.«296 Dabei geht es auch um einen Anpassungsprozess an die jeweiligen zeitspezifischen gesellschaftlich-historischen Phänomene. Weiter heißt es bei ihm: »It is to say, rather, that philosophical thinking, taking its rise from a cultural experience, takes a critical look at the practices and values of a culture. It makes a critical evaluation of the culture, an evaluation that may result either in affirming (while also refining) certain aspects of the culture’s val-

293 294 295 296

Gyekye 1997: 58. Ibd. Gyekye 1997: 59. Gyekye 2013: XVI.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

ues and practices or in jettisoning aspects of the culture on various grounds: intellectual, moral, practical, and so on.«297 Er bestimmt als Ausgangspunkt für die afrikanische Philosophie die Auseinandersetzung mit afrikanischem Denken, afrikanischen Traditionen und der afrikanischen Geschichte z.B. in Form von Sprichwörtern, Symbolen und Praktiken. Integriert wird in dieses Vorgehen im Prozess des cultural borrowing gleichermaßen eine kritische Auseinandersetzung mit Angeboten fremder Kulturen. Gyekye entwickelt in diesem Zusammenhang das Theorem der appropriation, das eine Anpassung an spezifische Gegebenheiten des anderen kulturellen Umfelds, eine Überprüfung der Brauchbarkeit und ggf. eine Veränderung in Hinsicht auf andere Kontexte beinhaltet. So erfordert die Übernahme kultureller Elemente und Technologien westlicher Länder eine Anpassung des Übernommenen an die afrikanische Kultur bzw. afrikanische Kulturen. »In an ideal situation of cultural borrowing […] some alien cultural product (such as technology) is not simply transferred; it is taken possession of by another people who are convinced that appropriating the technology will enhance their own scientific and industrial advancement.«298 Gyekye kritisiert die Passivität, die zumeist mit der Übernahme von einem Produkt der fremden Kultur verbunden ist und wünscht sich eine in Besitz nehmende aktive Aneignung, die gleichermaßen eine kritische Aneignung darstellt. »The vision articulated here regarding the aquisition and development of technology in a developing society that is interested in foreign technological products for its own advancement is that of appropriation of technology – an approach that would necessarily feature active, adroit, and purposeful initiative and participation on the part of the recipients, an approach that would also allow for purposeful choice of the technological products needed by them.«299

297 Gyekye 2013: XIX. An anderer Stelle sagt er: »Even though philosophical thought is worked out within a culture, yet it turns round to take critical look at the culture itself. Throughout history, philosophy has been used to criticize features of a culture with a view to improving the culture and making it more relevant to contemporary times. In this way, philosophy has been most relevant to the development of human cultures.« (Gyekye 2013: XVI) 298 Gyekye 2013: XXI. 299 Ibd.

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Nach Gyekye mündet das kritisch philosophische Projekt – auf der Basis einer kritischen Hermeneutik – in der visionären Aufgabe von Philosophie. »A vision may, indirectly, derive from sustained critical attitudes to the culture (or some elements of it) that may result in a new, even revolutionary, outlook – philosophically, morally, ideologically, and so on.«300 Das Visionäre der Philosophie erweist sich als eine politische Aufgabe, die neben der gesellschaftlich-kulturellen Analyse auch Ziele und Handlungsmodelle bereitstellen und eine gesellschaftliche Transformation bewirken soll, die eine Verbesserung der Lebenssituation des Einzelnen und des Zusammenlebens der Menschen anstrebt. »The vision is inspired by the complex nature of the perceived in terms of adequate responses to the entire existential conditions in which human beings function, conditions that go beyond the purely economic and include political, social, moral, intellectual, and other aspects of the cultural whole. This vision presents a more serious conception of development.«301 Die visionäre Kraft der Philosophie ist mit einer spekulativ ausgerichteten Kritik verbunden: »I said a while ago that a part – a great part – of the philosophical enterprise is a critical speculation about human experience with its many-sidedness. The speculative activity of philosophy involves a synthetic interpretation of human experience: its meaning, its underlying reality, and what it points (or may point) to in terms of the most appropriate goals of human life and society.«302 Visionen definiert Gyekye in diesem Kontext folgendermaßen: »A vision is clearly a future-oriented condition or attribute which is expected, sooner or later, to come into reality; but it may not come into reality, perhaps not in its fullness.«303 Als Beispiel nennt er u.a. die demokratische Vision, die egalitäre Vision und die Vision einer gerechten Gesellschaft.304 Das Visionäre

300 301 302 303 304

Gyekye 2013: XIX. Gyekye 2013: XX. Gyekye 2013: XVII. Ibd. Vgl. Gyekye: »Thus, the political leaders of a nation may entertain a ›democratic vision‹; some social reformers, intellectuals and moralists may nurture an ›egalitarian vision‹, a vision of ›a poverty-free society‹, and a vision of ›a just society‹.« (Ibd.)

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

bei Gyekye hat die Funktion der Kantischen regulativen Ideen, ist allerdings – vergleichbar mit Kants Konzept vom Völkerbund und Ewigen Frieden – stärker auf das normative und gesellschaftspolitische Fundament einer Gesellschaft ausgerichtet. Eine seine Vorstellungen verbürgende Teleologie sieht Gyekye im Unterschied zu Kant allerdings nicht vor. Dabei verbindet sich das Visionäre mit einer Zielorientierung in der gedanklichen Konstituierung von Zukunft und den damit verbundenen praktischen Umsetzungen: »Now how is vision related to goal? In a sense vision and goal may be said to be conceptually related in that both are future-orientated phenomena; both of them are yet to be attained, objects of hope and desire.«305 Während das Visionäre lange bis sehr lange Zeitdimensionen inkludiert, richten Zielsetzungen sich in konkreterer Weise auf das Existentielle und Spezifische. Die visionäre Qualität der Philosophie verbindet sich mit dem Normativen im Sinne eines Sollens, das dem menschlichen Denken, Fühlen und Handeln eine Ausrichtung geben soll. Bei Gyekye heißt es dazu: »Such considerations become normative considerations, prescribing what ought to be the case, what ought to be attained. Thus, speculative activity will evaluate in normative proposals, which often embody a vision.«306 Diese Visionen zeichnen ein Bild der zukünftigen menschlichen Gesellschaft, das von philosophischen Auffassungen getragen wird: »a vision about the nature of an ideal society – its politics, values, and its culture generally. It was the vision about the dignity of the individual that led to the distinction by fifth century BC ancient Greek thinkers between nature (phusis) and convention (nomos), a distinction that subsequently gave rise to the notion of ›natural rights‹, which after the second world war became ›human rights‹ (see my Tradition and Modernity, 1997, p. 231f.) The awareness of nations regarding the fundamental importance of human rights was due mainly to the writings and arguments of philosophers.«307 Die ganzheitliche Sicht auf die gesellschaftliche Dimension einer Zeit und die Projektierung von Zukunft sind nach Gyekye immer mit visionärer Kritik verbunden. Im Rahmen seiner politischen Vision betont er die Bedeutung der Menschenrechte, die im spekulativen Denken vom Naturrecht abgeleitet wurden. Dabei sind auch die Aspekte Legitimität von Macht- und Herrschaftsausübung und Kritik der Korruption in afrikanischen Ländern zen305 Gyekye 2013: XVII-XVIII. 306 Gyekye 2013: XVII. 307 Gyekye 2013: XVI.

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trale Bestandteile. Gyekye entwickelt auf der Basis seiner hermeneutischen und spekulativen Kritik Konzepte zur Gestaltung afrikanischer Staaten hin zu metanationalen Gesellschaften verbunden mit einem moderaten Kommunitarismus, in dem Individualität als kritische Instanz der Freiheit eine entscheidende Rolle als Korrektiv der Überbetonung der Gemeinschaft in ihrer möglichen Fehlentwicklung bilden soll. An dieser Stelle bezieht Gyekye sich dezidiert auf Kants Personenbegriff, der mit der Freiheit und Autonomie des Individuums verbunden ist, und auf die Selbstzweckformel seines kategorischen Imperativs. Kants Theoreme bilden eine entscheidende Grundlage der kritisch-negativen wie spekulativ-visionären Kritik von Gyekye. Im Unterschied zu Kants politischer Vision vom Kosmopolitismus entwickelt Gyekye das Konzept der Globalisierung, das über die Engführung eines ökonomischen Verständnisses hinausführt: »I will concern myself with the general nature of the concept of globalization. My intent will be to provide a philosophical background or foundation for globalization«.308 Globalisierung sei kein neues Phänomen; unter Rekurs auf Appiah heißt es bei ihm: »[T]he history of the human species [can be seen] as a process of globalization.«309 In diesem Prozess der Verbreitung von Ideen, Werten, Institutionen, Handlungsweisen etc. in den verschiedenen Bereichen wie Technologie, Ethik, Ökonomie und Kunst, die an die jeweiligen Kulturen angepasst werden und vermehrt miteinander geteilt werden, erhalten Ideen, Werte oder Institutionen »the status of universality or globality (if you will) by virtue of its historic significance or relevance or functionality or power of conviction on some such quality.«310 Weiter heißt es: »At this point, that idea or value or practice would have become meta-contextual, for it would have transcended its original culture or historical context and would, thus, have gained the widest currency elsewhere.«311 Globalisierung ist für Gyekye ein Prozess, der zwar zumeist von Konflikten begleitet und mit Kämpfen um Hegemonie verbunden ist, aber den Menschen auch die Chance bietet, sich ihrer ›common humanity‹ bewusst zu werden und unterschiedliche Kulturen zu verbinden. Dieses Konzept eines ›open field of universality‹ und der ›meta-contextuality‹ steht zwar im Gegensatz zum Kantischen Verständnis der Universalität als in der

308 309 310 311

Gyekye 2013: 118. Gyekye 2013: 119. Gyekye 2013: 124. Ibd.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Apriorizität der menschlichen Vernunft angelegt, geht aber wie Kant – allerdings in einem empirischen Sinne – von der Bedeutung, Notwendigkeit und Funktionalität des Universalen aus. »Ideal globalization requires that nations or societies have the opportunity to choose which elements or features of an encountered culture they find attractive and consider worth adoption.«312 Dieses Konzept des kulturellen Universalismus stützt Gyekyes Ziel einer ›homogenization of cultures‹, ohne dass die ›particularities of local or national cultures‹ gering geschätzt werden.313 Damit geht er einen Weg der Verbindung von Universalismus und Partikularismus im Kulturellen. Globalisierung stellt für Gyekye einen ›good process‹ und ›an originally good idea‹ da, mit ihr verbindet Gyekye den Wunsch zur Realisierung eines besseren gegenseitigen Verständnisses und Zusammenlebens der Menschen auf der Welt und eines vermehrten Zusammenwachsens der Menschheit.314 Damit legt Gyekye die theoretische Grundlage für sein Konzept des metanationalen Staates, das insbesondere auf die Überwindung ethnischer und nationaler Grenzen ausgerichtet ist. Er bezieht sich auf das Akan-Sprichwort »Humanity has no boundary«.315 Wie für Kant steht der Begriff des Menschen bei Gyekye in seiner Allgemeinheit auch für ein politisches Konzept, bei dem es um »the cultivation of […] humanity« geht.316 Gyekye fokussiert mit seiner Auffassung von Globalisierung im Unterschied zu Kants Kosmopolitismus insbesondere die Annäherung durch kulturellen Austausch und weniger die rechtlich-organisatorische und politische Verfasstheit von Republiken und des angestrebten Staatenbundes. Auch betont er in Anlehnung an Kant die Position des Individuums als Träger von Rechten und als kritische Instanz – als politisches Korrektiv und Gegenpol zum kommunitaristischen Verständnis von Politik, das die Unterordnung des Einzelnen vorsieht. Beide sehen in der Kultivierung und Moralisierung des Einzelnen ein wichtiges Fundament für politische Veränderungen hin zu mehr gesellschaftlicher Freiheit, Stabilität und Frieden.

312 313 314 315 316

Gyekye 2013: 129. Vgl. Gyekye 2013: 131. Vgl. Gyekye 2013: 132. Gyekye 2013: 136. Ibd.

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Interkulturelles Philosophieren

2.4.2.4

Politische Konsequenzen der Ethik Gyekyes

Der autonome Charakter des Individuums ist auch Grundlage für Gyekyes politische Konzeption einer ›metanationalen‹ Gesellschaft317 und des nation-building,318 bei der das Individuum den wesentlichen politischen Bezugspunkt darstellt, nicht sogenannte ›Ethnien‹, denen er einen fiktionalen Charakter zuspricht. Gyekye betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung des cultural borrowing319 als Gemeinsamkeit schaffendes Element zwischen den Kulturen, das immer schon Vermischungen und Annäherungen zwischen den Kulturen bewirkt hat und bis heute bewirkt. Mit seinem Theorem der ›metanationality‹ intendiert Gyekye die Lösung der Probleme multiethnischer Staaten, die heute sowohl in den noch relativ jungen Staatsgebilden Afrikas als auch in anderen Teilen der Welt aufgrund der Zunahme von Migrationsbewegungen zwischen den Kulturen für inner- und zwischenstaatliche Spannungen und Konflikte sorgen. Damit löst Gyekye sich von dem traditionellen, auf Herder basierenden Verständnis der Nation als Ort gemeinsamer Sprache, Kultur und Heimat eines bestimmten Volkes. Die aktuelle politische Situation erfordere ein Umdenken in Richtung einer Nationenbildung in multinationalen bzw. multiethnischen Kontexten – im Sinne eines soziologischen Begriffs der Nation.320 Ethnisch begründeter Nationalismus mit seiner destruktiven Tendenz müsse in einem metanationalen Staat überwunden werden. Hierzu benötige man einen Prozess des nation-building:321 »to evolve a common form of cultural and political life«.322 Die Schaffung einer offenen, demokratischen Gesellschaft ist für diesen Prozess von entscheidender Bedeutung,323 die soziale Mobilität, politische Partizipation, Teilung der Macht, Dezentralisierung und eine Konsenskultur ermöglichen müsse.324 Hiervon ausgehend kritisiert er insbesondere die sozialistischen Konzepte der politischen Eliten nach der formalen Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten, die sich zu Unrecht auf den kommunalen Charakter der afrikanischen Kultur berufen. Seine Konzeption der Person verbindet die individuelle Autonomie mit der Relationalität, Interdependenz 317 318 319 320 321 322 323 324

Vgl. Gyekye 1997: 88. 95, 101, 103, 287. Vgl. Gyekye 1997: 82. Vgl. Gyekye 1997: 226, 284, 296. Gyekye 1997: 80. Vgl. Gyekye 1997: 85. Gyekye 1997: 86. Vgl. Gyekye 1997: 89. Vgl. Gyekye 1997: 89f.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

und gegenseitigen Verantwortlichkeit von Individuen in einer Gemeinschaft. Die Gemeinschaft in ihren unterschiedlichen Formen muss nach Gyekye allerdings durchaus auch kritisch betrachtet werden: »[B]ut there are some relationships that can surely be said to be positively harmful to the individual’s development and interests, relationships, for instance, that are built on slavery, domination, humiliation, or discrimination. The last category of social relationships represents the weakness and imperfections in the institution of community; but these relationships more truly reflect the defects in the moral human character.«325 Der mögliche schädliche Einfluss der Gemeinschaft auf das Individuum kann zu dessen Erniedrigung, Diskriminierung und Unterdrückung führen, was die Stärkung des Individuums und seiner Autonomie notwendig mache. Gyekye bestimmt die menschliche Autonomie in folgendem Zitat näher: »The capacity for self-assertion that the individual can exercise presupposes, and in fact derives from, the autonomous nature of the person. By autonomy, I do not mean self-completeness but the having of a will, a rational will of one’s own, that enables one to determine at least some of one’s own goals and to pursue them, and to control one’s destiny. From its Greek etymology, ›autonomy‹ means, self-governing or self-directing. It is thus essentially the freedom of a person to choose his own goals and life plans in order to achieve some sort of self-realization. The actions and choice of goals of the individual emanate from his rational and moral will. Thus, the self-directing (or, selfdetermining) will also be self-assertive. Autonomy must be a fundamental feature of personhood, insofar as the realization of oneself—one’s life plans, goals, and aspirations—greatly hinges on it, that is, on its exercise. Autonomy is, thus, valuable in itself.«326 Im Unterscheid zu Kant bindet er die menschliche Autonomie nicht an die moralische Selbstgesetzgebung und löst das Theorem aus der moralischen Klammer, wenn er auch den moralischen Bezug nicht grundsätzlich verleugnet. »Even though the concept of autonomy cannot be said to be morally

325 Gyekye 1997: 42. Und weiter: »But there is more to community than social relationships. Sharing, as I said, an overall way of life is most essential and basic to any conception of community.« (Gyekye 1997: 43) 326 Gyekye 1997: 54.

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neutral, it can nevertheless be said to be only partly moral.«327 Gyekye fährt fort: »I do not see any conceptual link between autonomy and acting morally. There is, however, a conceptual link between autonomy and freedom, since a self-directing agent necessarily has the freedom to direct himself or herself.« Hiermit setzt Gyekye einen anderen Schwerpunkt als Kant, für den die moralische Selbstgesetzgebung in Form des kategorischen Imperativs den Mittelpunkt seiner Konzeption von Autonomie und Freiheit bildet. Gyekye sieht verbunden mit dem Primat des Gesellschaftlichen vor dem individuellen Recht im Bereich Politik die Gefahr von Tyrannei gegeben: »A strong and unrelenting insistence on the moral primacy or prerogative of the community can lead (and in postcolonial Africa has led) to tyranny, political intolerance, and authoritarianism.«328 Er benötigt wie Kant das autonome, freie und mit einem persönlichen Willen ausgestattete Individuum als Gegenkraft für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Das Individuum ist als kreative und kritische Instanz und tätiges Wesen für die Bereicherung aller gesellschaftlichen Bereiche wie Wissenschaft, Kunst, Kultur und Politik von unerlässlicher Bedeutung. Als politisches Modell bietet Gyekye im Unterschied zu Kant kein kosmopolitisches Konzept an, sonderen das des metanationalen Staates,329 das die trennenden ethnischen Kämpfe überwinden möchte, und das der Globalisierung als weltumfassendes politisches Projekt des Zusammenwachsens der Menschheit.330 Beide Konzepte könnten in Richtung eines kosmopolitischen Staatenbundes zielen, ein Gedanke, den Gyekye selbst aber nicht ausführt. Die Theoreme logische Apriorizität und Universalität, Gyekye unterscheidet bei letzterem eine essentialistische und funktionale Form, werden mit einem Partikularismus verbunden und verbürgen die universelle Gültigkeit der philosophischen Erkenntnisse ausgehend vom afrikanischen Humanismus.

327 Ibd. 328 Gyekye 1997: 76. 329 Der metanationale Staat versteht die Ethnien, die in einem Staatsgebilde wohnen, als ›Nationen‹, die in einem diese auf einer Metaebene transzendierenden Staat ihre zentrale Funktion verlieren. Das Individuum wird im metanationalen Staat zum zentralen Ansprechpartner der Politik. 330 Gyekye untersucht dezidiert die Möglichkeiten zur Integration und zur Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls, Überlegungen, auf die auch außerhalb Afrikas sowie in globaler Hinsicht zurückgegriffen werden könnte, um anstehende gesellschaftliche Probleme des Zusammenlebens verschiedener ›Ethnien‹, ›Rassen‹, Kulturen und Religionen zu lösen.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

In seiner politischen Theorie betont Gyekye die Notwendigkeit zur Dezentralisierung und Berücksichtigung lokaler Strukturen auf der nationalen Ebene eines Einzelstaates, während Kant insbesondere das durch rechtliche Übereinkünfte geregelte Verhältnis der Staaten zueinander im föderativen Staatenbund vor Augen hat. Die Verbindung des Lokalen mit dem Globalen wird bei Gyekye auf verschiedenen Ebenen thematisiert, wobei beide Momente als miteinander vereinbar erscheinen. Gyekye geht letztlich mit Kant von einer Weltgemeinschaft aus und verbindet dabei das Lokale mit dem Globalen: »The concept of our common humanity clearly lies at the base of references to ›the international community,‹ ›the world community,‹ ›the global community‹ frequently made by diplomats, politicians, and world leaders of different national or cultural communities. The relevance and significance of the references to the hightest level of human community suggest the understanding and conviction that all human beings, irrespective of their local communities, are also members of a single large human community.«331 Er versucht mit seinem Konzept des moderaten Kommunitarismus auch eine moralische Konzeption für die Weltgemeinschaft anzubieten: »This fact, at least in principle, clearly and insistently grounds the need to extend our moral concerns and responsabilities to members of ›other‹ communities – distant strangers. The communitarian ethic could be a vanguard in this enterprise.«332 Kommunitäre Ethik kann nach Gyekye in diesem Prozess eine Vorreiterrolle einnehmen. In seiner Betonung des verantwortlichen Individuums fokussiert Gyekye die persönliche Autonomie und Freiheit und die moralische Kompetenz des Individuums im Kontext der Gemeinschaft – lokal wie global. Kants Theoreme nehmen – in veränderter Form – im philosophischen Argumentationszusammenhang der Theorie von Gyekye für die Begründung ihrer grundlegenden philosophischen Konzepte eine Schlüsselrolle ein – auch und besonders in politischer Hinsicht.

331 Gyekye 1997: 74. 332 Ibd. Kant inkludiert diese Problematik unausgesprochen in seinen formal ausgerichteten Universalismus der Verallgemeinerbarkeit persönlicher Maximen im moralischen Handeln und in der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs.

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Interkulturelles Philosophieren

2.5

Rereading Kant. Philosophie als Kritik im philosophischen Konzept von Serequeberhan und Odera Oruka

2.5.1

Kritik am Eurozentrismus in der Philosophie von Tsenay Serequeberhan

Afrikanische Philosophie als kritisches Unternehmen spiegelt und reflektiert die afrikanische Entwicklung – »›Africa in metamorphosis‹.«333 Dabei ist sie mit der Aufgabe der Schaffung einer afrikanischen Identität,334 der theoretischen Aufarbeitung der afrikanischen Vergangenheit, der Bewältigung der Gegenwart insbesondere in ihren politisch-sozialen, kulturellen und ethischen Dimensionen und der Konzeptionierung der afrikanischen Zukunft im globalen Kontext befasst. Afrikanische Philosophie als Kritik, »the critical self-reflection of a culture«,335 versteht sich gleichermaßen als »metaphilosophical discourse«,336 der das Philosophieren selbst in die kritische Tätigkeit einbezieht. Die unterschiedlichen Ausrichtungen afrikanischer Philosophie haben nach Serequeberhan eine Gemeinsamkeit: »This dispute, however, is grounded on a shared understanding that it is the present-day African situation as it arises out of the ambiguous and broken heritage of the African past that calls for thinking. Thus, these ›essential problems‹ are the lived concerns, the questions and issues, embedded in a concrete existential-historical-political horizon, that evoke questioning, that is, the discourse of African philosophy.«337 In der afrikanischen Philosophie gehen post- und dekoloniales Denken als Formen von Kritik ein. Afrikanische Philosophie erweist sich u.a. damit pri-

333

Serequeberhan, Tsenay: »African Philosophy: The Point in Question«. In: Serequeberhan, Tsenay (Hg.): African Philosophy: The Essential Readings. St. Paul, MN (Paragon House), 1991, S. 12. 334 »As Okere correctly observes, the discourse of African philosophy is located within the ›movement in both artistic and intellectual life to establish a certain [African] identity.‹« (Serequeberhan 1991: 12) 335 Serequeberhan 1991: 18. Das ganze Zitat lautet: »African philosophy, if it is to be philosophy properly speaking, must be capable of being subsumed under a common notion of philosophy understood as the critical self-reflection of a culture engaged in by specific individuals in that culture.« (Ibd.) 336 Serequeberhan 1991: 15. 337 Serequeberhan 1991: 13.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

mär als praktisch-politisches Projekt. Serequeberhan spricht von »the political imperative of African philosophy«338 Die Kritik am Eurozentrismus, die den Kern von post- und dekolonialer Theorie im Allgemeinen und der afrikanischen Grundlegungen zur Ausrichtung von Literatur, Kunst, Wissenschaft, Politik etc. bildet, ist wesentlicher Teil des Projekts der Dekolonialisierung des Denkens in der zeitgenössischen afrikanischen Philosophie – auch und besonders im Hinblick auf ihr eigenes Verständnis von ihrer philosophischen Aufgabe. Tsenay Serequeberhan sieht die Funktion der afrikanischen Philosophie als politisch-historisch ausgerichtetes »concrete engagement with the traditional, historical, and contemporary situation of the continent« an.339 Philosophie stellt sich – diesbezüglich rekurriert er u.a. auf Kant – gleichzeitig als kritisches Unternehmen dar, das in einer Metakritik die eigene Funktion reflektiert. »I will articulate what I take to be the critical task of the contemporary practice of African philosophy.«340 Diesbezüglich spricht er von »deconstructive/critical efforts«.341 In Bezug auf Kant führt er aus: »Kant, referring to his own era as ›the age of criticism,‹ notes that, ›everything must submit‹ to critical scrutiny and be ›able to sustain the test of a free and open examination,‹ […] which is, properly speaking, the practice of philosophy.«342 Mit der »conceptual decolonization« als Aufgabe von Philosophie rekurriert Serequeberhan auf Kwasi Wiredu.343 Dabei geht es darum »to articulate counter-

338 Serequeberhan 1991: 12. 339 Serequeberhan, Tsenay: »Introduction«. In: Serequeberhan, Tsenay (Hg.): African Philosophy: The Essential Readings. St. Paul, MN (Paragon House), 1991, S. XXI. 340 Serequeberhan 2016: 11. »I will stake out a critical position in the debate on and also within African philosophy.« (Serequeberhan 1991: 3) 341 Serequeberhan 2016: 48. 342 Serequeberhan 2016: 11. Diese Aufgabe spezifizierend heißt es bei Serequeberhan weiter: »In sum, Philosophy is the practice of reflectively exploring grounding concerns that originate in specific cultures/regions. […] To speak of ›European‹ or ›African‹ philosophy is to indicate the particular culture/region in and out of which ›a specific type and intellectual activity (the critical examination [interpretative exploring] of fundamental problems)‹ is being actuated. […] In like manner, the qualifiers ›contemporary,‹ ›modern,‹ ›ancient,‹ and so on, indicate the time period or history (i.e., the historicity) in which this ›specific type of intellectual activity‹ is being undertaken, in confronting and/or exploring the exigencies or concerns of its time.« (Ibd.) Hier rekurriert er zum einen auf Heidegger und zum anderen auf Towa. (Siehe Anmerkungen 20 und 21 in Serequeberhan 2016: 133) 343 Serequeberhan 2016: 26.

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discourses«.344 Weiter heißt es in präzisierender Weise: »The critique of eurocentrism is aimed at exposing and destructuring […] this basic speculative core in the texts of philosophy. This then is the critical-negative aspect of the discourse of contemporary African philosophy.«345 Wobei zunächst einmal die Frage im Mittelpunkt steht: »What is the critique of Eurocentrism and how does it relate to the practice of contemporary African Philosophy?«346 Als Beispiel für seine ›destructuring critique‹ setzt sich der Philosoph in einer hermeneutischen Kritik systematisch mit Kants Geschichtsphilosophie auseinander und konstatiert ein ›double game‹ im Hinblick auf die Aspekte »empire and colonialism« und den in Kants Philosophie enthaltenen Universalismus.347 Dieses gelte es im Weiteren allgemein im kritisch-negativen Verfahren der Analyse von philosophischen Texten westlicher Provenienz – wie z.B. von Marx und Hegel – herauszuarbeiten. »In this regard, Hegel and Marx specify systematically, in their own respective ways, the Idea of European superiority which Kant, long before them, enunciated as the centerpeace of his historicopolitical writings.«348 Serequeberhan setzt sich in seinem Aufsatz »Eurocentrism in Philosophy: Immanuel Kant«349 dezidiert mit Kants Aussagen zu Menschheit, Rasse, Kolonialismus, Geschichte, dem Prinzip der ›ungeselligen Geselligkeit‹ und den durch die Natur verbürgten Fortschritt in den

344 Serequeberhan 2016: 36. 345 Serequeberhan, Tsenay: »The Critique of Eurocentrism and the Practice of African Philosophy«. In: Eze, Emmanuel, Chukwudi (Hg.): Postcolonial African Philosophy: A Critical Reader. Cambridge USA, Oxford UK (Blackwell Publishers), 1997, S. 142. 346 Serequeberhan 1997: 141. 347 Serequeberhan 1997: 142. 348 Serequeberhan 1997: 143. In seiner Kritik rekurriert Serequeberhan auf Jean-François Lyotards »incredulity towards metanarratives«, die er in seinem Buch The Postmodern Condition kritisiert, und Edward W. Saids Überlegungen zum Orientalismus. Diese Matanarrative sind nach Lyotard »the Christian narrative of the redemption of original sin through love; the Aufklärer narrative [i.e., Kant’s narrative] of emancipation from ignorance and servitude through knowledge and egalitarianism; the speculative narrative [i.e., Hegel’s narrative] of the realization of the universal Idea through the dialectic of the concrete, the Marxist narrative of emancipation from exploitation and alienation through socialization of work; and the capitalist narrative of emancipation from poverty through technoindustrial development.« (Serequeberhan 1997: 145f.; Serequeberhan zitiert hier Lyotard, Postmodern Explained, S. 25) 349 Serequeberhan, Tsenay: »Eurocentrism in Philosophy: Immanuel Kant«. In: Serequeberhan, Tsenay: Contested Memory: The Icons of the Occidental Tradition. Trenton, NJ (Africa Word Press), 2007, S. 29-56.

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geschichtsphilosophischen Texten auseinander. Bei Serequeberhan heißt es: »[F]or Kant, non-European or nonwhite humanity properly speaking, lies beyond the pale of reason and thus of the possibility of rational self-redemption.«350 Er zitiert Kant: »[B]ut in short: this fellow was quite black from head to foot, a clear proof that what he said was stupid.«351 Der geschichtliche Fortschritt könne demnach aller Wahrscheinlichkeit nach auch nur von Europa ausgehen. Dazu heißt es bei ihm: »[I]f one adds episodes from the national histories of other peoples insofar as they are known from the history of the enlightened nations, one will discover a regular progress in the constitution of states on our continent (which will probably give law, eventually, to all the others).«352 In diesem Zusammenhang rekurriert er auf folgendes Zitat von Kant: »Only a learned public, which has lasted from its beginning to our own day, can certify ancient history. Outside it, everything else is terra incognita; and the history of peoples outside it can only be begun when they come into contact with it. This happened with the Jews in the time of the Ptolemies through the translation from the Bible into Greek, without which we would give little credence to their isolated narratives. From this point, when once properly fixed, we can retrace their history. And so with all other peoples. The first page of Thucydidas, says Hume, is the only beginning of real history.«353 350 Serequeberhan 2007: 33. 351 Vgl. Serqueberhan 2007: 38. Er zitiert aus Kant, Immanuel: Observations on the Feeling of the Beautiful and Sublime. Berkley (University of California Press), 1960, S. 112. Serequeberhan zitiert im Weiteren auch eine Textstelle, in der Kant auf Humes Beobachtung Bezug nimmt und sagt, dass »not a single one [of blacks] was ever found who presented anything great in art or science or any other praise-worthy quality […]. So fundamental is the difference between these two races of men, and it appears to be as great in regard to mental capacities as in color.« (Kant in Serequeberhan 2007: 36f.) Der Modellcharakter des Europäischen im Allgemeinen und der Deutschen im Besonderen komme auch in den von Kant vorgenommenen Vergleichen von Völkern zum Ausdruck: »In these comparisons, just as the Oriental non-Europeans are ›elevated‹ by being compared with Europeans (i.e., the Arabs and Persians by being likened to the Spanish and the French), to the same degree these Europeans are degraded relative to other Europeans.« (Serequeberhan 2007: 40) Weiter fragt er hier: »[B]ut the Germans are not utilized as a standard of comparison. Are they above all this?« (Ibd.) 352 Kant Immanuel: »Idea for a Universal History from a cosmopolitan Point of View«. In: Beck, Lewis White (Hg.): Kant: On History. Indianapolis (Macmillan), 1963, S. 24. Zitiert nach Serequeberhan 2007: 41. 353 Serequeberhan 2007: 42.

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Europäische Geschichte wird im Unterschied zu außereuropäischen als ›reale‹ Geschichte angesehen – eine Geschichte, die nach Kant zur moralischen Vervollkommnung des Menschen, zum ewigen Frieden und zu einer kosmopolitischen Grundordnung in einem Völkerbund führt. Bei Serequeberhan heißt es: »Kant conflates his empirical concern with different ›peoples‹ (i.e., races, nations etc.) with the credo that posits European history as the mandatory or requisite transcendental ›meeting point of all particular histories.‹«354 Dabei stehe das universalistische Projekt der Aufklärung für Kant im Mittelpunkt.355 »In fact, in as much as Enlightenment is concerned with ›man’s release from his self-incurred tutelage‹ and is thus – and necessarily so – a self-reflexive and self-reflective project of critical and rational self-emancipation, it cannot, on its own terms, be inclusive of non-European peoples.«356 Sein universalistischer Ansatz verdecke dabei »Kant’s specific or particular orientation: which is European history.«357 Nach Serequeberhan ist Kants Verwendung des Begriffs Menschheit äußerst problematisch.358 Obwohl Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden ausgehend von den Theoremen »universal hospitality« und »world citizenship« durchaus – allerdings nur »sporadic and inconsistent«359 – Kritik am Umgang der Europäer mit den außereuropäi354 Serequerbehan 2007: 32. 355 »The ›semblance‹ of universality is indispensable because Enlightenment is aimed at saving not only European humanity, but humanity per se. For as Kant tells us in ›An Old Question Raised Again: Is the Human Race Constantly Progressing?‹ (1798), his concern is with »the totality of men united socially on earth and apportioned into peoples (universorum). The principal focus of his concern is the population of the earth as a whole.« (Serequeberhan 2007: 32) 356 Serequerbehan 2007: 40. 357 Serequeberhan 2007: 33. An anderer Stelle heißt es dazu: »But Kant’s universalistic stance necessarily disregards this particularity, while presuming concern for it, for its global concern is grounded on its domineering stance towards Others. It is, in fact, an effect of this particularity camouflaged as universality«. (Serequeberhan 2007: 35) 358 Vgl. Serequeberhan 2007: 33f. Der afrikanische Philosoph bezieht sich an dieser Stelle auf Michel Foucault. Bei Serequeberhan heißt es weiter: »He [Habermas] does not even note Foucault’s remark that the emancipatory hopes of the Enlightenment have a domineering and negative effect on the non-Western world.« (Serequeberhan 2007: 35) 359 Serequeberhan 2007: 44. Er weist darauf hin, dass Kant inkonsequenter Weise in Review of Herder’s Ideas for a Philosophy of the History of Mankind (1785) die Einwohner von Tahiti mit Schafen vergleicht und in The Fundamental Principles of the Metaphysics of Morals (1785) den »South Sea islanders« die Vernachlässigung der Pflicht und einen

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schen Völkern übe, die Eingeborene unterdrückten und Krieg, Hungersnöte etc. brächten,360 werde dies Verhalten bei Kant durch das Theorem der ›ungeselligen Geselligkeit‹ und die für den Fortschritt der Menschheit notwendige instrumentelle Rationalität gerechtfertigt. Die Natur verbürge dies durch »the preordained will of Providence.«361 Vernünftigkeit bei Kant versteht Serequeberhan im Sinne einer instrumentellen Vernunft: »As noted earlier, by ›rational nature‹ Kant has in mind the ratio at work in instrumental control, which then is the filling appropriate for ›the empty place in creation.‹«362 Serequeberhan behauptet, dass Kant durch den Vergleich der Tahitianer mit Schafen ihnen und auch anderen Nicht-Europäern gegenüber eine instrumentelle Einstellung und Behandlung rechtfertigen würde: »It is interesting to observe further that Kant sees a similarity between the Tahitians (and the rest of non-European humanity by extension) and sheep because – at least, if one is to judge by the illustrations he uses – sheep, for him, typify the paradigmatic example of a passive resource to be exploited.«363 Serequeberhan bezieht sich auf den instrumentellen Gebrauch von Tieren, der von Kant im Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) am Beispiel von Schafen im Hinblick auf den Unterschied von Mensch und Tier im Zusammenhang mit der Frage nach der Entwicklung der menschlichen Vernunft in der Geschichte erläutert wird. Diese Interpretation Serequeberhans ist allerdings nicht haltbar. Der Kantische Vergleich der Tahitianer mit Schafen Hang zu »idleness, amusement, and propagation of their species – in a word enjoyment« vorwirft. (Vgl. Kant in Serequeberhan 2007: 44f.) 360 Vgl. Serequeberhan 2007: 43. Er zitiert hier Kant: »But to this perfection compare the unhospitable actions of the civilized and especially of the commercial states of our part of the world. The injustice which they show to the lands and peoples they visit (which is equivalent to conquering them) is carried by them to terrifying lengths. America, the lands inhabited by the Negro, the Spice Islands, the Cape etc., were at the time of their discovery considered by these civilized intruders as lands without owners, for they counted the inhabitants as nothing. In East India (Hindustan), under the pretense of establishing economic undertakings, they brought in foreign soldiers and used them to oppress the natives, excited widespread wars among the various states, spread famine, rebellion, perfidy, and the whole litany of evils which afflict mankind.« (Kant on History, »Perpetual Peace«, 103-104) Der afrikanische Philosoph betont die Wichtigkeit des obigen Zitats von Kant: »[H]e makes the following remarkable and indeed very commendable statement.« (Serequeberhan 2007: 43) 361 Ibd. 362 Serequeberhan 2007: 49. 363 Serequeberhan 2007: 45.

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bedeutet nicht, dass Kant sie nicht als zur menschlichen Gattung zugehörig betrachtet. In der oben zitierten Schrift Kants heißt es unmittelbar nach der von Serequeberhan herangezogenen Textpassage: »Diese Vorstellung schließt (wiewohl dunkel) den Gedanken des Gegensatzes in sich ein: daß er so etwas zu keinem Menschen sagen dürfe, sondern diesen als gleichen Theilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habe; eine Vorbereitung von weitem zu den Einschränkungen, die die Vernunft künftig dem Willen in Ansehung seines Mitmenschen auferlegen sollte, und welche weit mehr als Zuneigung und Liebe zu Errichtung der Gesellschaft nothwendig ist. Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten (III, 22): nämlich in Ansehung des Anspruchs selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden.« (MAM, AA 8: 114) Die Kritik Kants an den Europäern, die Serequeberhan immer wieder registriert, sollte u.a. deshalb in ihrer Bedeutung nicht heruntergespielt werden. Auch widerspricht Kants Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs der obigen Interpretation Serequeberhans, denn auch sie verbietet die Behandlung des Menschen als bloßes Mittel. Bei Kant heißt es: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« (GMS, AA 4: 429) In der Kantischen Philosophie ist Vernunft gerade nicht in einer instrumentellen Dimension zu verstehen, wie es in den erkenntnistheoretischen, ethischen und ästhetischen und gleichermaßen in den historischen Schriften von Kant immer wieder deutlich wird. Vernunft als Vermögen a priori ermöglicht z.B. in der ästhetischen Dimension ein interesseloses Wohlgefallen, das Natur und Kunst gleichermaßen betrifft und in der Erfahrung von Schönheit und Erhabenheit der Natur jenseits einer instrumentellen Vernünftigkeit liegt. Vernünftigkeit nach Kant lässt sich nicht als »rational control« und/oder »proper utilization/control of reason« verstehen.364 Sie ist ein allen Menschen glei-

364 Serequeberhan 2007: 47. Dazu heißt es an anderer Stelle: »Thus, in the guise of rationality Kant enshrines the ›desire to posses and rule‹ as the standard bearer of the universality of reason, since without its driving force, the non-European world would squander its existence in the idle pursuit of ›mere pleasure.‹« (Serequeberhan 2007: 49f.)

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chermaßen zukommendes Vermögen a priori, ausgestattet mit Ideen und regulativen Prinzipien zur Strukturierung menschlichen Wissens und Handelns. Das Prinzip der ›ungeselligen Geselligkeit‹ bildet nach Serequeberhan die metaphysische Grundlage für das feindliche und aggressive Verhalten der Europäer gegenüber anderen Völkern und Rassen und rechtfertige es. Er sagt: »He cannot on the one hand impute to nature these expansionist drives and glorify her for making them possible, and simultaneously condemn the results or effects of these very drives. Conquest and expansion are thus part of the foresight and design of nature.«365 Das Theorem der ›ungeselligen Geselligkeit‹ und mit ihm auch die Kriege bekommen von Kant zunächst tatsächlich eine mobilisierende Rolle und somit auch eine positive Funktion im Geschichtsprozess zugesprochen. Doch durch die zunehmende Moralität des Menschen, die sich ausdehnenden Handelsbeziehungen, die Zunahme von Verträgen zwischen Handelspartnern und Völkern und das Weltbürgerrecht lassen sich die negativen Folgen zunehmend besser ausgleichen oder vermeiden. So konstatiert Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden, dass die Zahl der Kriege im Entwicklungsprozess hin zu einem kosmopolitischen Weltbund abnehmen würden, da die Bevölkerungen der in Republiken organisierten Gesellschaften nicht mehr bereit wären, die verheerenden Folgen von Kriegen zu akzeptieren. Es wird deutlich, dass der von Serequeberhan konstatierte Widerspruch bei Kant durch ein entwicklungslogisches Argument entkräftet wird, das allerdings durchaus kritisiert werden könnte. An dieser Stelle könnte Serequeberhans Rekurs auf Layotards Theorem vom Ende der Metanarrative zur Kritik an Kants Fortschrittskonzeption herangezogen werden. Im Unterschied zu Kant sind es nach Serequeberhan nicht die großen Staaten, die die Sicherheit innerhalb des Völkerbundes verbürgen, sie neigen im Gegenteil dazu Übereinkünfte zu brechen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, sondern die kleineren und mittelgroßen Staaten, die darauf angewiesen seien, dass der Völkerbund ihre Sicherheit gewährleistet.366 Im Unterschied zu Kant betont der afrikanische Philosoph das Interesse der einzelnen Staaten an der gegenseitigen Zusicherung von Sicherheit und ihren Überlebenswillen, während Kant vom Ideal der Gerechtigkeit ausgeht. Übertragen auf die heutige Zeit fordert Serequeberhan eine Stärkung der Generalversammlung

365 Serequeberhan 2007: 49. 366 Serequeberhan 2016: 66ff.

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der Vereinten Nationen und eine Eindämmung der Vetomacht des Sicherheitsrats.367 Zusammenfassend heißt es bei ihm: »Europe is for Kant, the measure and standard of humanity«368 und spricht von »Europe’s hubris expressed in philosophical terms.«369 Said, auf den Serequeberhan rekurriert, sagt dazu: »Imperialism was the theory, colonialism the practice of changing the uselessly unoccupied territories of the world into useful new versions of the European metropolitan society.«370 Es zeigt sich dabei ein Prozess der Normalisierung, der einen normativen Charakter aufweist: »This normality, as Said points out, is grounded on an ›idea, which dignifies [and indeed hastens] pure force with arguments drawn from science, morality, ethics, and a general philosophy.‹«371 Nach Serequeberhan »[is] [t]his Idea or ›general philosophy‹ […] the metaphysical ground for the ›normality‹ and legitimacy of European global expansion and conquest: that is, the consolidation of the real.«372 Die Zivilisierung der außereuropäischen Bevölkerungen erfolgte am Beispiel des europäischen Modells.373 Aufgabe sei deshalb die Dekonstruktion der diesem Denken zugrundeliegenden Prätexte mit ihren zugrundeliegenden Theoremen: »The de-structuring critique of the ›pre-text‹ – the Occidental surrogate for the heterogenous variance of human historical existence – is then the basic critical-negative task of the contemporary discourse of African philosophy. It is the task of undermining the European centered conception of humanity on which the Western tradition of philosophy – and much more – is grounded.«374

367 Serequeberhan 2016: 71. 368 Serequeberhan 2007: 44. Er sagt weiter: »The argument is not that Kant’s writings are in explicit league with conquest. Rather, his disinterested stance notwithstanding, the aim is to reveal the beguiled and beguiling service his discourse renders European dominance. ii) Eurocentrism is not merely a kind of racism or ethnocentricm.« (Serequeberhan 2007: 30) 369 Serequeberhan 2007: 45. 370 Said, Edward W.: The Question of Palestine. New York (Vintage), 1980, S. 78. 371 Serequeberhan 1997: 144. Serequeberhan zitiert hier Said 1980: 77; die Hervorhebungen sind von Serequeberhan. 372 Serequeberhan 1997: 144f. 373 »European civilization is both the standard and the model by which this deficiency is first recognized and then remedied.« (Serequeberhan 1997: 145) 374 Serequeberhan 1997: 146.

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Dieses ›critical-negative project‹375 ist insbesondere deshalb notwendig, weil das Selbstbild der Afrikaner vom westlichen Blick, »Europe’s imperious gaze«,376 – ausgehend von »the civilized/uncivilized dichotomy«377 – bestimmt ist. »Consequently, we ›see‹ ourselves and our contemporary situation, at least partially, through the lenses conferred to us by the transmissions of this heritage. Thus, to explore this shared heritage in regards to how it sees and conceptualizes our lived humanity is a necessary precondition to critically appropriating it.«378 Und weiter heißt es dort: »Today – in our global society – the dominant ideas are the ideas through which Europe dominates the world.«379 Dabei werde die westliche Hegemonie heute weniger deutlich sichtbar. »Today in our postcolonial present, we face a more covert hegemony which functions and implements global Euro-American domination through the Westernized segments of formerly colonized peoples.«380 Und weiter: »More than through physical force, Euro-America today rules through its hegemony of ideas, ›through its models of growth and development‹.«381 Er spricht vom »testament of Western supremacy.«382 Diese nicht immer sichtbar werdende westliche Hegemonie aufzudecken gehört nach Serequeberhan zu den Aufgaben afrikanischer Gegenwartsphilosophie. Serequeberhan versteht Kritik in erster Linie als hermeneutisches Verfahren bzw. als dekonstruktivistische Analyse in der Auseinandersetzung mit philosophischen Texten.383 Dabei bezieht er sich auf ethnophilosophische, weisheitsphilosophische, politisch-nationale Texte des Befreiungskampfes, die neben den wissenschaftlich ausgerichteten philosophischen Texten

375

376 377 378 379 380 381 382 383

Vgl. Serequeberhan 1997: 142. An anderer Stelle heißt es: »This, in my view, is one of the most important and basic tasks of the contemporary discourse of African philosophy; its critical-negative project – the critique of Eurocentrism.« (Serequeberhan 1997: 157) Serequeberhan 2016: 20. Ibd. Und weiter heißt es: »His/her categories of thought are controlled, from within, by that what is exterior and foreign to the local setting.« (Serequeberhan 2016: 21) Serequeberhan 1997: 155. Ibd. Serequeberhan 1997: 156. Ibd. Serequeberhan 2007: 30. Er beruft sich dabei auf Outlaw.

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die zentralen Tendenzen der afrikanischen Philosophie ausmachen. Des Weiteren fordert er die kritische Analyse philosophischer Texte westlicher Provenienz. Auffallend in diesem Zusammenhang ist aber auch, dass westliche Texte seiner Arbeit gleichermaßen fundierend zugrunde liegen, wie z.B. im Falle ausgesuchter Texte von Lyotard, Vattimo, Taylor, Gadamer etc. Seine Forderung nach einer kritischen Reflexion verbindet er mit einem Konzept der Hybridität von Kultur: »The present reality of Africa is hybrid. It is, therefore, the content and the composition of this hybridity that we must challenge, explore, and concretely sift through. This we can do by critically engaging and de-constructuring on the level of ideas the colonial project, ›the epistemology of imperialism‹, that control us from within.«384 Damit wendet er sich gegen die Vorstellung von einer möglichen Reinheit und Authentizität von Kultur und einer unhinterfragten Rückkehr zu einer vermeintlich afrikanischen Tradition. Sein Ausgangspunkt bleibt der Gedanke des interkulturellen bzw. transkulturellen Austauschs zwischen Kulturen, Ziel ist es »to cultivate a synthesis« und »a constant process of cross-fertilization«, um »a new global community« oder »a new humanity« zu schaffen.385 Serequeberhan strebt einen »dialog at a distance« mit der kontinentalen europäischen Philosophie an: »We need to further cultivate this dialogue. We must engage ourselves in shortening the distance in view of our ›worldwide heritage‹ (note 39) and what it calls for.«386 Dabei muss man der »multiplicity, which constitutes the present world,« gerecht werden, womit auch »a rethinking of our shared – unequal – past«387 verbunden sei. »We have to counter, to the nature sanctioned logic of brute force, a logic of recognition, respect, and dialogue – a logic grounded in the finitude, or humanness, of our shared existence.«388

384 Serequeberhan 2016: 26. 385 Serequeberhan 2016: 35, 51. 386 Serequeberhan 2016: 48. Positiv vermerkt Serequeberhan, dass die zeitgenösssische kontinentale Philosophie die Historizität des Okzidents und die negativen, mit Gewalt verbundenen Effekte seiner Hegemonie auf die Welt kritisch diskutiert. (Vgl. Serequeberhan 2016: 49) 387 Serequeberhan 2016: 48. 388 Serequeberhan 2016: 72.

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Die dekonstruktivistische Analyse wird bei Serequeberhan mit Rekonstruktion verbunden.389 Es geht immer darum, auf der Basis hermeneutischer Dekonstruktion Lösungsansätze für die aktuellen Probleme Afrikas zu entwickeln. Philosophie strebt an, einen Beitrag zur Befähigung der Afrikaner in theoretischer wie praktischer Hinsicht zu leisten: »For me as for them [er bezieht sich auf die Philosophen Owomoyela. Towa, Okolo und Wamba-Dia-Wamba] philosophy – and specifically African philosophy – is a historically engaged and politically committed explorative reflection on the African situation aimed at the political empowerment of the African people.«390 Politisches Ziel ist »the establishment of participatory forms of democratic self-rule«, verbunden mit »the imaginative and self-reliant modernization of the formerly colonized territory« und »a practice of economic transformation that is democratically controlled (i.e., directed, invested in, and managed) at a grassroot level.«391 Weiter heißt es bei Serequeberhan: »Is it not much more a question of instituting viable and sustainable economic strategies/arrangements, suited to their varied efforts at democratic selfrule, while fending off the constant ›pressures emanating from the global system‹?«392 Damit wird die Überwindung von Korruption und der »moral pollution«393 verbunden und Afrika aus der neokolonialen394 Situation herausgeführt. Dabei geht es insbesondere um die Wiederentdeckung von Möglichkeiten: »Indeed, to reimagine – invent, rediscover, retrieve – the lost possibilities that were, at one time, the raison d’être of the independence struggle: this is the task of contemporary African philosophy.«395 Befähigung wird bei Serequeberhan mit einer Ermächtigung zum politischen Handeln verbunden. Trotz aller Kritik an Kant bezieht sich Serequeberhan positiv auf Kants Geisteshaltung: »And so, in being open and receptive to that which is disclosed in our postcolonial present, we just might, in the spirit of Kant, 389 390 391 392 393

Auch diesbezüglich bezieht er sich auf Outlaw. Serequeberhan 1991: XXI. Serequeberhan 2016: 32. Ibd. Serequeberhan 2016: 30. Diesen Ausdruck übernimmt Serequeberhan von Kwame Gyekye. Siehe Anmerkung 116 in Serequeberhan 2016: 141. 394 Vgl. Serequeberhan 2016: 27. In der Regel verwendet Serequeberhan den Begriff ›Postkolonialismus‹. Der Begriff des Neokolonialen dient der größeren Betonung der Fortsetzung kolonialer Machtstrukturen nach der formalen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien. 395 Serequeberhan 2016: 36.

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all of us and together, surmount the dangers signaled by 9/11 – 2001 and 1973.«396

2.5.2 2.5.2.1

Philosophie als visionäre Kritik bei Odera Oruka Kritik, Ethik und Politik. Globale Gerechtigkeit bei Odera Oruka

Odera Orukas Konzeption von Philosophie als kritisch-reflexive Denkbewegung widmet sich – im Unterschied zur Ethnophilosophie – in seinem Projekt der Sage Philosophy397 der Rekonstruktion indigenen Erbes als individuelles Reflektieren. Er lehnt Ethnophilosophie ab, die als kollektive Philosophie auf Forschungsergebnissen der Ethnologie fußt und primär kollektive Mythen, Rituale und Weltanschauungen betrifft. Odera Oruka besteht auf dem Unterschied von Mythos und Philosophie, nur auf dieser Basis kann seiner Meinung nach Philosophie auch Motor für Fortschritt und Entwicklung in Afrika und in der Welt werden. Die Realisierung des kritischen Potentials der Philosophie verlangt nach Odera Oruka nachvollziehbare Argumentationen und logische Konsistenz. Sein Anliegen ist es, die weisheitliche Dimension des Philosophierens zum Tragen kommen zu lassen – verbunden mit einer Berücksichtigung kultureller, sozialer und historischer Momente. Die afrikanische Weisheitsphilosophie hat für ihn eine wichtige Funktion im Prozess der Dekolonialisierung des Denkens im postkolonialen Kontext. Dabei ist Weisheit nicht mit Philosophie gleichzusetzen. Odera Oruka stellt fest: »Unser Anliegen in der Sage-Forschung ist es nicht wirklich, die These zu belegen, daß Weisheit (Sagacity) auch schon Philosophie ist. Unsere Untersuchung

396 Serequeberhan 2016: 72. 397 Für bestimmte afrikanische Philosophen hat die Sage Philosophy keinen philosophischen Charakter, sondern bildet nur ein kluges Alltagsverständnis ab. In der Kritik steht u.a. das methodische Verfahren des Interviews. Der Weisheitsphilosophie fehle insbesondere Rationalität und Systematik. Zu diesen Philosophen gehören z.B. Dismas Masolo und Peter O. Bodunrin. Vgl. Masolo, Dismas: African Philosophy in Search for Identity. Bloomington (Indiana University Press), 1994, S. 135ff. und Bodunrin, Peter O.: »The Question of African Philosophy«. In: Odera Oruka, Henry (Hg.): Sage Philosophy: Indigenous Thinkers and Modern Debate on African Philosophy. Leiden (Brill Publishers), 1990, S. 163-177. Für Odera Oruka geht es besonders um die Exploration und Darlegung der Tradition und Wurzeln afrikanischer Philosophie – er vergleicht afrikanische Weisheitsphilosophie insbesondere mit Sokrates –, um die Wahrung eines Erbes durch Verschriftlichung und die Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit dem gewonnenen Gedankengut zu ermöglichen bzw. zu schaffen.

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hat die Philosophie innerhalb der Weisheit (Sagacity) vor Augen, es geht also um die Überschneidung.«398 Odera Oruka vertritt ein auf der Basis von visionärer Kritik entwickeltes philosophisches Konzept mit einer anwendungsorientierten Ausrichtung. Er fordert ihre gesellschaftliche Relevanz u.a. als Orientierungshilfe im Kampf gegen sozioökonomische Benachteiligung, politische Fehlentwicklungen und rassistische Vorurteile. Im Mittelpunkt seines Philosophierens steht die Frage nach globaler Gerechtigkeit und dem human minimum, wobei der Sicherung der leiblichen Existenz des Menschen absolute Priorität zukommt. Das menschliche Minimum verkörpert den minimal code für die Bestimmung des Guten in seiner Ethik, der eine humanistische Konzeption zugrunde liegt. Damit wendet er sich gegen den formal ausgerichteten Universalismus der Ethik Kants. Das ethical minimum stellt für Odera Oruka »die Bedingung der Möglichkeit jedes ethischen Handelns«399 dar. Bei ihm heißt es dazu: »Damit alle menschlichen Wesen mit ausreichender Rationalität und Selbstwahrnehmung funktionieren, benötigen sie ein bestimmtes Minimum an physischer Sicherheit, Gesundheitsfürsorge und Subsistenz. Beziehen wir uns der Einfachheit halber auf dieses Minimum als das menschliche Minimum. Unterhalb dieses Minimums kann man noch immer ein guter Mensch und am Leben sein, aber man kann nicht mehr erfolgreich die Funktionen eines moralischen Agenten ausüben oder kreativ handeln.«400 Mit seiner Ethik formuliert Odera Oruka einen globalen Anspruch universeller Art, bei dem es um die Umsetzung der Forderung nach Gerechtigkeit im Kontext der Weltgemeinschaft geht. Seine Ethik muss vom Grundsatz her als egalitäre Ethik verstanden werden, in der es um die Aufhebung sozialer Ungleichheiten geht. Anke Graneß stellt dazu fest: »Im Kern ist sein Gerechtigkeitsverständnis damit eine sozialökonomische Verteilungsgerechtigkeit.«401 Verteilungsgerechtigkeit ist distributiv auf Umverteilung hin ausgerichtet. Das Theorem globale Gerechtigkeit, das in Odera Orukas Philosophie zunächst rigoros eine egalitäre Grundstruktur auf der Welt einfordert,

398 Odera Oruka 1988: 48. 399 Graneß, Anke: Das Menschliche Minimum: Globale Gerechtigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka. Frankfurt, New York (Campus), 2011, S. 99. 400 Odera Oruka, Henry: »Philosophie der Entwicklungshilfe«. In: Polylog: Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. 6, 2000, S. 9. 401 Graneß 2011: 104.

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wird bei ihm zunehmend zum Prinzip des menschlichen Minimums.402 Das menschliche Minimum sieht die Grundabsicherung des Einzelnen vor und bildet ein regulatives Ideal. Im Unterschied zu Kant und Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zählt der Erwerb von Privateigentum bei Odera Oruka nicht zu den Grundfreiheiten des Menschen. Von der durch Hungersnöte, Kriege, politisches Missmanagement, Ausbeutung, Umweltverschmutzung etc. verursachten Gefährdung der leiblichen Existenz des Menschen in Afrika ausgehend erhalten die ökonomischen Bedürfnisse bei ihm als primäre Rechte eine größere Bedeutung als politische Freiheitsrechte. Die ›ökonomische Freiheit‹ bildet die Grundlage aller anderen Freiheiten, womit er der Grundauffassung der euro-amerikanischen Philosophie widerspricht, deren wichtigster Vertreter hinsichtlich der Freiheitsfrage Kant ist.403 Kant thematisiert Armut und soziale Benachteiligung insbesondere im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Wahrnehmung der passiven und aktiven Staatsbürgerschaft, der Gefährdung der republikanischen Verfasstheit der Staaten und des Sicherheitsaspekts im Gefüge der Staaten, nicht ausgehend vom persönlichen Leiden, der Beeinträchtigung in der Lebensführung und der Möglichkeit zum Erlangen von Zufriedenheit und Glück. Die moralische Kompetenz des Individuums ist nach Kant nicht gefährdet, diese ist in der praktischen Vernunft apriori verankert. Verteilungsgerechtigkeit bildet im Unterschied zu Kant nach Odera Oruka die Voraussetzung für die Wahrnehmung der moralischen und politischen Freiheiten des Menschen. Bei Kant dagegen bedeutet Gerechtigkeit ausdrücklich keine Verteilungsgerechtigkeit, sondern das Verfügen über gleiche Rechte. Die Möglichkeit zum moralischen Handeln erlaubt es dem Individuum sich zu einer Person404 – der Personenbegriff basiert auf dem Konzept des Menschen als moralischer Handlungsträger und inkludiert das menschliche

402 Das Prinzip des menschlichen Minimums wurde von Odera Oruka zunächst zur internationalen Gerechtigkeit gezählt. Diese bezieht sich bei Odera Oruka auf zwischenstaatliche Beziehungen und die Frage nach dem Verhältnis von Regierung und Individuum. Der internationalen Gerechtigkeit liegen die Prinzipien territoriale Souveränität und nationaler Überfluss zugrunde. (Vgl. Graneß 2011: 105) 403 Vgl. Graneß 2011: 101. 404 Bei Graneß heißt es zum Personenbegriff bei Odera Oruka: »Eine Person ist ein rationales, selbstbewusstes, moralisch handelndes Wesen, das in der Lage ist, ein faires Geschäft abzuschließen. Damit geht sein Personenbegriff über die reine Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens hinaus.« (Graneß 2011: 110)

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

Minimum als Recht – zu entwickeln. Dabei unterscheidet sich der Personenbegriff vom Kantischen Konzept der Person als Vernunftwesen und seiner Fundierung im Freiheitsbegriff in seiner Abstraktheit. Freiheit ist nach Kant Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf moralisches Handeln, Autonomie der Selbstgesetzgebung und Verantwortlichkeit und als ethisch fundierte unabhängig von z.B. ökonomischen, sozialen und geschichtlichen Dimensionen mit der Vernunftausstattung des Menschen verbunden, was in der Apriorizität des kategorischen Imperativs verkörpert ist. Nach Odera Oruka stellt das menschliche Minimum als Voraussetzung für moralische Handlungsfähigkeit und Kreativität sowohl ein absolutes als auch ein universales moralisches Recht des Menschen dar, das gleichzeitig mit der Pflicht zur Gewährung dieses Rechts einhergeht. Diesem Recht ist das Recht auf Eigentum untergeordnet und auch die Verfügungsgewalt über das nationale Territorium, die dem nationalen Reichtum zugrunde liegt, ist letztlich im Eigentumsrecht verankert und schafft damit kein absolutes Recht u.a. auch weil die Legalität des Erwerbs des Territoriums zumeist nicht nachgewiesen werden kann. Auch Kant sieht die mit dem Erwerb von Eigentum an Land und anderen Gütern verbundene Problematik im Hinblick auf den Aspekt der Legitimität und Gerechtigkeit und postuliert als regulative Idee – ausgehend vom Theorem des gemeinschaftlichen Besitzes aller Menschen an der Erde – einen Konsens schaffenden allgemeinen Willen, wonach es im Zustand der republikanischen Verfasstheit und Rechtsstaatlichkeit aller Nationen zu einer Übereinkunft hinsichtlich einer gerechten Verteilung kommen soll. Kant dient die Annahme eines allgemeinen Willens als Leitlinie für die politische Gestaltung im geschichtlichen Prozess und gleichzeitig als Zukunftsvision.405 Er präferiert eine Verfeinerung rechtlicher Mittel und die republikanische Verfasstheit der Staaten als Grundlage für die Schaffung eines Konsenses. Für Odera Oruka ist die moralische Handlungsfähigkeit, die vernünftige Selbstbestimmung und die Fähigkeit zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens mit dem Personenbegriff verbunden, im Unterschied zu Kant abstrahiert er nicht vom gesellschaftlich-historischen Kontext in sozialer und ökonomischer Hinsicht und betrachtet die Fragestellung aus individueller, nationalstaatlicher und globaler Perspektive insbesondere aus ökonomischer Sicht. Im Gegensatz zu Kant glaubt Odera Oruka aus der empirischen Natur des 405 Vgl. Pinheiro Walla, Alice: »Private Property and the Possibility of Consent: Kant and Social Contract Theory«. In: Krasnoff, Larry; Madrid, Nuria Sánchez; Satne, Paula (Hg.): Kant’s ›Doctrine of Right‹ in the 21st Century. Cardiff (University of Wales), 2018, S. 29-45.

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Menschen moralische und rechtliche Forderungen ableiten zu können. Odera Oruka sagt: »We […] need freedom only because we have certain needs to fulfil and freedom is a condition for such fulfilment. It seems, therefore, proper that before giving a definition of ›liberty for X’s‹ we must first of all give a definition of what we mean by X’s needs.«406 Auch wenn Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften gesellschaftspolitische, kulturelle und moralische Dimensionen als Faktoren für die Entwicklung der Person einbezieht, bleiben ökonomische Faktoren in moralischer Hinsicht unberücksichtigt und das moralische Handeln ist gerade durch die Loslösung von der Heteronomie gekennzeichnet. Kants Personenbegriff wird bei Odera Oruka hinsichtlich der Hypostasierung der persönlichen Autonomie kritisiert und in seiner sozial-ökonomischen und leiblichen Bestimmtheit kontextualisiert, in seiner begrifflichen Bestimmung aber dennoch in weiten Teilen beibehalten.407 Graneß konstatiert zusammenfassend hinsichtlich des Bezugs zu Kant: »Parallelen zum Kantischen Ansatz sind offensichtlich, angefangen beim Begriff der Person über die Verbindung von Rechten und Pflichten, bis zur Unterscheidung zwischen juridischem und moralischem Gesetz. Es ist festzustellen, dass Odera Orukas Ansatz zwischen naturrechtlichen Vorstellungen (Rechte, die dem Menschen als Menschen zu kommen) und Kantischem Ansatz (Rechte als Produkt der Vernunft) hin und her schwankt. Zum einen wird

406 Odera Oruka, Henry: The Philosophy of Liberty: An Essay on Political Philosophy. Nairobi, Kenya (Standard Textbooks Graphics and Publishing), 1991, S. 53. Er unterscheidet zwischen primären und sekundären Bedürfnissen, wobei er die Einteilung auf Grund ihrer regionalen und kulturellen Verschiedenheit offenlässt. (Vgl. Graneß 2011: 127) Die Grundfreiheiten beziehen sich auf die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft, Gesundheit etc. und sind biologischer und ökonomischer Natur. Auf ihnen basieren die politischen, religiösen und kulturellen Freiheiten wie z.B. die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. (Vgl. Graneß 2011: 128f.) Das menschliche Minimum bezieht sich demnach primär auf das Überleben des Menschen und nicht auf soziale und politische Teilhabe. (Vgl. Graneß 2011: 135) Graneß fragt davon ausgehend, ob der Begriff des menschlichen Minimums sich für die Bestimmung des Theorems der Person überhaupt eignen würde. Dieser betone die Selbstbestimmung und Selbstgestaltung des Menschen. (Vgl. ibd.) Graneß fragt: »Ist das von ihm bestimmte menschliche Minimum nicht zu minimal angesetzt, um den Qualitäten einer menschlichen Person, wie er sie selbst bestimmt, gerecht zu werden.« (Ibd.) 407 Graneß spricht insgesamt von »einer vernunftgeleiteten Argumentation zur Begründung des Rechts auf ein menschliches Minimum.« (Graneß 2011: 124)

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

das Recht auf ein menschliches Minimum aus der Notwendigkeit des Schutzes der Leiblichkeit des Menschen als Voraussetzung für das Ausüben jeglicher Rechte und Pflichten geschlossen, zum anderen orientiert sich sein Verständnis von Person, Rechten und Pflichten an Vorstellungen von freiheitlicher Autonomie.«408 Odera Oruka leitet aus seinen Überlegungen zur Gerechtigkeit globale ethische Pflichten für reiche Staaten ab. Mit dem Prinzip der gerechten Verteilung der Güter der Welt begründet er auch die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe. Nach Odera Oruka sind reiche Staaten unabhängig von Wohltätigkeit, Wiedergutmachung und Wahrung eigener – zumeist ökonomischer und/oder militärischer – Interessen in der Pflicht, Entwicklungshilfe zu leisten, was durch die unbedingte Gültigkeit und moralische Verpflichtung zur Realisierung des menschlichen Minimums, das die Momente physische Sicherheit, Gesundheit und Subsistenz beinhaltet, begründet wird. Einen solchen Umverteilungsprozess zwischen Staaten sieht Kant nicht vor. Er appelliert an die Staaten, durch rechtliche Grundlagen die individuellen Kräfte und Anstrengungen zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation und zur Erlangung der aktiven Staatsbürgerschaft voranzubringen. Eine solide Struktur der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit hilft gleichermaßen, die Beziehung zwischen den Staaten zu verbessern und dem Ziel des Staatenbundes zur Erlangung von Frieden näher zu kommen. Insgesamt betrachtet deutet sich bei Odera Oruka in seiner Konzeption der globalen Gerechtigkeit und des menschlichen Minimums eine kosmopolitische Ausrichtung seiner Philosophie an, die er allerdings nicht weiter ausarbeitet. So bleibt die Frage nach der Durchsetzung globaler Gerechtigkeit, die zunächst auch die konkrete Ausgestaltung der Forderung nach dem menschlichen Minimum betrifft, offen. Dazu muss das menschliche Minimum zunächst genauer bestimmt werden und der Eingriff in nationale Reichtümer409 rechtlich und moralisch geregelt werden. Es muss geklärt werden, welche Institutionen für den Umverteilungsprozess verantwortlich sind und wie sie sich legitimieren lassen? Lösungen für die Probleme und Fragen setzen im Grunde eine kosmopolitische Philosophie voraus bzw. machen eine kosmopolitische Konzeption notwendig, eine Lösung, wie sie bei Kant – allerdings in anderer Hinsicht – zu finden ist.

408 Ibd. 409 Der Begriff des nationalen Reichtums bedarf zunächst einer genaueren Klärung.

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Gerechtigkeit basiert nach Odera Oruka auf dem Prinzip der Umverteilung, das in anderen Gerechtigkeitskonzeptionen oft in Frage gestellt und kritisiert wird. So fordert z.B. Höffe stattdessen das wechselseitige Prinzip des Tauschs, das auch eine interkulturelle Akzeptanz aufweise, da Umverteilung paternalistische bzw. maternalistische Tendenzen zeige und eine FürsorgeMentalität produziere.410 Graneß fragt: »Ist Verteilung überhaupt ein geeignetes Paradigma für Gerechtigkeit?«411 Die kritische Auseinandersetzung mit Rawls wirkmächtiger Gerechtigkeitskonzeption steht im Zentrum der Überlegungen von Odera Oruka. Rawls Ansatz basiert besonders auf Aristoteles’ Auffassung von Gerechtigkeit. Aristoteles versteht Gerechtigkeit als Tugend und unterscheidet zwischen distributiver und kummutativer bzw. wiederherstellender Gerechtigkeit, erstere verteilt Rechten und Pflichten in Relation zum Empfänger nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, letztere geht z.B. bei Wiedergutmachung und Strafe von der formalen Gleichheit der Menschen aus. Außerdem rekurriert Rawls auf Kants Konzept von Gerechtigkeit als gleiche Freiheit für alle Menschen und dessen Konzept des sozialen Konsenses durch vertragliche Übereinkünfte und die Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke u.a. Gerecht sind nach Rawls Regeln der Verteilung, denen jeder unter der Bedingung der Gleichheit und Unparteilichkeit zustimmen würde – eine Art Fairnessgerechtigkeit. Der imaginierte Urzustand verlangt die Konzeption einer Gesellschaftsordnung – als hypothetischen Gesellschaftsvertrag – unter der Voraussetzung der Unklarheit der Einzelnen über die 410 Vgl. Graneß 2011: 201. Siehe dazu Höffe, Otfried: Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1998. Höffe spricht sich aus den genannten Gründen gegen Entwicklungshilfe aus. Voraussetzung für Höffes Gerechtigkeitsauffassung ist die Fähigkeit des Menschen am Tausch teilnehmen zu können. Menschen, die dazu nicht in der Lage sind, werden allerdings nicht berücksichtigt. Des Weiteren sind die Bedingungen für die Durchführung des Tauschprozesses zumeist nicht gleich. Auch das Prinzip der ›korrektiven Gerechtigkeit‹ greift nach Graneß nicht, da das erlittene Unrecht deutliche Auswirkungen für die Gegenwart aufweisen muss. (Vgl. Graneß 2011: 209) Höffe fokussiert neben der Erhaltung von Leib und Leben die Aspekte Denk- und Sprechfähigkeit und die Möglichkeit zu sozialen Kontakten und geht somit schon im ersten Schritt über Odera Orukas Bestimmung des menschlichen Minimums hinaus. Des Weiteren fordert er zur Durchsetzung seiner Forderungen – seine Vorstellungen konkretisierend und institutionalisierend – im Unterschied zu Odera Oruka eine globale Rechtsordnung in einer föderativ organisierten Weltrepublik, ganz im Sinne Kants. Für die soziale Sicherung der Bürger sind nach Höffe zunächst die Nationalstaaten zuständig. 411 Graneß 2011: 117.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

später eingenommene gesellschaftliche Position. Dabei kommt es zur gegenseitigen Absicherung der Freiheit im Kantischen Sinne und darüber hinaus zu einer Verteilung von Einkommen, die von jedem akzeptiert werden kann, da Ungleichheiten immer den am schlechtesten Gestellten zugutekommen muss und Chancengleichheit gewahrt wird. Damit wendet sich Rawls gegen eine utilitaristische Gerechtigkeitskonzeption. Grundfreiheiten wie politische Freiheiten, Gewissens- und Gedankenfreiheit, persönliche Freiheit und das Recht auf persönliches Eigentum sind dem Differenz- und Unterscheidungsprinzip vorgelagert. Odera Oruka kritisiert vehement Rawls Einordnung des Privateigentums in die vorgelagerten Grundfreiheiten. Er postuliert darüber hinaus die Priorität des Existenzminimums vor den genannten Grundfreiheiten und kehrt damit die Ordnung der Gerechtigkeitsgrundsätze um. Dabei unterscheidet er zwischen zwei verschiedenen Eigentumsformen, »socially significant and socially insignificant personal property«,412 und hält Rawls Eigentumsbegriff für unpräzise. Letzterer schließt allerdings das Eigentum an Produktionsmitteln ausdrücklich von den Grundfreiheiten aus, was von Odera Oruka übersehen wird und seine Kritik an Rawls schwächt.413 Rawls Forderung nach der Sicherung eines Existenzminimums414 zeigt, dass er das Modell der sozialen Marktwirtschaft präferiert. Der afrikanische Philosoph Odera Oruka konstatiert das Verwurzeltsein der Theorie von Rawls im markwirtschaftlichen Gesellschaftssystem westlicher Provenienz.

412 Odera Oruka, Henry: »John Rawls' Ideology: Justice as Egalitarian Fairness«. In: Odera Oruka, Henry: Practical Philosophy: In Search of an Ethical Minimum. 1997, S. 122. 413 Vgl. Graneß 2011: 162. 414 Bei Rawls heißt es dazu: »Schließlich gewährleistet die Regierung ein Existenzminimum entweder in Form von Familienbeihilfen und besonderen Zahlungen bei Krankheit und Arbeitslosigkeit oder systematischer etwa durch abgestufte Zuschüsse zum Einkommen (eine sogenannte negative Einkommenssteuer).« In: Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1979, S. 309. Allerdings geht Rawls dabei nicht von absoluter Armut aus und sieht gleichermaßen auch keine zwischenund/oder überstaatliche Verantwortung im Hinblick auf die Armutsbekämpfung. Bezugsrahmen bleibt für Rawls in erster Linie der Nationalstaat.

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Interkulturelles Philosophieren

2.5.2.2

Umweltethik und Philosophie der Natur bei Odera Oruka und Kant

Odera Oruka entwickelt im Zusammenhang mit seiner Philosophie der Natur eine Umweltethik, eine Ecophilosophy und Environmental Ethics.415 Er sagt: »We regard ecophilosophy as a totality of the philosophy of nature. In this sense ecophilosophy is broader than such subjects as environmental studies and enviromental ethics. Enviromental studies have so far, restricted themselves to the study of the earth and the atmosphere. Environmental ethics has not gone much beyond the attempt to consider the possibility of extending ethics from human beings to the non-human creatures on earth.«416 Zur Begründung rekurriert er auf die afrikanische Unterscheidung zwischen sichtbarer Welt, die menschliche und nicht-menschliche Wesen gemeinsam bewohnen, wobei einige Tiere und Pflanzen eine besondere Bedeutung zugesprochen bekommen, und der unsichtbaren Welt mit Geistern, Toten und Ungeborenen, die in Afrika traditionell eine hohe Wertschätzung erfährt. Von diesen Grundüberzeugungen ausgehend muss der Natur mit Respekt begegnet werden. In seiner Parental Earth Ethics417 geht es, wie es bei Graneß heißt, »im Kern um den Erhalt der gesamten Welt. Aufgrund der subtilen Vernetzung von gesellschaftlichen Momenten und unseres Denkens ist Armutsbekämpfung letztlich Umweltpolitik, Klimaschutz und Sicherheitspolitik in einem. Die Frage der Erhaltung der Welt wiederum ist untrennbar damit verbunden, Gerechtigkeit für jedes Mitglied der Gemeinschaft zu gewährleis-

415

Innerhalb des westlichen Denkens bezieht er sich insbesondere auf Whites Vorstellung von der Bedeutung des kleinsten Lebewesens für das Gesamte, auf Linnés Auffassung von der Verbundenheit aller lebendigen Wesen hinsichtlich eines gemeinsamen Ziels und Darwins Annahme komplexer Beziehungen und Abhängigkeiten der Lebewesen der Erde untereinander, Beispiele für eine common-earth ecophilosophy, und kritisiert die imperial ecophilosophy, die von einer Herrschaft des Menschen über die Erde ausgeht. Vgl. Odera Oruka, Henry; Juma, Calestous: »Ecophilosophy and Parental Earth Ethics (On the Complex Web of Being)«. In: Odera Oruka, Henry (Hg.): Philosophy, Humanity and Ecology: Philosophy of Nature and Environmental Ethics. Bd. 1. Nairobi (ACTS and AAS), 1994, S. 117ff. Außerdem bezieht sich Odera Oruka auf das indische dharma, die Kosmologie der Hawaiianer und die Dogon Kosmologie. (Vgl. Odera Oruka 1994: 121ff.) 416 Odera Oruka 1994: 119. 417 Diesen Begriff verwendet Odera Oruka zum ersten Mal im Jahre 1993 als Gegenentwurf zur Life Boat Ethics von Garrett Hardin. (Vgl. Graneß 2011: 137)

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ten.«418 Er geht von globalen Abhängigkeitsverhältnissen aus, die die verschiedenen Teile der Welt in ihrem Schicksal verbinden – entsprechend der Vorstellung von einem Netz des Seins – und von der Notwendigkeit des Bemühens um ein globales Gleichgewicht. Auch in diesem Kontext betont er die Verpflichtung reicher Staaten, Entwicklungshilfe zu leisten, und spricht von einer parental earth insurance Politik, einer Art Versicherungs- bzw. Sicherheitspolitik für das Wohlergehen der Welt. Odera Orukas Ethik propagiert eine Moral der Bescheidenheit und richtet sich gleichermaßen gegen eine Haltung des Überkonsumierens wie den Mangel am Nötigsten mit ihren schädlichen Auswirkungen für die Welt im Ganzen. Ethik wird nicht mehr ausschließlich anthropozentrisch, sondern ökozentrisch konzipiert. Die zunehmende Interdependenz verschiedenster Faktoren erfordert eine Ausrichtung des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns auf die Erde in ihrer Gesamtheit, auf den Kreislauf der Natur und den Menschen als Teil des Universums. Odera Oruka fordert einen Wechsel der Perspektive in erkenntniskritischer, moralischer und allgemein pragmatischer Hinsicht. Dabei wird seine Konzeption mithilfe der Metapher Familie – den Weltzusammenhang symbolisierend – exemplifiziert und vorstellbar gemacht. Der Zusammenhang von Wirtschaft und Natur wird bei Kant419 zwar nicht ausdrücklich thematisiert, doch legt die besondere Bedeutung, die der Natur in Kants Philosophie zukommt, nahe, Achtung vor der Natur auch als Grundtheorem im ökonomischen Handeln der Menschen anzusehen. Recki zeigt auf, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft, seiner ästhetischen Theorie, ein anderes Naturverständnis zugrunde legt, das einer zweckmäßig verfassten Natur als System der Zwecke. Das freie Spiel der Erkenntniskräfte im interesselosen Wohlgefallen, in dem sich die genuin ästhetische Erfahrung der Zweckmäßigkeit ohne Zweck manifestiert und realisiert, werde bei Kant primär am Beispiel von Naturerfahrungen aufgezeigt. Daraus lässt sich nach Recki das Modell eines herrschaftsfreien Verhältnisses zur Natur und eine Rehabilitierung der Sinnlichkeit bei Kant ablesen, so dass in Kants Philosophie bereits eine Naturethik angelegt sei. Die Idee einer zweckmäßigen Natur wird mit der Grundannahme der Teleologie verbunden und auf die Struktur

418 Graneß 2011: 116. 419 Der kommende Absatz über Kant stammt aus dem Aufsatz Rainsborough, Marita: »Freiheit, Natur und Geschichte. Zum Verhältnis von Natur und Geschichte bei Kant und Foucault«. In: Estudos Kantianos. Edição Especial em homenagem a Leonel Ribeiro dos Santos. Hg. Ubirajara Rancan de Azevedo Marques. Marília, 2017, 339-350.

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des Organismus als sinnvolles Ganzes, den Gedanken der Natur als System und auf die Schönheit in der Natur, bezogen.420 Bei Recki heißt es dazu: »Mit der Zweckmäßigkeit unterstellt man der Natur insgesamt Handlungsrationalität – und damit die Form der Vernunft, aufgrund derer wir uns selbst als handelnde Wesen zu achten haben. Im Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur denken wir im Grunde eine nach dem Vorbild unseres eigenen praktischen Selbstverständnisses vernünftig eingerichtete Natur.«421 Sie fährt fort: »Wir erleben und denken uns somit in der ästhetischen Reflexion als sinnlich-vernünftige Wesen in einem sinnlich-vernünftigen Kontext.«422 Der Mensch macht dabei die Erfahrung, »als Vernunftwesen in die Welt zu passen«.423 Daraus leitet sie eine ethische Implikation des Ästhetischen ab, auch im Hinblick auf einen ethischen Respekt, einer Achtung gegenüber der Natur. Der Ausgangspunkt der Teleologie bleibt nach Recki allerdings anthropozentrisch, denn das teleologische Denken ist als ein Als-ob, in dem wir auf uns selbst bezogen bleiben, anzusehen. »Der Anthropozentrismus ist gerade durch reflektiertes teleologisches Denken nicht zu überwinden, sondern wird – als Bedingung seiner Möglichkeit und seines Sinns – geradezu bekräftigt. Wir werden somit durch den teleologischen Gedanken – und auch durch seine normative Wendung – den Anthropozentrismus nicht los.«424 Ein funktionalistischer Umgang mit der Natur ist demnach nicht im Sinne Kants. Bei Höffe heißt es dazu: »Die Naturbeherrschung spielt bei Kant sogar überhaupt keine Rolle«.425 Und weiter: »Indem die Kritik nur die Wissenschaftlichkeit des Wissens thematisiert, stellt sie die Indienstnahme als epistemisch bedeutungslos hin und rehabilitiert auf diese indirekte Weise Aristoteles’ Ideal, die Theorie um ihrer selbst willen gesuchte Wissenschaft.«426 Naturphilosophische Überlegungen sind bei Kant von herausragender Bedeutung und auch naturethische Konsequenzen sind in Kants Philosophie im420 Vgl. Recki, Birgit: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Paderborn (Mentis), 2005, S. 60. 421 Recki 2005: 61. 422 Ibd. 423 Ibd. 424 Recki 2005: 62. 425 Höffe 2011: 57. 426 Ibd.

2. Rethinking Kant. Zeitgenössische afrikanische Philosophie und Kant

plizit angelegt. Sowohl Kant als auch Odera Oruka legen einen umfassenden und sinnbezogenen Naturbegriff zugrunde, wenn auch mit unterschiedlicher Ausrichtung, Kant in teleologischer und Odera Oruka in metaphysischer Hinsicht. Beide betrachten die Natur nicht in instrumentalisierender Weise. Für beide Philosophen bildet die Natur letztlich den umfassenden Rahmen für das Selbstverständnis des Menschen. Bei Kant ist sie darüber hinaus Garant für die Vervollkommnung des Menschen in moralischer und politischer Hinsicht. Odera Orukas Philosophie stellt einen Dialog zwischen afrikanischen Theorieelementen und Theoremen westlicher Philosophie her, mit der Zielvorstellung einen Beitrag zur Lösung der sozialen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Probleme Afrikas im Weltzusammenhang zu leisten. Dabei geht es ihm besonders um die Ermöglichung der Befähigung des Individuums zur Entwicklung seiner Moralität, staatsbürgerlichen Kompetenz und Kreativität durch die Schaffung einer gerechteren Welt. Die Schwäche der philosophischen Überlegungen von Odera Oruka ist die fehlende Ausarbeitung der mit seinen ausformulierten Zielen verbundenen Umsetzungsprobleme. Die mit seinen Vorschlägen zusammenhängenden ökonomischen und politischen Aspekte und Grundkategorien werden nicht oder nicht differenziert genug dargelegt.427 »Insofern bleibt seine Theorie weitgehend ein Appell an die moralische Verantwortung der ganzen Menschheit.«428 Graneß konstatiert: »Das Problem der Verantwortung nicht weiter ausdefiniert zu haben, ist sicher eine der größten Schwächen in Odera Orukas Konzept.«429 Des Weiteren ist das Modell einer flexiblen Ordnung von Freiheiten entsprechend bestehender oder sich verändernder sozialer und historischer Bedingungen gegenüber der von Odera Oruka konstatierten und geforderten fixen Ordnung von Freiheitsdimensionen vorzuziehen.430 Gerade im Hinblick auf die Frage der Implementierung seiner Forderungen durch Institutionen, Gesetzgebung und Verträge in nationalen, internationalen und transnationalen Zusammenhängen bleibt bei Odera Oruka eine Antwort aus. In seiner Leitvorstellung von einem autonomen und freien Individuum

427 428 429 430

Vgl. Graneß 2011: 166f. Graneß 2011: 167. Graneß 2011: 212. Vgl. Graneß 2011: 198. Ein solches Modell findet sich bei Amartya Sen. Siehe dazu Sen, Amartya: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München (DTV Verlag), 2002.

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und seiner Betonung der Moralität und der Möglichkeit zur politischen Partizipation des Einzelnen basiert Odera Oruka auf Kants Personenbegriff im Rahmen einer moralischen und gesellschaftspolitischen Verantwortlichkeit. Die mit dem Konzept der Verteilungsgerechtigkeit verbundenen Probleme werden bei Odera Oruka nicht tiefgehend genug untersucht, wobei sein Ziel der Verringerung und weitestgehenden Abschaffung von menschlicher Not in den armen Ländern dieser Welt und eine naturethische Ausrichtung im Handeln selbstverständlich oberste Priorität behalten muss. In seinem Bezug auf Kant dominiert der kritisch-negative Aspekt hinsichtlich der vermeintlichen Abstraktheit und Kontextunabhängigkeit der Kantischen Theoreme wie z.B. des kategorischen Imperativs. Eine größere konstruktiv–kritische Bezugnahme auf Kant hätte Odera Oruka Anregungen zur Füllung theoretischer Leerstellen insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit einer politischrechtlichen Verfasstheit und der Institutionalisierung in einer kosmopolitisch ausgerichteten Gesamtstruktur zur praktischen Implementierung seiner Forderungen bieten können.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

3.1

Foucault und der (Post-)Kolonialismus

Zwischen der zeitgenössischen afrikanischen Philosophie und der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts lässt sich ein intensiver Dialog beobachten. Michel Foucault ist dabei von herausragender Bedeutung. Foucaults archäologische Analyse der Strukturierung von abendländischem Wissen, seine Genealogie der Macht und die Untersuchung des WissenMacht-Nexus stehen dabei sowohl in inhaltlicher wie auch in methodischer Hinsicht im Fokus des Interesses der afrikanischen Philosophen. Nach Foucault ist die ›kolonisatorische Vernunft‹ in Abgrenzung gegenüber dem Orient entstanden. Die These Foucaults über die Teilung der ratio liegt den Ausführungen der afrikanischen Philosophen Valentin Yves Mudimbe und Achille Mbembe zugrunde, wenn sie zum einen die westlichen Diskurse in Ethnologie, Anthropologie, Kunst etc. über Afrika in präkolonialen, kolonialen und postkolonialen Zusammenhängen wie auch den afro- und afrodiasporischen Dialog selbst z.B. der Négritude-Bewegung und des Panafrikanismus untersuchen. Dabei rücken auch machttheoretische Fragestellungen Foucaults ins Blickfeld der afrikanischen Denker. In welcher Weise rekurrieren Mudimbe und Mbembe auf Foucault, welche Aspekte greifen sie auf und an welcher Stelle kritisieren sie Foucaults Ausführungen? Welche Funktion hat ihr Rückgriff auf Foucaults Theorie im Rahmen ihrer Philosophien? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Die Analyse der Vernunftkonzeption des Abendlandes ist eines der zentralen Themen Foucaults. »In der Universalität der europäischen ratio gibt es die Teilung, welche der Orient darstellt, gedacht als der Ursprung, geträumt als der schwindeln ma-

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chende Punkt, aus dem die Sehnsüchte und Verheißungen einer Rückkehr geboren werden, der Orient, dargeboten der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes, aber unendlich unzugänglich, denn er bleibt stets die Grenze: als Nacht des Beginns, in der das Abendland sich gebildet, in die es jedoch eine Teilungslinie eingezogen hat, ist der Orient für das Abendland alles das, was es nicht ist, obgleich es gerade in ihm auf die Suche gehen muss nach dem, was seine ursprüngliche Wahrheit ist. Man wird eine Geschichte dieser großen, über den gesamten Werdegang des Abendlandes hinweg reichenden Teilung erschaffen müssen, man wird sie in ihrer Kontinuität und in ihren Wechseln verfolgen, man wird sie aber auch in ihrem tragischen hieratischen Charakter erscheinen lassen. (WG 10 […], frz. 1. Aufl., IV)«.1 Die Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus bzw. Postkolonialismus steht zwar nicht im Zentrum der Philosophie Foucaults, schwingt aber stets mit, insofern als sich die abendländische Vernunft nach ihm im Gegensatz zum Orient aus einer Trennung heraus bestimmt. Foucault ruft auf, eine Geschichte dieser Teilung zu verfassen und damit gleichzeitig die Universalität der europäischen Vernunft kritisch zu hinterfragen. Die Kritik der kolonialen Gewaltanwendung des Westens wird in folgendem Zitat Foucaults deutlich: »Maybe could we always say that in order to know other cultures – nonWestern cultures, so-called primitive cultures, or American, African, and Chinese cultures etc., – in order to know these cultures, we had not only to marginalize them, not only to look down upon them, but also to exploit them, to conquer them, and in some ways through violence to keep them silent?«2 Foucault betont hier die sich im Wissensprozess und im Erwerb von Wissen manifestierende Gewalt, die die Beherrschung und hierarchisierende Wer-

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Jambet, Christian: »Konstitution des Subjekts und spirituelle Praxis«. In: Ewald, François; Waldenfels, Bernhard (Hg.): Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. Frankfurt (Suhrkamp), 1991, S. 229. Jambet zitiert aus Foucaults Vorwort aus der ersten Ausgabe von Wahnsinn und Gesellschaft. Die Erfahrung des Orients gleicht nach Jambet der der Unvernunft. Dieser Grundgedanke wird von Edward W. Said in seinem Werk Orientalismus aufgegriffen. Siehe Said, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt a.M. (Fischer), 2 2010 [1978]. Foucault, Michel: Lost interview. Niederlande 1971; online: https://www.youtube.com/w atch?v=qzoOhhh4aJg; letzter Zugriff am 02.07.2021.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

tung des Wissensobjekts inkludiert. Gleichzeitig ist die sich zeigende Gewalt aber auch Ausdruck des Machtwillens, der durch Wissen gestärkt wird. Dem hier deutlich werdenden Nexus von Wissen und Macht ist Afrika im kolonialen Projekt des Westens unterworfen. Gleichzeitig sind Kolonien nach Foucault für die westlichen Mächte auch heterotope Orte des Experimentierens, die zum Teil einen quasi utopischen Charakter der möglichen Erfüllung zugesprochen bekommen,3 aber andererseits auch Orte des Grauens, der Angst und des stets drohenden Kontrollverlustes darstellen. Foucaults Philosophie widmet sich primär der Untersuchung der Theoreme Wissen, Macht und Subjekt und des Zusammenhangs zwischen ihnen, die gleichermaßen für eine Analyse der auf Afrika bezogenen Fragestellungen bedeutsam sein können. Foucault geht von der Strukturierung von Wissen durch Epochen markierende Episteme aus, die er als historisches Apriori bezeichnet. Sie sind nicht als überzeitliche Formen, Kategorien oder Ideen zu verstehen, sondern verändern sich im historischen Prozess. Dennoch formen sie das Wissen einer Zeit in der Weise, dass es als natürlich und notwendig erscheint. Diskursformationen sind Bereiche des Wissens, die spezifischen Regeln unterworfen sind und bestimmte Subjektpositionen offerieren, so sind auch die historisch situierten Diskurse über Afrika wie auch die Diskurse der Afrikaner über ihr Selbstbild und ihre Identität in besonderer Weise strukturiert. Das diskursanalytische Instrumentarium wird von Foucault selbst zwar nicht in diesem Bereich angewandt, es lässt sich als Methode der archäologischen Analyse aber durchaus auf andere Wissensbereiche übertragen. Mit Hilfe der Methode der Genealogie untersucht Foucault das Gewordensein von Formen, Funktionsweisen und Strategien der Macht im Makro- wie Mikrobereich. Sein Machtbegriff ist relational, produktiv und offen und kann als Spiel der Kräfteverhältnisse bzw. Form des Kampfes betrachtet werden. In den historischen Epochen lösen sich verschiedene Machtformen ab und tauchen in späteren Zeiten zumeist in veränderter Form, in anderen Bereichen und in neuen Kombinationen wieder auf. Die Strukturierung von Wissen und Macht ist auch für die Subjektbildung entscheidend. Indem Machtstrategien sich auf das Subjekt beziehen und für das Subjekt in den Diskursen des Wissens bestimmte Leerstellen vorgesehen sind, die es einnehmen kann bzw. soll, wird

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Vgl. Foucault, Michel: Die Heterotopien: Les hétérotopes: Der utopische Körper: Le corps utopique: Zwei Radiovorträge. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005b, S. 20f.

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es in spezieller Weise geformt. Das Subjekt büßt allerdings nicht seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zum möglichen Widerstand gegenüber den heteronomen Kräften im Spiel der Kräfteverhältnisse von Macht und Wissen ein. Es verliert bei Foucault nicht seine Autonomie. In seiner Ethik bzw. Ästhetik des Selbst zeigt Foucault die Möglichkeiten zur Gestaltung des Selbst durch sogenannte Techniken des Selbst auf, mit deren Hilfe das Subjekt sich nach dem Vorbild der Kunst selber formen kann. Dieses Potential des Subjekts ist Grundlage seiner Fähigkeiten zur Kritik und zur Veränderung des Bestehenden. Auch im postkolonialen Kontext sieht Foucault die Notwendigkeit zur Arbeit des Subjekts an sich selbst, um die erlangte formale Unabhängigkeit in eine gelebte zu verwandeln. Foucault unterscheidet diesbezüglich zwischen Praktiken der Befreiung und Praktiken der Freiheit, letztere gilt es zu entwickeln und zu pflegen: »[W]hen the colonized people attempt to liberate itself from its colonizers, this is indeed a practice of liberation in the strict sense. But we know very well that this practice of liberation is not in itself sufficient to define the practices of freedom that will still be needed if this people, this society, and these individuals are to be able to define admissible and acceptable forms of existence or political society. This is why I emphasize practices of freedom over processes of liberation; again the latter indeed have their place, but they do not seem to me to be capable by themselves of defining all the practical forms of freedom.«4 Die Praktiken der Freiheit erfordern eine Arbeit an sich selbst. Im afrikanischen Kontext bedeutet dies auch einen befreienden Umgang im Hinblick auf den Aspekt ›Rasse‹, worauf Foucault allerdings nicht konkret Bezug nimmt. Er untersucht die Thematik ›Rasse‹ insbesondere im Hinblick auf den Staatsrassismus unter Einbeziehung der biopolitischen Machtform. In den folgenden Abschnitten werden Foucaults Kantrezeption, die Aspekte Sprache, Literatur und Kunst und Geschichte, Fortschritt und Macht im Rahmen seines philosophischen Gesamtkonzepts untersucht, bevor der interkulturelle Dialog der afrikanischen Gegenwartsphilosophie mit Foucault am Beispiel der Theorien von Valentin-Yves Mudimbe und Achille Mbembe analysiert werden soll. 4

Foucault, Michel: »The Ethics of the Concern for Self as a Practice of Freedom.« In: Rabinow, Paul (Hg.): Ethics: Essential Works of Foucault 1954-1984. London (Penguin Books), 2000, S. 282f.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

3.2 3.2.1

Kritik, Parrhesia und Philosophie bei Foucault Parrhesia und Kritik im Kontext von Politik und Philosophie bei Foucault

Foucault entwickelt eine ›experimentelle‹ Philosophie und das Konzept von Philosophie als Parrhesia. Im Unterschied zur Archäologie, die dem Auffinden der Wissen formierenden Episteme und Diskursregeln dient, untersucht die Genealogie das Geworden-Sein von Prinzipien des Denkens, Machtformen, Subjektivierungsweisen und deren Zusammenwirken, um im Rahmen einer Analyse der aktuellen Gesellschaft Kritik üben zu können. Foucault fordert eine Haltung der Kritik, die ›Kunst der freiwilligen Unknechtschaft‹ und der ›reflektierten Unfügsamkeit‹. Im Spiel der ›Politik der Wahrheit‹ hätte die Kritik die ›Funktion der Entunterwerfung‹.5 Die Vernachlässigung des Kantischen Aufklärungsappells konstatierend formuliert Foucault sein Programm der Untersuchung von Macht und des ›Nexus von Macht-Wissen‹.6 Dabei sieht er sich anders als Sartre in der Rolle des ›spezifischen Intellektuellen‹, der im Unterschied zum ›universellen Intellektuellen‹ keine bestimmte, universal gültige Geschichtskonzeption vorlegt und nicht im Besitz einer universellen Wahrheit ist. Geschichte wird bei Foucault als ein Archiv aus Monumenten und Ereignissen betrachtet. Eine vorgegebene Entwicklungsrichtung im Sinne eines Fortschritts wie z.B. bei Kant ist in Foucaults Philosophie zwar nicht vorgesehen, aber dennoch ist die Gestaltung des menschlichen Lebens in den verschiedenen Kontexten sowohl als Individuum und als auch im Zusammenleben mit Anderen der menschlichen Verantwortung unterstellt und somit Projekt menschlicher Gestaltung und Emanzipation. Seine Ethik bzw. Ästhetik des Selbst orientiert sich am Beispiel der Kunst. Geschichte stellt bei Foucault eine menschliche Aufgabe dar, in der es um die Gestaltung von Welt, sozialer Gemeinschaft und Selbst geht, die menschliche Freiheit voraussetzt. Mit diesem Prozess verbindet Foucault die Hoffnung auf eine freiheitlichere Gesellschaft, die dem Individuum Entfaltungsmöglichkeiten bietet, einen Lebensstil zu entwickeln, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen. Ausgehend von seinem Theorem der Heterotopie lässt sich Foucaults Zukunftsvision als Heterotopie im geschichtlichen Werden bezeichnen. 5 6

Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin (Merve), 1992, S. 15. Foucault 1992: 33.

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Parrhesia – das Wahrsprechen – verknüpft nach Foucault die drei Bereiche seiner Philosophie Wissen, Macht und Ethik bzw. Ästhetik des Selbst miteinander. Foucaults rethinking, Bündelung und Verschiebung seiner philosophischen Überlegungen – ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Parrhesia – ist gleichzeitig mit der Bestimmung der Philosophie selbst verbunden u.a. indem das Wahrsprechen als zunächst politisches Verfahren seine Heimat im Philosophischen findet und dort in unterschiedlichen Formen als Kritik auftritt. Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen Kritik, Parrhesia und Philosophie? Welche Funktion hat der Begriff der Parrhesia bei Foucault im Einzelnen und im Rahmen seiner Philosophie als Ganzem? Warum braucht Foucault einen neuen Schlüsselbegriff? Parrhesia als Alles-Sagen verbunden mit der Freiheit der Rede, mit Offenheit und Freimut verfügt über einen Sachbezug, in dem der Sprecher seine Gedanken und Gefühle ehrlich und unverstellt zum Ausdruck bringt, eine anders gewendete korrespondenztheoretische Konzeption von Wahrheit, die in der geforderten Übereinstimmung von Aussage und Gegenstand nicht allein den Gegenstand als Ausgangspunkt nimmt, sondern primär das sprechende Subjekt in seiner Haltung. Voraussetzung beim Wahrsprechen ist, dass die Wahrheit gesagt wird: »Aber sagt der parrhesiastes, was er für wahr hält oder sagt er, was wirklich wahr ist? Meiner Meinung nach sagt der parrhesiastes, was wahr ist, weil er weiß, daß es wahr ist, und er weiß, daß es wahr ist, weil es wirklich wahr ist. Der parrhesiastes ist nicht nur aufrichtig und sagt, was seine Meinung ist, sondern seine Meinung ist auch die Wahrheit. Er sagt, was er als wahr weiß. Die zweite Charakteristik ist also, daß es immer eine genaue Übereinstimmung zwischen Glauben und Wahrheit gibt.«7 Das Wahrsprechen8 ist demnach mehr als ein Aussprechen dessen, was der Fall ist, es bindet darüber hinaus den Sprechenden an die Aussage. »Das Wort 7

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Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit. Berkeley Vorlesungen 1983. Berlin (Merve), 1996, S. 12. Diese Übereinstimmung sei eine verbale Tätigkeit und nicht wie bei Descartes ein Evidenzerlebnis. Der parrhesiastes der antiken Philosophie kennt im Unterschied zur neuzeitlichen Philosophie keinen Zweifel darüber, ob und dass er im Besitz der Wahrheit ist. Der Besitz der Wahrheit sei durch die Moralität des Sprechers gegeben. (Vgl. Foucault 1996: 13) Foucault unterscheidet das philosophische Wahrsprechen vom Wahrsprechen des Propheten, des Weisen und des Fachmanns bzw. Dozenten. Bei diesen Formen des Wahrsprechens geht der Sprecher mit seiner Aussage kein Risiko ein. Vgl. Foucault, Michel:

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

parrhesia bezieht sich also auf einen Typ von Beziehung zwischen dem Sprecher und dem, was er sagt. Denn bei parrhesia macht der Sprecher offenkundig klar und deutlich, daß das, was er sagt, seine eigene Meinung ist.«9 Parrhesia ist mit einer moralischen Qualität des Sprechenden verbunden, der für das Gesagte Verantwortung übernimmt und die mit der Kritik verbundenen persönlichen Risiken auf sich nimmt. Somit ist sie durch eine Haltung des Muts charakterisiert, weshalb Judith Butler diesbezüglich – wie Foucault selbst – von einer Tugend spricht.10 Schon an dieser Stelle wird die Verbindung zur Konzeption von Kritik als Ethos deutlich. Das Wahrsprechen wird als Pflicht empfunden.11 »Bei parrhesia gebraucht der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit anstelle von Überredung, die Wahrheit anstelle von Falschheit oder Schweigen, das Risiko des Todes anstelle von Leben und Sicherheit, die Kritik anstelle von Schmeichelei, und die moralische Pflicht anstelle von Eigennutz und moralischer Gleichgültigkeit.«12 Damit ist auch eine bestimmte Bezie-

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Der Mut zur Wahrheit. Vorlesung am College de France 1983/84. Berlin (Suhrkamp), 2010b, S. 31-37 und 42-45. Foucault 1996: 10. Parrhesia in der politischen Form sei an eine bestimmte soziale Situation und an einen Statusunterscheid zwischen dem Sprecher und seinen Zuhörern gebunden und damit für den Sprechenden gefährlich. (Vgl. Foucault 1996: 11) Foucault spricht lieber von ›Sprechtätigkeit‹ als vom Sprechakt im Sinne Searles oder Austins. (Vgl. ibd.) Waldenfels kritisiert Foucaults Auffassung der Sprechakttheorie entschieden: »Foucault unterwirft die Sprechakttheorie einer Übernormalisierung und Überregulierung, die eine mechanisierende Wirkung ausübt. Umgekehrt übersieht er den Kernmangel der Sprechakttheorie, der darin besteht, dass sie als reine Sprechertheorie auftritt.« In: Waldenfels, Bernhard: »Wahrsprechen und Antworten«. In: Gehring, Petra; Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich (Diaphanes), 2012, S. 68. Weiter heißt es bei ihm: »Mit dieser schroffen Entgegensetzung verbaut er sich die Möglichkeit, dass der Freimut als Überschuss an Andersheit innerhalb konventioneller Sprechakte und rhetorischer Techniken seine Wirkung entfaltet und diese über sich selber hinaushebt, ähnlich wie die Gabe als anökonomisches Mehr die Ökonomie des Tausches übersteigt.« (Waldenfels 2012: 68) Waldenfels Kritik ist zuzustimmen. Vgl. Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 50, 2002, S. 249-265. Bei Foucault heißt es dazu: »Es gibt etwas in der Kritik, das sich mit der Tugend verschwägert. Ich möchte Ihnen gewissermaßen von der kritischen Haltung als Tugend im allgemeinen sprechen.« (Foucault 1992: 9) Foucault möchte eine Geschichte dieser kritischen Haltung schreiben. (Vgl. ibd.) »Somit ist parrhesia mit Freiheit und Pflicht verbunden«, heißt es bei Foucault. (Foucault 1996: 18) Foucault 1996: 19.

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hung zu sich selbst und zu den Mitmenschen involviert. Die Auffassung von Parrhesia ist im Rahmen der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst zu verorten und mit Foucaults Interesse an der Ausbildung eines individuellen Lebensstils entsprechend seines Theorems vom Leben als Kunstwerk, dem gleichermaßen ein ethisches Verständnis zu Grunde liegt, zu verstehen.13 Sowohl Parrhesia als auch Kritik stellen dabei soziale Praktiken dar und müssen im Hinblick auf soziale Handlungen in ihrem performativen Charakter im gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachtet werden. Im Unterschied zu performativen Sprechakten, die von bestimmten Normen und Regeln der Sprechsituation bestimmt und an die Rolle des Sprechers im Sprechakt gebunden sind, verfügt das Wahrsprechen über eine unbekannte Wirkung und ist risikoreich.14 Dieser Typus des Wahrsprechens ist nicht an einen institutionellen Status des Sprechers gebunden und löst damit die philosophische Praxis aus der akademischen Umklammerung. Der Fokus liegt hier auf handlungstheoretischen und sprachphilosophischen Momenten des Wahrsprechens, womit der Akt der Parrhesia auf Grund seines ggf. politischen Gestaltungsanspruchs gleichzeitig in seiner politischen Dimension betrachtet werden muss. Die Untersuchung der Parrhesia stellt nach Foucault gleichzeitig »eine Genealogie der kritischen Haltung in der westlichen Philosophie«15 dar. Ausgehend von einer politischen Bedeutung auch im institutionellen Sinne erscheint die Parrhesia – historisch betrachtet – zunächst als freie Rede in

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»Diese Übung ist Teil dessen, was wir ›Ästhetik seiner selber‹ nennen könnten. Denn man nimmt sich selber gegenüber nicht die Position oder die Rolle eines Richters ein, der ein Urteil sprechen muß. Man kann sich sich selber gegenüber in der Rolle eines Technikers, eines Handwerkers, eines Künstlers verhalten, der – von Zeit zu Zeit – in seiner Arbeit innehält, prüft, was er tut, sich selbst an die Regeln seiner Kunst erinnert, und diese Regeln mit dem vergleicht, was er bisher zustande gebracht hat. Diese Metapher des Künstlers, der in der Arbeit innehält« ist für Foucaults Ethik bzw. Ästhetik des Selbst maßgeblich. (Foucault 1996: 175) Vgl. Vogelmann, Frieder: »Foucaults parrhesia – Philosophie als Politik der Wahrheit.« In: Gehring, Petra; Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich (Diaphanes), 2012, S. 205. Foucault 1996: 176.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

der attischen Demokratie,16 wo sie zunehmend zum Geschwätz17 verkommt, und sich im Weiteren im Kontext der Philosophie mit der Sorge um sich selbst verbindet. Damit rückt der Aspekt des Wahrsprechens sich selbst gegenüber in einer selbstbezüglichen Bewegung in den Vordergrund, das zu einer Praxis der Selbstformung wird. »Das Ziel des Wahrsprechens ist also weniger das Heil des Staats als vielmehr das ethos des Individuums.«18 Damit avanciert das Wahrsprechen als »beständige Funktion während der ganzen Rede«19 zu einer transformativen Selbstpraxis, die in der ›Ästhetik seiner selber‹20 mündet. Der Anspruch der politischen Parrhesia, direkten Einfluss auf den Herrscher und andere politische Institutionen ausüben zu wollen, wird aufgegeben, die philosophische Parrhesia wirkt nunmehr eher auf indirekte Weise politisch. In der Foucault’schen Wendung ist das Wahrsprechen als Technik des Selbst zu verstehen, wobei die Selbstformung im Weiteren auch politische Implikationen zugewiesen bekommt, indem die Veränderung des Selbst immer im Kontext der Veränderung von Gesellschaft auch im Politischen lokalisiert ist.21 Wahrsprechen ist dabei immer auch geschichtlich verortet und im Rahmen des Zusammenhangs von Wahrheit und geschichtlicher Ereignishaftigkeit angesiedelt, womit in der Untersuchung der Parrhesia bei Foucault eine genealogische Ausrichtung impliziert ist.

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»Demokratie ist auf eine politeia gegründet, eine Verfassung, in der der demos, das Volk, Macht ausübt und jeder vor dem Gesetz gleich ist. Solch eine Verfassung ist jedoch dazu verdammt, allen Formen von parrhesia, selbst den schlimmsten, gleichen Raum zu geben. Weil parrhesia selbst den schlechtesten Bürgern gegeben ist, könnte der über-wältigende Einfluß schlechter, unmoralischer oder ignoranter Sprecher die Bürgerschaft in Tyrannei führen oder die Stadt sonstwie gefährden.« (Foucault 1996: 79) In dieser Situation setzt eine Problematisierung der Parrhesia ein. (Vgl. Foucault 1996: 87) Waldenfels kritisiert dieses scharfe Entgegensetzen von Geschwätz und Parrhesia. (Vgl. Waldenfels 2012: 70) Foucault spricht auch von »negativer parrhesia, törichtem Freimut« und echter Parrhesia als kritische Parrhesia. (Vgl. Foucault 1996: 77, 85) Foucault 2010: 94. Foucault 2005: 419. Foucault 1996: 175. Vgl. dazu: »Seine letzten Untersuchungen verdeutlichen nochmals, dass für Foucault die Untersuchung der persönlichen Existenz und ihres Selbstverständnisses unlöslich mit dem Politischen und mehr grundlegend noch mit der Möglichkeit einer Rekonstitution des politischen Zusammenhangs überhaupt verknüpft ist.« In: Raffnsøe, Sverre; Gudmand-Høyer, Marius; Thaning, Morten S.: Foucault: Studienhandbuch. Tübingen, Basel (Fink, UTB), 2011, S. 344.

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Foucault betont den Zusammenhang von Parrhesia und Kritik und spricht von »positiver oder kritischer parrhesia«22 und den Zusammenhang von bios und logos in der Wahl einer Lebensweise im philosophischen Sinne.23 Für Foucault wird damit ein neuer philosophischer Zugang zur Wahrheit eröffnet, der den Weg der neuzeitlichen Philosophie charakterisiert: »Denn diese Praktiken sollen nicht nur das Individuum mit Selbsterkenntnis ausstatten, sondern diese Selbsterkenntnis soll ihrerseits den Zugang zur Wahrheit und weiteren Erkenntnis gewährleisten. Der Zirkel, der darin enthalten ist, daß man die Wahrheit über sich selbst erkennen muß, will man die Wahrheit kennen, ist seit dem 4. Jahrhundert charakteristisch für die parrhesiastische Praktik und war eins der problematischen Rätsel des westlichen Denkens – wie zum Beispiel bei Descartes oder Kant.«24 Diesen erkenntnistheoretischen Weg der Untersuchung der Erkenntniskräfte des Subjekts in der subjekttheoretischen Ausrichtung geht Foucault nicht mit, er sucht im Unterschied zu Kant mit dem Verfahren der Archäologie nach Epistemen, Diskursregeln und Diskurspositionen und stellt unter Rekurs auf die Genealogie eine Verbindung zwischen Wissen und Macht her. Kants Apriori wird bei Foucault zum historischen Apriori. Foucault unterscheidet zwei Linien in der Beschäftigung mit der Wahrheitsfrage in der Philosophie, zum einen die ›Analyse der Wahrheit‹, die Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens, der Argumentationsverfahren und der Kriterien für wahre Aussagen und gültige Urteile, und zum anderen die philosophische Betrachtung des Wahrsprechens, bei der

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Foucault 1996: 88. Andere Formen der Parrhesia beziehen sich auf Abstammung (genos) oder Gesetz (nomos). Der Bezug auf das Leben ist prototypisch bei Sokrates zu beobachten. (Vgl. Foucault 1996: 103f.) Platon stellt sich dem Problem der Verbindung von politischer Parrhesia und ethischer Parrhesia. (Vgl. Foucault 1996: 105f.) In der kynischen Auffassung nimmt das Wahrsprechen dann eine negativ-kritische zumeist skandalöse Form – oft in einem provokativen Dialog – an, was Foucault am Beispiel von Diogenes aufzeigt. (Vgl. Foucault 1996: 105f.) Bei Epiktet liegt das Schwergewicht auf der Kunst des Philosophen mittels der parrhesiastischen Praktik als Seelenführer zu wirken. (Vgl. Foucault 1996: 116f.) Im Stoizismus bezieht sie sich insbesondere auf die Beziehung des Selbst zur Wahrheit ausgehend von der Technik der Askese, die die Möglichkeit zur Selbstkontrolle bereitstellt. (Vgl. Foucault 1996: 174) In seinen Berkeley-Vorlesungen skizziert Foucault diese Entwicklungen und Verschiebungen. Foucault 1996: 110.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: »[W]er ist in der Lage, die Wahrheit zu sprechen; worüber; mit welchen Folgen; und mit welcher Beziehung zur Macht«?25 Er führt weiter aus: »Welches sind die moralischen, die ethischen und seelischen Bedingungen, die jemanden berechtigen, sich selbst als Wahrsprecher zu präsentieren und als ein Wahrsprecher angesehen zu werden? Bezüglich welcher Themen ist das Wahrsprechen wichtig? (Bezüglich der Welt? Bezüglich der Natur? Bezüglich der Polis? Bezüglich des Verhaltens? Bezüglich des Menschen?) Was sind die Folgen dieses Wahrsprechens«26 Diese Frage stellt Foucault insbesondere auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion des Philosophierens, das zur Analyse des gesellschaftlichen Zustandes und zu dessen Gewordenheit beiträgt und deshalb auch machttechnische Fragen berührt. Für die öffentlich vorgetragenen Erkenntnisse übernimmt der Philosoph die persönliche Verantwortung und steht mit seiner Person für seine Äußerungen ein. Foucault nennt die Anwendung parrhesiastischer Techniken auch ›parrhesiatisches Spiel‹27 oder ›Wahrheitsspiel‹28 und weist damit auf seinen spielerischen bis kämpferischen Charakter hin. Parrhesia kann harmonisch, freundschaftlich verfahren, aber auch mit Aggressivität verbunden zum Krieg und Kampf und zur Schlacht – zum agonalen Spiel – werden.29 Dabei spricht Foucault von einer ›Macht der Wahrheit‹, die der politischen Macht entgegenwirken kann, in einem »parrhesiatischen Kampf[es] mit der Macht«. Dabei geht es darum, den Gesprächspartner »zu einer neuen Wahrheit oder

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Foucault 1996: 177. Weiter heißt es: »Und ich möchte sagen, daß die Problematisierung der Wahrheit, die sowohl das Ende der vorsokratischen Philosophie als auch den Anfang von Philosophie kennzeichnet, die heute auch noch die unsere ist, daß diese Problematisierung der Wahrheit also zwei Seiten, zwei Hauptaspekte hat. Eine Seite ist damit befasst sicherzustellen, daß das Argumentationsverfahren richtig ist, in dem man bestimmt, ob eine Aussage wahr ist (beziehungsweise sie ist mit unserer Fähigkeit befaßt, Zugang zur Wahrheit zu bekommen). Und die andere Seite beschäftigt sich mit der Frage: Worin besteht für das Individuum und die Gesellschaft die Bedeutung wahr zu sprechen, die Wahrheit zu wissen und Leute zu haben, die die Wahrheit sprechen, und ebenso zu wissen, wie man diese erkennt?« (Foucault 1996: 177f.) Foucault 1996: 176f. Vgl. Foucault 1996: 149, 150. Vgl. Foucault 1996: 95, 131, 149, 150. Vgl. Foucault 1996: 135.

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einer neuen Stufe des Selbstbewußtseins zu bringen«.30 Foucaults Interesse am Thema der Parrhesia ist geleitet von seiner Intention »eine Genealogie der kritischen Haltung in der westlichen Philosophie herauszuarbeiten.«31 Dabei geht es Foucault um die ›Beziehung von Wahrheit und Realität‹: »Es gibt eine Beziehung zwischen Denken und Realität im Prozeß der Problematisierung. Und aus diesem Grund denke ich, daß es möglich ist, eine Analyse einer spezifischen Problematisierung als die Geschichte einer Antwort vorzunehmen – der ursprünglichen, spezifischen und einzigartigen Antwort des Denkens auf eine bestimmte Situation. Und diese Art von spezifischer Wahrheit und Realität versuche ich in den verschiedenen Problematisierungen der parrhesia zu analysieren.«32 Waldenfels vermisst in Foucaults Überlegungen zur Parrhesia die Berücksichtigung der Responsivität des Anderen, die aus dem ›Wahrhören‹ entsteht und die Alterität des Anderen in den Blick nimmt, und das Eingehen auf die Dimension des ›Zwischen‹ im Dialog.33 Grundsätzlich berücksichtige Foucault zwar den Aspekt der Intersubjektivität,34 doch das Zwischen, das sich z.B. im Logos manifestiere, werde nicht als verbindendes Drittes gesehen und könne wie ›Spaltpilze‹ wirken.35 Dabei werde auch der sachliche Gehalt der freimütigen Rede nicht angemessen theoretisch gewürdigt. Diese Kritikpunkte zielen auf den Aspekt der Relativität des Gesagten, das nicht wie bei Kant an den richtigen Gebrauch der Erkenntniskräfte gebunden wird und durch das Apriori verbürgt ist. Es hat sich oben gezeigt, dass es Foucault hinsichtlich des Sach- oder Gegenstandsbezugs durchaus um ein wahrheitsgemäßes Erfassen der Wirklichkeit geht, das sich für ihn allerdings im freigelegten historischen Apriori im Hinblick auf Wissens- und Machtkontexte und Formen der

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Foucault 1996: 139. Foucault 1996: 178. Foucault 1996: 180f. An anderer Stelle heißt es bei Foucault: »Denn ich denke, dass es eine Beziehung zwischen der problematisierten Sache und dem Prozess der Problematisierung gibt. Die Problematisierung ist eine ›Antwort‹ auf eine konkrete Situation, die durchaus real ist.« (Foucault 1996, S. 179) Die hier angedachte Beziehung des Denkens zur Wirklichkeit wird von Foucault leider nicht weiter untersucht. »Es war nicht meine Absicht, mich mit dem Wahrheitsproblem zu beschäftigen, sondern mit dem Problem des Wahrsprechers oder des Wahrsprechens als Tätigkeit.« (Foucault 1996, S. 176) Vgl. Waldenfels 2012: 64f. Waldenfels verweist hier z.B. auf Foucault 2010b: 18. Waldenfels 2012: 66.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Subjektkonstituierung manifestiert. Die historisch-gesellschaftlichen Problematisierungen weisen auf die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit bezüglich der Welt in ihren unterschiedlichen Momenten hin. Wahrheit ist für Foucault deshalb historisch zu verstehen. Auch hinsichtlich der Verfahren der Aufdeckung von Wahrheit bietet Foucault Vorgehensweisen an, seine Archäologie und Genealogie. »›Da soll noch einer wissen, was wahr ist!‹ Das hieße für unseren Autor [gemeint ist Foucault] sich den Kopf vergeblich zu zerbrechen, denn die fragliche Sache bleibt gerade nicht dieselbe von einer Epoche zur anderen, die Wahrheit ist vollkommen erklärbar und hat nichts Schwammiges und Unbestimmtes.«36 Darin liegt für Foucault durchaus ein potentiell verbindendes Drittes. Die enge Verbindung zwischen Moralität und Wahrheit bei Foucault wirft allerdings durchaus Fragen auf, insofern als Foucault den anderen Pol der Wahrheitsfrage – die Frage nach den Kriterien der Wahrheit –, der z.B. bei Kant im Vordergrund steht, nicht genügend stark macht und darüber hinaus die Weise dieser Verbindung nicht weiter untersucht. Foucault betont nach Waldenfels die Sprecher- und Täterperspektive – ähnlich wie die Sprechakttheorie – und vernachlässigt die Seite des Zuhörers, und damit die Alterität des Anderen, der z.B. durch die wahren Worte verletzt werden könne. Die Beziehungsebene der Kommunikation werde von Foucault geringgeschätzt. Foucault konstatiere den möglichen zwischenmenschlichen Bruch, ohne kommunikationstheoretische Momente37 im Zusammenhang mit Fragen nach der Wahrheitsfindung zu berücksichtigen. Diese Überlegungen Waldenfels enthüllen eine strukturelle Grundannahme Foucaults, nach der die Beziehung zum Anderen als sekundärer Schritt interpretiert wird. Der andere bleibt merkwürdig abstrakt. In der philosophischen Auseinandersetzung tritt er erst nachträglich auf die Bühne. Ausgangspunkt von Foucaults Philosophie bleibt das denkende und handelnde Subjekt in seiner Individualität, das sich allerdings im mitmenschlichen Kontext verortet. Hinsichtlich der zwischenmenschlichen Kommunikation macht Foucault sein Theorem der Freundschaft stark, die ein Modell für das menschliche Miteinander sein soll. Foucaults Behauptung, in der neuzeitlichen Philosophie werde primär der Aspekt der Analytik der Wahrheit behandelt und die Philosophie als Wahrsprechen vernachlässigt, begründet Foucaults Programm der Geschichte der Philosophie als Parrhesia und sein Anliegen, dies zum zentralen Thema seines 36 37

Veyne, Paul: Die Revolutionierung der Geschichte. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 3 2015, S. 64. Hier rekurriert Waldenfels primär auf Paul Watzlawick.

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Interkulturelles Philosophieren

Philosophierens zu machen – als Gegenbewegung zur gängigen Philosophie und als Ausgleich für bisher Vernachlässigtes. Eine detaillierte Betrachtung des Zusammenhangs von Analytik der Wahrheit und Wahrsprechen bei Kant zeigt eine viel differenziertere Verästelung zwischen den getrennt gedachten Bereichen auf – ein Ineinandergreifen, dass die Foucault’sche Gegenüberstellung und die These der Vernachlässigung der Veridiktion in der neuzeitlichen Philosophie in Frage stellen kann. Foucaults Programm der Aufwertung der Praxis des Wahrsprechens erscheint vor diesem Hintergrund weniger dringlich. Kants Primat der praktischen Vernunft leistet eine Einbettung seiner Theorie der praktischen Haltung beim Gebrauch der Erkenntniskräfte, die die normative Grundlage des Erkennens, die Tugenden des Gebrauchs der Vernunft, die epistemische Verantwortung im Zusammenhang mit der Verwendung von Formen und Prinzipien des Denkens betrifft. Es geht also um mehr als um die Anwendung von Kategorien und Regeln, die Kant apriorisch konzipiert, es geht um einen Ethos des Erkennens. In diesem Zusammenhang spricht Kant von logischen Normen, die als prozedurale Kriterien der Anwendung verstanden werden müssen. Des Weiteren benennt er Regeln zur Vermeidung von Irrtümern: »Allgemeine Regeln und Bedingungen der Meidung des Irrtums überhaupt sind 1) selbst zu denken, 2) sich in der Stelle eines anderen zu denken, und 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.« (Log, AA 9: 57) Diese Maximen des Selbstdenkens, der erweiterten Denkungsart und des konsequenten und kohärenten Denkens sind mehr als die Anwendung formaler Regeln, sie setzten eine epistemische Haltung voraus. Das subjektive Fürwahrhalten bildet sich in Relation zu diesen Maximen in der Weise, dass das Subjekt von der Wahrheit seines Erkenntnisurteils überzeugt ist. Im Selbstdenken verbindet sich der Ethos der Erkenntnis mit der Aufgabe der Aufklärung, die den selbständigen Gebrauch der eigenen Vernunft beinhaltet. Die ethische Dimension des Fürwahrhaltens mündet bei Kant darüber hinaus in der Pflicht zur öffentlichen Darlegung des als wahr Erkannten. Es zeigt sich bei Kant also ein tiefgehendes Ineinandergreifen der Analytik der Wahrheit mit der Ethik der Veridiktion. Foucault legt in seiner Interpretation Kants den Schwerpunkt auf die Trennung dieser Momente und die Betonung der Kantischen Hinwendung zur Untersuchung der Vernunft in den drei Kritiken, in denen das Projekt der Aufklärung ausgehend von der Analyse der Erkenntnis in Angriff genommen wird – nach Foucault ein Irrweg, den er zu korrigieren beabsichtigt. Es zeigt sich, dass Foucaults Geringschätzung der Analytik der Wahrheit andere Leerstellen produziert. Das von Kant anvisierte relationale Verhältnis von Analytik und Veridiktion erweist sich als interes-

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

sante Anregung zum Weiterdenken Foucaults. Es macht Foucaults Untersuchung des Macht-Wissen-Nexus allerdings nicht überflüssig.

3.2.2

Zum Konzept der Philosophie bei Michel Foucault

Foucault versteht sich nicht als klassischer Philosoph38 und stellt manchmal ganz in Frage Philosoph zu sein; er erkennt der Philosophie eine besondere Aufgabe zu. Foucaults Auffassung von Philosophie als Diagnose und Analyse der Gegenwart entwickelt er ausgehend von Kants Konzept der Aufklärung als Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Dabei geht es auch darum »in der Gegenwart dem Augenblick ihres Aufbruchs vor[zu]greifen, dort, wo sie über sich selbst hinausweist und als eine vollendete Zukunft erscheint.«39 Bei Raffnsøe, Gudmand-Høyer, Thaning heißt es weiter: »Mit dem Ereignis der europäischen Aufklärung erhält die Geschichte womöglich erstmals den Charakter eines beständigen Aufbruchs vom Vergangenen. Für Foucault ist die Aufklärung von vitaler Bedeutung, da dieses singuläre Ereignis die Zeitlichkeit des Denkens und der Geschichte selbst auf eine geradezu paradigmatische Weise deutlich werden lässt.«40 So sieht Kant die Französische Revolution insbesondere als Zeichen für den Enthusiasmus der Menschen in Bezug auf einen möglichen Fortschritt der Geschichte. Für Foucault charakterisieren diese Überlegungen Kants die Virtualität41 von Geschichte. »Das Virtuelle ist also nicht angelegt auf eine Realisierung des Potentiellen, durch die dieses zum Aktuellen würde; vielmehr ist Virtualität zu verstehen als beständige Aktualisierung durch die das Virtuelle zwar niemals völlig im Aktu-

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»Ich bin deshalb auch kein Philosoph im klassischen Sinne – vielleicht bin ich überhaupt kein Philosoph, jedenfalls bin ich kein guter Philosoph –, weil ich mich nicht für das Ewige interessiere. Ich interessiere mich nicht für das Bewegungslose, für das, was durch das Schillern der Erscheinungen hindurch gleich bleibt, sondern für das Ereignis.« In: Foucault, Michel: »Die Bühne der Philosophie (Gepräch)«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. III. 1976-1979. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003, S. 721. Und weiter heißt es dort: »Mit anderen Worten, wir werden von Prozessen, Bewegungen, Kräften durchdrungen, diese Prozesse und Kräfte kennen wir nicht, und die Rolle des Philosophen besteht darin, diese Kräfte bzw. die Wirklichkeit zu diagnostizieren.« (Foucault 2003: 721f.) Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 356. Ibd. »Unter Virtualität ist die Wirklichkeit zu verstehen, die in den materiellen und aktuellen Ereignissen enthalten ist und sich durch diese zur Geltung bringt.« (Ibd.)

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Interkulturelles Philosophieren

ellen aufgehoben wird, dieses jedoch stets disponiert.«42 Philosophie wird in diesem Rahmen zur ›Politik der Wahrheit‹. Bei Foucault heißt es dazu: »Doch, alles in allem, das, was ich tue – ich sage nicht, dass ich dafür geschaffen bin, denn darüber weiß ich nichts –, doch was ich schließlich mache, das ist, alles in allem, weder Geschichte noch Soziologie noch Ökonomie. Aber es ist wohl etwas, das auf die eine oder andere Weise, und einfach aus faktischen Gründen, mit der Philosophie zu tun hat, das heißt mit der Politik der Wahrheit, denn ich sehe kaum eine andere Definition des Wortes ›Philosophie‹ als diese. Es handelt sich um die Politik der Wahrheit.«43 Die Politik der Wahrheit stellt eine Praktik der Wahrheit dar, wodurch Philosophie über das Theoretische hinausgehend eine praktische Dimension zugesprochen bekommt. Dabei kann Philosophie »als Problematisierung einer Aktualität und als Befragung dieser Aktualität« angesehen werden, deren Analyse sich »auf ein für seine eigene Aktualität bezeichnendes kulturelles Ganzes« bezieht.44 Wie Kant sieht Foucault das Wahrsprechen der Philosophie im Gegensatz zur Rhetorik, die beide als Kunst der Überredung begreifen.45 Bei Fou-

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Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 354. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977/78. Frankfurt/M (Suhrkamp), 2004, S. 15. Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. IV. 1980-1988. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005, S. 839. »Kants Text dient Foucault einer Zuspitzung seiner eignen historischen philosophischen Position verstanden als kritische Philosophie, die sich von einer Transzendentalphilosophie bzw. von einer Analytik der Wahrheit, wie Foucault es nennt, absetzt: ›Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Was ist dieses ›Jetzt‹, in dem wir uns befinden und das der Ort, der Punkt ist, von dem aus ich schreibe?‹« In: Stiegler, Bernd: »Unzeitgemäße Betrachtungen und philosophische Episkopie: Philosophie und Geschichte in Michel Foucaults parrhesiaVorlesungen«. In: Gehring, Petra; Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich (Diaphanes), 2012, S. 53. Stiegler zitiert hier Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen: Vorlesung am College de France 1982/83. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2012, S. 27. Foucault konstatiert den Versuch des Einverleibens der Parrhesia in die Rhetorik. »Parrhesia ist demnach eine Art ›Figur‹ unter rhetorischen Figuren, aber mit folgendem Merkmal. Sie ist gewissermaßen ohne jegliche Figur, ohne kunstgemäße Gestaltung, da sie völlig natürlich ist. Parrhesia ist der Nullpunkt jener rhetorischen Figuren, die die Emotionen der Zuhörer steigern.« (Foucault 1996: 21)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

cault heißt es: »Dort, wo die Philosophie ist, kann es keine Rhetorik geben.«46 Waldenfels kritisiert diese Auffassung von Rhetorik, die im aristotelischen Verständnis auch mit einem Ethos verbunden werde.47 Es zeigt sich, dass Foucault diesbezüglich auf die sophistische Konzeption der Rhetorik rekurriert, die schon Sokrates als Werkzeug der Manipulation von Zuhörern ansieht und von der er sich mit seinem Verfahren des Dialogs, der Ironie und der sogenannten ›Hebammenkunst‹ absetzt. Das Wahrsprechen hat wie bei Kant seinen Ort in der Öffentlichkeit,48 Kant spricht hier vom Gelehrten, der mit seinen Ausführungen die Öffentlichkeit sucht, und gleichzeitig geht es – entsprechend einer eher pädagogischen Konzeption – auch um einen verändernden Einfluss auf die Seele von Zuhörer und Sprecher. Damit ergibt sich nach Foucault – in Anlehnung an Kant – auch ein politisches Problem.49 Darüber hinaus untersucht Foucault am Beispiel der Kyniker die parrhesiastische Lebensform als kritische Haltung, wobei Foucault die Analyse der Macht- und Regierungsformen fokussiert, mit dem Ziel, »nicht dermaßen regiert zu werden«.50 Diese kritische Praxis nimmt nach Foucault im Laufe der Geschichte verschiedene Formen an, z.B. die christliche Askese, die revolutionäre Aktion51 und das künstlerische Schaffen. Dabei sei die »Idee einer 46 47 48

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Foucault 2009: 441. Waldenfels 2012: 68. Vgl. dazu Foucault 2005: 692. Hier heißt es u.a.: »Es gibt Aufklärung, sobald allgemeiner Gebrauch, freier Gebrauch und öffentlicher Gebrauch der Vernunft zur Deckung kommen.« In: Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. IV. 1980-1988. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005, S. 692. »Es stellt sich jedenfalls die Frage, wie der Gebrauch der Vernunft die öffentliche Form annehmen kann, die dafür notwendig ist, und wie der Mut zu wissen am helllichten Tag ausgeübt werden kann, wenn die Individuen gleichzeitig so exakt wie eben möglich Gehorsam leisten«. (Foucault 2005: 693) Kants Lösungsansatz ist nach Foucault eine Art Vertrag mit Friedrich II.: »Man könnte ihn den Vertrag des rationalen Despotismus mit der freien Vernunft nennen: Der öffentliche und freie Gebrauch der autonomen Vernunft wird die beste Gewährleistung des Gehorsams sein, unter der Bedingung jedoch, dass der politische Grundsatz, dem Gehorsam zu leisten ist, selbst der allgemeinen Vernunft konform ist.« (Ibd.) Foucault 1992: 12. In diesem Zusammenhang geht Foucault auch auf den Terrorismus ein. Danach »erscheint der Terrorismus als Lebenspraxis, die den Tod für die Wahrheit einschließt (die Bombe, die auch denjenigen tötet, der sie legt), als […] dramatische oder irrsinnige Grenzüberschreitung jenes Mutes zur Wahrheit, der von den Griechen und der griechischen Philosophie als eines der Grundprinzipien des wahren Lebens postuliert wurde.« (Foucault 2010b: 243) Bei Foucault heißt es in diesem Kontext weiter: »[D]ie

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Interkulturelles Philosophieren

Lebensform, die die plötzlich hervorbrechende, gewaltsame, skandalöse Manifestation der Wahrheit sein sollte«,52 entscheidend, die auch das Sein des Philosophen und dessen Verhältnis zu seinen Mitmenschen ausmacht und damit in besonderer Weise in das praktische Leben eingreift – nach Foucault eine Form der philosophischen Kritik, in deren Tradition er steht. Philosophie und Parrhesia sind so eng miteinander verbunden, dass verschiedene Formen der Parrhesia den Fortgang im philosophischen Denken markieren: »Ich glaube, daß man die Geschichte der Philosophie weder als Vergessen noch als Bewegung der Rationalität schreiben muß, sondern sie auch als Folge von Episoden und Formen – wiederkehrenden und sich wandelnden Formen – der Veridiktion auffassen kann. Die Geschichte der Philosophie also als Bewegung der parrhesia, als Neuverteilung der parrhesia, als verschiedenartiges Spiel des Wahrsprechens«.53 Damit lässt sich feststellen, dass bei Foucault eine enge Verbindung zwischen Philosophie, Parrhesia, Kritik und Aufklärung besteht. Philosophie und parrhesiatische Kritik müssen dabei immer auch einen experimentellen Charakter hinsichtlich ihrer aufklärerischen Mission aufweisen. In der philosophischen Parrhesia verbinden sich Foucaults Schlüsselfragen nach der Wahrheit, der Macht und der Subjektkonstitution. Es ergibt sich eine Zusammenschau54 der drei Ausrichtungen der philosophischen Arbeit

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Wahrheit aufsuchen, die Wahrheit offenbar machen, die Wahrheit explodieren lassen, daß man dabei sein Leben verliert oder das Blut der anderen vergießt, das ist etwas, dessen tiefreichende Wurzeln man in der Geschichte des europäischen Denkens findet.« (Foucault 2010b: 243f.) Diese Überlegungen Foucaults weiterführend entwickelt Achille Mbembe seine Theorie der Nekropolitik und Nekromacht als Erweiterung des Machtkonzepts Foucaults mit ihren Machtformen Souveränitätsmacht, pastorale Macht, Disziplinarmacht, Biomacht etc. Vgl. Mbembe, Achille: »Nekropolitik« In: Pieper, Marianne; Atzert, Thomas; Tsianos, Vassilis (Hg.): Biopolitik – in der Debatte. Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften), 2011, S. 63-96. Foucault 2010b: 241. Foucault 2012: 439. »Die parrhesia ist das Nadelöhr, durch das die Geschichte, jene der Philosophie und auch der eigenen Philosophie gehen müssen. Hier überkreuzen sich nun die Gestalten des Wissens, die Beziehungen der Macht und die Modi der Konstitution des Selbst, oder, in anderer Terminologie, die Veridiktionsmodi, die Techniken der Gouvernementalität und die Selbstpraktiken, oder, wiederum in anderen Termini und nun in den Begriffen von Die Regierung des Selbst und der anderen gesprochen, die Ontologie der Gegenwart und die Pragmatik des Selbst, die sich explizit von einer Analytik der Wahrheit

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Foucaults mit den Schwerpunkten Wissen, Macht und Subjekt in ihren Formen der Veridiktion, der Regierungstechniken und der Techniken der Subjektivierung. Der Begriff der Parrhesia, »der sich an der Kreuzung der Pflicht zum Wahrsprechen, der Verfahren und Techniken der Gouvernementalität und der Herstellung eines Selbstverhältnisses«55 befindet, erweist sich demnach als Schlüsselbegriff in Bezug auf die Problematisierungen, Verschiebungen und Neuverordnungen im Denken Foucaults, verbunden mit dem Herstellen neuer Verbindungslinien, Zusammenhänge und Gewichtungen zwischen/von Theoremen seiner Philosophie. Die Verbindungen, die Foucault zwischen Kritik, Aufklärung, Parrhesia und Philosophie herstellt, beleuchten und verdeutlichen die Ausrichtung seiner Philosophie und lassen eine Kohärenz stiftende Vernetzung der verschiedenen Bereiche seiner philosophischen Praxis sichtbar werden. Foucaults kritisches Unternehmen zielt primär auf die Veränderungen des Subjekts mittels Philosophie: »Es handelt sich alles in allem darum, sich auf die Suche nach einer anderen kritischen Philosophie zu machen, einer Philosophie, die nicht die Bedingungen und Grenzen des Wissens um ein Objekt bestimmt, sondern die Bedingungen und die zahllosen Möglichkeiten der Transformation des Subjekts.«56 Das Projekt der Transformation des Subjekts bedarf der Schließung der beobachteten Leerstelle Foucaults. Kants Ineinandergreifen von ›Analytik der Wahrheit‹ und Veridiktion weist dazu den Weg auf und zeigt das Programm einer künftigen Philosophie, die mit und über Foucault hinaus gehend weiterdenkt.

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absetzen. Die parrhesia erweist sich als eine Art Brennspiegel, der das Streulicht der eigenen philosophischen Interrogation bündelt oder zumindest bündeln soll.« (Stiegler 2012: 54) Foucault 2009: 68. Michel Foucault zitiert aus: Defert, Daniel: »Es gibt keine Geschichte des Wahnsinns oder der Sexualität, wie es eine Geschichte des Brotes gibt«. In: Honneth, Axel; Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption: Frankfurter FoucaultKonferenz 2001. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003, S. 362.

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Interkulturelles Philosophieren

3.3

Aufklärung und Kritik. Foucault und Kants Auffassung vom Menschen

Michel Foucault gilt als scharfer Kritiker der klassischen philosophischen Subjektauffassung und untersucht Subjektweisen mit ihren Formationsprozessen in Wissens- und Machtkontexten. Der Mensch als historisches Ereignis kann nach Foucault im Unterschied zu Kant nicht als Ausgangspunkt, Fundament und Garant des Denkens und der Moralität angesehen werden. Der Mensch wird bei Foucault als geschichtliches Ereignis, das wie ein ›Gesicht im Sand‹57 im Verschwinden begriffen ist, verstanden. Foucault formuliert mit seiner Kritik am Grundtheorem Mensch einen Generalangriff auf alle anthropologisch und/oder humanistisch fundierten Denkweisen und gleichzeitig auf die Auffassung vom autonomen Subjekt, wie sie insbesondere auch von Kant vertreten wird. Für Foucault ist der Mensch – sowohl als Subjekt als auch als Objekt – nicht Ausgangspunkt, zentrales Thema und Garant seiner philosophischen Theorie, sondern verkörpert die Episteme der Moderne, die das Denken und Wissen dieser Epoche insbesondere in den Humanwissenschaften im Unterschied zur Episteme Ähnlichkeit in der Renaissance und Repräsentation in der Klassik strukturiert und somit ein historisches Phänomen. Für Foucault vollzieht Kant im Philosophischen diese Wende zum Menschen, indem er in seinen Kritiken die Möglichkeitsbedingungen von Wissen ausgehend von den in den menschlichen Erkenntnisformen angelegten Anschauungsformen, Kategorien und regulativen Ideen untersucht. Auch in der Ethik fundiert bei Kant die Vernunft des Menschen mit dem kategorischen Imperativ die Moralität. »Die Umwälzung oder Transformation, die sich mit Kants Analyse der menschlichen Endlichkeit abzeichnet, bedeutet zum einen, dass der Mensch als endliches Wesen die Ordnung der modernen Welt zu garantieren hat. […] Zum anderen bedeutet die Kantsche Wende, dass der Mensch die von ihm geschaffene Ordnung nur durch die Untersuchung seiner selbst und seine Endlichkeit begründen kann. Die Grenzen der Erkenntnis begründen also positiv die Möglichkeit unseres Wissens.«58

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Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1994, S. 265. Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 185.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Diese Strukturierung von Wissen durch das Theorem Mensch ist nach Foucault schon in Auflösung begriffen. Bei ihm heißt es: »[D]as nämlich der Mensch, die Idee des Menschen im 19. Jahrhundert in ähnlicher Weise funktioniert hat wie die Gottesidee in früheren Jahrhunderten. Auch im letzten Jahrhundert glaubte man noch, der Gedanke, dass Gott nicht existiert, sei für den Menschen praktisch unerträglich. (›Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt‹, hieß es) Man war entsetzt von dem Gedanken, die Menschheit könne ohne Gott existieren; daher die Überzeugung, man müsse an der Gottesidee festhalten, wenn die Menschheit auch weiterhin funktionieren solle. Sie sagen mir jetzt: Vielleicht ist die Idee der Menschheit notwendig, auch wenn sie nur ein Mythos sein sollte, der das Funktionieren der Menschheit ermöglicht. Ich antworte Ihnen dazu: vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Nicht mehr und nicht weniger als die Gottesidee«.59 So zeigt der Strukturalismus nach Foucault mit seiner Betonung der Sprache bereits eine Umwälzung und damit das Ende der Episteme Mensch an, ohne dass deutlich wird, was an seine Stelle treten wird.60 Die Frage, was anstelle der Episteme Mensch eine Wissen strukturierende Funktion in der Nach-Moderne einnehmen könnte, bleibt bei Foucault offen. Nach Foucault gibt es kein festgelegtes Wesen des Menschen, dieses bildet sich jeweils im historischen Werden aus. Dabei nimmt das Subjekt zum einen Leerstellen in Diskursen ein und wird durch Machtpraktiken geformt, zum anderen verfügt es nach der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst auch über die

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Foucault, Michel: »Wer sind Sie, Professor Foucault?« In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. I. 1954-1969. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, S. 792f. Bei Foucault heißt es dazu z.B. in Les mots et les choses, dass »man künftig sich wird fragen müssen, was die Sprache sein muss, um das zu strukturieren, was doch nicht von sich aus Sprechen und Diskurs ist«. In: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1974, S. 457. Bei Raffnsøe, Gudmand-Høyer, Thaning heißt es dazu: »Statt des Menschen scheint nun die Sprache das positiv Gegebene zu sein, das man in allen Untersuchungsgegenständen wiederentdeckt.« (Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 175) Es lässt sich konstatieren, dass Sprache und Mensch im geschichtlichen Transformationsprozess in einer dynamischen Beziehung zueinander stehen. Deshalb kann nicht von einer endgültigen Überwindung der Episteme Mensch ausgegangen werden, sondern von deren Krise bzw. Transformation. Diese theoretische Leerstelle schließt Foucault im Weiteren nicht.

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Interkulturelles Philosophieren

Möglichkeit der Selbstgestaltung mittels der Praktiken des Selbst, was beim Subjekt Bewusstsein und Selbsterkenntnis voraussetzt. Das Individuum soll sein Leben nach dem Vorbild der Kunst gestalten. Es zeigt sich, dass Foucault in seiner Philosophie die Auffassung von einer Selbstgestaltung des Subjekts in ästhetischer, kritischer wie moralischer Hinsicht entwickelt, die den Menschen gleichzeitig als autonom agierend voraussetzt. Freiheit und Autonomie nehmen in der Subjektkonzeption zunehmend eine fundierende Rolle ein. So spricht Foucault zwar nicht von Mensch, Menschheit, Person und Persönlichkeit, sondern von einer Haltung, dem Ethos, der zwar nicht auf die ›Menschheit in uns‹ und die Perfektibilität des Menschen als Gattungswesen Bezug nimmt, aber auf individuelle Kritikfähigkeit, Moralität und Autonomie und ein Potential zur Transformation. Diese Veränderungen betreffen zum einen das Subjekt selbst und zum anderen eine angestrebte gesellschaftliche Situation, in der verhärtete Herrschaftsstrukturen aufgebrochen werden und die Frage nach der Kunst des Regierens gestellt werden kann. Foucault versteht Kritik als »die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.«61 Diese Frage des Regierens und/oder Regiertwerdens wird nach Foucault gleichermaßen in Kants Konzeption der Aufklärung aufgeworfen. Kant beklagt in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? (1784) den Zustand der Unmündigkeit der Menschheit, in dem sich der Mensch von anderen leiten lässt, ohne seinen eigenen Verstand zu benutzen.62 Unmündigkeit entsteht durch fehlenden Mut und einen Mangel an Entschlossenheit gegenüber einer Autorität.63 Diese Definition der Aufklärung bei Kant ist nach Foucault »beinahe eine Predigt« und als »Appell an den Mut« zu verstehen.64 Er führt weiter aus: »Was Kant als Aufklärung beschrieben hat, ist eben das, was ich als Kritik charakterisiere: als kritische Haltung, die man im Abendland als besondere Haltung neben dem großen historischen Prozeß der Regierbarmachung der Gesellschaft auftauchen sieht.«65 Bei Kant beziehe sich die Kritik primär auf die Untersuchung der Grenzen der Erkenntnis »als Prolegomenon zu jeder gegenwärtigen und

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Foucault 1992: 15. Vgl. ibd. Vgl. Foucault 1992: 16. Vgl. ibd. Foucault 1992: 16f.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

künftigen Aufklärung«.66 Foucault sieht das Kantische »Auseinanderschieben von Aufklärung und Kritik«67 und die Betonung der Frage der Erkenntnis hinsichtlich des Theorems der Kritik problematisch und schlägt vor »über das Problem der Macht in die Frage der Aufklärung einzusteigen«,68 verstanden »als Ereignishaftigkeitsprüfung oder Ereignishaftmachung«69 und den ›Nexus von Macht-Wissen‹ simultan mit dem Verfahren der Archäologie und der Genealogie und unter Berücksichtigung der Dimension der Strategie – die Ebene der Interaktionsbeziehungen – zu analysieren, wobei es sich dabei um verschiedene Niveaus handelt.70 Foucault fragt: »Die Bewegung, welche die kritische Haltung in die Frage der Kritik hat umkippen lassen, die Bewegung, welche das Unternehmen der Aufklärung in das Projekt der Kritik hat übergehen lassen, worin sich die Erkenntnis von sich eine richtige Idee machen wollte, diese Kippbewegung, diese Verschiebung, diese Verschickung der Frage der Aufklärung in die Kritik … müßte man nicht versuchen, jetzt den umgekehrten Weg einzuschlagen? Könnte man nicht versuchen, diesen Weg wieder zu durchlaufen – aber in der anderen Richtung?«71 Foucault fordert, »aus seiner Unmündigkeit herauszutreten, wie Kant sagt. Eine Haltungsfrage. Sie sehen nun, warum ich nicht gewagt habe, meinem Vortrag den Titel zu geben, der gewesen wäre: ›Was ist Aufklärung?‹.«72 Zur 66 67 68 69 70 71 72

Foucault 1992: 18. Die Kritik hat gegenüber der Aufklärung in der Geschichte allerdings »ein stärkeres Weiterleben« gehabt. (Vgl. Foucault 1992: 18) Foucault 1992: 29. Foucault 1992: 30. Foucault 1992: 30f. Es geht ihm um die »Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen« (Foucault 1992: 31). Foucault 1992: 38-40. Foucault 1992: 41. Ibd. Dazu heißt es bei Vogelmann: »Dieser Verschiebung von der Aufklärung zur Kritik stellt Foucault seine Forschung als Umkehrung gegenüber, als den Versuch einer erneuten Verschiebung. Kritik soll keine Selbstbeschränkung der Vernunft sein, sondern eine Diagnose der Grenze, die diese auf ihre möglichen Bruchstellen hin prüft und so experimentelle Überschreitungen vorstellbar werden lässt.« (Vogelmann 2012: 226) Foucaults Interesse an der Aufklärung manifestiert sich besonders in den beiden Texten »Was ist Aufklärung?« aus dem Jahr 1984. Siehe dazu: Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. IV. 1980-1988. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005, S. 687-707 und Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. IV. 1980-1988. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005,

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Interkulturelles Philosophieren

Erläuterung seines Verständnisses der Aufklärung heißt es bei Foucault weiter: »Ich wollte zum einen die Verwurzelung einer Art philosophischen Fragens, das zugleich die Beziehung zur Gegenwart, die geschichtliche Seinsweise und die Konstitution seiner selbst als autonomes Subjekt problematisiert, in der Aufklärung hervorheben; ich wollte zum anderen deutlich machen, dass der Faden, der uns auf diese Weise mit der Aufklärung verbinden kann, nicht die Treue zu den Elementen einer Lehre, sondern vielmehr die permanente Reaktivierung einer Haltung ist, das heißt eines philosophischen ethos, das man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte.«73 Kant hat nach Foucault eine Weise des Philosophierens praktiziert, die er von veränderten philosophischen Grundannahmen ausgehend – er kritisiert Kants transzendentalphilosophischen Ansatz – und andere Verfahren wie Archäologie und Genealogie benutzend fortsetzen möchte.74 Foucault präzisiert seinen Bezugspunkt: »Dasjenige, das ich herausgehoben habe und das mir die Grundlage einer vollständigen philosophischen Reflexionsform zu sein scheint, betrifft allein den Modus eines reflexiven Verhältnisses zur Gegenwart.«75 Dabei bezieht sich Foucault insbesondere auf Kants philosophisches Bemühen, die gesellschaftliche Aktualität zu erfassen. Für eine Kritik im Sinne des Wahrsprechens, der Parrhesia, ist Kant für Foucault sowohl historisches Beispiel als auch Vorbild. Wahrsprechen versteht Foucault als ein Aussprechen und persönliches Einstehen für die Wahrheit. Foucaults Auffassung von Parrhesia ist im Rahmen der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst zu verorten und mit Foucaults Interesse an der Ausbildung eines individuellen Lebensstils

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S. 837-848. Sein Interesse an Kants Aufsatz über Aufklärung erläutert Foucault folgendermaßen: »In seinen anderen Texten über die Geschichte geschieht es, dass Kant Fragen nach dem Ursprung stellt oder die innere Zweckmäßigkeit eines Geschichtsverlaufs definiert. In dem Text über die Aufklärung betrifft die Frage die reine Aktualität. Er versucht nicht die Gegenwart von einer Totalität oder einer zukünftigen Vollendung her zu verstehen.« (Foucault 2005: 689) Foucault 2005: 699. Dabei soll auch die Aufklärung selbst der Analyse unterworfen werden: »Wir müssen versuchen, die Analyse unserer selbst als geschichtlich zu einem gewissen Teil durch die Aufklärung bestimmter Wesen durchzuführen.« (Foucault 2005: 699) Foucault 2005: 700.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

entsprechend seines Theorems vom Leben als Kunstwerk, dem gleichermaßen ein ethisches Verständnis zu Grunde liegt, zu verstehen. Foucault sucht im Unterschied zu Kant nicht mehr nach universalen Kategorien, Formen und Strukturen und versucht nicht, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnisurteilen, moralisch angemessenem Handeln und ästhetischer Beurteilung in einem transzendentalphilosophischen Projekt zu untersuchen und dabei die Grenzen des angemessenen Vernunftgebrauchs und den Unterschied zwischen Wissen und Glauben zu bestimmen, sondern umgekehrt das Singuläre und Kontingente des vermeintlich Universellen im Geschichtlichen aufzuzeigen. Kritik zielt nach Foucault auf mögliche Überschreitungen, auf das Ausloten der Möglichkeit, »nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.«76 Kritik erhält so eine neu konzipierte emanzipatorische Ausrichtung als »historisch-kritische Haltung«,77 wobei »die Kritik dessen, was wir sind, zugleich historische Analyse der uns gesetzten Grenzen und Probe auf ihre mögliche Überschreitung ist.«78 Diese »historisch-kritische Haltung« muss demnach auch immer »eine experimentelle Haltung sein.«79 Foucaults Betonung der Bedeutung von Aufklärung, Kritik und Parrhesia bei Kant ist insbesondere im Kontext seiner Ästhetik bzw. Ethik des Selbst als Rehabilitation des Subjekts zu sehen. Damit rückt gleichzeitig das Theorem Mensch wieder in den Mittelpunkt seines Schaffens. Trotz seines provokanten und experimentellen Gestus gelingt es Foucault nicht, die Schwelle zur Neustrukturierung von Wissen entsprechend einer neuen Episteme in der konstatierten Umbruchssituation zu formulieren. Gerade sein Rekurs auf Kant macht dies deutlich. Obwohl Foucault Kants Theoreme Mensch, Menschheit, Person und Persönlichkeit ablehnt und auch dessen teleologische Geschichtskonzeption kosmopolitischer Ausrichtung, bleibt er doch im Bann der Kantischen Kritik und Aufklärung und seiner Konzeption des Subjekts ausgehend von den Momenten Freiheit und Autonomie. Die von ihm vorgenommenen Umdeutungen verlassen den Kantischen Boden nicht vollständig. Es ist in Foucaults Philosophie eine Rückkehr zum Theorem Mensch zu beobachten, die ihn als Philosoph der Schwelle erscheinen lässt.

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Foucault 2005: 703. Ibd. Hierbei geht es um die Erarbeitung einer »Ontologie unserer selbst«. (Ibd.) Foucault 2005: 707. Foucault 2005: 703.

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Interkulturelles Philosophieren

3.4

Die Sprache bei Kant und Foucault. Die Sprache von Kant und Foucault80

3.4.1

Die Verdrängung der Sprache bei Kant und Kants latente Sprachphilosophie

Kant hat Sprache in seinen Kritiken nicht explizit thematisiert und keine dezidierte sprachphilosophische Konzeption vorgelegt. Der Vorwurf, Kant habe »das Thema ›Sprache‹ sträflich vernachlässigt«81 steht in der Kantrezeption unumstößlich im Raum. Andererseits wird Kants Sprache hinsichtlich ihrer begrifflichen Exaktheit, Argumentationsstruktur und sprachlichen Metaphorik Bewunderung zuteil. Kants Sprache wird als wesentliches Element seiner philosophischen Ausführungen angesehen.82 Bei Foucault dagegen scheint Sprache sich einerseits im Diskurs aufzulösen und an Wichtigkeit einzubüßen, andererseits entwickelt er eine Ontologie der Sprache und spricht vom permanenten Gemurmel und Rauschen der Sprache. Auffallend ist auch die von Foucault verwendete philosophische Sprache, die bislang kaum im Hinblick auf ihre Relevanz für seine Philosophie untersucht wurde. Hieraus ergibt sich die für die Untersuchung zentrale Fragestellung, welche sprachphilosophischen Überlegungen sich bei Kant und Foucault finden lassen und in welchem Zusammenhang sie zu den Thematiken und Zielsetzungen ihrer philosophischen Konzeptionen stehen. Ergibt sich ein Zusammenhang zwischen den sprachphilosophischen Überlegungen und der philosophischen Sprachlichkeit bei Kant und Foucault? Bildet sich darüber hinaus der inhaltliche Bezug von Foucault auf Kant, der insbesondere die Theoreme Kritik, Freiheit, Autonomie und den Ethos des Muts betrifft, auch in den die Sprache betreffenden Aspekten und den sprachphilosophischen Grundannahmen ab oder

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Dieses Kapitel wurde auf Englisch veröffentlicht: Rainsborough, Marita: »Kant and Foucault’s philosophy of language and the use of language in their work«. In: Hulshof, Monique; Marques, Ubirajara Rancan de Azevedo (Hg.): A Linguagem em Kant. A Linguagem de Kant. Marília, São Paulo (Oficina Universitária; Cultura Acadêmica), 2018, S. 249-267. Lütterfelds, Wilhelm: »Kant in der gegenwärtigen Sprachphilosophie«. In: Heidemann, Dietmar H.; Engelhard, Kristina (Hg.): Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart. Berlin, New York (de Gruyter), 2004, S. 150. Vgl. Ribeiro dos Santos, Leonel: Metaforas da Razão ou economia poetica do pensar kantiano. Lissabon (Fundação Calouste Gulbenkian), 1985.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

rekurriert Foucault diesbezüglich nicht auf Kant? Was bedeutet das im Weiteren für Foucaults Kantrezeption im Gesamtrahmen seiner Philosophie? Es lässt sich bei Kant eine Sprachlosigkeit bzw. Sprachvergessenheit seiner Transzendentalphilosophie beobachten, die er trotz der Metakritik von Hamann und Herder aufrechterhielt.83 Die Beschäftigung mit den Problemen der Sprachphilosophie in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und in den Metaphysikvorlesungen erfolgt allein unter dem Aspekt der Bezeichnungsfunktion der Sprache.84 Kant sagt: »Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken, und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, dieses größte Mittel, sich selbst und andere zu verstehen.« (Anth, AA 7: 192) Und weiter:

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Auch waren Kant die sprachphilosophischen Einsichten der vorsokratischen antiken Philosophie hinsichtlich des Verhältnisses von Sein, Denken und Sprache und der Aristotelische Parallelismus bekannt. Nach Villers stellt sich Kant mit seiner Auffassung von Sprache sogar »als Erbe des sprachphilosophischen Aristotelismus« – gleichzeitig aber auch als dessen Überwinder – heraus. Vgl. Villers, Jürgen: Kant und das Problem der Sprache: Die historischen und systematischen Gründe für die Sprachlosigkeit der Transzendentalphilosophie. Konstanz (Verlag am Hockgraben), 1997, S. 16, 295. Villers stellt fest: »Das Denken verbindet nicht mehr Ontologie und Sprache bzw. bezieht sich nachträglich auf die Gegenstände, sondern das vorstellende Bewusstsein konstituiert die Dinge erst als Erscheinungen, d.h. die Ebene des Denkens nimmt die des Seins in sich auf – womit der Aristotelismus überwunden ist. An der nachträglichen Bezeichnungsfunktion der sprachlichen Charaktere aber hält Kant trotz des Zerbrechens des statischen Parallelitätsmodells und trotz der Dynamisierung des Erkenntnisprozesses weiterhin fest.« (Villers 1997: 297) Die Ebene des Denkens, die der Ebene der Sprache vorgelagert ist, ist nach Kant auch für die Ontologie konstitutiv. (Vgl. Villers 1997: 303) Kants Bezeichnungsvermögen geht über das Sprachvermögen hinaus und umfasst Wunderzeichen, natürliche Zeichen und willkürliche bzw. künstliche Zeichen. (Vgl. Anth, AA 7: 192-194) Hinsichtlich der natürlichen Zeichen unterscheidet er demonstrative, rememorative und prognostische Zeichen. Willkürliche Zeichen umfassen neben den sprachlichen Zeichen auch Noten, Ziffern, Gebärdenzeichen, Wappen, Orden etc. (Vgl. Anth, AA 7: 192) Beim Bezeichnungsvermögen handelt es sich um indirekte Verknüpfungen durch zusätzliche Vorstellungen hinsichtlich der Relation von Vorstellung des Gegenstands und Gegenstand. »Die Vorstellung, die blos als ein Mittel gilt, eine andere hervorzubringen (reproducieren), ist Zeichen.« (Refl AA 15, Nr. 334) Sprachliche Zeichen, Worte, sind Gegenbilder von Sachen, um Vorstellungen der Sache zu konzipieren, und der Charakteristik. (Vgl. V-Met., AA 28: 152) Sie werden frei gebildet und setzen ein produktives Vermögen der Charakteristik voraus. Sprachliche Zeichen sind für Kant Merkzeichen (V-Phil-Th, AA 28: 206, 222) und dienen der Kommunikation (Refl, AA 16, Nr. 1620)

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»Das Vermögen der Erkenntnis des Gegenwärtigen als Mittel der Verknüpfung der Vorstellung des Vorhergesehenen mit der des Vergangenen ist das Bezeichnungsvermögen. – Die Handlung des Gemüths diese Verknüpfung zu bewirken ist die Bezeichnung (signatio), die auch das Signaliren genannt wird, von der nun der größere Grad die Auszeichnung genannt wird.« (Anth, AA 7: 191) Sprache wird als Organon des Denkens aufgefasst. »Und diese Trennung der Ebenen [von Sein, Denken und Sprechen, von Erkenntnis, Denken und Sprache] gibt gleichzeitig das Problem der Verbindung bzw. Vermittlung der drei Ebenen auf. Kant versucht, dieses Problem durch die Nachordnung der Sprache hinter das Denken und hinter die Erkenntnis zu lösen. Die Transzendentalphilosophie ordnet das Bewusstsein nicht nur der Ontologie, sondern auch der Sprache vor. Diese kann nur noch als Stellvertretung, Ersatz, als Gegenbild gedacht werden.«85 Der Gesichtspunkt der Sprachvermitteltheit des Denkens wird auch in diesen Schriften ausgespart. Kant schließt »die Sprache aus dem Konstitutionsbereich« von Gedanken und Vorstellungen aus: »diese der Sprache vorgeordnete Vernunft ist sprachlos«,86 er vertritt die »Konzeption der einen, reinen und nichtsprachlichen Vernunft«.87 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich möglicherweise systematische Gründe für Kants Sprachverdrängung anführen lassen?88 Dazu heißt es bei Villers: »Kant aber muß schon aus systemimmanenten Gründen die dynamische Sprache ausblenden, weil er sonst die von ihm geforderte apodiktische Naturnotwendigkeit nicht mehr gewährleisten könnte, vor allem aber, weil er ansonsten (wegen seiner Psychologisierung der Ontologie) in die Gefahr geriete, die Welt zu verlieren.«89 85 86 87 88 89

Villers 1997: 13f. Villers 1997: 15. Villers 1997: 289. Vgl. Villers 1997: 5. Villers 1997: 6. Villers widerspricht hiermit Dimitrios Markis' These von einer »Nachwirkung des kollektiven Unbewussten unserer philosophischen Sprache bei Kant.« Vgl. Markis, Dimitrios: »Das Problem der Sprache bei Kant«. In: Scheer, Brigitte; Wohlfahrt, Günter (Hg.): Dimensionen der Sprache in der Philosophie des Deutschen Idealismus. Würzburg (Königshausen & Neumann), 1982, S. 113. De Mauro dagegen vertritt im Unterschied dazu die These von einem »außerordentlichen« Schweigen und einem »systematischen« Schweigen, worauf Villers sich in seiner Argumentation stützt. Vgl. De Mauro, Tullio: Einführung in die Semantik. Tübingen (Niemeyer), 1982, S. 48f. Dort heißt

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

So kann die These aufgestellt werden, dass eine Berücksichtigung der Sprache bzw. die Einsicht in die Sprachvermitteltheit der Vernunft die Grundlagen der Kantischen Philosophie nicht unberührt gelassen hätte. »Kant [wollte] die Wirklichkeit schlechterhin mit der Wirklichkeit der Sprache nicht verwechseln«,90 heißt es bei Damnjanović. Und weiter: »Deshalb geht es auch nicht an, Kants transzendentale Philosophie vom Gesichtspunkt der Sprache her neu zu schreiben.«91 Nach Villers hätte eine explizite sprachphilosophische Fundierung in seiner Philosophie auch das »Dogma einer Dichotomie von Rezeptivität und Spontaneität« und damit »das dualistische Postulat der Symmetrie der Erkenntniskräfte« aufgelöst, das kein vermittelndes Drittes vorsieht.92 Das Problem der Verbindung der Erkenntniskräfte bei Kant bliebe deshalb ungelöst. Kants strenger sprachunabhängiger auf Logik basierender Apriorismus soll unabhängig von sprachlicher Geschichtlichkeit sichere Erkenntnis gewährleisten und eine wissenschaftstheoretische Grundlage schaffen. Eine Historisierung durch den Aspekt Sprache hätte Kants Anliegen einer ahistorischen Fundierung von Erkenntnis und Moralität widersprochen. Kants IchPhilosophie ist ein weiterer systematischer Grund für die Vernachlässigung der Sprache in der Kantischen Philosophie. Bei Damnjanović heißt es dazu im Weiteren: »um seiner transzendentalen Ich-Philosophie treu zu bleiben, mußte Kant auf die Position einer Sprachphilosophie des Wir, auf die Sprachlichkeit als Wesensbestimmung des Menschen, verzichten. So blieb bei Kant die Sprache unthematisiert.«93 Villers stellt fest, »daß die Transzendentalphilosophie die dynamische Sprache ausschließen mußte, wollte sie nicht ihre eigenen Grundlagen zerstören«.94

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es: »Kant verstand, daß man nicht mehr […] zur gleichen Zeit die kreative Funktion des Sprechens betonen und auf die Instanz einer übergeschichtlichen Vernunft bestehen konnte, deren Verständnis sich aus den geschichtlichen Formen der Sprache hätte ergeben müssen.« (De Mauro 1982: 51) Damnjanović, Milan: »›Handle sprachlich‹ − oder: Warum blieb die Sprache bei Kant unthematisiert?« In: Berthold, Lothar (Hg.): Zur Architektonik der Vernunft. Berlin (Akademie-Verlag), 1990, S. 439. Damnjanović 1990: 439f. Als ein Beipiel für diesen Versuch nennt Damnjanović z.B. Liebrucks. Vgl. Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewusstsein: Die erste Revolution der Denkungsart: Kant: Kritik der reinen Vernunft. Bd. 4. Frankfurt a.M. (Akademische Verlagsgesellschaft), 1968. Villers 1997: 376. Damnjanović 1990: 441. Villers 1997: 379. Vgl. auch Damnjanović: »[E]r wollte weder Sprache als Wirklichkeit noch Bewußtsein als grundlegendes Sein absolut setzen, weil er die Wirklichkeit als

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Andererseits findet man bei Kant eine latente Sprachphilosophie. Es lassen sich bei Kant Ausführungen zum Thema Sprache, Sprache der Philosophie − auch in Bezug auf seine eigene Philosophie −, zur ›transzendentalen Grammatik‹,95 zu einer Sprachethik und einer Politik der Sprache, die insbesondere mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit verbunden wird und sprachpragmatische, kommunikative, rhetorische96 und literarisch-ästhetische Momente inkludiert, ausmachen. So spielen z.B. Publikum und Öffentlichkeit im Kontext der Kantischen Philosophie der Aufklärung eine entscheidende Rolle; deren Bedeutung spiegelt sich auch in den von Kant gewählten Genres wie journalistischer Aufsatz, Preisschrift, Versuch,97 Beobachtungen,98 Vertrag, Kritik99 etc. Des Weiteren weisen inhaltliche Aspekte der Kantischen Philosophie wie z.B. das Als-Ob, das Ideal, der Schematismus, Symbol und Analogie eine sprachphilosophische Dimension auf. Von besonderer Bedeutung für Kants Philosophie ist, wie Ribeiro dos Santos verdeutlicht, auch Kants Verwendung von Metaphern in seiner philosophischen Sprache und – allgemein betrachtet – seine latente Metaphorologie, die Kants Philosophie insgesamt

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unerkennbare Instanz der Dinge an sich aufrechterhalten und Sinnlichkeit (Anschauung) als gleichursprüngliche und -berechtigte Instanz neben Verstand und Vernunft beibehalten wollte.« (Damnjanović 1990: 441) Die allgemeine, universelle Grammatik wird der Logik nachgeordnet. Sie stellt eine Grammatik dar, »die nichts weiter als die bloße Form der Sprache überhaupt enthält.« (Log, AA 9: 12f.) Die transzendentale Grammatik beinhaltet »den Grund der menschlichen Sprache«. (V-Met, AA 28: 578) Trotz der Rhetorikschelte in der Kritik der Urteilskraft (vgl. KU, AA 5: B 216f.) lässt sich in Kants Philosophie eine rhetorische Ausrichtung beobachten, z.B. im dialogischen Moment der Dialektik. »Der Versuch ist die deutsche Form des Essays. Eine freie Form der Untersuchung […].« In: Goetschel, Willi: Kant als Schriftsteller. Wien (Passagen Verlag), 1990, S. 30. »Beobachtungen und Versuchen ist das Experimentelle das Gemeinsame.« (Goetschel 1990: 59) Goetschel konstatiert Anklänge an den Reisebericht mit der »literaturgattungsmäßig erforderlichen Unspezifität«. (Goetschel 1990: 59) »Mit der Kritik ist so eine neue philosophische Literaturgattung geschaffen, deren formgeschichtliche Rolle in ihrer ganzen Wirkung wohl kaum ganz abzusehen ist.« (Goetschel 1990: 17)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

entscheidend prägt.100 Nach Villers entfaltet Kant »seine latente Sprachphilosophie« insbesondere »in Form einer latenten Metaphorologie.«101 Die sprachliche Bildlichkeit spielt in Kants Philosophie an verschiedenen Stellen eine wichtige Rolle und dient vor allem dem Veranschaulichen abstrakter Theorieelemente. Beim Schematismus geht es um die Anwendung der Begriffe des Verstandes auf Erscheinungen, was mit der Verarbeitung von Anschauungsmaterial nach Prinzipien apriori einhergeht. Das im Schema erzeugte Bild veranschaulicht den Begriff, nicht die Sache selbst. (Vgl. RGV, AA 6: 65 Anm.) Der Prozess der Subsumption setzt als vermittelndes Drittes transzendentale Schemata, Verfahren der reinen produktiven Einbildungskraft, voraus (KrV, B 177), in dem einem Begriff ein zugehöriges Bild ermöglicht bzw. verschafft wird (vgl. KrV, B 180).102 Die Rezeptivität der Sinnlichkeit und die Spontaneität des Verstandes sind im Erkenntnisprozess gleichermaßen beteiligt, wobei Anschauungen unter Begriffe subsumiert und Begriffe versinnlicht werden. Obwohl das Kantische Schema vor- und unsprachlich gedacht wird und der philosophiegeschichtlich bedeutsamen visuellen Metapher zur Charakterisierung des Erkenntnisprozesses, verhaftet bleibt, weist es nach

100 Bei Villers heißt es zu Kants latenter Sprachphilosophie: »Die Rekonstruktion von Kants latenter Sprachphilosophie, welche die verborgene Sprachlichkeit der transzendentalphilosophischen Konzepte der Einbildungskraft, des Schemas und des intellektuellen Ideals aufdeckt, insbesondere aber Kants latente Metaphorologie in seinen Theoriestücken der symbolischen Hypotypose und des ästhetischen Ideals herausarbeitet, wird darüber hinaus noch zeigen, daß es selbst einem Kant nicht gelungen ist, die Rolle der Sprache (der dritten aristotelischen Ebene) im Erkenntnisprozeß völlig ›totzuschweigen‹ und daß dieser verdrängte, aber virulente Sprachbegriff seinen Apriorismus des Geistes in eine sprachlich entstandene und organisierte Vernunft zu verwandeln droht.« (Villers 1997: 6f.) 101 Villers 1997: 381. 102 »Noch viel weniger erreicht ein Gegenstand der Erfahrung oder Bild desselben jemals den empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe. Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein.« (KrV, B 180) Schemata der Kategorien können im Unterschied zu (reinen) empirischen Begriffen nicht bildlich vorgestellt werden. Hier handelt es sich nur um eine reine Synthesis, eine »Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt«. (KrV, B 181)

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Villers doch eine latente Sprachlichkeit auf und zeigt einen sprachlichen Bezug und eine sprachliche Vermitteltheit der Bilder, welche ihm schon Herder zuspricht.103 Im Kapitel »Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit« in § 59 der Kritik der Urteilskraft wird der Begriff des Symbols entwickelt, das als ein weiteres Element der latenten Sprachlichkeit der Kantischen Philosophie anzusehen ist. In der Symbolisierung können Vernunftideen ästhetisch dargestellt werden. Sie ist neben der Schematisierung eine weitere Form der Hypotypose: »Alle Hypotypose (Darstellung, subiectio sub adspectum) als Versinnlichung, ist zwiefach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch ist, d. i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach, übereinkommt.« (KU, AA 5: 255) Beim Symbol handelt es sich um eine indirekte Darstellung eines Begriffes, wobei die Symbolisierung mittels Analogie erfolgt. Kants Analogieauffassung unterscheidet zwischen einer Gattungsanalogie, die auf die Übereinstimmung von Eigenschaften und Merkmalen in einer Gattung rekurriert, aber die Gefahr des Zirkelschlusses mit sich bringt, und einer qualitativ verstandenen Verhältnisanalogie, die sich auf das Verhältnis zwischen Gründen und Folgen bezieht. Kant warnt allerdings entschieden davor, von der Analogie ausgehend zu schließen (vgl. KU B 448ff.; Rel, AA 6: 65 Anm.). Analogien können nach Kant keine objektive Erkenntnis vermitteln, sie dienen allein der Veranschaulichung. Gleichermaßen kommt auch dem Symbol nur eine erläuternde Funktion zu. »Das Symbol einer Idee (oder eines Vernunftbegriffes) ist eine Vorstellung des Gegenstandes nach der Analogie, d.i. dem gleichen Verhältnisse zu gewissen Folgen, als dasjenige ist, welches dem Gegenstande an sich selbst, zu seinen Folgen beygelegt wird, obgleich die Gegenstände selbst von ganz

103 Herder, Johann, Gottfried: »Metakritik.« In: Herder, Johann, Gottfried: Sämtliche Werke. Bd. 21. Suphan, Bernhard (Hg.). Berlin (Weidmannsche Buchhandlung), 1877-1913 (Reprint Hildesheim, Olms-Weidmann 1994), S. 125.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

verschiedener Art sind […] Auf diese Weise kann ich vom Übersinnlichen, z.B. von Gott, zwar eigentlich kein theoretisches Erkenntniß, aber doch ein Erkenntniß nach Analogie, und zwar die der Vernunft zu denken nothwendig ist, haben«. (FM, AA 20: 280) Neben dem Symbol wird auch das ästhetische Attribut bei Kant eine wichtige vermittelnde Funktion zugesprochen. Das ästhetische Attribut (vgl. KU, AA 5: 195), die ästhetische Darstellung einer ästhetischen Idee, die wiederum einer Vernunftidee dient, veranlasst die Einbildungskraft weiter als nur durch einen Begriff angeregt zu denken, wodurch das Gemüt belebt wird; es hat also ein kreatives Moment. Bei Villers heißt es dazu: »Da aber die Einbildungskraft dadurch das Vermögen intellektueller Ideen, die Vernunft, in Bewegung setzt (vgl. KU B 194), führt die Bildung ästhetischer Ideen ›indirect also doch auch zu Erkenntnissen‹ (KU B 198).«104 Entsprechend wird dem intellektuellen Ideal ein ›Ideal der Sinnlichkeit‹ bzw. ein ›Ideal der Einbildungskraft‹ (vgl. V-Phil-Th, AA 28: 3)105 gegenübergestellt. Auch hier ist die Analogie im Hinblick auf Übersinnliches von entscheidender Bedeutung. Die ästhetische Idee gilt Kant dabei als Gegenstück zur Vernunftidee (vgl. KU B 193) und wird durch den Geist, eine wichtige Eigenschaft bzw. Gemütskraft des Genies, hervorgebracht. Sie findet sich insbesondere in Poetik und Rhetorik. Wie schon im Symbol zeigt sich im ästhetischen Attribut − beide rekurrieren auf die Analogie − Kants metaphorische Sprachauffassung. Auch in der praktischen Vernunft findet sich mit dem Typus des Sittengesetzes (vgl. Kant, KpV 122, 124.) 106 bei Kant ein praktisches Schema als metaphorisches Verfahren der Sym-

104 Villers 1997: 359. 105 Als Beispiele führt Kant das ›Ideal der Schönheit‹ und das ›Ideal der Glückseligkeit‹ an. Dabei handelt es sich nicht um Begriffe, sondern um Anschauungen. (Vgl. Villers 1997: 359) Allerdings können sie keine neue Begrifflichkeit hervorbringen: »Sind doch die Ideale der Sinnlichkeit weder so kreativ, daß sie zur Bildung neuer Begrifflichkeit anregen könnten, noch lassen sie sich eindeutig auf einen bereits vorhandenen Begriff bringen, weshalb sie auch ›nur uneigentlich‹ (KrV, B 598) Ideale heißen – gelegentlich werden diese ›Geschöpfe der Einbildungskraft‹ (KrV, B 598) von Kant auch abfällig ›Chimären‹ (Vorl. ü. d. Metph., S. 42) genannt.« (Villers 1997: 360) 106 Bei Villers heißt es dazu: »Damit erweist sich sogar der kategorische Imperativ als eine Anwendung der analog-metaphorischen Substitution: Das praktische Gesetz wird analog zum Naturgesetz gebildet, die Form der physikalischen Gesetzmäßigkeit der Moralität ›unterlegt‹«. (Villers 1997: 361) Und weiter: »Kants latente Metaphorologie zeigt sich so als das vermittelnde Bindeglied zwischen seiner theoretischen und seiner praktischen Philosophie (vgl. KU B 259).« (Ibd.)

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bolbildung. Im Zusammenhang von Kants latenter Metaphorologie ist auch das Kantische Als Ob, ein Fürwahrhalten in Fällen, in denen eine Überzeugung weder durch den Verstand noch durch die Vernunft begründet werden kann, aber das, was die praktische Vernunft gebietet nur einsehbar bleibt, wenn die Überzeugung aufrechterhalten werden kann, von entscheidender Bedeutung. Im Als ob manifestiert sich ein Bereich der Ununterscheidbarkeit, in dem es nicht möglich ist zu wissen, ob etwas wirklich ist oder nicht wirklich ist, wobei Begriffsverwendung, Veranschaulichung von Sachverhalten, Denken und Handeln des Menschen betroffen sind. Es handelt sich beim Als Ob aber nicht um bloße Fiktionen. Das Als Ob bezieht sich insbesondere auf die regulativen Ideen Gott und Unsterblichkeit der Seele und stützt die menschliche Moralität. Kants Sprachpragmatik,107 Sprachethik und seine Politik der Sprache, die insbesondere mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit verbunden wird und kommunikative, rhetorische und literarisch-ästhetische Momente beinhaltet, zeigt die Bedeutung seiner latenten Sprachphilosophie des Weiteren auf einer gesellschaftspolitischen Ebene. So spielen z.B. Publikum und Öffentlichkeit im Kontext der Kantischen Philosophie der Aufklärung eine herausragende Rolle. Kant verurteilt die Beredsamkeit bzw. Rhetorik als Kunst des Überredens. Kant spricht in Bezug auf sie auch von einer ›hinterlistigen Kunst‹, um eigene Vorteile erringen zu können. (Vgl. KU, 5: 527f. Anm.) Im Unterschied dazu geht es Kant um den Dialog im sokratischen Sinne und um Aufklärung als Ermutigung dazu, den eigenen Verstand zu gebrauchen. In der Rolle des Gelehrten soll der Einzelne Kritik an Institutionen, Lehrmeinungen etc. öffentlich machen. Nach Kant gilt ein unbedingtes Gebot der Wahrhaftigkeit, die zwar den Irrtum nicht ausschließt, aber die Lüge. (Vgl. VNAEF, 8: 421; MS, 6: 429) In diesem Kontext geht es insbesondere um die pragmatische Dimension im menschlichen Miteinander. »Pragmatisch ist die Erkenntnis, von der sich ein allgemeiner Gebrauch in der Gesellschaft machen läßt.« (Refl 1482, 15: 660; vgl. auch Log, 9: 455; Vorl, 25: 856; Vorl, 25: 1210) Die pragmatische Hinsicht befördert das, »was er [der Mensch] als freihandelndes Wesen aus sich selbst macht oder machen kann und soll.« (Anth, 7: 119; vgl. Anth, 7: 246; Anth, 7: 189; Anth, 7: 214) Sprachverwendung wird hier in ihrer gesellschaftspolitischen, insbesondere kritischen Dimension betrachtet, die in

107 Die genaue Analyse der sprachpragmatischen Ebene von Kants Philosophie stellt noch ein Forschungsdesiderat dar.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

der Geschichtsphilosophie Kants primär durch ihre kosmopolitischen Momente und ihre Tendenz zum ewigen Frieden auch eine utopische Dimension erfährt. Hier erhält die juristisch-juridische Sprachverwendung, wie in der Schrift Zum ewigen Frieden deutlich wird, eine besondere Bedeutung im Hinblick auf das Aushandeln von Verträgen zwischen Staaten zur Beförderung der Weiterentwicklung des Menschen als Gattungswesen, letztlich auch in moralischer Hinsicht. Des Weiteren erfährt Kants Fortschrittsglaube über das Individuelle und Gesellschaftliche hinausgehend eine Absicherung durch seine naturteleologischen Prämissen. Kants Metaphorologie bezieht sich, insgesamt betrachtet, nicht nur auf bestimmte Theorieelemente seiner Philosophie wie Symbol, Attribut, Analogie etc., sondern stellt gleichermaßen − u.a. auch durch die von ihm verwendeten Metaphern in seiner philosophischen Sprache − den Schlüssel für einen tieferen Zugang zum Kantischen philosophischen System dar bis hin zu seiner politisch ausgerichteten Sprachpragmatik, die insbesondere im Kontext seiner Geschichtsphilosophie betrachtet werden muss.

3.4.2

Sprache bei Kant aus der Sicht Foucaults

Foucault weist der Sprache in Kants Philosophie eine herausragende Rolle zu und widerspricht somit indirekt der These von der Missachtung der Sprache bei Kant. In seiner genealogischen Untersuchung der Parrhesia108 macht er auf Kants Form der kritischen Parrhesia und ihre Bedeutung aufmerksam und unterzieht die Kantische Philosophie im Hinblick auf den Aspekt der ›Dramatik‹ des Diskurses im Kontext der Untersuchung des philosophischen Wahrsprechens einer interessanten Analyse.109 Dabei stellt Foucault sich mit Kant in die in der Antike beginnende Tradition der Parrhesia, die mit dem

108 Parrhesia als ›freimütiges Reden‹ kann auch zum ›belieben Sagen‹ verkommen, so dass ihre Entwicklung per se eng mit Kritik verwoben ist, mit einem Sagen, das mehr als Rhetorik ist und Mut erfordert, wie es in Griechenland im 4. Jh. v. Chr. primär als Kritik an der Demokratie entstanden ist. Vgl. Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit: Die Regierung des Selbst und der anderen II: Vorlesung am College de France 1983/84. Berlin (Suhrkamp), 2010b, S. 20, 25, 28, 56. 109 Vgl. Foucault 2012: 97f. Bei Foucault heißt es: »Ich glaube, daß man auf diese Weise eine ganze Analyse der Dramatik und der verschiedenen Formen der Dramatik des wahren Diskurses unternehmen könnte: der Prophet, der Weissager, der Philosoph, der Wissenschaftler.« (Foucault 2012: 97)

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Vorhaben der Philosophie eng verknüpft ist.110 In diesem Kontext versucht Foucault das Kantische Projekt der Aufklärung in veränderter Form fortzusetzen. Kritik sollte nach Foucault heute in Aufklärung münden, wobei die Erkenntnisfrage diesem Ziel untergeordnet werden müsste. Auch wenn Foucault das Verhältnis von Aufklärung und Kritik bei Kant verengend und eindimensional interpretiert, ist dessen aufklärerischer Impetus doch von besonderer Bedeutung für das Verständnis von Foucaults philosophischer Zielsetzung und steht in einem engen Zusammenhang mit Foucaults Rekurs auf die Begriffe ›Unmündigkeit‹, ein Mangel des Willens, ›Autonomie‹, ein Mangel im Verhältnis zu sich selbst, und ›Freiheit‹ im Sinne einer ausübenden Praxis bei Kant.111 Foucault sagt: »In der Mündigkeit entkoppelt man den Gebrauch der Vernunft und den Gehorsam.«112 Und weiter: »Die Aufklärung wird dagegen der Freiheit die Dimension der größten Öffentlichkeit in Form des Universellen geben und den Gehorsam nur in jener Privatrolle, d.h. jener Sonderrolle aufrechterhalten, die innerhalb des Gesellschaftskörpers bestimmt ist.«113 Der Zusammenhang von Kritik mit der Frage nach Macht und Herrschaft bei Foucault wird auch in folgendem Zitat deutlich: »Und wenn man die Frage der Erkenntnis im Hinblick auf die Herrschaft aufzuwerfen hat – so doch wohl vor allem aufgrund eines entschiedenen Willens nicht regiert zu werden, jenes entschiedenen Willens – einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung, aus seiner Unmündigkeit herauszutreten, wie Kant sagte. Eine Haltungsfrage.«114 Nach Foucault ist Aufklärung mit einer besonderen Form des kritischen Wahrsprechens verbunden. Allgemein betrachtet ist Parrhesia ein mit einem persönlichen Risiko verbundenes Sprechen der Wahrheit – im Modus der Wahrhaftigkeit –, wobei der Sprecher sich selbst sowohl als Subjekt des Aussagens als auch als Subjekt des Auszusagenden in die Verantwortung nimmt

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Foucault sagt dazu: »Die Geschichte der Philosophie also als eine Bewegung der parrhesia, als Neuverteilung der parrhesia, als verschiedenartiges Spiel des Wahrsprechens, eine Philosophie, die auf diese Weise sozusagen in ihrer allokutorischen Kraft aufzufassen wäre.« (Foucault 2012: 439) Foucault 2012: 47ff. Foucault 2012: 58. Ibd. Foucault 1992: 41.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

bzw. in die Verantwortung genommen wird.115 Der Parrhesia kommt somit gleichzeitig auch eine subjektbildende Funktion in ethischer Hinsicht zu. Das Problem der Redefreiheit wird bei Foucault »mit der Wahl der Existenz, der Wahl seiner Lebensweise verbunden«116 und als eine persönliche Haltung mit ethischer Dimension konzipiert.117 Diesbezüglich sieht sich Foucault zugleich in der Tradition der Kantischen Parrhesia und von dessen Konzeption des Ethos. Die kritische Form des Wahrsprechens verbindet sich mit Kants Anliegen der Aufklärung, in dem die »Dimension des Öffentlichen […] zugleich die Dimension des Universellen ist« und eine »Neuverteilung der Regierung des Selbst und der anderen« erfolgt.118 Foucaults Untersuchung von Kants Philosophie unter dem Fokus der Parrhesia legt diese Ebene frei. Die Diskursdramatik119 geht dabei nach Foucault über die Diskurspragmatik120 Vgl. Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit: Berkeley-Vorlesungen 1983. Berlin (Merve), 1996, S. 11. 116 Foucault 1996: 87. Weiter heißt es bei Foucault: »Und als Folge davon wird parrhesia im Fall von positiver und kritischer parrhesia mehr und mehr als eine persönliche Haltung, eine persönliche Qualität, als eine für das politische Leben der Stadt nützliche Tugend angesehen, oder im Fall von negativer, abschätziger parrhesia als eine Gefahr für die Stadt.« (Foucault 1996: 88) 117 Das Wahrsprechen wird von Foucault grundsätzlich als Tätigkeit mit interpersonellen und kommunikativen Bezügen angesehen: in kleineren Gruppen, im Rahmen des Gemeinschaftslebens und im öffentlichen Leben. (Vgl. Foucault 1996: 111) Kant steht nach Foucault in der kynischen Tradition der kritischen Parrhesia. Im Unterschied zu Kant greift Foucault im Kontext der Parrhesia gleichermaßen den Sokratischen Gedanken der Sorge um sich auf. In der sokratische Parrhesia steht die Sorge um sich selbst im Mittelpunkt, die auch eine Harmonie zwischen Wort und Tat vorsieht und politische und ethische Parrhesia als zusammenhängend denkt. Sie gilt als Beginn der philosophischen Form der Parrhesia. Parrhesia hat nach Foucault eine epistemische, eine politische und eine ethisch/ästhetische Dimension und muss primär als Praktik verstanden werden. (Vgl. Foucault 1996: 105ff.) 118 Foucault 2012: 57f. 119 »Diese Rückwirkung, die darin besteht, daß das Ereignis der Äußerung die Seinsweise des Subjekts beeinflußt oder das Subjekt, indem es das Ereignis der Äußerung hervorbringt, seine Seinsweise als sprechendes Subjekt modifiziert oder bestätigt oder zumindest bestimmt und präzisiert, zeichnet, glaube ich, einen anderen Typ von Diskurstatsachen aus, die sich von dem der Pragmatik völlig unterscheiden. Was man die ›Dramatik‹ des Diskurses nennen könnte, wenn man alles Pathetische von diesem Wort abstreift.« (Foucault 2012: 96f.) 120 »Was ist das, was man Diskurspragmatik nennt oder zumindest so nennen könnte? Nun, es ist die Analyse dessen, was in der tatsächlichen Situation eines Sprechers den Sinn und den Wert der Aussage beeinflußt und verändert. In diesem Sinne beruht die 115

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hinaus. Im Unterschied zur Sprechakttheorie der englischen Pragmatisten wie Austin oder Searle geht es ihm primär um die Wirklichkeitsbedingungen von Aussagen und − im Kontext der Untersuchung der Parrhesia − um die ontologische Selbstverpflichtung des Subjekts durch den sprachlichen Akt,121 was Foucault insgesamt mit dem Anliegen und der Geschichte der Philosophie in Verbindung bringt. Dabei ermöglicht das Theorem ›Wahrsprechen‹ Foucault, die Dimensionen Wissen, Macht und Subjekt in seiner Philosophie zusammenzudenken, wodurch es − von der Argumentationsstruktur her und systematisch betrachtet − eine besonders wichtige Funktion erfüllt. Des Weiteren thematisiert Foucault in seiner Einführung in Kants ›Anthropologie‹ den Aspekt Sprache auch in Bezug auf Kants Konzeption des Weltbürgers. Bei Foucault heißt es: »Er ist es einzig und allein, weil er spricht. […] Seine Residenz in der Welt ist auf originäre Weise Aufenthalt in der Sprache.«122 In der Anthropologie wird der »Wert des Diskurses«, der »Tischgesellschaft« und des »Gespräch[s]« manifest:123 »Hier soll sich durch die Transparenz einer gemeinsamen Sprache hindurch eine Beziehung von allen zu allen einstellen; keiner darf sich privilegiert oder isoliert fühlen, sondern jeder, ob schweigsam oder beredt, soll in der gemeinsamen Souveränität der gesprochenen Sprache präsent sein.«124 Die Anthropologie Kants bringe »keine vorsprachliche Wahrheit« zum Vorschein.125 »Es ist eine mehr innerliche und komplexere Wahrheit, da sie ja gerade in der Bewegung des Austauschs besteht und der Austausch die universale Wahrheit des Menschen vollendet. […] Hier nimmt die Sprache ihre Realität an, vollendet sie und findet sie wieder, und hier entfaltet der Mensch auch seine anthropologische Wahrheit.«126 Foucaults Betonung des kommunikativen Moments der Sprache in Kants Anthropologie lässt in der Interpretation eine neue Dimension des Sprachlichen bei Kant aufscheinen, die den in ihr zentralen Aspekt der Bezeichnungsfunktion von Sprache, der in der Kantrezeption eine entscheidende Rolle spielt,

Analyse oder die Bestimmung von so etwas wie einer performativen Aussage eben auf einer Diskurspragmatik.« (Foucault 2012: 95) 121 Gros, Frédéric: »Situierung der Vorlesungen«. In: Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2012, S. 475. 122 Foucault, Michel: Einführung in Kants ›Anthropologie‹. Berlin (Suhrkamp), 2010a, S. 95. 123 Foucault 2010a: 94f. 124 Foucault 2010a: 94: 125 Foucault 2010a: 95. 126 Foucault 2010a: 95f.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

entscheidend ergänzt, wenn auch in einer von Foucault überzeichneten, überbetonenden Weise. Es ist Foucaults Verdienst auf die kommunikationsbezogenen, sprachpragmatischen und sprachdramatischen Überlegungen Kants aufmerksam gemacht und damit den Blick auf Kants sprachphilosophische Implikationen erweitert zu haben. Nach Foucault bildet sich dies in der Anthropologie Kants auch im Ringen um die deutsche Sprache als philosophische Sprache ab. Das Lateinische sei in ihr im Unterschied zu den Kritiken nicht mehr wesentlich.127 Auch hier zeigt sich Kants Anliegen, das Publikum mit seinen Ausführungen zu erreichen und den philosophischen Dialog − im Sinne seines Projekts der Aufklärung − in die Öffentlichkeit zu bringen. Durch die Betonung des kommunikativen und insbesondere des sprachdramatischen Aspekts bei Kant findet in Foucaults Rezeption der Philosophie Kants gegenüber den Kantinterpretationen, die die Missachtung der Sprache bei Kant beklagen und/oder nur von einer impliziten Sprachphilosophie bei Kant sprechen, eine Verschiebung bzw. Umdeutung statt. Sprache erhält bei Kant eine tragende Bedeutung, indem sie sowohl die philosophische Intention und die Auffassung von der Funktion von Philosophie als auch Kants Ringen um die eigene philosophische Sprache in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellt. Darüberhinaus betont Foucault insbesondere unter Rekurs auf Kants Anthropologie weniger die Bezeichnungsfunktion von Sprache als ihren kommunikativen Aspekt. Nach Foucault ist Sprache bei Kant von fundamentaler Bedeutung. Kants Philosophie stellt nach Foucault insgesamt betrachtet ein sprachphilosophisches Projekt des Wahrsprechens in Form der Kritik mit einer ethisch-politischen Dimension dar.

3.4.3

Sprache, Diskurs und das Gemurmel der Sprache bei Foucault

Foucault geht von einem Meer von Sprache aus, dass auf der Diskursebene Bedeutungen festlegt und das Unsagbare ausschließt, Sprache geht somit über die Souveränität des individuellen Sprechens hinaus und basiert auf his-

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»In der Kritik der reinen Vernunft empfindet er den Gebrauch des Deutschen sogar als Fessel und Einschränkung«. (Foucault 2010a: 91) Foucault sagt weiter: »Dieses Loshaken der philosophischen Reflexion von einer Universalität lateinischer Form hat seine Wichtigkeit. Von jetzt an erkennt sich die philosophische Sprache die Möglichkeit zu, ihren Herkunftsort und ihr Forschungsfeld in einer gegebenen Sprache zu finden und zu definieren.« (Foucault 2010a: 93)

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torisch unterschiedlichen Formationssystemen128 und Formationsregeln z.B. bezüglich der Aussagemodalitäten. »Wenn die Sprache ihren Ort tatsächlich in der einsamen Souveränität des ›Ich spreche‹ findet, vermag sie nichts mehr zu begrenzen – weder der, an den sie sich richtet, noch die Wahrheit des darin Gesagten, noch auch die Werte und Darstellungssysteme, deren sie sich bedient; kurz gesagt es findet kein Diskurs mehr statt, sie teilt keine Bedeutung mehr mit, sondern stellt nur noch ihr nacktes Sein als reine Äußerlichkeit zur Schau.«129 Im Diskursiven geht es um die Ausgrenzung der Sprache des Wahnsinns, die von Foucault in seiner Literatur betreffenden Ausführungen wie z.B. über Roussel als andere Quelle des Denkens stark gemacht wird. Diese Sprache stellt einen epistemologischen Gegendiskurs dar, der als Unberechenbares auch bislang Ausgeschlossenes und Unsagbares thematisieren kann. Wahnsinn130 bedeutet eine Art der sprachlichen Übertretung. Die literarischen Formen von Sprache können der wahnsinnigen Sprache nahekommen, dadurch erhält Literatur eine besondere Bedeutung. Die Grenzenlosigkeit der Sprache wird hier im Unterschied zum Diskurs, der das Gefährliche der Sprache bannen soll, deutlich. Die Sprachbegrenzung ist in Zusammenhang mit z.B. institutionellen Machtfragen zu betrachten und wird durch dispositive Verfahren unterstützt. In seiner Ontologie der Sprache, in der er die Sprache unabhängig von ihrer Referenz- und Signifikationsfunktion untersucht, geht Foucault von einem sich auftuenden Raum der Sprache, der Leere der Sprache, einem ewigen Gemurmel und dem Phänomen der Selbstdarstellung von Sprache aus.

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So ist z.B die Sprache der Klassik als allgemeine Grammatik im Sinne einer Repräsentation des Seins zu verstehen, wie Foucault in Die Ordnung der Dinge ausführt. 129 Foucault, Michel: »Das Denken des Außen«. In : Foucault, Michel: Dits et Escrits. Schriften. Bd. I. 1954-1969. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, S. 672. 130 Wahnsinn ist bei Foucault mehr als eine anthropologische Kategorie für die Kennzeichnung eines bestimmten Geisteszustandes, sondern meint darüberhinaus eine Beziehung des Sprechens zum nicht-signifikativen Sein der Sprache. Auch in der literarischen Sprache ist von der Leere der Sprache auszugehen, einer Selbstimplikation und Selbstreferentialität der Sprache, die im kreativen Akt zu einem ›sinnvollen Diskurs‹ wird. Zeichen des nicht-signikativen Seins der Sprache ist besonders die Figur der Verdopplung und Selbstbespiegelung. Dies stellt eine Art des Sprechens dar, das sich in sich selbst verliert und nur die Sprache an und für sich artikuliert. Literatur beinhaltet demnach auch die Infragestellung und Verwerfung der Sprache.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Das nicht-signifikative Sein der Sprache wird besonders in der von Foucault untersuchten Literatur sichtbar. Hier offenbart sich auch ihre existentielle Dimension, die von einer Spiegelreflexion über den Tod und das Begehren geprägt ist. Die Erfahrung des Innen und Außen, die einen Bereich der Signifikation zur Voraussetzung hat, benötigt Regeln, die einem bestimmten Diskurs zugrunde liegen, und bezieht sich auf die Betrachtung der diskursiven Ordnung der Sprache. Der Außenraum wird nicht von einer scharfen Grenze konstituiert, sondern verschiebt sich in einem permanenten Prozess der Grenzsetzung und Überschreitung. Es geht hierbei um das Verhältnis von nicht-signifikativem Sprechen zur bestehenden diskursiven Ordnung, die den Beginn einer Verlagerung von der Sprachontologie zur Diskursanalyse im Sinne einer Archäologie des Wissens bei Foucault darstellt, wobei das Sein der Sprache den blinden Fleck der durch Episteme bzw. epistemische Kohärenzprinzipien und diskursiven Formationsregeln etc. gebildeten historischen Formation von Wissen darstellt. Die Beschäftigung mit der Ontologie der Sprache mündet in eine epistemische Ausrichtung seines philosophischen Denkens. Ein weiterer Aspekt der Sprachphilosophie ist mit der Selbstsorge des Subjekts verbunden, bei der es um die Entwicklung einer individuellen Lebensweise geht. Mit der historischen Untersuchung der Parrhesia, die eine persönliche Haltung im Sinne eines Ethos voraussetzt und als Selbsttechnik des Wahrsprechens angesehen werden kann, und der mit ihr verbundenen Selbstsorge entwickelt Foucault eine Ethik bzw. Ästhetik des Selbst, in der es um die Selbstformung des Subjekts mittels Selbsttechnologien jenseits von Machtbeziehungen, aber nicht losgelöst von ihnen geht. Die kritische Haltung des Wahrsprechens demonstriert den Zusammenhang von Sprechen und Selbstformung und damit den Gesichtspunkt von Sprache als Mittel der Subjektwerdung. In diesem Prozess sind Lesen und Schreiben von zentraler Bedeutung. Von Foucault werden in diesem Zusammenhang von Kant ausgehend – Kritik und Aufklärung im Kontext einer spezifischen Lebensweise stark gemacht.

3.4.4

Zur philosophischen Sprache bei Kant und Foucault

Der Charakter der philosophischen Sprache von Kant und Foucault ist sehr unterschiedlich. Kants Sprache ist analytisch, subsumierend und differenzierend um genaueste begriffliche Fassung der Inhalte und in der jeweiligen Wortwahl um exakte Abgrenzung von anderen Begriffen bemüht. Besonde-

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Interkulturelles Philosophieren

re Sorgfalt verwendet Kant auf die Begriffsklärung mittels der Untersuchung von impliziten Wortbedeutungen, die zur Verbesserung des Gebrauchs bezüglich der begrifflichen Exaktheit einer Präzisierung bedürfen. Wortneuschöpfungen stehen nicht im Fokus des Kantischen Unternehmens, er orientiert sich an den toten Sprachen wie insbesondere dem Latein als Sprache der Gelehrten. Nach Kant sollen philosophische Begriffsanalysen die Sprache »reinigen, erweitern, bestimmen, aber nicht verändern« (Refl 853, AA 15: 377). Die Gedanken entwickelnde, verfeinernde und zuspitzende philosophische Sprache ringt − oft in antagonistischen Gegenüberstellungen − um präzisierende Darstellungen der komplexen, innovativen Gedanken in hierarchisierenden Gedankenkomplexen und systematisierenden und systembildenden Strukturierungen, zumeist in einer Auseinandersetzung mit anderen im spezifischen Kontext für ihn relevanten philosophischen Argumentationen. Kants Sprache weist dabei einen anspruchsvollen, dichten und teilweise hermetisch wirkenden Charakter auf. Kant orientiert sich in seinem Bemühen um Präzision insbesondere an Mathematik und Naturwissenschaft. Allerdings unterscheiden sich Mathematik und Philosophie in vieler Hinsicht entscheidend, so dass Philosophie Mathematik nicht nachahmen darf. »Daß die Mathematik auf dem Boden des Sinnlichen wandelt, da die Vernunft selbst ihre Begriffe konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung darstellen und so die Gegenstände a priori erkennen kann, die Philosophie hingegen eine Erweiterung der Erkenntnis der Vernunft durch bloße Begriffe, wo man seinen Gegenstand nicht sowie dort vor sich hinstellen kann, sondern die uns gleichsam in der Luft vorschweben, unternimmt, fiel den Metaphysikern nicht ein als einen himmelweiten Unterschied, in Ansehung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori, zur wichtigen Aufgabe zu machen«. (FM, AA 20: 262) In seiner Metaphorik, die neben ihrer erläuternden und das Verständnis mittels Bildlichkeit erleichternden Funktion auch dem Ausdruck neuartiger Gedanken und Zusammenhängen dient, rekurriert Kant auf unterschiedliche Bereiche wie z.B. Biologie, Chemie und Recht. Foucault dagegen orientiert sich in seiner philosophischen Sprache primär an der Literatur, aber auch an der Sprache der Geschichte, an den Sozialwissenschaften und der Biologie. Oft liegt seinen deskriptiven, nüchternen Ausführungen historisches Material zugrunde, teilweise in Form eines Dokuments bzw. Monuments wie z.B. bei den Untersuchungen zu Herculine Barbin und Pierre Rivière, das er in sein Werk integriert. Die beschreiben-

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

den Passagen z.B. zu Einschließungs- und Strafpraktiken lassen den Text in weiten Teilen eher wie einen historischen oder sozialwissenschaftlichen Text erscheinen, die philosophische Zuspitzung und Durchdringung der dargelegten Problematik wird erst nach und nach aus diesem Material heraus entwickelt. Foucault geht es dabei nicht wie Kant um die Kreierung einer spezifischen philosophischen Sprache, er verzichtet auf jeden Anspruch hinsichtlich einer besonderen sprachlichen Form für die Philosophie. Philosophie als Prozess ohne Anspruch auf eine systematisierende Gesamterfassung von Mensch und Welt bleibt faktisch und empirisch ausgerichtet und entwickelt hierbei sowohl in synchroner wie diachroner Weise in einem archäologischen und genealogischen Verfahren einen Prinzipien und Zusammenhänge auffindenden und offenlegenden Zugang zu den hinter den Phänomenen stehenden Regularien und Mechanismen. Foucaults empirischer Ausgangspunkt in seinen philosophischen Überlegungen lässt eine große Offenheit hinsichtlich des benutzten Materials erkennen, was sich auch im sprachlichen Bereich abbildet. Foucault wendet sein Verfahren gleichermaßen auf die Philosophie selbst an, so untersucht er z.B. in historischer Weise Formen des Wahrsprechens in der Philosophie. Auf der anderen Seite lässt sich in einer nietzscheanischen Tradition eine Tendenz zur Literarizität der philosophischen Sprache bei Foucault ausmachen − eine bildhafte, meandernde, suchende, verbergende Sprache, die auch eine Freude am kreativen Moment des Sprachlichen selbst ausdrückt. Die benutzten Metaphern wie z.B. seine Naturmetaphern spiegeln diese Seite des Philosophierens von Foucault. Diesbezüglich ist auch Foucaults Tendenz zur Integration von künstlerischen Werken in den philosophischen Diskurs wie z.B. hinsichtlich literarischer Werke von Roussel, Blanchot und Borges u.a. und visuellen Werken wie z.B. von Velázquez, Monet und Magritte von Bedeutung. Diese Nähe zum Literarisch/Künstlerischen steht in Zusammenhang mit der experimentellen Seite der Philosophie und philosophischen Sprache Foucaults. Philosophie als Disziplin wird in Frage gestellt und muss sich neu erfinden. Kants ›Revolution der Denkart‹ müsste sich nach Villers gleichermaßen »auf die Sprache erstrecken«131 und seine transzendentalphilosophische Dynamisierung der Ontologie hätte auch sprachphilosophische Konsequenzen 131

Villers 1997: 7. Das hätte ihn nach Villers zu der Einsicht führen müssen, »daß es sich bei seinem Grundproblem der Verbindung von Rezeptivität und Spontaneität um ein Scheinproblem handelt, daß er den Gedanken seiner Philosophie, die Verbindung von

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Interkulturelles Philosophieren

haben müssen. Villers konstatiert: »Das, woran es Kant fehlt oder wovor er zurückschreckt, ist die Einsicht in die Sprache als ein Medium, in dem Rezeptivität und Spontaneität, Sinnlichkeit und Intellektualität, Sachbezug und Bedeutung immer schon verbunden und vermittelt sind.«132 Villers stellt sich die Frage, »ob nicht auch die Kantische Vernunft einen verdrängten sprachlichen Ursprung hat.«133 Es heißt bei ihm: »Letztlich sind diese Fragen aus dem Werk Kants nicht mehr eindeutig zu beantworten; was aber bleibt, ist der Verdacht, daß auch das höchste Erkenntnisvermögen, die Vernunft, sich entgegen Kants ausdrücklicher Intention als ein sprachlich organisiertes, vielleicht sogar als ein sprachlich konstituiertes herausstellen könnte.«134 Foucault geht den Weg der Berücksichtigung der sprachlichen Dimension und der Historisierung des Apriorischen und versucht die sich auftuende Lücke in Kants Philosophie zu schließen. Es ist des Weiteren Foucaults Verdienst, die vernachlässigte Dimension der Sprachdramatik in die Untersuchung der Frage nach der Sprachphilosophie Kants mit einbezogen zu haben. Seine archäologische und insbesondere seine genealogische Forschungsmethode führt dazu, die besondere Form der Kantischen Parrhesia, in deren Tradition er sich stellt, in seiner Kantrezeption zu betonen, womit er gleichzeitig ein Desiderat der Kantforschung erfüllt, die diesen Aspekt bisher vernachlässigte und ihn auch heute noch nicht genügend zur Kenntnis nimmt. Foucault kann demnach nicht mehr wie Kant der Vorwurf der Vernachlässigung des Sprachlichen gemacht werden. Allerdings sieht insbesondere der Neue Realismus in Foucaults konstruktivistischer Grundposition die Tendenz zu Relativismus und einem Verlust der Welt.135 Foucaults diskurstheoretische Wende des logischen Apriorismus Kants begibt sich in die von Kant gemiedene Gefahr des Verlustes der Welt in ihrer Eigengesetzlichkeit. Auch wenn Foucault mit seinem Begriff des Dispositivs die Materialität des Kulturellen denkt, wird doch durch den Verzicht auf das Konzept der Dualität von Natur und Kultur und einen Naturbegriff, was einem ›Verschlingen‹ der Natur durch

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Sinnlichkeit und Verstand, durch das Konzept einer Vermittlung von Weltbezug und Denken in und durch die Sprache ersetzen müßte.« (Villers 1997: 7) Villers 1997: 366. Villers 1997: 364. Villers 1997: 365. Foucault wird in diesem Kontext die Vernachlässigung der Agentialität von Materie und Realität vorgeworfen.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

die Kultur gleicht, die materielle Verfasstheit und das Agentielle der Materie nicht mitgedacht. Die Vernachlässigung der naturphilosophischen und kosmologischen Dimension führt zu einer Konzeption des Materiellen allein aus kulturphilosophischer Sicht, zu einer Reduktion auf die kulturelle Dimension und einer Verabsolutierung des Kulturellen. Eine Gefahr, der Kant u.a. auch durch seine sprachphilosophische Konzeption entgangen ist.

3.5 3.5.1

Sprache, Literatur und Kunst in Foucaults Philosophie Philosophie und Theater. Zum stilistischen Aspekt von Foucaults philosophischem Schreiben

Literatur, Sprache und Visuelle Kunst stehen immer wieder im Fokus von Foucaults philosophischem Denken und werden dabei in sehr unterschiedlicher Weise herangezogen. Welche Bedeutung und Funktion haben seine literatur-, sprach- und kunsttheoretischen Überlegungen und seine Auseinandersetzung mit einzelnen Werken aus Literatur, Malerei, Fotografie und Film im Gesamtrahmen seiner Philosophie? Liegt eine geschlossene Theorie des Ästhetischen bei Foucault vor und welcher Zusammenhang besteht zu seiner Ästhetik bzw. Ethik des Selbst? Wird er der Besonderheit der ästhetisch-literarischen und visuell-künstlerischen Ausdrucksformen gerecht oder kann eher von einer Funktionalisierung von Literatur und Kunst bei Foucault gesprochen werden? In diesem Kontext ist gleichermaßen der Zusammenhang von Theater und Philosophie und Foucaults Tendenz zur Dramatisierung im Schreiben relevant. Es zeigt sich, dass Foucaults Neukonzeption von Philosophie auch mit einer neuen Form des philosophischen Schreibens als literarisches bzw. dramaturgisches Schreiben verbunden ist. In seiner Konzeption von Philosophie als Parrhesia stellt sich die Frage nach der Art und Weise des Wahrsprechens, in der der Sprecher in der Dramatik des Sprechens und Schreibens seine Haltung offenbart. Im Kontext der damit verbundenen Implikationen soll Foucaults Philosophieverständnis im Hinblick auf ästhetische Fragen untersucht werden. Der Ästhetiker, Kunst- und Literaturtheoretiker Foucault soll dabei stärker ins Blickfeld rücken. Der Text ›Die Bühne der Philosophie‹ rückt den Bezug zum Theater, zur Dramaturgie und zur Dramatisierung von Foucaults Philosophie in den Mittelpunkt. Foucault sagt:

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»Es geht darum, eine Antwort auf die Frage zu geben: wer sind wir und was geht eigentlich vor? Diese beiden Fragen unterscheiden sich sehr von den traditionellen Fragen: Was ist die Seele? Was ist die Ewigkeit? Philosophie der Gegenwart, des Ereignisses, Philosophie dessen, was sich ereignet. Es handelt sich in der Tat um eine bestimmte Art und Weise, mit Hilfe der Philosophie dasjenige neu zu begreifen, mit dem sich das Theater beschäftigt, denn das Theater hat es immer mit dem Ereignis zu tun.«136 Die inhaltliche Bestimmung der Philosophie durch einen Vergleich mit dem Theater, hier die Konzentration auf das Ereignis, lässt Foucaults engen Bezug zum Literarischen noch einmal in anderer Hinsicht deutlich werden. Foucault baut die Metapher des Theaters noch weiter aus, indem er konkretisierend hinzufügt: »Ich würde gerne eine Geschichte der Bühne schreiben, auf der man anschließend versucht hat, das Wahre vom Falschen zu scheiden. Jedoch interessiert mich nicht diese Unterscheidung, sondern die Bühnenausstattung und die Ausstattung des Theaters. Ich würde gerne das Theater der Wahrheit beschreiben. Wie sich das Abendland ein Theater der Wahrheit, eine Bühne der Wahrheit gebaut hat, eine Bühne für jene Rationalität, die nun gleichsam zu einem Kennzeichen des Imperialismus der Menschen im Abendland geworden ist, denn ihre Wirtschaft, ihre abendländische Wirtschaft ist vielleicht an ihrem Höhepunkt angekommen. Das Wesentliche der Lebensformen und der politischen Herrschaft des Westens haben wohl ihr Ende erreicht. Etwas ist jedoch übrig geblieben, was der Westen ohne Zweifel der übrigen Welt überlassen wird, nämlich eine bestimmte Form von Rationalität. Es handelt sich um ein bestimmtes Theater des Wahren und des Falschen.«137 Das Theater inszeniert das Wahre und das Falsche in Wissens-MachtKomplexen in historischen Kontexten, wobei sich Wissen im historischen Apriori strukturiert. Neben dem Inhaltlichen sind es besonders stilistische Ähnlichkeiten zum Theater, die diese Verbindung mit Leben erfüllen. Foucault nennt sein Schreiben ›dramaturgisch‹ und bekennt, Ereignisse in der Darstellung zu inszenieren und zu intensivieren. Sein Schreiben sei eine

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Foucault 2003: 722. Foucault 2003: 719f.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Art der Dramatisierung.138 Dabei rückt auch der Aspekt der Räumlichkeit, den Foucault mit Begriffen wie Innen, Außen, Schwelle etc. und Topie, Heterotopie und Utopie fassen will, ins Zentrum und dessen Relevanz wird in die Theater-Metapher integriert gedacht. Es sind nach ihm insbesondere die Machtbeziehungen, die einen theatralischen Gestus haben und »dieses Theater konstituieren«.139 Dabei hängen Machtverhältnisse und Diskursivität eng zusammen; vom Macht-Wissen-Nexus ausgehend schreibt Foucault eine Geschichte der Humanwissenschaften als Voraussetzung für eine Analyse der Gegenwart. Neben der allgemeinen Bezugnahme auf das Theater rekurriert Foucault immer wieder auf einzelne Theaterstücke – insbesondere griechische Tragödien –, um seine philosophischen Gedanken in der Auseinandersetzung mit ihnen zu entwickeln und zu begründen. Die literarischen Texte erhalten Monumentcharakter und werden wie historische Quellen behandelt – ähnlich wie das auch bei visuellen künstlerischen Medien zu beobachten ist. Ein berühmtes Beispiel für diese Art des Umgangs von Foucault mit Kunstwerken stellt das Bild ›Las Meninas‹ von Velázquez dar, das die Episteme der Klassik, die Repräsentation, prototypisch verkörpert.140 Kunstwerke sind Teil des zu untersuchenden Archivs der Diskurse sprachlicher wie visueller Art mit ihren jeweils spezifischen eigenständigen Codes, Regeln etc., die nicht aufeinander reduzierbar sind. Das Drama ›König Ödipus‹ von Sophokles liest Foucault als Manifestation der Transformation der Wahrheitsfin138

»So kamen diese Bücher zustande, die, da haben sie ganz Recht – jedenfalls bilde ich mir das ein, wenn ich mit so viel Nachsicht spreche –, tatsächlich dramaturgisch sind. Ich weiß, welchen Nachteil das mit sich bringt. Ich begehe vielleicht den Irrtum, etwas als wichtiges und dramatisches Ereignis darzustellen, was vielleicht gar nicht die Bedeutung hatte, die ich ihm beimesse. Daher rührt mein Mangel – man muss von seinen Mängeln und seinen Praktiken zugleich sprechen –, der vielleicht eine Art der Intensivierung, der Dramatisierung von Ereignissen ist, über die man mit weniger Begeisterung sprechen sollte. Schließlich ist es aber trotzdem wichtig, diesen verborgenen Ereignissen, die in der Vergangenheit funkeln und die unsere Gegenwart noch prägen, seine größtmögliche Aufmerksamkeit zuzuwenden.« (Foucault 2003: 722f.) 139 Foucault 2003: 734. 140 Mit dem Spiegel weist es nach Tanke gleichzeitig auf die Episteme der Ähnlichkeit – im Sinne einer Integration von historischen Ablagerungen, Umformungen etc. – zurück und in der Darstellung des Malers im Mittelpunkt des Bildes auf Künftiges – im Sinne einer sich andeutenden Schwelle zur Moderne und ihrer Episteme Mensch – hin. Vgl. Tanke, Joseph J.: Foucault’s Philosophy of Art: A Genealogy of Modernity. London, New York (Continuum), 2009, S. 16ff.

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dung im griechischen Denken, als Umschlag von der Wahrheitsfindung aufgefasst als Vorherbestimmung und Offenbarung einer bestehenden Wahrheit im Sinne des prophetisch-anschaulichen Wahrheitstyps zum Offenlegen der Wahrheit durch Zeugenschaft und Nachforschung – Prozeduren der Wissensbestimmung bzw. des Rechts. Damit wird die Probe als anschauliches Mittel der Wahrheitsfindung im archaischen Griechenland in der Klassik durch die empirische Rekonstruktion mittels Recherche zum Geschehen ersetzt. Foucaults Analyse des Wandels des Rechts und der Wahrheitsformen in der Antike befinden sich im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit dieser und anderen griechischen Tragödien. Im Mittelpunkt seines Interesses steht die Rekonstruktion von Wissensformen und Wissenstransformationen und ihre Bedeutung für Subjektbildungen und Machtkonstellationen. Sie werden im historischen Kontext insbesondere in Bezug auf mit ihnen verbundene Praktiken untersucht, insbesondere bezogen auf Recht und Politik. Die Tragödie ›Ion‹ von Euripides wird als weiteres Beispiel für die Auflösung und Entwertung des archaischen Denkens – diesmal in Bezug auf das Mythologische – und die Ausbildung einer neuen demokratischen Wahrheitsform, der Parrhesia, bei der Menschen, nicht Götter, die Wahrheit verbürgen, herangezogen. Auch die Tragödien ›Elektra‹ und ›Orestes‹ von Euripides werden im Hinblick auf den Aspekt der Parrhesia – als Beispiel für deren positive und negative Form – untersucht. Die vom methodischen Vorgehen her vergleichbare Auseinandersetzung mit Cervantes’ Roman ›Don Quichote‹, der von Foucault als Dokument eines Umbruchs gelesen wird, vom Umschlag der Episteme Ähnlichkeit zur Episteme der Repräsentation, worin sich die Veränderung vom Denken der Renaissance hin zur Klassik abbildet, zeigt die Bedeutung der Literatur als Ort von Diskursen für Foucault. Die Literatur von Borges in ihrem kreativen Umgang mit Denkkategorien lässt nach Foucault im Fiktionalen den Konstruktcharakter von Denkformen, Ordnungsmustern, Begriffen und Regeln in extremer Form sichtbar werden und enthüllt damit deren Wirken im Gesellschaftlichen wie Politischen in allgemeiner Weise. Hier offenbart sich Foucaults Gleichbehandlung von historischen Fakten und fiktionalen literarischen wie visuellen Produkten aller Art als Monumente. Foucaults dramaturgische Schreibweise erscheint primär als Inszenierung von Ereignissen wie z.B. die Hinrichtung von Damiens am Anfang von Überwachen und Strafen und als Exemplifizierung wie u.a. durch das Mo-

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

dell des Panoptikums – Foucault zeigt eine Abbildung des Gefängnisbaus.141 Sie weist unterschiedliche Verfahrensweisen wie z.B. Dramatisierung, anschauliche Exemplifizierung, Konkretisierung und Kontrastierung auf. Dabei werden unterschiedliche Textsorten und visuelle Monumente verschiedener Wissensbereiche wie Biologie, Psychologie, Psychiatrie, Ökonomie, Linguistik, Statistik, Soziologie, Medizin, Literatur, bildende Kunst, Film etc. kombiniert. Auch Foucaults Schreibweise oszilliert zwischen poetisch-metaphorischem, dramatischem, wissenschaftlichem und philosophischem Schreiben – als Dramaturgie der Parrhesia mit einer suggestiven Kraft. Literatur und Kunst nehmen bei Foucault eine wichtige Rolle ein: »Es ist kein Zufall, dass fast alle seine wichtigen Arbeiten auf Kunstwerke zurückgreifen oder dort – wie im Fall von Die Ordnung der Dinge – sogar ihren Ausgangspunkt haben.«142 Schröder-Augustin stellt im Kontext der Beschäftigung mit Foucaults Auseinandersetzung mit Magritte143 fest: »Dieser literarische Stil verdunkelt allerdings eine klare philosophische Gedankenführung.«144 Er konfrontiert die Sichtweise Foucaults auf das Werk des Malers im Sinne einer Autonomie der Zeichen mit Magrittes Intention, der Reduzierung und Überwindung der Distanz zwischen Zeichen und Realität »in einem spontanen Akt des ›inspirierten‹ und ›unmittelbaren‹ Denkens.«145 Ein Rekurs auf die Intentionen von Künstlern ist bei Foucault allerdings gar nicht angedacht; Kunstwerke werden als für sich stehende Monumente betrachtet, die in der archäologischen und genealogischen Analyse in historisch-kritische Kontexte gestellt werden.

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Foucault verwendet eine Abbildung des von Bentham entwickelten Panoptikums, das für ihn das Paradigma der modernen Macht – bezogen auf die Form der Disziplinarmacht – darstellt. Die Verwendung der Bildmetapher kann als ein Verfahren der Symbolisierung von Macht und ihrer Funktionsweise angesehen werden. 142 Schröder-Augustin, Markus: Literatur und Kunst im Werk Foucaults. Berlin (Dissertation.de), 2001, S. 10. 143 Siehe dazu: Foucault, Michel: »Dies ist keine Pfeife«. In : Foucault, Michel: Dits et Escrits. Schriften. Bd. I. 1954-1969. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, S. 812-830. Und: Prange, Regine: Der Verrat der Bilder: Foucault über Magritte. Freiburg i.Br. (Rombach), 2001. 144 Schröder-Augustin 2001: 60. Er konstatiert weiter: »Die Stringenz der Konstruktionen verdankt sich nicht selten Auslassungen, Umdeutungen oder Überblendungen von Vorlagen. Man sollte im Rahmen eigener Analysen nicht davon ausgehen, dass etwas, das im Einzelnen präzise ist, es auch im Ganzen ist. Empirisch und methodisch ist Foucault unzuverlässig.« (Schröder-Augustin 2001: 13) 145 Schröder-Augustin 2001: 60.

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»Die Literatur gehört in denselben Bereich wie alle übrigen kulturellen Formen und alle sonstigen Äußerungen des Denkens einer Zeit. Das ist bekannt, aber meist bringt man diese Einsicht zum Ausdruck, indem man von Einflüssen, kollektiven Mentalitäten usw. spricht. Ich denke nun, selbst die Art, wie man die Sprache in unserer Kultur zu einer bestimmten Zeit benutzt, ist eng mit allen übrigen Formen des Denkens verbunden.«146 Die philosophische Gedankenführung Foucaults sucht gerade neue Zugangsweisen zur Konstruktion geschichtlichen Wissens im Sinne eines philosophischen Wahrsprechens, die Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Emotionalität integrieren, über die Anwendung stringenter Rationalität hinaus. Mit diesem sich an Nietzsche orientierenden Vorgehen fordert Foucault uns in unserem Philosophie- und Methodenverständnis heraus.

3.5.2

Sprache, Literatur und Visuelle Kunst bei Foucault

Michel Foucaults Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragestellungen ist mit seinem erkenntnistheoretischen Interesse verbunden, ästhetische Betrachtungen stehen in engem Zusammenhang mit der Untersuchung von Wissens-, Macht- und Subjektivierungsprozessen. Nach den historischen Formen von Wahrheit und Geltung im Bereich des Diskursiven und Dispositiven suchend untersucht er das Sagbare und Sichtbare bestimmter historischer Epochen, in denen Episteme oder Formen des historischen Apriori das Wissen einer Zeit strukturieren. Als Untersuchungsgegenstand dienen ihm insbesondere Literatur, Malerei, Film, Fotografie und auch Architektur. Ästhetische Werke inkorporieren Wissens- und Machtordnungen, bieten aber auch einen Gegenraum für neue, andersartige Erfahrungen. Foucault geht detailliert auf künstlerische Werke ein, wie z.B. auf Bilder von Velázquez, Monet, Kandinsky, Klee und Magritte, Filme von René Allio und Fotografien von Duane Michals. Zum anderen entwickelt Foucault eine spezifische Literaturtheorie und im Ansatz auch Kunsttheorie, in denen u.a. Fragen nach der Produktion und Rezeption von Kunst behandelt werden. Der Spielbegriff als literarisch-künstlerische, ästhetische und lebensweltliche Kategorie steht im Zentrum der Ästhetik Michel Foucaults und bestimmt

146 Foucault, Michel: »Ist der Mensch tot? [Gespräch mit C. Bonnefoy]«. In: Foucault, Michel: Dits et Escrits. Schriften. Bd. I. 1954-1969. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, S. 701.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

zum einen die Spezifität des Ästhetischen und zum anderen die Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Lebensweltlichen, die als Verbindung von Ethik und Ästhetik im Transformationsprozess des Subjekts im Sinne einer ethisch/ästhetische Selbstgestaltung verstanden wird. Das Spiel wird bei Foucault als Ermöglichungsraum für Überschreitungen näher charakterisiert und steht damit in Zusammenhang mit Subjektwerdungsprozessen. Damit geht Foucault über die von Derrida in seiner Konzeption des Spielbegriffs vorgenommene Autonomisierung im Ästhetischen147 hinaus und erhebt – in indirekter Weise in der Tradition von Schiller stehend – den Anspruch auf ethische Relevanz im Subjektivierungsprozess, die im Kern Prozesse der Macht und den Zusammenhang von Macht und Wissen betreffen, eine pädagogische Dimension inkludierend. Der Spielbegriff steht bei Foucault gleichzeitig im Zentrum von Literatur- und Kunsttheorie, Subjekttheorie und Ästhetik. Um der ästhetischen Dimension von Literatur und Kunst gerecht zu werden, spricht Foucault von ›Quasi-Diskursen‹,148 die über das Diskursive hinausgehend u.a. Besonderheiten im Ästhetischen beinhalten. Literatur offenbart dabei nach Foucault auch den Charakter der Sprache: »Die gesamte Literatur steht letztlich im selben Verhältnis zur Sprache wie das Denken zum Wissen. Die Sprache bringt das unbewusste Wissen der Literatur zum Ausdruck.«149 Bei Foucault heißt es: »Angefangen beim Igitur, […] zeigt Mallarmés Erfahrung (und Mallarmé war ein Zeitgenosse Nietzsches) sehr deutlich, dass sich das eigentümliche, autonome Spiel der Sprache genau dort befindet, wo der Mensch verschwunden ist. Seither können wir sagen, die Literatur sei der Ort, an dem der Mensch fortwährend zugunsten der Sprache verschwindet. Wo ›es spricht‹, kann der Mensch nicht sein.«150 Diese Besonderheit der Literatur, die Ontologie der Sprache wie auch ›das unbewusste Wissen‹ zum Ausdruck bringen zu können, lässt die Literatur zum besonderen Forschungsgegenstand werden.

Vgl. Sonderegger, Ruth: Für die Ästhetik des Spiels: Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2000. 148 Vgl. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor? (Vortrag)«. In: Foucault, Michel: Dits et Escrits. Schriften. Bd. I. 1954-1969. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, S. 1020. 149 Foucault 2001: 702. 150 Ibd. 147

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Diskurs und ›Form‹, ›Figur‹ und ›formale Komposition‹ offenbaren laut Foucault eine besondere Eigenständigkeit des Visuellen; sie können nicht auf Worte reduziert werden und »haben jeweils ihre eigene Seinsweise; aber sie unterhalten komplexe, verschachtelte Beziehungen.«151 Die Untersuchung der Systeme in ihrem Funktionieren lässt die Besonderheit von Visualität im Hinblick auf die Frage der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit zutage treten – gerade auch im Vergleich zu sprachlich-diskursiven Phänomenen. Die Werke von Goya, Bosch und Breughel gelten bei Foucault »als Wahrnehmungsformen zeittypischer Erfahrungen des Wahnsinns«152 und präsentieren und ermöglichen andersartige, Grenzen sprengende Erfahrungen. Die Malerei von Manet und Klee machen deren Charakter und Elemente als visuelle Sprache, Praktik und Materialität sichtbar. Leinwand, Fläche, das Geflecht der horizontalen und vertikalen Linien und Diagonalen, die Materialität der Farben, Licht und Schatten etc. lassen die Spezifität der Malerei hervortreten. »Aber er [gemeint ist Manet] hat in die Darstellung die materiellen Grundelemente der Leinwand einbezogen. Er war im Begriff, das Bild als Objekt, die Malerei als Objekt zu erfinden.«153 Hier sieht Foucault eine Transformation der Malerei aufscheinen: »Das war die grundlegende Bedingung dafür, daß man sich eines Tages ganz von der Repräsentation löste und die Fläche lediglich mit ihren Eigenschaften, ihren materiellen Eigenschaften spielen ließ.«154 Diesen von Manet eingeschlagenen Weg geht Paul Klee weiter: »Klees Bilder zerlegen die Malerei gleichfalls in ihre Elemente und fügen sie zusammen: diese Elemente mögen zwar einfach sein, aber sie basieren auf dem ganzen Wissen der Malerei und sind davon durchdrungen.«155 Für

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Vgl. Foucault, Michel: »Worte und Bilder«. In : Foucault, Michel: Dits et Escrits. Schriften. Bd. I. 1954-1969. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, S. 796. Schröder-Augustin 2001: 53. Foucault, Michel: Die Malerei von Manet. Berlin (Merve), 1999, S. 47. Und an anderer Stelle heißt es: »Manet erfindet aufs neue, womöglich auch zum ersten Mal, das Bild als Objekt, das Bild als Materialität, als farbiger Gegenstand, der von einem äußeren Licht beleuchtet wird und vor dem und um das herum sich der Betrachter bewegen kann.« (Foucault 1999: 10) Foucault 1999: 47. Foucault 2001: 703. Und weiter heißt es zur Malerei von Klee: »Seine Malerei ist kein art brut, sondern eine Malerei, die wieder Besitz vom Wissen um ihre grundlegendsten Elemente ergriffen hat. Genau diese scheinbar einfachsten, spontansten Elemente, selbst jene, die nicht erscheinen und niemals erscheinen sollten, macht Klee auf dem Bild sichtbar.« (Foucault 2001: 702f.)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Foucault ist die Kunst Klees für die Malerei des 20. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer visuellen Elemente als prototypisch zu betrachten: »Ich denke, die Malerei Paul Klees repräsentiert für unser Jahrhundert am besten, was für Velázquez im Verhältnis zu seiner Zeit darstellt. Klee lässt in der sichtbaren Form alle Gesten, Handlungen, Graphismen, Spuren, Linien, Flächen erscheinen, die konstitutiv für die Malerei sein können, und macht so aus dem Akt des Malens das ausgebreitete, leuchtende Wissen der Malerei als solcher.«156 Der Vergleich mit Velázquez offenbart, dass Kunst Transformationen des Wissens und deren Brüche durch Wechsel der Episteme bzw. diskursiven Regeln und Leerstellen beinhaltet. Die Analyse des Ästhetischen wird von Foucault auch im Medium des Visuellen in den Kontext der Diskursanalyse gestellt. Foucaults Beschäftigung mit dem Bereich der Visualität erfolgt parallel zur sprachlichen Diskursivität: Das Herausarbeiten zugrundeliegender Regeln der Formierung des Diskurses steht im Mittelpunkt, somit die Suche nach den Wahrnehmung und Denken strukturierenden Elementen, nach dem historischen Apriori des Visuellen im erkenntnistheoretischen Sinne, ohne dass Foucault die Besonderheit des Visuellen gegenüber dem Sprachlichen vernachlässigt. Das Sichtbare ist somit als die Wissensordnung einer Zeit/Epoche aufzeigend analysierbar, wie Foucault das in seiner berühmten Analyse des Bildes Las Meninas darlegt. Visuelle Diskurse sind bei Foucault dabei immer auch im Rahmen des Bezugs von Wissen, Macht und Subjekt zu verorten. So gerät u.a. auch die Architektur als subjektformierende Machttechnik wie z.B. der panoptische Gefängnisbau ins Visier der Betrachtungen. Neben der formierenden Kraft der Regeln betont Foucault allerdings auch deren grundsätzliche Möglichkeit zu Transformation und Transgression und damit den potentiell emanzipatorischen Charakter des Visuellen in subjektbildender Hinsicht. Foucault geht es dabei um den Freiheitsraum zur Selbstgestaltung, um Autonomie, »um nicht auf diese Weise regiert zu werden.«157 Als Schwerpunkt des Foucault’schen Interesses an visuellen Fragen lässt sich demnach der Zusammenhang von Subjektkonstitution und

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Foucault 2001: 702. Foucault führt zum Vergleich zu Velázquez Bild aus: »Die Hoffräulein stellten sämtliche Darstellungselemente dar: den Maler, die Modelle, den Pinsel, die Leinwand, das Spiegelbild; sie zerlegen das Bild in all jene Elemente, die es zu einer Darstellung machten.« (Foucault 2001: 703) Foucault 1992. 52.

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Visualität ausmachen, den Nexus von Wissen und Macht integrierend. Der Aspekt der Subjektivierung bildet bei Foucault den Fokus der Auseinandersetzung mit dem Visuellen und die Verankerung in der erkenntnis-, macht-, subjekttheoretischen und affektiven Dimension erfährt eine Erweiterung ins Politisch/Ethische/Ästhetische. Literatur und Kunst wird in der Ästhetik bzw. Ethik des Selbst zum Medium der Selbstformung des Subjekts, indem das Individuum sein Leben nach dem Vorbild eines Kunstwerks ausrichtet. Foucaults Einbettung der Auseinandersetzung mit literarischen und künstlerischen Objekten in eine philosophische Argumentation variiert von einer eher funktionalistisch zu nennenden Betrachtungsweise im Rahmen der Diskurs- und Machttheorie hin zu einer ästhetischen Analyse von gestalterischen Verfahren und Elementen, der Behandlung von Fragen der Autorschaft und Rezeption, der Subjektkonstitution mittels ästhetischer Techniken und der Lebensweise als Stilisierung seiner Selbst – auch in einer ethischen Dimension. Im engeren Sinne dem Ästhetischen bzw. einer ästhetischen Theorie zuzurechnende Themenkomplexe werden im Kontext der grundlegenden Theoreme Wissen, Macht und Subjekt seiner Philosophie untersucht. Die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst ist demnach in hohem Maße vom argumentativen Zusammenhang abhängig. Foucault legt dabei keine ausgearbeitete ästhetische Theorie vor, sondern lädt ein, aus den verstreuten Überlegungen einen Zusammenhang herzustellen und damit seine versteckte ästhetische Theorie bloßzulegen bzw. zu rekonstruieren. Foucaults Ästhetik ist zum einen »im Spannungsfeld zwischen Kant und Nietzsche«158 angesiedelt und entspricht zum anderen dem literatur- und kunstsoziologischen Interesse eines Bourdieu. Seine »implizite Ästhetik dient […] als Fluchtpunkt eines Ansatzes, der mit den Mitteln der Philosophie nicht auskommt.«159 Ästhetik muss deshalb als integrativer Teil seiner Philosophie angesehen werden und durchdringt diese tiefgehend. Auch deshalb bildet sie sich gleichermaßen im Schreiben Foucaults ab. »Für Foucault bringt die Erfahrung von Kunst und Literatur die fundamentale Wahrheit zum Ausdruck, dass jede menschliche Erfahrungsstruktur im Grunde eine zwar in sich konsistente, aber an sich selbst willkürliche Ordnung ist.«160 Dabei fungiert Ästhetik zum einen wie ein Vergrößerungsglas für das auffindbare historische 158 Schröder-Augustin 2001: 15. 159 Schröder-Augustin 2001: 81. 160 Schröder-Augustin 2001: 82.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Apriori und zum anderen wie eine Gegenwelt, in der etwas Neues zum Vorschein kommt und erprobt werden kann.

3.6

Geschichte, Fortschritt und Macht bei Foucault

3.6.1

Geschichte und Gegengedächtnis – Foucaults Geschichtsverständnis

Foucaults Philosophie wird in kontroverser Weise als ›Befreiung der Geschichte‹ gelesen und anderseits wird gegenüber Foucault der Vorwurf der ›Geschichtsverleugnung‹ erhoben.161 Foucault selbst versteht sich als Historiker, der zum einen das Geschichtsverständnis und die historische Methodologie revolutionieren und zum anderen mittels der Geschichte die Philosophie transformieren möchte. Er betreibt Geschichte als Gesellschaftskritik, indem sie zur Analyse der aktuellen Gesellschaft herangezogen wird. Geschichte kann in kritischer Weise ein Gegengedächtnis darstellen, indem in ihr durch archäologische und genealogische Verfahren der Nexus zwischen Macht und Wissen sowie Subjektbildungsprozessen aufgedeckt wird. Welche Geschichtsauffassung lässt sich bei Foucault feststellen und welche Funktion wird dem geschichtlichen Denken in seiner Philosophie im Einzelnen zugesprochen? Lässt sich bei Foucault von einer Philosophie der Geschichte sprechen? Welche Bedeutung hat die Analyse von Macht in diesem Kontext und welches Machtkonzept liegt ihr zugrunde? Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Legitimität von Geschichte ausgehend vom Versuch einer ›history of the present‹.162 Castel weist in diesem Zusammenhang auf die Gefahr der Manipulation von Geschichte bei Foucault hin.163

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Foucault gilt vielen als »ahistorischer und antihumanistischer Denker«. In: Breitenstein, Peggy: Die Befreiung der Geschichte: Geschichtsphilosophie als Gesellschaftskritik nach Adorno und Foucault. Frankfurt, New York (Campus), 2013, S. 161. Breitenstein konstatiert das Vorhandensein einer Geschichtsphilosophie als Ontologie der Gegenwart bei Foucault. (Breitenstein 2013: 161) Zum Vorwurf der Geschichtsverleugnung siehe Fußnote 158. Castel fragt: »What use did Foucault make of history, and what use can be made of it in order to ›problematize‹ a current question?« In: Castel, Robert: »›Problematization‹ as a Mode of Reading History« In: Goldstein, Jan (Hg.): Foucault and the Writing of History. Cambridge, Oxford (Blackwell Publishers), 1994, S. 237. Vgl. Cramer 1994: 242.

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Foucault revolutioniert das Geschichtsverständnis und wendet sich gegen das ›Hegelsche […] Privileg der Geschichte‹.164 Bei Veyne heißt es: »Foucault ist der vollendete Historiker, ist die Vollendung von Historie. Daß dieser Philosoph einer der sehr großen Historiker unserer Zeit ist, daran zweifelt niemand, er könnte jedoch auch der Urheber der wissenschaftlichen Revolution sein, um die alle Historiker bis jetzt nur herumgeschlichen sind. […] Er ist der erste vollständig positivistische Historiker.«165 Veyne nennt Foucaults Rekurs auf die Praktiken – weg von der Betrachtung von Ideologien – eine kopernikanische Wende.166 »Die GenealogieGeschichte à la Foucault erfüllt also vollständig das Programm der traditionellen Geschichte; sie ignoriert die Gesellschaft, die Ökonomie etc. nicht, aber sie strukturiert diese Materie anders: nicht nach Jahrhunderten, Völkern, Kulturen, sondern nach Praktiken.«167 Neben den Praktiken untersucht Foucault im Rahmen seiner historischen Analyse gleichermaßen Diskurse und bringt die Mechanismen ihres Funktionierens ans Licht. »In der Geschichte gibt es nur individuelle oder sogar einzigartige Konstellationen, und jede von ihnen ist mit den verfügbaren Mitteln vollständig

164 Foucault 2003: 729. 165 Vgl. Veyne 3 2015: 7f. Und weiter: »Foucault ist Historiker im Reinzustand: alles ist historisch, die Geschichte ist vollständig erklärbar, und alle Ismen sind zu verabschieden.« (Veyne 3 2015: 58) Suárez Müller konstatiert in diesem Zusammenhang im Hinblick auf Foucaults Vorgehen: »Seine Kritik an der idealistischen Geschichtstheorie ist jedoch nur deshalb möglich, weil er eine positivistische Perspektive einnimmt, deren Naivität er sich bewusst ist.« In: Suárez Müller, Fernando: Skepsis und Geschichte: Das Werk Michel Foucaults im Lichte des absoluten Idealismus. Würzburg (Königshausen & Neumann), 2004, S. 129. 166 Veyne 3 2015: 14. Foucault wendet sich gleichermaßen gegen den Historismus und das marxistische Geschichtsverständnis. 167 Veyne 3 2015: 75. Foucault sagt dazu: »Einige von ihnen behaupten, ich leugnete die Geschichte. Sartre behauptet das, glaube ich, ebenfalls. Man könnte ihnen entgegnen, dass sie die Geschichte gierig verschlingen, die ihnen andere zubereitet haben. Sie verschlingen sie unzerkaut, als fertiges Produkt. Ich will damit nicht sagen, jeder müsse selbst die Geschichte konstruieren, aber tatsächlich ist es so, dass ich mit den Arbeiten der Historiker nie ganz zufrieden war. Auch wenn ich auf viele historische Studien Bezug genommen und mich ihrer bedient habe, habe ich mir immer vorbehalten, in den Bereichen, die mich interessierten, die Analysen selbst vorzunehmen.« In: Foucault, Michel: »Gespräch mit Ducio Trombadori«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. IV. 1980-1988. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005, S. 94.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

erklärbar.«168 Die Verfahren der Archäologie169 und Genealogie bilden – ausgehend von detaillierten Beschreibungen – das methodische Rüstzeug seines neuen Geschichtsverständnisses und ergänzen einander. Sie »sind nur zwei Aspekte einer einzigen skeptisch-historischen Methode, die nur eines beabsichtigt: die Zerstörung jedes Universalanspruches.«170 Auch die Analyse der Problematisierungsformen setzt die Anwendung der »archäogenealogischen Analytik« fort.171 Das veraltete Geschichtsverständnis beschreibt Foucault als »Abfolge von Großereignissen in einem hierarchisch gegliederten Bestimmungsgefüge«, Geschichte werde gleichzeitig als »individuelles Projekt und als Totalität« aufgefasst.172 Bei Foucault dagegen geht es um den Kontext von Macht, Wissen und Geschichte, denn Wahrheit selbst ist geschichtlich zu verstehen.173 Die Untersuchung der Praktiken der Macht wie des Wissens lässt ein verborgenes ›Spiel der Herrschaftsbeziehungen‹ und Kräfteverhältnisse zu Tage treten.174 Dabei geht es – in einer neuen 168 Veyne 3 2015: 58. 169 »Alle Historie ist Archäologie, ihrer Natur nach und nicht aufgrund einer Option: die Geschichte erklären und explizieren besteht darin, sie zunächst insgesamt wahrzunehmen, die angeblichen natürlichen Gegenstände zurückzuführen auf datierte und rare Praktiken, die sie objektivieren, und diese Praktiken zu erklären, indem man nicht von einer einzigen Antriebskraft ausgeht, sondern von allen angrenzenden Praktiken, in denen sie verankert sind.« (Veyne 3 2015: 76). »Foucault dagegen entrostet die vertrauten Banalitäten, die natürlichen Gegenstände in ihrem Horizont vielversprechender Rationalität, um der Realität – der einzigen, der einzigartigen, unserer – ihre irrationale, ›rare‹, beunruhigende historische Originalität wiederzugeben.« (Veyne 3 2015: 77) 170 Suárez Müller 2004: 122. 171 Suárez Müller 2004: 126. 172 Foucault, Michel: »Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben [Gespräch mit R. Bellour]« In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. I. 1954-1969. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001, S. 751. 173 »Die Wahrheit und ihre ursprüngliche Herrschaft haben selbst ihre Geschichte.« In: Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. II. 1970-1975. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2002, S. 170. Weiter heißt es bei Foucault: »Der Genealoge braucht die Historie […]. Er muss es verstehen, die Ereignisse der Geschichte zu erkennen, ihre Erschütterungen, ihre Überraschungen, ihre glücklichen Siege und kaum verwundenen Niederlagen, die von den Anfängen, Atavismen und Erbschaften zeugen.« (Foucault 2002: 171) Foucault bezieht dabei den Leib mit ein, er schreibt: »Die Genealogie stellt als Analyse der Herkunft eine Verbindung zwischen Leib und Geschichte her. Sie soll zeigen, dass der Leib von Geschichte geprägt und von ihr zerstört wird.« (Foucault 2002: 174) 174 Vgl. Foucault 2002: 175.

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Weise – um die Rekonstruktion von Entstehung und Herkunft, in der diese nicht vom Ende her oder als bruchlose Kontinuität verstanden werden.175 Entstehung markiert für Foucault einen ›Ort der Konfrontation‹ von Kräften, den er als ›Zwischenraum‹ bezeichnet, um ihn als eine Art von ›Nicht-Ort‹ in seiner Beweglichkeit zu charakterisieren.176 Dabei schreiben sich Gewalttätigkeiten im Prozess der Veränderung von Herrschaftsstrukturen in ein Regelsystem ein.177 Die ›wirkliche Historie‹ im Sinne Foucaults lehnt eine überhistorische Perspektive ab, der metaphysische Annahmen zugrunde liegen, die vom Absoluten ausgehen; Foucault will die Untersuchung des Werdens betreiben.178 »Die wirkliche Historie sieht sich die Dinge aus nächster Nähe an, doch dann reißt sie sich von ihnen los, um sie aus der Distanz zu betrachten (ähnlich dem Blick des Arztes, der eindringt, um eine Diagnose zu stellen und den Unterschied zu benennen). Der historische Sinn steht dem Mediziner sehr viel näher als der Philosophie.«179 In seinem Vorgehen verdeutlicht der ›wirkliche‹ Historiker die Perspektivität seines Wissens und versucht nicht den Eindruck von überhistorischem Wissen zu vermitteln.180 »Wir haben bereits gesehen, daß Foucaults Geschichtstheorie das wichtigste Mittel einer skeptischen Zerstörung des Überhistorischen und Universellen ist. Zugleich steht diese Theorie im Dienste einer Kritik der Gegenwart.

175 176 177

Vgl. Foucault 2002: 174. Vgl. Foucault 2002: 176. »Das große Spiel der Geschichte dreht sich um die Frage, wer sich der Regeln bemächtigt; wer an die Stelle derer tritt, die sie für sich nutzen; wer sie am Ende pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt und gegen jene wendet, die sie einst durchsetzten; wer in den komplizierten Apparat eindringt und ihn so funktionieren lässt, dass die bisherigen Herrscher nun von ihnen beherrscht werden.« (Foucault 2002: 177) 178 »Die ›wirkliche‹ Historie unterscheidet sich von der Historie der Historiker dadurch, dass sie keinerlei Beständigkeit voraussetzt: Nichts am Menschen – und auch nicht an seinem Leib – ist so unveränderlich, dass man die anderen dadurch begreifen und sich selbst an ihnen wiedererkennen könnte.« (Foucault 2002: 179) 179 Foucault 2002: 182. »Die Historie hat Besseres zu tun als die Magd der Philosophie zu sein und von der unvermeintlichen Geburt der Wahrheit und der Werte zu erzählen«. (Foucault 2002: 182) 180 Vgl. Foucault 2002: 182. Bei Foucault heißt es weiter: »Die wirkliche Historie betreibt an dem Ort, an dem sie steht, die Genealogie der Historie.« (Foucault 2002: 183)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Die Geschichtstheorie Foucaults hat also eine doppelte und komplementäre Funktion. Eine historistische und skeptische einerseits und eine kulturkritische andererseits. Sie wird einerseits gegen den Universalismus und anderseits gegen die Moderne eingesetzt.«181 Foucault umreißt sein Ziel folgendermaßen: »Es geht darum, die Historie zu einem Gegengedächtnis zu machen und darin eine ganz andere Form von Zeit zur Entfaltung zu bringen.«182 Geschichte als Gegengedächtnis lässt sich des Weiteren als Form von Kritik bzw. Aufklärung verstehen und hat somit eine philosophische und politische Aufgabe.

3.6.2

Macht im Kontext von Geschichte und Philosophie bei Foucault

Die Analyse von Machtformen und Machtpraktiken ist nach Foucault eine zentrale Aufgabe der Philosophie.183 Er stellt sich die, wie er sagt, ›naive‹ Frage: »Worin bestehen eigentlich die Machtbeziehungen?«184 Zum Verhältnis von Philosophie und Macht heißt es bei Foucault:

181 182

Suárez Müller 2004: 119. Foucault 2002: 186. Foucault sagt: »In allen Fällen geht es um eine Verwendungsweise der Historie, die sie für immer von dem gleichermaßen metaphysischen und anthropologischen Modell des Gedächtnisses befreit.« (Foucault 2002: 186) 183 »Vielleicht könnte man sich vorstellen, dass es für die Philosophie noch eine gewisse Möglichkeit gibt, in Bezug auf die Macht eine Rolle zu spielen, die nicht mehr die Rolle der Begründung oder der Verlängerung von Macht wäre. Vielleicht kann die Philosophie noch eine Rolle auf der Seite der Gegenmacht spielen, unter der Bedingung, dass diese Rolle nicht darin besteht, gegenüber der Macht das Gesetz der Philosophie selbst zur Geltung zu bringen, unter der Bedingung, dass die Philosophie aufhört, sich entweder als Pädagogik oder als Gesetzgebung zu denken, und sie es sich zur Aufgabe macht, die Strategien der Gegner innerhalb der Machtbeziehungen, die angewandten Praktiken, die Widerstandsherde zu analysieren, zu erhellen, sichtbar zu machen und folglich die Kämpfe zu intensivieren, die sich um die Macht herum abspielen, indem die Philosophie aufhört, die Frage der Macht in Kategorien von Gut und Böse zu stellen, sondern vielmehr im Begriff der Existenz.« In: Foucault, Michel: »Die analytische Philosophie der Politik (Vortrag)«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften. Bd. III. 1976-1979. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003, S. 682. Foucault fährt fort: »Folglich könnte in diesem Zusammenhang heute Aufgabe der Philosophie sein: Wie verhält es sich mit den Machtbeziehungen, in denen wir festsitzen und in die die Philosophie selbst seit mindestens hundertfünfzig Jahren verstrickt ist?« (Foucault 2003: 682) 184 Ibd.

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»Und ich frage mich, ob dieser Gegensatz zwischen philosophischer Reflexion und Machtausübung den Philosophen nicht besser kennzeichnete als seine Beziehung zur Wissenschaft, denn schließlich kann die Philosophie im Verhältnis zur Wissenschaft seit langem nicht mehr die Funktion der Begründung spielen. Umgekehrt verdient die Rolle der Moderation in Bezug auf die Macht immer noch gespielt zu werden.«185 Foucault vergleicht diese Aufgabe der Philosophie mit der analytischen Philosophie, in deren Fokus der alltägliche Gebrauch der Sprache steht und nennt diesen von ihm geforderten Typus eine analytisch-politische Philosophie,186 in der der Begriff des Spiels eine machtpolitische Wendung erhält.187 Foucault unterscheidet große von bescheideneren Spielen und möchte gerade letztere einer genauen Analyse zuführen. Er konstatiert, dass in den Zeiten der Anwendung von pastoraler Macht im politischen Bereich – ursprünglich eine christlich-religiöse Machttechnik – eine theoretische Hinwendung zu diesen Machttechniken notwendig werde. Er stellt in diesem Zusammenhang auch fest, dass sich der Widerstand gegen die Macht mit seiner destabilisierenden Wirkung heute gerade gegen diese individualisierenden, kontrollierenden und überwachenden Machttechniken188 richten würde. Revolution als 185 Foucault 2003: 679. 186 Foucault führt aus: »Ich glaube, dass man sich auf dieselbe Weise eine Philosophie vorstellen könnte, deren Aufgabe es wäre, zu analysieren, was sich alltäglich in den Machtbeziehungen abspielt, eine Philosophie, die zu zeigen versuchte, worum es sich bei den Machtverhältnissen, den Formen, den Gegenständen, den Zielen handelt und was diese sind. Eine Philosophie, die eher auf all die Beziehungen gerichtet wäre, die den Gesellschaftskörper durchziehen, als auf die Spracheffekte, die das Denken durchziehen und ihm zugrunde liegen.« (Foucault 2003: 683) 187 Bei Foucault heißt es dazu: »Auch die Machtbeziehungen werden gespielt, es sind Machtspiele, die es zu analysieren gilt in Begriffen von Taktik und Strategie, in Begriffen von Regel und Zufall, in Begriffen von Einsatz und Ziel. Auf dieser Linie habe ich ein wenig zu arbeiten versucht und ich möchte einige Linien der Analyse aufzeigen, die man verfolgen könnte.« (Foucault 2003: 684) 188 Foucault sagt: »Wenn man es etwas näher betrachtet, dann ist man im Gegenteil über die Aufmerksamkeit erschrocken, die der Staat den Individuen schenkt; man ist erschüttert von all den Techniken, die vorbereitet und entwickelt wurden, damit das Individuum nicht auf irgendeine Weise der Macht entkommt, weder der Überwachung noch der Kontrolle, noch dem Weisen, noch der Berichtigung und der Korrektur.« (Foucault 2003: 694) Humanwissenschaften und Statistik sind in diesen Prozess involviert. »Die Macht ist paradoxerweise umso individualisierter, je bürokratischer und etatistischer sie ist.« (Foucault 2003: 694)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Widerstandsform, die einen Umsturz der Macht anstrebt, sei nicht mehr die die Gegenwart kennzeichnende Form des Widerstands. Foucault fragt: »Erleben wir am Ende dieses 20. Jahrhunderts so etwas wie das Ende des Zeitalters der Revolution?«189 und stellt fest, dass obwohl das seit der französischen Revolution bestehende Monopol der Revolution nicht mehr besteht, es dennoch verfrüht und unzulässig sei, einen Abgesang auf die Revolution als Widerstandsform vorzunehmen.190 Foucaults Deutung von Kants geschichtsphilosophischer Betrachtung der französischen Revolution als Zeichen für den Fortschrittswillen der Menschen zeigt den engen Bezug zwischen Aufklärung und Revolution bei Kant, ohne dass dieser ein Befürworter revolutionärer Maßnahmen ist. Im Gegenteil, Kant kritisiert die Revolution als dem Recht gegenüber zerstörerisch, so dass sie einen Rückfall in den Naturzustand bewirke. Diese Ablehnung der Revolution191 lässt sich zwar gleichermaßen bei Foucault beobachten, dennoch bleiben die beiden Fragen Was ist Aufklärung? und Was ist Revolution? für Foucault Leitfragen, die die politische Philosophie in ihrem Vorgehen ausrichten.192 Sie umfassen die theoretische und die praktische Dimension und eröffnen die Diskussion um das angemessene politische Handeln – auch in ethischer Hinsicht. Foucault untersucht Macht als Spiel vielfältiger Kräfte auf der makrophysikalischen und der mikrophysikalischen Ebene, wobei zum einen institutionell gesicherte Herrschaftsstrukturen, Kräfte die sich im Spiel verfestigt haben, und zum anderen Mechanismen und Praktiken, die das alltägliche Handeln der Menschen im Kleinen bestimmen, vorliegen. Macht verfährt in Bezug auf ihre Strategien und Technologien produktiv, indem sie Ermöglichungsräume schafft, die gleichermaßen Auswirkungen auf die Subjektkonstitution haben. Foucault strebt eine Gesellschaft an, in der ein möglichst hoher Grad von Selbstbestimmung möglich ist und verfestigte bzw. sich verfestigende Machtstrukturen aufgebrochen werden. Dabei ist für ihn widerständisches Handeln in vielfältiger Form in die Logik der Macht eingeschrieben. Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit werden von Foucault

189 Foucault 2003: 690. 190 Vgl. ibd. 191 Foucault sieht Revolutionen als Faktum der Geschichte an, warnt aber vor ihren zerstörerischen Folgen. 192 Vgl. Foucault 2005: 846.

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als Kriterien für die Beurteilung von Subjektbildungsprozessen, Subjektformen und gesellschaftlichen Zuständen herangezogen, bilden somit das unausgesprochene normative Fundament seiner Philosophie. Die von Suárez Müller vorgenommene Engführung des Begriffs Spiel im Sinne von Kampf und Krieg führt zu einer Vernachlässigung der nicht aggressiven, gewaltfreien Formen der Machtausübung im Kommunikationszusammenhang in Foucaults Machttheorie, so dass Suárez Müller zu einer falschen Schlussfolgerung kommt. Er stellt fest: »Damit scheint das Kriegsmodell bei Foucault an seine Grenze gestoßen zu sein, denn nicht Kampf und Krieg, sondern Zustimmung und Anerkennung des institutionellen Rahmens wird auf diese Weise der bestimmende Begriff des regulativen Ideals einer möglichst gewaltfreien Gesellschaft.«193 Er fordert: »Das Kampfmodell der Macht müßte deshalb durch ein dialogisches Modell der Macht ergänzt werden.«194 Dieses dialogische Verständnis muss allerdings als in Foucaults Bestimmung der Macht als Spiel der Kräfte bereits integriert gedacht werden, bei dem Kampf und Krieg nur bestimmte Erscheinungsweisen des Spiels darstellen. Macht und Gewalt sind bei Foucault relationale Begriffe; Gewalt ist als integrativer Bestandteil von Macht anzusehen. Die Unterscheidung zwischen einem positiven Machtbegriff und Macht als Gewaltverhältnis beruht nach Foucault auf der dem Anderen/den Anderen im Kräftespiel möglichen und zuerkannten Selbstbestimmung und Freiheit. Gewalt in all ihren unterschiedlichen Formen zerstört potentiell das für ›Macht-Spiele‹ notwendige Freiheitspotential der Beteiligten, so dass Gewalt als der Rand der Macht betrachtet werden muss. »Gewalt ist paradoxer Weise deshalb gefährlich, weil sie den sozialen Kampf neutralisiert«, denn sie bricht »das Resistenzvermögen des anderen«.195 Suárez-Müller konstatiert bei Foucault den Versuch durch den Gewaltbegriff eine Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Macht vollziehen zu können. Allerdings zeigt sich, dass Foucault unterschiedliche Legitimationsstrategien hinsichtlich der verschiedenen historischen Macht- und Gewaltformen annimmt. Die von Foucault untersuchten Formen der Macht wie Souveränitätsmacht, pastorale Macht,

193

Suárez Müller 2004: 108. Weiter heißt es: »Die Aufhebung der Resistenz durch Zustimmung ist selbst nicht mehr als Kampf zu verstehen. Doch Kommunikation hört deswegen nicht auf, Macht zu sein, denn auch über innere Zustimmung ist eine Steuerung des fremden Handelns möglich.« (Suárez Müller 2004: 111) 194 Suárez Müller 2004: 112. 195 Suárez Müller 2004: 109.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Disziplinarmacht, Biomacht etc. inkorporieren unterschiedliche Gewaltbegriffe und einen unterschiedlichen Umgang mit der Gewalt. Während die Souveränitätsmacht ihre Macht im Vorzeigen der Gewaltanwendung bis hin zur Tötung demonstriert und bestätigt, ist z.B. bei der Biomacht Rassismus – als Staatsrassismus – notwendige Voraussetzung für die Legitimation von physischer Gewaltanwendung. Es zeigt sich, dass die verschiedenen Formen der Machtausübung – synchron wie diachron betrachtet – gleichzeitig mit unterschiedlichen Weisen der Gewaltanwendung und ihrer Legitimierung einhergehen, die Foucault zu analysieren versucht. Er argumentiert in Bezug auf die mit den Phänomenen Macht und Gewalt verbundenen unterschiedlichen Aspekte differenzierter als von Suárez-Müller angenommen. In seiner Philosophie formuliert er den Anspruch, dass in der Ausübung von Macht die Freiheit des Anderen respektiert werden müsse. Er fordert in diesem Kontext eine Kunst des Regierens auf verschiedenen Ebenen des menschlichen Agierens: bezogen auf das Selbst, die zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion und das Regieren und Herrschen in instutionalisierten Zusammenhängen wie z.B. Ökonomie und Politik.

3.6.3

Literatur und Geschichte – Monumente und Geschichtsschreibung

Foucaults archäologisch und genealogisch ausgerichtetes Geschichtsverständnis mit seiner besonderen Zielsetzung und spezifischen Art der Geschichtsschreibung sucht nach neuen Verfahren, neuen Objektbereichen und neuen Ausdrucksweisen und -formen: »Diese Methode, in der die metaphorische und diskursive Verwendung ikonographischer Zeichen eine wichtige Rolle einnimmt, verweist auf einen neuen Stil der Geschichtsschreibung, der ebenso problematisch wie faszinierend erscheint: zunächst auf den Versuch, Geschichte nicht als vorgegebene Wirklichkeit, sondern als Konstrukt zu betrachten, dessen Objekte nicht autonome Tatsachen, sondern vom Historiker konstruierte, komplexe Beziehungsphänomene sind; zudem auf das Bestreben, den Objektbereich von Geschichtsschreibung auf grundlegende, aber weitgehende verdrängte kulturelle, mentale und wissenssoziologische Gegenstände auszudehnen und hierbei sämtliche Diskursformen – von ›traditionellen‹ Quellentypen wie Rechtstexten und politischen Traktaten bis zur Literatur und Malerei – einzubeziehen; und schließlich auf die Zielsetzung, in

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der historiografischen Schreibweise selbst die ästhetischen und pikturalen Fiktionen dem Erkenntnisinteresse von Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie nutzbar zu machen.«196 Dabei macht Foucault sich auf die Suche nach Brüchen, Lücken und Diskontinuitäten, die Transformationen von Wissens- und Machtformen offenbaren und der historischen Formation inne liegende Episteme, Regeln, Subjektpositionen und Strukturen deutlich werden lassen. So kann z.B. die Verwendung der Narrenschiff-Metapher, die die Behandlung der Wahnsinnigen in der Epoche der Renaissance vor dem später angewandten Verfahren der Einschließung von Wahnsinnigen repräsentiert, als ein Beispiel für die Besonderheit der Foucault’schen Geschichtsschreibung betrachtet werden. Fakten und Fiktionen werden in ihr tendenziell ununterscheidbar.197 Das Anliegen, geschichtliche Monumente ausgehend von Problematisierungen insbesondere unter dem Aspekt der Bedeutung für die aktuelle gesellschaftspolitische Situation zu lesen, charakterisiert Foucaults Umgang mit Geschichte grundlegend. Bei der Analyse von Geschichte geht es Foucault immer um das Heute. Castel warnt allerdings vor »the temptation to rewrite history on the basis of contemporary interests«198 und davor, Fragen nicht aus dem Kontext der historischen Periode heraus zu entwickeln. Auch dem Versuch der Datierung des Beginns von aktuellen Problematisierungen im Geschichtsverlauf steht er kritisch gegenüber.199 Castel erläutert in Bezug auf die Schwierigkeit »to speak of the same problematization« bei einem zu beobachtenden Prozess permanenter Transformationen.200 Hinsichtlich der

196 Schröder-Augustin 2001: 46. 197 Vgl. Schröder-Augustin 2001: 87. »Literarisches und Reales, Fiktionales und Faktisches, Narren und Irre, all dies erscheint bei Foucault ungeschieden auf einer Ebene.« (Schröder-Augustin 2001: 93) Schröder-Augustin kommt zu dem Schluss: »Insgesamt wirft Foucaults Deutung des Narrenschiffs im Kontext der Histoire de la folie mehr Fragen auf als sie beantwortet.« (Schröder-Augustin 2001: 99) 198 Castel 1994: 239. 199 Castel sagt: »A problematization emerges at a given moment. How can this appearance be dated? What gives one the right to interrupt the move toward an undefined past with the assertion that this current question began to be formulated at such and such a moment in the past.« (Castel 1994: 239) 200 Bei Castel heißt es dazu: »But in the case of problematization the task is even more demanding [verglichen mit Epocheneinteilungen], since the unifying principle might not be the coexistence of its elements in the past but their relationship to a question being asked today.« (Castel 1994: 239)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Auswahl von Daten im Hinblick auf die untersuchte Problematisierung heißt es bei ihm weiter: »Therefore it leads to the ›choice‹ of significant elements from a past time. But obviously it does not reconstruct the totality of an epoch with all its institutions, its plurality of individuals and groups, its innumerable problems. How is it possible to avoid making an arbitrary or careless selection?«201 Foucault würde zudem oft auf Forschungen und Daten von Geschichtswissenschaftlern zurückgreifen, die seine Verwendung »at best an approximation and at worst fiction« nennen würden.202 Castel stellt die Frage: »How does one justify a different reading of historical sources, when the rules for handling them are a matter of historical methodology?«203 Eine Reflexion der benutzten Kriterien unterbleibe bei Foucault zumeist, sei aber unerlässlich. Wissen über die Gegenwart dürfe nicht auf Kosten des Wissens über die Vergangenheit gewonnen werden und historisch erwiesene Daten müssten unangetastet bleiben. Die Anwendung von neuartigen Kategorien, z.B. aus anderen Wissenschaften bedürfe der Überprüfung – besonders auch durch Historiker. Im Weiteren fordert Castel, dass die Problematisierungen bei Foucault im Vergleich zu klassischen Verfahren der Geschichtswissenschaft und zu denen anderer Wissenschaften wie z.B. Soziologie und Psychologie einen Zuwachs an Wissen repräsentieren müssten.204 Hier ist Castel zuzustimmen, Foucaults Forschungsergebnisse, Verfahren und Erkenntnisgewinne erfordern eine kritische Überprüfung innerhalb der verschiedenen Wissenschaften und seine geschichtstheoretische Grundlegung bedarf hinsichtlich aller mit ihr verbundenen Implikationen einer philosophischen, philosophiehistorischen und wissenschaftstheoretischen Diskussion. Foucaults Revolutionierung der Geschichte lässt die Vorstellung von dem, was Geschichte ist und was ein Historiker leistet, ins Wanken geraten. »Ist Foucault noch Historiker? Auf diese Frage gibt es keine richtige und keine falsche Antwort, denn die Geschichte selbst ist einer dieser falschen natürlichen Gegenstände: sie ist, was man aus ihr macht, sie hat sich immer wieder

201 202 203 204

Ibd. Castel 1994: 240. Ibd. Vgl. Castel 1994: 251f.

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verändert, sie durchforscht keinen ewigen Horizont.«205 Foucaults Ziel ist es die Beziehung zwischen Geschichte und gegenwärtiger Realität zu schreiben und den Moment der Transformation in Neues in der Vergangenheit wie in Bezug auf Künftiges zu erfassen.206 Veyne konstatiert: »Was Foucault macht, wird Geschichte heißen und damit auch sein, wenn die Historiker sich des Geschenks bemächtigen, das er ihnen anbietet, und sie diese Trauben nicht zu grün finden.«207 Dabei versetzt die »Fiktionalität des foucaultschen Stils der Geschichtsschreibung« durch das Literarische seiner Schreibweise208 oft »die Trennlinien zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung«209 und »Foucaults Texte müssen wie Wissenschaft und Literatur gelesen werden.«210 Ich möchte hinzufügen: wie Philosophie im Gewand von Wissenschaft und Literatur im Sinne eines erweiterten, sich experimentell öffnenden Geschichtsund Philosophieverständnisses. Foucaults Philosophie der Geschichte stellt für die Geschichtsphilosophie und die Geschichtswissenschaft eine Heraus-

205 Veyne 3 2015: 77. Foucault selbst versteht sich als Historiker: »Man hat gesagt, dass ich Strukturalist und Anti-Historiker sei, wohingegen ich mit dem Strukturalismus nichts zu tun habe und Historiker bin.« (Foucault 2003: 729) Und weiter: »Es ist richtig, dass es in den fünfziger Jahren eine gewisse Befreiung von einer bestimmten Weise der Geschichtsbetrachtung gegeben hat, ohne dabei jedoch die Geschichte zu leugnen oder abzulehnen und die Historiker zu kritisieren, sondern um die Geschichte anders zu schreiben. Nehmen sie Barthes, er ist ein Historiker in meinem Sinne. Nur betreibt er Geschichte nicht, wie man es bislang getan hat. Das wurde jedoch als Ablehnung der Geschichte empfunden.« (Ibd.) 206 »Die Diagnose kann sich also nicht damit begnügen, sich mit der Gegenwart als mit einem gegebenen Phänomen auseinanderzusetzen, sie muss in der Gegenwart dem Augenblick ihres Aufbruchs vorgreifen, dort, wo sie über sich selbst hinausweist und als eine vollendete Zukunft erscheint.« (Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 356) 207 Veyne 3 2015: 77. 208 Dieser Eindruck entsteht u.a. durch Konstruktionen von Methaphern und Bildstrategien des Raumes. 209 Vgl. Schröder-Augustin 2001: 43-44. Bei Schröder-Augustin heißt es weiter: »Die räumlich konnotierten Metaphern werden in den Siebzigerjahren durch eher genetischphysikalische Metaphern abgelöst: ›Mikrophysik der Macht‹, ›kapillare Machttechniken‹, ›Dispositive‹, ›Technologien des Selbst‹, ›Matrix‹, ›Herde‹ im medizinischen Sinn.« (Schröder-Augustin 2001: 44) 210 Schröder-Augustin 2001: 45. Schröder-Augustin kritisiert in diesem Zusammenhang: »Bei aller Originalität und Vielfalt der Thesen Foucaults liegen aber die Limitationen auf der Hand: suggestive und verwirrende Argumentationsführungen, ein Mangel an Identität und Bestimmtheit sowie Mythologisierung.« (Schröder-Augustin 2001: 45f.)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

forderung dar. Wie von einer »Fremdheit der Geschichte«211 lässt sich bei Foucault gleichermaßen von einer ›Fremdheit der Philosophie‹ sprechen.

3.7 3.7.1

Foucault und die zeitgenössische afrikanische Philosophie Diskurs und Macht. Mudimbes rethinking von Foucaults Philosophie

Mudimbe212 verbindet die archäologische Dekonstruktion der westlichen Konzeption des afrikanischen Anderen in Ethnologie, Anthropologie etc. mit einer Untersuchung der afrikanischen Auseinandersetzung mit deren Wurzeln, Inhalten und Implikationen und der Suche nach einer afrikanischen Identität. In der genealogischen Dimension geht er auf das geschichtliche Geworden-Sein ein, so dass Fragen des Wissen-Macht-Zusammenhanges in kolonialen sowie postkolonialen Kontexten bedeutsam werden. Hier zeigt sich neben dem Rückgriff auf diskursanalytische Elemente der Theorie Foucaults die Relevanz von dessen Machtkonzeption für die philosophische Konzeption Mudimbes. Wie Foucault213 untersucht Mudimbe Kunstwerke, um Denkstrukturen und ›epistemological configurations‹ an ihnen aufzuzeigen. Am Beispiel von

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Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 167. Seine wichtigsten Publikationen sind The Invention of Africa (1988), Parables and Fables: Exegesis, Textuality and Politics in Central Africa (1991), The Surreptitious Speech: Présence Africaine and the Politics of Otherness 1947-1987 (1992), Africa and the Disciplines, coeditor (1993), The Idea of Africa (1994), Tales of Faith: Religion as Political Performance in Central Africa (1997), Nations, Identities, Cultures, editor (1997), Diaspora and Immigration, coeditor, South Atlantic Quarterly (Special Issue 1999), The Normal and Its Orders, coeditor (2007), und On African Fault Lines: Meditations on Alterity Politics (2013). Masolo beschreibt das philosophische Anliegen Mudimbes mit folgenden Worten: »As is discernible from the titles and subject matter of his publications, Mudimbe’s major concern has been the politics of power and the invention of the identity of the Other, in this case the European invention of Africa through the writings and other practices that, together, led to the formation of the idea of Africa in the hands of her European colonizers.« In: Masolo, D. A.: »Africanizing Philosophy: Wiredu, Hountondji, and Mudimbe«. In: Afolayan, Adeshina; Falola, Toyin (Hg.): The Palgrave Handbook of African Philosophy. New York (Palgrave Macmillan), 2017, S. 61-73. So rekurriert Foucault in seinem Buch Die Ordnung der Dinge z.B. auf Velázquez' Bild Las Meninas, um die für die Klassik zentrale Episteme ›Repräsentation‹ aufzuzeigen.

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Hans Burgkmair’s Bild Exotic Tribe (1508) sowie u.a. an den Bildern Moor Dancers (1480) von Erasmus Grasser und Katleen the Moor woman (1521) von Albrecht Dürer analysiert er die künstlerische Darstellung des exotisch Anderen im Sinne der in der Renaissance Wissen strukturierenden Episteme ›Ähnlichkeit‹ als ›blackened whites‹ – »the sameness signified by the white norm«.214 Er kontrastiert diese Darstellung mit der einer neuen ›epistemological order‹ in Bezug auf Foucaults Episteme der Klassik ›Repräsentation‹, in der in Taxonomien Klassifizierungen nach Merkmalsklassen vorgenommen werden. Bildbeispiele hierfür sind u.a. Two Negroes (1697) von Rembrandt und Study of Four Blacks’ Heads (1620) von Rubens. Bei Mudimbe heißt es dazu: »[O]n the one hand, signs of an epistemological order which, silently but imperatively, indicate the process of integrating and differentiating figures within the normative sameness; on the other hand, the excellence of an exotic picture that creates a cultural distance, thanks to an accumulation of accidental differences, namely, nakedness, blackness, curley hair, bracelets, and strings of pearls.«215 Mudimbe betrachtet die Darstellung Schwarzer in der europäischen Kunst vom Mittelalter an – insbesondere bei Stefan Lochner, Rogier van der Weyden und Albrecht Dürer –, in dem »Africa first emerged«216 bis ins 20. Jahrhundert. »The Negro emerged naturally as the distant other, the curious other who stands outside the norm, the model that is the European.«217 Für moderne Kunst mit ihren Kunststilen wie z.B. Kubismus, Fauvismus und Expressionismus wird sogenannte ›primitive‹ afrikanische Kunst im Weiteren zur Inspirationsquelle für ihre neuartigen Gestaltungsabsichten und -formen. »The ›barbarian‹ becomes an alternative, as in the case of Gauguin, who, seduced by the epiphany of the difference, could proclaim: ›primitive art is a nourishing milk,‹ and, more provocatively, ›despite its beauty, the Greek has been an error.‹«218 Nach Mudimbe schwankt der Umgang mit afrikanischer Kunst

214 Mudimbe, Valentim Yves: The Invention of Africa: Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge. Bloomington, Indianapolis, London (Indiana University Press; James Currey), 1988, S. 8. 215 Mudimbe 1988: 9. 216 Mudimbe in: Fraiture, Pierre-Philippe; Orrells, Daniel (Hg.): The Mudimbe Reader. Charlottesville, London (University of Virginia Press), 2016, S. 184. 217 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 185. 218 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 192.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

im Westen zwischen den Tendenzen der Anthropologisierung bzw. Ethnologisierung und der Ästhetisierung. »›African art‹ and ›primitive art‹ are the products of invention […] but authentic (African) artists exert their freedom to escape this deterministic framework and invent […] a present and a ›better tomorrow‹ […].«219 Die sich im 18. Jahrhundert bildende Diskursformation ›Afrikanische Kunst‹,220 die mit einem Prozess der Ästhetisierung der afrikanischen Kultgegenstände verbunden ist, und die African Studies – die Erfindung des ›Africanism‹ – bilden diesen von Foucault beschriebenen Wechsel der Denkstrukturen ab, der im Kontext von Relationen zwischen Macht und Wissen mit dem Anspruch auf europäische Dominanz und Herrschaft gekoppelt ist. Bei Mudimbe heißt es dazu: »At any rate, it is the ›power-knowledge‹ of an epistemological field which makes possible a domineering or humbled culture.«221 Der ›epistemological shift‹ liegt nach Mudimbe gleichermaßen dem Versuch der Klassifikation der Menschen im 18. Jahrhundert zugrunde.222 »Colonialism becomes its project and can be thought of as a duplication and a fulfillment of the power of the Western discourses on human varieties.«223 Mudimbes Anliegen ist die Offenlegung des ›epistemological ethnocentrism‹ und ›cultural ethnocentrism‹,224 der in der Anthropologie besonders sichtbar wird und sich mit dem kolonialen Anliegen Europas verbindet. In diesem Zusammenhang untersucht er Konzepte christlicher Missionierung in Afrika und ethnologische und anthropologische Theorien in Bezug auf die Konstruktion des Selbst und des Anderen. Westliche wie afrikanische Diskurse werden 219 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 179. 220 »African tourist art and its contradictions (is it an art? in which sense and according to what kind of aesthetic grid?) are just an ad vallem consequence of the process which, during the slave trade period, classified African artefacts according to the grid of Western thought and imagination, in which alterity is a negative category of the Same. It is significant that a great number of European representations of Africans, or more generally of the continent, demonstrated this ordering of otherness.« (Mudimbe 1988: 12) 221 Mudimbe 1988: 11. Bei Mudimbe heißt es weiter: »From now on it will develop into a clearly visible power-knowledge political system.« (Mudimbe 1988: 16) 222 »They formed part of the series of oppositions and of the levels of classification of humans demanded by the logic of the chain of being and the stages of progress and social development. Explorers just brought new proofs which could explicate ›African inferiority‹.« (Mudimbe 1988: 13) 223 Mudimbe 1988: 16. 224 Vgl. Mudimbe 1988: 15, 19.

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von Mudimbe mit Hilfe von archäologischen wie genealogischen Methoden untersucht, wobei er auf zentrale Begriffe, Inhalte und Methoden Foucaults zurückgreift. Für Mudimbe stellen die afrikanischen Objekte insbesondere »a live memory« und »a social practice of history« dar, damit bettet er die ›worked objects‹ in einen geschichtlichen Rahmen von Erinnerung, Zeugnis und Zeit ein. »Did you really say history? Is there such a link that could rigorously link worked objects to their genesis and, at the same time, integrate their testimonies into a history of the society that produces them?«225 Mudimbe bejaht seine rhetorischen Fragen: »Indeed, African worked objects signify an ›archival‹ dimension with a commemorative function. They impress onto their own society a silent discourse and, simultaneously, as loci of memory, recite silently their own past and that of society that made them possible.«226 Er spricht von einer ›transformation of memory‹ und von einer ›metamorphosis of memory‹ als (post)kolonialer Erfahrung und Form epistemischer Gewaltanwendung, die rekonstruiert werden müsse.227 Dabei sind gleichermaßen Gegenwart und Zukunft betroffen. »Here, too, the choice of words used in the title nearly captures Mudimbe’s critical ambition and urge to question a tripartite segmentation of African history (precolonial, colonial, postcolonial). Reprendre, the French verb that Mudimbe does not translate for fear of not rendering its complexity, conveys the idea of a continuum between the past and the present.«228 Neben den visuellen künstlerischen Objekten stehen bei Mudimbe auch literarische Werke im Mittelpunkt des Interesses. In Bezug auf die ›invention‹ afrikanischer Literatur spricht er von den von Foucault aufgestellten Regeln des Ausschlusses229 wie z.B. externe Prozeduren u.a. Privilegien des Sprechens bzw. Schreibens, die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft, ›internen‹ Prozeduren u.a. Klassifizierung, Autorschaft, Distribution und Kommentierung, und z.B. Systemen der Verknappung und Diskurszugehörigkeit. Diese Prozeduren zieht er zur Analyse der afrikanischen Literatur heran, um u.a. den Zusammenhang mit den Bedingungen der »present-day

225 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 198. 226 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 197. 227 Vgl. Mudimbe, Valentim Yves: The Idea of Africa. Bloomington, Indianapolis, London (Indiana University Press; James Currey), 1994, S. 134. 228 Fraiture/Orrells 2016: 175. 229 Vgl. Mudimbe 1994: 178f.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

neocolonial postindependence«230 aufzuzeigen, z.B. hinsichtlich der benutzen Sprachen, der zur Verfügung stehenden Verlage und literarischen Zeitschriften. Die Kritik Mudimbes rekurriert zur Analyse der afrikanischen Literatur seiner Zeit eindeutig auf Foucaults Begrifflichkeit und Methodik.231 Des Weiteren bezieht er sich im Bereich der Literatur besonders auf Mythen, Fabeln und Sagen der Antike, um in ihnen »the domain of Greco-Roman Africa« herauszufiltern, z.B. in Bezug auf die Bedeutung von Libya. »How Libya has been included into, and excluded from, the domain of modern classical scholarship reflects methodological presuppositions of classical scholars themselves.«232 In ihnen bilden sich nach ihm bereits auf Afrika bezogene Grundstrukturen des europäischen Wissens ab. Bei Mudimbe heißt es: »it gets us thinking how we make myth, how we make myth make our reality.«233 Die Untersuchung der Mythen legt ihren historischen Kern offen: »It tracks Mediterranean history as the history of myth.«234 Und weiter heißt es: »At any rate, reading them today is reading their history.«235 Wie Foucault rekurriert Mudimbe auf für die Geschichtsschreibung ungewöhnliche, eher literarisch zu nennende Texte, die neu gedeutet werden. Dies entspricht einem veränderten Geschichtsverständnis und einer neuen Sichtweise auf die Unterscheidung von Fakten und Fiktionen. Dabei wird auch das Verhältnis zum Anderen offengelegt: »the concept designates an attitude and a relation to otherness and its transcription to Greek.«236 Nach Mudimbe sind demnach die Verfahren, die dem kolonisatorischen Denken zugrunde liegen, bereits viel früher angelegt; sie unterliegen im historischen Prozess Aussparungen, Umwertungen und Neuperspektivierungen sowie epistemologischen Verschiebungen, Umstrukturierungen und Brüchen. »Mudimbe’s engagement with Greco-Roman antiquity offers us an

230 Mudimbe 1994: 183. 231 Mudimbe verweist hier auf Foucault, Michel: »The Discourse of Language (Appendix)«. In: Foucault, Michael: The Archaeology of Knowledge And The Discourse on Language. New York (Pantheon), 1972, S. 215-237. 232 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 156. 233 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 159. 234 Ibd. 235 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 161. 236 Ibd. An anderer Stelle heißt es bei Mudimbe: »And it is precisely this modern problematization of objectivist historicism that the Bibliotheca anticipated in its effort to show that history was constantly being retold in numerous mythic media.« (Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 162)

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excellent case study for thinking about the relationship between postcolonial critique and colonial discourse.«237 Er möchte die Anfänge »of the West’s love-hate relationship with Africa, an idyllic mother figure and political breakdown and strife«238 und »the presence of Africa at the origins of Europe«239 aufzeigen. Mudimbe kritisiert in diesem Zusammenhang die »universal Oedipus thesis« westlicher Konzepte, die z.B. auch der strukturalistischen Ethnologie und dem europäischen Fortschrittsparadigma im Vergleich zum sogenannten afrikanischen ›Primitivismus‹ zugrunde liegt. Bei Fraiture/Orrells heißt es dazu: »Just as the universalization of the Oedipus thesis reflects a Western ethnocentric perspective, so the classical Greek historians, who in Mudimbe’s reading wrote at least in part for the glory of their home, turn out to be ethnocentrically based.«240 Und weiter: »Mudimbe yet again demonstrates the connections and relationships between precolonial, colonial, and postcolonial inventions of Africa.«241 Mudimbe zitiert im Hinblick auf seine Konzeption von Geschichte Foucault: »›History, as we know, is certainly the most erudite, the most aware, the most conscious, and possibly the most cluttered area of our memory; but it is equally the depths from which all beings emerge into their precarious, glittering existence‹ (2002: 218). There is no problem understanding that both the treatment and manipulation of history can quite naturally lead to a kind of violence that is part of all historical projects.«242 Es ist notwendig »to revise the concept of history altogether«,243 denn Geschichte muss im Sinne Foucaults als konstruiert angesehen werden. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot ist für Mudimbe sowohl »father of

237 Fraiture/Orrells 2016: 123. 238 Fraiture/Orrells 2016: 122. 239 Fraiture/Orrells 2016: 120. Weiter spricht er von »the centrality of Africa in the Greek and Roman imagination.« (Fraiture/Orrells 2016: 120) 240 Fraiture/Orrells 2016: 113. Mudimbe möchte das »historical paradigm of primitive/civilized which the Oedipus thesis installs« dekonstruieren und kritisieren. (Vgl. Fraiture/ Orrells 2016: 112) »Foucault was a useful resource in Mudimbe’s attempt to debunk the universalization of Western ethnological and psychoanalytical narratives.« (Fraiture/ Orrells 2016: 111) 241 Ibd. 242 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: 137. Mudimbe zitiert hier Foucault. 243 Mudimbe in Fraiture/Orrells 2016: XXIII.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

history« als auch »father of lies«.244 Die in dem Prozess der Geschichtsschreibung involvierte Gewalt ist eine epistemische Gewalt, die mit bestimmten Machtoperationen verbunden gedacht werden muss und somit im MachtWissens-Komplex angesiedelt ist. »In this book [gemeint ist The Invention of Africa], Mudimbe is interested in showing how knowledge about Africa was also the production of power relations between Africans and its observers.«245 Diese Form der Macht steht im Fokus der Untersuchung Mudimbes und zielt auf sein Programm der Dekolonialisierung des Denkens. Die versteckte Gewaltanwendung muss nach Mudimbe zunächst aufgedeckt werden, um sie dann einer Veränderung zugänglich machen zu können. Neben der epistemischen Macht ist im Rahmen der Theorie Mudimbes besonders die Disziplinarmacht, die sich mit dem Projekt der christlichen Konversion verbindet, bedeutsam. »It is not only a dream, but a politics that disciplines beings, space, and time in the name of unspoken models.«246 Weiter heißt es bei ihm: »Throughout the long period of acculturation, an average of fifteen years, the candidate learns, in the Foucauldian sense, how to become ›a docile body.‹ The seminary structures itself as a ›panopticon‹ through three main factors, the space, which reproduce a monastic model, the repartition of time, and the constitution of transparent consciousnesses.«247 Hier rekurriert Mudimbe auf Foucaults Modell des Panoptikums aus Überwachen und Strafen, das auf visueller Kontrolle beruht und mit deren Internalisierung verbunden ist. Indirekt klingen darüber hinaus die Verfahren der Pastoralmacht an, bei der es um Lenkung durch die Erkundung der individuellen Seele geht. Auch verweist Mudimbe auf die auf rassischen Kategorien basierende räumliche Trennung, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat.248 Hinsichtlich der Fragen nach Wissen und Macht konstatiert er in Bezug auf Afrika: »It is, in any case, troubling to note that since the fifteenth century the will to truth in Europe seems to espouse perfectly a will to power.«249 Er fährt fort: 244 245 246 247 248 249

Fraiture/Orrells 2016: 118. Fraiture/Orrells 2016: XXIV. Mudimbe 1994: 112. Mudimbe 1994: 121. Vgl. Mudimbe 1994: 136. Mudimbe 1994: 212. Weiter heißt es bei Mudimbe: »These monstrosities [the slave trade, colonialism and Nazism] impacted on the idea of Africa. One might thus reflect about the similitudes and structural connections they have with both the Western will to knowledge and the will to power.« (Ibd.)

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»[T]he will to truth of this history (that claims to be back to the Greeks) exemplifies a negative paradigm: any successful will to truth, converted to a dominating knowledge and actualized as an imperialist project (geographically internal or external), might transform itself into a will to ›essentialist‹ prejudices, divisions, and destructions.«250 Mudimbe geht in seiner Philosophie – diese damit in grundlegender Weise charakterisierend und ihre Zielsetzung offenbarend – im Sinne Amselles von der universalisierenden Tendenz einer Logiques métisses aus, in der der ›ethnological reason‹ durch den ›raison métisse‹ ersetzt wird und eine »critical reappraisal of the politcs of universality«251 angestrebt wird. In diesem Zusammenhang rekurriert er auf Herskovits Forderung nach einer ›world literature‹,252 einem transkulturellen Dialog und dem Konzept der ›levels of truth‹.253 Mudimbe sagt: »As Walter Benjamin once put it, ›Es existiert bereits als ein sich-Darstellendes‹: Truth is always representing itself.«254 In Bezug auf Afrika zeigt sich nach Mudimbe »a polysemic ›idea‹ of Africa« and »the complexity of the idea of Africa«, deren »multiple and contradictory discursive practices« weiterer Untersuchungen bedürfen.255 Bei der Erkundung der Wahrheit in ihren unterschiedlichen Graden und Formen geht es auch um die Würdigung der »composite memories«256 und im Prozess des »rereading of the past«257 um die Neuschreibung von afrikanischer Geschichte im Weltkontext. Mudimbe ist dem afrozentrischen Projekt der Suche nach einem authentischen Afrika, nach einer romantisierten afrikanischen Vergangenheit und einer idealisierten afrikanischen Tradition, dem ein Begriff von Rasse zugrunde liegt, gegenüber kritisch258 und unterscheidet zwischen historischen

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Mudimbe 1994: 213. Mudimbe 1994: 53. Mudimbe 1994: 52. Vgl. Mudimbe 1994: 55. Ibd. Mudimbe 1994: 211f. Mudimbe 1994: 212. Mudimbe 1994: 211. »Mudimbe has nevertheless been critical of African and African American scholarship that has appropriated Western ideas about race under the guise of objectivity in order to produce an idealized and romanticized depiction of an ancient African past. Whereas in 1973 Mudimbe subtly warned his Zairean readers about the relationship between ethnocentrism and historiography, so in the 1980s living in the United States,

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Formen des »race-thinking« und des »racism«.259 Er macht auf »the complexity of the relationship between anticolonial/postcolonial thought and Western colonial intellectual framework« aufmerksam.260 Das Foucault’sche Analyseinstrumentarium ist die Grundlage seiner Untersuchungen; er bewegt sich in seinem Denken im Rahmen des experimentellen Philosophieverständnisses und der Grundtheoreme der Philosophie Foucaults, deren Paradigmen, Begriffe und Methoden werden auf neue – Afrika betreffende – Fragestellungen bezogen. Besonders bedeutsam sind für ihn Wissensanalyse, Geschichtskonzept, Raumdenken und hinsichtlich der Machttheorie Foucaults die Formen epistemische Macht, Pastoralmacht sowie Disziplinarmacht.

Mudimbe shows himself to be more openly critical of Afrocentric historical discourse.« (Fraiture/Orrells 2016: 116) 259 Vgl. Mudimbe 1994: 100. Den Übergang zum ›racism‹ markiert für Mudimbe im 19. Jahrhundert Arthur de Gobineau mit seiner Schrift Essai sur l’inégalité des races. 260 Fraiture/Orrells 2016: XXIV.

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3.7.2

Mbembe reading Foucault. Die Kritik der schwarzen Vernunft, Rasse und Nekropolitik

Der afrikanische Philosoph Achille Mbembe geht in seinen Überlegungen von Mudimbes Theorem der ›Erfindung‹ des Kontinents aus261 und erläutert seine Vorstellung von der Vielfältigkeit, Vielstimmigkeit und Besonderheit Afrikas folgendermaßen: »Was Afrika genannt wird, existiert nur als Serie von Absetzbewegungen, Überlagerungen, Farben und Verkleidungen, Gesten und Schein, Geräuschen, Rhythmen, Ellipsen und Übertreibungen, falschen Verbindungen, wahrgenommenen und imaginierten Dingen, Ausschnitten von Räumen, Synkopen und Intervallen, enthusiastischen Momenten und ungestümem Wirbel, Phantasmen, die unaufhörlich aufeinander folgen und einander dennoch überlappen, wobei jedes sich mit den Worten von Merleau-Ponty am Rande vorbehält, in das andere überzugehen.«262 Mbembe rekurriert desweiteren wie Mudimbe in kritischer Weise auf Foucault und untersucht sowohl westliche als auch afrikanische bzw. afrodiasporische Diskurse im Hinblick auf Wissens- und Machtfragen und deren Ineinandergreifen.263 Mbembe erweitert den Horizont der Betrachtung und bezieht im Unterschied zu Mudimbe zusätzlich Machtformen wie Biomacht und Souveränitätsmacht mit ein. Dabei unterzieht er Foucaults Machttheorie einer kritischen Würdigung und erweitert diese für die machtanalytische Untersuchung der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation, z.B. durch die Machtform Nekropolitik bzw. Nekromacht.264 Damit denkt Mbembe Fou-

Vgl. Mbembe, Achille: Postkolonie: Zur Politischen Einbildungskraft im Afrika der Gegenwart. Wien, Berlin (Turia + Kant), 2016b, S. 248. 262 Mbembe 2016b: 305. 263 So rekurriert Mbembe z.B. hinsichtlich der Wahrheitsdiskurse des 18. Jahrhunderts über die Natur, das Lebendige und die Merkmale des Menschen, die die Führungsrolle Europas stützen, auf Foucaults Werk Die Ordnung der Dinge. (Vgl. Mbembe 2014: 40) 264 »Die nekropolitische Macht basiert gleichsam auf einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen Leben und Tod, als wäre das Leben nur das Medium des Todes. Ständig versucht sie die Unterscheidung zwischen Mitteln und Zwecken aufzuheben. Deshalb ist sie auch gleichgültig gegenüber objektiven Anzeichen von Grausamkeit. […] Deshalb vermag die nekropolitische Macht ihn bis ins Endlose zu vermehren […], wie man sie gegenwärtig auf allen Schauplätzen des Terrors und des Gegenterrors beobachten kann.« (Mbembe 2017: 73f.) 261

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

cault kritisch weiter. Auch greift er den Aspekt der Subjektkonstitution durch Diskurse und Machteinwirkungen auf und bezieht sie auf das afrikanische Subjekt265 als koloniales266 und postkoloniales Subjekt,267 wobei der Aspekt Rasse im Zentrum steht. Die Identität und die Vorstellungen des Kolonialsubjekts von sich selbst werden durch Wissensordnungen und Praktiken der Macht entscheidend geprägt.268 Das Kolonialsubjekt ist der Souveränitätsmacht, die mit dem Recht zu töten verbunden ist, und der Disziplinarmacht, die eine Art ›Domestizierung‹ des Unterworfenen – »taming« und »training«269 – anstrebt, ausgeliefert.270 Das postkoloniale Subjekt befindet sich nach Mbembe in einem Prozess des Werdens und muss im Vergleich zum 265 »Die Konstitution des afrikanischen Selbst als reflexives Subjekt vollzieht sich auch über das Tun, das Sehen, das Hören, das Schmecken, das Fühlen, das Begehren oder das Berühren. […] Dadurch kann vom afrikanischen Subjekt gesagt werden, es sei so wie jedes andere menschliche Subjekt: Es ist der Produzent von signifikanten Handlungen. Es versteht sich von selbst, dass diese signifikativen menschlichen Gesten nicht unbedingt für alle auf dieselbe Weise Sinn ergeben.« (Mbembe 2016b: 48f.) 266 Das koloniale Subjekt wird nach Mbembe in der Beziehung zwischen Kolonialherr und Kolonialisiertem durch den Blick des Anderen angerufen: »Within this relationship, the colonized individual can be visaged only as power’s property, something that belongs to it. […] Indeed, being no more than a ›body-thing,‹ it is neither the substrate nor the affirmation of any mind or spirit.« In: Mbembe, Achille: On Private Indirect Government. Dakar (Council for the Development of social Science Research in Africa), 2000, S. 9. Weiter heißt es: »As a force of production, he was in fact set apart, trained, compelled to do heavy work, obliged to bring him into submission, but also to extract from him the maximum possible usefulness.« (Mbembe 2000: 11) 267 Das postkoloniale Subjekt ist »ein Subjekt der Erfahrung und ein anerkennendes Subjekt, nicht nur in dem Sinn, dass es eine bewusste Existenz ist, oder auch weil es ein perzeptorisches Bewusstsein der Dinge besitzt, sondern wiederum in dem Maße, in dem sein ›in der konkreten Welt leben‹ auch über seine Augen, seine Ohren, seinen Mund, kurz, sein Fleisch, seine Körperlichkeit verläuft.« (Mbembe 2016b: 71) Dabei werden neben der Emotionalität auch Vernunft und Rationalität wichtige Momente der Beschreibung des afrikanischen Subjekts. (Vgl. Mbembe 2016b: 70) 268 Vgl. Mbembe 2000: 20. Weiter heißt es bei Mbembe: »The colonial relationship qua relationship of subjection was, in fact, inseparable from specific modalities of punishment and from a concern for productivity at the same time. In the latter regard, it differs qualitatively from the postcolonial relationship.« (Mbembe 2000: 11) 269 Vgl. Mbembe 2000: 16. 270 »A master-servant relationship bound him to the structure of power, the arsenal of paternalism not hesitating to express itself under the ideological mask of benevolence and the banner of humanism.« (Mbembe 2000: 17) Der Kolonialherr selbst spricht diesbezüglich oft von »a ›burden‹«. (Mbembe 2000: 23)

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kolonialen Subjekt einer genauen Untersuchung zugeführt werden. Es geht darum, »eine Reflexion bezüglich des postkolonialen afrikanischen Subjekts, seine Geschichte und seine Gegenwart in der Welt in Gang zu setzen.«271 Mbembe entwickelt von diesen Überlegungen ausgehend die Konzepte der Postkolonie272 und des Afropolitanismus und grenzt sich damit sowohl von der postkolonialen Theorie als auch von den Subaltern Studies ab. »Doch indem sie zu sehr auf Differenz und Alterität insistierten, verloren diese Diskurse das Gewicht des Mitmenschen aus den Augen, ohne das es unmöglich ist, eine Ethik des Nächsten zu denken – und noch weniger die Möglichkeit einer gemeinsamen Welt, einer gemeinsamen Humanität in Betracht zu ziehen.«273 Dies versucht Mbembe mit seinem Afropolitanismus zu erreichen, der sowohl ein politisches als auch ethisches und ästhetisches Programm darstellt. Dabei geht es um eine globale Sicht auf Afrika – den Einbezug in den Weltkontext. Auch das Verhältnis von Kolonialisiertem und Kolonialherrn bzw. ehemaligem Kolonialherrn wird neu interpretiert. Mbembe möchte den Schwerpunkt der Argumentation von der Fokussierung auf das Thema des ›Vatermords‹ auf den Aspekt der ›Gewalt des Bruders gegenüber dem Bruder‹ verlegen.274 Der Horizont seiner politischen Theorie besteht darin ›den Tod dem Tod auszuliefern‹, was eine Utopie darstellt, die nur »in poetischer oder sogar träumerischer Form ausgedrückt werden kann.«275 Diese Utopie bezeichnet Mbembe als ›radikales Projekt‹ – als ›radikale Utopie‹. Und weiter heißt es bei ihm: »Die Politik des Lebens, das heißt die Möglichkeitsbedingungen des afrikanischen Subjekts, ›sich selbst zu erreichen‹, an sich selbst

271 Mbembe 2016b: 71. 272 »In diesem Sinne muss von der Postkolonie festgestellt werden, dass sie eine Epoche der Verschachtelung ist, ein Raum des Wildwuchses, der nicht nur aus Unordnung, Zufall und Unvernunft besteht, der auch nicht unergründlich und unbewegt ist, sondern aus einer Art gewaltsamem Ausbruch und seiner Art hervorgeht, die Welt zusammenzufassen.« (Mbembe 2016b: 305) 273 Mbembe 2016b: 16. Mbembe fährt fort: »Andererseits machen sie den Kampf zwischen ›Vater‹ und ›Sohn‹ – das heißt das Verhältnis von Kolonialherrn und Kolonialisierten – zum letztinstanzlichen Paradigma des Politischen in außereuropäischen Gesellschaften und verschleiern damit die Intensität der ›Gewalt zwischen Brüdern‹ und den problematischen Status von ›Schwester‹ und ›Mutter‹ unter den Geschwistern.« (Ibd.) 274 Vgl. Mbembe 2016b: 17. 275 Mbembe 2016b: 22. Mbembe glaubt nicht, dass die Krise des postmodernen Nihilismus, des Afropessimismus etc. durch »einen einfachen Rückgriff auf Konzepte wie Hybridität, Vielfalt und Kontingenz überwunden werden kann.« (Mbembe 2016b: 62)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

Souveränität zu entfalten und in sich selbst die Erfüllung seines Glücks zu finden, darin bestand der Kern meiner Fragestellung.«276 Der Erzählstil der Schriften Mbembes kann als poetisch bezeichnet werden und ähnelt der dramatisierenden Schreibweise Foucaults: »Ich suche nach einem Schreiben, das den Leser zwingt, seinen eigenen Sinnen zu begegnen. Diese Begegnungen interessieren nur insofern, als sie fragmentarisch, flüchtig, manchmal verfehlt sind. Es geht um Begegnungen mit überfrachteten Zonen des afrikanischen Gedächtnisses und seiner Gegenwart und um Wissensbereiche, die nicht zur klassischen Sozialwissenschaft gehören: Philosophie, Kunst, Musik, Religion, Literatur, Psychoanalyse.«277 Das Einbeziehen verschiedener Wissenschaften und kultureller Phänomene, die Betonung des geschichtlichen Moments wie auch sein literarisch-poetischer Stil orientieren sich am Philosophieren von Foucault. Diesem liegt somit dessen experimentelles Philosophie- und Methodenverständnis zugrunde. Schreiben und Lesen werden im Foucault’schen Sinne zu Erfahrungen. »Dieses Schreiben ist eng mit der Lektüre verbunden, insbesondere dem Lesen des Alltags, dieses privilegierten Orts, an dem das Subjekt die Erfahrung seiner Geschichte macht. Ich bestehe auf der Vorstellung von Erfahrung.«278 Und weiter heißt es bei Mbembe: »Es sind auch Erfahrungen, in denen Reales und Fabel sich ineinander spiegeln.«279 Diese zeigen nach Mbembe eine »Verflechtung von Logiken des Wirbels und Logiken der Unfertigkeit«,280 die den Charakter seines Schreibens bestimmen. 276 277 278 279 280

Mbembe 2016b: 22. Mbembe 2016b: 23. Ibd. Ibd. Ibd. Das Ringen um einen passenden Sprachstil beschreibt Mbembe mit folgenden Worten: »Angesichts der meisten Diskurse über den Kontinent schien mir, das Joch abzuwerfen, wäre, mit der Sprache zu experimentieren und zunächst zu versuchen, sie zu sprengen. Diese Zerstörungsarbeit versuchte ich über den Umweg von Verkürzungen, Wiederholungen, Erfindungen, über einen Erzählstil zu erreichen, der sowohl von Erinnerungen und Abschweifungen wie von Sätzen Gebrauch macht, die sich klar, ›wissenschaftlich‹ gerieren, die alle einfach aufeinander folgen. Mein Schreiben über Afrika gab sich manchmal offen, manchmal hermetisch, bestand aus Rhythmen, Melodien und Klängen, einer gewissen Musik nach der Art eines ›Schattengesangs‹ (Senghor), den man nicht nur hören, sondern mit allen Sinnen erfassen muss, um ihn wirklich zu hören.« (Mbembe 2016b: 22f.)

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Interkulturelles Philosophieren

Hinsichtlich der Art der Darstellung greift Mbembe auch auf einzelne Szenen Foucaults zurück, so z.B. die Darstellung der Hinrichtung Damiens’ aus Überwachen und Strafen. Mbembe zitiert einen Bericht über die Hinrichtung zweier Krimineller in Kamerun, um zum einen auf die Ähnlichkeit der narrativen Struktur und zum anderen auf den anderen Ort – die Postkolonie – zu verweisen.281 »Dennoch ist der Akt der Hinrichtung wie in den Ritualen des Schafotts, die Foucault untersucht hat, öffentlich und sichtbar.«282 Er spricht in diesem Zusammenhang von einer Theatralisierung der Unterwerfung.283 Foucaults Überlegungen und insbesondere auch die Romane von Sony Labou Tansi und Samy Tchak284 werden zur Beschreibung und Analyse der Postkolonie, z.B. hinsichtlich ihres barocken Wesens herangezogen. Wie bei Foucault gehen Fiktion und Wirklichkeit eine imaginäre Verbindung ein. Die Macht der Postkolonie zeichnet sich nach Mbembe durch »eine Ökonomie der Pracht und eine Politik der Wollust«285 aus: »Die Macht selbst drückt sich vor allem im orgiastischen Modus aus«286 und nimmt eine männliche Form an: »Ihr Symbol ist das männliche Glied in Erektion«287 – eine »Politik der sexuellen Macht«.288 Die Ausbildung des postkolonialen Subjekts erfolgt in diesen Unterwerfungsverhältnissen, die nach Mbembe die Schrankenlosigkeit und die Straflosigkeit von der kolonialen Souveränität geerbt haben.289 Er spricht diesbezüglich vom »kolonialen Modus der Machtausübung«.290 Die postkoloniale Macht stellt eine patrimoniale Machtform dar, die auf dem »Triptychon aus Gewalt, Zuwendungen und Transferleistungen« beruht.291 »Dieses Triptychon bildete die Grundlage der postkolonialen afrikanischen Autorita-

281 282 283 284 285 286 287 288

Vgl. Mbembe 2016b: 187. Mbembe 2016b: 190. Vgl. Mbembe 2016b: 188. Vgl. Mbembe 2016b: 32. Mbembe 2016b: 25. Mbembe 2016b: 26. Mbembe 2016b: 28. Ibd. Doch: »Von da an hat das Symbol eine geisterhafte Funktion. Indem es versucht, über seine Konturen hinauszuwachsen, legt der Körper der Macht zwangsläufig seine Nacktheit und seine Grenzen offen, exponiert sich durch diese Offenlegung selbst und verkündet paradoxerweise eben in dem Akt, mit dem er seine Allmacht demonstrieren wollte, seine Verletzbarkeit.« (Ibd.) 289 Mbembe 2016b: 76. 290 Mbembe 2016b: 82. 291 Mbembe 2016b: 105.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

rismen.«292 Postkolonie fasst Mbembe als Macht-Wissen-Komplex im Sinne

292 Ibd. Mbembe stellt fest: »Da der Genuss des Gehalts fast immer nicht nur die Angelegenheit des einzelnen Individuums war, das es verdiente, bildete das Gehalt als Institution ein wesentliches Rädchen in der Dynamik der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Es diente dem Staat als Ressource, um Gehorsam und Dankbarkeit zu kaufen und die Bevölkerung an disziplinäre Dispositive zu koppeln.« (Mbembe 2016b: 105f.) Darüber hinaus diente die »private Aneignung von öffentlichen Ressourcen zur Erzeugung von Treuepflichten«. (Mbembe 2016b: 106) »Dank dieser Zuteilungsformen wurde Wirtschaftliches in Soziales und Politisches umgewandelt.« (Mbembe 2016b: 107) Dabei fehlt zumeist die Unterscheidung zwischen »öffentlichem Vermögen und privatem Einkommen«. (Vgl. Mbembe 2016b: 116) Zusätzlich lassen sich in etlichen Ländern Afrikas »para-kriminelle Methoden« wie »Schutzgelderpressung, Morde, gewaltsames Konfiszieren von Eigentum und oft Massaker im engeren Sinne« beobachten und, »dass wirtschaftliche Aktivität immer mehr der Kriegführung ähnelt.« (Mbembe 2016b: 113f.) Mbembe konstatiert: »die drei historischen Hauptereignisse […]: einerseits den Ausschluss Afrikas aus den regulären Weltmärkten; andererseits die besonderen Formen einer Integration in die Kreisläufe der internationalen Parallelwirtschaft; und schließlich die Zersplitterung der öffentlichen Macht.« (Mbembe 2016b: 126) Die Situation hat sich inzwischen verschärft: »Heute ist Bürger, wer Zugang zu den Netzwerken der Parallelwirtschaft und Einkommen erhält, das diese Wirtschaft ermöglicht. (Mbembe 2016b: 154) Wenn »Armee, Polizei und Bürokratie nach dem Modell der Schutzgelderpressung funktionieren und die Verwalteten schröpfen«, dann ist man »mit einer eigenständigen historischen Formation konfrontiert«. (Mbembe 2016b: 154f.) Und weiter heißt es dort: »Der Unterschied zwischen Steuer und Abgabenerpressung ist verschwunden.« (Mbembe 2016b: 156) Mbembe stellt fest: »Bisher wurde jedoch der entscheidende Beitrag der internationalen Unterstützung zu diesem Prozess der Verkrustung des Autokratismus noch nicht ausreichend betont.« (Ibd.) Mbembe spricht in diesem Kontext von einem ›Imperialismus der Desorganisation‹, bei dem es um »Vermögenstransfer in Richtung privater Interessen« gehe. (Vgl. Mbembe 2014: 20) Zur Möglichkeit der Konstituierung einer Staatsmacht sagt er: »De facto war die Steuer in der gesamten Geschichte die bestimmende Grundlage des Staates, ebenso wie das Monopol auf legitime Macht einer der Schlüssel zum Prozess der Staatenbildung war.« (Mbembe 2016b: 162) Er schließt: »Wir sind also in Afrika Zeugen des Entstehens einer neuen politischen Ökonomie und der Erfindung neuer Zwangssysteme und Ausbeutungsstrategien. Im Moment ist die Frage, ob diese Prozesse mit dem Auftauchen eines zu Geld gemachten Zwangssystems enden werden, das ausreichend kohärent ist, um eine Veränderung in der Produktion und der Klassenstruktur der afrikanischen Gesellschaften herbeizuführen; und ob die Unterwerfung der Afrikaner, die sie voraussetzen, die Exklusion und Ungleichheit, die sie nach sich ziehen, anerkannt werden und die Gewalt, die ihre Folge ist, so weit sozialisiert werden wird, dass sie wieder zum öffentlichen Gut wird.« (Mbembe 2016b: 168) Und weiter: »Die Grundfrage, jene nach dem Auftauchen eines Rechtssubjekts stellt sich also weiter-

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Foucaults auf, der »aus überlappenden, ineinander verschachtelten und sich umschließenden Diskontinuitäten, Umstürzen, Trägheiten, Schwankungen besteh[t]«293 – als Relation von Ereignissen in vielfältigen Zeiträumen. Nach Mbembe sind Herrschende und Beherrschte dabei durch ›ein Bündel von Begierden‹ aneinandergebunden.294 Weiter heißt es bei Mbembe: »Auf einer philosophischen Ebene könnte man auch annehmen, dass die Gegenwart als Erfahrung einer Zeit eben der Moment ist, zu dem sich verschiedene Formen der Abwesenheit verschachteln. Abwesenheit von Gegenwarten, die nicht mehr sind, derer man sich erinnert (Gedächtnis) und Abwesenheit von jenen anderen, die noch nicht sind und die man vorwegnimmt (Utopie).«295 Neben der Dimension der Vielfältigkeit der Zeitlichkeit ist das Theorem der Dislokation verstanden als Transit, Dislozierung und Verlust einer andauernden Zentralität für das Verständnis von Mbembes Konzept entscheidend, wobei Subjektivität, mehrdimensionale Zeitlichkeit und das Fehlen einer Verortung entscheidend sind. Dabei geht es Mbembe darum, die aktuelle afrikanische Epoche in ihrer Besonderheit zu bestimmen, z.B. auch im Hinblick auf Praktiken des Exzesses und der Vulgarität der Macht, des Wahns und der Religion als ›Ensemble von Dingen‹.296 Der Fokus der Philosophie Mbembes liegt auf der Frage nach dem afrikanischen Subjekt. »Unser Hauptanliegen bestand darin, das Thema des afrikanischen Subjekts neu zu denken.«297 Mbembe möchte »der Selbstkritik und dem Denken der Verantwortung den Weg […] ebnen«298 und geht von »der Möglichkeit eines autonomen afrikanischen Subjekts«299 aus. Das Subjekt

293

294 295 296 297 298 299

hin.« (Mbembe 2016b: 169) Ziel muss es sein, dass »der Staat [sich] als Gemeinwohl« definiert. (Ibd.) Es wird deutlich, dass Mbembe in dieser politischen Umbruchsituation auf die Bildung von Staaten hofft, die die Schaffung von Recht und Gemeinwohl verbürgen. Mbembe 2016b: 66. Mbembe verweist hier auf Foucault, Michel: »Zur Geschichte zurückkehren«. In: Foucault, Michel: Dits et Escrits. Schriften. Bd. II. 1970-1975. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2002, S. 343-346. Vgl. Mbembe 2017: 59. Mbembe 2016b: 69. Vgl. Mbembe 2016b: 67. Mbembe 2016b: 66. Mbembe 2016b: 22. Mbembe 2016b: 65.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

soll nicht mehr seiner Identitäten beraubt werden.300 Dabei geht es ihm um einen Einbezug der Dimension der Zukunft, des Möglichen, und des Horizonts der Vergangenheit, einer Arbeit am Gedächtnis. Er propagiert die Fähigkeit afrikanischer Akteure, im Weltkontext »effizient zu handeln.«301 Afrika soll nach Mbembe fortan mit der Konzipierung und Realisierung eines autonomen und tatkräftigen afrikanischen Subjekts der Verantwortlichkeit in Zusammenhang gebracht werden, das die Erinnerungsarbeit, das Schaffen von Gerechtigkeit und die Gestaltung der afrikanischen Zukunft im globalen Kontext anstrebt und vom Paradigma der Viktimisierung und der Geschichte als erlittenes Schicksal Abschied nimmt.302 Im Hinblick auf den Weltkontext konstatiert Mbembe eine »Universalisierung der conditio nigra« und eine »Rebalkanisierung der Welt« und untersucht die Tendenzen für die Konstitution eines neuen Menschen als z.B. »neuroökonomisches Subjekt«, ein aktueller Prozess, in dem Bilder als »Teil der Dispositive einer Gewalt« eine besondere Bedeutung haben.303 Mbembe fragt, welche Gefahren das Schwarzwerden der Welt – verstanden als Zunahme der subalternen Menschheit – für die Realisierung universeller Freiheit und Gleichheit mit sich bringe.304 Nach ihm erlebt die Kategorie Rasse im 21. Jahrhundert ein Wiedererstarken: »Statt ihr Ende zu finden, erlebt die Rasse ein Comeback im genomorientierten Denken.«305 Mit der Gentechnik erscheint die Möglichkeit, das Leben mit molekularbiologischern Techniken nach rassischen Gesichtspunkten umzugestalten, so dass Rasse und Rassismus wahrscheinlich auch in der Zukunft bestehen bleiben. Mbembe konstatiert in diesem Zusammenhang: »Da zählt es kaum, dass sie nicht als solche existiert, und dies nicht nur wegen der außergewöhnlichen genetischen Homogenität der Menschen.«306 Mbembe verweist auf den von Foucault konstatierten Zusammenhang von Staatsmacht und Rassismus im Kontext einer biopolitischen Ausrichtung im Bereich der Machtstrategien.307 Neben der Zunahme 300 301 302 303 304 305 306

Vgl. Mbembe 2016b: 170. Mbembe 2016b: 70. Vgl. Mbembe 2014: 169. Mbembe 2014: 16-19. Mbembe 2014: 23. Mbembe 2014: 48. Mbembe 2014: 76. Diesbezüglich denkt Mbembe wie Appiah (siehe Kapitel über Appiah). 307 »Bei der Behandlung des Rassismus und seiner Aufnahme in die Mechanismen des Staates und der Macht sagte Michel Foucault zu diesem Thema, es gäbe kaum eine

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Interkulturelles Philosophieren

des rassenlogischen Denkens konstatiert Mbembe – ganz im Sinne Foucaults – den »Aufstieg der Sicherheitsideologie«, die wiederum die zunehmende Anwendung von Kontrollinstrumenten und -strategien rechtfertigt.308 »Aus diesem Blickwinkel funktioniert die Rasse wie ein Sicherheitsdispositiv«.309 Gleichzeitig wird, wie Foucault es verdeutlicht, eine ›Kultur der Angst‹ geschaffen.310 Der erneute Rekurs auf die Rasse – oft ausgehend von den Momenten ›Kultur‹ oder ›Religion‹ – stellt nach Mbembe einen Angriff auf das Prinzip des Allgemein-Menschlichen dar: »Allenthalben greift man erneut auf die Verfahren der Differenzierung, Klassifizierung und Hierarchisierung zurück, die auf Ausschluss, Vertreibung oder sogar Vernichtung zielen. Erneut werden Stimmen laut, die erklären, das universell Menschliche gebe es nicht oder es beschränke sich auf etwas, das nicht allen Menschen, sondern nur bestimmten unter ihnen gemeinsam sei.«311 Einen ›Appell an die Rasse‹ im schwarzen Diskurs, der zur Schaffung einer Gemeinsamkeit und zur Verarbeitung des ›Gefühls des Verlusts‹ und ›der Erinnerung an einen Verlust‹ dient, lehnt Mbembe gleichermaßen vehement ab.312 Menschliche Identität soll nach Mbembe nicht mehr im Sinne eines

Funktionsweise des modernen Staates, die ›sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einer bestimmten Grenze und unter bestimmten Bedingungen des Rassismus bedient‹. Rasse und Rassismus seien ›die Bedingung für die Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft‹. Und abschließend stellt er fest: ›Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus.‹« (Mbembe 2014: 72) Weiter heißt es dort: »In der Rasse gelangen Massen, Klassen und Populationen zur Versöhnung, also die drei Vermächtnisse der Naturgeschichte, der Biologie und der Politischen Ökonomie.« (Mbembe 2014: 78) 308 Vgl. Mbembe 2014: 50. Mbembe spricht von der »Gleichschaltung der zivilen, polizeilichen, militärischen und geheimdienstlichen Sphäre.« (Mbembe 2014: 51) 309 Mbembe 2014: 76. 310 Mbembe 2014: 156. 311 Mbembe 2014: 55. »Ganz wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Beginn des 21. Jahrhunderts in dieser Hinsicht eine große Zeit der Teilung, der universellen Differenzierung und der Suche nach der reinen Identität.« (Mbembe 2014: 56) Und weiter: »Das rassistische Subjekt sieht das eigene Menschsein nicht in dem, was es mit den anderen gleich macht, sondern in dem, was es von ihnen unterscheidet.« (Mbembe 2014: 79) 312 Mbembe 2014: 75.

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

selbstbezüglichen Verhältnisses unter Vernachlässigung des Aspekts der Zugehörigkeit zu einer Welt verstanden werden. Er strebt eine neue Universalität an, deren Mittelpunkt der Begriff der Menschheit bildet. »Die wahre Identitätspolitik besteht darin, die Fähigkeit, sich selbst zu erfinden, unermüdlich zu pflegen, zu aktualisieren und zu reaktualisieren.«313 Und weiter: »Was uns vorschweben muss, ist eine Politik des Menschlichen, die zutiefst eine Politik des Ähnlichen und Unseresgleichen ist, aber in einem Kontext, in dem wir vor allem auch Differenzen miteinander teilen. Und diese Differenzen müssen wir uns paradoxerweise gemein machen. Das erreichen wir über die Korrektur, das heißt Erweiterung unserer Vorstellung von Gerechtigkeit und Verantwortung.«314 Diese Politik des Menschlichen geht von einem »unumkehrbaren Prozess der Verquickung und Verschachtelung der Kulturen, Völker und Nationen«315 aus. Diese Auffassung liegt dem Konzept des Afropolitanismus316 zugrunde, das alle Überlegungen Mbembes zusammenführt und auf der wechselseitigen Anerkennung der Verwundbarkeit und Endlichkeit aller Menschen basiert.317 Dies bildet nach Mbembe den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Ethik, deren Ziel die Stärkung der Menschlichkeit ist. Mbembe nimmt eine Erweiterung des Untersuchungsbereichs Foucaults vor und bezieht durch die Berücksichtigung afrikanischer und afro-diasporischer Erfahrungen den von ihm vernachlässigten Bereich ›Orient‹ aus afrikanischer Sicht ein. Mbembe leistet im Speziellen eine Analyse der kolonialen und postkolonialen Wissens- und Machtordnungen und Subjektformierungen. Diese Ausweitung ist ganz im Sinne Foucaults, der sich immer der Begrenztheit seiner Analysen bewusst war und darüberhinaus immer wieder dazu aufgerufen hat, seine Ausführungen im Sinne einer ›Werkzeugkiste‹ zu

313 314 315 316

317

Mbembe 2014: 324. Ibd. Mbembe 2014: 330. Mbembe versteht ›afropolitan‹ als eine transnationale Kultur, in der Philosophie, Kunst und Ästhetik eine große Bedeutung zukommt und die mit einem ›Sinn für das Weite‹ ausgestattet ist, und als Experiment für eine vielgestaltige Gesellschaft, einer Gesellschaft der Vielfältigkeit. (Vgl. Mbembe 2016: 290f.) Vgl. Mbembe 2017: 12.

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gebrauchen.318 Diese Untersuchung führt Mbembe zu der Erkenntnis neuer Wissens- und Machtformen und schließlich zu einer über Foucault hinausgehenden Diagnose der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation in globaler Dimension, der Epoche des Brutalismus, die er einer dezidierten Analyse unterzieht. Die Postkolonie verliert nach Mbembe ihren singulären Charakter und weitet sich weltweit aus,319 er spricht von einem ›Schwarzwerden der Welt‹, womit postkoloniales Philosophieren das Rüstzeug zur Analyse globaler Entwicklungen liefern kann. Mit seiner Philosophie vollzieht Mbembe das bei Foucault deutlich werdende Desiderat, die Epochenschwelle zu übertreten und die Charakteristika der neuen Epoche kenntlich zu machen, zu bestimmen und zu reflektieren. Die Zeitdiagnose ist gleichzeitig ein Versuch der Beschreibung von zukünftigen Entwicklungen, die in der Gegenwart bereits angelegt sind. Die aktuelle Epoche Brutalismus verbindet Architektur und Politik, ähnlich wie dies bei Foucault z.B. hinsichtlich des Panopticons von Bentham konstatiert wird.320 Sie geht mit dem Auftauchen neuer Machtformen, neuer Wissensformen, neuer Subjektformen und Formen der Körperlichkeit und Sexualität, die mit einer Dezentralisierung des Phallus verbunden sind,321 Hand in Hand und betrifft auch das Selbstverständnis des Menschen. Dem Zerstörerischen des Brutalismus muss nach Mbembe eine neue Politik des Reparierens und Heilens entgegengestellt werden, die der Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit des Menschen und des Planeten gerecht wird. Das Paradigma Mensch, das nach der Prognose Foucaults durch die Metapher des verwehenden Gesichts im Sand am Meeresufer, seine zentrale Stellung als Episteme der Moderne verliert, ist in Mbembes Epoche des Brutalismus nun endgültig verschwunden. Das Menschlichwerden der Objekte und Maschinen und das Künstlichwerden des Menschlichen kreiieren einen neuen Animismus, der mit den durch Nanotechnik, Biotechnik, Informationstechnologie, Neurowissenschaft etc. verbundenen Veränderungen Hand

318

Vgl. Foucault, Michel: »Von den Martern zu den Zellen: Gespräch mit R.-P. Droit« In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften Bd. II: 1970-1975. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2002, S. 887. 319 Vgl. Mbembe 2020: 13. 320 Vgl. Foucault 1994: 265. 321 Mbembe 2020: 128. Mbembe spricht von einer Pluralität der Körper und Affekte und einer experimentellen Sexualität, z.B. der Technosexualität. (Vgl. Mbembe 2020: 128129) In dieser ›societé onaniste‹ kommt es zu einer Neuordnung der Geschlechter: »le patriarcat n’a plus besoin de femmes«. (Mbembe 2020: 121)

3. Foucault, Kant und die zeitgenössische afrikanische Philosophie

in Hand geht. Mbembe tritt mit diesen Überlegungen in die Fußstapfen Foucaults und denkt angeregt durch ihn über ihn hinaus. Die von Mbembe geleistete Zeitdiagnose hat das Potential wichtige Denkanstöße und Anregungen für die Entwicklung von Lösungen für anstehende Probleme liefern zu können. Während Foucault ein Philosoph der Schwelle bleibt, überschreitet Mbembe die Schwelle, um die Welt neu zu denken.322

322 Mbembe 2020: 236.

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4. Resümee

Die Auseinandersetzung mit Kant und Foucault im Kontext der zeitgenössischen afrikanischen Philosophie offenbart eine Tendenz zum interkulturellen Dialog zwischen der westlichen und afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophie, der wie z.B. bei Achille Mbembe und Henry Odera Oruka in Form des Afropolitanismus und der Ökophilosophie das Projekt einer Weltphilosophie am Horizont aufscheinen lässt. Der zeitgenössischen afrikanischen Philosophie geht es nicht mehr ausschließlich um Fragen, die Afrika im kolonialen bzw. postkolonialen Kontext betreffen, sondern zunehmend auch um die Analyse der aktuellen globalen Situation und die Erarbeitung von Lösungsansätzen für die sich zeigenden Probleme der Welt. Diese Öffnung wird in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie mit dem besonderen Fokus Afrika verbunden. Der Rekurs auf Kant und Foucault dient dabei nicht allein der kritischen Lektüre und der Selbstbestimmung in der negativen Abgrenzung mit dem Ziel der Dekolonialisierung des Denkens, sondern darüber hinaus als argumentative und methodische Anregung und Stütze für die theoretischen und methodischen Erfordernisse afrikanischer Philosophien – im Sinne einer kritischen Adaption. Kants Philosophie bietet für die afrikanische Gegenwartsphilosophie in zweifacher Hinsicht Anknüpfungspunkte für eine kritische Auseinandersetzung. Zum einen wird z.B. von Serequeberhan die Diskrepanz zwischen Kants universalistischem Konzept des Menschen als Vernunftwesen, seinem Kosmopolitismus und seiner Theorie über Rasse und Kolonialismus kritisiert, zum anderen wird z.B. bei Wiredu und Gyekye auf seinen erkenntnistheoretischen und ethischen Universalismus und auf sein kosmopolitisches Konzept in positiver Weise Bezug genommen. Bei Wiredu ist der Rekurs auf Kant insbesondere zur Überwindung des erkenntnistheoretischen und ethischen Relativismus wichtig, um von den Gemeinsamkeiten aller Menschen ausgehend auf der Basis seines Modells der Konsensdemokratie eine weltweite

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Interkulturelles Philosophieren

Verständigung und Zusammenarbeit propagieren zu können. Gyekye benötigt die Annahme der individuellen Autonomie als politisches Korrektiv und kreatives Potential für die Entwicklung seines moderaten Kommunitarismus und Appiah und Mbembe rekurrieren u.a. auf Kants Geschichtsphilosophie und Kosmopolitismus. In der Auseinandersetzung mit Kant entwickeln sie progressive politische Konzepte wie z.B. den metanationalen Staat, den partikulären Kosmopolitismus und den Afropolitanismus. Damit erhält Kant einen wichtigen Stellenwert in der afrikanischen Gegenwartsphilosophie. Der Philosoph erweist sich mit zentralen Aspekten seiner Philosophie als relevanter Dialogpartner im Kontext einer sich entwickelnden interkulturellen Philosophie. Die afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophen Appiah und Mbembe rekurrieren in ihren kosmopolitischen Konzepten auf Kants Theoreme Weltbürger, Weltbürgerrecht, Frieden und gemeinsamer Besitz an der Erde, fokussieren aber in hohem Maße auch andere Themenkomplexe. So macht Appiah z.B. die Aspekte Identität und Ethik der Ehre und Mbembe die diskurstheoretische und ästhetische Dimension stark. Die Erweiterung und Spezifizierung ihrer Konzepte hängen mit ihren jeweiligen Zielsetzungen zusammen. So geht es Appiah um die Berücksichtigung des Partikularen, die Frage nach der Implementierung des Kosmopolitismus durch die Berücksichtigung individueller Komponenten wie z.B. durch den Aspekt der kosmopolitischen Identität als wünschenswerte Identitätsform und die motivationale Grundlage für kosmopolitisch ausgerichtetes Handeln durch die Tugend der Ehre. Im Unterschied zu Kant kann Appiah auf Grund der fehlenden teleologischen Grundlegung nicht davon ausgehen, dass die Entwicklung hin zum Kosmopolitismus von der Natur unterstützt wird, so dass er die künftige Realisierung ausschließlich im individuellen Handeln verorten muss. Seine an Aristoteles angelehnte Tugendlehre wird mit Mills konsequentialistisch ausgerichtetem ethischen Denken und dem Festhalten an Kants Verfahren der Universalisierung kombiniert – eine in theoretischer Hinsicht problematische Kombination. Appiahs Würdigung der Menschenrechte ist im Rahmen seines Partial Cosmopolitanism von großer Bedeutung und hat in ihrer strukturellen Funktion als rechtlich-institutionelles Moment Kantische Wurzeln. Mbembes Kosmopoltismus erscheint als Ermöglichungsraum für das Plurale, Diverse und Hybride und ist vom Grundgedanken der Pluriversalität geprägt. In seiner Philosophie rekurriert Mbembe nicht auf Kants formale Ethik. Grundlage seines Afropolitanismus ist seine Ethik der Verwundbar-

4. Resümee

keit, die die Gemeinsamkeit aller Menschen betont und die Verbundenheit der Menschheit begründet. Ihm geht es darum, Grenzen abzubauen und Mobilität zu ermöglichen. Mit seinen Forderungen nach einer Erleichterung des Erwerbs von Staatsbürgerschaften und dem Abbau von Grenzbeschränkungen geht er über Kants Weltbürgerrecht als Besuchsrecht hinaus und erweitert dies entscheidend. Afrikas Entwicklung in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht steht dabei im Zentrum seiner Überlegungen. Politik und Ästhetik gehen im Afropolitanismus eine enge Verbindung ein, da gerade der ästhetische Bereich ein kosmopolitisches Agieren des Menschen befördern und verkörpern kann. Während in Kants ästhetischer Theorie der sensus communis, eine Kommunikation erleichternde Fähigkeit des Menschen, als kosmopolitisch relevant angesehen werden kann, sind für Mbembe sowohl die ästhetische Rezeption als auch die ästhetische Produktion zentrale Momente des kosmopolitischen Projekts – auch im Sinne Foucaults als Modi der Subjektwerdung. Die afrikanischen Philosophen Kwame Gyekye und Kwasi Wiredu setzen sich kritisch mit Kants Menschenbild und seinem Universalismus auseinander. Der Rekurs auf Kant ist für sie in verschiedener Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Wiredus entwickelter erkenntnistheoretischer und ethischer Universalismus in Form des ›kulturellen Universalismus‹ und des Prinzips der ›sympathetic impartiality‹ bildet die Grundlage für seine gesellschaftspolitische Konzeption. Im Unterschied zu Kant steht nicht die rechtliche Ausrichtung bei der gesellschaftlichen Strukturierung als konsensstiftendes Moment im Vordergrund, sondern der Verständigungsprozess zwischen Menschen aufgrund ähnlicher Denkweisen, moralischer Grundannahmen, Lebensweisen und Ziele. Die Auseinandersetzung mit den Kantischen Universalien im erkenntnistheoretischen Bereich mündet in einer theoretischen Begründung der Möglichkeit eines Konsenses im Rahmen seines Modells der Konsensdemokratie, das im Hinblick auf seine Realisierbarkeit in modernen Gesellschaften weiter konkretisiert und erprobt werden müsste. Während Wiredu den Aspekt der zwischenmenschlichen Kommunikation auf der Basis epistemischer und ethischer kultureller Universalien hervorhebt, betont Kant in politischer Hinsicht rechtliche und organisatorische Momente zur Schaffung einer kosmopolitischen Rechtsordnung und zur Etablierung eines Völkerbundes. Bei Gyekye leisten Kantische Theoreme die Stützung seines Konzeptes der Person mit den sie ausmachenden Momenten Autonomie, Freiheit und Wille. Damit wird gleichzeitig die Rolle des Individuums im gesellschaftlichen

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Kontext z.B. als innovative Kraft in kultureller und gesellschaftspolitischer Hinsicht umrissen. Diese Konzeption der Person ist Grundlage von Gyekyes Theorie des moderaten Kommunitarismus, die im Zentrum seiner Philosophie steht und den Ausgangspunkt für moralische, kulturelle und politische Überlegungen darstellt. Das Individuum wird − von Kant ausgehend − als Träger von Rechten beschrieben, so dass Menschenrechte begründbar werden. Die politischen Implikationen dieser Konzeption sind insofern weitreichend, als Gyekye daraus die Legitimität von Herrschaft und die kritische Funktion des über Rechte verfügenden Individuums als kritische politische Kraft ableitet und sein Konzept der metanationalen und globalen Gesellschaft/en entwickelt, dessen Träger das Individuum ist. Gyekyes politisches Konzept betont die Verantwortlichkeit und die politische Partizipation des Einzelnen und das Verhältnis von Moral und Politik und versucht so Machtmissbrauch, Korruption, Despotie und Tyrannei entgegenzuwirken. Gyekyes Versuch einer Kombination von individuellem Recht mit kommunitären Grundannahmen ist als philosophisches Projekt vielversprechend – auch seine Rehabilitation des Pflichtbegriffs. Die sich zeigenden theoretischen Diskrepanzen, die bei Gyekye eine Tendenz zum Präferieren des Gemeinschaftlichen anklingen lässt, bedürfen allerdings noch einer tieferen Durchdringung des Problemkomplexes, ein Anliegen, das sich auch in der intensiven philosophischen Debatte über Gyekyes Theorie abbildet. Es zeigt sich, Kantische Theoreme haben innerhalb der Philosophien von Kwasi Wiredu und Kwame Gyekye eine argumentative Schlüsselposition, werden aber im Gesamtrahmen dieser afrikanischen Philosophien entscheidend verändert – ganz im Sinne eines cultural borrowing und einer kulturellen Adaption. Das Theorem Kritik wird bei den afrikanischen Philosophen im Kontext der Bestimmung der Aufgabe der afrikanischen Philosophie thematisiert, so hat Kritik eine hermeneutische Dimension – u.a. bezogen auf Kants Philosophie – im Hinblick auf die Standortbestimmung des Projekts afrikanische Philosophie im Allgemeinen, bezüglich der Auseinandersetzung mit afrikanischen Kulturen, der afrikanischen Tradition, d.h. ihren weisheitsphilosophischen Aussagen, ihren Sprichworten und Symbolen, und mit den philosophischen Texten anderer Kulturen, insbesondere des Westens. Kants Begriff von Kritik im Sinne einer Untersuchung der Möglichkeit von Erkenntnis und Moralität überhaupt – der Bestimmung der grundlegenden Prinzipien menschlichen Denkens und Handelns – steht bei Serequeberhan und Odera Oruka nicht im Fokus. Die Beispiele machen deutlich, dass die einzelnen afrikanischen Philosophen unterschiedliche Konzeptionen von Kritik anbieten. Bei

4. Resümee

Serequeberhan lässt sich dezidiert von einer kritischen Hermeneutik in einer dekonstruktivistischen Ausrichtung sprechen, die primär die Auslegung, Auflösung und kritische Wertung von widersprüchlichen und paradoxen Sinnzusammenhängen bzw. die Destruktion von Sinn und die Suche nach dem Ausgeschlossenen als zentrales Anliegen hat. Serequeberhahn selbst spricht von einer »radikalen Hermeneutik«.1 Ein wesentliches Ziel dieser hermeneutischen bzw. dekonstruktivistischen Kritik ist die Dekolonialisierung des Denkens – mit Kant gesprochen eine Art ›Revolution der Denkungsart‹ (KrV, B XI; ferner: B XIII). Kritik ist bei Serequeberhan wie auch bei Kant metareflexiv angelegt. Dabei wird Kritik in einer generalisierenden, politisierenden Weise aufgefasst, indem sie sich über die Beschäftigung mit Texten hinausgehend auf Kulturphänomene aller Art, sozio-politische Momente, Institutionen etc. beziehen kann, wie sie Kant in seiner Geschichtsphilosophie aufzeigt. Dies ist eine Kritik, die sich an die Weltöffentlichkeit wendet. Afrikanische Gegenwartsphilosophie bleibt aber nicht bei dieser kritischanalytischen, auf Distanz beruhenden und Distanz schaffenden Aufgabe stehen, sondern entwickelt, wie Gyekye es nennt, eine produktive, spekulative Form der Kritik, die gesellschaftspolitische, kulturelle, ethische etc. Visionen für die Gestaltung der einzelnen Staaten und für Afrika im Gefüge der Welt bereithält. Neben Odera Oruka und Gyekye sind in diesem Zusammenhang auch Philosophen wie Appiah, Mbembe und Wiredu von Bedeutung. Auch bei der visionären Ausrichtung von Kritik ist der Rekurs auf Kant auffällig, z.B. in Bezug auf die Aspekte Moralität, Weltbürgerrecht, Weltfriede und Kosmopolitismus. Zeitgenössische afrikanische Philosophie betont zumeist die praktische Dimension von Kritik, die u.a. in kulturelles, ethisches und politisches Handeln umschlagen soll. So entwickelt Odera Oruka eine Theorie des ethischen Minimums und eine Ökophilosophie, Konzepte, die noch einer weiteren Ausarbeitung z.B. im Hinblick auf den Gerechtigkeitsbegriff und die institutionelle Verankerung bedürfen. Die kritische Analyse des Transformationsprozesses Afrikas hinsichtlich politischer Strukturen, politischer Legitimität, des Zusammenhangs von Tradition und Moderne und des menschlichen Miteinanders steht also im Zentrum des Anliegens der afrikanischen Gegenwartsphilosophie. Sie entwirft davon ausgehend gesellschaftspolitische

1

Serequeberhan, Tsenay: »Die Philosophie und das postkoloniale Afrika: Historizität und Denken«. In: Dübgen, Franziska; Skupien, Stefan (Hg.): Afrikanische politische Philosophie: Postkoloniale Positionen. Berlin (Suhrkamp), 2015. S. 83.

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Konzepte wie u.a. die Modelle Konsensdemokratie, metanationaler Staat und Afropolitanismus, die oft von Kants Grundannahmen wie z.B. der Autonomie und Freiheit des Individuums, der Würde und des Selbstzweckcharakters des Menschen und der Bedeutung des Rechts in seiner nationalen, internationalen und transnationalen Dimension gestützt werden. Damit konzipieren afrikanische Philosophen in der kritischen Auseinandersetzung mit Kant Gestaltungskonzepte und Visionen, die über Afrika hinaus Bedeutung haben. Foucaults experimentelle Philosophie geht eine enge Verbindung mit Kritik, Aufklärung und Parrhesia ein und ist das Projekt der Befragung der gesellschaftlichen Aktualität und ihrer Problematisierung. Dabei rekurriert Foucault in hohem Maße auf Kants Konzept von Aufklärung und Kritik, wobei er eine neue Akzentuierung vornimmt, indem er im Unterschied zu Kant nicht Aufklärung in das Projekt der Kritik aufgehen lässt, sondern Kritik als Modus der Aufklärung interpretiert. Ziel ist eine Transformation des Subjekts und der Gesellschaft. Foucault strebt eine Gesellschaft an, in der Herrschaftsstrukturen sich nicht verfestigen und die dem Individuum freie Entwicklungsmöglichkeiten bietet, so dass es sich unter Anwendung von Selbsttechniken nach dem Vorbild eines Kunstwerks formen kann. Dazu ist die Analyse der Diskurs- und Machtstrategien und des Wissen-Macht-Nexus mit Hilfe von archäologischen und genealogischen Verfahren die notwendige Voraussetzung. Des Weiteren ist in diesem Kontext Foucaults Ästhetik bzw. Ethik des Selbst von Bedeutung, die sich mit den Selbsttechnologien als Voraussetzung für die Formung des Selbst durch sich selbst auseinandersetzt. Es zeigt sich, dass Foucaults neuartiges Philosophieverständnis mit einer besonderen poetischdramaturgischen Schreibweise verbunden ist und neue Wissensgebiete wie z.B. die Psychoanalyse und Monumente wie z.B. literarische Texte, Kunstwerke, Filme, soziologische, psychologische und kriminalistische Texte in die Untersuchung einbezieht, wobei er das Verhältnis von Fakt und Fiktion in Frage stellt. In diesem Rahmen legt er auch ein neues Geschichtskonzept vor, das eng mit seinem Philosophieverständnis zusammenhängt und sowohl die erkenntnistheoretische Ausrichtung im Hinblick auf das historische Apriori als auch die historisch-genealogische Erforschung von Machtfragen untermauert. Geschichte ist für ihn vom Ereignis geprägt, zeigt Brüche, Transformationen und Verschiebungen und stellt Überhistorisches und Universales in Frage. Geschichte kann nach Foucault auch als Ort eines Gegen-Gedächtnisses gelesen werden und zeigt einen Ermöglichungsraum auf. Mit seiner neuartigen Konzeption von Philosophie, Geschichte und Subjekt und seinen Methoden der Archäologie und Genealogie bietet Foucault

4. Resümee

für die zeitgenössische afrikanische Philosophie viele Anknüpfungspunkte, die in eine kritisch-produktive und weiterführende Lesart insbesondere für die Analyse von Afrika betreffenden Wissensformationen, Machtformen und -strategien und Subjektbildungsprozessen in kolonialen und postkolonialen Zusammenhängen von Bedeutung sind. Foucaults Überlegungen bilden damit ein wichtiges Fundament für neue philosophische Konzepte, die die aktuelle gesellschaftspolitische Situation nicht nur auf Europa und Afrika bezogen, sondern im weltweiten Maßstab neu durchdenken. Ganz im Sinne Foucaults werden Veränderungsmöglichkeiten für das heutige Subjekt wie auch politische, soziale und ästhetische Prämissen dieses Prozesses in seiner kontextuellen Einbettung kritisch reflektiert. Foucaults Denken zeigt damit in der Rezeption in der afrikanischen und afrodiasporischen Philosophie seine aktuelle Relevanz für die Lösung anstehender Probleme in globalen Kontexten. Der produktive Bezug auf Foucault richtet sich, wie bei Mbembe und Mudimbe aufgezeigt, auf die archäologische und genealogische Methode und die Diskursanalyse, mit deren Hilfe westliche wie afrikanische bzw. afrodiasporische Diskurse auch in Bezug auf ihr geschichtliches Werden aufgeschlüsselt werden können. Foucault bietet auch ein Instrumentarium zur Analyse von Machtprozessen und Subjektkonstitutionen wie auch des Nexus zwischen Wissen, Macht und Subjekt. Foucaults experimentelle Philosophie ist insbesondere bei Achille Mbembe auch im Hinblick auf das konstruktivistische Geschichtsverständnis, das Geschichte nicht als Kontinuum oder Fortschrittsprozess auffasst und eine Erweiterung der einbezogenen Dokumente bzw. Monumente wie z.B. aus Literatur und Kunst vorsieht, auf die kritische Aufgabe der Philosophie im Sinne des Wahrsprechens in aufklärerischer Absicht und die ästhetische Ausrichtung im Ethischen für eine emanzipatorische Zukunftsgestaltung von Bedeutung. Die Dimension des Ästhetischen spielt im Rahmen der zeitgenössischen afrikanischen Philosophie eine herausragende Rolle. Mudimbe gelingt es, unterschiedliche westliche wie afrikanische bzw. afrodiasporische Wissensdiskurse über Afrika zu entschlüsseln und zentrale Momente des Machtgebrauchs offenzulegen. Auch seine von Foucault inspirierte Geschichtsauffassung mit ihrer neuen Sicht auf die Unterscheidung von Fakt und Fiktion und der damit in Zusammenhang stehende Einbezug von Literatur und Kunst als Monumente der Wissensanalyse muss im Rahmen seines philosophischen Anliegens als zentral angesehen werden. Bei Mbembe ist darüber hinaus Foucaults Aspekt der Subjektkonstitution

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von herausragender Bedeutung. Er fokussiert das Werden des afrikanischen Subjekts in kolonialen und postkolonialen Zusammenhängen. Darüber hinaus weitet er sein theoretisches Interesse in Bezug auf die zeitlichen Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihrer Vielschichtigkeit und ihren Überlagerungen auf Afrika im Weltzusammenhang aus. Seine Philosophie versucht die aktuelle gesellschaftliche Situation in ihren sie bestimmenden Momenten wie Gentechnologie, Kommunikationstechnologie und neue Machttechniken wie Nekromacht und digitale Macht zu deuten und die Konstitution des Subjekts unter den sich verändernden Bedingungen in den Blick zu nehmen. Damit sprengt Mbembe den afrozentrischen Ausgangspunkt und entwickelt eine Philosophie, die über Foucault hinausgehend die Welt in ihrer Gesamtheit im Auge hat. Mit ihrer kosmopolitischen Ausrichtung tritt sie in die Fußstapfen Kants. Die zeitgenössische afrikanische Philosophie zeichnet sich aufgrund ihres cultural borrowing durch eine Tendenz zu Inter- und Transkulturalität aus, wobei entwickelte philosophische Theoreme den Anspruch erheben zur Analyse sowohl der afrikanischen wie der globalen Probleme einen produktiven Beitrag leisten zu können. Der cross-cultural dialogue erfolgt primär in Form von intertextuellen Bezügen und wird auch mit dem Anspruch verbunden, im Sinne der Transkulturalität universelle Erkenntnisse für die Weltgemeinschaft und für die Lösung globaler Probleme bieten zu können. Des Weiteren bezieht sich der interkulturelle Dialog aber z.B. auch auf die Auseinandersetzung mit kulturellen Paradigmen und Produkten, mit Technik und Wissenschaft, politischen Strukturen und religiösen Praktiken und geht demnach weit über die Dimension des Intertextuellen hinaus. Es geht um einen Dialog bzw. Polylog der Kulturen, mit dem Ziel neue Wahrheiten zu finden, in einem Prozess des Voneinanderlernens, in dem sowohl globalen und universellen als auch lokalen und partikularen Erfordernissen Genüge getan werden soll. Die zeitgenössische global orientierte afrikanische bzw. afrodiasporische Philosophie zeichnet sich dabei durch ein hohes Interesse an praktischmoralischen und politischen Themenstellungen aus, die allerdings gleichermaßen eine theoretische Durchdringung insbesondere in erkenntnistheoretischer, machttheoretischer wie auch subjektphilosophischer Richtung aufweist. Die untersuchten afrikanischen bzw. afrodiasporischen Philosophen Appiah, Wiredu, Gyekye und Mbembe rekurrieren in einer kritischen Relektüre auf die westliche Philosophie insbesondere zur Stärkung des Individuums im kommunitaristisch ausgerichteten Afrika auch in politischer Hinsicht, zur Analyse von Macht, zur Auseinandersetzung mit den eigenen auf Afrika bezo-

4. Resümee

genen Diskursen und zur Entwicklung politischer Visionen. Sie setzen dabei hinsichtlich der Konzepte von Inter- und Transkulturalität und der Intertextualität durchaus unterschiedliche Schwerpunkte, auch was das Einbeziehen eigener Wurzeln betrifft. Die Betonung des Eigenen dürfe allerdings nicht zu Abkapselung vom Anderen als dem Fremden führen: »Kwasi Wiredu is right. We will only solve our problems if we see them as human problems arising out of special situation, and we shall not solve them if we see them as African problems, generated by our being somehow unlike others.«2 Der Dialog bzw. Polylog der Philosophen in inter- und transkultureller Ausrichtung muss das Allgemeinmenschliche, das Verbindende betonen. So heißt es bei Appiah: »Indeed, because the intellectual projects of our one world are essentially everywhere interconnected, because the world’s cultures are bound together now through institutions, through histories, through writings, he [Crummell] has something to teach the one race to which we all belong.«3 Während bei Gyekye das Konzept des cultural borrowing im Zentrum steht, bei dem es um die Integration des Fremden in die eigene Kultur geht und Prozesse der Adaption und Transformation in kritischer Weise behandelt werden, strebt Appiah die conversation across boundaries an, die auf Verständigung unterschiedlicher Kulturen durch Kommunikation, basierend auf dem mit dem Menschsein verbundenen Kern im Denken, Fühlen und Handeln, einen moralischen Minimalkonsens und sich ausbildenden neuen Gewohnheiten setzt. Wiredus cross cultural dialogue ist wie bei Appiah vom Gedanken des gegenseitigen Austauschs bestimmt, betont aber im Unterschied zu diesem stärker die Bedeutung der afrikanischen Ausgangskultur im Sinne eines kulturellen Fundaments. Auch geht es ihm immer um die Überprüfung der Brauchbarkeit und Angemessenheit der Angebote anderer Kulturen. »It would profit us little to gain all the technology in the world and lose the humanist essence of our culture.«4 Mbembes thinking outside the frame setzt in seiner Philosophie auf einen critical cosmopolitan pluriversalism, der Denktraditionen und eingefahrenes Fühlen und Handeln in epistemischer und praktisch-moralischer Hinsicht in einem kosmopolitischen Gesamtrahmen in seiner philoso-

2 3 4

Appiah 1992: 136. Appiah 1992: 27. Wiredu, Kwasi: Philosophy and an African Culture. Cambridge, London, New York at al. (Cambridge University Press), 1980, S. 21.

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phischen Konzeption durchbrechen möchte, wobei es ihm gleichzeitig darum geht, den Anthropomorphismus im Denken zu überschreiten. Gyekye ist im Unterschied zu Mbembes, Appiahs und Wiredus inhaltlich und methodisch durchaus unterschiedlich ausgeprägter transkultureller Tendenz in seinem philosophischen Denken eher interkulturell ausgerichtet, indem er die Eigenständigkeit und Besonderheit der einzelnen Kulturen betont, sucht gleichzeitig aber auch nach transkulturellen Gemeinsamkeiten, besonders im Ethischen. Serequeberhan strebt in seinem Konzept der kulturellen Hybridität einen dialogue at a distance an und fordert den interkulturellen Austausch zu erweitern. Im Unterschied dazu hält Odera Oruka auf der Basis seines Theorems des human minimum vom interkulturellen Dialog ausgehend eine weltweite Umverteilung von materiellen Gütern für notwendig und eine neue ökophilosophische Einstellung, um die menschliche Existenz auf der Erde zu sichern und ein besseres Miteinander zu gewährleisten. Alle Philosophen legen ihren Ausführungen Überlegungen zum afrikanischen Humanismus zugrunde. Die afrikanischen Philosophen schreiben sich mit ihren philosophischen Konzepten in die Weltphilosophie ein. Die kritische Relektüre Kants und Foucaults und der kritische Rekurs auf einige ihrer Theoreme spielen in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle.

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Philosophie Die konvivialistische Internationale

Das zweite konvivialistische Manifest Für eine post-neoliberale Welt 2020, 144 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung 10,00 € (DE), 978-3-8376-5365-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5365-0 ISBN 978-3-7328-5365-6

Pierfrancesco Basile

Antike Philosophie September 2021, 180 S., kart., Dispersionsbindung 20,00 € (DE), 978-3-8376-5946-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5946-1

Karl Hepfer

Verschwörungstheorien Eine philosophische Kritik der Unvernunft Juli 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 5 SW-Abbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5931-3 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5931-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Philosophie Ashley J. Bohrer

Marxism and Intersectionality Race, Gender, Class and Sexuality under Contemporary Capitalism 2019, 280 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4160-8 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4160-2

Jürgen Manemann

Demokratie und Emotion Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet 2019, 126 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-4979-6 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4979-0

Anke Haarmann

Artistic Research Eine epistemologische Ästhetik 2019, 318 S., kart., Dispersionsbindung 34,99 € (DE), 978-3-8376-4636-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4636-2 EPUB: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4636-8

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