Philosophieren: Wider Theorie und Begründungszwang 9783495996812, 9783495996805

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Philosophieren: Wider Theorie und Begründungszwang
 9783495996812, 9783495996805

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I Philosophierendes Denken
kritisches Denken
endliches Denken
spekulatives und bildhaftes Denken
erstaunendes Denken
II Philosophieren über den Menschen
Wohnen auf der Erde und in der Welt
Sich-Beziehen auf einander
III Die »Natur« als Thema des Philosophierens
Anderssein der Natur
»Zweite Natur«
Digitalität
IV Philosophieren über die Erde
Verzeichnis der angeführten Literatur

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Ute Guzzoni

Philosophieren Wider Theorie und Begründungszwang

https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

Ute Guzzoni

Philosophieren Wider Theorie und Begründungszwang

https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

© Titelbild: Ute Guzzoni

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99680-5 (Print) ISBN 978-3-495-99681-2 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I

Philosophierendes Denken . . . . . . . . . . . . . .

9

kritisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

endliches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

spekulatives und bildhaftes Denken . . . . . . . . . . . . .

40

erstaunendes Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

II Philosophieren über den Menschen . . . . . . . . .

61

Wohnen auf der Erde und in der Welt . . . . . . . . . . . .

69

Sich-Beziehen auf einander . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

III Die »Natur« als Thema des Philosophierens . . . . .

95

Anderssein der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

»Zweite Natur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Digitalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

IV Philosophieren über die Erde . . . . . . . . . . . . .

127

Verzeichnis der angeführten Literatur . . . . . . . . . .

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5 https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

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Vorbemerkung

Wider Theorie und Begründungszwang. Der Untertitel soll kein expli­ zites Thema dieses Buches zum Ausdruck bringen. Ich schreibe keine Kritik der Theoriebildung als solcher und setze mich nicht direkt mit der Begründungsstruktur des abendländischen Denkens auseinander. Vielmehr gehe ich von der mehr oder weniger intuitiven Vorausset­ zung aus, daß dem gegenwärtigen Philosophieren die Forderung, daß es zuallererst theoretisch den Gründen dessen, was ist, nachzufragen habe, suspekt geworden sein sollte. Philosophieren ist, so denke ich, weder das Fragen nach einem unveränderlichen »was ist«, noch das Fragen nach dem verrechnenden »warum«; es will stattdessen dem nachspüren, wie etwas ist und sich verhält. Es geht nicht darum, was die Philosophie ist, sondern wie Philosophieren geschieht, etwa erstaunend, kritisch, spekulativ, bildhaft. Ich habe in Philosophieren – wie schon in Wollen wir noch Sub­ jekte sein? – einige Vorträge aus den letzten Jahrzehnten versammelt, um in ihrer Zusammenstellung, Überarbeitung und Erweiterung einen Grundgedanken meiner philosophischen Bemühungen her­ auszuarbeiten und deutlich werden zu lassen. Den Grundgedanken nämlich, daß es dem gegenwärtigen und zukünftigen Philosophieren vor allem darum gehen sollte, das Zufällige und Befremdliche und Besondere in den Bick zu fassen. Wenn Heidegger in seinen späten Werken Welt und Dinge thematisiert oder Adorno vom Nichtidenti­ schen und der Kommunikation des Unterschiedenen spricht, so sind das Hinweise darauf, daß es der Philosophie nicht mehr wie in der abendländischen Tradition um die Suche nach einem Allgemeinen und Bleibenden zu tun ist, daß sie sich vielmehr dem Einzelnen, Alltäglichen, dem je Erstaunlichen zuwenden möchte. Da dieses Buch ein Rückblick auf meine philosophischen Bemü­ hungen mehrerer Jahrzehnte ist, habe ich in den Anmerkungen häufig auf meine früheren Bücher verwiesen. Außerdem finden sich viele Bezugnahmen auf Heidegger, weil dieser mehr als andere einem gewandelten Denken auf der Spur war, auch wenn mir sein Grund­

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Vorbemerkung

anliegen, das Seinsdenken, noch allzusehr der abendländischen Tradi­ tion verhaftet zu sein scheint. Daß auch mein Versuch, sich von der (großen) Theorie und dem begründenden Denken zu verabschieden, fast durchgehend theo­ retisch und argumentierend verfährt, bedeutet keinen Widerspruch. Auch bildhaftes, »landschaftliches« Denken geschieht nicht ohne Vernunft. Es ist ein Denken des ganzen, auch leibhaftig-sinnlich erfahrenden Menschen. In einem ersten Teil zeichne ich die Grundzüge eines solchen anderen Philosophierens nach, so, wie sie sich einem gegenwärtigen Denken zeigen mögen. Im zweiten und dritten Teil richte ich meinen Blick zunächst auf den Philosophierenden, also den Menschen, und sodann auf die »Natur« im weitesten Sinne. Ein kurzer Schlußteil faßt die Grundtendenz des Buches unter dem Blickwinkel eines Nachdenkens über die Erde noch einmal zusammen. Die drei Hauptteile stehen – ihrer Entstehung entsprechend – mehr oder weniger selbständig nebeneinander, und ihre Überle­ gungen setzen darum auch, mit gewissen Wiederholungen, jeweils wieder neu ein. Gleichwohl ist das Ganze als ein durchgehender Gedankengang konzipiert.

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I Philosophierendes Denken

»Die anderen merken es nicht, aber die, die richtig Philosophie treiben, sehnen sich allein danach, zu sterben und tot zu sein.« Das sagte Sokrates kurz vor seinem Tod.1 Das Verständnis, das diesem Satz zugrundeliegt und dem gemäß Philosophie die durch keine Leiblichkeit und Endlichkeit gehinderte Einsicht in das wahrhaft Seiende ist, ist sicherlich nicht das, was wir heute allgemein mit »Philosophieren« meinen, und es ist nicht das, was ich selbst unter Philosophie verstehe. Aber was ist Philosophie? Parmenides denkt darüber anders als Aristoteles, Seneca anders als Meister Eckhart, Kant anders als Nietzsche, Husserl anders als Wittgenstein, Adorno anders als Heidegger, Sloterdijk anders als Precht – womit ich jetzt nur abendländische Philosophen genannt habe. Mehr oder weniger hat jeder Philosoph sein eigenes Verständnis von dem, was er tut, wenn er philosophiert. Gleichwohl nennen wir sie alle »Philosophen«. Und irgendwie scheinen wir mehr oder weniger dasselbe zu meinen, wenn wir in bestimmten Zusammenhängen von Philosophie sprechen. Heidegger schreibt verschiedentlich, daß man nur nach dem Wesen von etwas fragen könne, wenn man schon, wenn auch unbe­ stimmt, wisse, was das ist, wonach man da fragt. Umso mehr müßte dies gelten, wenn der Gegenstand des Fragens dieses Fragen selbst ist. Tatsächlich wird die Frage nach dem, was Philosophie ist, nicht vor, sondern innerhalb der Philosophie, philosophierend, gestellt und behandelt. Wir treffen hier auf den erstaunlichen Umstand, daß zu dem, was Philosophie ist, notwendig und letztlich unabtrennbar das Fragen nach ihr gehört, das Philosophieren über die Philosophie. Kein anderes Wissen ist so sehr wie das philosophische auf sich selbst zurückbezogen. Es gibt zwar in der Entwicklung vermutlich aller Wissenschaften immer wieder Phasen, wo ein Bedürfnis entsteht, sich der eigenen Grundbegriffe und Voraussetzungen sowie zuweilen der eigenen Methodologie neu zu versichern. Das kann so weit gehen, daß ein vollständiger Paradigmenwechsel vollzogen wird, daß 1

Platon, Phaidon, 64a.

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I Philosophierendes Denken

ein Wissensbereich sich grundsätzlich neu orientiert. Aber das sind Ausnahmen; gewöhnlich betrifft die Selbstreflexion nicht das eigent­ liche Corpus der jeweiligen Wissenschaft. Vor allem aber bleiben die Methoden einer solchen Besinnung der betreffenden Wissensweise selbst äußerlich bzw. fremd: die Physik reflektiert nicht physikalisch auf ihre Grundlagen, die Mathematik stellt keine mathematischen Hypothesen über ihr Vorgehen auf. In den Geisteswissenschaften verhält es sich zwar etwas anders. Aber wo die Geschichtswissenschaft historische, die Soziologie sozio­ logische oder die Ethnologie ethnologische Untersuchungen über sich selbst anstellen, geht es dabei nicht um eine Selbstvergewisserung der Wissenschaft selbst und ihrer Sache, wie das dagegen in der Philosophie der Fall ist. Zu philosophieren heißt – zumindest auch – ein Wissen darüber zu gewinnen bzw. eine Lehre darüber aufzu­ stellen, was eben dies heißt: zu philosophieren. Die Philosophie ist Philosophie, indem sie sich auf sich selbst richtet. Sie hat keinen Ort außerhalb ihrer selbst, keine darüber-, dahinter- oder darunterlie­ gende Ebene, die ihr einen distanzierten Blick auf ihren Gegenstand erlauben würde. Sie ist, auch wenn sie nur »darüber« sprechen möchte, notwendig schon »darinnen«, sie philosophiert schon. Für eine unvoreingenommene, objektive Betrachtung kommt sie immer schon zu spät.2 Die philosophische Selbstreflexion ist nicht einfach nur eine Theorie höherer Stufe, eine Metatheorie. Und sie ist nicht lediglich eine methodische Rückbesinnung auf das eigene Vorgehen und Tun, wie sie in den Wissenschaften üblich und angezeigt ist. Was die Philosophie ist, welches die ihr eigentümliche Intention ist, das zu begreifen ist eine der schwierigsten und spannendsten Aufgaben der Philosophie selbst. Heidegger hat einmal in Bezug auf die Dichtung gesagt: »Denn jede wesentliche Dichtung dichtet ja auch das Wesen des Dichtens selbst ›neu‹.«3 Ähnlich und noch entschiedener läßt sich von der Philosophie sagen, daß sie jeweils das philosophische Denken neu denkt. Seit den Anfängen der abendländischen Philosophie bei den Griechen wurde die Frage nach dem ihr eigenen Denken und d.h. auch nach ihrem Unterschied gegenüber dem sonstigen, alltäglichen, »normalen« Denken – Parmenides nennt es: das »sterbliche« – immer wieder neu gestellt und immer wieder neu und anders beantwortet. 2 Hegels Bild der Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung fliegt, trifft hier in besonderer Weise zu. 3 Hölderlins Hymne »Der Ister«, 9.

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I Philosophierendes Denken

* Es gibt keine wirklich gültige Klärung von Thema und Methode der Philosophie, die nicht selbst schon Philosophieren wäre. Was Philosophie ist und wie sie zu verfahren hat, entscheidet sich jeweils erst im je eigenen Philosophieren oder im jeweiligen gemeinsamen philosophischen Diskurs. Ebenso gibt es umgekehrt kaum ein Philo­ sophieren, das sich nicht mit der Zuwendung zu seinem je eigenen Thema auch der Eigenart dieser Zuwendung vergewissern würde. Das Philosophieren ist nicht nur – und oft vielleicht nicht einmal in erster Linie – ein Ringen um die inhaltliche Bestimmung seines jeweiligen Gegenstandes, sondern dem zuvor ein Ringen um das eigene Tun, um das Finden dieses Gegenstandes ineins mit dem Weg, der zu ihm führt. Es geht dabei um die philosophierende Selbstreflexion der ein­ zelnen Philosophen, um ihr Nachdenken über die Aufgabe, vor die sie sich jeweils gestellt sehen, und darüber, wie sie sich auf Grund der Antworten, die ihre Vorgänger gegeben haben, zu einem neuen Fragen herausgefordert sehen. Zuweilen setzen sie sich dabei auch mit dem Bild auseinander, das die Anderen, die gar nicht Philosophie­ renden oder die nur scheinbar Philosophierenden – bei den Griechen etwa die Sophisten, heute z.B. die Wissenschaft Treibenden –, von der Philosophie haben. Bei Parmenides, dessen Annäherung an das Denken ihn aus­ drücklich »über die Stätten der Menschen hinaus« führte, wird der Weg der Wahrheit radikal von dem Denken der übrigen Menschen unterschieden, die als »die Sterblichen, die nichts wissenden, [...] die doppelköpfigen [...], so taub als blind, blöde, verdutzte Gaffer, unter­ scheidungslose Haufen« gekennzeichnet werden.4 Und das Denken selbst wird als entschiedener Blick auf das reine »es ist, wie es ist«, das jedes Nichtsein von sich ausschließende reine »Sein« bestimmt. Platon bezieht das Philosophieren einerseits auf das praktische gute Leben der Menschen. Die wahren Philosophen sind diejenigen, die am ehesten geeignet sind, im Staat zu regieren, die Philosophen sollen die Könige sein, und die Könige sollen mit philosophischer Weisheit regieren. Andererseits und vor allem ist das eigentliche Philosophieren für Platon eine Hinwendung der Seele zur Wahrheit und Offenbarkeit des Seienden im Sinne des Wesenhaften von allem, 4

Frg. 6,3.

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I Philosophierendes Denken

zu dem also, »was es wirklich ist«.5 So unterscheidet es sich von dem irrigen Vorgehen der Sophisten. Verschiedene Bücher der aristotelischen Metaphysik beginnen mit einer einmal längeren, einmal kürzeren Darlegung seines Ver­ ständnisses von Philosophie im engeren Sinne, von Erster Philosophie. Die Bezugnahme auf die »Vielen«, die Blinden, »Unwürdigen«, fehlt hier, sowie auch die Absetzung von denen, die den Namen »Philoso­ phen« nur angemaßterweise und zu Unrecht tragen. Demgegenüber nimmt die Auseinandersetzung mit den Vor-Denkern einen breiten Platz ein. Die kritische, d.h. wörtlich unterscheidende Reflexion auf das eigene Tun und seine Möglichkeiten ist wohl nirgends so radikal durchgeführt wie bei Kant. Die Konzeption seiner drei Kritiken hat insgesamt einen gewissen propädeutischen Charakter. Die Reflexion des Philosophierens auf sich selbst ist nicht nur Darlegung und Bestimmung der Philosophie, sondern gewissermaßen ihr ursprüng­ liches Erstreiten ihrer Position, der Prozeß ihrer Rechtfertigung auf dem Wege einer sie erst ermöglichenden grenzziehenden Analyse des Erkennens. Nicht nur die bohrende Frage, was ist und was kann und was soll die Philosophie, steht hier im Zentrum, sondern die keineswegs bloß rhetorische Frage: wie kann sie es, ja, kann sie es überhaupt? Erst hier bei Kant, der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten wollen schrieb, geht es um die radikale Infragestellung und dann Wiedergewinnung der Möglichkeit der Philosophie selbst, die sich in Descartes’ Meditationen über die Erste Philosophie schon andeuteten. Hegels Phänomenologie des Geistes zeichnet den Weg vom unmit­ telbaren, alltäglichen zum absoluten, philosophischen Wissen nach oder vor und ist insofern eine Selbstbegründung der Philosophie. Er hat zudem Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gehalten, in denen er ausführlich auf den »Begriff der Philosophie«, auf die Geschichtlichkeit der Philosophie und auf das Verhältnis der Philosophie zur »wissenschaftlichen Bildung überhaupt«, zur Poesie, zur Religion und zur »Popularphilosophie« eingegangen ist. Die Philosophie ist nichts anderes als das Sich-Entwickeln der Wahrheit selbst, – und weil die Wahrheit sich »durch die Zeit« entwickelt, entfaltet sich die Philosophie in eine Geschichte unterschiedlicher Philosophien, für die aber insgesamt gilt, daß die Wahrheit nur eine 5

Phaidon, 65d/e.

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I Philosophierendes Denken

ist, deren unterschiedliche Momente jene darstellen, auf dem Wege ihrer Selbstentfaltung, ihres Werdens zu sich selbst. Wittgenstein, Heidegger, Adorno, Foucault, Derrida – um einige der wichtigsten Philosophen des an Philosophen reichen vergangenen Jahrhunderts zu nennen – haben alle darauf reflektiert, was das Philosophieren sei bzw. nicht sei. Wie schon bei ihren Vorgängern stellt sich auch bei ihnen zuweilen die Frage, wie weit sie mit ihrem eigenen Denken dem entsprochen haben, was sie als Philosophieren bestimmten. Zumeist stellt das Philosophieren über das Philosophie­ ren jedoch keine analysierende Besinnung auf das eigene Tun dar, sondern es entfaltet sich als eine spekulative Frage nach der Philoso­ phie als solcher. Hier wird noch ein anderer Aspekt des philosophischen Nach­ denkens über die Philosophie sichtbar, der aber kaum als solcher aufgegriffen wird. Was bedeutet es, daß sich Menschen überhaupt Gedanken über den Menschen, die Welt und das Seiende in ihr machen, welche Bedeutung ist also der allgemein menschlichen Bemühung um ein Verständnis seiner selbst und seiner Welt zuzu­ sprechen? Was heißt es für den Menschen, daß er nach der Welt fragt, – fragen kann oder vielleicht sogar – als Mensch – fragen muß? Dieses Fragen ist nicht selbstverständlich, es muß sich in seinem Was und Warum und Wie erst selbst gewinnen bzw. entwerfen. Ein Problem besteht hier also darin, daß die Philosophen etwas zu ihrem Geschäft und Beruf machen, was zugleich, zumindest tendenziell, von allen Menschen überhaupt ausgeübt wird. »Pantes anthropoi tou eidenai oregontai physei« – »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen«.6 Wenn die Menschen diejenigen Lebe­ wesen sind, die denken können und wollen, dann ist das Denken eine allgemein menschliche Verhaltensweise. Dem nachzugehen, was Philosophie ist, könnte u.a. auch heißen, zu fragen, wie das spezifische Denken der Philosophen sich vom sonstigen Nachdenken und Reflektieren unterscheidet, und dies sowohl in der Weise seines Denkens wie in dessen Gegenstand. *

6

Aristoteles, Met. A1, 980a20.

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I Philosophierendes Denken

Das Verständnis von Philosophie differenziert sich in mindestens drei unterschiedliche Ansätze. Zunächst einen umfassenderen, der nicht vornehmlich die grundsätzlichen Fragen des Seins und In-der-WeltSeins als Themen der Philosophie ansieht, sondern der sich allgemein und doch konkret auf die sogenannten »Lebensfragen« richtet und dementsprechend bemüht ist, die jeweilige Lebenswirklichkeit zu analysieren.7 2020 veröffentlichte die Zeitschrift Information Philoso­ phie einen »Bericht«, der eine »Übersicht über die mediale Präsenz der Philosophie« in Zeiten von Covid-19 geben wollte. Er begann mit den Worten: »In Krisenzeiten hat Philosophie Hochkonjunktur. Zu keinem Thema haben Philosophen und Philosophinnen sich in so kurzer Zeit in den Medien geäußert wie zur Corona-Krise«.8 Von den ca. 50 angeführten Äußerungen bezeugen m.E. höchstens zwei oder drei einen im engeren Sinne philosophierenden Autor. Alle anderen unterscheiden sich nicht von der Fülle sonstiger kluger oder weniger kluger Überlegungen und Bemerkungen zur Corona-Krise in den Medien, z.B. in Talkshows.9 Ich weiß nicht, ob die Autoren ihre Ausführungen selbst als philosophisch verstanden haben. Aber es genügt, daß der Herausgeber sie jedenfalls als solche angesehen hat. Wenn einer sich Gedanken macht über zeitgenössische Themen, so werden diese im heutigen Alltagsverständnis gemeinhin als »philoso­ phisch« bezeichnet. Sie könnten meist ebenso gut von Journalisten, Theologen, Geographielehrern oder dem nachdenklichen Nachbarn geäußert werden.10 Wenn Philosophie wörtlich »Liebe zur Weisheit« heißt und wenn wir unter »Weisheit« das Ganze dessen verstehen, was Menschen jeweils über sich und die Welt wissen, dann gibt es diese »Philoso­ phie« vermutlich in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Auch in Aristoteles’ Aussage, daß alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, kommt das zum Ausdruck. Philosophierende sind nicht allein diejenigen, die sich dem Geschäft dieses Wissens eigens verschrieben 7 Oftmals erscheint dies als die angeblich allgemeinmenschliche Frage nach dem Sinn. Vgl. hierzu Verfasserin, Wollen wir noch Subjekte sein?, 1. Kapitel: Es ist, wie es ist. Überlegungen zu Zufall, Sinn, Gelassenheit. 8 Covid-19 und die PhilosophInnen. Eine Übersicht über die mediale Präsenz der Phi­ losophie, in Information Philosophie, Nr. 2, Juni 2020, 16. 9 Anders dagegen der Essay von Bärbel Frischmann Das Virus und die Angst im selben Heft. 10 Wie es in dieser Hinsicht mit den inzwischen erschienenen Büchern von Philoso­ phen zu dem genannten Thema steht, sei hier nicht diskutiert.

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I Philosophierendes Denken

haben, die »Berufsphilosophen«, sondern alle nachdenklichen Men­ schen, die sich Gedanken machen über ihr Sein in der Welt, über das Leben und den Tod, über das Bestehen und die Vergänglichkeit von Himmel und Erde, über Möglichkeit und Wirklichkeit oder über Wahrheit und Unwahrheit, über Sein und Nichts, über den »Sinn« des Lebens.11 Nach diesem Verständnis können wir auch von bud­ dhistischer Philosophie sprechen, von der Philosophie der Indianer oder etwa von dem oft erstaunlichen philosophierenden Nachdenken und Fragen von Kindern sowie von der philosophierenden Weisheit alter Leute.12 Dem steht ein genauerer Begriff von – heute würde man vielleicht sagen: akademischer – Philosophie gegenüber. Aristoteles selbst hat die Philosophie nicht einfach mit dem Wissen gleichgesetzt. Das eidenai (Wissen) der pantes anthropoi, der Menschen überhaupt, ist erst dann sophia (Weisheit und dann »Liebe zur Weisheit«), wenn es sich auf das Allgemeinste und Höchste, auf die ersten Gründe, Prinzipien und Ursachen alles Seienden als Seienden richtet.13 Die abendländische Philosophie bis zu Hegel hat sich zumeist an dieses Selbstverständnis gehalten. In seinem Sinne ist nur dasjenige Wissen eigens als Weisheit und als Philosophie zu verstehen, das seinen allgemeinen Gegenständen in allgemeinster Weise auf den Grund geht. Dies ist allein die traditionelle abendländische Philosophie, die sich grundsätzlich als Meta-physik14 vollzieht, als Lehre von dem bzw. Fragen nach dem, was »jenseits (meta) des Natürlichen« ist. Die Selbstverständlichkeit dieses Verständnisses der Philosophie ist in verschiedenen Hinsichten ins Wanken geraten. Zum einen hat sie immanent ihren Absolutheitscharakter verloren und sich demzu­ folge in den letzten anderthalb Jahrhunderten diversifiziert. Auch jetzt 11 In vielen weltanschaulichen Essays wird davon ausgegangen, daß der Mensch sich als solcher gedrängt fühle, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Diese Behauptung setzt die m.E. fragwürdige Behauptung voraus, daß das menschliche Leben einen »Sinn« habe. 12 Nicht aber mit gleichem Recht von der Philosophie eines Betriebs, von Unterneh­ mensphilosophie oder der Philosophie eines Fußballvereins. 13 Höchstes Prinzip des Handelns ist die Eudaimonia. Insofern ist die Frage nach dem Wesen und der Erreichbarkeit der Glückseligkeit ebenfalls Teil der Philosophie. Sie ist, als ethisches Wissen – episteme ethike –, nicht auf das Wissen als solches, sondern auf das Handeln gerichtet. 14 Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß der Titel »Metaphysik« höchstwahrschein­ lich nur buchtechnischer Natur war: die Bücher, die auf die der Natur gewidmeten folg­ ten.

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I Philosophierendes Denken

läßt sich zwar rückblickend noch eine Folge von einander ablösenden philosophischen Strömungen oder Schulen aufzeigen, – so wie das von den Anfängen bis hin zum Deutschen Idealismus der Fall war. Aber man kann bei ihnen wohl kaum eine stringente Entwicklung im Sinne einer gemeinsamen Fragestellung feststellen, die verschiedenen turns erscheinen mehr wie unterschiedliche Spielweisen neben- und nacheinander. Die »Metaphysik« spielt dabei nur noch eine unterge­ ordnete Rolle. Die Grenze populär-philosophischer Reflexionen zur Philosophie im strengen Sinne verwischt sich oftmals. Das dritte Verständnis von Philosophie hat sich aus einem kri­ tischen Bewußtsein des eurozentristischen Charakters jenes Philoso­ phiebegriffs ergeben. Zunächst war es das fernöstliche – chinesische, indische und dann auch japanische – Denken mit seinen jeweils uralten Traditionen, das vom europäischen Denken nicht länger igno­ riert bzw. als bloße frühe Entwicklungsstufe der eigenen Philosophie eingeordnet werden konnte.15 Außerhalb des europäisch-abendländi­ schen Denkens, das sich selbst diesen Namen »Philosophie«, »Liebe zur Weisheit«, gegeben hat, finden wir eine große Vielfalt von Wegen, Weisheit zu verstehen und Weisheitslehren zu entwickeln.16 Mit der zunehmenden Globalisierung ist sowohl ein Engagement für die Weisheiten der nord- und südamerikanischen Indianer wie etwa auch ein Interesse am afrikanischen Weisheitswissen oder an den uralten Traditionen der australischen Aborigines entstanden. Am Beispiel der afrikanischen Philosophien wird ein Ineinan­ derspiel unterschiedlicher Philosophieverständnisse deutlich. Es war vor allem die Dekolonialisierung nach dem 2. Weltkrieg, die eine 15 Hegel schreibt in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (163f.): »China und Indien liegen gleichsam noch außer der Weltgeschichte, als die Vorausset­ zung der Momente, deren Zusammenschließen erst ihr lebendiger Fortgang wird.« In seiner entschiedenen Abwendung von Hegel mißt dagegen dann Schopenhauer dem fernöstlichen Denken eine große eigenständige Bedeutung zu. 16 Die interkulturelle Philosophie hat sich in den letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maße um ein Gespräch unter den verschiedensten Ansätzen philosophischen Denkens weltweit verdient gemacht. Im Denken von Martin Heidegger ist ein solches Gespräch – andererseits immer aus der Perspektive des Seinsdenkens – bereits angelegt. »Der späte Heidegger ist zweifelsohne die Schlüsselfigur einer interkulturellen Philosophie, die mit dem Eurozentrismus der westlichen Philosophie bricht, um sich auf die Suche nach einem ›anderen Denken‹ – vor allem in der fernöstlichen Philosophie – zu machen, um die Menschheit vor ihrem Untergang durch die Gefahr der abendlän­ dischen Rationalität und ihrer modernen Technik zu bewahren.« (Harald Lemke, Interkulturelle Philosophie und universelle Ethik, 285–298).

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I Philosophierendes Denken

Selbstbesinnung afrikanischer Intellektueller auf ihre eigenen Wur­ zeln hervorgerufen hat. Während »akademische Philosophen« in Afrika sich an dem traditionellen westlichen Begriff von Philosophie orientieren, stützen sich die »Ethnophilosophen« auf die Tradition, wie sie – vor allem mündlich – in Mythen und Sagen, Riten und Weisheitssprüchen überliefert ist. Ihr Philosophiebegriff entfernt sich weit von dem der westlichen Tradition.17 Mehr oder weniger ausdrücklich wird zumeist jedoch der Philo­ sophiebegriff übernommen, wie er sich im Verlauf der westlichen Tradition herausgebildet hat. Das Augenmerk wird hier vor allem auf die rationale Methode gelegt, die eine eindeutige Abgrenzung gegenüber traditionellen afrikanischen Weisheiten – in positiver oder negativer Richtung – bedeutet.18 Selbst da, wo ein genuines afrikani­ sches Denken in seiner Differenz zum okzidentalen Ansatz gefordert wurde, wie etwa im Négritude-Begriff von Léopold Sédar Senghor oder in der Weisheitsphilosophie von Odera Oruka, scheint gleichwohl das rationale Argumentieren und Begründen und die »methodische Reflexion« Voraussetzung jeden Philosophierens zu bleiben. Je nach der jeweiligen Bestimmung dessen, was man unter »Philosophie« versteht, wird sich entscheiden, ob z.B. das indische Denken, das dem abendländischen Ansatz am nächsten liegt, sowie sonstige ostasiatische Weisen des Denkens, wie etwa der Zen-Bud­ dhismus, oder das jüdische oder das islamische Denken terminolo­ gisch oder sogar begrifflich als Philosophien anzusprechen sind. Ähnliches gilt auf anderer Ebene für die mündlichen Traditionen afri­ kanischer Märchenerzähler oder indianischer Medizinmänner oder die Überlieferungen der Aborigines. Zu klären wäre dann auch, ob man die Erfahrungsweisheit alter Leute oder die erstaunlichen Bemerkungen kleiner Kinder »philosophisch« nennen will. Ich denke, Das gilt dann z.T. auch für westliche Philosophen, die um eine Einbeziehung des afrikanischen Denkens in eine Weltphilosophie bemüht sind. Heinz Kimmerle, der großen Wert auf eine Neubewertung der oralen Literatur legt, geht in seinem Buch Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie sogar noch weiter und legt einen weitesten Begriff von »philosophisch« zugrunde, wenn er von dem philosophischen Gehalt handwerklicher Produkte, etwa aus Bronze und Kupfer oder aus Holz und Terrakotta, spricht. 18 Als sich in den Kolonien und Postkolonien Colleges und Universitäten gründeten, übernahmen sie großenteils auch die zugehörigen Disziplinen und so auch die »Philosophie« Europas. Je nachdem wie eng oder wie weit diese verstanden wurde, konnte »Philosophie« dann, in freier Analogie, die Sache der Ethnophilosophen mit bezeichnen, was jedoch häufig auch zur Kritik führte. 17

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daß diese Abgrenzungsfragen zumindest heute zum Philosophieren über das Philosophieren dazugehören; Kant oder Hegel wären wohl nicht auf die Idee gekommen, sie zu stellen. Mein Fragen nach dem Philosophieren in diesem Buch richtet sich in erster Linie auf die Philosophie im strengen und eigentlichen Sinne. Es geht mir darum, wie eine Philosophie aussehen kann, die sich von ihrer metaphysischen Vergangenheit lossagt, die also keine absoluten Aussagen über ein unveränderliches allgemeines Sein mehr zu machen, vielmehr – gleichwohl philosophisch – über das Zufällige und Endliche zu sprechen versucht. Ein solcher Versuch bedarf der ständigen Auseinandersetzung mit dem, was er hinter sich läßt, dem Glauben an die Wahrheit. * Es gibt eine Antwort auf das traditionelle Fragen nach der Philo­ sophie, mit der trotz aller Differenzen im Einzelnen die meisten einverstanden waren und oftmals auch heute noch sind, nämlich die, daß es der Philosophie um die Wahrheit gehe. Vorausgesetzt war und ist dabei, daß es die Wahrheit gibt. Von dem »unbewegten Herzen der unzittrigen Wahrheit« des Parmenides über Aristoteles’ zwiefältiges Verständnis von Urteils- und Vernunftwahrheit, über Descartes’ Frage nach einem fundamentum inconcussum oder über Kants Einsicht, daß die »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt« »zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« sind,19 bis hin zu Hegels Entfaltung der Wahrheit im absoluten System20 war die Wahrheit das letzte und höchste Thema der Philosophie, und sie definierte sich durchgängig in Bezug auf dieses Erkenntnisziel. Ich denke jedoch – und weiß mich darin weitgehend mit einer Grundüberzeugung der Gegenwart einig –, daß der Ausgang von der Voraussetzung, »daß es die Wahrheit gibt«, heute nicht mehr über­ zeugend ist.21 »Wahrheit ist werdende Konstellation«, sagt Adorno. Kritik der reinen Vernunft, A158/B197. »die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit.« Logik II, 484. 21 Andererseits ist auch heute noch der Glaube an die Einzigkeit der Wahrheit vielerorts ungebrochen. In einer Radiosendung zum 10. Todestag des italienischen Schriftstellers Antonio Tabucchi wurde dessen Überzeugung, daß das Falsche nur eines sei, die Wahrheiten 19

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Das heißt, daß Wahrheit – wenn wir denn an diesem Namen fest­ halten wollen – nur etwas sich Veränderndes und jeweilig sich Erge­ bendes sein kann, sich ergebend nämlich in der kommunikativen Situation des Hier und Jetzt eines bestimmten Miteinander von Mensch und Welt und von Mensch und Mensch. Das jedes Seiende als solches ausmachende, unzerstörbare Wesen, um dessen vernünf­ tige Erkenntnis es dem wahren Wissen zu tun war, ist uns zum Schein geworden. Gibt es dann aber noch »Philosophie«? Können wir dann noch von der Philosophie sprechen? Zerfällt sie dann nicht in eine unüber­ sehbare Vielfalt von beliebigen Einzelansätzen, denen es je nur um ihre besondere und jeweilige Wahrheit zu tun ist? Entscheidend scheint mir angesichts dieser Fragen zu sein, daß wir bereit sind, sie radikal genug zu stellen, und das heißt, nicht unbesehen die Denkvor­ aussetzungen beizubehalten, auf denen das dann nur scheinbar in Frage Gestellte ursprünglich beruhte. Besonderheit und Jeweiligkeit bedeuten Situationsgebundenheit und Orientierungsabhängigkeit. Sie wären nur dann gültige Argumente gegen philosophische Äuße­ rungen, wenn man weiterhin insgeheim bleibende und abstrakt-all­ gemeine Aussagen intendierte. Wenn es jedoch im Philosophieren darum geht, ein durchaus jeweiliges, der Situation angemessenes Verständnis unserer selbst und unseresgleichen sowie der erstaunli­ chen Welt und ihrer Dinge und Geschehnisse zu gewinnen und so die Selbstverständlichkeit unseres Immer-schon-Bescheid-Wissens zu durchbrechen oder aufzulösen, so kann es eben nicht mehr darum gehen, die »Wirklichkeit« »objektiv« und vorurteilsfrei abzubilden. Wir sind immer schon in einer sich – mal langsamer, mal schneller, mal geringer, mal rasanter – verändernden Welt, wir haben keine Perspektive auf sie von außerhalb her. Das philosophierende Verständnis der Welt kann dementsprechend nur ein gewollt subjek­ tives, ausschnitthaftes, innerperspektivisches sein. Es gibt weder die Welt noch den Menschen, noch die Wahrheit. Es gibt darum auch nicht die Antwort, zu der wir gelangen könnten, nicht den Grund oder die Grundstruktur, die es aufzuweisen gälte. Vielmehr können wir uns nur denkend auf die Konstellationen einlassen, in denen wir uns jeweils vorfinden bzw. denen wir begegnen; wir können versuchen aber viele seien, so übersetzt: »Ich glaube, dass die Lüge eine einzige ist. Aber Wirklichkeiten gibt es unzählige.« Mit der Pluralität der Wahrheiten kann – so die implizite Überzeugung des Übersetzers – nur eine Pluralität der Wirklichkeiten gemeint sein.

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zu sagen und zu umschreiben, wie wir in ihnen sind und sein wollen, – wie das jeweils ist: Menschsein, Ichsein, Miteinandersein, Welt, Dinge, Sprache, Natur, Raum, Zeit, Geschichte usw. * Auf vier Weisen oder Wegen versuchen Menschen ihrem grundsätz­ lichen Verstehen- und Wissenwollen, der Suche nach Antworten auf ihre umfassenden und bestimmenden Fragen zu entsprechen: Reli­ gion und Mythos, Kunst, Philosophie, Wissenschaft. Das erste und unmittelbarste Wissen ist das von Religion (im weitesten Sinne) und Mythos. Ursprünglich oftmals in enger Verbundenheit mit diesem steht als zweite Wissensart die Dichtung und, weiter genommen, die Kunst überhaupt. Beide, Religion und Kunst, erschöpfen sich nicht darin, zu wissen. Aber in beiden ist ein Wissen um die Welt und eine Daseinsauslegung enthalten. Beide versuchen auf unterschiedliche Weise zu sagen, »wie es ist«, und teilweise auch, wie es sein soll, oder auch nur, wie es sein könnte. Ihnen zur Seite stehen die Philosophie sowie als vierter Weg – ursprünglich aus ihr hervorgegangen, dann aber verselbständigt – die Wissenschaften, die ich hier aber beiseitelassen will. In der Phi­ losophie werden, so könnte man vielleicht sagen, die Momente von Religion und Kunst, in denen es um die Erkenntnis der Wirklichkeit geht, gleichsam für sich herauspräpariert oder abstrahiert. Die frühe griechische Philosophie hat ihre Vorläufer sowohl im Mythos wie in der Dichtung, die da weitgehend untrennbar erscheinen. Fragen wir nach dem Unterschied der (abendländischen) Philosophie gegenüber Religion und Dichtung (etwa der Tragödie oder der Lyrik), so zeichnet sich das Philosophieren dadurch aus, daß es von den real in der Welt wirkenden und gleichwohl bildhaften Kräften und Schicksalsmächten zu abstrakten Prinzipien mit Begriffscharakter übergeht, griechisch gesagt vom mythos zum logos. »Begriffscharakter« heißt da nicht, daß es sich um sogenannte »bloße« Begriffe, um nur Ausgedachtes handeln würde. Die Seinsweise dieser »Prinzipien« ist von vernunft­ mäßiger oder denkgemäßer, allgemein abstrakter Art; eben darin unterscheiden sie sich von den konkreten und lebensnahen Erzählun­ gen und Erklärungsgründen des Mythos. Die philosophische Auseinandersetzung mit der Welt begegnet uns in zwei Grundintentionen, die sich zum Teil überschneiden, zuweilen auch ergänzen; manchmal laufen sie bloß nebeneinander

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her, manchmal schließen sie sich aber auch mehr oder weniger gegen­ seitig aus: Zum einen geht es der Philosophie in erster Linie um eine grundsätzliche Erkenntnis der Welt sowohl im Ganzen wie in ihren geschichtlich gewordenen Situationen, ihren wesentlichen Struktu­ ren, sowie den Verhältnissen, in denen der Mensch sich allgemein vorfindet und in denen er sich fühlend, wahrnehmend, handelnd und erkennend zu dieser Welt und ihren – sinnlichen wie übersinnlichen – Dingen und Geschehnissen sowie zu sich und seinesgleichen verhält. Das kann auf eine rationale, begründende, begrifflich festlegende Weise geschehen, wie in unserer eigenen Tradition, oder auf eine eher mythologisch zu nennende Weise, wie z.B. in den Welterzählungen der Indianer oder der Aborigines. Zum anderen kann es der Philosophie auch darum zu tun sein, das menschliche Sein in der Welt nicht nur zu verstehen, sondern es zu leiten, ihm zu helfen und es darin zu unterweisen, wie es den »rechten Weg« zu seinem Heil – in »dieser« oder in »jener« Welt –, u.a. zur Erleuchtung oder zur Erlösung finden kann. Ersichtlich gehört zu diesem Denken dann notwendig auch eine implizite oder explizite Bestimmung dessen, was der rechte Weg und das »gute Leben«, was das Seelenheil, was die wahre Bestimmung des Menschseins sei. Dieses bestimmende Wissen steht dann nicht als solches im Vordergrund, es ist nur Vorstufe zu dem Weg der Seele selbst. Oft­ mals ist hier die Unterscheidung zwischen allgemein-menschlichem, religiösem und im eigentlichen Sinne philosophisch zu nennendem Wissen oder Denken nicht einfach zu treffen. Ein schönes Beispiel ist hierfür die japanische – durchaus als philosophisch zu bezeichnende – Zen-Geschichte Der Ochs und sein Hirte.22 Sie beinhaltet zehn Bilder mit jeweiligen Vorworten und Lobgedichten, die den Weg von der Ein­ sicht in den Verlust des eigenen Herzens und anfänglichen Wesens, zur Suche nach ihm und dem schließlichen Finden bis hin zur freien Aufgabe und dem Vergessen aufzeigen. Nach dem Einbruch in den »Bereich der Selbstlosigkeit« kehrt der Hirte »offenen Herzens« zu den gewöhnlichen Menschen zurück, um sie »zu retten«. Auch in unserer abendländischen Tradition gab und gibt es Vertreter dieser die menschliche Existenz unmittelbar betreffenden Philosophierichtung; Pythagoras und seine Schule, Seneca, Augusti­ nus, die Mystik, zu Teilen auch Platon, Nietzsche und Kierkegaard Sie ist in einer Reihe von Ausgaben überliefert. Ich gehe von der Übersetzung von Koîchi Tsujimura und Hartmut Buchner aus.

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gehören, zumindest auch, auf diese Seite, – um nur einige wenige Beispiele aufzugreifen. Gleichwohl stellt in der abendländischen Philosophie diese Richtung, zumindest da, wo sie uns in reiner Ausprägung entgegentritt, so etwas wie einen zweiten Weg dar. Seit den frühen Vorsokratikern ist der Königsweg der Philosophie der des reinen Denkens, der reinen Vernunft und der Theorie. Sie fragt allgemein nach dem, was das Seiende, was die Welt und was der Mensch dem Wesen nach ist, sie ist in einem weiten Sinne Ontologie bzw. Metaphysik.23 Zu diesem Fragen gehört es seit Parmenides und bis zu Hegel konstitutiv, daß es alles alltäglich Menschliche, das Meinen und Betreiben der sterblichen Geschäfte hinter sich läßt, um sich in den stillen Räumen des Geistes, in der »leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis«24 aufzuhalten. Im Selbstverständnis der Philosophie nach Hegel hat sich in diesem nicht primär ethischen, therapeutischen oder soteriologischen, sondern ontologischen Verständnis der Philosophie Entscheidendes verändert. Sehr verkürzt und allgemein gesagt, ist in den verschie­ densten philosophischen Richtungen das Interesse an einem Verste­ hen des menschlichen und zwischenmenschlichen In-der-Welt-Seins in seiner Jeweiligkeit und Veränderlichkeit, seiner Sterblichkeit und Endlichkeit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, die Besonder­ heit und Differenz erscheinen dem sich als endlich verstehenden Nachdenken bedeutsamer und also frag-würdiger als die allgemeinen, unwandelbaren, identischen Prinzipien des Seins. Immer noch steht – und ich denke, dies gehört als bleibendes Erbe konstitutiv zu unserem abendländischen Denken – das Wissen und Erkennen im Vordergrund des philosophierenden Bemühens. Philosophie im engeren Sinne bleibt für uns weder spirituelle Erweckung noch Läuterung der Seele. Aber sie ist jetzt nicht mehr Wesens- oder Ursprungswissen, sie fragt nicht mehr nach unveränderlichen Prinzipien des Seins, nicht mehr, was das Seiende in seinem unveränderlichen Wesen ist. Dadurch ist sie von vorneherein auch mit dem menschlichen Handeln, mit praxis und poiesis, verbunden. Was Adorno den »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegen­ stand« und was Heidegger »Gelassenheit« nennt, das ist ein Denk­ gestus, der nicht mehr ergreifen und begreifen, nicht mehr vereinnah­ Zu der auch die Ethik, die praktische Philosophie als Theorie von den Tugenden und der Glückseligkeit und dem beiden entsprechenden Handeln, gehört. 24 Hegel, Wissenschaft der Logik I, 22. 23

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men, bewältigen und sicherstellen will, sondern der sein Begnügen, aber auch sein Vergnügen daran hat, zu vermuten, zu umspielen, aufzuzeichnen, zu erfahren.25 Interessanterweise sprechen sowohl Adorno wie Heidegger – wenn auch mit unterschiedlichen Konnota­ tionen – von einer Konstellation zwischen dem Denken und seiner Sache.26 Das besagt, daß das Verhältnis zwischen Denken und Sache als ein Geschehen verstanden wird, ein Geschehen, das sich von beiden Seiten her und in wechselseitiger Kommunikation beider ergibt und verändert. Dieses Zusammenspiel von Sein und Denken unterschei­ det nicht mehr säuberlich zwischen Theorie und Praxis, »Denken« ist jetzt das Verhalten des Menschen zu dem ihn Umgebenden und ihm Gegebenen im weitesten Sinne.

kritisches Denken Kritisch denken, – angesichts der Veränderlichkeit und Endlichkeit von Sein und Mensch hat das Denken kein sicheres, unerschütterli­ ches Fundament, das ihm Wahrheit und Ständigkeit zu garantieren vermöchte. Es ist zudem durch eine wesentliche, d.h. unaufhebbare Zwei-deutigkeit gekennzeichnet: es deutet stets zugleich in zwei Richtungen, die es voneinander scheidet und zugleich aufeinander bezieht, die des Soseins und des gleichzeitigen Anders- oder Nicht­ seins. Insofern ist es wesentlich geschichtlich. Ein Denken, das sein Fragen auf das geschichtlich Seiende als ein solches richtet, ist ein kritisches Denken. Damit ist nicht gemeint, daß es sich ständig gegen alles wenden würde, was ihm begegnet, daß es von der Überzeugung getragen wäre, daß alles, was ist, als solches verdient, unterzugehen bzw. vernichtet zu werden. Das kritische Denken bleibt sich immer der Zeitlichkeit und Endlichkeit dessen, was ist, bewußt. Als Gegenwärtiges steht es stets auf einer Schwelle, auf der Schwelle zwischen dem sicheren Gewordensein und einer unsicheren Veränderung bis hin zum möglichen Wiedervergehen, wobei für alle drei, für das Gewordensein, das veränderliche Dasein Bei beiden geht es irgendwie um die Zukunft des Menschen. Das scheint meiner obigen Unterscheidung zwischen westlichem und östlichem Denken zu widerspre­ chen. Aber bei beiden handelt es sich nicht darum, eine Erleuchtung, eine Läuterung der Seele von den irdischen Begierden zu gewinnen. 26 Adorno verwendet den Begriff allerdings in drei Bedeutungen: Konstellation zwischen Mensch und Gegenstand, Konstellation zwischen (menschlichen) Begriffen und Konstellation innerhalb der Sache. Vgl. Verfasserin, Identität oder nicht, 120. 25

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und das Vergehen – oder auch Andauern – menschliches Tun eine Mitverantwortung trägt. Die Schwelle markiert zugleich den Schritt in das, was wir Zukunft nennen, das, was auf uns zukommt. Ihr Charakter, das, was sie mit uns und für uns macht, entscheidet sich durch eine Vielzahl von Faktoren, die aus Vergangenheit und Gegenwart hervorgehen. Aber gerade auch für sie tragen wir Mitverantwortung. Wie wir unser In-der-Welt-Sein „handhaben“, wie wir uns zu uns, zu unseren Anderen und zu unserer Um-welt verhalten, ob wir bereit sind, uns auf unser Wollen und Können zu besinnen, – das geht in das auf uns Zukommende mit ein. Aber es steht notgedrungen in steter Auseinandersetzung mit dem, was durch und ohne uns zuvor gesche­ hen ist, mit dem, was wir geworden sind. Indem wir vorausschauen, blicken wir zurück. Wir können uns nicht einfach etwas Schöneres, Angenehmeres, ein besseres Leben aus-denken. Aber unser Denken kann auch nicht nur beschreiben, was es vor sich sieht. Darum ist dieses Denken kritisch; es kann nicht anders als scheiden (krinein), nämlich begrüßen oder beklagen, bejahen oder verneinen, aufnehmen oder liegen lassen. Wo es lediglich zu sagen vorgibt, was da ist, wo es also sine ira et studio zu beschreiben ver­ meint, da betrügt es sich selbst, denn da affirmiert es unbemerkt das Bestehende und dessen Schein von Beständigkeit. U.a. vernachlässigt es damit das, was sich verbirgt oder an sich hält, das, was noch nicht oder fast nicht mehr ist, oder was nur vorgibt zu sein oder nicht zu sein. Die unkritische Bestandsaufnahme ist notwendig blind gegen­ über den mannigfachen Weisen erscheinenden Nichtseins, gegenüber Mangel und Ende, Distanz und Anderssein, Möglichkeit und Tendenz und Offenheit. Wenn es in der Philosophie darum geht, zu fragen, was es heißt, und vor allem, wie es geschieht, daß Menschen sind und in der Welt sind, wie Welt geschieht und wie die Dinge und Geschehnisse und Verhältnisse in dieser Welt sind, – wie ist es dann zu verstehen, daß sowohl in der gegenwärtigen Universitätsphilosophie wie auch in der philosophischen Literatur die Auseinandersetzung mit und die Auslegung von Texten so einen breiten Raum einnimmt? Zuweilen hat man den Eindruck, daß das in Schriften niedergelegte schon Gedachte so hoch eingeschätzt wird, daß nur eine Orientierung an ihm das jeweilige eigene Denken zu legitimieren vermag. Oder daß die Ehrfurcht vor den klassischen Texten so groß ist, daß man meint,

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nur ihnen überzeugende Einsichten über uns und die Welt entnehmen zu können. Es gibt unterschiedliche, durchaus legitime – zum Teil sogar notwendige – Weisen, sich philosophierend mit schon Gedachtem zu beschäftigen. Häufig geht es um eine historische Kenntnisnahme. Die Geschichte der Philosophie wird als eine Art Museum verstanden, deren Ausstellungsstücke die Texte aus unterschiedlichen Zeiten und Denkansätzen darstellen. Man schaut sich darin um, um große Denkerzeugnisse kennenzulernen, die Geschichte und das spezifische Gewordensein zeitgenössischer Probleme zu verstehen, um sich an großen Denkern der Vergangenheit zu schulen und zu erfreuen. In einer anderen Weise setzt sich das eigene Denken und Wei­ terdenken mit dem schon Gedachten so auseinander, daß es sich Fragen und Antworten vorgeben läßt, um sie zu übernehmen oder zu verändern; es kann die Tradition als Steinbruch benutzen, um an ausgewählten Texten, Passagen oder Wendungen positiv oder negativ das Eigene zu klären und weiterzuentwickeln. Und schließlich scheint mir der Bezug auf bestehende Texte gerade im universitären Philosophiebereich auch ein ganz pragmati­ scher zu sein. Denn Texte bieten ganz anders als frei spekulierende Gedankengänge eine Möglichkeit zur Bearbeitung und Beurteilung, weil sie jeweils eine bestimmte Begrifflichkeit und einen explizierten Problembereich vorgeben, innerhalb deren sich eine Verständigung herausbilden kann. Adorno betont in diesem Sinne einmal, »daß man nicht drauflosdenken soll, sondern an etwas. Zu interpretierende und zu kritisierende Texte stützen darum unschätzbar die Objektivität des Gedankens.«27 Das führt zu einem wichtigen Gesichtspunkt: Wir vermögen in der Philosophie grundsätzlich nie neu anzufangen, die Sprache und die Begrifflichkeit, in der wir denken, ist eine gewordene, gemachte. Sie ist geschichtlich. Die Frage, warum wir uns mit vergangenen Texten abgeben, anstatt selbst zu denken, ist diesem Verständnis nach falsch gestellt, es kann sich hier um keine Alternative handeln. Wir beschäftigen uns mit vergangenen Philosophien nicht obwohl, sondern weil sie vergangen sind. Denn das schon Gedachte stellt den Boden dar, auf dem wir im Weiterdenken aufbauen können und oftmals müssen. Mit seinen Gedanken, Kategorien, Fragestellungen und Lösungsversuchen ist es weitgehend das Material, mit dem wir es 27

Anmerkungen zum philosophischen Denken, 19.

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zumeist auch dann noch zu tun haben, wenn wir etwas Neues, bisher Ungedachtes zu weben vermögen. Wie lange, besser: wie intensiv wir dieses schon bereiteten Bodens und dieses schon bearbeiteten Materials bedürfen, das wird sich von dem her entscheiden, was wir damit anfangen bzw. was sich im Weiterdenken begibt und ergibt, wir können auch sagen: von dem zu Denkenden. Adorno und Heidegger haben sich beide, wenn auch auf jeweils sehr unterschiedliche Weise, mit der Tradition beschäftigt und aus­ einandergesetzt. Das Denken beider ist aber auch, vor allem das von Heidegger, Beispiel für den Gebrauch dessen, was Adorno die »produktive Phantasie« des Lesenden nennt.28 Das schon Gedachte ist – über ein legitimes historisches Interesse an Kultur- und Bildungs­ gütern hinaus – nicht einfach als solches bedeutsam. Wir müssen es vielmehr in einen Zusammenhang mit den uns heute bedrängenden philosophischen Fragestellungen einladen, damit es zu einem auch für uns relevanten Sprechen werden kann, – sei es, daß wir uns dann kritisch von ihm absetzen oder daß wir ihm Bestätigungen oder Anre­ gungen, auch neue Aufforderungen zum Weiterdenken entnehmen. So lassen wir uns, hermeneutisch gesagt, auf den geschichtlichen Wirkungszusammenhang ein, in dem sowohl das in den klassischen Texten aufbewahrte schon Gedachte wie unser eigenes gegenwärti­ ges als auch das jeweils so oder so mögliche zukünftige – noch u-topische – Denken ihren Platz haben. Insofern hat das heutige Philosophieren notwendig auch einen kritischen Charakter in Bezug auf die tradierte Philosophie. Oftmals ist es, wie schon angedeutet, nicht nur sachlich notwen­ dig, sondern auch praktisch einfacher, die eigenen Gedanken und Fragen in der kritischen Auseinandersetzung mit Texten der Tradition zu entwickeln, was als ersten Schritt ihre geduldige und zunächst durchaus bescheidene, interpretierende Aneignung erfordert. Aber bei dieser können wir nicht stehen bleiben, wenn wir uns andererseits zu der Notwendigkeit eines produktiven Weiterdenkens bekennen. Wir sollten uns bei aller Anerkennung der Größe und Bedeutung der Vor- und Mitgänger von ihnen nicht zu sehr bestimmen oder gar einschüchtern lassen.29 Sonst verlieren wir leicht aus den Augen, Skoteinos oder Wie zu lesen sei, 157. Mir stellt sich da beim Lesen zuweilen die Frage, ob nicht ein eigener Durchgang durch die »Sache selbst«, die der Autor im Blick hatte, diese deutlicher, »sachgemäßer« und weniger »technisch« vermittelt hätte.

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warum wir sie überhaupt für unser aktuelles Denken zu Hilfe rufen. Auch wenn wir uns darauf besinnen, daß uns die Fragen und Begriffe unseres Denkens »materialiter« weitgehend durch das vergangene Gedachte vorgegeben sind – und jedes, auch das zeitgenössische Geschriebene ist vergangenes Denken in diesem Sinne –, auch dann kommt es vor allem darauf an, die eigenen Fragen nicht aus dem Blick zu verlieren und ihnen das ihnen zukommende Gewicht einzu­ räumen.30 Bei der Auseinandersetzung mit schon Gedachtem kommt es also darauf an, so etwas wie ein Zusammenspiel in Gang kommen zu lassen, die in jenem sprechende Erfahrung mit unserer eigenen Erfah­ rung in eine produktive Beziehung zu bringen. Damit ein solches pro­ duktives Aufnehmen möglich wird, braucht es – abgesehen von einer gründlichen Kenntnis – nicht allein und nicht einmal vornehmlich eine scharfe Intelligenz, sondern das, was Adorno, wie schon ange­ führt, den »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand« und die »Geduld zur Sache« nennt, ein fast spielerisches Sich-Einlassen auf den Text, es braucht jene produktive und exakte Phantasie, die die »Kraft des Denkens, nicht mit dem eigenen Strom zu schwimmen«, aufbringt,31 sie macht den Gegenstand zum Gesprächspartner in einer Kommunikation, in der sich Unvermutetes und Erstaunliches zeigen könnte. Mit Texttreue im üblichen Sinn hat das nicht viel zu tun. Allein ein freigebender Blick vermag das vergangene Denken zu seinen neu sich ergebenden Möglichkeiten zu entbinden wie andererseits auch dessen Grenzen und Beschränkungen aufzuzeigen.32 Solche Grenzen und Beschränkungen ergeben sich zu einem guten Teil aus der geschichtlich-situativen Differenz, die zwischen den klassischen Texten und den gegenwärtigen Fragen bestehen. Zum einen macht insbesondere die geschichtliche Situation, in der wir uns seit bald 200 Jahren, d.h. nach der Philosophie des Deutschen Idealismus befinden, eine kritische Auseinandersetzung mit dem 30 Was natürlich nicht heißt, umgekehrt das Gedachte und seine Texte zu überfallen und sie dem eigenen Denken einfach zu integrieren oder zu unterwerfen. Wo Eigenes in die Interpretation oder Analyse eingeführt wird, sollte das gekennzeichnet werden. 31 Anmerkungen zum philosophischen Denken, 14, 16. 32 Einen in meinen Augen exzessiven Umgang mit schon vorliegendem Gedachtem sehe ich zuweilen in Texten von Jürgen Habermas. Seine Theorie des kommunikativen Handelns liest sich wie eine kunstvolle Montage von unterschiedlichen Theoriestü­ cken zu einem systematischen Zusammenhang. Der Theoretiker des kommunikativen Handelns erscheint insofern als ein genialer Handwerker, der aus dem vorgegebenen Gedankenmaterial ein konsistentes Gedankengebäude zimmert.

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Denken der klassischen philosophischen Tradition von den frühen griechischen Denkern bis hin zu Hegel notwendig. Zum anderen gehört überhaupt zu jedem philosophierenden Neuanfang, daß er sich am Bisherigen gewissermaßen abarbeitet, das eigentliche Welt- und Selbstverständnis im Gespräch mit den Wegen artikuliert, die andere schon gegangen sind. * Die in diesen Weisen von Auseinandersetzung implizierte Kritik erschöpft jedoch nicht das kritische Potential der Philosophie oder mehr noch: die Aufgabe der Kritik, die dem philosophischen Denken als solchem zukommt. Die philosophische Kritik betrifft nicht nur die jeweils bisherige Philosophie, sondern auch und gerade die jeweilige Wirklichkeit. In den vergangenen beiden Jahrhunderten haben die Philosophen zunehmend eingesehen, daß die Wirklichkeit nichts unabhängig vom menschlichen Denken Bestehendes ist. Sie ist viel­ mehr in ihrem Sosein mit davon bestimmt, wie sie im Sprechen und Denken »behandelt« – im wörtlichen Sinne mani-puliert – wird, in welchen Kategorien und Begriffen, durch welche Blickweisen und Kriterien sie erfaßt wird. Daraus folgt, daß das Kategorien und Blickbahnen entwerfende Denken der Philosophie, ob es das will und darum weiß oder nicht, die Welt, in der wir leben, aktiv mitgestaltet und verändert.33 Ich denke, wir können heute sehen, daß das immer so war. Platon und Aristoteles, Descartes und Kant und Hegel, Nietzsche und Husserl haben durch ihre Weise, die Wirklichkeit zu sehen und begrifflich zu fassen, an dieser selbst mitgewirkt. Eine Wirklichkeit, in der Substanzen durch Akzidentien bestimmt werden und die in der Ordnung von Subjekt und Prädikat verfaßt ist, eine Wirklichkeit, in der alles, was in sinnlicher Weise ist, aus einem materiellen Stoff und einer geistigen Form zusammen­ gesetzt ist, eine Wirklichkeit, die in der Spannung von dynamis und energeia existiert – um nur ursprünglich aristotelische Konzepte zu nennen –, eine solche Wirklichkeit ist qualitativ eine andere als die, in der diese Seinsweisen noch nicht in Erscheinung getreten sind oder in der sie umgekehrt ihre gewordene Selbstverständlichkeit verloren Hier wäre an den berühmten letzten Satz der Feuerbach-Thesen von Karl Marx zu erinnern: »Die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« 33

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haben. Sehr deutlich können wir uns die reale Macht der denkenden Bestimmungen vor Augen führen, wenn wir uns auf den Wandel besinnen, der in der Geisteshaltung des abendländischen Menschen mit dem Beginn und der weiteren Entwicklung der Neuzeit aufgetre­ ten ist, als der Mensch ausdrücklich zum Subjekt und das Wirkliche zum Objekt wurde.34 Das Herrschafts- und Bewältigungsverhältnis, die konstitutive Weltlosigkeit, der wesenhafte Egozentrismus und Individualismus, die seit diesem Wandel mit Selbstverständlichkeit den menschlichen Bezug zur Wirklichkeit charakterisieren, haben diese in spezifischer Weise verändert. Phänomene wie Technifizie­ rung und Verwissenschaftlichung sind Folgeerscheinungen jener Ver­ änderung. Genauer handelt es sich bei solchem Verändern um ein den­ kendes Mitwirken bei der Weltbildung. Der Mensch schafft nicht, wie ein Gott, von sich aus seine Welt, weder im Denken noch im Handeln. Er begegnet jeweils einer Realität, ihren Widerständen und Erfordernissen und Notwendigkeiten. Er antwortet und reagiert auf dieses Begegnen, er nimmt auf und tut, ist passiv und aktiv, rezeptiv und spontan, reaktiv und schöpferisch. Und er ist dieses jeweilig Zwiefältige, indem er wahrnimmt und fühlt und spricht und denkt. In Bezug sowohl auf die Sprache wie auf das Verstehen sind diese Zusammenhänge und Wechselseitigkeiten im vergangenen Jahrhundert ausführlich und in unterschiedlichen Richtungen bedacht und diskutiert worden. Selbst das alltägliche Denken ist sich heute weitgehend darüber im Klaren, daß schon die Weise, wie wir das uns Umgebende sehen, ja sogar, was wir jeweils wahrnehmen, erblicken, hören und riechen, nichts rein »Objektives«, nur am Gegenstand Orientiertes ist; daß auch die Weisen, in denen wir etwas denken und untersuchen, maßgebend dafür sind, wie es in unserer Welt wirklich ist und wie es uns in Zukunft begegnen kann.35 Haben wir diese Macht des Denkens einmal eingesehen, so erwächst uns daraus eine ungeheure Verantwortung. Denn es hängt jetzt mit an uns und unserem Denkgestus, wie der Mensch und die Welt und die Bezüge in ihr sich künftig entfalten und gestalten. Wir müssen uns auf eine Kritik der gegenwärtigen Wirklichkeit einlassen, müssen das Bestehende – da, wo wir es als beschädigend und krank­ Vgl. hierzu Verfasserin, Wollen wir noch Subjekte sein? Die Forderung nach einer gegenderten Sprache oder auch nach einer political correctness im Sprechen gehen von dieser Tatsache aus.

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machend, als einem sinnvollen menschlichen In-der-Welt-Sein und Miteinandersein widersprechend erkennen – in Frage stellen. Dabei zeigt sich dann, wie eng die Kritik der Philosophie und die Kritik der Wirklichkeit zueinander gehören. Wir können die Aufgabe der denkenden Veränderung nur in der Weise übernehmen, daß wir uns auf die Grundlagen unseres Welt- und Selbstverständnisses besin­ nen und d.h. darauf, wie dieses geworden, nämlich von Menschen hervorgebracht worden ist. Weil es gemacht wurde, kann es auch verändert werden. Worauf es dann u.a. ankommt, ist, die Denkvoraussetzungen zu untersuchen, zu reflektieren und zu diskutieren, evtl. in Frage zu stellen bzw. zu verändern, also zu kritisieren. Sie haben zu Kategorien, Werten und unhinterfragten Überzeugungen geführt und dann ggf. eine Situation hervorgebracht, mit der wir uns nicht mehr identifizie­ ren, die wir nicht als von uns gewollt anerkennen können oder wollen. Jene Kategorien und Werte sind immer eingeführte und schließlich anerkannte, etablierte, die ihre Anerkennung auf Grund anderer, neuer Einsichten, auf Grund veränderter realer Voraussetzungen, auf Grund sich verändernder Präferenzen und Entscheidungen auch verlieren können. Solche Veränderungen vollziehen sich nicht allein im und durch das Denken, sie vollziehen sich vor allem unmittelbar in der Realität und in den Erfahrungen, die in und mit dieser gemacht werden, in den materiellen Lebensbedingungen und den allgemein­ gesellschaftlichen Interpretationen und Selbstverständnissen. Aber sie geschehen auch im Denken der Philosophie. Allerdings sind sie keineswegs eindeutig; die erläuternde Diagnose gehört zu den ersten und unverzichtbaren Schritten ihrer Kritik. Wenn wir die Gegenwart ohne Illusionen betrachten, dann besagt das u.a., daß wir ihren Gefahren, Bedrohungen und Risiken unvoreingenommen zu begegnen suchen. Statt daß wir sie fälsch­ licherweise als »Naturnotwendigkeiten« und bloße »Sachzwänge« mißverstehen, werden wir sie in großem Maße menschlicher Trägheit, menschlichem Unvermögen und menschlicher Schuld zurechnen. Wir brauchen keine Utopien für eine dermaleinstige Zukunft. Denn wir brauchen und vermögen uns keinerlei Hoffnung auf eine irgend­ wann in der Zukunft eintretende Rettung von innen oder von außen zu machen. Vielmehr müssen wir anerkennen, daß das, was kommt und kommen wird, unserer heutigen Verantwortung und nichts anderem aufgegeben ist. Nicht auf den – allerdings auch bei ihm vereinzelt

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stehenden36 – Satz Heideggers: »Nur ein Gott kann uns retten« sollten wir hören, sondern auf Hölderlins Aussage: »Es wendet sich aber mit diesen«, nämlich mit den Sterblichen, – also mit uns. Fraglos enthält auch die gegenwärtige Wirklichkeit Gutes und Beglückendes, auch Chancen und Hoffnungen. Adornos bekanntes Diktum, wonach es »kein richtiges Leben im falschen« gebe37, womit er von einer umfassenden und die Gegenwart prinzipiell korrum­ pierenden Negativität ausgeht, widerspricht unser aller Erfahrung. Gleichwohl sind das Unheil und die Gefahren, die unser Leben und Weiterleben bedrohen, seit den Minima Moralia nicht geringer, eher noch sichtbarer und bedrohlicher geworden. Heute ist es vor allem die ökologische Krise, die als Grundrisiko unser aller Leben bedroht, zumal die Lebensmöglichkeiten derer, die nach uns kommen. * Jede Kritik wie jedes mit ihr einhergehende willentliche und wis­ sentliche Verändern bedarf eines Kriteriums. Dieses Kriterium des Anders-Denkens kann heute nicht mehr die Wahrheit oder das wahre Wesen des zu Denkenden sein. Wir können, so meine ich, nicht sagen, Mensch und Welt sollten darum anders gedacht werden als z.B. in der Epoche der Metaphysik oder spezifischer der Moderne, weil jene die Wahrheit falsch oder nicht angemessen bestimmt, das Menschenwesen etwa grundsätzlich verfehlt hätten. Was aber können wir dann sagen? Können wir uns auf ein prinzipiell Gutes im Sinne apriorischer Normen berufen, von dem her das Bestehende in Frage zu stellen wäre? Ich denke nicht. Und dies darum nicht, weil wir gar keinen Begriff davon haben können, was das richtige Leben wäre, – weil es das Richtige so wenig gibt wie das Wahre oder das Schöne. Doch ist uns mit diesen Überlegungen nicht jedes Kriterium aus der Hand genommen. Wir gehen bei unserer Kritik von negativen Erfahrungen aus, die wir machen, – ich erwähnte eben das Krankma­ chende und Beschädigende. Denken wir an die Vernutzung der Erde, an die Ausbeutung und die Unterdrückung, die das Verhältnis zur Erde und zu anderen Menschen heute so weitgehend bestimmen. Diese Erfahrungen sind darum negative und werden darum zum Kriterium unserer Kritik, weil sie dem widersprechen, was wir als 36 37

Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel, 31. Mai 1976, 193–219. Minima Moralia, 42.

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für unser menschliches Sein auf dieser Erde für gut und angemessen ansehen. Es geht also zwar nicht um das Wahre oder das Gute schlechthin, aber um das, was wir heute als Gutes oder Richtiges für unser In-der-Welt-Sein und unser Zusammensein empfinden und dementsprechend wollen. Dies aber ist nur in einem kritischen und jeweils vorläufig bleibenden Diskurs »der Menschen« zu verhandeln, von dem die jeweilige Philosophie ein Teil ist. Mit diesem »Wollen« ist keine Willkür und keine Beliebigkeit gemeint. Es rekurriert auch nicht auf eine reale oder eine kontrafak­ tische Vernünftigkeit. Vielmehr meint es ein in der Kommunikation mit Anderen und in der Kommunikation mit der Welt und ihren Geschehnissen durchaus kontingent gewonnenes Wollen desjenigen Menschseins, zu dem wir gemeinsam, d.h. als Menschen, Ja sagen können. Das mag unbefriedigend sein, wenn wir an die metaphysi­ schen Sicherheiten eines göttlich oder vernünftig bestimmten und begründeten Menschenwesens zurückdenken. Aber es kann uns umgekehrt auch als das »Schönere«, weil uns »Gemäßere« erschei­ nen. Wir haben zwar über die Jahrhunderte und Jahrtausende hin das Prinzip des Rechenschaft-Ablegens und das Bedürfnis einer absoluten Vernünftigkeit so verinnerlicht, daß es uns unheimlich erscheint, uns stattdessen auf die Evidenz und Plausibilität dessen zu verlassen, was wir im eigenen Nachdenken und Ausphantasieren und im Gespräch mit Anderen als für uns wünschenswert und sinnvoll erfahren, was also jeweils nur durch das Hier und Jetzt des »für mich« und »für uns«, des Gewollten und Erhofften beglaubigt wird. Aber ein solches bewußtes Verbleiben in der gemeinsamen condition humaine könnte doch auch das »menschlichere«, spielerischere, genußreichere sein.38 Die Frage, wie es ist, ist, wie oben gesagt, auch die Frage, wie es geworden ist. Gadamer spricht von einem »Einrücken« des Verste­ hens »in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.«39 Die denkende Beschäftigung mit der Gegenwart reicht jedoch nicht nur in die Vergangenheit zurück, sie sucht und geht auch einen Weg nach vorne, in die Zukunft. Daß der Raum des Denkens ein geschichtlicher ist, besagt auch, daß sein Gehen wesenhaft den Charakter des Weitergehens hat. In diesem Wort – weitergehen – liegt beides: daß es einen Weg fortsetzt, der Auch der heute allerdings ziemlich inflationär gebrauchte Begriff der Freiheit wäre hier mit ins Spiel zu bringen. 39 Wahrheit und Methode, 295. 38

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anderswo herkommt, auf dieser Herkunft basiert und ihrer eingedenk bleiben muß; wie auch dem zuvor noch, daß es diesen Weg in die Zukunft tatsächlich, Schritt für Schritt, geht, womit es sich notwendig von seiner Vergangenheit entfernt und sie hinter sich läßt. Das Phi­ losophieren braucht sich nicht von seiner Vergangenheit zu befreien, weil diese immer schon, positiv wie negativ, in es eingegangen ist. Es ist durch das schon Gedachte und durch das schon Geschehene nicht eindeutig gebunden; es muß seinen Weg nicht – vergleichbar Benjamins Engel der Geschichte – mit dem Blick rückwärts in die Tradition gewandt gehen. Indem es zu sagen versucht, wie es ist, wie es gewesen und geworden ist und wie es vielleicht sein könnte und insofern auch noch nicht ist, richtet es sich in seiner Grundintention auf ein noch nicht Gedachtes, erst zu Denkendes. Wenn wir fragen, worauf sich die philosophische Kritik zu richten hat, wann und wo wir denkerisch den Sprung dahin wagen müssen, wo wir schon sind, was die Aussichten, Perspektiven und Kriterien sind, von denen aus und zugleich in Richtung auf die hin wir die Scheidung vornehmen sollen, so ergibt sich die Antwort von daher, daß wir als Menschen auf der Erde wohnen. Dieses unser irdisches Wohnen ist dasjenige, worauf sich unser philosophisches Unterscheiden naturge­ mäß und von sich aus richtet. Das philosophische Denken ist somit nicht einfach ein Beschrei­ ben unseres In-der-Welt-Seins und seiner Welt. Indem es zu sagen versucht, was und wie es ist, versucht es die Linien und Bahnen und Wege aufzuzeigen, gemäß denen etwas hervorgebracht wurde oder sich zuträgt oder ergibt. Das ist nichts »Objektives« und nichts bloß »neutral« zu Konstatierendes. Menschlich-geschichtliche Ereignisse oder Ergebnisse haben als solche immer eine spezifische Relevanz, es hat diese oder jene Bewandtnis mit ihnen. Und wir stehen immer schon mitten unter ihnen, sie gehen uns an, so oder so, zum Guten oder zum Schlechten. Indem wir uns zu ihnen verhalten, gehen wir auf sie zu und nehmen sie an, oder wir lehnen sie ab. Wir mögen sie oder mögen sie nicht, wir können etwas mit ihnen anfangen, sie lassen uns gleichgültig, oder wir bekämpfen sie. Wir sind in ständiger Auseinandersetzung mit ihnen. Was bedeutet dieser ontologische Charakter des Unterscheidenund Scheidenmüssens konkret und praktisch für unser Denken hier und jetzt? In welche Richtungen gehen die von ihm zu treffenden Differenzierungen? Unsere gegenwärtige Welt ist offensichtlich in so vielen Beziehungen mangelhaft und verbesserungswürdig, daß

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es eine Vielzahl von Ansatzpunkten für eine fundierte Kritik gibt. Der durch die moderne Wissenschaft und Technik ermöglichte, durch Industrie und Ökonomie praktizierte zerstörerische Umgang mit der Natur, das also, was uns in die ökologische Krise geführt hat, ist heute einer der wichtigsten von ihnen. Die philosophische Kritik erfüllt dann ihren eigenen Anspruch, wenn sie Veränderung zu ermöglichen und vorzubereiten vermag. Das aber heißt auch, daß sie sagen kann, von woher und woraufhin sie ihre Kritik vorbringt. Weit entfernt davon, wie Adorno meinte, unter einem Bilderverbot zu stehen, ist sie m.E. überhaupt nur so lange eine legitime Kritik, als sie ein – wenn auch noch nicht exaktes – Bild dessen zu malen vermag, was sie dem Bestehenden entgegenhält und was ihr die Kraft und den Mut gibt, gegen jenes vorzugehen. Dieses Ausmalen hat nicht den Charakter eines kontrafaktischen Glaubens an die Möglichkeit eines zukünftigen Besseren. Vielmehr vollzieht es sich als der inständige Blick auf das, was die Gegenwart selbst als in ihr liegende menschliche Möglichkeiten zeigt, die wir selbst und Andere zu anderen Zeiten und an anderen Orten leben und gelebt – oder als noch nicht gelebt schon schmerzlich erfahren – haben. Wie man Liebe auf sehr unterschiedliche Weise fühlen und zeigen und machen kann, so auch die Liebe zum philosophischen Wissen. Die verschiedenen Wege zur Philosophie, besser im Philo­ sophieren müssen sich dabei nicht ausschließen, sie fordern sich teilweise sogar gegenseitig oder ergänzen sich, können sich aber je nach Zusammenhang auch in Frage stellen.

endliches Denken Die reine Theorie der abendländischen Philosophie war eine abstrakte, allgemeine, begriffliche. Ihre Intention ging darauf, die bleibenden und allumfassenden Gegebenheiten, die die Wirklichkeit – je nach Ansatz – in oder hinter oder über den sichtbaren Phänome­ nen ausmachen, in ihrer Wahrheit und Allgemeinheit auf den Begriff zu bringen. Die Begriffe, in denen die Philosophen die Wahrheit gefaßt haben, sollten den an sich bestehenden reinen Wesenheiten entsprechen, sie wollten unmittelbarer Ausdruck von jenen, letztlich identisch mit ihnen sein. Wenn uns diese Macht und Vollmacht der Begriffe heute frag­ würdig geworden ist, dann stellt sich die Frage, ob es wirklich unum­ gänglich ist, daß die Philosophie sich in der geschilderten Weise immer und notwendig auf Allgemeines im Sinne von in Begriffen 34 https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

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Faßbarem bezieht. Wir machen tagtäglich eine Fülle von Erfahrungen, die Einzelnes und Besonderes, Endliches betreffen. Sind diese von vorneherein notwendig nicht philosophabel? Oder handelt es sich bei der Beschränkung auf das Allgemeine, Notwendige und Wesentliche nur um eine – allerdings sehr alte und ehrwürdige – abendländische Denkgewohnheit oder besser denkerische Vorentscheidung, der wir folgen können wie bisher, von der wir uns aber auch lösen könnten? Wenn sich nach der Vollendung der Metaphysik im Deutschen Idealismus eine Wandlung im Denken vollzogen hat, dergestalt, daß es nun nicht mehr um den Aufweis bleibender, für alles Seiende grundhafter Prinzipien und Prinzipiensysteme zu tun ist, daß viel­ mehr die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Seienden und unserer selbst und unseres In-der-Welt-Seins vorrangig in den Blick gelangt ist, so wird auch fraglich, ob für diesen gewandelten Gegenstand des Philosophierens nicht auch ein gewandeltes Denken und Sprechen erforderlich ist, anders gefragt, ob die abstrakten und bleibend allge­ meinen Begriffe für ein weiterführendes Denken noch in unveränder­ ter Weise geeignet sein können. Mir scheint, daß wir die Welt, in der wir leibhaftig und sinnlich leben, in ihrer bunten und ephemeren Vielfalt mit den traditionell verstandenen Begriffen nicht hinreichend fassen können, weil diese Begriffe als abstrakte immer schon, bewußt und notwendig, auf die wechselnden Farben und Nuancen, die Situationen und Atmosphä­ ren verzichtet haben. Das Fragwürdigwerden der allgemeinen und bleibenden metaphysischen Prinzipien und Fragestellungen führt auch zu einem Fragwürdigwerden der überkommenen abstrakten Begrifflichkeit und d.h. der gewohnten philosophischen Sprache.40 Ein Philosophieren, das das Philosophieren von endlichen Men­ schen ist, die sich von ihrer Endlichkeit, Sinnlichkeit und veränder­ lichen Sinnhaftigkeit, von ihrer »Geburtlichkeit« (Hannah Arendt, Sloterdijk u.a.) und ihrer Sterblichkeit her verstehen, ist ein endliches Denken. Zwar scheint die Einsicht in die – eigene und fremde – Endlichkeit ohnehin zur condition humaine zu gehören; mit einem gewissen Recht kann man sogar sagen, daß gerade das traditionelle, Heidegger spricht von dem »Anspruch, einmal zu prüfen, ob die in den Worten Verhältnis, Bereich, Sage, Ereignis genannten Sachverhalte noch durch Begriffe vor­ zustellen sind. Die Besinnung erwacht, ob nicht ein Denken verlangt ist, dessen Sprache dem Wesen der Sage und der Sage des Wesens entspricht und darum auch keine abgewandelte Terminologie der Metaphysik benutzen kann.« (Grundsätze des Denkens, 175). 40

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metaphysische Denken von der Erfahrung der eigenen Endlichkeit ausging, – allerdings, um sie zu kompensieren oder zu sublimieren. Jetzt geht es aber darum, das Endlichsein als ein solches stehen zu lassen und anzunehmen, so etwa, wie wir die Gegebenheit von Himmel und Erde, von Tag und Nacht, von uns selbst und von anderen Menschen annehmen können, nicht als einen Mangel oder gar Fluch, sondern als eine jenseits oder vor aller Verfluchung und Preisung liegende Gegebenheit unseres In-der-Welt-Seins. Die End­ lichkeit anzuerkennen heißt, sich im gelassenen Einverständnis mit ihr zu befinden. Die Endlichkeit dieses Denkens bedeutet nach dem Gesagten nicht allein, daß es immer auch ein Ende haben wird; ebenso sehr ist es ein anfängliches Denken. Daß es mit Endlichem – Dingen und Menschen und einer endlichen Welt – zu tun hat, impliziert auch, daß es sich je und je neu auf das zu Denkende einläßt. Anfang und Ende sind nicht primär Gegebenheiten seiner zeitlichen Existenz, sondern Momente seiner dauernden Prozessualität, verwandt der Stetigkeit des Ein- und Ausatmens. Wesentlich gehört zum endlichen Denken, daß es mitten darin­ nen und im wörtlichen Sinne unter Anderem und unter Anderen ist, daß es zu dem gehört, was sich da scheinbar vor seinen Augen, aber eben doch nicht ohne seine Augen abspielt. Was er erfährt, nimmt den Denkenden gefangen, nimmt ihn für oder gegen etwas ein oder läßt ihn auch kalt. Es zwingt ihn, seinen jeweiligen Ort und seinen jeweiligen Augenblick, seine Körperlichkeit und seine Geschichte mit einzubeziehen in die Handlung seines Denkens, in sein Denken als ein Verhalten. Die Verweisungen auf eigenes und auf fremdes, – gemeinsam und für sich – je anderes Erfahren und die Bezüge, die sich gegenseitig begegnen, verschränken, in Frage stellen oder bestätigen, sind jeweilige. Sie ergeben sich in jeweiligen Situationen und Konstellationen, entsprechen keiner vorgegebenen Struktur oder allgemeinen Gesetzmäßigkeit. Immer wieder stellt sich da die Frage, ob es das überhaupt geben kann, ein Philosophieren, das in der angedeuteten Weise von seiner, des Philosophierens eigenen Sinnlichkeit und Sterblichkeit ausginge, mit ihr einverstanden wäre und sich somit im Denken selbst sinnlich und sterblich verhielte. Wäre das nicht ein Widerspruch in sich? Ist das Philosophieren nicht, neben der Religiosität, gerade dasjenige Verhalten, durch das der »denkende Mann« seit altersher,

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seit Parmenides und Heraklit, die geistige Blindheit und Taubheit der sich auf ihre Sinne verlassenden Vielen hinter sich läßt? Es scheint so, als sei es leichter, vielleicht weil gewohnter, die Erfahrung der sinnfälligen Welt der Sterblichen zugunsten eines unendlichen, im absoluten Vernehmen mit seiner Sache identisch werdenden Denkens zu verlassen, als auf dieses zugunsten der Insistenz auf dem Hier und Jetzt, zugunsten also eines endlichen Denkens zu verzichten. Ein »objektiver« Nachweis von dessen Mög­ lichkeit oder Unmöglichkeit läßt sich nicht erbringen. Es vermag aber durch Hinweise und geteilte Überlegungen an Evidenz zu gewinnen. Tatsächlich gibt es ja seit dem Ende des Deutschen Idealismus ver­ schiedene mehr oder weniger parallel laufende Bestimmungen und Reflexionen eines nicht mehr absoluten und unendlichen Denkens, – beginnend u.a. mit Bergson und Marx und Kierkegaard und Nietz­ sche.41 Der Begriff des endlichen Denkens impliziert, daß es sich mit allen Sinnen auf das zufällige, sinnfällige Sein richtet. Als Beispiel für ein solches sich seinen Sinnen anvertrauende Denken verweise ich hier lediglich auf den Begriff »ästhetisches Denken«, den Wolf­ gang Welsch gegen Ende des letzten Jahrhunderts in die Diskussion gebracht hat und der in die Nähe eines endlichen Denkens führt. Er bezieht sich nicht allein auf den Bereich der Kunst, sondern bezeichnet ein aisthetisches Denken, d.i. ein solches, für das die Wahrnehmung durch die Sinne und das Ersehen und Erfühlen von Sinn maßgeblich geworden sind. Welsch schreibt: »Man kann geradezu sagen, daß die neueren Denker ihre Sinne im Denken mobilisieren, daß sie ein Denken praktizieren, das über Sinne verfügt und mit ihnen Sinn macht.«42 Das sinnliche Denken läßt die welterfahrenden Sinne und das Spüren und Empfinden von mannigfachem Sinn, von Stimmun­ gen und Atmosphären nicht hinter sich, sondern es bewegt sich in ihnen, vermittelt zwischen ihnen, nimmt sie als seine eigenen Potenzen »wahr« und nicht mehr als bloße Lieferanten von Material für eine rationale Verarbeitung. Seine »exakte Phantasie«43, seine bunten Einfälle, seine aufmerkenden Blicke in Ungesehenes und sein gespanntes Lauschen auf Unerhörtes sind keine bloßen Vorstufen oder Anstöße, sondern seine eigenen Wege. Heidegger hat in Sein und Zeit die Bedeutung der Stimmung und Gestimmtheit für das menschliche Verstehen und Sein betont. 42 Ästhetisches Denken, 47. 43 Adorno, Negative Dialektik, 54. 41

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Nicht, als schlösse das aisthetische Denken abstraktiv begriff­ liche, allgemein subsumierende und logisch argumentierende Momente aus. Aber sie gehören, je wie der Denkweg es fordert, in es selbst hinein, sie bilden nicht mehr sein bestimmendes telos. Welsch sagt mit Recht, es käme darauf an, dem Schema einer Entgegenset­ zung von »Empfindung, Gefühl, Affekt und dergleichen« einerseits und »Reflexion, Gedanke, Begriff« andererseits »nicht länger zu willfahren«. (55) Die grundsätzlich gewandelte Situation des Denkens und ein Versuch seiner Neubestimmung zeigen sich auch in einer Umwertung des Verhältnisses von Aktivität und Passivität,44 die wir u.a. bei Lyotard und Sloterdijk, aber zuvor auch schon bei Heidegger und Adorno finden. Tun und Leiden, Aktivität und Passivität, Spontaneität und Rezeptivität, Sprechen und Hören, Verändern und Seinlassen, – das sind Begriffspaare, die in unserer Geschichte das Welt- und Lebensverständnis durchstimmt haben. In ihnen kommen Lebensein­ stellungen und vor allem Verhaltensweisen zur Sprache, die komple­ mentäre Seiten im Verhältnis des neuzeitlichen Menschen zu der ihm gegenüberstehenden Realität charakterisieren. Die Bedeutung jener Begriffspaare, zumal die Relevanz ihrer Gegensätzlichkeit hat sich zu verändern begonnen. Sie können nicht mehr in der bisherigen Weise voneinander getrennt und auf Geist, Kultur und Technik einerseits, Natur und Sinnlichkeit andererseits verrechnet werden. Aktivität, Spontaneität, Initiative, Arbeit, Leis­ tung – das ist für die Sinngebung des Lebens nicht mehr alles: Mit der Einsicht in die negativen Begleitfolgen von Technik, Wissen­ schaft und sich stetig fortschreibender Bedeutung von Leistung und Akkumulation sehen wir die entgegengesetzten, also etwa die warten­ den und empfangenden Haltungen und Verhaltensweisen in einem neuen Licht. Sie müssen nicht mehr im Sinne des bloßen Nichtstuns oder unbeteiligten Mit-sich-geschehen-Lassens verstanden werden, erscheinen vielmehr als ein Mitgehen und Sich-Einlassen, das sowohl aktiv wie passiv, sowohl gebend wie nehmend, spontan wie rezeptiv, bestimmend wie achtsam, aufmerkend ist. Das Hörenkönnen, die Geduld, die Langsamkeit und die Aufmerksamkeit haben zuweilen begonnen – zumindest in der allgemeinen Einschätzung –, an die Stelle des Befehlens, Organisierens und Bewältigens zu treten. 44

Vgl. hierzu unten 105 und u.a. Wollen wir noch Subjekte sein?, 92ff.

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Ein Moment, das zu dieser Veränderung beiträgt, ist die sich im Alltag zunehmend durchsetzende Einsicht, daß die menschlichen Möglichkeiten nicht unbegrenzt sind, weder die Möglichkeiten der Manipulation anderer Menschen noch die der Ausbeutung der Erde. Wo der Wille zur Beherrschung und Bewältigung heute de facto an Grenzen stößt, weil sich zeigt, daß die Folgen seines Absolutwerdens nichts mehr aufzubauen und zu erhalten vermögen, vielmehr statt Selbsterhaltung und Selbststeigerung Verödung und Zerstörung und Vereinsamung bedeuten, da könnte er sich selbst in Frage stellen und sich zum Aufmerken und Hinhören auf das Andere wandeln. Der Zug zu fortschreitender aktiver Bewältigung wird dann zum Versuch des Sich-Einlassens auf eine passive Gelassenheit. »Gelassenheit« meint hier nicht die Kennzeichnung einer stoi­ schen Befindlichkeit, sondern eines Denkens, in dem ein Ineinander­ fallen oder Zusammenwirken von Aktivität und Passivität wirklich wurde oder das – was dasselbe heißt – »außerhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität« liegt45. Gelassenheit bedeutet ruhige Aufmerksamkeit auf und geduldige Hingabe an die Sache, ein Warten auf deren Zuwendung, die zugleich nur in der gelassenen Hinwen­ dung zu ihr sprechend werden kann. Was da spricht, ist das Einzelne und Differente, das sich Wan­ delnde, das Zufallende und Einfallende. Das Denken der Differenz, das in besonderer Weise als Merkmal der neueren französischen Denker gilt, ist schon von seinem Begriff her ein endliches Denken. Denn das sich Unterscheidende, das Anderswerdende und Andersgewordene (das Hetero-gene), ist eben das, was der Einheit des allgemeinen Genos Widerstand leistet, indem es seine vieldeutige und vielfarbige Eigenheit, seine Zufälligkeit und Nichthaftigkeit mit ihrem Wechsel von Intensität und Bruch dagegen setzt. Parmenides hat in seiner Abwehr des endlichen Denkens der gewöhnlichen Sterblichen auch den »Wechsel der leuchtenden Farbe« als ein Merkmal jener Meinungen genannt, die für ihn nur »leere Namen« sind. In der Tat ist die Farbigkeit vielleicht das wichtigste und – neben den Gerüchen – das »sinnlichste« Kennzeichen der Differenz im Sinne der Besonderheit des Besonderen. Die Farben sind sowohl mannigfaltig wie wechselnd. Sie vermitteln und übermitteln Atmosphären und Stimmungen. Sie können gedämpft, getragen und 45 Heidegger, Gelassenheit, 35. Heidegger hat sie ausführlich u.a. in dem Feldwegge­ spräch über das Denken. Zur Erörterung der Gelassenheit behandelt.

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trübe oder aber grell und schreiend sein. Sie können zusammenstim­ men oder sich gegenseitig totschlagen, können passend sein oder unangemessen, können heiter stimmen oder traurig. Sie sind das Sichtbarste des Sichtbaren. Das endliche, d.i. das sinnen- und sinnhafte, gelassene Denken des Anderen als eines Differenten kann darum auch ein vielfarbiges Denken genannt werden, – wie es je nachdem ein langsames oder ein voraneilendes, ein streitbares oder ein liebendes, ein lächelndes oder ein trauerndes, ein störendes oder ein tröstendes, ein schwaches (ein pensiero debole im Sinne von Gianni Vattimo) oder auch einmal ein starkes Denken sein kann. Als endliches sagt das Denken, was ist, es spricht über das, inmitten dessen es sich befindet, über die Erde und über die Welt. Es ist Philosophieren auf der Erde, – eben darum, weil wir, die Denkenden, als endliche Wesen in erster Linie nicht in einem abstrakten, geistigen Denkraum sind, sondern auf dieser Erde und unter diesem Himmel, – also da, wo es auch nur diese Berge und nur diese Vögel gibt. Endlich zu denken, heißt, von der bestimmten Situation aus- oder auch auf sie zuzugehen, in der wir uns heute und hier auf der Erde befinden, als natürliche, endliche Wesen unter Anderen, die ebenfalls natürlich und endlich sind. Endlich zu denken, heißt damit auch, die Natur nicht mehr primär als ein in seiner Fremdheit Bedrohliches zu denken, das nur die Alternative des Beherrschtwerdens oder Selber-Beherrschens zuläßt, sondern als ein plurales Geflecht von Wechselbeziehungen und Verweisungszusammenhängen, in das wir selbst, als Andere unter Anderen, mit hineingehören.

spekulatives und bildhaftes Denken Ich bin überzeugt, daß es an der Zeit ist, entgegen dem traditionellen abendländischen Ansatz des Menschen, der u.a. die rationale, die wissenschaftliche und technische Beherrschung unseres Planeten herbeigeführt hat, entgegen also seinem Verständnis als dem animal, das kraft seiner Rationalität über und gegenüber allem sonstigen Seienden steht, einen anderen Weg zu suchen und auszuprobieren, – und zwar nicht nur, was die inhaltliche Bestimmung als animal ratio­ nale angeht, sondern auch in Bezug auf die formale Struktur dieser Definition und auf deren ontologische Voraussetzungen, also etwa die Bildung aus genus und differentia specifica. Es gilt, die Menschen gewissermaßen in einer zweiten Drehung, einer – mit Kant gesagt

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– zweiten »Umänderung der Denkart«46 aus jener Abstraktion und Distanziertheit, die sich in ihrer allgemeinen Definition ausdrückt, herauszulösen und sie in die Welt zurückzuholen. Nach dem und durch das Fragwürdigwerden der großen Theorien und Systeme des Deutschen Idealismus, in denen sich der abendlän­ dische Anspruch auf das wahre Denken zur Vollendung getrieben hat, sieht sich die Philosophie in neuer Weise auf die Endlichkeit, auf das einzelne Individuum, auf die je geschehenden Sprachspiele verwiesen. Sie hat keine anderen Gegenstände mehr als das sonstige Nachdenken auch, wenn es sich auf die vielfältigen, bunten Dinge der Welt richtet. Sie thematisiert das Besondere, Einzelne, sie faßt ihre Gegenstände anders in den Blick als das Denken der Tradition. Anders heißt nicht etwa intelligenter, wissenschaftlicher, rationaler. Ebenso wenig heißt es gelehrter oder historischer. Die andere Weise des philosophischen Blickens und Erblickens läßt sich hier mit einem alten Begriff als spekulativ bezeichnen. Das spekulative Denken richtet sich so auf seine Sache, daß es sie in seinem Erblicken bewegt, – es nimmt sie nicht einfach nur unmittelbar wahr, wie sie sich zeigt, sondern indem es sie spiegelt, durchschaut es sie gerade in diesem Sichzeigen oder Sich-sehen-Lassen. Der spekulative Blick »macht« etwas mit seiner Sache, er verändert sie, indem er sie reflektiert, vermittelt. »Speculari« meint in der Geschichte des Denkens schon früh die Erkenntnisform des Schauens, der Theorie, wenn und sofern sie die Wahrheit (zumal die Wahrheit Gottes) im menschlichen Geist und in der Natur (dem »Buch der Natur«) gespiegelt, re-flektiert findet. Gleichwohl ist damit kein Denken gemeint, das nur im Spiegel, nur uneigentlich sieht, das nur Stückwerk ist, weil es »nur durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort« erkennt, wie Paulus an die Korinther schreibt. Das spekulative Denken bewegt sich – oder hält sich auf – in einem Raum der Offenheit zwischen sich und der Sache, oder besser: in der Schwebe der Spiegelung und Gegenspiegelung seiner Sache. Das spekulative Denken schaut in der Weise über die Dinge hinaus, daß es sie in ein Ganzes hineingehören läßt, sie in das freie Spiel der Beziehungen und der konstellativen Zusammengehörigkei­ ten entläßt, in dem sie immer schon stehen. Durch das spekulative Denken wird das Gedachte entbunden, in eine Offenheit versetzt, in der es sich so oder auch anders zeigen, sich vor dem und durch den sich auf es einlassenden Blick verändern kann. Es legt sich nicht 46

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI.

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auf die jeweilige Bestimmtheit fest, sondern macht die Bahnen und Möglichkeiten sichtbar, innerhalb derer es sich bewegt und sich so oder anders verhalten kann. Francis Bacon hat diese durch die denkende Spiegelung stattfin­ dende Veränderung negativ bewertet. Er schreibt: »Der menschliche Verstand gleicht ja einem Spiegel, der die strahlenden Dinge nicht aus ebener Fläche zurückwirft, sondern seine Natur mit der der Dinge vermischt, sie entstellt und schändet.«47 Ich meine dagegen, daß es sich bei dieser Vermischung nicht um eine Schändung, vielmehr um eine Freisetzung handelt. In der Veränderung der Sache durch das Denken kommt zum Ausdruck, daß das spekulative Denken aktiv, tätig, verändernd und zugleich passiv, aufnehmend, wiedergebend ist. Die Spekulation und die Reflexion nehmen als ein »lebendiger Spiegel« das Gehörte und Gesehene auf und geben es in der Färbung ihres Aufnehmens zurück, um es in der Folge verwandelt wieder zu empfangen usf. Die philosophische Vermittlung der Sache besteht gerade darin, daß sie gewissermaßen über diese hinausschießt und zeigt, daß die Sache mehr ist, als sie ist (Adorno), daß ihr also auch zugestanden wird, sich jeweils anders zu zeigen als zuvor oder als vermutet. Auf seine Weise hat bereits Hegels Begriff des Spekulativen, obgleich er sich zugleich grundlegend von dem, was ich hier unter spekulativem Denken verstehe, unterscheidet, diesen Charakter des Hinausschießenden und »Überschüssigen« in sich. Hegel schreibt über die »Natur des spekulativen Denkens«: Sie »besteht allein in dem Auffassen der entgegengesetzten Momente in ihrer Einheit. Indem jedes und zwar faktisch sich an ihm zeigt, sein Gegenteil an ihm selbst zu haben und in diesem mit sich zusammenzugehen, so ist die affirmative Wahrheit diese sich in sich bewegende Einheit, das Zusammenfassen beider Gedanken, ihre Unendlichkeit«.48 Sehen wir von der übergeordneten Logik des Geistes ab, die jene Einheit bei Hegel bedeutet, so können wir dieser Bestimmung entnehmen, daß das spekulative Denken einen Raum eröffnet, der den in ihm sich zueinander Verhaltenden ihr je eigenes Recht läßt. In ihm vermögen sie, jetzt dezidiert über Hegel hinaus gesprochen, ein Über­ schüssiges zu sein, ein – mit den Worten aus Rilkes zehnter Duineser Elegie – »überzähliges Dasein«. Das Überzählige, Überschüssige ist 47 48

Francis Bacon, Novum Organum I, 41. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, 142.

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in einem ein Mehr an der Sache und ein Mehr des Denkens, das, was sich nur dem spekulativen Blick und seiner Kommunikation mit dem Erblickten zeigt und ergibt, während es vom empirisch-rationalen Anschauen des sogenannten gesunden Menschenverstandes nicht wahrgenommen wird. Das so verstandene spekulative Denken abstrahiert nicht vom Einzelnen und Besonderen und subsumiert es nicht unter allgemeine Begriffe; es läßt sich auf Anderes und Fremdes ein, folgt dessen Win­ dungen und Wendungen, vermag Ferne wie Nähe, Erstaunlichkeit wie Vertrautheit zu erfahren und auszuhalten. Es geht ihm nicht mehr darum, etwas auf seinen abstrahierenden Begriff zu bringen, sondern darum, es gewissermaßen auszumalen. Man malt in Bildern; und das heißt dann nicht mehr, daß man Begriffe zur Verdeutlichung oder Veranschaulichung in Bilder »übersetzt«, »hinüber-führt«, meta-pho­ risch ausdrückt. Was Adorno, dessen Begriff negativer Dialektik mit dem von mir intendierten spekulativen Denken korrespondiert, »konkrete Phantasie« genannt hat, ist dem hier Gemeinten verwandt. Es geht mir um keine Verbildlichung von Begrifflichem, sondern um den Versuch, sinnliche und unsinnliche Sachverhalte dadurch in den Blick zu rücken, daß sie in Geschichten und Bildern sichtbar gemacht werden, statt in allgemeine Begriffe überführt oder aufgeho­ ben zu werden. Im alltäglichen Verständnis steht das spekulative Denken ein­ deutig im Gegensatz zum bildhaften, während beide nach meiner Überzeugung eng zusammen zu denken sind. Spekulative Begriffe sind »sehende Begriffe«, oder auch Begriffe, in denen Bilder zu Wort kommen, bildhafte Begriffe. Bildhaft sind sie in dem Sinne, daß sie sichtbar machen, sehen lassen. Während das rationale Denken die Sache bzw. den Sachverhalt diskursiv durchgeht oder allererst entstehen läßt, hat das bildliche Denken der Einbildungskraft sein Gesehenes in einem und ganz vor sich, auch wenn es dessen einzelne Glieder und Momente dann auch nacheinander näher betrachten und einzeln artikulieren kann. Darin ist das spekulativ-bildliche Denken der rein vernehmenden Vernunft verwandt, von der es sich jedoch insofern auch unterscheidet, als es nicht den Anspruch erhebt, das eine und bleibende Wesen der Sache zu ergreifen, sich vielmehr auf den Spielraum der Sache einläßt, auf die Weise, wie es in der Welt ist, sich auf anderes bezieht, von anderem betroffen wird usw., daß es darum z.B. auch rätselhaft, andeutend bleiben kann.

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Daß die Bedeutung des Bildhaften in der Philosophie neu ein­ zuschätzen ist, heißt nicht, daß die Begriffe überhaupt zu verlassen sind. Sie sind vielmehr derart zu verändern, daß ihre Bildkraft neu entbunden wird, daß sie zu bildhaften Begriffen werden.49 Mit dem Bildhaften des Denkens wird der Charakter des Sichtbar- und Erblick­ barseins, damit zugleich eine Abkehr von der reinen Begrifflichkeit angesprochen. Kant etwa war überzeugt, daß sich die Griechen von den anderen Völkern dadurch unterschieden und eben dadurch die ersten waren, die philosophierten, daß sie die »Vernunfterkenntnisse« »in abstracto« und »nicht an dem Leitfaden der Bilder« und »nur durch Bilder« »zu cultiviren begannen«.50 Und noch Heidegger schreibt: »Das Sagen des Denkens ist im Unterschied zum Wort der Dichtung bildlos. Und wo ein Bild zu sein scheint, ist es weder das Gedichtete einer Dichtung noch das Anschauliche eines ›Sinnes‹, sondern nur der Notanker der gewagten, aber nicht geglückten Bildlosigkeit«,51 – obgleich er andererseits auch sieht, daß »das denkende Sagen nicht bildlos, sondern in seiner Weise bildhaft« ist.52 Ein besinnliches und endliches, ein erstaunendes und landschaft­ liches Denken kann auf die Bildhaftigkeit nicht verzichten. Das Bild ist sowohl ein von der Sache her dem Sehen und Fühlen und Denken Sich-Darbietendes, sein Anblick, wie zugleich das, was in diesem Sehen durch Sinnlichkeit, Verstehen und Einbildungskraft entsteht, seine Ansicht; so ist es gewissermaßen der Schnittpunkt bzw. die Schnittfläche von Sehen und Gesehenem. Daß wir etwas sehen, muß nicht heißen, daß es leibhaftig anwesend wäre. Das Bild kann z.B. auch dadurch hervorgerufen werden, daß wir gegenwärtig etwas Bestimmtes hören, oder auch riechen oder tasten. Erinnerungsbilder können sich unauflöslich mit bestimmten sinnlichen Eindrücken verbunden haben. Was da hervor-gerufen wird, haben wir anschaulich vor uns. Wir sehen etwas, wenn wir es erinnern oder antizipieren, als Vergangenes oder Zukünftiges jetzt vor uns, – während das begrifflich Erfaßte als solches zeitlos ist. Die entscheidende traditionelle Differenz des Bildes gegenüber dem Begriff besteht darin, daß das Bild ein Einzelnes repräsentiert, der Begriff dagegen das Allgemeine erfaßt. Aber dieses Einzelne Vgl. zum bildhaften Denken unten 53 und Verfasserin, Wollen wir noch Subjekte sein?, 158ff. 50 Logik, 27. 51 Winke, 33. 52 Heraklit, 301f. 49

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ist nie nur einzeln, nicht isoliert. Stets ist es eingebettet in einen ganzheitlichen Zusammenhang, es versammelt die Bezüge in sich, die seine Welt ausmachen, die Welt, die mit Heidegger gesprochen das »Gegeneinanderüber« von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen wäre. Der Zusammenhang, in den die Einzelnen hineingehören, hält sie sowohl in vertrauter Nähe zueinander, wie er sie auch einander entgegen- und sie so auseinanderhält. Man denke viel gesünder, wenn die Gedanken aus unmittelbarer Berührung mit den Dingen erwachsen, schreibt van Gogh einmal an seinen Bruder. Adorno spricht von der Liebe zu den Dingen, denen es gleichsam über das Haar zu streichen gelte, und von dem »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand«. Die unmittelbare Berührung und das Über-das-Haar-Streichen wahren jedoch auf geheimnisvolle Weise zugleich eine Distanz, die wir die Distanz des Eigenseins des Anderen nennen können. Wir vermögen die Dinge nur zu berühren und wirklich gewaltlos zu erblicken, wenn wir ihnen zugleich nicht auf den Leib rücken, wenn wir ihnen ihre eigene Dunkelheit, ihr Geheimnis, ihre Ferne lassen. Das geht in die selbe Richtung, die Heidegger meint, wenn er vom »In-die-Nähe-kommen zum Fernen«53 spricht, oder davon, daß »die Lauterkeit des Dunklen«54 gewahrt werden muß, wenn das Sichtbare und Lichte aus seiner Dunkelheit und Unsichtbarkeit heraus anerkannt werden soll. Es ist u.a. diese – der im Sichtbaren selbst liegenden Herkunft aus dem Unsichtbaren entsprechende – Wahrung der Distanz, die das bildhafte Denken ums Ganze verschieden sein läßt vom vorstel­ lenden, rechnenden und messenden Denken, das seinen Gegenstand in den vereinheitlichenden Griff zu nehmen trachtet. Distanz, Fremd­ sein, Andersheit, Ferne – das alles ist ausgeschlossen, wenn einerseits eine ständige Verfügbarkeit und Bestellbarkeit, andererseits eine uni­ versale Berechenbarkeit und damit auch Vergleichbarkeit von allem mit allem gewährleistet sein soll. Der Charakter der Uniformität, Globalität und – mit Marcuse gesagt – Eindimensionalität, der dem technologisch-wissenschaftlichen Erfassen eigen ist, negiert in direk­ ter Weise den qualitativen Eigensinn des Begegnenden. Dem bildhaften Denken dagegen kommt wesenhaft eine Viel­ deutigkeit und ein Offenlassen zu, weil es seine Sache nicht »in die 53 54

Gelassenheit, 45. Grundsätze des Denkens I, 93.

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Zugänglichkeit zerrt«, dem Sichtbaren vielmehr die Freiheit läßt, sein Unsichtbares jeweils so oder anders oder gar nicht zu zeigen, es z.B. im Unsichtbaren zu belassen, indem es sich in dem Bild geradezu versteckt. Das Rätselhaftbleiben der Sache ist dann keine bedauerliche und zu ihrem Überschreiten herausfordernde Grenze des Erkenntnis­ vermögens oder der technischen Reproduzierbarkeit, sondern es ist Zeugnis eines tieferen und vielschichtigeren Geschehens zwischen dem Menschen und seiner Welt, das sich nicht linear und gleichförmig abrufen und modellieren läßt. Der Bereich, dem das Bild zugehört, ist der Raum der Sinnlich­ keit, – wie eng oder weit wir diese letztere auch immer fassen. Allerdings läßt sich dieser Raum der Sinnlichkeit letztlich nicht mehr einem Raum des Nichtsinnlichen gegenüberstellen. Zwischen Sinnlichem und Unsinnlichem verläuft ebenso wenig eine eindeutige und scharf zu ziehende Grenze wie zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem. Zwischen beiden besteht kein prinzipieller Unterschied der Bereiche, so daß eine Welt des Diesseitigen, Sichtbaren gegenüber einer Welt des Jenseitigen, Unsichtbaren zu unterscheiden wäre. Beide spielen vielmehr mannigfach ineinander und gehen ineinan­ der über. Nehmen wir als Beispiel die Gefühle. Die Liebe, die Dankbarkeit, die Resignation z.B. lassen sich oftmals – abgesehen von ihrem Aus­ gesprochenwerden – dem sichtbaren Erscheinen entnehmen, obgleich sie selbst nichts Räumliches, Greifbares sind. Sie sind jeweils in dem, was sichtbar ist an ihnen, sie tun sich kund und geben sich in Gebärden und Blicken, in der Intonation der Stimme, der Art des Sprechens und des Schweigens. Ich denke, es wäre zu kurz gesehen, wenn wir hier lediglich davon sprechen wollten, daß sich die Liebe des sinnlichen Ausdrucks als eines Mittels bedienen, sich in ein ihr an sich fremdes Medium hineinbegeben würde. Ein solches Verhältnis würde die Getrenntheit zweier Bereiche oder Sphären voraussetzen, und die »an sich« unsinnliche, unsichtbare Liebe würde in den anderen Bereich als in ein ihr Fremdes eintreten, um sich vernehmbar zu machen. Gehören die tiefen Blicke und die zärtlichen Gebärden nicht vielmehr der Liebe selbst zu? Ist sie nicht gerade in diesen sie selbst, nicht mehr und nicht weniger als in der Zugeneigtheit der Gefühle sozusagen für sich genommen? Kann es hier das Unsichtbare ohne das Sichtbare geben, und umgekehrt? Begegnet uns nicht vielmehr das Unsichtbare auch und vielleicht vor allem im Sichtbaren? Ist nicht die Sichtbarkeit ein Sichtbarwerden des Unsichtbaren selbst?

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Das Philosophieren, das die Welt spekulativ in den Blick nimmt, stellt sich gleichsam quer zu deren gewöhnlicher Sichtbarkeit, die zunächst eine Sichtbarkeit des Offenkundigen, Sich-Zeigenden, in diesem Sinne der Oberfläche ist. Der Blick, der sich quer zu dieser Aufsicht der Dinge verhält, ist nicht einfach ein Forschen, das »hinter« die Dinge oder »unter« ihre Oberfläche vorzudringen sucht und das Offenkundige und sich den Sinnen Zeigende überspringt oder hinterfragt, – so wie es bei Aristoteles heißt, daß wir uns demjenigen zuzuwenden hätten, was das nicht für die Sinne, sondern für das geis­ tige Vernehmen Offenkundigere und Deutlichere ist55, das, was für Descartes mithilfe des lumen naturale clare et distincte einsehbar ist.56 Der »verquere« Blick der Spekulation transzendiert das Gegebene nicht, sondern er »verfremdet« dieses Gegebene selbst, er gibt ihm – eben durch sein Blicken – seine eigene Fremdheit und Andersheit, indem er das Jeweilige selbst sprechen läßt. Wir könnten vielleicht auch sagen, daß dieses spekulativ blickende, bildhafte Denken die Welt jeweilig anhält, wie man einen sich abspulenden Film an einer bestimmten Stelle anhält, um das, was da geschieht, eigens und als solches in den Blick zu nehmen. Was sehen wir, wenn wir den Film des gegenwärtigen Mensch­ seins – im westlichen Mitteleuropa – anhalten? Was hat das spekula­ tive Denken im Blick und im Sinn, wenn es sich auf die Weise, wie wir heute in der Welt sind, richtet? Wie vermag es das gegenwärtige Selbstverständnis des Menschen, ja sein Menschsein selbst in neuer Weise ins Spiel zu bringen, vielleicht aufs Spiel zu setzen? Es faßt den Menschen so in den Blick, wie er sich heute sieht, wie er gesehen werden will, aber auch wie er, kritisch oder zustimmend, gesehen werden muß. Und es bringt diese Bestandsaufnahme zugleich in die Schwebe, indem es deren scheinbare Selbstverständlichkeit in Frage stellt, indem es überhaupt zu fragen beginnt, – aber auch zu träumen, sich umzublicken, zu hören auf das, was menschenmöglich sein könnte. Der spekulativ philosophierende Ausblick eines endlichen Denkens vertraut nicht allein auf den Boden der Tatsachen, er kreuzt die gewohnten Denkbahnen bzw. umspielt sie, durchläuft sie in verschiedenen Richtungen.

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Physik 1, 184a17ff. Meditationen IV.

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erstaunendes Denken Ich denke, daß zu einem endlichen Denken grundsätzlich eine Hal­ tung gehört, die wir mit der Tradition und auch gegen sie Erstaunen nennen können. Eine staunende Einstellung gegenüber der Welt ist eine solche, die das Begegnende jeweils als ein Fremdes und Eigenes aufnimmt, ihm gewissermaßen eine aufmerksame Gastfreundschaft gewährt, nach seiner Eigenheit fragt und auf es eingeht. Die abendlän­ dische philosophische Tradition hat sich seit ihren Anfängen bemüht, mit ihrem Begreifen die Fremdheit und Erstaunlichkeit zu tilgen. Seit meiner ersten Bekanntschaft mit der Philosophie in den letzten Schuljahren habe ich das eigentlich Spannende der philosophi­ schen Situation der Gegenwart in der Frage nach der Möglichkeit eines Denkens des Erstaunlichen gesehen. Das Entscheidende ist dabei, das Erstaunliche als ein solches im Blick zu behalten, es also nicht durch Begründung und Erklärung zu einem Erkannten und Bekannten zu verwandeln. Es kommt darauf an, Vertrautheit und Fremdheit, Sosein und Anderssein, Allgemeinheit und Besonderheit, Verständlichkeit und Erstaunlichkeit nicht mehr gegeneinander auszuspielen und dem jeweils zuerst Genannten nicht mehr den Vorrang zu geben. Vielmehr geht es um ein Philosophieren, das das erstaunliche, zufällig zufallende Besondere als ein solches zur Sprache zu bringen vermag und das dabei gleichwohl seine näher zu bestimmende spezifische Allgemeinheit behält. Kant hat in seinen Reflexionen zur Metaphysik von Baumgarten ein faszinierendes Beispiel philosophierenden Staunens57 gegeben: Eher spielerisch stellt er sich die Frage, ob man die realen Dinge nicht auch – statt sie, wie er selbst es tut, als Ausgrenzungen aus einer omnitudo realitatis zu begreifen – als Lichter in der Finsternis sehen könne; alle Dinge würden sich dann nur durch ihr Licht unterscheiden, so, »als ob sie ursprünglich aus der Finsternis gehoben wären«.58 Kant selbst geht es dabei vordringlich um das Erkennen und das Setzen von Realität. Mir scheint jedoch, daß das Bild der Gegenmöglichkeit, die ihm dazu einfällt – Lichter, aufscheinend im Dunkel und aus dem Dunkel, ankommend im Hier und Jetzt von nirgendwoher –, daß die­ ses Bild in besonderer Weise das Erstaunlichsein von Erstaunlichem zum Ausdruck zu bringen vermag und damit weit über den Raum metaphysischer Denkmöglichkeiten hinausweist. 57 58

Vgl. hierzu ausführlich Verfasserin, Wendungen, 27ff.: Lichter in der Finsternis. Metaphysik, Kant’s handschriftlicher Nachlaß Bd. V, 139.

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Das Erstaunen und Sich-Wundern59 ist oftmals als die Grund­ haltung des Philosophierens bezeichnet worden. Man stützt sich bei dieser Bestimmung vor allem auf eine Stelle aus Platons Dialog Theaitetos und eine Bemerkung von Aristoteles im Rahmen seiner Frage nach der Eigenart der höchsten sophia, die er als Untersuchung der ersten und letzten Gründe und Ursachen versteht. Schaut man sich jedoch das Erstaunen an beiden Stellen etwas genauer an, so zeigt sich, daß es nicht so sehr als Grundstimmung des Philosophierens überhaupt, sondern lediglich als dessen Ausgangspathos verstanden wird.60 Worauf es für den dieser Art Wissenwollenden ankommt, das ist die Anstrengung, das Staunen dadurch zu überwinden, daß die Gründe und Ursachen genannt werden, die das zunächst Unverständ­ liche verständlich machen. Die Erstaunlichkeit erweist sich metaphy­ sisch als eine notwendig vorübergehende. Das eigentliche Pathos der abendländischen Philosophie besteht darin, nichts als wirklich erstaunlich stehen zu lassen, sondern zu immer tiefergehenden und weiterreichenden Erkenntnis- und Sein­ sprinzipien fortzuschreiten, denen gegenüber jede Erstaunlichkeit letztlich hinfällig, weil getilgt wird. Sie beginnt zwar mit dem Staunen und Sich-Wundern, aber nur, um sich sogleich und endgültig auf den Weg zu dessen Überwindung zu machen. Das zunächst unverständ­ lich Erscheinende wird aufgeklärt, indem die zu seinem Verständnis notwendigen empirischen oder logischen Fakten beigebracht bzw. die Bedingungen der Möglichkeit seines Seins und Erkanntwerdens herausgearbeitet werden. Insbesondere Aristoteles betont, daß das Erstaunen durch Nichtwissen ausgelöst wird; daß die Philosophie mit dem Staunen beginnt, heißt für ihn, daß sie damit beginnt, das Nichtwissen zu fliehen. Wir staunen, daß etwas so ist, wie es ist, solange wir nicht wissen, warum es so ist. Darum geht dieses Erstaunen unmittelbar in das Begründen über: zu staunen heißt, nach den Gründen und Ursachen zu forschen. Ersichtlich liegt dem die Annahme einer letzten Erklärbarkeit alles Seienden zugrunde. Von seinen Anfängen an ist der abendlän­ dische Denkansatz von dem Bewußtsein getragen, daß die Welt auf allgemeine Weise begreifbar ist, d.h. daß das, was ist, in seiner Seinshaftigkeit und seiner prinzipiellen Struktur letztlich vernünftig, Ich mache hier zwischen diesen beiden, wie auch zwischen Staunen und Erstaunen keinen Unterschied. 60 Vgl. hierzu wie zu dieser gesamten Thematik Verfasserin, erstaunlich und fremd. 59

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zumindest vernünftig erfaßbar ist, – anders gesagt: daß es eine allem Seienden zugrundeliegende Wahrheit gibt. »Alle Menschen streben natürlicherweise danach zu wissen«, und sie können das, weil das Seiende grundsätzlich wißbar ist. Erst in der Neuzeit taucht unüber­ hörbar der beunruhigende Gedanke auf, daß diesem Streben auch kein Erfolg beschieden sein könnte.61 Doch auch da noch und gerade da herrscht bis in die Gegenwart hinein die zumindest implizite Tendenz vor, zu erweisen, daß es dem Denken doch möglich ist, unumstößliche Gründe oder transzendentale Bedingungen für die Möglichkeit des Erkennens und damit für die Erkennbarkeit des Realen beizubringen und so das Wissen – und die Wissenschaften – erkenntnistheoretisch zu fundieren. Gleichwohl ist, in der Zeit nach Hegel, der absolute Wissensund Begründungsanspruch, die Überzeugung von der allgemeinen Begründbarkeit und der zugrundeliegenden Rationalität des Seienden auch brüchig geworden. Zwar gibt es im vergangenen Jahrhundert – z.B. in so unterschiedlichen Ansätzen wie Husserls Phänomenologie oder dem dialektischen Materialismus oder der Systemtheorie – noch bemerkenswerte Versuche der rationalen Erfassung und Fundierung des Seienden; aber diesen Versuchen stehen in der Folge von Nietz­ sche, Kierkegaard, dem jungen Marx und anderen eine Vielzahl von Ansätzen gegenüber, in denen sich das Denken jetzt auch demjenigen zuwendet, was sich der identifizierenden Einvernahme durch den allgemeinen Begriff entzieht. Auch wenn die abendländische Philoso­ phie, weil sie ein im Innersten geschichtliches Denken ist, nicht auf die Auseinandersetzung mit den bisherigen Denkansätzen verzichten kann – ganz abgesehen von der Faszination, die wohl immer von den alten ontologischen Texten ausgehen wird –, hat sich die Philosophie zugleich auf den Weg gemacht, auch das Besondere und Alltägliche, das Zufällige, das Unvernünftige und Widersprüchliche, also das Erstaunliche und Endliche in den Blick zu nehmen und als ein solches zu bedenken. Damit aber stellt sich die Frage, wie denn ein Denken des Endli­ chen möglich sein soll, das sich nicht in seiner eigenen Endlichkeit verliert, das also gleichwohl Philosophie zu sein vermag. Wie vermag es sich im Angesicht des Erstaunlichen zu halten, ohne sogleich zu seiner Begründung fortzuschreiten? Sind wir nicht dazu verurteilt, 61 Descartes hat diesen fast quälenden Zweifelsweg zu Beginn seiner Meditatio­ nen aufgezeichnet.

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in eben dem Augenblick, wo wir uns denkend dem Erstaunlichen zuwenden, es schon wieder aus dem Blick zu verlieren bzw. uns gegen es zu wenden, indem wir es eben zu denken, also doch wohl auch verständlich zu machen suchen? Oder, vom Erstaunlichen her gefragt: können wir von etwas sagen, es sei an ihm selbst erstaunlich, nicht nur vorübergehend und weil das menschliche Verstehen beschränkt ist, sondern weil es eben ist, was es und wie es ist, so daß, es zu denken hieße, sich dieser Erstaunlichkeit selbst zu öffnen und deren Eigenart zum Ausdruck zu bringen? Diese Fragen werden durch ein weiteres, m.E. das entscheidende Moment im Verhältnis von Erstaunlichem und Philosophie noch verschärft. Schauen wir uns die Beispiele, die Platon und Aristoteles für das anfängliche Erstaunen der Philosophie geben, etwas sorgfäl­ tiger an, so zeigt sich etwas Merkwürdiges. Was da das Staunen erregen soll, das sind gar nicht eigentlich die Themen, die Platon und Aristoteles selbst als die ursprünglichen Herausforderungen für das philosophische Fragen ansehen, diejenigen etwa, die Aristoteles in seinem Aporienbuch darstellt. Das mathematische Problem der Rela­ tivität der Größenverhältnisse, das Sokrates dem Theaitetos vorlegt, die Eigenschaften und die Entstehung der Himmelskörper und der für den Zuschauer unsichtbare Mechanismus der Marionetten, die Aristoteles als Beispiele für zunächst Erstaunliches anführt, das sind zwar, solange sie unverständlich bleiben, in der Tat erstaunliche Sach­ verhalte. Betreffen sie jedoch die Philosophie selbst, allem zuvor die Frage ti to on – was ist das Seiend(e)? Soll das Philosophieren wirklich etwas mit dem Staunen zu tun haben, so muß im Seienden und seinem Seiendsein selbst eine Erstaunlichkeit aufgewiesen werden. Die Frage, die eine radikale Erstaunlichkeit impliziert, können wir im Blick auf die abendländische Tradition in die Form zusammenfassen: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? In den staunenden Blick wird damit der scheinbar unhinterfragbare Sachverhalt genom­ men, daß alles, was überhaupt ist, ist. Der ontologische Impetus des abendländischen Denkens, die Frage nach dem Sein, entspringt einem Fragwürdigwerden – oder vielleicht besser: Fragwürdigmachen – dieser Selbstverständlichkeit, daß es Seiendes gibt und nicht vielmehr nicht, und d.h., daß nicht nichts ist. Noch entschiedener markiert diese Frage allerdings nur den Ausgangspunkt des Denkens. Das Staunen darüber, daß überhaupt etwas ist und so ist, wie es ist, wurde zu der metaphysischen Frage,

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warum etwas ist. In dieser Frage, der Suche also nach den ersten Gründen und Prinzipien des Seienden, insofern es ist, liegt eine bedeutsame Vorentscheidung, die das gesamte metaphysische Den­ ken mindestens seit Aristoteles geprägt hat. Umso unabweisbarer aber scheint mir der Zweifel zu sein, ob die Philosophie einer Erfahrung jener radikalen Erstaunlichkeit wirklich nur so entsprechen kann, daß sie die Warum-Frage stellt, sich also auf den Weg der Begründung und damit der Aufhebung des umfassenden Staunens begibt. Nennen wir etwas erstaunlich oder auch befremdlich, bringt uns etwas zum Staunen und Erstaunen, zum Uns-Wundern und zur Verwunderung, so bedeutet das, daß es uns auffällt, weil es anders ist als erwartet, weil wir es nicht auf Bekanntes und Gewohntes zurückführen können. Es fällt aus den gewohnten Bahnen des Verste­ hens heraus, scheint ihnen zuweilen sogar zu widersprechen. Wir staunen, weil das Begegnende uns nicht vertraut ist, weil es vielleicht eine merkwürdige eigene Kraft ausstrahlt, vor der wir mit unserem Immer-schon-Verstehen verstummen. Zwischen dem Erstaunlichen und dem, der staunt, besteht keine Brücke des Wissens und der Vertrautheit. Gleichwohl geht uns das erstaunliche Andere an, es betrifft uns irgendwie, gerade weil wir es nicht im schon Bekannten unterbringen können. Das Erstaunliche ist nicht einfach irgendein Ungewohntes, Fremdes, sondern etwas, dessen Fremdheit uns auffällt und uns etwas zu sagen hat. Erfahren wir das Erstaunliche wirklich als fremd und anders, dann beinhaltet das nun auch die zuvor genannte Radikalisierung des Erstaunens, das sich nicht über dieses oder jenes wundert, sondern über die einfache Tatsache, daß das, was ist, ist und so ist, wie es ist. Denn diese radikale Erstaunlichkeit des Seienden kann auch seine ursprüngliche Andersheit genannt werden. Das erstaunliche Andere befindet sich in einem nichthaften Raum, der die Aneignung unterbricht oder verhindert. Gewöhnlich dagegen finden wir uns immer schon in einem Raum der Ausge­ legtheit vor. Geschichtliche Erfahrungen, kategoriale Bestimmun­ gen, logische Über- und Unterordnungsverhältnisse, wissenschaft­ lich-systematische Vorkenntnisse und Vorentscheidungen und vieles mehr prägen unser alltägliches In-der-Welt- und Bei-den-DingenSein. Das Feld, in dem wir uns bewegen, ist immer schon von einem dichten Geflecht von Gewußtem und Vorverstandenem durchzogen.

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Die Welt, in der wir alltäglich leben, ist grundsätzlich eine vertraute Welt, eine Welt der Selbstverständlichkeit. Eine Philosophie, die sich auf die erstaunliche Andersheit des Begegnenden einläßt, setzt an dieser Selbstverständlichkeit selbst an und stellt sie in Frage. Ihr geht es nicht so sehr um einen Anfang mit dem Erstaunen als vielmehr darum, die Erstaunlichkeit dessen, was ist, allererst zu erlangen und zu bewahren. Daß das Seiende erstaunlich ist, heißt dann u.a., daß es sich der Identifizierung durch den Begriff entzieht, daß es anders ist, als die menschliche Vernunft und unser alltägliches Vorwissen es ihm unterstellen. Will das Denken vor dieser erstaunlichen Andersheit dessen, was ist, verharren und dennoch ein Denken bleiben, so bewegt es sich offenbar zwischen Scylla und Charybdis: Auf der einen Seite soll es nicht mehr im Sinne der wissenschaftlichen Tradition allgemein, abstrakt, begrifflich, es kann kein subsumierendes, begründendes Denken mehr sein. Auf der anderen Seite aber will es, als Philosophie, auch nicht einfach empirisch vor sich hin reden und beliebiges Wis­ sen akkumulieren. Die Erstaunlichkeit entspringt einer Grundentscheidung des Philosophierenden selbst, seiner Offenheit und Bereitschaft gegen­ über dem ihm Begegnenden, die dieses nicht vereinnahmt, sondern es eben als es selbst und grundlos sein und begegnen läßt. Was Heidegger mit dem wunderbaren, wenn auch mißverständlichen Wort »Gelassenheit« bezeichnet und was Adorno den »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand« nennt, die Aufmerksamkeit auf und das Sich-Anschmiegen an die Sache, das ist die wache und geduldige Konzentration auf das Seiende als ein Erstaunliches, d.h. als ein in seinem Anderssein Gewahrtes. Wir können dieses Denken auch als indirektes oder analoges, in einer erneuten Aufnahme dieser Bezeichnung als das bildhafte Denken und Sprechen bezeichnen. Die sprachlichen Bilder wiederho­ len ihre jeweilige Sache auf eine andere, sinnliche Art, sie malen sie mit Farben, geben eine »Denkempfindung« von ihr, evozieren ihre Evidenz, ohne ihr zu nahe zu treten. In diesem Sinne schrieb Peter Szondi zu Benjamins Umgang mit sprachlichen Bildern: »Die Sprache der Bilder erlaubt, das Fremde zu verstehen, ohne daß es aufhörte, fremd zu sein«.62 Die direkte, z.B. wissenschaftliche Sprechweise ist die Aussage. Sie sagt, sehr vereinfacht gekennzeichnet, etwas über 62

Nachwort zu Benjamin, Städtebilder, 93.

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oder von etwas aus, sie bestimmt ein Subjekt, indem sie ihm ein Prädikat und zumeist ein oder mehrere Objekte zugesellt. Durch das bestimmende Aussagen wird der Satz-Gegenstand bestimmt, fixiert, identifiziert, – was in unserem Zusammenhang auch heißt: er verliert seine Erstaunlichkeit. Das indirekte philosophische Sprechen dagegen bestimmt seine Sache nicht, sondern es um-spricht und um-schreibt sie, es gibt sie wieder, indem es von ihr erzählt, sie, wie man sagt, »zum Ausdruck bringt«, sie abzeichnet und aufmalt. Insofern es zum einen nicht mehr ein allgemeines Seinsdenken ist, ist es selbst nichthaft; und zum anderen ist es nicht mehr begrifflich, insofern bildhaft. Es ist ein Sprechen und Denken, das sich im Offenen und in den Zwischenräumen zu bewegen vermag, das auch offen lassen kann, auch Lücken, Abbrüche, Grundlosigkeiten etc. aufzeigt und zuläßt, das sich seiner Sache mit Analogien und Bildern zu nähern versucht. Viele philosophische Texte des zwanzigsten Jahrhunderts erzäh­ len, malen Denkbilder etc., z.B. Texte von Benjamin, Bloch, Barthes, Jabès, Flusser, Sloterdijk und anderen. Sie machen Anleihen bei der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft, der je anders gestimmten Erfahrung. Diese Philosophen hält es nicht mehr in dem ihnen seit Jahrhunderten zukommenden Bereich der reinen Rationalität und Begrifflichkeit, weil sie einsehen, daß das, was ist, nicht nur und nicht in erster Linie vernünftig oder rational ist. In ihrem Selbstverständnis vollzieht sich ein grundsätzlicher Wandel, der auch die einfache unterscheidende Zuschreibung »hier Dichtung, dort Philosophie« hinfällig werden läßt. Etwas ist. Was ist und wie ist es? Ein Sonnentag, ein Gedanke, eine Geste, an die ich mich erinnere, eine Kriegshandlung, von der ich höre, ein vorbeifahrendes Auto, ein betörender Duft. Etwas ist. Nie ist nur etwas, sondern immer ist unendlich viel und vielerlei mit ihm bzw. um es herum. Alles, was ist, ist. Wir sind nicht nur daran gewöhnt, wir nehmen es nicht einmal als solches wahr, wir selbst sind immer schon, und wir sind immer schon – vor jedem ausdrücklichen Darauf-Achten – von solchem umgeben, das ist und das so ist, wie es ist. Sich darüber zu wundern, heißt, aus der Alltäglichkeit des gewohnten Seins und Sich-Verhaltens herauszutreten und eine philo­ sophierende Blickwendung vorzunehmen. Für diesen anderen Blick ist das, was ist, anders. Nicht nur anders als zuvor, sondern anders an ihm selbst, oder jedenfalls anders als das, was der alltägliche Blick von ihm erwartet, anders als das Schema, in das jener es aufnimmt. Der philosophierende Blick ist insofern ein verfremdender, als er den

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Dingen und Geschehnissen ihre Fremdheit im Sinne ihres Selbst- und Eigenseins gibt oder beläßt. Er läßt sie Lichter sein, die aus der und in der Dunkelheit aufscheinen, Seiendes, das aus Nichts her ankommt. Er thematisiert sie so, daß nichts mit ihnen ist als das, was und wie sie selbst sind. Was sichtbar ist und sichtbar wird, was uns anspricht und angeht, das begegnet uns immer auch aus einem Raum des Nicht­ ausgelegtseins, des Andersseins, was auch heißt: aus einem Raum der Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit und Unfaßlichkeit. Die Weise, wie wir Menschen auf der Erde sind, ist immer schon durch Nicht­ haftigkeit und Andersheit gekennzeichnet, durch die Erfahrung der Wandelbarkeit und Endlichkeit der Welt und ihrer Dinge, – und d.h. auch des Nichts, das sie durchwaltet. Immer schon ist zwischen einem und dem Anderen auch nichts. Insofern legen sich, wenn wir fragen und zu denken versuchen, »wie es ist«, stets diese beiden Möglichkeiten nahe: Wir können die Nichthaftigkeit – wie es schon, zu Beginn des abendländischen Denkens und in der radikalsten Weise, die überhaupt denkbar ist, Parmenides getan hat – aus unserem Blickfeld verbannen und die Nichtigkeit dieser Nichthaftigkeit, also das Sein zum Ausgangspunkt alles folgenden Denkens nehmen. Oder wir können uns der Erstaunlichkeit des Endlichen als eines auch Anderen und Unbekannten und weitgehend unbekannt Bleibenden stellen, – damit allerdings auch den Anspruch auf Wahrheit und unerschütterliches Wissen aufgeben. Dieses letztere Denken verläßt nicht den Raum der Erstaunlich­ keit des Anderen, das Sagbare bleibt einbehalten in seine Unsagbar­ keit, das Erfassen von etwas gibt dessen Unfaßlichkeit nicht gänzlich auf. Dunkel, Stille, Ruhe, Leere sind nicht irgendwo gegenüber oder hinter dem Lichten, Tönenden, sich Bewegenden und den Raum Erfül­ lenden, sondern immer dazwischen. Nichts ist zwischen allem, Sein und Nichts sind ineinander. Alles Seiende ist gleichsam von Nichts durchschossen, es ist fadenscheinig, seinerseits zwischen Nichts und Nichts. Lichter und Laute können die Finsternis und die Stille zwar stören und zerstören; aber dann sind sie gerade nicht mehr ein Aufscheinen aus der Finsternis und kein Ertönen aus der Stille heraus, dann haben sie keinen Raum, keine Aura um sich, sind weltlos. *

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Sehr allgemein angesetzt geht es der abendländischen Philosophie seit je darum, darüber nachzudenken, wie und was das, was ist, ist, also jeweils neu einige Schritte zu tun auf dem Weg der Artikulation eines menschlichen Selbst- und Weltverständnisses. Heute kann dies nicht mehr auf dem Wege einer systematischen Herausarbeitung etwa einer apriorischen Struktur des Seiendseins oder der Bedingungen der Möglichkeit seines Erkanntwerdens geschehen. Gleichwohl stehen weiterhin, nur auf andere, das Anderssein und die Vergänglichkeit wahrende Weise, ähnliche Themen im Blick der Philosophen, The­ men, die sie seit zweitausend Jahren immer wieder – einmal mehr, einmal weniger – beunruhigt haben: der Raum und die Zeit, die Dinge, die Geschichte, die Sprache, der Tod, das Miteinandersein, das Sein und das Nichtsein usw. Das sind ursprüngliche Gegenstände der Philosophie, weil sie die Grunderfahrungen des menschlichen In-der-Welt-Seins und der Welt, in der wir leben, nennen. Die Philosophie richtet sich auf diese allgemeinen Fragen auch in der Weise, daß sie sie in bestimmten empirischen Problembereichen aufsucht und untersucht, etwa mit einem Hinblick auf das politische Handeln, die technologische Veränderung der Welt, die Medienwirk­ lichkeit, die Geschlechterdifferenz, das Gespräch zwischen den Kultu­ ren usw. Aber sie nimmt diese Spezifizierungen dann nicht auf Grund von außen kommender Erfordernisse und Ansprüche vor, nicht, weil sie selbst »aktuell« und zeitgemäß sein, praktische Handlungsanwei­ sungen geben will. Im Hinblick auf eine alltägliche Nutzbarkeit kann und will die Philosophie – ebenso wie die Kunst – keine Beiträge leisten. Es kommt ihr nicht darauf an, neue Wertzusammenhänge zu stiften, wie Nietzsche gemeint hätte, oder alte zurückzugewinnen, wie manche Politiker und Sonntags- und Talkshow-Redner heute glauben machen wollen. Die philosophische Auseinandersetzung mit der Erstaunlichkeit des Erstaunlichen hat keinen unmittelbar praktischen Sinn. Aber sie macht, wie jede ernsthafte Philosophie und wie u.a. das Dichten, das Malen und das Komponieren, eine wesentliche Dimension des Menschseins mit aus. Eine geschichtliche Epoche, die das nicht nach Nützlichkeit trachtende Tun des Denkens und des künstlerischen Entwerfens und Gestaltens nicht mehr als eine entscheidende Komponente ihres gesellschaftlichen Seins aner­ kennt, wäre (oder ist?), um das Mindeste zu sagen, bemitleidenswert arm geworden. Es gehört zur Indirektheit und Bildhaftigkeit des Denkens, sich von Anderem, auch nicht-philosophischer Herkunft, inspirieren zu

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lassen und fremde Bilder zum Ausdruck der eigenen Sache zu wählen. Zweifellos sind zwar die alte Zen-Weisheit und die Haiku-Dichtung oder das Malen kein Philosophieren im uns geläufigen Sinne. Aber wir können gleichwohl, wörtlich genommen, etwas mit ihnen anfan­ gen. Mit aller Behutsamkeit können wir uns das, was sich einem bestimmenden, aussagenden Denken verweigert, etwa die Nichthaf­ tigkeit und das Anderssein und die Erstaunlichkeit des Erstaunlichen, an ihren Äußerungen und Erfahrungen evident machen.63 Während die abendländische Philosophie und Geisteshaltung sich mit aller Denk-Energie auf Sein, Grundhaftigkeit und Bedeutung konzentriert, sucht das ostasiatische, insbesondere das zenbuddhisti­ sche Denken, von Sinn und Prädikation freizuwerden. Ich zitiere aus dem alten Zen-Buch Bi-yän-lu oder Niederschrift von der smaragdenen Felswand aus dem 13. Jahrhundert.64 In dem »Hinweis« zu einem der sogenannten »Beispiele« heißt es: »Schnee liegt auf den Blütenrispen des Uferschilfs; schwer ist’s, zu unterscheiden, wo diese anfangen und wo jener aufhört.« Der Sinn dieser Bemerkung erschließt sich im Zusammenhang mit dem Beispiel selbst. Nach dem Wahrheitsgehalt einer alten buddhistischen Schule gefragt, antwortet der Meister Ba-ling mit den Worten: »Auf silberne Schale häuft sie Schnee.« (251) Das Weiß des die Formen und Farben verhüllenden Schnees auf den Blütenrispen wie auf der Silberschale weist in die Richtung einer Zurücknahme des Ausdrücklichen und Umgrenzten in den weiten, leeren Raum des Unsagbaren und Unsichtbaren, der um alles Einzelne, Veränderliche und Vergängliche ist. Yüan-wu, der Autor der Niederschrift, spricht von der »Region der Ein- und Gleichfarbigkeit«, in der ein solcher Ausspruch beheimatet ist. In der Antwort »Auf silberne Schale häuft sie Schnee« scheint es um ganz anderes zu gehen als um das, was gefragt war. Aber es ist ein indirektes Sprechen, das gerade als solches den Raum für das erstaunliche Besondere freigibt. So, wie man manchmal dadurch etwas genauer in den Blick fassen kann, daß man an ihm vorbeischaut, wie die frei schwebende Aufmerksamkeit die Möglichkeit des Auf­ tauchens von Unverhofftem bietet, wie das So-vor-sich-Hingehen zuweilen einen seltenen Fund ermöglicht, so trifft die Antwort in der »Region der Ein- und Gleichfarbigkeit« ins Schwarze, indem sie Die folgenden Beispiele stammen aus der Abschiedsrede, die ich zum Ende des Wintersemesters 2000 an der Universität Freiburg gehalten habe. 64 Vgl. hierzu auch Verfasserin, Schnee auf silberner Schale? Überlegungen zur Heideg­ gerschen und zur ostasiatischen Denkhaltung, 191ff.

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in eine staunende Erfahrung grundsätzlicher Offenheit zu führen ver­ mag. Gundert betont in seiner Erläuterung, es gehe in diesem Beispiel »um den Kernpunkt der Bemühungen des Zen, nämlich um die Aufgabe, das unfaßbare Höchste, soweit es irgend möglich wäre, in eine Form zu fassen, es für die Hände greifbar, für das Auge sichtbar, für das Ohr hörbar zu machen. [...] Es ist die Frage: gibt es eine Möglichkeit, das Sagen dem Unsagbaren anzugleichen, daß in ihm das Unsagbare hörbar wird?« (258) Der Sache nach entspricht diese Frage der nach der Möglichkeit einer Denkbarkeit des Erstaunlichen. Kann nicht auch für die letztere als Antwort das Bild des Schnees stehen, der auf der Silberschale liegt? Für das Zen-Denken ist der Raum der Nichthaftigkeit ein zugleich selbstverständlicher wie durch intensive geistige und seeli­ sche Bemühung errungener Raum der Welt- und Selbsterfahrung. Nirgendwo sonst wie im japanischen Haiku scheint mir die Erstaun­ lichkeit dessen, was je gerade ist und nicht nicht ist, einen ihr gemäße­ ren – zugleich zerbrechlichen wie sicheren – poetischen Ort gefunden zu haben. Ein Haiku des bekanntesten Haiku-Dichters Bashô lautet: Erster Schnee – Er fällt auf die halbfertige Brücke. Eine halbfertige Brücke, auf die leise und behutsam der erste Schnee fällt. Das Unfertige, Fehlerhafte, Geringe ist in besonderer Weise geeignet, dem unsichtbaren leeren Raum, aus dem her das Begeg­ nende aufscheint, eine Sichtbarkeit zu verleihen. Das Unfertige deu­ tet an, weist über sich hinaus, läßt offen. Gleichwohl könnte das Abgebrochene der nicht fertiggestellten Konstruktion eine gewisse Härte oder gar Gewaltsamkeit bedeuten. Aber diese wird gestillt durch den sich weich darüberlegenden Schnee. Der leise Schneefall, der dem Raum auf seine Art Sichtbarkeit – und auch ein ganz sanf­ tes, raumerfüllendes Hörbarwerden – gibt, schenkt der halbfertigen Brücke ein erstaunliches Angekommensein, das allem Fertigstellen und Nicht-Fertigstellen voraufliegt. Die Stimmung der Erfahrung solchen unfertigen Fertigseins ist eine stille und unbekümmerte, staunende Heiterkeit. In mein Nichts-Buch hatte ich in der ersten Ausgabe einige japanische Lackbilder eingefügt, so auch die Innenseite des Deckels einer Schreibdose aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr­

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hunderts. In schwebender Leichtigkeit wird hier der Augenblick eines Natur-Geschehens festgehalten, – durch Diagonalen, die sich überkreuzen, durch Gegenbewegungen, durch erstaunliche Größen­ verhältnisse, durch Kontrastierung von Gold- und Silberstreuung, durch die Andeutung von großer Landschaft und minimalen Dingen. Das Gegenüber von stillem Mond und bewegten Gräsern, getrennt und verbunden durch schräg einfliegende Wildgänse, artikuliert eine erstaunliche Konstellation, in der sich Nichts zu etwas verdichtet. Die natürlichen, landschaftlichen Dinge werden aus ihrer gewohnten Unscheinbarkeit herausgehoben in eine Sichtbarkeit und Augenscheinlichkeit, in denen sie nur sich selbst ausdrücken, – und doch den Eindruck eines unsagbaren Ganzen in sich versammeln. Die vertrauten Abgrenzungen fehlen; Himmel und Erde, Großes und Kleines, Fernes und Nahes, Stilles und Bewegtes spielen ineinander und schaffen einen offenen Raum der Erstaunlichkeit. In ihm waltet ein wundersames, faszinierendes Zugleich von Gleich-Gültigkeit und Gleich-Ungültigkeit zwischen dem Einen und dem Anderen. In den folgenden beiden Bild-Beispielen – eines aus dem frü­ hen, eines aus dem späten Abendland – wird die Endlichkeit und Nichthaftigkeit des Begegnenden in ihrer Erstaunlichkeit sichtbar, – ohne daß das den Charakter der Exemplifizierung einer allgemeinen These oder theoretischen Einsicht hätte. Das Erstaunliche steht trotz aller Bezüglichkeit, die es mit ausmachen mag, zugleich in der eigen­ tümlichen Einsamkeit seines Andersseins. Das Denken, das diesem entsprechen bzw. es wiedergeben will, führt in ein Zusammengehören von Sein und Nichtsein. So groß die Rolle war, die Sicherheit und Gewißheit in der neuzeitlichen Philosophie gespielt haben, so groß ist für ein im Erstaunen verharrendes Denken die Offenheit, der es sich zu überlassen lernt. Es erfährt sie sowohl als den Raum einer Ankunft aus Nichts wie eines Abschieds ins Nichts. Ein Bild von Magritte trägt den Titel: Le pont d’Héraclite, Hera­ klits Brücke. Das Ineinander von Sichtbarem und Unsichtbarem ist evident: Die Brücke geht ins Nichts, obzwar ihr Spiegelbild ihre Ganz­ heit verrät. Stünden wir tatsächlich vor der Brücke, würden wir ihre Halbheit möglicherweise gar nicht wahrnehmen, weil unser Bewußt­ sein die lückenhafte Wahrnehmung unbefragt ergänzen würde. Die Augen-Scheinlichkeit trügt. Aber das ist eine doppelte Negation. Zeigen die Augen nicht vielleicht doch – jedenfalls zugleich –, wie es ist? Ein Ineinander von Himmel und Brücke, Nichts und Sein, ins Erstaunliche verrückte Realität?

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Und schließlich das Bild des Jünglings, der von den Säulen des Herakles hinab ins Meer springt. Dieses Bild findet sich auf der Innenseite der oberen Grabplatte eines griechischen, etrusko-italisch beeinflußten Grabes (Tomba del Tuffatore) in Paestum, etwa aus der Zeit des Lehrgedichts des Parmenides und der Oden des Pindar. Die Säulen des Herakles waren für die Griechen die Grenzen der mensch­ lichen Welt, nach Pindar, wie Nesselrath schreibt, »das äußerste Maß an Glück und Leistung, das ein Mensch […] erreichen kann«.65 Bedeutet der Sprung des Jünglings über dieses Äußerste hinaus den Übergang in das Nichts des Todes? Hier drückte sich dann eine bisher noch nicht erwähnte Seite des Erstaunens angesichts dessen aus, daß etwas ist und nicht nicht ist, nämlich die Verwunderung darüber, daß wir selbst sind, was auch heißt, daß wir einmal nicht mehr sein werden. Ein solches Weggehen, der Abschied ins Nichts, ist das Sterben, das im Bi-yän-lu »in die Stille eingehen« genannt wird (313). Die staunende Vergegenwärtigung der Realität des Todes bringt an die Schwelle zwischen Sein und Nichtsein.

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Heinz-Günther Nesselrath, Die Säulen des Herakles, 227.

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Ti to on – was ist das Seiend(e)? »Und so ist dies das einstmals und jetzt und immerfort zu Fragende und zu Bezweifelnde: Was ist das Seiend(e)?«66 In den Rahmen dieser Fragestellung stellt Aristoteles sein eigenes, später als metaphysisch bezeichnetes Fragen. Und unter dieses Oberthema können wir in der Tat das ganze abendländische Philosophieren von seinen Anfängen bis hin zum Deutschen Idealis­ mus stellen. Der metaphysische Abschnitt der abendländischen Philosophie­ geschichte, der, je nachdem, wie man die Metaphysik näher versteht, von Thales oder Parmenides oder Platon bis zu Hegel oder Nietzsche oder Husserl reicht, dieser Abschnitt hat die »was ist«-Frage als Frage nach den Prinzipien und Ideen, nach dem allgemeinen und bleibenden Wesen, nach dem Grund bzw. den Gründen des Seienden begriffen. Entsprechend war die Grundhaltung dieses Denkens das Begründen, das Begründen des Seienden in seinem unveränderlichen, in diesem Sinne allgemeinen Sein und das Begründen des Handelns und Verhaltens aus ebenso unveränderlichen, allgemeinen Normen. Als in den letzten hundert bis hundertfünfzig Jahren diese Grundüberzeugung mehr oder weniger ausdrücklich ins Wanken kam, als sowohl die ewigen Gründe und Prinzipien wie die ewigen Normen und Werte allmählich fragwürdig wurden und großenteils – wie ich hoffe, unwiederbringlich – abhanden gekommen sind, trat an die Stelle des Vertrauens in ein unwandelbares Sein die Konfrontation mit der Sterblichkeit des Menschen und damit mit der Geschichtlich­ keit seiner Handlungen und Produktionen sowie mit der Endlichkeit und Veränderbarkeit des Seienden überhaupt. War der Mensch zuvor – unausdrücklich oder ausdrücklich – vornehmlich durch seine Funk­ tion als Erkennender ins philosophierende Spiel gekommen, so löst jetzt die Frage nach ihm als sterblichem, fühlendem, wahrnehmen­ dem, in Raum und Zeit sich verortendem In-der-Welt-Sein die Frage nach der Seinsweise und der Erkennbarkeit des Seienden ab. 66

Met. Z1, 1028b2ff.

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Wenn es kein zeitloses, umfassendes Sein und keine bleiben­ den Wesensgesetze mehr zu ergründen gilt, dann richtet sich das fragende Interesse zunächst vornehmlich auf die menschlichen und zwischenmenschlichen Belange in ihrer Zeitlichkeit und Konkretheit und Besonderheit. Der Blick bleibt dabei auf ein wie immer gearte­ tes Allgemeines gerichtet, auch wenn es sich nicht mehr um die Allgemeinheit eines unveränderlichen Wesens oder einer Gattung handeln kann.67 Worum aber geht es, wenn wir in einer endlichen, das Erstaunen nicht verlassenden Weise uns selbst, wenn wir den Men­ schen thematisieren? Als was sehen wir uns, nachdem wesentliche Varianten unseres Selbstverständnisses – z.B. als Geschöpfe Gottes, als Subjekte und Herren der Natur, als durch Vernunft ausgezeichnete Lebewesen – sich verflüchtigt haben oder auch nur irrelevant gewor­ den sind? Angesichts der Lage, in die die Menschen der letzten zweitausend Jahre sich und ihre Situation auf der Erde gebracht haben, geht es dabei auch um die Frage, ob sie weiterhin als bloße animalia rationalia ihre eigenen zukünftigen Lebensmöglichkeiten untergraben wollen, oder ob es ihnen gelingen kann, eine sinnvolle Zukunft zu finden, in der sie im Zusammenspiel all ihrer Vermögen einen nachhaltigen Umgang und eine offene Kommunikation mit ihrer Umwelt zu leben lernen. Wenn wir von etwas sagen, es habe eine Zukunft – sei es von einer Verkaufsidee oder einem Wirtschaftszweig, einem politischen oder einem künstlerischen Projekt, dem Ergebnis einer geplanten oder einer zufällig eingetretenen Mutation –, so betonen wir, daß es sich nicht um etwas bloß Vorübergehendes handelt, daß es sich vielmehr aufgrund seiner eigenen, in ihm angelegten Potentiale gegenüber anderen, konkurrierenden Möglichkeiten durchsetzen wird. In diesem Sinne heißt, eine Zukunft zu haben, eine gelingende, gute Zukunft zu haben. Das zukünftige Weiterbestehen des spezifischen Menschen, der sich in den letzten zweieinhalbtausend Jahren im Abendland heraus­ gebildet hat, ist jedoch unsicher geworden; der neuzeitliche Mensch, 67 Falls das, was wir heute »Philosophieren« nennen, noch irgendetwas mit dem zu tun hat, was die abendländische Geschichte in Gang gebracht und bestimmt hat, bzw. andersherum gesagt, falls das, was den Grundimpuls und den Lebensatem dieser Geschichte ausgemacht hat, nicht vollends in Reflexionslosigkeit verschwinden soll, dann wird auch die Frage nach der Eigenart des Menschen und seines Denkens und Wahrnehmens und nach den allgemeinen Bahnen und Strukturen des ihm Begegnenden und ihn Umgebenden weiter gestellt werden.

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insbesondere das moderne und postmoderne Subjekt, könnte den heutigen und vor allem den zukünftigen Anforderungen der Realität nicht mehr gewachsen sein.68 Es könnte auch sein, daß, von heute aus gesehen, das zukünftige Leben auf einer global gewordenen Erde, wenn es sich nicht radikal verändert, nicht mehr lebenswert wäre, weil es die als grundlegend empfundenen menschlichen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen könnte, daß das, was noch menschen-möglich wäre, nicht mehr dem entsprechen würde, was wir als lebenswert, als in einem betonten Sinne »menschlich« empfinden könnten. Eine lebenswerte Zukunft erfordert die Möglichkeit eines kom­ munikativen Miteinander von Menschen und Nichtmenschlichem auf dieser Erde:69 Das setzt voraus, daß der heutige Mensch sich so verändert, daß er zu einem fruchtbaren Austausch mit Anderem und Fremdem willens und fähig wird. Ich gehe allerdings nicht davon aus, daß die Philosophen in besonderer Weise dazu befähigt sind, Einschätzungen oder Ratschläge für die Zukunft des Menschen vorzulegen. Ihr Denken scheint zumeist eher realitätsfremd zu sein.70 Die Geschichte von der thrakischen Magd, die den Philosophen Thales ausgelacht hat, weil er, nach den himmlischen Dingen bli­ ckend, den Boden vor seinen Füßen nicht sah und in einen Graben fiel, ist bekannt.71 Heidegger führte in seiner Vorlesung Die Frage nach dem Ding zu dieser von Platon im Theaitetos erzählten Anekdote aus: »Philosophie ist jenes Denken, womit man wesensmäßig nichts anfangen kann und worüber die Dienstmägde notwendig lachen./ Diese Begriffsbestimmung der Philosophie ist kein bloßer Spaß, sondern sie ist zum Nachdenken. Wir tun gut daran, uns gelegentlich zu erinnern, daß wir bei unseren Gängen vielleicht einmal in einen Brunnen fallen, wobei wir lange auf keinen Grund kommen.«72 Das Philosophieren unterscheidet sich in der Tat von vielen Wis­ senschaften dadurch, daß man mit ihr »wesensmäßig nichts anfangen Ganz abgesehen von der Möglichkeit der atomaren Selbstauslöschung. Es ist bemerkenswert, wie stark in den letzten Jahren der Gedanke von allgemeinen Grundrechten auch der Tiere – und teilweise sogar der Pflanzen sowie des Naturhaften als solchen – an Bedeutung gewinnt. 70 In den letzten Jahren oder Jahrzehnten ist jedoch eine besondere Entwicklung festzustellen: ein Hinaustreten von bestimmten Philosophen in die vor allem mediale Öffentlichkeit. So hat z.B. die Pandemie seit 2020 eine Fülle von mehr oder weni­ ger originellen Veröffentlichungen und medialen Äußerungen hervorgerufen. Vgl. oben 14. 71 Vgl. Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. 72 Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, 3. 68

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kann«, daß es im Sinne des »normalen« Verstandes nutzlos ist. In den zweieinhalb Jahrtausenden, seit es die Philosophie gibt, hatte sie kaum je einen direkten, sichtbaren Einfluß auf die politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten der Allgemeinheit. Die vielen Aussagen über die Zukunft des Menschen, die auf soziologischen, historischen, sozialpsychologischen, politischen und auch naturwis­ senschaftlichen Analysen aufbauen und Hinweise darauf zu geben vermögen, wie wir uns in Zukunft verhalten sollten, um unsere Welt als eine für Menschen lebbare zu erhalten bzw. allererst einzurichten, – all diese Aussagen brauchen die Philosophie nicht. Die Philosophen vermögen die großen praktischen Überlebensfragen der Menschheit nicht zu lösen. Wenn Marx sagt, es käme darauf an, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern, dann kann man das auch so verstehen, daß die Philosophen sich als solche auf das grundsätz­ liche In-der-Welt-Sein und seine anstehende Veränderung besinnen müssen. Was Philosophen können und was zu ihrem ureigenen Geschäft gehört, ist eine grundlegende Auseinandersetzung damit, was und wie der Mensch als Mensch in der Welt ist oder sein kann, – oder sein will. Die philosophische Frage nach der Zukunft des Menschen ist die Frage nach seiner Gegenwart und umgekehrt. Die philosophische Selbstverständigung der Menschen über ihr gemein­ sames In-der-Welt-Sein geschieht heute nicht mehr in der Weise des Ausschauens nach einem apriorischen und bleibenden Wesen; die Frage nach dem Menschen muß, etwas überspitzt formuliert, genauer so gestellt werden: was wollen wir, das der Mensch ist? Wie wollen wir unser Menschsein, und d.h. uns als Menschen, verstehen, und wie wäre demgemäßes, also diesem Menschsein entsprechendes Leben und Sich-Verhalten zu denken? Im Lauf der über zweitausendjährigen Geschichte des abend­ ländischen Denkens haben sich sehr unterschiedliche Selbstverständ­ nisse des Menschen ausgebildet und durchgesetzt. Wir haben inzwi­ schen gelernt, das, was wir heute denken und was unseren heutigen Voraussetzungen entspricht, nicht mehr als anthropologische Kon­ stante und als naturgemäß anzusetzen und dementsprechend nicht mehr die Geschichte als einen mehr oder weniger gradlinigen Weg in Richtung auf die Realisierung unseres eigenen Menschenbildes zu verstehen. Die Situation der Philosophie hat sich gegenüber der Vergangenheit insofern verändert, als wir selbst die Verantwortung

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dafür übernehmen müssen – oder dürfen –, was Menschsein in Zukunft heißen kann.73 Andererseits ist gegenwärtig die Überzeugung, daß der Einzelne »doch nichts ändern kann«, weit verbreitet. Wir haben weitgehend den Eindruck, daß wir etwa in der beruflichen oder sogar der poli­ tischen Arbeit eigentlich nichts bewegen können, daß da Systemund Sachzwänge herrschen, die selbst den Regierungen keine großen Gestaltungsmöglichkeiten mehr lassen. So ist z.B. »Globalisierung« zu einem Stichwort avanciert, das das Ensemble der weltweiten Bezüge benennt, unter denen scheinbar unausweichlich das mensch­ liche Zusammenleben steht74 und die den Einzelnen zur Ohnmacht zu verdammen scheinen. Den sogenannten Sachzwängen liegen gewisse Grundentschei­ dungen hinsichtlich von Wertmaßstäben, Prioritäten, Bedürfnissen, Interessen usw. zugrunde. Wir sehen das deutlich, wenn andere Lebensweisen in nähere Berührung mit den gewohnten kommen, wie es z.B. in der sogenannten Dritten Welt seit mehr als zweihundert Jahren, aber etwa auch in Ostdeutschland nach dem Fall der Mauer der Fall war. Selbstverständlichkeiten der Lebensführung und des Miteinanderseins können bei solcher »Berührung« in Frage gestellt und radikal verändert werden. Die jeweiligen Entscheidungen – wo noch von solchen gesprochen werden kann – fallen nicht nur auf dem Feld der grundsätzlichen Lebensauffassung, sondern z.B. auch auf der Ebene des Gefühls der materiellen Überlegenheit, die immer schon das Recht – nicht nur des Stärkeren, sondern oftmals z.B. auch des »Glücklicheren«, jedenfalls des Satteren – auf ihrer Seite zu haben scheint, womit sie wiederum in die Nähe der Sachzwänge gerät. So wie gewisse Warenangebote erst bestimmte Bedürfnisse und Begehrlichkeiten wecken und wie gewisse Marktzusammenhänge das Verhalten der in ihnen Agierenden grundlegend verändern, so schei­ Auf den ersten Blick scheinen die philosophischen Selbstverständnisse und die philosophische Selbstbesinnung ohne Relevanz für das zu sein, was in der näheren oder ferneren Zukunft aus dem Menschen werden könnte. Aber wenn wir einmal darauf reflektieren, welche Bedeutung in der Geschichte – in der Geistesgeschichte wie in der Realgeschichte – die Gedanken z.B. des zoon logon echon, der Gotteskindschaft, des Subjekts, des Menschen als des zur Herrschaft über die Natur Berufenen, des gleichen und freien Staatsbürgers usw. gehabt haben, so wird die zunächst unsichtbare Wirkung der Philosophie doch evident. 74 Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich da allerdings, quasi von einem Tag zum anderen, in der allgemeinen Wahrnehmung und Beurteilung einiges verändert. 73

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nen auch die westliche Technik und Wissenschaft ein Lebensmodell zu implizieren, das einen gewissen Zwangscharakter und Universalitäts­ anspruch aufweist, – weil es einfach das fortgeschrittenste, nämlich das rationalste Modell ist, das die Menschheit bisher hervorgebracht hat. Auch wenn wir zugeben, daß diese Sachzwänge nicht vom Him­ mel gefallen sind, sondern sich aufgrund bestimmter Leitbilder – etwa einerseits von der freien Entfaltung des Individuums, andererseits von Profit und Macht als prinzipiell erstrebbaren Werten – herausgebildet haben, scheinen wir ebenso zugeben zu müssen, daß das, was sich da aus dem Schoß der abendländischen Geschichte heraus entwickelt und hergestellt hat, heute auf einem Stand ist, der den Anschein erweckt, daß wir ihm nicht mehr auszuweichen vermögen, daß wir, überspitzt formuliert, nur mitmachen oder untergehen können. Merkwürdigerweise geht dieses Bewußtsein oder Gefühl grund­ sätzlich mangelnder Souveränität – dem folgerichtig in gewissen post­ modernen Denkansätzen der philosophische Versuch einer Negie­ rung des Konzepts eines eigenständigen Ich entspricht – einher mit dem im Grunde entgegengesetzten Moment in der Selbstein­ schätzung des heutigen Menschen, nämlich mit der immer noch fort­ dauernden Konzeption des Menschen als eines rationalen Subjekts, dem die Erforschung, Beherrschung und Verwaltung der gesamten menschlichen wie nichtmenschlichen Natur aufgegeben sei. Die westliche Überzeugung von dem Recht, ja der Verpflichtung des Menschen, die Welt nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen gestalten und verändern zu sollen, sitzt erstaunlich tief. Letztlich wird die Rechtmäßigkeit des »Macht euch die Erde untertan« selbst oftmals auch da nicht angezweifelt, wo man nachdrücklich auf einem pflegli­ chen, bewahrenden Umgang mit dieser Erde besteht. Die Suche nach einer Weltformel, die den inneren Zusammenhang nicht der Welt selbst, sondern eines allumfassenden wissenschaftlichen Entwurfs finden will, oder etwa auch die Forderung nach einer von den füh­ renden Wirtschaftsnationen zu entwerfenden neuen Weltwirtschafts­ ordnung, die mehr als nur die Wirtschaft der Weltbevölkerung im Ganzen regeln sollte, sind Ausdruck des letztlich uneingeschränkten Selbstbewußtseins des Menschen in Bezug auf seine intellektuellen Fähigkeiten und auf den in diesen gründenden Herrschaftsanspruch. *

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Die Analysen, die Adorno zur Entlarvung des »Identitätszwangs« und Heidegger zum Aufweis des vorstellenden und vergegenständli­ chenden Charakters des neuzeitlichen Subjekts geführt haben, treffen auch heute noch zu. Beide zeigen den eben angesprochenen Zwiespalt auf: Das identifizierende, naturbeherrschende Subjekt ist für Adorno zugleich bloßes Moment des gesellschaftlichen Funktionszusammen­ hanges; das alles von sich aus und gemäß seinen Kategorien stellende und sichernde Subjekt wird für Heidegger dadurch selbst zum blo­ ßen Bestand-Stück der technisch-wissenschaftlich durchorganisierten Realität. Und dieses Eingefügtsein in das Funktionieren des Ganzen gereicht dem Subjekt seinem Selbstverständnis nach sogar zu Ruhm und Vorteil, insofern jener Zusammenhang eben ein »vernünftiger«, zweckrational entworfener ist. Zugleich haben sich die Menschen der westlichen Welt jedoch durch ihr Tun und Lassen – wenn auch weithin nicht willentlich und auch nicht wissentlich – in eine Krise manövriert. Die Techniken und Mechanismen, mit denen die abendländische Menschheit der Natur Herr zu werden unternahm, haben sich in mancherlei Hinsicht ihren Anwendern und Benutzern gegenüber verselbständigt und eine verhängnisvolle Eigendynamik gewonnen. Doch ist das Verselbstän­ digungstheorem oftmals nur so etwas wie ein Alibi-Versuch. Es bleiben doch immer Menschen, die die umweltzerstörenden Prozesse in Gang setzen und halten, es sind Menschen, die das gegenwärtige Weltwirtschaftssystem tragen und stützen, es sind Menschen, die die Pläne zum Abholzen der Regenwälder entwickeln und ausführen, die Jagd auf vom Aussterben bedrohte Tierarten machen, die das Auto benutzen, wo sie auch ohne es auskämen, die immer weitere und immer tödlichere Waffen produzieren. Darum können auch, wenn überhaupt, nur Menschen – und zwar jeweils hier und heute – durch ihr Tun und Lassen mit der Krise fertig werden. Dieses not-wendende Tun und Lassen muß, so denke ich, von einem philosophischen, d.h. inständigen, gelassen kritischen Denken begleitet und unterstützt werden. Dieses darf nicht u-topisch im wörtlichen Sinne, also nicht ortlos sein, wenn anders es die Realität selbst betreffen und treffen will; es kann seine Wirklichkeit und Wirksamkeit nicht in Ideen und Ideologien, in Theorien und Visionen haben. Aber es muß zugleich u-topisch in einem anderen Sinne sein. Es muß jenen unfaßbaren Ort des Zwischen einnehmen, der die Schwelle oder die Spalte zwischen dem, wo wir sind, und dem, wo wir noch nicht sind, aber sein wollen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart

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und zwischen Gegenwart und Zukunft ausmacht und den wir auch als den Un-ort, den U-topos zwischen Gegenwart und Gegenwart bezeichnen können. Das, was ist, ist zugleich auch anders, nämlich, mit Adorno gesagt, mehr, als es ist. Als Zeitlich-Geschichtliches hat es Wurzeln in Früherem, Anderem, steht es in Bezügen zu Fremdem, reichen seine Möglichkeiten zugleich in Unvordenkliches hinein, umfaßt es Momente der unterschiedlichsten Tendenz. Es zu denken, heißt darum sowohl, in es hineinzugehen, es gleichsam auszuloten, wie, über es hinauszugehen, es aufzunehmen in eine Offenheit, die seine Gegenwart und seinen gegenwärtigen Raum übertrifft, ihn aber zugleich erst mit ausmacht. In Bezug auf die ökologische Krise gesagt, scheint das unrealis­ tisch, im schlechten Sinne utopisch, wenn nicht gar zynisch zu sein. Denn der Zustand der Erde scheint keine offenen Möglichkeiten mehr zu haben, vielerorts scheinen wir deren Möglichkeiten unwie­ derbringlich verbaut und verdorben zu haben. Was die Qualität und die Quantität von Luft, Wasser und Nahrung, aber etwa auch von Lebens- und Wohnraum angeht, scheint die Lage fast hoffnungslos geworden zu sein. Wenn wir noch den Mut zum Hinhören und Hinsehen haben, können wir die Schreckensszenarien täglich den Medien entnehmen. Hat die Menschheit überhaupt noch eine andere Wahl, als den »Sieg der Faktizität« resignierend hinzunehmen? Bleibt uns angesichts seiner noch eine »Natürlichkeit«, von der aus und auf die hin wir die beschädigte Natur zu bewahren, sogar zu heilen ver­ möchten? Doch was heißt da, wo von der zerstörenden Macht des Fakti­ schen gesprochen wird, »Faktizität«? Was ist faktisch? Wenn das, was ist, tatsächlich mehr ist, als es ist, dann gibt es das Faktische nicht. Dann gibt es stets eine mehrdeutige Gegenwart; und darum auch die doppelte Gegenwart dessen, was jeweils augenscheinlich ist und sein wird, und dessen, was sein könnte, vielleicht sein sollte; das ist zwar im landläufigen Sinne nicht, hat aber gleichwohl gerade als sol­ cherart Nichtseiendes seine eigene Gegenwart und Wirkmächtigkeit. Und diese zweite Gegenwart geht weiter, sie beginnt schon früher als die erste und reicht über sie hinaus ins Kommende. Das, was sein könnte und sollte, wurzelt in etwas und speist sich aus etwas, das in unseren Bedürfnissen und Wünschen, unseren Träumen und Phantasien lebt, – wenn auch nicht nur in diesen. Das Andere, mit dem wir das Bestehende konfrontieren, wäre z.B. eine Natur, die nicht

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ausgebeutet und verpestet und zerstört wird, sondern die einfach »Natur«, von sich her Seiendes und uns von sich her Betreffendes ist. Als dieses Andere ist sie immer auch schon da, ist uns immer schon in Erfahrungen gegeben, die wir nur zumeist nicht als unsere Erfahrungen wahrnehmen. Insofern kommt es – wie Heidegger nicht müde wurde zu betonen, auch wenn es bei ihm weniger »ontisch« gemeint war – für ein kritisches Denken darauf an, dort anzukommen, wo wir schon sind. Eine solche Ankunft in dem, was auch schon Gegenwart ist, braucht ein Einhalten und Innehalten, – das, was wir mit den alten Philosophen das Erstaunen, mit Heidegger die Gelassenheit und mit Adorno den langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand nennen können. Wo sind wir, wenn wir uns auf den Ort besinnen, wo wir schon sind? Wir sind auf den Wegen zwischen Tag und Nacht, zwischen Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit, zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft usw. Wir finden uns da, wo wir uns immer schon befinden, unter Menschen und Dingen, auf der Erde und unter dem Himmel. Wir sind in einer Gegenwart, die aus einer bestimmten Geschichte kommt und in eine bestimmte Geschichte mündet.75 Ich denke, daß wir unseren Aufenthalt an dem Ort, der aus der Sicht der sogenannten Realität u-topische Ortlosigkeit bedeutet, und in der Zweideutigkeit jener doppelten Gegenwart, die sich weder nur aus einer erhofften Zukunft noch nur aus einer nostalgisch besetzten Vergangenheit, sondern vor allem aus ihr selbst, aus der Gegenwart her bestimmt und die nichts Punktuelles, vielmehr ein Feldhaftes, ein Bereich ist, – ich denke, daß wir diesen räumlich-zeitlichen Aufenthalt auch als Wohnen, genauer als Auf-der-Erde-Wohnen bezeichnen können.

Wohnen auf der Erde und in der Welt Wir wohnen alle irgendwo und irgendwie.76 Behaglich oder beengt, zuhause oder in der Fremde, allein oder mit anderen. Das Wohnen ist fraglos ein – wenn auch philosophisch meist nicht näher bedachtes – Grundmoment des menschlichen Lebens. Man wohnt in der Stadt 75 Wir sind z.B. in einem Europa, das nur bestehen kann, wenn es anders wird, als es ist. 76 Vgl. zu diesem Phänomenkomplex Verfasserin, Wohnen und Wandern.

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oder auf dem Land, in der Ebene oder in den Bergen oder am Meer. Und wir wohnen auf der Erde. (Die vorübergehenden Domizile von Astronauten einmal ausgenommen.) Wir wohnen in der Intimität der Wohnung im engeren Sinne wie in der Öffentlichkeit der Straße. Die Wohnung ist der Ort oder die Räumlichkeit, wo wir hingehören, von wo wir jeweils ausgehen und wohin wir zurückkehren, wo man uns antrifft, wo wir uns schlafen legen, wo wir bei uns selbst und wir selbst sein können, allein oder im Zusammenleben mit unseren Nächsten. Die Wohnung schützt uns vor Wind und Wetter, aber auch vor den Blicken und Zudringlichkeiten der Anderen, Fremden. In ihr spielt sich das alltägliche Leben ab, im ständigen Umgang mit dem, was zwischen den Mauern ist, hinter der Tür, in den Zimmern, vor den Fenstern, auf den Fluren und Treppen. Wie wir mit Möbeln, Büchern, Bildern und Blumen unsere Wohnung einrichten, so richten wir unser Leben ein. Zugleich öffnet das Wohnen die Einen für die Anderen, es läßt uns teilnehmen an dem gemeinsamen Leben der Öffentlichkeit. Wir wohnen in den Nachbarschaften eines Wohnblocks, einer Straße, in der Interessengemeinschaft eines Stadtteils, einer Gemeinde, in der geistigen Atmosphäre und den gegenseitigen Belangen einer Stadt. Wir wohnen also nicht nur zuhause, sondern auch in unserem Wohn-Ort; indem wir in der Stadt arbeiten, flanieren, einkaufen und uns mit Anderen treffen, fügt sich dies alles zu unserem einen Leben. Dadurch, daß wir auf die eine und die andere Weise wohnen, gehören wir in mehrfältige Bewandtniszusammenhänge des sich vielfach kreuzenden Privaten und Öffentlichen, des Persönlichen und des Gemeinschaftlichen. Wohnen heißt, eine nähere und weitere Welt um sich herum zu haben, der man zugehört und die man eben dadurch selbst mit ausmacht, daß man in sie hineingehört. Werfen wir jedoch einen Blick darauf, wie sich der abendländi­ sche Mensch im Laufe seiner Geistesgeschichte bis in die Moderne hinein selbst verstanden und definiert hat, so zeigt sich, daß das Wohnen dabei so gut wie keine Rolle gespielt hat. In unserer philoso­ phischen Tradition ist nicht nur vom Wohnen keine Rede, sondern das denkende, das selbstbewußte und vorstellende Subjekt ist sogar im Gegenteil wesentlich ein unbehaustes, nämlich ein welt- und wohnungsloses Subjekt. Das animal rationale als solches weiß sich nicht als in der Welt wohnend, es hat keinen angestammten Ort, und es lebt nicht in es übergreifenden Bezugszusammenhängen, schon gar nicht in einem Haus oder einer Stadt, sondern es steht als

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Subjekt einer Objektivität gegenüber, die es begrifflich und materiell zu bewältigen hat. Das für das Wohnen konstitutive, scheinbar so selbstverständliche In-Sein mit seiner konkreten Bezüglichkeit wird durch die abendländische Geisteshaltung tendenziell und systema­ tisch ausgeklammert. Wenn wir dagegen dorthin zu gelangen suchen, wo wir zugleich schon sind, dann drehen wir uns aus der Haltung des objektivierend aneignenden Gegenübers und der begreifenden Konfrontation mit den Gegenständen heraus, um uns unversehens dort zu befinden, wohin wir als geborene und sterbliche Wesen gehören, auf der Erde. Diese Bestimmung, das Auf-der-Erde-Sein, nennt die unüberhol­ bare Konkretheit und – trotz aller mannigfaltigen Zurichtungen – Natürlichkeit unseres Hineingehörens in die Welt. Unser natürliches Zugehören ergibt sich mit unserer Geburt und dauert bis zum Tod. Wir sind, unabhängig davon, wie »natürlich« oder »künstlich« unsere Lebensweise auch jeweils sein mag, im wörtlichen Sinne irdisch.77 Das Wohnen als solches ist, so scheint mir, ein entscheidendes Moment und ein maßgeblicher Ausdruck dieses fundamentalen Irdischseins. »Auf der Erde wohnen« meint die Grundbefindlichkeit eines Den­ kens, das aus der Rationalität und Funktionalität des insbesondere neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Verhältnisses herausgesprungen ist. Vermögen wir aber die Erde heute überhaupt noch wirklich zu bewohnen? Wie steht es mit ihrer von uns selbst geschaffenen bzw. selbst verhinderten »Wohnqualität«? Wir verbauen und vergiften uns unsere eigenen Lebensräume; weitgehend fehlen uns die Ruhe und die Gelassenheit, die nötig wären, um die unterschiedlichen Räume als solche zu durchgehen und die ihnen zugehörigen unterschiedlichen Lebensfunktionen zu übernehmen. Die große Wohnung, die die Erde ist, ist ja nur zu einem Teil von uns eingerichtet. Wir geben ihr zwar notwendig unsere Prägung, aber zugleich ist sie es, die Erde, die uns beherbergt. Haben wir diese Wohnung vielleicht mit Unnö­ tigem vollgestellt, so daß es uns vielfach den Atem und den klaren Blick nimmt? In der ökologischen Krise geht es um die Möglichkeit unseres weiteren Wohnens auf der Erde. Um ihr zu begegnen, gilt es, dieses Haus, die oikia, um deren logos es da so kritisch steht, achtsam zu bewahren. Was auch heißt, die baufällig gewordenen, durch Mißbrauch beschädigten oder verwohnten Teile sorgfältig zu 77

Vgl. unten 129.

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reparieren, wenn nötig zu renovieren und dabei auf die diesem Haus eigene Atmosphäre und das Eigenleben seiner Dinge achtzugeben. Um es noch einmal zu wiederholen: Die Philosophie kann und will keine Handlungsbegründung und -anweisung geben. Die Philo­ sophen sind keine Chefideologen, zumal es ohnehin nicht die Chef­ ideologien sind, die angesichts der ökologischen Krise gefragt sind, sondern das politische Handeln aller – nicht nur der sogenannten Politiker »da oben«. Inzwischen kann man wissen, daß es angesichts des Krankheitszustands der Natur oder der Erde nicht auf gelehrte Diagnosen und nicht auf das Verschreiben teurer oder weniger teurer Rezepte ankommt. Vielmehr darauf, was wir, einzeln und gemeinsam, zu tun und vor allem zu lassen bereit sind. Das aber hängt u.a. von dem Selbst- und Weltverständnis ab, das wir jeweils zu einer bestimmten Zeit entwickeln oder nicht entwickeln. Und eben da setzt die Aufgabe der Philosophen ein, – wenn auch »Aufgabe« eine Vokabel ist, die zu gebrauchen wir uns inzwischen eher scheuen. Es geht nicht nur um unser »eigenstes Interesse« und auch nicht nur um eine moralische Verantwortung gegenüber unseren Nachfah­ ren, – was nur eine andere Form des Eigeninteresses ist. Sondern es geht einfach um unser Sein, insofern wir eben auf der Erde wohnende Wesen sind. Besinnen wir uns auf das, was wir immer schon sind, dann bedarf es, so scheint mir, weder irgendwelcher neuer Entwürfe noch großer Zukunftsvisionen. Es ist dann allerdings zugleich auch vorbei mit der Möglichkeit eines resignativen, sich abfindenden, bloß kritischen Beschreibens und Analysierens. Das Aushalten und Reflektieren dessen, was zuvor das Zwischen zwischen Gegenwart und Gegenwart genannt wurde, in dem unser Auf-der-Erde-Wohnen den Stachel findet zu einer produktiven Kritik dessen, was ist und doch zugleich nicht, z.B. nicht gut ist, – das reflektierende Aushalten dieses Zwischen hat jeweils den Charakter eines Hin- und Hergehens zwischen den unterschiedlichen Momen­ ten, des Offenhaltens eines Raumes, in dem Mannigfaltiges sich aufeinander beziehen kann. Auch wo es als durch die Ausweglosigkeit einer nivellierten Eindimensionalität und qualitätslosen Einerleiheit gekennzeichnet erscheint, bleibt das Wohnen auf der Welt ein in sich Mehrdeutiges. Sein Hier steht zwischen Da und Dort, sein Jetzt zwischen Vorher und Nachher. Die Reflexion auf sein Mehrdeutigsein hat u.a. die Funktion, seinen verstellten Deutungen eine neue, eigene Chance zu geben, in ihm ein Verhalten – nicht zu schaffen, sondern

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freizusetzen, das aus dem Wohnen heraus mit den Bahnen und Ten­ denzen der Welt und des In-der-Welt-Seins mitzugehen unternimmt. * Das »Auf der Erde wohnen« ist die Weise, wie wir in der Welt sind: die Welt ist der Raum, den die Menschen bewohnen. Das scheint lediglich eine bildliche Umschreibung zu sein; aber was hindert uns daran, diese Wendung und andere, verwandte Wendungen wörtlich zu nehmen? Wir bezeichnen z.B. die Geburt als »Auf-die-Welt-Kommen« und das Gebären als »Zur-Welt-Bringen« oder auch »In-die-Welt-Setzen«, – früher gab es entsprechend die Formulierung »der Welt abwerden« für das Sterben. Was mit der Welt gemeint ist, »in« der wir als Menschen sind, indem wir sie bewohnen, können wir uns in einem ersten Schritt verdeutlichen, wenn wir ihre Bedeutung von der des Seins absetzen. Die weite Welt, die schöne Welt, die verruchte Welt – eine Welt voller Elend, eine Welt voller Glück, eine Welt voller Überraschungen. Wir können nicht ebenso sagen: das weite Sein, das verruchte Sein, ein Sein voller Glück und Schönheit. Nehmen wir z.B. zwei Zitate, die durch unzählige andere ergänzt werden könnten. Zum einen Hölderlin, in einem Brief an Böhlendorff: »O Freund! Die Welt liegt heller vor mir, als sonst, und ernster.«78 Und Nietzsche: »Was ward die Welt so welk! Auf müd gespannten Fäden spielt der Wind sein Lied.« (Der Herbst) Würde vom Sein jemand sagen können, es liege hell vor ihm, würde man sagen, das Sein sei welk geworden? Aristoteles zeigt, wie erwähnt, zu Anfang seiner Metaphysik, daß das eidenai, das Wissen, ein Erkennen des Allgemeinen, genauer der allgemeinen Gründe für das Sein und Was-Sein des endlichen Seienden ist. Damit hat er der Philosophie einen Weg gewiesen, der – um mit meinen Beispielen zunächst bei Hölderlin und Nietzsche zu bleiben – von so etwas wie »wilden Rosen« und »holden Schwänen«, wie der »tiefen Mitter­ nacht« und den »weißen Meeren« nichts weiß und nichts wissen will, weil er notwendig zum Seienden als Seienden führt bzw. vorab immer schon geführt hat, und damit, zumindest in seiner Konsequenz, hinaus aus der Welt, in der es Wildes und Holdes, Mitternacht und 78

Briefe, 427.

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Meere gibt, in die Abstraktheit und ontologische Allgemeinheit der Begriffe als solcher und des Seins.79 Die Frage nach dem Sein ist so alt wie die abendländische Philosophie. Parmenides hat mit ihr den Überstieg »über alle Städte« der sterblichen Menschen im wörtlichen Sinne er-fahren. Wie immer man im Einzelnen den nach Auskunft seiner Göttin einzig einzuschla­ genden Wahrheitsweg des »wie es ist, so ist es« auslegen will, er ist jedenfalls mit aus der Entgegensetzung zu der bunten, veränderlichen Welt der Sterblichen zu verstehen, der Welt, in der es Entstehen und Sosein und Veränderung und Vergehen gibt. Er ist fernzuhalten von jeder Vermischung mit Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit, mit Räumlichkeit und Zeitlichkeit usf., insofern all dies in irgendeiner Weise schon mehr und Bestimmteres ist als einfach zu sein und nichts als das. Die reine Abgeschiedenheit des wahren Seins und seines Den­ kens konnte im Laufe der Philosophiegeschichte nicht in dieser Rein­ heit aufrechterhalten werden, wenn anders die Philosophie überhaupt weitere Aussagen über das Sein, zumal über sein Verhältnis zum man­ nigfaltigen Seienden machen wollte. Aber obgleich darum in der Folge die Verschiedenheit ins Sein Einzug hielt – Aristoteles sprach vom on pollachos legomenon, dem »seiend«, das auf mehrfache Weise aufzu­ fassen und an- und auszusprechen ist –, blieb das Philosophieren auf seinem Haupt- und Königsweg der Frage nach dem Sein und d.h. der Ontologie verpflichtet. Erst nach Hegel kam die Seinsgewißheit, die die Philosophie seit Parmenides in ihren ontologischen Grundfragen geleitet hatte, auf breiter Ebene ins Wanken. Heidegger hat in dem Seminar, das sich an seinen letzten an der Freiburger Universität gehaltenen Vortrag, Zeit und Sein, anschloß, gesagt, es werde nötig, »dem Denken die ontologische Differenz zu 79 Das metaphysische Denken läßt sich also durch die Weltlosigkeit seines Fragean­ satzes und seiner Begrifflichkeit kennzeichnen. Daneben hat es allerdings durchaus auch ein Nachdenken über die Welt als All des endlich Erscheinenden gegeben: etwa mit kosmogonischen, also die Weltentstehung betreffenden Fragen oder als cosmologia rationalis, einer der von Christian Wolff unterschiedenen drei metaphysicae speciales, oder mit den Unterscheidungen des kosmos noetos vom kosmos aisthetos oder des mundus sensibilis vom mundus intelligibilis (Kant). So hat man sich u.a. gefragt, ob es eine oder ob es viele Welten gibt, ob die Welt beseelt ist oder unbeseelt, ob unsere Welt die beste aller möglichen ist usw. Aber auch dieses Denken der Welt ist im strengen Sinne ein weltloses Denken. Es ist nicht in der Welt situiert, die als solche eine menschliche Welt ist, eine Welt für und mit Menschen.

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erlassen«. Jetzt gehe es vielmehr um »das Verhältnis von Welt und Ding, ein Verhältnis, das zunächst noch in gewisser Weise als das Verhältnis von Sein und Seiendem aufgefaßt werden könnte, wobei aber sein Eigentümliches verloren« gehe.80 Gemäß dieser Bemerkung stehen die Frage nach dem Sein und die nach der Welt nicht einfach als zwei unterschiedliche, wenn vielleicht auch eng zusammenhängende Fragen nebeneinander, wie z.B. die Frage nach der Sprache und die Frage nach dem Tod zwei unterschiedliche, nebeneinanderstehende Themen des Philosophierens sein können. Vielmehr wird hier das Verhältnis von Welt und Ding gewissermaßen als eine Ablösung des Verhältnisses von Sein und Seiendem vermutet, das letztere soll vor dem ersteren zurücktreten, ihm Platz machen. * »O Freund! Die Welt liegt heller vor mir, als sonst«. Die Welt, wenn sie im Sinne des Ganzen dessen, was uns umgibt bzw. was es über­ haupt gibt, verstanden wird, hat einen Allgemeinheitscharakter, der dem des Seins an Weite in gewisser Weise entspricht, ihm an Inhalt­ lichkeit jedoch ums Ganze überlegen ist, weil diese Inhaltlichkeit selbst von der Welt jeweils in ein Eines, Umfassendes und Durchwal­ tendes zusammengefaßt wird. In einem anderen Brief an Böhlendorff (a.a.O., 433) spricht Hölderlin von dem »philosophischen Licht vor meinem Fenster«. In diesem Licht sieht er nicht mit Klarheit und Genauigkeit – clare et distincte. Hölderlin schaut auf die helle und zugleich ernste Welt, die sich vor seinem Fenster ausbreitet. Zum einen ist diese Welt das Ensemble aus natürlicher und menschlicher Landschaft, das seine sinnlichen Augen bei dem Blick aus dem Fenster wahrnehmen, »die heimathliche Natur«. Ebenso umfaßt dieses philosophische Licht auch die geschichtliche Welt eines Schicksals, in der ihm z.B. »das eigentliche Wesen der Grie­ chen bekannter« wurde. Beides, das »All der Natur« und die geistiggeschichtliche Welt des Menschen, hat Hölderlin im Hyperion sowohl in ihrer schmerzlichen Differenz wie in ihrer beglückenden Einheit zum Ausdruck gebracht. »Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.«81 80 81

Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag »Zeit und Sein«, 40f. Hyperion, 160.

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Das inhaltlich Umfassende der natürlichen und geistigen Welt zeigt sich oftmals in einer ebenso umfassenden Grundstimmung, etwa des Glücks oder der Schwermut, die sich dann nicht auf dieses oder jenes richtet, bzw. von diesem oder jenem hervorgerufen wird, die vielmehr in unbestimmter Weise die ganze Welt zu umgreifen und zu durchstimmen scheint. Die Welt kann sich dementsprechend als wunderbar und berauschend offenbaren oder als düster und grausam, als hell oder als welk. Ich erinnere zum einen an Louis Armstrongs rauchiges »What a wonderful world!« oder an Theodor Storms »ist doch die Welt, die schöne Welt so gänzlich unverwüst­ lich«, zum anderen aus literarischer und historischer Erfahrung an den »Weltschmerz« und die »Weltuntergangsstimmung«. Oder an die trotzigen Sätze: »Und wenn die ganze Erde bebt / Und sich die Welt aus ihren Angeln hebt / Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern«.82 Und: »Davon geht die Welt nicht unter / Sie wird ja noch gebraucht«.83 »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« Mit der »ganzen Welt« ist da die sogenannte äußere Welt, die Welt des Vorhandenen gemeint, von der es auch heißt: »In der Welt habt ihr Angst«.84 Zwischen dieser äußeren Welt und der Seele besteht nur dann ein Gegensatz, wenn jene als ein bloßer Gegenstand der Aneignung und des Habens angesetzt ist, während die Seele – ich könnte auch sagen das Selbst – von grundsätzlich anderer Qualität sein soll. Verstehen wir »Welt« dagegen in der Richtung eines Sinnzusam­ menhangs, der jeweils den Horizont unseres Vertraut- und Zuhau­ seseins ausmacht, dann steht, die Welt zu gewinnen, in keinem Gegensatz mehr zu dem, was wir heute unter dem Begriff »Seele« verstehen könnten. Unsere Seele, unser Selbst, unser Herz, das wäre dann das in uns, was, wenn es ernst genommen wird, sich weder mit dem bloßen äußerlichen Besitz noch mit der Wahrnehmung und Erkenntnis der sogenannten objektiven Welt der Naturwissenschaf­ ten zufriedengeben will, sondern das ein Umfeld braucht, zu dem es selbst eine Beziehung aufzunehmen vermag, einen Bereich der Vertrautheit, innerhalb dessen ihm das eine nah, das andere fern, eines beglückend, anderes bedrohlich vorkommen kann. Eine Welt 82 83 84

Freddy Quinn u.a., Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern. Zarah Leander. Bibel, Matthäus 16,26 und Johannes 16,33.

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zu gewinnen, das könnte dann bedeuten, einen Ort des Hingehö­ rens und einen Horizont des Verstehens zu finden. Die Welt ist kein »objektiver«, zugleich unbestimmter wie allumfassender Raum, sondern sie ist die Wohnung, in die wir, jede und jeder von uns, einmal hineingeboren wurden und die wir irgendwann einmal wieder verlassen werden. * Die Weltzuwendung der Tradition hat sich nicht im Schauen und Begreifen und Auf-den-Begriff-Bringen erschöpft; neben dem erken­ nenden Zugang standen gleichberechtigt der praktische Zugang, die Produktion und Aneignung, die Erfindung und Entdeckung, die Eroberung und Beherrschung. In beiden Strängen der Weltbe­ wältigung liegt das Gleiche, daß sie beide eben dieses waren und weitgehend sind: Welt-Bewältigung. Auf die eine und die andere, die theoretische und die praktische Weise ging es und geht es darum, der Welt und der Probleme, die sie aufgibt, Herr zu werden und sie zu meistern, mit ihnen fertig zu werden, wie man sagt. Heute sind es oftmals die Probleme und Risiken, die durch die Weltbewältigung selbst entstanden sind, Probleme der Umweltzerstörung, Risiken der fortgeschrittensten Technologien, Probleme der menschlichen Verelendung und Vereinsamung. Das Auszeichnende des Konzepts dieser Weltbewältigung ist, daß sie die Welt vor sich hat, sich gegenüber, so daß sie sich ihr gegenüber zu bewähren und durchzusetzen hat. Eine solche Aufgabe fordert Disziplin und Selbstkontrolle, zuweilen Selbstüberwindung. Im Denken, insbesondere der Wissenschaften, sind Verallgemeine­ rung und Abstraktion und Objektivierung, das Hintanhalten der persönlichen Meinungen und Ansichten und Interessen vonnöten; im Handeln Unterordnung unter die vorgenommene Zwecksetzung, die Zurückstellung privater Bedürfnisse und Wünsche, auch hier Abstraktionsvermögen und ein Blick, der sich auf das Wesentliche und Vordringliche richtet. Worauf es dagegen bei dem Ansatz einer rationalen Welt- und Lebensbewältigung wenig oder gar nicht ankommen kann, sind die je eigene leibliche Befindlichkeit, das sinnlich-sinnenhafte Sich-Auf­ halten in der Welt, das nicht instrumentelle Sich-Hingeben an den Augenblick und seine Reize – und an den Anderen und seine Liebe –, das spielerische Sich-Einlassen auf überraschende Zufälle, das

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Träumen und Vor-sich-hin-Phantasieren, das Sich-Einfühlen und Sich-Wohlfühlen, aber auch die Trauer und der Schmerz, das Krank­ sein und die Angst. Die Welt der Weltbewältigung ist darum im strengen Sinne gerade keine Welt in ihrer eigentlichen Bedeutung, sie ist eine weltlose Welt. Von einer Warte des objektiven Begreifens und wissenschaft­ lichen Erkennens her mag man die als »subjektiv« eingestuften Bezüge als nicht wahrheitsfähig abqualifizieren. Ich habe jedoch die Selbstverständlichkeit der Wahrheitsfrage und den Wert der Wahrheitsfähigkeit in Frage gestellt. Innerhalb wissenschaftlicher Zusammenhänge sind sie zweifellos eine Voraussetzung sinnvoller Diskurse. Wenn es aber um das menschliche Selbst- und Weltver­ ständnis geht, dann greift ein Denken, das allein auf der rationalen Erkenntnisfähigkeit des Menschen aufbaut, notwendig zu kurz. Denn dann interessiert im Grunde nicht der kategorial gefaßte und wissen­ schaftlich ausweisbare »Welt«entwurf, sondern dann interessiert die Welt, in der wir leben, die Welt des Jeweiligen und Besonderen, die Welt des Endlichen und Sterblichen, die Welt, auf die wir kommen und von der wir wegsterben. Daß dies keine Welt ist, über die wir zu einem argumentativ und wahrheitsdefinit gewonnenen Urteil zu kommen vermögen, über die wir uns auch im Gespräch und in der Selbstbesinnung je und je wieder verständigen können, ist nur dann ein Handikap, wenn wir uns von vorneherein auf die abstrakte Ebene der wahren Aussagen verpflichtet haben, die an der endlichen Welt immer schon vorbeigehen. Und die darum von ihrer Warte aus den nicht bloß bildlichen Gebrauch von Worten wie »beglückend« und »Wohnen«, »Hingehörigkeit« und »Zuhausesein« nicht zulassen kann. Welt haben wir nie als ein Objekt vor uns, sie ist nicht sinnlich greifbar. Und ist doch das, innerhalb dessen oder durch das überhaupt etwas sichtbar und greifbar, sinnlich und unsinnlich vernehmbar wird. In ähnlichem Sinn heißt es bei Heidegger: »Eine Welt läßt sich wesenhaft nie eröffnen und zusammenleimen als nachträgliche Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit wahrgenommener Dinge, sondern ist das ursprüngliche und ureigene im voraus Offenbare, innerhalb dessen erst dies und das uns begegnen kann.«85 Die Welt ist selbst nichts Eigenes, Substanzielles, sie hat ihr Sein vielmehr einerseits am, besser: mit dem Innerweltlichen und andererseits 85

Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 140f.

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mit dem welterfahrenden Menschen. Der unter dem Innerweltlichen waltende Sinnzusammenhang, der jeweils als eine Welt ist, besteht nur für ein menschliches Erfahren und Verstehen und Sich-Verhalten. Und umgekehrt findet sich dieses Erfahren immer schon in einer Welt vor. Innerhalb eines wörtlich verstandenen Welt-Verständnisses hat eine erkenntnistheoretische Problematik, also die Frage danach, wie das Subjekt zu einer wahren Erkenntnis der objektiven Wirklich­ keit gelangen könne, streng genommen keinen Platz. In dem hier gemeinten Sinn von Welt zu sprechen, impliziert, die Wechselwir­ kung zwischen Sinnverstehen und verstehbarem/verstandenem Sinn bereits vorausgesetzt zu haben. Wir gehören immer schon in eine Welt bzw. in eine Vielzahl von Welten, in die Bezugsmannigfaltigkeiten von Dingen, Geschehnissen und Prozessen, die wir zugleich auch immer erst mit ausmachen und mit aufbauen. Wir haben keine isolierten Substanzen mit an ihnen vorkommenden Relationen, Eigenschaften und Zuständen vor uns,86 sondern wir befinden uns jeweils und stets mitten in einem Zusammenhang oder Geflecht von Bezügen, Verhältnissen, Abläufen und Konstellationen von und zwischen Verschiedenartigem und Wechselndem.87 Die abendländische Philosophie hat das Gewebe, das die Dinge und ihre Beziehungen jeweils zueinanderhält und durchstimmt, zu zerreißen bzw. zu verflüssigen – lateinisch: zu liquidieren – vermocht, um nur noch die reinen Seins- und Erkenntnisstrukturen übrig zu behalten und aus ihnen das Gebäude des Alls des Seienden als Seienden aufzuführen.88 Das Verhängnisvolle bestand dabei darin, daß sie so tat, als sei es das, was sie in Wahrheit vor sich habe, daß sie Vgl. Verfasserin, Unter anderem: die Dinge, 11ff. Der Heidegger’sche Begriff der Bewandtnis ist hier sehr sprechend: Es hat immer schon eine, diese oder jene oder noch eine andere, Bewandtnis mit dem, was uns begegnet oder bei dem wir uns vorfinden, wir haben es nicht – oder erst auf Grund einer vollzogenen Abstraktion – an ihm selbst und weltlos vor uns. 88 Jener Ansatz überzeugt mich nicht mehr. Ich wehre mich dagegen, daß er für sich in Anspruch nahm und nimmt, das distanzierte, unbeteiligte, weltlose Auf-den-BegriffBringen sei der Ansatz des Philosophierens. Allerdings reicht es nicht, das traditionelle Philosophieren einfach über Bord zu werfen. Es reicht nicht nur nicht, sondern es geht auch gar nicht. Die Sprache und die Begrifflichkeit, die uns zur Verfügung stehen, haben eine Geschichte, die nicht einfach durchzustreichen ist. Die Weise, wie wir denken, hat sich in über zweitausend Jahren gebildet, und neue Spielregeln, Begriffe und sogar Inhalte brauchen Zeit. Heute wenigstens haben sie ihren notwendigen Anhalt und Ausgang an der Kritik am Gewordenen. 86 87

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also von dem Abstraktionsakt selbst abstrahierte, der sie allererst zu diesem erkennenden Ansatz geführt hat. Dadurch trug sie zumindest mit dazu bei, die Menschen der abendländischen Geschichte auf die Bahn der Herrschaft des Erkennens und Handelns zu führen, und damit zu einem Selbstverständnis, in dessen Rahmen ihnen die Kommunikation mit den Dingen und der Welt und mit ihresgleichen eher fremd wurde. Wir Menschen wohnen nicht nur in einer Welt und leben aus ihr, wir verstehen uns auch von diesem Wohnen her, aus seiner eigenen Vertrautheit mit der Welt und ihren Sinnzusammenhängen, aus den Nähen und Fernen, die sich zwischen uns und den Orten und Zeiten unserer Welt ausspannen. Zugleich gehört zum Wohnen in der Welt das Mit-anderen- und Unter-anderen-Sein; der Mensch ist in der Welt als einer ihrer Bewohner, nicht mehr. Als dieser Bewohner hat er allerdings nicht den neutralen Bezug eines bloßen Sich-dortAufhaltens und Dort-Vorkommens zu ihr, sondern den durchaus persönlich und stimmungsmäßig gefärbten Bezug des Hingehörens und Sich-Erfahrens sowie des Welt-Bildens.

Sich-Beziehen auf einander Der menschliche Bezug zur Welt ist zu einem guten Teil ein Bezug – oder eine Beziehung – von Mensch zu Mensch. Obgleich man von »Beziehungen« in sehr verschiedener Hinsicht sprechen kann und es unmöglich ist, allgemein zu bestimmen, was eine Beziehung ist, möchte ich versuchen, einen, wenn auch unvollständigen Blick auf die Vielfalt des Bedeutens von Beziehung zu werfen, um die zwischenmenschliche Nahbeziehung in gewisser Weise einzukreisen. Das Zeitwort beziehen bedeutet: eine reale oder logische Verbin­ dung zwischen etwas und einem anderen herstellen oder eine solche feststellen. Das Verhältnis, das zwischen den beiden aufeinander Bezogenen besteht, die Beziehung also, ist von unterschiedlicher Art, je nachdem, was da jeweils und wie es in einer Beziehung zueinander steht oder gesehen wird. Schon diese doppelte Formulierung – wie es in einer Beziehung steht oder gesehen wird – weist auf eine grundsätzliche Differenz hin: Beziehungen können entweder mit den Beziehungsgliedern gleichsam mitgegeben sein – Beispiel: Krieg und Frieden –, oder aber sie werden erst durch ein Vorstellen, Vergleichen und Argumentieren gesetzt oder hergestellt, z.B. wenn Äpfel und Birnen einem Preisvergleich unterzogen werden.

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Es kann sich, bei für sich bestehenden wie bei hergestellten Bezie­ hungen, um dauerhafte oder um momentane Beziehungen handeln, um wesenhafte und notwendige oder um zufällige, um Fremd- oder um Selbstbeziehungen, um Beziehungen zwischen Ereignissen, zwi­ schen Dingen, zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen oder Geschehnissen, zwischen Einzelnen und zwischen Gruppen, Gesellschaften, um Beziehungen hier und jetzt oder über die Räume und Zeiten hinweg. Die Philosophie hat gelernt, darauf aufzumerken, daß das schein­ bar vereinzelt Vorliegende wesenhaft in Beziehungen und Konstella­ tionen steht, mit anderen ein Beziehungsgeflecht, ein Gewebe, einen Sinn- oder Funktionszusammenhang bildet. Indem sie Beziehungen, Verhältnisse, Systemzusammenhänge, Konstellationen, Konfigura­ tionen und mannigfache Arten des Zusammenspiels denkt, richtet sie sich u.a. gegen die sogenannte Ding- oder Substanzontologie, die das Wesen des Seienden, d.h. des einzelnen, selbständigen Seienden thematisierte und es primär als ein Für-sich-Bestehendes begriff. Beziehungen von Menschen zu Menschen können sehr unter­ schiedlicher Art sein. Es gibt enge und lockere, begrenzte und umfas­ sende, gewollte und lästige, freundliche und feindliche Beziehungen, Zweier-, Dreier-, Vierecks-, Gruppenbeziehungen. Solche, in die wir hineingeboren werden, und andere, die wir bewußt eingehen oder in die wir mehr oder weniger zwangsläufig geraten. Die Beziehungen einerseits zu Eltern und Geschwistern, andererseits zu Freunden, Geliebten, Partnern, zu Kollegen oder Nachbarn. Ich schaue hier vor allem auf Beziehungen, die zwei Menschen miteinander eingehen und die ihnen wichtig und von ihnen gewollte Beziehungen sind, – was nicht unbedingt heißt, daß sie sie immer ursprünglich von sich aus gesucht oder gewählt hätten. Auch Bezie­ hungen, die wir aus Sympathie, Liebe, selbst nur Interesse bewußt eingehen, entstehen trotz dieser bewußten Übernahme gewöhnlich nicht als Ergebnis eines Willensentschlusses, man kann auch nicht von außen zu ihnen gezwungen oder überredet werden. Aber auch, wenn sie zunächst in gewissem Sinne mit uns geschehen, wenn uns ein Gefühl überkommt, eine Neigung in uns heranwächst, auch dann sind wir ihnen nicht einfach unterworfen. Wir stellen uns dazu, wir können diese Beziehungen wollen und akzeptieren oder sie nicht wollen und nein sagen zu ihnen, etwa auf sie verzichten. Und wir können sie z.B. auch beenden.

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Auch eine in diesem Sinne gewollte, übernommene Beziehung ist zunächst nicht notwendig eine glückliche, erfüllte; sie kann sich auch, von Anfang an oder im Laufe der Zeit, als unglücklich, zerstöre­ risch erweisen. Streng genommen allerdings sprechen wir von einer wirklichen Beziehung zumeist erst und nur da, wo es sich um eine gelingende Beziehung handelt, unabhängig davon, welches Schicksal ihr am Ende beschieden ist. In einer gelingenden oder glückenden Beziehung bildet sich ein offenes, gegenseitige Anerkennung impli­ zierendes Verhältnis zwischen beiden heraus. In der dürren Sprache des psychiatrischen Wissenschaftlers: »Nur wenn zwei Personen reziprok ›erfolgreiche‹ Zuschreibungsakte durchführen, kann sich zwischen ihnen eine echte Beziehung entwickeln.«89 In diesem Sinne wäre z.B. das Verhältnis zwischen Verführern und Verführten keine »echte« Beziehung, wohl dagegen das zwischen Julia und Romeo oder zwischen Achill und Patroklos, auch wenn beide – wie übrigens wohl die meisten literarisch überlieferten großen Beziehungen – auf je unterschiedliche Weise ein tragisches Ende nehmen. Was ist der Eine, wenn er der Andere in der gegenseitigen Beziehung ist? Sartres Hinweis auf das Zum-Objekt-gemacht-Wer­ den durch den Blick des Anderen ist keine befriedigende Antwort, weil er für das menschliche In-der-Welt-Sein ein prinzipielles Sub­ jekt-Objekt-Verhältnis voraussetzt bzw. impliziert. Was geschieht mit dem Einen, wenn er, wie Rilke es ausdrückt, »Gemeinter« des Einen ist. Indem der Eine sich als der Andere erfährt, versteht er sich in und aus der Beziehung, innerhalb deren oder als die beide wechselseitig Einer und Anderer sind. Er erfährt sich selbst gewissermaßen doppelt, sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite der Analogie, meinend und gemeint, sprechend und hörend, antwortend und fragend, gebend und nehmend. Auf Grund dieser Gegenseitigkeit bzw. da, wo diese Gegenseitigkeit sich in einem ungehinderten, ausgewogenen Hin und Wider entfalten kann, weiß der Eine sich in und aus einer Zusammengehörigkeit mit dem Anderen, aus ihrem gemeinsamen Raum des Mit-einem-Anderen-Seins. »Beziehen« in der in »Beziehung« implizierten Bedeutung ist ein relativ junges Wort; das Grimmsche Wörterbuch behandelt fast ausschließlich die andere Bedeutung, wonach »etwas beziehen« so viel heißt wie »sich etwas beschaffen«. Tatsächlich läßt sich in der Moderne eine bedeutende Zunahme der Wichtigkeit feststellen, 89

Ronald D. Laing, Das Selbst und die Anderen, 188.

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die Beziehungen, engere Beziehungen zumal, für das Leben der Einzelnen und ihr Selbstverständnis gewonnen haben. Elisabeth Beck-Gernsheim diagnostiziert in dem mit Ulrich Beck zusammen geschriebenen Buch Das ganz normale Chaos der Liebe: »Je mehr andere Bezüge der Stabilität entfallen, desto mehr richten wir unser Bedürfnis, unserem Leben Sinn und Verankerung zu geben, auf die Zweierbeziehung.«90 Von Beziehungen sagt man sowohl, daß man sie hat, wie daß man in ihnen steht oder sich in ihnen befindet. Offenbar ist die zweite die angemessenere Redeweise. Jedenfalls haben wir Beziehungen nicht so, wie wir Eigenschaften, Kenntnisse, gar Besitztümer haben. Vielmehr sind wir in ihnen. Das besagt einerseits, daß die Beziehung selbst etwas ist, nicht lediglich eine Bestimmung an der oder dem Einen und dem oder der Anderen; und es besagt andererseits, daß sie sowohl außer uns wie zugleich nicht außer uns ist, wir sind in sie einbehalten, sind jeweils ihr eines Glied, ihre eine Seite und beziehen uns doch auch auf sie selbst als auf ein uns gegenüber Anderes. Da sind Eine oder Einer und eine Andere oder ein Anderer, die eine Beziehung zueinander aufnehmen oder eingehen. Zugleich sagen wir, daß sich »etwas« zwischen ihnen entspinnt. Die Beziehung kann eine gewisse Selbständigkeit, ein eigenes Recht gewinnen, derart, daß die aufeinander Bezogenen sich ihr unterstellen können, sich um sie bemühen, ihr etwas opfern usw. Sagt man von einer Beziehung, einer Freundschaft z.B., sie sei einem wichtig, so heißt das nicht nur, daß einem dieser andere Mensch, auf den man sich bezieht und der sich auf einen bezieht, wichtig ist; es heißt auch, daß dieses Miteinandersein selbst eine gewisse Eigenbedeutung für uns gewon­ nen hat; es besteht zwar nicht ohne ein aktives Sich-darauf-Einlassen, gleichwohl entwickelt es ein eigenes Sein. Die Beziehung, die zwischen zwei Menschen besteht, muß bis zu einem gewissen Grad auch »rein aus ihr selbst«, unabhängig von diesen Menschen, ihren Sympathien, Erfahrungen, Vorhaben usw. erfahren, jedenfalls betrachtet werden können. Um die Beziehung als solche zu verstehen, kommt es nicht allein darauf an, an den einen und den anderen Menschen zu denken, um dann zwischen beiden ein 90 Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 71. Mit dieser Zunahme an Bedeutung ist zugleich auch ein ironisches Verhältnis zur Beziehung und zum »Beziehungswirrwarr« entstanden, zu dem die in den 68-er Jahren des vorigen Jahrhunderts Mode gewordenen endlosen Diskussionen über »Beziehungskisten« sicherlich beigetragen haben.

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Band, Beziehung genannt, zu knüpfen und es so von seinen Enden her in den Blick zu fassen. Vielmehr können sogar umgekehrt jene beiden in ihrem Tun und Lassen, Fühlen und Denken mit von der Eigenart der Beziehung her verstanden werden. Paradoxerweise ist die Beziehung gerade darum zugleich etwas Eigenes, das uns bis zu einem gewissen Grad übersteigt, weil sie nicht lediglich etwas an uns ist, wir sie vielmehr selbst mit ausmachen. Heidegger hat einmal gesagt: »Wir sind nicht, und wenn, dann nur selten und dabei kaum, in der Lage, eine Beziehung, die zwischen zwei Dingen, zwischen zwei Wesen waltet, rein aus ihr selbst her zu erfahren. Wir stellen uns die Beziehung sogleich von dem aus vor, was jeweils in der Beziehung steht.«91 Daß es überaus schwierig ist, eine Beziehung unabhängig von dem, was da in Beziehung zueinander steht, zu denken, drückt sich schon in Heideggers fast stammelnder Redeweise aus: »Wir sind nicht, und wenn, dann nur selten und dabei kaum, in der Lage ...« * Zwei Verse aus dem zwölften von Rilkes Sonetten an Orpheus (Erster Teil) lauten: Die Antennen fühlen die Antennen, und die leere Ferne trug ... Hier ist eine extreme Art von Beziehung gedichtet, die so sehr als ein eigenes Sein – »rein aus ihr selbst« – gedacht ist, daß sie keinen Inhalt der in ihr Bezogenen mehr an sich hat, vielmehr reine Beziehungshaftigkeit ist. Die Antennen fühlen die Antennen, – ein merkwürdiges Bild. Daß Antennen fühlen, bringt ihre Eigenart zwar einsichtig zur Sprache. Antennen sind Aufnahme- und Sende­ organe, gemacht, um elektromagnetische Wellen zu empfangen und abzustrahlen. Die Antenne tritt gleichsam zurück vor dem, was sie empfängt oder sendet. Aber wie ist es, wenn die Antennen Antennen fühlen? Das Bild, das hier durchzuschimmern scheint, ist das eines selbstvergessenen, in sich schwingenden Herüber und Hinüber, eines reinen Wechselspiels, das sich derart in sich selbst genügt, daß es keines zu empfangenden Etwas mehr bedarf bzw. daß dieses sich nicht mehr von dem Sendenden unterscheidet. Reines Sich-sagen-Lassen, 91

Martin Heidegger, Das Wesen der Sprache, 188.

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Entsprechen. Hingegebener kann sich nichts auf sein Anderes bezie­ hen, als wenn es sein eigenes Sein ganz in sein Sich-Beziehen legt, keine Beziehung kann erfüllter und damit zugleich leerer sein. Ein anderes, etwas geläufigeres, obgleich vielleicht noch schwie­ rigeres Bild für diese reine Gegenseitigkeit oder Beziehungshaftigkeit wäre das Bild der sich gegenseitig spiegelnden Spiegel: Der Spiegel spiegelt den Spiegel und nichts außerdem. Anklänge an dieses Bild finden sich u.a. bei Rilke, bei Heidegger im Ding-Vortrag oder in der altjapanischen Niederschrift von der Smaragdenen Felswand. Der Spie­ gel, der nichts spiegelt als den anderen, ihn spiegelnden Spiegel, somit nichts anderes als das Spiegeln selbst, ist vielleicht das vollkommenste Bild für eine Beziehung, die sich rein im Beziehen erschöpft, von nichts anderem mehr getrieben, angeregt oder beunruhigt als von der Gegenseitigkeit des Beziehens. In der Idee dieser reinen Beziehungshaftigkeit wird, im Extrem, die Räumlichkeit, die der Beziehung als solcher eigen ist, deutlich. Auch für zwei sich aktiv und inhaltlich aufeinander Beziehende ist es von Bedeutung, daß sie getragen sind von einem leeren Raum der Ferne. Zu dem Eigensein der Beziehung gehört eine spezifische Raumhaftigkeit. Die Beziehung geschieht zum einen in einem Raum, der Raum ist Raum für die Beziehung. Und sie kann zum anderen selbst ein Raum genannt werden. Dieser letztere, der Beziehungs­ raum, die Beziehung selbst als Raum, umfängt sowohl die sich auf­ einander Beziehenden, wie er zugleich der Zwischenraum ist, der sie zueinander- wie auseinanderhält. »Raum« ist dabei sehr weit zu verstehen, er umfaßt z.B. auch den Zeit-Raum. Die Beziehung durchmißt eine Entfernung, durchspannt den Raum, in dem der Eine wie der Andere ihren Ort haben; zugleich ist sie selbst dieser durchmessene Raum. Die Beziehung hat damit gleichsam sowohl einen dreidimensio­ nalen wie einen linearen, oder vielleicht besser: einen offenen wie einen umgrenzten Charakter. Obgleich der Unterschied zwischen In und Zwischen nicht überzubetonen ist, läßt sich doch mit dieser Zwiefalt der genannte qualitative Doppelcharakter der Beziehung selbst deutlich machen: Sie ist für die sich aufeinander Beziehenden sowohl ein sie einbehaltender und sie bergender Raum, in den sie hinein- und dem sie zugehören, den sie mit ausmachen und der doch auch über sie hinausgeht, sie transzendiert, wie sie auch das ist, was beide zueinander- und auseinanderhält und damit zugleich die spezifische Nähe wie Ferne bezeichnet, die zwischen ihnen besteht.

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Die spezifische Qualität oder Eigenart einer Beziehung bestimmt sich aus beidem: aus dem gemeinsamen Raum, den sie den Bezogenen gewährt, wie aus dem, was sich zwischen ihnen abspielt. Sowohl als der umfassende, einbeziehende Bereich wie als jenes den Zwischenraum überbrückende oder durchgreifende Band scheint die Beziehung selbst gleichwohl irgendwie »nichts« zu sein. Was genau ist z.B. eine Liebesbeziehung über die Gefühle des Einen und des Anderen hinaus? Ist der Zwischenraum – nur als Zwischenraum genommen – nicht so gut wie nichts?92 Auch wenn wir ihn nicht abstrakt, unabhängig vom Räumlichen in ihm in den Blick fassen, auch dann hat er, für sich selbst genommen, einen merkwürdigen Charakter der Nichthaftigkeit, er scheint selbst »nichts« zu sein außer den jeweiligen Orten, Stätten, Plätzen, Gegenden. Gleichwohl »geschieht« er, und zwar gerade, indem er Orte, Stätten usw. in räum­ lichen Beziehungen zueinander und zum »Ganzen« sein läßt, also einräumt.93 Der Raum ist die leere Weite, das Nichts an Räumlichem, das eben auf Grund dieser Leere dem Eingeräumten Platz machen kann. Ähnliches ist gemeint, wenn wir sagen, daß die Beziehung »ist«, indem sie den Einen und den Anderen aufeinander bezieht, auch wenn sie an ihr selbst nicht greifbar ist. Raum und Beziehung entsprechen sich. Ein Punkt ist noch kein Raum. Erst wenn wir einen zweiten Punkt dazu setzen, ergibt sich mit der Beziehung beider – der räumlichen, aber auch zeitlichen, qualitativen, quantitativen – ein Raum, und zwar sowohl ein Raum zwischen ihnen – ein Abstand, eine Entfernung –, wie ein Raum, in dem sie beide sind, eben weil er zwischen ihnen ist. »Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb ...«. Dieses Volkslied, das auf die u.a. von Ovid, aber auch von Schiller erzählte Geschichte von Hero und Leander zurückgreift, führt schließ­ lich zu dem traurigen Ende: »Der Jüngling ertrank so tief« und: »Da lagen zwei Königskinder, die waren alle beide tot.« Die beiden Liebenden waren durch einen weiten Raum, das tiefe Meer, vonein­ 92 Auch darum ist der Raum in der Philosophiegeschichte als reine Form, als Ord­ nungsschema, als »die reine Mannigfaltigkeit der drei Dimensionen« usw. mißver­ standen worden. Heidegger schreibt über den »reinen Raum« der Naturwissenschaf­ ten im Zusammenhang mit seinem Brückenbeispiel in Bauen Wohnen Denken: »Aber ›der‹ Raum in diesem Sinne enthält keine Räume und Plätze. Wir finden in ihm niemals Orte, d.h. Dinge von der Art der Brücke« (156). 93 Vgl. auch Heidegger, Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum, 13ff. und Die Kunst und der Raum, 9ff.

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ander getrennt. Die Entfernung zwischen ihnen war sowohl das Kennzeichen ihrer Liebe, die über die Ferne hinübertrug, wie zugleich auch deren radikale Infragestellung, insofern sie deren Erfüllung, das Zusammensein verhinderte. »Herzliebster, kannst Du nicht schwimmen? Herzlieb, schwimm herüber zu mir!« Die beiden Königskinder können sich mit der Ferne nicht zufriedengeben, schwimmend soll und will der Jüngling das Meer und damit den Zwischenraum zwischen ihnen überwinden: die räumliche Ferne soll zu Nähe werden. Die Nähe aber, die sie dabei tatsächlich erreichen, ist die Vereinigung im Tod, eine äußerste Nähe, die in Wirklichkeit keine Nähe mehr ist, weil sie der Möglichkeit der Distanz verlustig gegangen ist. Indem das Licht, das ihm den Weg zei­ gen soll, ausgelöscht, die Distanz selbst unsichtbar gemacht wird, wird die Beziehung zerstört, was hier besagt, daß sie beide zugrundegehen. Die Entfernung ist, so könnte man sagen, in dem Moment, da sie aufgehoben werden sollte, zu groß geworden, überspannt, sie mußte die Beziehung selbst zerreißen, so daß sie die beiden Bezogenen nicht mehr halten konnte; die Königskinder mußten untergehen. Im Volkslied war es das »falsche Nönnchen«, das das Licht auslöschte, bei Schiller der wütende Herbststurm und das tobende Meer, was das Zusammenkommen der Liebenden unmöglich machte. Jedenfalls scheiterte der Versuch, die Ferne zu überwinden, durch äußere Mächte. Aber möglicherweise eben nicht nur durch äußere Mächte: Vielleicht war der Zwischenraum ja etwas, was zu ihrer Liebe nicht nur als ein zusätzliches, sie behinderndes Moment hinzukam, vielleicht war ihre Beziehung zueinander vielmehr durch den Raum dieser Ferne wesentlich mit geprägt, eine Beziehung nicht einfach über die Ferne hinweg, sondern durch die Ferne hindurch, so daß sie mit deren Tilgung selbst zerstört werden mußte. * Jede Beziehung spielt in einem Raum oder Bereich, sei es, daß er sich mit ihr, für sie eröffnet, sei es, daß sie sich in ihm ansiedelt, ihn erfüllt. Es muß ein offener Raum da und für die Beziehung zugänglich sein, damit diese sich entfalten, überhaupt entstehen kann. Wir sagen dann etwa, die Zeit war reif dafür, oder die Situation war geeignet, die Umstände waren günstig. Umgekehrt kann auch der Raum für das Wachsen einer Beziehung fehlen oder ihr jedenfalls ungünstig sein; ein wissenschaftliches Labor oder eine Fabrikhalle mit Fließbändern,

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auch die kahlen, unpersönlichen Vorlesungsräume einer Universität sind eher beziehungsfeindliche Räume. Es gibt bei Heidegger noch eine andere Stelle, wo er die Schwie­ rigkeit, die Beziehung selbst angemessen zu denken, betont. Er sagt, »daß das, was wir leichthin Beziehung nennen, eine der verfäng­ lichsten Sachen ist, zumal wir im Hinblick auf sie in einseitigen Meinungen befangen sind. Maßgebend für jede Beziehung bleibt stets, in welchem Bereich sie spielt.«94 Der Raum oder Bereich, in dem eine Beziehung sich vollzieht, ist für diese Beziehung selbst nicht gleichgültig. Heidegger spricht davon, daß er ihr das Maß gebe, d.h. die Intensität und die Reichweite der Beziehung, des Sich-Beziehens der Beziehungsglieder aufeinander: Maßgebend bleibt, in welchem Bereich oder Raum die Beziehung spielt. Der Raum, in dem und durch den hindurch eine Beziehung sich entwickelt und erhält, ist selbst, wie schon gesagt, gleichsam nichts, – und ist doch bestimmend für das, was innerhalb seiner geschieht, indem er dem Miteinander einen Ort einräumt, Platz macht, Raum gibt. Er ist die leere Ferne zwischen zwei Einzelnen, die eben auf Grund dieser »fühlbaren Ferne« keine bloß Einzelnen mehr sind, sondern in Beziehung Stehende. Die leere Ferne trägt die Beziehung selbst, dadurch, daß sie den Einen für den Anderen und die Andere für die Eine sein läßt. Und je nachdem, wie dieser Raum beschaffen ist, ob er z.B. ein vertrauter Raum oder ein Raum der Fremde, ein freundlicher oder ein feindlicher, ein schwermütiger oder ein heiterer, ein enger, begrenzter oder ein weiter, offener Raum ist, wird auch die Beziehung eine andere sein. Der Raum, in dem die Geschichte von den beiden Königskindern spielte, war die Gegend des Hellespont, deren Ufer von zwei verfein­ deten Königshäusern beherrscht wurden. Hätte es sich dagegen um eine Meerenge z.B. zwischen zwei befreundeten Handelshäusern gehandelt, hätte die Geschichte kaum so tragisch enden müssen. Zeit, Situation, Umstände hätten eine andere Konstellation gebildet und damit einen anderen Raum für die Beziehung der beiden Liebenden bereitgestellt. Das Wasser wäre weniger tief gewesen. Der Raum zwischen dem Einen und dem Anderen ist zunächst, als Beziehungsraum, ein Raum der Nähe. Die beiden, die sich da jeweils füreinander öffnen, etwas miteinander zu tun und sich etwas zu sagen haben, sind sich nah (gekommen) und vertraut (geworden). 94

Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, 78.

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II Philosophieren über den Menschen

Sie wissen etwas miteinander anzufangen, der Zwischenraum zwi­ schen ihnen ist ihnen eine erfüllbare Gegend, in die sie miteinander eintreten, in der sie sich und die sie für sich einrichten. Wenn die Ferne in der Tat trägt, vermögen die scheinbar sich gegenüberstehenden »Seiten« der Beziehung diese selbst zu einem gelebten gemeinsamen Raum zu machen. Als Raum entfalteter Nähe gewinnt er seine vertrauten Winkel und gangbaren Wege, er bekommt reizvolle und gefährliche Plätze, er füllt sich an mit geteilten Erfahrungen, mit Erinnerungen, Hoffnungen und Plänen. Der Beziehungsraum ist der Bereich, in dem sie sich nah sind, weil sie ihn teilen. Diese Beschreibung ist allerdings zugleich noch unzutreffend, besser: ungenügend, und zwar nicht nur wegen der vielleicht in manchem realitätsfernen Positivität des Aufweises. Der »Raum ent­ falteter Nähe« ist vielmehr rein als solcher genommen noch kein Beziehungsraum. Was ihm noch fehlt, ist das Moment des Anders­ seins, d.h. auch der Fremdheit und der Distanz. Nähe und Vertrautheit bedürfen, damit sie entstehen und sich halten können, zugleich eines Abstands und einer Ferne voneinander. Erst das Anderssein der sich aufeinander Beziehenden hält den Raum offen, innerhalb dessen sich ihre Beziehung entfalten kann. Das Anderssein ist das Anderssein des Einen wie des Anderen. Es wahrt, gerade indem es dem Einen wie dem Anderen zukommt, das Eigensein der Einzelnen. Erst dieses ermöglicht es jedem von ihnen, sich auf den je Anderen zu richten und mit ihm eine beide in ihrem Wesen betreffende Beziehung einzugehen. Gerade wenn es sich um eine »gute«, gelingende Beziehung handelt, verlieren die beiden, die eine Beziehung miteinander eingegangen sind, nicht ihr Eigensein gegeneinander, sie verschmelzen nicht zu einem ununter­ scheidbaren Einen. Vielmehr halten sie mit ihrer Jeweiligkeit zugleich die Spannung zwischen sich aufrecht, ihre Distanz, wörtlich: ihr Auseinanderstehen. Viele Worte unserer Sprache, die ein Sichbezie­ hen auf den Nächsten zum Ausdruck bringen, enthalten ein die Beziehung scheinbar negierendes »gegen« und »ander«: begegnen, entgegnen, antworten, Auseinandersetzung; selbst im Miteinander liegt ja das Mit-einem-Anderen-sein. Nähe und Distanz scheinen einander entgegengesetzt zu sein, wobei dieser Gegensatz unterschiedliche Erscheinungsformen hat. Beck und Beck-Gernsheim führen die These vom »ewigen Kampf zwischen Autonomie und Abhängigkeit, ›Nähe und Distanz‹, ›Ver­ schmelzung und Widerstand‹« an sowie zwischen »Intimität« und

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»Individualität«, »Symbiose« und »eigenem Leben«95. Meinem Ver­ ständnis nach ist das Anderssein aber eigentlich kein Gegensatz-, sondern ein Komplementärbegriff zum Selbstsein oder Eigensein; Nähe und Distanz fordern und stützen sich gegenseitig. Das Eigene ist es selbst, indem es anders ist als das Andere, und das Andere ist nur an ihm selbst Anderes, weil es selbst ein Eigenes ist. Wir sind allzu gewohnt, die Differenzen und Differenzierungen, die zwischen dem Einen und dem Anderen bestehen, und damit das Anderssein selbst einzuebnen, nicht nur das Anderssein des Anderen, sondern auch unser eigenes. Nur, wenn wir unsere eigene Fremdheit erfahren und aushalten können, sind wir beziehungsfähig, vermögen wir das Abenteuer des Wechselspiels von Selbstsein und Anderssein zu bestehen. Wir verhalten uns uns selbst gegenüber gewöhnlich wie gegenüber alten Bekannten, von denen wir uns nichts Neues mehr erwarten können. Was jedoch bedeutet, daß neue Regungen, unerwartete Erfahrungen, verblüffende Wendungen von vorneherein keinen Raum zu ihrer Ent­ faltung finden. Die Forderung am Apollotempel in Delphi »Erkenne dich selbst« ruft uns auch dazu auf, die Erfahrung zuzulassen und anzuerkennen, daß wir uns selbst immer auch fremd sind und fremd bleiben werden. Was z.B. einschließt, daß wir uns immer wieder über uns selbst wundern können. Wie es sich z.B. in diesem Haiku von Issa ausspricht: Wie merkwürdig! lebendig zu sein unter Kirschblüten. Auch die Beziehung, in der wir zu uns selbst stehen, ist sowohl durch Nähe wie durch Distanz bestimmt. Der Raum, der die sich aufeinander Beziehenden miteinander verbindet, ist und bleibt auch ein Raum, der sie voneinander trennt, in dem sie somit gegeneinander Andere sind. Die Beziehung ist – wie ihr Beziehungszwischenraum – durch zwei gegenwendige Richtungen oder Kräfte bestimmt. Man spricht zwar davon, daß in einer nahen Beziehung der Eine für den Anderen einsteht; aber ein solches Einste­ hen stellt die grundsätzliche qualitative Andersheit und Fremdheit des Anderen nicht in Frage, es ist niemals eine bloße Vertretung oder Stellvertretung. Für den Anderen einstehen zu wollen, heißt vielmehr, 95

Das ganz normale Chaos der Liebe, 95.

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dessen andere Situation und Gegebenheit für sich zu übernehmen, und doch zugleich ihm gegenüber Anderer zu bleiben bzw. ihn als Anderen bestehen zu lassen. Waldenfels schreibt in Grenzen der Normalisierung: »Was wäre von einer Liebe zu halten, die damit endet, daß sie ihren Partner inund auswendig kennen würde? Wenn solche Verständigungsversuche an einen toten Punkt gelangen, so muß dies daran liegen, daß es ein Fremdes in der Sache selbst gibt, das seine Fremdheit nicht der unzu­ länglichen und vorläufigen Auffassungsweise verdankt.«96 Je enger eine Beziehung ist, umso mehr läuft sie Gefahr, die Andersheit des Anderen nicht mehr wahrzunehmen und zu wahren, sondern in eine Nivellierung oder gar Gleichgültigkeit abzugleiten. Auf der anderen Seite kann allerdings ein allzu starres Festhalten am Anders- und Selbstsein umgekehrt auch die Möglichkeit und Gefahr bergen, daß die Beziehung sich überhaupt verflüchtigt; wie die vernachlässigte, so fällt auch die überreizte Spannung schließlich in sich zusammen. Die Zweierbeziehung ist wesentlich eine Beziehung zwischen zweien; deren Zweiheit ist für ihre Beziehung konstitutiv. Das scheint selbstverständlich und eine tautologische Bestimmung zu sein. Es ist aber für das Verständnis, zumal das Selbstverständnis der Möglich­ keiten und Grenzen gerade einer nahen Beziehung unabdingbar, sich der Zweiheit, und d.h. eben auch des Andersseins gegeneinander, bewußt zu bleiben. Beck-Gernsheim und Beck haben in ihrem Buch wiederholt darauf hingewiesen, wie verbreitet heute die verhängnis­ volle, das Heil allein im Anderen suchende »Sucht nach Liebe« ist, die sie als den »Fundamentalismus der Moderne« beschreiben (21). Kennzeichnend für diese Sucht ist u.a., daß der Einzelne nicht bei sich selbst zu bleiben vermag, daß er sich ganz hingeben, mit dem Anderen völlig verschmelzen will. Wer aber nicht bei sich selbst, in seinem eigenen Selbst- und Anderssein ist und bleibt, vermag auch nicht bei und mit einem Anderen zu sein. Die Beziehung des Einen zum Anderen als Anderen ist somit in dem Sinne eine gegenseitige, als in der Begegnung des Einen mit dem Anderen der Eine und der Andere in eine merkwürdig zwiefältige Stellung gegenüber dem je Anderen gelangen. Jeweils ist der Andere sowohl so wie der Eine, wie er zugleich gerade nicht jener und nicht wie jener ist, – und darum bedeutet der Andere einerseits eine 96 Bernhard Waldenfels, Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, 148.

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Bestätigung, andererseits eine Negierung des Einen. Die Beziehung zum Anderen, wie immer sie im Einzelfall auch jeweils bestimmt und gefärbt sein mag, enthält immer diese beiden Momente, die Bestätigung und die Negation, das Ja und das Nein; auch in der Bestätigung selbst liegt noch eine Negation, und in der Negation selbst noch eine Bestätigung. Die Verneinung besteht darin, daß er ein Ich ist, das nicht ich bin. Diese Formulierung selbst, daß er ich ist, benennt den paradoxen Sachverhalt, der, wenn man ihn abstrakt für sich festhält, das eigene Ichsein des Selbst in Frage zu stellen vermag. Gerade die Spannung von Identität und Differenz oder auch von Nähe und Distanz zwischen dem Einen und dem Anderen macht die eigene Bewegtheit und Lebendigkeit der Beziehung aus. Indem zwischen dem Einen und dem Anderen ein Abstand besteht, ein sie voneinander trennender Zwischenraum, entsteht ihnen die Bewe­ gung, über die Distanz hinaus- bzw. durch sie hindurchzugreifen, sie von einer Leere zu einem durch Gemeinsamkeit erfüllten Raum werden zu lassen. Die Negation, die der Andere dem Einen ist, fordert diesen zugleich dazu auf, sich in jenem wiederzufinden und zu bestätigen. Auch noch in der vertrautesten Erfahrung der Nähe liegt das Bewußtsein eines Einander-Fernseins, d.h. das Wissen darum, daß der Andere eben der Andere und nicht ich ist und bleibt. Im Übrigen wird dem Ich in der Erfahrung des Anderen und dessen Eigen-Seins deutlich, daß seine eigene Welterfahrung nur eine Welterfahrung unter anderen und anders möglichen ist. Im vertrauten Gespräch kann dies schmerzlich erfahrbar werden; daß etwa der Andere etwas mir Selbstverständliches anders sieht als ich, kann, indem es eine Gemeinsamkeit in Frage zu stellen scheint, sowohl irgendwie mich selbst wie vor allem unsere Beziehung in Frage stellen. Das Ich des Anderen setzt dem eigenen Ich Grenzen; als solcher Grenzpfahl ist der Andere Hinweis auf die eigene Endlichkeit. Zusammengefaßt: Zur Beziehung gehören Nähe und Distanz, weil sie als solche ein Wechselspiel aus Selbst- und Anderersein, räumlich gesagt: aus Hier- und Dortsein ist. Beide Momente, Nähe und Distanz, stehen nicht lediglich nebeneinander, sondern sie spie­ len ineinander, sie fordern sich gegenseitig. Die Nähe kann nur Nähe sein, wenn sie in sich selbst einen Anteil an Distanz bewahrt, und die Distanz ist nur Distanz – und nicht einfach Getrenntheit oder Auseinanderfallen –, wenn sie die Distanz einer Nähe ist, wenn sie Nähe in sich enthält. Mit Hilfe der Begriffe Selbst- und Anderer-,

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II Philosophieren über den Menschen

Hier- und Dortsein ausgedrückt, heißt das, daß der Eine nur wahrhaft in die Beziehung gehören kann, wenn er als das Selbst, das er ist, sich zugleich als Anderer weiß, Anderer an ihm selbst und Anderer des Anderen, wenn er zugleich hier ist, an seinem ihm zukommenden Ort, wie er zugleich – mit Heidegger gesagt – »in sich die Ferne zu diesem Ort durchsteht«97, der das Dort des Anderen ist. Der Eine wie der Andere können nur der Andere, Partner, und d.h. auch Gegenspieler bleiben, wenn sie in ihrem Anderssein ihr eigenes Selbst entfalten, für sich hier sein und für den Anderen dort bleiben können.

97

Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, 157.

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III Die »Natur« als Thema des Philosophierens

Ich denke, daß es das Hauptinteresse der Philosophie unserer Zeit sein sollte,98 das menschliche Verhältnis zur Welt bzw. in der Welt neu zu bedenken. Dazu gehört auch, die Eigenart und Struktur des bisherigen, in über zweitausend Jahren gewachsenen, zunächst abendländischen, heute weitgehend globalen Weltverhältnisses und Weltverhaltens bewußt zu machen. Wir können es im allgemeinsten Sinne als Subjekt-Objekt-Verhalten kennzeichnen. Ihm zufolge sah sich der denkende Mensch als einer Realität gegenüberstehend, die er sich durch geistige und körperliche Inbesitznahme untertan zu machen hatte, um sein Bestehen zu sichern. Nicht zuletzt die sich weltweit immer mehr durchsetzende Erkenntnis, daß sich die Natur letztlich nicht beherrschen läßt, daß sie vielmehr in extremen Ereignissen und Entwicklungen wie Hitze­ perioden und Überschwemmungen zurückzuschlagen droht; auch die Erfahrung von weltumspannenden Kriegen und zunehmender Ausbeutung des Menschen durch den Menschen durch das kapitalisti­ sche Untertan-machen-Wollen jeglichen Gegenübers zugunsten von Profit- und Machterwerb kann zu der Einsicht führen, daß es nicht nur sinnvoll, sondern dringend geboten erscheint, unsere Beziehung zu dem uns gegenüber Anderen grundsätzlich zu überdenken und zu revolutionieren.99 Einer langen Tradition zufolge nennen wir dieses Andere, den dem Menschen gegenüberstehenden Gegenstand seines Denkens 98 »Sollte« ist eine gefährliche Vokabel. Sie legt einen moralischen Imperativ nahe, der von mir nicht intendiert ist. Vielmehr gehe ich davon aus, daß wir eine geschicht­ liche Situation erreicht haben, in der ein bestimmtes Interesse für das Philosophieren vordringlich wird, wenn ihm das menschliche In-der-Welt-Sein als solches am Herzen liegt. Insofern benennt das »sollte« hier mehr eine Tatsache als ein moralisches Sollen. Daß ich nicht einfach »ist« schreiben kann, ergibt sich daraus, daß es sich hier um eine keineswegs allgemein geteilte Einsicht handelt. 99 Ansätze und Versuche zu einer Neuorientierung finden sich allenthalben, auch in der Philosophie unserer Tage. Sie sind aber, soweit ich sehe, kaum grundsätzlich und im wörtlichen Sinne radikal genug.

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III Die »Natur« als Thema des Philosophierens

und Tuns, die Natur. Sie ist das Von-sich-her-Entstehende und Vonsich-her-Seiende. Ein Hauptthema der abendländischen Philosophie war die Frage nach der Möglichkeit der Wahrheit, des erkennenden Verhältnisses zwischen Mensch und natürlichem Seienden.100 Ursprünglich umfaßte das als Seiendes Thematisierte unbefragt sowohl das natürlich Entstandene wie das durch Menschenhand – handwerklich sowie künstlerisch – Gewordene. Bei Platon werden als Beispiele in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Dinge aus beiden Bereichen gewählt. Auch bei Aristoteles finden sich techne onta – das Haus, das Bett – neben physei onta – fast ausschließlich Menschen und Menschliches, z.B. blonde Haare – als Beispiele für die sinnlichen, aus Stoff und Form zusammengesetzten Dinge, die er im Hinblick auf ihr Seiendsein befragt.101 Die prinzipielle Trennung bei­ der Bereiche scheint einerseits eine nicht hinterfragte Voraussetzung zu sein, andererseits ist und wird vor allem in der Folge die Natur im engeren Sinne das entscheidende Gegenüber für den Menschen und sein denkendes und handelndes Verhalten zu ihm. Nachdem einmal das grundsätzliche Verständnis des Seienden als eines durch Gründe bzw. konstituierende Momente Hervorge­ brachten gesichert war, richtete sich das philosophische Interesse vor allem auf die endliche, sinnliche – später durch einen allmächtigen Kreator geschaffene – Natur, auch wenn als Beispiele, z.B. in Descar­ tes’ Meditationen oder in Kants Kritik der reinen Vernunft, häufig auch noch Menschengemachtes begegnet. * In den vergangenen Jahrzehnten hat das Bewußtsein der drohenden weltweiten Zerstörung unserer Umwelt zu einer neuen Besinnung auf die Natur und das Wissen von ihr geführt. Wurde sie seit der weitgehenden Technisierung und d.h. auch Humanisierung (oder: »Anthropofizierung«) der Welt vor allem am Modell menschlicher Mechanik und Technik begriffen, vornehmlich als Rohstofflieferant 100 Das unendliche, göttliche Seiende können wir hier beiseitelassen. Es wurde im Folgenden vornehmlich zum Gegenstand der Theologie. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie ist facettenreich und erscheint historisch in verschiedenen Problematisierungen. Für die im wesentlichen ontologische Philosophie unserer Tradition stellt das Göttliche de facto so etwas wie einen Grenzbereich dar. 101 Es bleibt offen, welchem der beiden Bereiche letztlich die Charakterisierung als Gegründetsein – das zugrundeliegende Modell des Seienden als solchen – entstammt.

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III Die »Natur« als Thema des Philosophierens

für vielfältige Produktionen ge- und vernutzt und war sie als »natür­ liche Natur« immer mehr in den Hintergrund getreten, so drängt sie sich nun als eigenständiger und gerade in seiner Unberechenbar­ keit oftmals gefährlicher Faktor in den Vordergrund, – wobei das »gefährlich« heute zugleich und vielleicht vor allem zu einem »gefähr­ det« geworden ist. Und so, wie das Unübersichtlichwerden und die Verselbständigung der menschlichen Verhältnisse das Bedürfnis nach einer neuen praktischen Philosophie und Ethik geweckt haben, so treffen wir jetzt auch auf Bemühungen um eine neue Naturphiloso­ phie, die sich häufig als Umweltethik und Naturethik versteht. Die menschlich gemachten Dinge spielen für diese Problematik keine Rolle, während Heidegger schon in Sein und Zeit sein Augenmerk auf das Zuhandene der alltäglichen Umwelt gerichtet, – dabei allerdings merkwürdigerweise umgekehrt das Naturhafte in seinen Analysen unbeachtet gelassen hat. Sehen wir zunächst noch von jenem neuen, vor allem durch Wetter- und Umweltkatastrophen induzierten Bewußtwerden der Bedrohlichkeit der Natur ab und fragen zunächst ganz allgemein, in welchem Sinne die Natur heute ein Thema des Philosophierens sein kann. Wenn wir das Philosophieren als ein erstaunendes, endliches begreifen, könnte und müßte es nicht so sehr um einen abstrakten, bleibenden Begriff von Natur zu tun sein, sondern um die konkreten Naturdinge und das natürliche Geschehen, um eine Natur, von der wir immer schon wissen, daß sie da ist, die wir als endlich-sinnliche Wesen in uns und um uns erfahren und die uns alltäglich begegnet. Es kann also nicht mehr darum gehen, in irgendeiner Weise sagen zu wollen, was die Natur im Wesentlichen ist. Doch andererseits wird die konkrete, besondere Natur im Sinne von Bergen und Vögeln kaum zum Thema des Philosophierens gemacht werden können. Wenn schon Berge, dann jedenfalls nicht im Sinne einzelner Berg­ züge, die wir in der Ferne sich im blauen Dunst abzeichnen sehen, wenn schon Tiere, dann jedenfalls nicht im Sinne der Amsel, die gegen Abend auf dem Dachfirst des Nachbarhauses singt. Ist das Natürliche nicht höchstens für bestimmte Naturwissenschaften – sowie für die Dichtung –, nicht aber für die Philosophie denk- und frag-würdig? Das Philosophieren, auch wenn es auf die großen Meta-Erzählungen und auf die Frage nach dem Seienden im Ganzen und als solchem Verzicht getan hat, richtet sich gleichwohl immer noch auf Allgemeines, und kann sich auch nur auf Allgemeines richten, wenn es nicht beliebig

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III Die »Natur« als Thema des Philosophierens

und subjektivistisch werden will, – auch wenn diese Allgemeinheit neu zu verstehen sein wird. Doch nicht nur aus solchen die Möglichkeiten eines endlichen, sinnlichen Blicks auf die Natur betreffenden Erwägungen, sondern auch rein faktisch scheinen sich Schwierigkeiten hinsichtlich einer sinnvollen philosophischen Beschäftigung mit ihr zu ergeben: Es scheint so, als sei in unserem von Wissenschaft und Technik bestimm­ ten Weltbild trotz aller Bekümmerung um ökologische Probleme nur wenig Platz für so etwas wie ein »natürliches« Verständnis von Natur. Wer philosophisch nach der Natur als solcher fragt, der gerät schnell in den Verdacht, ein romantisierender und idealisierender Träumer zu sein.102 Dies vor allem darum, weil es die ursprüngliche, nicht durch den Menschen veränderte und somit anthropofizierte Natur inzwischen kaum noch gibt; selbst wo sie scheinbar unberührt ist, begegnet sie als eingefügt in menschliche Konzepte, Träume und Sehnsüchte, in Freizeit- und Tourismuskataloge. Vor einigen Jahrzehnten wurde die Natur in der Tat in dem Sinne zum Problem, daß gewissermaßen die Gegenfrage gestellt wurde, ob und wo sie denn überhaupt noch vorhanden sei.103 Der Soziologe Ulrich Beck etwa hat diese Frage in seinem Buch Gegengifte verneint. Er sprach von der »falsch gewordenen Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft« (16) und warf der Ökologiebewegung geradezu vor, sie reagiere und agiere »im Namen einer Natur, die es nicht mehr gibt« (18). Oder denken wir an Hans Blumenberg, der aufgezeigt hat, daß zwar ursprünglich das metaphysische Verständnis der Natur das menschliche Werk unterbestimmt gelassen hat, daß aber dann später der absolute Anspruch der Hervorbringungen von Technik und Kunst die Geltung der Natur in den Hintergrund gedrängt hat.104 Auch die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno ist skeptisch geworden gegenüber dem Begriff einer für sich genomme­ nen, der Gesellschaft gegenübergestellten Natur. Dessen Infragestel­ lung gehört zum Grundthema der Dialektik der Aufklärung. Durch die dem menschlichen Geist unabdingbare Naturbeherrschung gehe »die Natur in bloße Objektivität« über und darum als sie selbst verloren. 102 So wird etwa auch das Auftauchen von Erde und Himmel im Spätwerk von Heidegger zumeist als ein Abgleiten in ein mythologisierendes und pseudopoetisches Sprechen mißverstanden. 103 Vgl. zu dieser Problematik ausführlich Verfasserin, Über Natur, 9f. 104 Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen.

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III Die »Natur« als Thema des Philosophierens

Nur wenn die »von der herrschaftlichen Wissenschaft verkannte Natur« als Land »des Ursprungs erinnert werden« könne, könne sie selbst wieder – oder erstmals? – wahrhaft zum Thema werden (49). Die Natur selbst scheint es also heute kaum mehr zu geben;105 alles, was überhaupt vorfindlich ist oder sein kann, wird von vorne­ herein schon in die Planungen und Zugriffe des Menschen einbezo­ gen, ist zum Bestand geworden, mit dem gerechnet und gearbeitet wird. Obgleich sie seit den Anfängen des abendländischen Philoso­ phierens, vermutlich seit überhaupt Menschen sich auf sich besinnen, ein bedeutender Gegenstand des Nachdenkens gewesen ist, scheinen wir uns jetzt fragen zu müssen: Ist die Natur heute noch etwas Fragwürdiges?106 Wo wir ihr noch begegnen, da ist die Natur fast durchweg in einem kaum zu überschätzenden Ausmaß »unnatürlich«, nämlich in irgendeiner Weise gesellschaftlich zugerichtet. »Mit einem Kastani­ enast auf dem Klavier tritt die Natur hinzu –« lautet eine ironische Zeile bei Gottfried Benn (Notturno). Das hier evozierte Bild besticht durch die Künstlichkeit, mit der die Natur ins Spiel gebracht wird. Wo sie zum Gegenstand ästhetischen Genusses oder zu einem bloßen Mittel der Erbauung oder Erholung geworden ist, scheint sie selbst sich zurückzuziehen und zu einem Randphänomen der gesellschaftli­ chen Wirklichkeit zu verkommen. Diese Entwicklung hängt eng damit zusammen, daß sich die Relevanz der Entgegensetzung von Geist und Materie – bzw. Sinn­ Diesen Tatbestand radikalisierend könnte man sogar behaupten, daß die Natur in dem Augenblick aufgehört hat, reine Natur zu sein, da die Menschen angefangen haben, die Welt menschlich zu sehen und sich anzueignen, – d.h. also wohl, seit es überhaupt Menschen gibt. 106 Wenn auch die Bedeutung der Natur für die Landwirtschaft trotz aller Mechani­ sierung und Industrialisierung nie ganz verschwinden wird, so kann man daraus allein noch keine allgemeine gesellschaftliche Relevanz und keine philosophische Fragwürdigkeit ableiten. Heidegger hat in seinem Vortrag Die Frage nach der Technik gezeigt, daß und wie die Natur durch die moderne Technik gestellt und herausgefordert und so zum bloßen Bestand der technisierten Welt wird. (Zum »Bestand« vgl. Heidegger, u.a. Wissenschaft und Besinnung, 61) Dadurch, daß sie sich »in irgendeiner rechnerisch feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar bleibt« (30), verliert die Natur ihr ursprüngliches Von-sich-aus-Sein und damit ihren Natur-Charakter. Heidegger geht allerdings davon aus, daß es einer gewissen seinsgeschichtlichen »Kehre« bedürfte, um diesen Verlust zu überwinden, während ich davon überzeugt bin, daß ein anderer, ursprünglicherer Umgang mit der Natur »selbst« immer auch möglich und wirklich ist und bleibt, daß der Verlust also kein umfassender ist. 105

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III Die »Natur« als Thema des Philosophierens

lichkeit, Natur – verändert, nämlich verflacht, nivelliert hat. Wir sind in der paradoxen Situation, daß wir einerseits die metaphysische Trennung von Geist und Materie, Verstand und Sinnlichkeit radikal in Frage stellen wollen, daß aber andererseits die bloße Eindimensiona­ lität, die Zuschüttung der Differenz zwischen beiden keine Alternative sein kann. In unserer durchzivilisierten Zeit begegnet die Natur oftmals nicht mehr als feindlich, nicht mehr als der bedrohliche Gegenspieler des vernunftbegabten Menschen, als der sie zum einen, zumindest in der Sicht der Späteren, in der Frühzeit der Menschheit und ande­ rerseits dann gemäß einem vorwiegend metaphysischen Menschenund Weltbild in der westlichen Tradition erschien. Sie ist für das Gegenwartsbewußtsein nicht mehr primär etwas, gegen das es sich einerseits zu erhalten und zu bewahren bzw. das es andererseits zu unterdrücken gilt. Vielmehr erscheint sie selbst häufig als etwas zu Behütendes. Indem sie einerseits fast aus dem Blickfeld geraten ist, ist sie zum anderen zu einem empfindsamen Pflegling geworden, den wir beschützen müssen, und zwar insbesondere vor uns selbst. Wo uns dann aber doch die gefährliche, die schreckliche Natur begegnet, in den die Existenz des Menschen und seine Selbsterhaltung bedrohenden »Naturgewalten« – in Überschwemmungen, Hitzeund Dürreperioden, Stürmen, Frosteinbrüchen, in Pandemien –, da können wir teilweise kaum noch sagen, wie weit diese Bedrohungen tatsächlich »natürliche« und d.h. nicht menschengemachte sind. In der Beziehung auf die Folgen der Klimaveränderung etwa hat die Natur eine ganz neue Bedrohlichkeit bekommen, weil sie selbst einer tödli­ chen Bedrohung ausgesetzt ist, nämlich einer Bedrohung durch den Menschen selbst, durch seinen Geist und seinen Herrschaftswillen.107 Und dennoch bleibt die Natur für das alltägliche Bewußtsein eine Art Urgegebenheit, sowohl als das der Auseinandersetzung mit ihr Vorgegebene wie auch als ein fremder und an ihm selbst letztlich unbekannt bleibender Gegenspieler.108 Die vorgegebene

107 Schon darum kann es heute keine Besinnung auf die Natur geben, die nicht zugleich ihr Verhältnis zur Technik mit thematisiert. 108 Die auf einer frisch aufgeworfenen Hügellandschaft angelegten Weinberge im Kaiserstuhl im Breisgau erschienen zunächst als durchaus künstlich und unnatürlich. Doch nach einigen Jahren gewannen sie eine neue Ursprünglichkeit, zumal wenn sie voller Trauben hängen und wenn sich ihr Laub bunt färbt. Die Linien der Berge erscheinen heute nicht mehr wie mit dem Zirkel gezogen, sondern

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III Die »Natur« als Thema des Philosophierens

Natur109 erscheint uns immer noch als ein in gewisser Weise »Unberührtes«, als das »Naturwüchsige« und »Ursprüngliche«, das dem Menschen gegenüber Andere. Im alltäglichen Bewußtsein ist so etwas wie »Natur« weiterhin ein fester Bestandteil dessen, was ist. Wir wandern »in der Natur«, wir bemühen uns um eine »natürliche« Ernährung, sprechen von der »Stimme der Natur« oder einer »Laune der Natur«. Wir unterscheiden mit Selbstverständlichkeit »Mensch und Natur«, »Natur und Technik«, »Kunst und Natur«, »Geist und Natur«.110 Jedesmal scheinen wir irgendwie zu wissen, wovon wir reden. Jeweils bestimmt sich »Natur« aus der Entgegensetzung zu ihrem Anderen, dem Menschlichen – oder auch Kulturellen –, das seinerseits jenes Gegensatzes zu seiner Bestimmung bedarf. Im Alltagsgebrauch bezeichnen wir mit diesem Begriff »Natur« ein ziemlich breites Spektrum von Bedeutungen. Auch wenn ich hier die Natur im Sinne von Wesen, von »Natur der Sache«111 beiseite lasse, bilden diese Bedeutungen ein breites Feld, dessen unterschiedliche Nuancen in der Bestimmung des von sich her gegebenen Anders- und Von-sich-aus-Seins dem Menschen gegenüber übereinkommen. Als natürlich bezeichnen wir gewöhnlich die Gesamtheit dessen, was als sinnfällig Seiendes und Geschehendes von sich aus – d.h. ohne direkte Verursachung durch den Menschen – auf der Erde und am Himmel vorkommt, eben schlechthin gegeben ist. Die Natur ist der Inbegriff des von sich her Begegnenden. So ist sie der Bereich des dem Men­ schen, seinen Sinnen, seinem Geist und seinem Tun als »natürliches« natürlich. Ein anderes Beispiel sind die holsteinischen und niederländischen Kooge, künstliches Land, das durchaus zu Naturlandschaft geworden ist. 109 Die Sonnenstrahlen auf einer Pfütze, der Wind, gegen den wir im Laufen ankämpfen, selbst die Müdigkeit, die uns überkommt – ganz abgesehen von dem Virus, das als Seuche die ganze Weltbevölkerung befällt –, das alles bezeugt, daß es Natur gibt. 110 Z.B. ist die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften trotz aller diesbezüglichen Diskussionen seit über hundert Jahren bis heute weitgehend üblich geblieben. 111 Umgangssprachlich kann es auf dasselbe hinauslaufen, ob wir von der Natur von etwas, von seinem Wesen oder seiner Idee, oder sogar von dem Geist dieser Sache sprechen. Im Gegensatz zu den verschiedenen Facetten der von mir vornehmlich thematisierten Bedeutung von Natur, die u.a. darin übereinkommen, daß sie die Natur in der einen oder anderen Weise in einem Gegensatz zum Geist sehen, spielt dieser Gegensatz bei der Natur als Wesen keine Rolle; ein Gegenpart kommt hier dem bloß so Erscheinenden, der Sache Äußerlichen zu. Was in der »Natur der Sache« liegt, kommt ihr an ihr selbst zu, ist nicht durch anderes begründet.

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Material Vorgegebenen, die weithin unaufdringliche Bedingung und Voraussetzung seines Tuns, der Stoff für das menschliche Sein und Handeln in der Welt. Wird die Natur so als das Vorliegende unserer alltäglichen Umgebung verstanden, dann wird die Unterscheidung von Naturhaftem und Hergestelltem im Grunde weitgehend uninter­ essant. Computer und Autos machen unsere Umwelt ebenso mit aus, sind uns ebenso von sich aus gegeben wie Bäume und Vögel. Zur Natur im Sinne des ursprünglich Gegebenen gehört, schein­ bar paradox, auch die »Natur in uns«, unser eigenes Natursein. Daß wir geboren werden, aufwachsen, altern und sterben, daß wir atmen, essen und schlafen, daß wir mit unseren Augen sehen und mit unseren Ohren hören, daß wir fühlen und lieben, daß wir gesund sind oder krank werden – das und anderes mehr macht unsere Naturhaftigkeit oder Natürlichkeit aus. Zwar ist diese Natur wesentlich in dem Sinne menschliche Natur, daß etwa unser Auge in dem, was und wie es jeweils sieht, oder das Empfinden unseres Krankseins oder unseres Liebens durch unsere je eigene Geschichte sowie durch die gesell­ schaftlich-geschichtliche Arbeit der zurückliegenden Generationen geprägt und verändert worden ist, aber sie ist darum nicht weniger auch gegebene Natur. Als zu einer solchen können wir uns zu ihr auf ungute Weise rationalisierend und disziplinierend oder auch scho­ nend, aufmerksam, liebevoll verhalten. Ein dem menschlichen In-derWelt-Sein gemäßes Selbstverständnis und Selbstgefühl bedeutet, daß wir nicht nur Nähe, sondern auch Distanz und sogar Ferne zu uns selbst zulassen, daß wir unser In-der-Welt-Sein als ein uns zugleich gegenüber Anderes erfahren.

Anderssein der Natur Die beiden Momente, die die Natur als solche vornehmlich kennzeich­ nen, sind ihr Anderssein uns gegenüber und ihr Von-sich-aus-Sein. Im »von sich aus« liegt zunächst, daß das, was wird und ist, in irgendeiner Weise einen eigenen Impuls seines Seins und seiner Bewegung in sich trägt. Seit Aristoteles war das Von-sich-aus die entscheidende Bestimmung der Natur, weil und insofern das Seiende unter dem Gesichtspunkt seines Gegründetseins betrachtet wurde. Solange das natürliche Seiende prinzipiell als ein durch Gründe – durch etwas, aus etwas, als etwas und zu einem Zweck – Hervorgebrachtes begriffen wird, besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem, was von einem ihm gegenüber Anderen ins Sein gebracht wurde und insofern

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dessen Wollen und Handeln unterworfen ist, und dem, was von sich aus, aus sich heraus ist.112 Im Gegensatz zum durch Menschenhand Gefertigten, dem techne on, ist das Natürliche, das physei on, etwas, das den Impuls zu seinem Sein in sich selbst trägt. Dieser innere Antrieb ist eine Art Geschehen-Lassen, ein Sich-gehen-Lassen der Natur und dessen, was ihr zugehört, des Natürlichen. Dadurch unterscheidet sich dieses in der Tat von all dem, womit wir es gewöhnlich und alltäglich zu tun haben, von Wohnhäusern und Fabrikhallen, Autos und Computern, Kleidung und – meistenteils nicht naturgegebener – Nahrung, aber auch von unseren Gedanken und Argumenten, von Gedichten und Musik, – von all dem, was wir selbst hervorbringen und was wir eben darum der Natur im weitesten Sinne als Technik und als Kultur entgegenstellen. Dieses techne on im weitesten Sinne erscheint heute als das allein gesellschaftlich Relevante, weil es das ist, was uns alltäglich angeht und uns in seiner Herkunft und Bedeutsamkeit, in seinem Wie-Sein zur philosophierenden Auseinandersetzung drängt. Wo es nicht in erster Linie um die philosophische Tradition und Überlieferung zu tun ist, da betreffen etwa Äußerungen in Talkshows, Twitter etc. ausschließlich menschengemachte Fakten und Probleme113 und nicht die an-sich-seiende Natur als solche, – obgleich eine solche Differen­ zierung keineswegs ausdrücklich vollzogen wird. Es sind gesellschaft­ liche Tatsachen, die unsere Situation auf der Erde weitestgehend ausmachen, die uns zumindest ebenso entschieden und durchgängig bestimmen wie die Tages- und Jahreszeiten. Dem Denken scheint es dementsprechend in erster Linie um die menschengemachten Dinge und gesellschaftlichen Verhältnisse zu gehen, wenn es sich darauf richten will, daß und wie wir als endliche Wesen auf der Erde sind. Ich hebe hier gleichwohl die traditionelle Unterscheidung zwi­ schen dem Natürlichen und dem Menschengemachten hervor, weil sich jetzt – da einerseits das abendländische Denken seit Platon und Aristoteles von dem prinzipiellen Gegründet-Sein des Seienden ausging, des natürlichen wie des hergestellten, dann andererseits mit dem gesamten metaphysischen Gedankengebäude auch diese Grund-Überzeugung ins Wanken geraten ist – die entscheidende Frage stellt, wie es dann mit der Unterscheidung zwischen dem 112 Daß damit das naturhaft Seiende von Anfang an gewissermaßen am Leitfaden des technisch Seienden begriffen wurde, braucht hier nicht näher betrachtet zu werden. 113 Die dann durchaus auch den Umgang mit der Natur als einer bedrohten beinhal­ ten können.

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natürlichen und dem hergestellten Seienden steht. Wenn das nihil est sine ratione durch einen erfahrenden Blick auf die uns umgebende Wirklichkeit seine Geltung eingebüßt hat, ist die – zweifellos wie auch immer vorhandene – Differenz zwischen Natur und Menschen­ gemachtem dann noch eine grundsätzliche und d.h. für unser Sein in der Welt bedeutsame? Worauf stützt sie sich noch, wenn die ontologische Bestimmung des Grundes und des Gegründetseins ihre Aussagekraft verloren hat? Hat sie noch eine maßgebliche Bedeutung und Relevanz? Es könnte sich zeigen, daß die Differenz zwischen dem, was uns anscheinend unabhängig entgegentritt, und dem, was wir selbst in die Welt setzen und womit wir sie verändern, gar nicht so absolut, jeden­ falls nicht so entscheidend ist, wie wir geglaubt haben. Vermutlich hat sie inzwischen – d.h. im Laufe der technischen und technologischen Entwicklung selbst – einen anderen Charakter angenommen, der uns dazu anregen könnte, das Verhältnis beider »Seiten« zueinander und zu uns neu zu bedenken. Ebenso könnte auf der anderen Seite durch eine gewandelte Sicht auf das Verhältnis von Natur und Technik im weiteren Sinne auch ein neues Verständnis beider und ein neuer Umgang sowohl mit der technischen Welt wie andererseits auch mit der Natur möglich wer­ den. Nach Möglichkeiten, Wegen, im Grunde Auswegen hinsichtlich unseres Umgangs mit der »Technik« zu fragen, wird darum dringlich, weil für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse gilt, daß es – um das Hegelsche Diktum zu verkehren – »Unwahrheit gibt« und wir in einer Situation leben, in der Zwang und Fremdbestimmung herrschend geworden sind; und weil dies, als eine von Menschen produzierte Lage, keine alternativlose Situation sein muß und darf. U.a. drängen die Veränderung der Arbeitswelt durch die Informati­ onstechnologie und damit die veränderte Relation zwischen Arbeit und Lebenswelt dazu, die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines gewandelten Verständnisses unserer technischen Umwelt zu suchen. Entweder jene Veränderung führt zu absoluter Außensteuerung, dem Verlust der Individualität, radikaler Vereinsamung, hemmungs­ losem Konsumismus, immer größer werdender Differenz zwischen Reichen und Bedürftigen. Oder es gelingt, die zugleich in diesem Wandel enthaltenen Chancen zu einer Steigerung der Möglichkeiten und Fähigkeiten zu Partizipation und Kommunikation wahrzuneh­ men. Entweder das, was Adorno den Identitätsbann nennt, verhext uns weiterhin und in immer zunehmendem Maße. Oder es gelingt,

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das Gewebe der Einförmigkeit und Eindimensionalität zu zerreißen, der bloß funktionierenden Passivität mit einer eigenen Aktivität zu begegnen, die Aktivität und Passivität ineins ist. Mit der Einübung in eine gelassene Rezeptivität werden die natürlich-sinnlichen Vermögen und Möglichkeiten des Menschen in einer neuen Weise ernst genommen. Das erfordert solche sinnlichen Qualitäten wie Sich-Einlassen, Sich-Anschmiegen und Mitgehen, wie Spüren und Erspüren, Hinsehen und Hinhören. Der neuzeitlichen Aktivitätsideologie stellt sich eine neue Einschätzung der Passivität im Sinne eines aufmerkenden Sich-Einlassens auf das je Andere entgegen. »Passivität steckt im Kern des Aktiven, ein sich Anbilden des Ichs ans Nicht-Ich«, heißt es bei Adorno; er spricht auch von einem »Sich-anschmiegen des Denkens« an seine Sache und von dem »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand«114. Darin liegt als nicht mehr entgegengesetztes, sondern komple­ mentäres Moment eine sich wandelnde Aktivität, Eigenständigkeit und Verantwortung. Die Betonung einer positiv zu erweckenden und zu entfaltenden Aktivität geht von der Einsicht aus, daß die heutige, weitgehend technisch bestimmte Welt uns mit ihren gesellschaftli­ chen Zwangsmechanismen in eine Haltung des bloßen Hinnehmens und ohnmächtigen Geschehenlassens, einer unproduktiven Passivität geführt hat. So wie diese bloße Passivität nicht dasselbe ist wie das vorher genannte Sich-Einlassen, so unterscheidet sich auch die jetzt kritisch konzipierte Aktivität grundsätzlich vom bewältigenden Ausgriff des neuzeitlichen Subjekts über seine Objekte. Sie zwingt nicht dem, womit sie es jeweils zu tun hat, ihren eigenen, der Sache fremden Willen auf; vielmehr handelt sie aus einem Hören auf die Sache und die Situation. »Das aktive Moment des denkenden Verhaltens ist Konzentra­ tion«, heißt es in dem zuletzt zitierten Text von Adorno, – und Kon­ zentration ist gerade das Gegenteil von hektischem Beschäftigtsein und stets fortschreitender Bemächtigung. Die aktive Konzentration oder konzentrierte Aktivität übernimmt in gelassener Rezeptivität ihren eigenen Part in der Kommunikation mit der Sache. Dabei läßt sie sich von dem, was sie erfährt, auch zu Kritik und Widerstand ermuti­ gen. Die Haltung, die einer freien Anerkennung des Andersseins und Von-sich-aus-Seins von natürlichem und gemachtem Seienden ent­ 114

Anmerkungen zum philosophischen Denken, 14.

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spricht, ist also aktiv und passiv, handelnd und aufnehmend zugleich. Weder läßt sie sich von dem ihr Gegenüberstehenden einschüchtern und zu einem bloßen Objekt machen, noch glaubt sie umgekehrt, die Welt nach ihrem eigenen Interesse und Profit, nach ihrem eigenen Willen zur Macht einrichten und bestimmen zu können, eben weil es wesentlich zu dem ihr gemäßen Verhalten gehört, daß es sein Gegenüber als ein ihm gegenüber genuin Fremdes, als ein ihm von ihm selbst her Begegnendes versteht und annimmt. Nur, wo der oder das Andere als ein Eigenes und Selbständiges anerkannt wird, ist ein Verhältnis der achtsamen und freien Wechselwirkung zwi­ schen beiden möglich, vermag der Einzelne mit anderem Einzelnen in der Weise zu kommunizieren, daß sie aus ihrem Miteinander heraus gemeinsam gangbare Wege finden oder bahnen. Wo das Von-sich-aus-Sein und die Andersheit des Anderen ernstgenommen und gewahrt werden, da verlieren die vorgeordneten Identitäten und Sachzwänge ihre Allmacht. Das Zusammenspiel von Passivität und Aktivität, von Sich-Einlassen auf das Fremde und Zur-Geltung-Brin­ gen des Eigenen ist ein Weg, wie wir sowohl zur Natur wie zu Technik und Technischem – wie auch zu den anderen Menschen und zu uns selbst – ein verändertes Verhältnis gewinnen. In einem veränderten, endlichen Denken wird die gewohnte Entgegensetzung von Mensch und Natur – und zwischen Natur und Kultur – durch eine grundsätzliche Änderung der Einstellung des Menschen zur (äußeren und inneren) Natur überholt. An die Stelle der grundsätzlichen Konfrontation tritt so etwas wie ein Mitvollzug mit der Natur. Der »Mitvollzug« impliziert ein Verstehen, bei dem es nicht mehr um eine bloße Subsumtion unter die Begriffe des wissenschaftlichen oder des metaphysischen Denkens gehen kann. Die abstrahierende, verallgemeinernde Begrifflichkeit hat eine Natur immer schon verlassen, die sich grundsätzlich von dem ordnenden und gliedernden Begriff unterscheidet, die also in sich mannigfaltig, vieldeutig, sinnfällig ist. Erde und Himmel, Nähe und Ferne, Weg und Landschaft, Licht und Dunkel, Wolken und Meer gewinnen eine andere als bloß metaphorische Bedeutung, wenn ein »Wissen von der Natur« nicht mehr an der »Herrschaft über die Natur« orientiert ist. * Hingen die Bestimmungen des Andersseins und des Von-sich-ausSeins in ihrem bisherigen Verständnis eng mit dem Anspruch des

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Gegründetseins des Seienden zusammen und erschienen sie als posi­ tive bzw. negative Kennzeichen des Naturhaften bzw. des Menschen­ gemachten, so sind, wenn jener Anspruch wegfällt, Anderssein und Von-sich-aus-Sein auf eine neue Weise zu denken. Anderssein115 heißt ganz allgemein, daß Eines ein gegenüber einem Zweiten grundsätz­ lich eigenes, unabhängiges Sein hat, wobei zwischen dem Einen und dem Anderen nicht nur unwesentliche, sie nicht in ihrem Selbstsein betreffende Unterschiede bestehen, z.B. nicht nur eine numerische Differenz; vielmehr gehört der Unterschied zwischen den gegenei­ nander Anderen zu dem, was diese als sie selbst ausmacht. Natur und Mensch sind und bleiben in diesem betonten Sinne Andere gegen­ einander. Die Differenz, die in diesem Anderssein impliziert ist, bedeutet also zum einen ein grundsätzliches Getrenntsein der gegeneinander Anderen. Doch liegt in ihr auch umgekehrt ein wesentlicher Bezug, beide Differenten sind einander nicht gleichgültig, beziehen sich vielmehr gerade durch ihr Anderssein aufeinander. Die Achtung und das Erstaunen, das Entzücken, die Bestürzung oder etwa auch das Verstehen und das Lernen sind Weisen, wie wir auf das uns Andere reagieren; es begegnet und spricht uns an in Schrecken, Zumutung, Inspiration, Beistand, Erkenntnis.116 Zum spezifischen Anderssein der Natur gehört, daß sie den Anfang ihrer Bewegung in sich selbst hat, daß sie mit sich selbst anfängt, ein Zu-sich-selbst-Aufgehen ist. Im Von-sich-aus der Natur liegt, daß sie das Natürliche – und in ihm sich selbst – als ein Eigenes und damit Anderes aus sich entläßt, es freigibt, indem sie es dabei auf einen bestimmten Weg bringt. Der Anfang ist jetzt allerdings, wenn wir ihr Anderssein uns gegenüber beachten, nicht mehr als ein verursachendes In-Bewegung-Bringen zu begreifen und nicht mehr als eine bestimmende Vorwegnahme des Endes, er ist nicht mehr arche tes kineseos (verursachender Grund) und telos (Zweckursache), Zum Anderssein vgl. Verfasserin, u.a. Wollen wir noch Subjekte sein?, 113. Ein Anderssein spricht etwa aus Rilkes Erster Elegie: Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.

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– oder doch nur noch in dem Sinne, daß er ein sich in sich erfüllender Anfang und eine sich in sich erfüllende Bewegung sein kann, – von sich aus zu sich selbst. Entscheidend für das Verständnis der Natur ist jetzt nicht mehr ihr Gegründetsein in sich selbst im Sinne einer Selbstverursachung, sondern ihr Eigenstand als für sich selbst Eigenes und Erstaunliches, in diesem Sinne Fremdes. Die konkrete, eigenständige Natur können wir auch als »die Erde« fassen.117 Hören wir auf ein Gedicht, einen Entwurf von Rilke aus den Entstehungstagen des zweiten Teils der Sonette an Orpheus: Von meiner Antwort weiß ich noch nicht wann ich sie sagen werde. Aber, horch eine Harke, die schon schafft. Oben allein im Weinberg spricht schon ein Mann mit der Erde. Von meiner Antwort weiß ich noch nicht, wann ich sie sagen werde, vielleicht auch: wann ich sie zu sagen vermag. Vielleicht sogar: ob ich sie überhaupt zu sagen vermag. »Aber, horch«. Durch das Offenlassen, in der gelassenen Offenheit wird etwas hörbar. Die gespannte sinnliche Aufmerksamkeit trifft auf das Geräusch der »Harke, die schon schafft«. Sie hört – wie es in dem diesem Entwurf entsprechenden XXV. Sonett von Rilke heißt – auf »den menschlichen Takt in der verhaltenen Stille der starken Vorfrühlingserde«. Was sich hören läßt, ist die schaffende Harke, im Sonett: »der ersten Harken Arbeit«. Ihr Ton ist menschlicher Takt, ein Mann spricht mit der Erde. Er ist allein oben im Weinberg, aber er spricht, – weder nur so vor sich hin, noch mit sich, noch mit anderen Menschen: er spricht mit der Erde. Er spricht nicht über die Erde und damit über die Natur, vielmehr mit ihr. Und er tut das durch das Schaffen der Harke. Er überläßt sich »der Harken Arbeit« und hat es dabei mit einer Realität zu tun, die ihm vorgegeben ist und die er mit seinem Tun verändert. Gerade indem die Harke an der Erde schafft, in der Auseinandersetzung mit ihr, ist die Erde, ist die Natur wirklich und evident.118 Auch wir, die Menschen sind ja Irdische, der Erde zugehörig. Vgl. oben 71. Man könnte einwenden, daß einerseits das Entstehungsdatum dieser Verse knapp hundert Jahre zurückliegt. In dieser Zeit ist zu viel geschehen, als daß wir uns heute noch auf seine damalige Erfahrung verlassen sollten. Und andererseits könnten dichterische Evidenzen ohnehin kaum als schlüssiger Ausweis weder für die Realität 117

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Der Mann spricht mit der Erde. Da ist nicht nur der steinige Boden gemeint, in dem die Weinstöcke wurzeln, sondern ebenso sehr die Kühle des Frühlingsmorgens und der Gesang der auffliegenden Vögel; es sind die ersten blassen Strahlen, die über die gegenüber­ liegende Bergwand steigen, und das Versprechen von Reife und Ernte, das in der Erde wartet, – all das, was wir die Welt der Natur­ dinge nennen und was wir als ein uns gegenüber Anderes, als ein Von-sich-aus-Seiendes erfahren können. Und es ist zugleich etwas, in das wir selbst mit hineingehören, an dem wir zum einen durch unsere eigene Natürlichkeit und zum anderen als die natürlicherweise Sprechenden teilhaben. * Allerdings unterhalten sich der Mensch und die Erde nicht allein über den Abend und den Morgen, das Land und das Meer, die Berge und die Vögel; wie sie über Weinberge und Obstwiesen reden, so können sie auch über Fahrzeuge und Fabriken und Städte sprechen. Darüber, was es besagt, daß das Arbeiten und die dafür aufzuwendende Zeit sich verändern. Darüber, wie dem zu begegnen sei, daß im Miteinander­ sein der Menschen die Meinungen sich vervielfältigen und zugleich bedenklich einförmig werden. Über ein Sich-Verändern ihrer eigenen Leiblichkeit und der der Anderen, ihres jeweiligen Sehens und Hörens und Fühlens. Über die zunehmende Bedeutung einer künstlichen, menschengemachten Intelligenz im Umgang mit dem je Anderen. Zweifellos handelt es sich bei einem solchen Verständnis um eine Erweiterung des von Rilke Intendierten, eine Erweiterung, die ihm zu Teilen sogar widersprechen würde. Eine gewisse Bestätigung entnehme ich – soweit es denn einer solchen bedarf – dem, was in dem kleinen Gedicht selbst gesagt ist: Der Mann spricht mit der Erde, indem eine Harke schafft. Mann, Erde, Harke, – ein Mensch, die Natur, ein Ding. Ein Mensch spricht mit der Natur. Daß ein solches Miteinandersprechen möglich ist, besagt und setzt voraus, daß beide einander als Gesprächspartner annehmen, daß sie einander je von sich aus etwas zu sagen haben. Wenn ein solches Gespräch möglich ist, weil Mensch und Natur Andere gegeneinander sind und sich noch für die aktuelle Bedeutung von etwas dienen, weil es eben ein Privileg der Dichter sei, daß sie auch Fiktionen wie Realitäten behandeln und emphatisieren dürfen. Ich bin jedoch überzeugt davon, daß die überkommene Entgegensetzung von Philosophie und Dichtung durchaus fragwürdig ist.

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als solche, als Andere, sehen und anerkennen, müßte ein analoges Gespräch auch mit dem Menschengemachten möglich sein. Das erstaunliche Anderssein der Natur muß keine Gegensätz­ lichkeit gegenüber den menschengemachten Dingen bedeuten. Auch in diesen können wir ein gewisses Anderssein und sogar auch Vonsich-aus-Sein sehen. Daß wir sie – im Gegensatz zu den Naturdingen – selbst gemacht haben, spricht nicht gegen ihr Anderssein, nicht dagegen, daß sie je für sich und von sich aus seiende Eigen-artige sind. Daß etwas von sich aus ist, was und wie es ist, gilt, wenn wir es genauer in den Blick nehmen, nicht nur für Natürliches. Es kann auch für solches zutreffen, das von Menschenhand und durch Menschen­ geist in die Welt gebracht wurde, dann nämlich, wenn wir beachten, daß es sich nicht in seinem Hervorgebrachtsein erschöpft. Denken wir an Kunstwerke, so stimmen wir dieser Behauptung leicht zu. Wie steht es aber mit den gewöhnlichen techne onta, dem »Künstlichen«? Wenn das, was von sich aus ist, solches ist, das entgegenkommt und von sich her anspricht, kann das in je unterschiedlicher Weise sowohl für den Stein und die Blume und das Kind wie für das Haus, den Laptop und die Straße zutreffen. Ich denke, daß wir auch unsere technische Welt als etwas erfahren können, das sich von uns abgelöst hat und nun von sich aus spricht und sich von sich aus bewegt – auf uns zu oder auch von uns weg, hilfreich oder bedrohlich. Das bedrohliche Moment hat heute oftmals die Oberhand; das ursprünglich der Natur zugesprochene Von-sich-aus-Sein gewinnt, wenn es über das Natürliche hinaus erweitert wird, zuweilen eine einseitige, weitgehend negativ konnotierte Bedeutung, womit sich seine Eigenständigkeit in unheimlicher Weise pervertiert. Ich zitiere, als eine Stimme von vielen, Sloterdijk: »Wir haben uns umstellt mit einer Epinatur aus Handlungsfolgen, die unserer ›geschichtema­ chenden‹ Praxis wie eine sekundäre Physis entgleiten.«119 Dieses uns »Entglittene« ist zwar faktisch noch ein techne on im aristotelischen Sinne, also etwas, das von einem Anderen, als es selbst ist, aus einem – und sei es auch geistigen – Stoff, zu bestimmten vorentworfenen Zwecken und nach einem bestimmten Plan hervorgebracht wurde. Es ist poioumenon einer episteme technike, Hervorgebrachtes eines technischen Wissens. Aber zugleich ist es nicht nur das; es ist auch ein Fremdgewordenes, Ent-fremdetes, etwas, das dem Herstellenden gegenübertritt, als wäre es ein Natürliches. 119

Eurotaoismus, 24.

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Die Möglichkeit, mit dem Gefüge der technischen Welt in eine offene Kommunikation zu gelangen, scheint u.a. darum so einge­ schränkt, weil die Technik unserer Herrschaft in der Weise entglitten ist, daß wir ohnmächtig ihr gegenüber geworden zu sein scheinen, weil also eine deutliche Alternative zu bestehen scheint zwischen ihrer und unserer Herrschaft. Sie als selbständiges Von-sich-aus zu sehen heißt demgegenüber, das gegenseitige Herrschaftsverhältnis zwischen beiden zu leugnen und stattdessen ein Verhältnis des freien Miteinander aufzunehmen, in dem allererst eine wirkliche – rezeptive wie kritische – Auseinandersetzung möglich wird. Heidegger unterscheidet zwischen dem rechnenden Denken und dem besinnlichen Nachdenken, wobei mit dem ersteren das Denken des »heutigen Menschen« und d.h. das wissenschaftlich-technolo­ gisch ausgerichtete Denken gemeint ist. Mit der zweiten Art des Den­ kens hat Heidegger hier die Besinnung auf den »Sinn«, »der in allem waltet«, im Auge.120 Das wissenschaftliche Vorgehen ist dagegen »der bestimmende Vorgriff und der ständige Eingriff des technologischen Vorstellens«. Diese Kennzeichnung betont den aktiven, fast gewalt­ samen Charakter der Wissenschaft; sie ist grundsätzlich technisch und so auch im technischen Sinne gewaltsam. An anderen Stellen wird sie als ein herausforderndes Stellen, als »Bewältigung«, als Angreifen und Herrschen bestimmt: »Nicht das Anwesende waltet, sondern der Angriff herrscht.«121 Die wissenschaftlichen Bestimmungen und Kategorien stellen ihrer Sache nach, indem sie sie »in die Zugänglich­ keit zerren«, sie verfolgen sie und lassen ihr keine Ruhe, indem sie sie zwingen, sich in das jeweilig festgestellte Gegenstandsgebiet zu fügen.

120 Gelassenheit, 14f. Heidegger geht – ohne diese Gleichzeitigkeit ausdrücklich als solche zu reflektieren – auch an verschiedenen anderen Stellen von einem dem technischen, berechnenden gegenüber grundsätzlich anderen, dem dichterischen Wohnen zugehörigen Denken aus; er hat diese Gleichzeitigkeit eines anderen, nicht-technischen Denkens auch selbst praktiziert. Das besinnliche Denken geht über die Bemühung um den Sinn, der in allem technisch Bestimmten wirkt, hinaus und richtet sich, gleichsam mit einem neuen Blick, in eine andere Gegend, es schaut auf die Dinge in der Welt, auf die Brücke, über die wir gehen, den Krug, aus dem wir gießen, das Haus, in dem wir wohnen; es fragt nach Welt und Ding, nach Nähe und Gelassenheit, und ist »unterwegs zur Sprache«, wie der Titel eines seiner wichtigsten Bücher aus der Spätzeit lautet. Weder ist dieses so gerichtete Denken lediglich ein prophetisches Künden, noch sind die Dinge und Gegenden, mit denen es sich befaßt, lediglich visionär erschaute Gegenstände. 121 Die Zeit des Weltbildes, 84, 100.

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Auch das Berechnen und Messen sind Weisen eines Stellens, das seinen Gegenstand in eine ständige Gegenwart zwingt, womit es der Sache die Möglichkeit nimmt, sich von ihr selbst her zu zeigen, sich auf ihre eigene Weise einem achtsamen Denken zuzusprechen. Zur berechnenden Sicherstellung gehören auch die Bereitstellung und das Verfügbarmachen. Wie hinsichtlich mancher anderen die zeitgenös­ sische Gegenwart erörternden Bestimmungen hat Heidegger auch hier in erstaunlicher Weise spätere Entwicklungen antizipiert. Die Installierung und immer weiter fortschreitende Vervollkommnung des Internet realisiert in einer fast schwindelerregenden Weise die Ver­ fügbarmachung von allem für alles. Indem zu welchem Thema auch immer sich jede mögliche Information auf den Bildschirm holen läßt, soll virtuell das Wissen der gesamten Menschheit verfügbar sein.122 Die schrankenlose Verfügbarmachung erfordert und impliziert eine vorgängige Nivellierung alles Vorliegenden. Heidegger spricht von Unterschiedlosigkeit und organisierter Gleichförmigkeit. Alles wird dem gleichen Maß unterstellt und damit berechenbar gemacht, die Meßbarkeit ist zum Kriterium der Wirklichkeit des Wirklichen geworden. Die menschlichen Machenschaften verlieren dabei zugleich immer mehr ihren selbstherrlichen Charakter: die Beziehung des herrschaftlichen Subjekts zum nivellierten Objekt geht zunehmend in die »aus dem Gestell bestimmte Beständigkeit des Bestandes« über.123 Das wissenschaftliche Erkennen und Wissenwollen ist eng im technologischen Denken verwurzelt. In beidem ist der gleiche Zugriffscharakter gegenüber dem Seienden und die gleiche Nivellie­ rung und Vereinheitlichung zu sehen. Das vielfältige Stellen, das im Wesen der Technik begründet liegt, hat im wissenschaftlichen Denken eine ausgezeichnete Ausprägung gefunden, so daß dessen Begreifen und die technische Zurichtung Hand in Hand gehen.124 Die Menschen sehen nicht, daß sie sich eben da als Herren ihres Geschicks wähnen, wo sie in Wahrheit nur Bestellbares eines 122 Ich sage »soll«, weil es hier ersichtlich auf das Verständnis von so etwas wie Wissen ankommt. Wenn Heidegger z.B. davon spricht, daß es darum gehe, »das Dichterische [zu] wissen«, so ist dieses Wissen wohl kaum ein solches, das auf dem Bildschirm darund bereitzustellen wäre. 123 Der Satz vom Grund, 61. 124 Für Heidegger handelt es sich dabei nicht um ein »Gemächte« der Menschen, vielmehr entstammt es mit all seinem scheinbar selbstgewissen und sich seiner selbst versichernden Vorstellen und Handeln einem Geschick, das den geheimnisvollen Charakter eines Seinsentzuges hat.

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Bestandes sind, der sie immer schon in sich einbezogen hat, innerhalb dessen sie nur noch funktionieren und fungibel geworden sind. In Der Satz vom Grund heißt es darum: »Sollen wir indes auf einen Weg der Besinnung gelangen, dann müssen wir allem zuvor erst in eine Unterscheidung finden, die uns den Unterschied zwischen dem bloß rechnenden Denken und dem besinnlichen Denken vor Augen hält.« (199) Dieses besinnliche Denken richtet sich auf die »Grundzüge der technologisch-wissenschaftlichen Weltzivilisation«, indem es sich mit dem auseinandersetzt, was als metaphysisches Denken und meta­ physische Realität die Geschichte des abendländischen Menschen bis heute bestimmt hat.

»Zweite Natur« Neben dem materiellen Technischen bzw. dem von Menschen Her­ vorgebrachten gibt es einen weiteren Bereich, für den ein ähnliches pervertiertes Von-sich-aus zutrifft, der Bereich dessen, was wir das »Gesellschaftliche« nennen. Auch das Insgesamt des Sich-aufeinan­ der-Beziehens der Menschen ist zu einer eigenen Macht geworden, die den Einzelnen als etwas gegenübersteht, das seinen spezifischen Gesetzen zu gehorchen scheint, denen jene a priori unterworfen sind bzw. sich zu unterwerfen haben. Es ist nicht nur ein Kennzeichen der modernen Technik, sondern auch der gesellschaftlichen Verhältnisse, daß ihre Produkte und Resultate sich den Menschen gegenüber verselbständigen, daß sie zu einer eigenen Macht werden, der wir in einem erschreckenden Ausmaß überantwortet und ausgeliefert sind. Das in einem weiten Sinne verstandene Phänomen der Entfremdung ist Ausdruck eines grundsätzlichen Fremd-Gewordenseins zwischen den Menschen und zwischen ihnen und den menschlich produzierten und konstituierten dinglichen und gesellschaftlichen Sachverhalten, dem, was wir im alltäglichen Sprechen oft als »das System« bezeich­ nen. Auf Grund solchen Fremdgewordenseins hat man die Welt des technisch-gesellschaftlichen Seienden eine zweite Natur genannt. In ihr sind das Hervorgebrachtsein durch den Menschen, das Technische, und das System der menschlichen Verhältnisse, das Gesellschaftliche, eng miteinander verschränkt. Sie entgleiten unserer Praxis und Mach­ barkeit. Achten wir etwa auf das, was man die »konkreten Abstrakta« nennen könnte: Schauen wir auf den Unterschied, der zwischen einem Lastwagen und dem Verkehr, einem Computer und der Informatik, einem Hochhaus und der Großstadt, einem Abendkleid und der 113 https://doi.org/10.5771/9783495996812 .

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Textilwirtschaft besteht. Von dem je zweiten, das technisch sowohl wie gesellschaftlich ist, ist in besonders einleuchtender Weise zu sagen, daß es sich gegenüber seinem Produzenten verselbständigt und jenen unheimlichen Charakter des Entglittenen oder Losgelasse­ nen annimmt. Die in diese gesellschaftlich-technischen »Produkte« – Verkehr, Wirtschaft, Technik – investierte Rationalität hat sich gewissermaßen aus ihrem ursprünglichen, rein instrumentellen Sinn­ zusammenhang herausgelöst und ist zu einem Selbstlauf, einem eigenen »Leben« gelangt, – wobei dieses eigene Leben die eben an erster Stelle genannten konkreten Dinge mit einschließt, die damit gewissermaßen zu Funktionären, Agenten der Allgemeinheiten wer­ den, denen sie zugehören und die sie mit ausmachen. Der Begriff der zweiten Natur bezieht sich demgemäß nicht auf von einzelnen Menschen hervorgebrachte Gegenstände, auf einzelne techne onta; es handelt sich vielmehr um gesellschaftliche Objekte, gewissermaßen um polei onta – Seiendes, das kraft der polis besteht. Die Arbeit, die die durchaus konkreten Abstrakta produziert, ist gesellschaftliche Arbeit, und die Welt, in die hinein sie entstehen, ist die technischgesellschaftliche Welt. Die Seinsweise der konkreten Abstrakta läßt sich dem zuordnen, was bei Hegel zum »objektiven Geist«125 gehört, eine Formulierung, die wir in unserem Zusammenhang in ihrer ganzen Widersprüchlich­ keit, in ihrer ganzen inneren Spannung aufnehmen können, nun aber nicht mehr als Selbstsetzung des Geistes und diesem bleibend zugehörig, sondern als in (zweite) Natur übergegangene Technik, als ein menschlich Hervorgebrachtes, das dem Herrschaftsbereich und der Herrschaftslogik seines Produzenten entwachsen ist. Nicht nur so etwas wie Familie, Bürgerliche Gesellschaft und Staat (wie bei Hegel), nicht nur Markt, Verkehr und Sozialwesen sind solche ver­ selbständigten Mächte; wie gesagt, haben auch eine Großstadt, eine Handelskette, ein Verkehrsnetz, ein elektronischer Prozess oder auch ein gesellschaftlicher Trend oftmals ihre eigenen und also nicht mehr zur Gänze kontrollierbaren Gesetzmäßigkeiten und Bewegungsfor­ men entwickelt. Sie verselbständigen sich gegenüber denen, die sie in Gang bringen und ausmachen, zu einer zweiten Natur. »Der objektive Geist ist die absolute Idee, aber nur an sich seiend; indem er damit auf dem Boden der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr.« (Enzyklopädie, § 483) Unhegelisch gesehen ist der objektive Geist sowohl objektiv (äußerlich, endlich) wie subjektiv (geistig).

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Muß aber dieses Uns-fremd-Werden tatsächlich im Sinne der Dialektik der Aufklärung interpretiert werden, also als ein absolu­ tes Sich-Durchsetzen der mythisch-naturhaften Züge von Herrschaft und Aufklärung, wie Wiederholbarkeit, blinde Notwendigkeit, bloße Objektivität? Müssen wir der Negativen Dialektik folgen, wo es heißt: die »zweite Natur bleibt aber das Negativ jener, die irgend als erste gedacht werden könnte. Was wahrhaft thesei ein wenn schon nicht von Individuen so doch von ihrem Funktionszusammenhang erst Hervorgebrachtes ist, reißt die Insignien dessen an sich, was dem bürgerlichen Bewußtsein als Natur und natürlich gilt«? (348) Die Überzeugung, daß die Verselbständigung und das Fremdge­ wordensein allein negative Phänomene sind, ist – so denke ich – noch eine Voraussetzung, die dem neuzeitlichen Herrschaftsanspruch und generell dem abendländisch/metaphysischen Begründungsstre­ ben zugehört, die nichts aus ihrem Verfügungsbereich zu entlassen bereit ist. Adornos These von dem absoluten Identitätsbann126 und dem totalen Entfremdungszusammenhang entstammt selbst noch der Perspektive des auf Aneignung programmierten Subjekts, das sich und seinesgleichen in einem universellen Verursachungs- und Ver­ wertungszusammenhang sieht. Daß gesellschaftliche Verhältnisse oder technische Gesetzmäßigkeiten und Sachzusammenhänge als zweite Natur erscheinen, weil und insofern sie sich von ihrem menschlichen Hervorgebrachtsein loslösen und ein eigenständiges Wesen gewinnen, ihr Von-sich-aus-Sein und Anderssein gegenüber dem Menschen, ihr Charakter von scheinbarer Naturgegebenheit verdanken sich noch jener überkommenen Perspektive. Verliert dagegen das menschlich Gewordene den ausschließli­ chen Charakter des Bekannten und Gewollten, der seinem Geworden­ sein in menschlicher Produktion zugehörte, so vermag es, wie ein Mensch in seinem Erwachsenwerden, hinauszutreten in eine Welt der Unvermitteltheit und erstaunlichen Fremdheit. In ihr müssen und können Bezüge und Vertrautheiten allererst aufgebaut werden, in ihr können wir, positiv oder negativ, etwas Neues mit dem Begegnenden anfangen, so daß wir auch eine kommunizierende und partizipierende Auseinandersetzung mit ihm aufzunehmen und aus der bloßen Passi­ vität des ihm Ausgeliefertseins und Ohnmächtigseins herauszutreten vermögen. Den Begriff der »zweiten Natur« könnten wir dann in dem 126

Vgl. u.a. Negative Dialektik, 74, 172, 335ff.

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Sinne ernstnehmen, daß wir ihren Naturcharakter im Sinne ihres EinAnderes-Seins und Eigenseins und Von-sich-aus-Seins anerkennten. Die Unterschiede zwischen dem Naturhaften als solchem und dem Gesellschaftlich-Technischen werden durch diese Blickwendung weder geleugnet noch eingeebnet. Sicherlich verändert sich das Men­ schengemachte nicht in ein Von-sich-aus in genau dem Sinne, in dem die Natur das ist. Entscheidende Unterschiede bleiben bestehen und wären im Einzelnen neu herauszuarbeiten. Sie sind aber nicht mehr Kriterien der Eingrenzung und De-finierung des Einen, Recht­ fertigungsgründe der Ausgrenzung und damit der Unterwerfung und Beherrschung des Anderen. Die Gegensätze zwischen dem Techni­ schen/Gesellschaftlichen und dem Natürlichen sind nicht plötzlich unzutreffend, aber sie werden weitgehend irrelevant. Sie verlieren ihre Eindeutigkeit und vor allem ihren Erklärungswert. Es kommt nicht mehr so sehr darauf an, ob etwas menschlichen oder natürlichen Ursprungs ist; von größerer Bedeutung sind andere Fragen, z.B. die, ob es lebensfördernd oder ergötzlich oder verderblich ist, ob es Menschen zueinander führt, oder voneinander trennt, ob es einen gelassenen Umgang mit ihm zuläßt oder nicht, ob es die Möglichkeit zu Zukunft in sich trägt oder nicht, ob es »schön« ist oder nicht. Ebenso wenig wie die Unterschiede zwischen Natur und Technik können und sollen Unterschiede innerhalb des Bereichs der techni­ schen und gesellschaftlichen Gegenstände und Sachzusammenhänge selbst geleugnet werden, eben etwa die zwischen gedeihlichen und entfremdenden. Es bleibt eine entscheidende Frage, ob und wie die vielfachen ausbeuterischen und zerstörerischen Kräfte, die der Mensch in seinem hemmungslosen Bewältigungsdrang in die Welt gesetzt hat, gebändigt und gewissermaßen zurückgeholt werden kön­ nen in einen Bereich, in dem ein Gespräch mit ihnen, und damit je nach der Situation auch so etwas wie ein entschiedenes Nein127 ihnen gegenüber möglich wäre. Der Unterschied zwischen Menschenge­ machtem und Natürlichem ist da weitgehend ohne Bedeutung. Wir sind aber in beiden Fällen ganz anders herausgefordert, uns ihnen zu stellen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn sie uns als ein Eigenes, an sich Fremdes gegenüberstehen, wenn wir nicht in ihrem Betrieb einfach mitgesetzt sind und sie nicht in unseren nur mit hineingehören. 127

Vgl. Heidegger, Gelassenheit, 24.

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»Zweite Natur« meint, daß wir auch das technische »Gemächte« weder als bloße Objektivität noch als allmächtiges Über-Subjekt erfahren, sondern als die eigene Realität, die sie ist und mit der wir umzugehen lernen müssen. Anerkennung ist nicht dasselbe wie Bejahung. Erst wenn wir etwas anerkennen, können wir uns auch, wenn es notwendig wird, von ihm abwenden, es negieren, bekämpfen oder zu verändern suchen. Angesichts dieser zweiten Natur kommt es vor allem darauf an, das menschliche Handeln selbst neu zu definieren, das Gesche­ hen zwischen dem Menschen und seiner Wirklichkeit und so auch den Bezug zwischen ihm und der Natur anders zu verstehen, seine bisherige Welteinstellung zu re-vidieren.128 Die Verselbständigung, das Zur-zweiten-Natur-Werden der menschlichen Artefakte ist nicht einfach eine zum Projekt des neuzeitlichen Menschseins und seiner tendenziellen Bewältigung und Entwirklichung der Natur hinzutre­ tende, zusätzliche Eigenschaft. Vielmehr handelt es sich einerseits um dessen notwendige Folge, während diese zweite Natur zugleich andererseits jenes Projekt, dem sie entstammt, grundsätzlich und nachhaltig in Frage stellt. Teilweise entzieht sie der gegenwärtigen Wirklichkeit nachträglich den Grund und die Logik ihres Bestehens. Denn der selbstbewußte Ausgriff des handelnden Subjekts über alles Seiende, der diesem und jenem selbst die Wahrheit und Sicherheit seines Seins garantieren sollte, verliert im Nachhinein seinen Sinn, wenn die Handlung selbst, die Bewegung des Über- und Einbegreifens sich vom Handelnden loslöst, sogar auf ihn zurückschlägt.129 Das »Subjekt« hört in dieser gewandelten Einstellung nicht einfach auf, im vollen Sinne Subjekt zu sein, sondern es erweist sich jetzt, daß es dies in Wahrheit nie hat sein können und sollen. Der neuzeitliche Mensch hat sich über seine Möglichkeiten getäuscht. Auf Grund dieser Täuschung ist etwas entstanden, auf das es sich neu einzustellen gilt, und zwar auf dieses Neue und Andere, nicht auf etwas, das sich lediglich in den Bildern altgewordener Schemata findet, – wie denen des Gegensatzes von physis und techne, oder auch des Gegensatzes von Natur und Geist. Gemäß der grundsätzlichen Intention meiner Fragestellung konzentriere ich mich im Folgenden auf die dingliche Seite der zweiten Natur und lasse die gesellschaftli­ che beiseite. 129 So hat die Waffenproduktion m.E. in keiner Hinsicht eine Daseinsberechtigung; sie kann in keinem Sinne als lebensfördernd verstanden werden. 128

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Wenn es nicht blinde Notwendigkeit, ein absolutes Losgelas­ sensein ist, was die Seinsweise der zweiten Natur, der dinglichen Artefakte wie der konkreten Abstrakta gesellschaftlicher Natur, aus­ macht, wenn es sich bei ihr nicht um eine schlechthin anonyme Macht handelt, dann ist unser Verhältnis und Verhalten zu den technischen Gegenständen nicht mehr notwendig das eines bedingungslosen Aus­ geliefertseins. Es ist dann zu fragen, ob nicht – in bestimmtem Sinne und in bestimmten Zusammenhängen – das Entfremdete aufhört, Ent-fremdetes zu sein, um sich einfachhin als erstaunliches Fremdes zu zeigen und uns damit zu einer neuen Beziehung zu ihm, zu einer produktiven Wechselbeziehung aufzufordern. Das scheinbar uns Unterworfene oder uns Unterwerfende ist dann vielmehr ein uns gegenüber Anderes und Fremdes, das uns von sich aus etwas zu sagen haben kann. Dasjenige, dem wir allein unsere Sprache geliehen zu haben schienen, spricht uns mit seiner eigenen Sprache an.

Digitalität Die Frage nach einer freien Kommunikation mit dem Gegebenen stellt sich in neuer Weise angesichts der digitalen Struktur und Vernetzbar­ keit mannigfacher Gegenstände unserer Welt, der digital verknüpften Dinge, die als eine Art »dritte Natur« verstanden werden können.130 Womit wir es da zu tun haben, das sind einerseits materielle131 Gegen­ stände, etwa unseres alltäglichen Gebrauchs, die zugleich, indem sie Momente des Internets sind, so etwas wie eine neue, quasimaterielle oder immaterielle Existenz annehmen, in ihrer Erscheinung auf dem Bildschirm und in ihrer digitalen Beziehung zu anderen Dingen und zum Menschen. Ähnlich wie angesichts der zweiten Natur, der gleichsam naturhaften Eigenwüchsigkeit menschlicher Verhältnisse und Produkte, sind wir hier mit einer Realität konfrontiert, die ihre dem Menschen gegenüber eigenen Gesetze und Bewegungsformen und Funktionen zu haben scheint, ja hat, obgleich sie zugleich dem

Wie ich jetzt gesehen habe, hat Peter Glaser schon 2016 in einer Kolumne der NZZ einen ähnlichen Gedanken expliziert. Die »Dritte Natur« beleuchtet Zonen des Übergangs, der Überlappung und der Verwandlung der Sphären des Kulturellen und des Natürlichen. Die 2018 erstmals erschienene Zeitschrift Dritte Natur meint mit diesem Terminus zwar etwas anderes, scheint in ihrer Intention jedoch in eine ähnliche Richtung wie meine Überlegungen zu gehen. (3 und 4. Ausgabe 2021). 131 Unter »materiell« verstehe ich wie die Tradition sinnlich/stofflich, damit auch orts- und zeitgebunden. 130

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alltäglichen menschlichen Umgang mit ihr zugehört und für diesen hervorgebracht wurde. Andererseits sind es explizit immaterielle Seiende, etwa die zuvor so genannten »konkreten Abstrakta« oder Prozesse und Konstellatio­ nen, die in der digitalen Welt ihre dem Sinnlichen entsprechende unsinnliche Existenz haben. Terroristische Bedrohung, Klimaverän­ derung, Pandemie sind gegenwärtige weltumspannende Beispiele für solche bedrohlichen immateriellen Entitäten, die nicht nur als zweite Natur, sondern zugleich in ihrer digitalen medialen Existenz eine neue Substantialität oder in gewissem Sinne auch »Materialität« gewonnen haben. In den verschiedensten Lebensbereichen beginnt das Digitale eine entscheidende Rolle zu spielen, und das wird es in der vorausseh­ baren Zukunft in einem heute noch kaum bekannten Ausmaß tun. Besonders deutlich wirkt sich der digitale Einfluß im Bereich der zwi­ schenmenschlichen Kommunikation aus. Die Bedeutung des Handys und seiner Weiterentwicklungen bis zum heute fast allgegenwärtigen Smartphone ist im Verein mit den social media für die veränderten Beziehungen zwischen den Menschen132 kaum zu überschätzen. Der Unterschied zwischen digitalen Dingen bzw. den Dingen, zu denen wir in einer digitalen Beziehung stehen, und den »norma­ len« Gegenständen ist von außen zum Teil kaum oder gar nicht wahrnehmbar. Einem autonom fahrenden Auto, einem autonom funktionierenden Heizungssystem oder unterschiedlichen mit dem Smart Home verbundenen Gegenständen ist äußerlich nicht anzuse­ hen, daß sie, strikt gesagt, Teil des Internets sind. »Indem aufgrund ihrer abnehmenden Größe und ihres ständig zurückgehenden Preises und Energiebedarfs immer mehr Prozessoren, Kommunikationsmo­ dule und andere Elektronikkomponenten in Gegenstände des tägli­ chen Gebrauchs integriert werden, dringt Informationsverarbeitung, gekoppelt mit Kommunikationsfähigkeit, fast überall ein, sogar in Dinge, die zumindest auf den ersten Blick keine elektrischen Geräte

Vor ein paar Jahren sah ich in einer kleinen türkischen Stadt vier Jugendliche »miteinander« an einem Tisch in einem Parkcafé sitzen, jeder in ein mit dem Handy geführtes Gespräch vertieft. Daß sie mit ihren Handys beschäftigt waren, ist für sich heute nichts Bemerkenswertes mehr. Daß sie sich aber offenbar zu einem Miteinandersein verabredet hatten, das sie dann aber mit isolierten Beschäftigungen verbrachten, fand ich bemerkenswert und erschreckend. 132

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darstellen.«133 Das »Internet der Dinge«134 ist ineins ein Netz von Computeraktionen wie ein Netz miteinander durch jene Aktionen verbundener Gegenstände. Die Maschen dieses Netzes können Gegenstände des Alltags sein. Seit Beginn der digitalen Entwicklung wird z.B. an Materia­ lien geforscht, die mit ihren Sensoren auf Umweltbedingungen wie Temperatur oder Feuchtigkeit oder auf interne Veränderungen wie Blutdruck oder -zucker zu reagieren vermögen. Medizin oder Raum­ fahrt wie überhaupt die gesamte Technik sind ohne Digitalität nicht mehr praktizierbar. Exemplarisch verweise ich auf die digitale Mode. Ihre Entwick­ lung begann mit der Einsicht, daß sich »digitales Leben« zu einem immer größeren Teil in den Medien abspielt und daß sich dies zwangs­ läufig auf den Kleiderkonsum auswirkt. Nicht nur Influencer, sondern auch andere User der Social Media zeigen sich nicht gern mehr als einmal im gleichen Outfit. Wird die Kleidung zu einem Artikel, der nur einmal benutzt wird, ist es sinnvoller, diese Art Selbstdarstellung auch mit digitalen Produkten zu bewerkstelligen. »Schon heute wird eine Unmenge an Kleidern nur gekauft, um sie digital in Selfies und Outfit-Posts zu präsentieren. Nachhaltiger wäre es da, wenn diese Kleidung direkt aus digitalen Materialien wäre.«135 Für einen einma­ ligen Anlaß lohnt sich der Aufwand des Kaufs und anschließenden Aussortierens aufwendiger Kleidung nicht. Die digital produzierte Kleidung gibt es, nämlich auf dem Bildschirm, und gibt es nicht, nämlich in der sinnlich-stofflichen Realität.136 Sie existiert nur online und kann nur online getragen werden. 133 Friedemann Mattern und Christian Floerkemeier: Vom Internet der Computer zum Internet der Dinge, 107. 134 Den Begriff »Internet of Things« hat Kevin Ashton 1999 eingeführt. 135 Celina Plag, Die Zukunft der Mode liegt im Digitalen. 136 »Das erste, digitale Couture-Kleid des Amsterdamer Modelabels The Fabricant wurde Anfang des Monats für ganze 9500 US-Dollar in New York versteigert. Obwohl täuschend echt, existiert der fließend-fluoreszierende Entwurf nicht in Wirklichkeit, sondern nur als digitale Datei. Hinter der Idee virtueller Kleidung steht nicht bloß eine bahnbrechende Vision über Mode, sondern auch darüber wie Menschen in Zukunft miteinander interagieren.« (Weixin Zha, Digitale Mode: »Die Welt braucht nicht mehr physische Kleidung«). »Ein virtuelles Kleid muss nur auf ein Foto einer Person montiert werden, bevor das Bild auf sozialen Medien gepostet und Teil unseres Lebens wird.« Zugleich kommt sie vielfältigen ökonomischen wie ökologischen Bedürfnissen entgegen. »Wenn Kleidung rein digital wäre, müsste sich die Branche nicht um Arbeitsbedingungen und Umweltverschmutzung in den Lieferketten sorgen oder

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Nicht nur im Gebrauch, sondern bereits in der Herstellung spielt das Digitale eine entscheidende Rolle. So bekommt die additive Fertigung oder 3D-Produktion – etwa in der Architektur – einen heute für das allgemeine Bewußtsein kaum schon ahnbaren Stellenwert. Waren es anfangs vor allem Bauteile und Prototypen, so wird in dieser Beziehung inzwischen in den mannigfaltigsten Bereichen weiterge­ hend geforscht und experimentiert und realisiert. Schon heute finden wir Fleisch auf dem Markt, das im Labor additiv aus Rinderzellen oder aus Pflanzenproteinen hergestellt wurde. Auch wenn in der Regel an der physischen Existenz des Men­ schen festgehalten wird,137 erscheint die digitale Welt bzw. das digitale Leben als ein zusammenhängendes Netz, in dem die Dinge – inclu­ sive des sie konstruierenden, programmierenden und gebrauchenden Menschen (des users) – miteinander interagieren, als wären sie ein vernünftiges Ganzes. Und in der Tat sind sie ein durch menschliche Vernunft produzierter Gesamtzusammenhang, nur daß sie ihrer eige­ nen Logik nach dem Menschen zugleich als etwas Eigenes, eben als eine Art zweite Natur – oder dritte Natur – gegenüberstehen, deren Komponenten sich »selbst ohne böse Absicht […] nicht immer so verhalten, wie wir es uns wünschen, sondern wie diese glauben, dass es für uns am besten wäre – womit eine subtile Form des Tech­ nikpaternalismus droht.«138 Im Gedanken des Technikpaternalismus liegt, daß die Technik etwas mit uns macht, d.h. uns benutzt, damit bestimmte Ziele erreicht werden. Dabei vermeinen wir, die User, die Gebrauchenden zu sein und werden in Wirklichkeit selbst genutzt. um unverkaufte Restposten und wachsende Berge voller Kleidungsmüll.« »Digitale Mode könnte unser Bedürfnis nach Neuheit und Selbstdarstellung befriedigen ohne die Umwelt dabei zu belasten«. Und noch ein Zitat, das m.E. die philosophische Brisanz dieser Entwicklung, auf die ich hier aber nicht näher eingehe, zum Ausdruck bringt: »In einer Umgebung, die das Unmögliche möglich macht, die nichts als Daten verschwendet und nichts als die Phantasie ausschöpft, scheint die Idee der Körperlichkeit veraltet zu sein«. (a.a.O.). 137 Ausdrücklich wird das in dem zitierten FAZ-Artikel von Celina Plag betont: »Schließlich geht es weder in unserer Modestrecke noch sonst im Leben darum, die physische Mode ganz zu vertreiben. Der Mensch ist ja ein physisches Wesen. Wohl aber kann das Digitale die Mode IRL, in real life, so entschlacken, dass das, was übrig bleibt, nachhaltig, fair und inspirierend ist. Künftig wird es daher ein hybrides Miteinander geben von virtuellen und physischen Lösungen – die unsere Welten zu besseren Orten machen.« 138 Friedemann Mattern und Christian Floerkemeier: Vom Internet der Computer zum Internet der Dinge, 119.

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Ein besonderes Kennzeichen der digitalen Welt ist die Aufhe­ bung der Ortsgebundenheit ihrer Daten. Wir sprechen zwar vom virtuellen oder vom digitalen Raum, aber dieser Raum weist keine differenzierten Orte im Sinne geographischer Plätze mehr auf. Wie die Gebundenheit an die geographischen Lokalisationen verschwinden im digitalen Raum die physischen Distanzen. Im virtuellen Raum gibt es zwar Entfernungen, aber sie lassen sich zeitlos – in »Echtzeit« – überwinden. Verlieren menschliche Nähe und Ferne hier ihren Sinn? Heidegger hat im Hinblick auf das technische Zeitalter darauf hingewiesen, daß »alle Entfernungen in der Zeit und im Raum« einschrumpfen.139 Er spricht sogar von der »Beseitigung jeder Mög­ lichkeit der Ferne« und der Nähe, in der »alles gleich fern und gleich nahe steht« bzw. »alles weder fern noch nahe« ist. Wie steht es da jetzt mit der Digitalität? Kann uns ein digital präsentes Ding überhaupt noch nahe sein?140 Wir wissen heute noch nicht, in welchem Ausmaß das imagi­ nierte Vorherrschen einer durchkomponierten digitalen Welt Wirk­ lichkeit werden wird, wie weit die Durchmischung von analogem und digitalem Vorstellen und Handeln gehen wird. Zuckerberg spricht von dem digitalen virtuellen Kosmos als dem metaverse.141 Er schreibt, daß im Metaversum virtuelle und reale Welt konvergieren. Diverse Virtual-Reality-Technologien sollen zukünftig umfassende Metaver­ sen möglich machen. Wie bereits angesichts der teilweise schon gegenwärtigen Prä­ senz virtueller Parallelwelten stellt sich angesichts der virtuell erwei­ terten Realität die Frage, ob in Bezug auf die »digitalen Dinge«, damit in Bezug auf die Weise, wie uns die uns umgebenden Seienden im mehr oder weniger realisierten digitalen Universum gegeben sind, eine freie Kommunikation mit ihnen entweder möglich bleibt oder Das Ding, 163. Die Berichte über emotionale Verhältnisse von Menschen zu (Pflege-)Robotern scheinen in diese Richtung zu weisen. 141 Der Terminus metaverse scheint allerdings zuerst in Neal Stephensons Snow Crash (1992) gebraucht worden zu sein. Ein sprechendes Beispiel für die zukünftige Bedeutung des Metaversum sind die Über­ legungen des Volkes des 5 m über dem Meeresspiegel liegenden Inselstaates Tuvalu im Pazifik, einen digitalen Zwilling ihres Staates zu schaffen und in einem Metaversum zu speichern. Sollte die Insel aufgrund der voraussehbaren klimabedingten Erhöhung der Meere untergehen, so hätten die emigrierten Einwohner des Staates und ihre Nachkommen die Möglichkeit, in Zukunft auf die digitale Version ihres Heimatlandes und seiner Kultur zurückzugreifen. 139

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vielleicht sogar auf eine neue Weise allererst möglich wird. Ist hier – wie oftmals vermutet – umgekehrt wirklich eine Art Paternalismus »vorprogrammiert«, der eine Form von Herrschaft und Bevormun­ dung des Menschen durch die fortgeschrittenste Technik bedeutete? Es kann nicht reichen, um das gängige Beispiel des digital aus­ gestatteten und sich selbst auffüllenden Kühlschranks zu nehmen, zu betonen, daß wir immer die Möglichkeit behalten, uns nicht skla­ visch an seine Vorgaben zu binden, sondern gelegentlich auch nach jeweiligen Bedürfnissen und jeweiligem Appetit unsere eigene Wahl einbringen können. Oder daß wir unsere Lektüre keineswegs allein nach den Vorgaben von Google oder welcher unsere Präferenzen und Gewohnheiten auch immer ausspähenden Macht ausrichten, so »richtig« und »sinnvoll« diese im Einzelfall auch sein mögen. Es genügt nicht, uns ein gewisses Maß an Freiheit gegenüber den digitalen »Zwängen« vorzubehalten. Worauf es dagegen nach allem bisher Gesagten u.a. ankäme, wäre, die Situation des Gegenüber und der Konfrontation aufzugeben, die auch in der Erfahrung des Unterjochtseins noch beherrschend zugrundeliegt. Das kann nicht heißen, daß wir uns kontrafaktisch mit unseren »Instrumenten« zu identifizieren hätten. Wir müßten dazu kommen, eine andere – »kommunikative« – Art der Zusammen­ gehörigkeit und des Umgehens mit dem digitalen Technischen zu finden, die jene »Freiheiten« dann selbstverständlich mit einschließen würde. Wir müßten uns grundsätzlich von der Idee des Brauchens und Gebrauchtwerdens lösen. Adornos von mir wiederholt zitierte »Kommunikation des Unterschiedenen« impliziert den »Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander«.142 Es kommt sowohl auf Unterschiedenheit wie auf Teilhaben an. Die grundsätzliche Unterschiedenheit zwischen Mensch und technischen Dingen wird in der Gegenwart gewöhnlich nivelliert zu der Eindimensionalität eines technischen Gebrauchs- und Zweck­ zusammenhangs. Zumal die Globalität scheint ein durchgehendes Verkehrs-, Produktions- und Konsumnetz zu fordern, in dem lokale, geschichtliche und vor allem qualitative Differenzen keine entschei­ dende Rolle mehr spielen.143 Zweifellos ist die Digitalisierung ein hervorragendes Mittel dieser Nivellierung. Zu Subjekt und Objekt, 153. Das Ziel umfassender Handels- und Währungsunionen zeigt die angestrebte Vergleichbarkeit und damit letztliche Gleichförmigkeit von allem und allen.

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Ihr gegenüber die Unterschiedenheit stark zu machen, heißt, der Fremdheit und Erstaunlichkeit von allem und jedem Raum zu geben. Gegen Benjamin wäre zu betonen, daß die Aura, die das Einzelne umgeben kann, mit dem »Zeitalter der technischen Reprodu­ zierbarkeit« eben gerade nicht verschwinden muß; seine wunderbare Definition der Aura als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, können wir auf die digitale Welt ausdehnen, wenn wir jeweils einen Schritt zurück tun und uns nicht konfrontativ und nicht einbegreifend auf das Begegnende einlassen. Wir können einen Schritt zurück tun. Das besagt, daß wir zwar in einer digitalen Welt leben, ja daß wir ein »digitales Leben«144 führen können, daß wir selbst dabei aber etwas Sinnliches, Einmaliges bleiben, das sich als solches auch sinnlich – und fühlend – zu erstaunlichen, sinnlichen Dingen um es herum verhält, auch wenn diese zugleich digitalen Charakter haben. Wenn wir unsere eigene Ferne mit uns tragen, so spannen sich um uns unterschiedliche Nähen und Fernen aus, auf die wir uns einlassen oder nicht einlassen können. Heidegger hat in dem Meßkircher Vortrag, der sowohl den Titel Gelassenheit wie den Titel Atomzeitalter erhielt, vom »gleichzeitigen Ja und Nein zur Technik« gesprochen.145 Was bei ihm der Sache nach wohl noch unter dem Primat der die Technik verwindenden Gelassenheit und d.h. eines bedingten Nein zur Technik steht, wäre, so denke ich, von diesem Primat zu lösen und zu einem tatsächlich gelebten heiteren Zugleich zu machen. »Heiterkeit« bedeutet vielleicht gerade dies: bei den Sachen und ihren Gesetzmäßigkeiten sein und doch zugleich auch »über« ihnen, »jenseits« von ihnen stehen und sie aufmerksam und freundlich beobachten und behandeln. Ein heiterer Bezug wäre in gleicher Weise zu einer Muschel am Strand wie zur Diesellok, zu einem Elektrofahrrad oder einem virtuel­ len Abendkleid möglich. Das gelassene und heitere In-der-Welt-Sein bedeutet so etwas wie eine Umpolung gegenüber dem eingewöhnten Bestehen innerhalb eines rationalen, von subjektbetonten Interessen durchdrungenen Funktionszusammenhangs. Der Schlagwortcharak­ ter dieser letzteren Kennzeichnung ist nicht zufällig. Er entspricht dem, was zuvor als Weltlosigkeit des heutigen Menschseins bezeich­ net wurde. Eine sich aus dieser lösende Welthaftigkeit impliziert »In seiner umfassenden Bedeutung steht der Ausdruck ›Digitales Leben‹ für eine Lebensweise, in der die digitalen Technologien integraler Teil aller Bereiche der menschlichen Lebensführung sind.« (Jörn Lengsfeld, Definition Digitales Leben). 145 Gelassenheit, 25. 144

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demgegenüber eine Erdung, ein Irdischwerden. Auf der Erde zu sein, heißt zwischen Erde und Himmel zu sein, aber auch zwischen Geburt und Tod, zwischen Zuneigung und Abneigung, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Gemeinschaft und Alleinsein usw. Eine Annäherung an das, was Erde als ein solches Zwischen ist, soll darum meine Überlegungen beschließen, die es zugleich von diesem weiteren Blickpunkt aus zusammenfaßt.

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IV Philosophieren über die Erde

Erde … Wovon ist zu handeln, wenn die Erde thematisiert, philo­ sophisch thematisiert wird? In dem dreizehnbändigen Historischen Wörterbuch der Philosophie findet sich kein eigener Artikel über den Begriff »Erde«. In der abendländischen Naturphilosophie ist sie zwar seit den Vorsokratikern ein wichtiges Thema, – ihre Entstehung, ihre Eigenart, ihr Verhältnis zu den Lebewesen, zum Wasser und den anderen Elementen oder zu den Sternen. Aber in der von Sokrates, Platon und Aristoteles entfalteten und dann über die Jahrhunderte hin bis zu Hegel weiter entwickelten sogenannten Ersten Philosophie spielt die Erde keine besondere Rolle. Und dies nicht aufgrund einer Nachlässigkeit oder eines Vergessens. Sondern es gab und gibt in dieser Philosophie wesenhaft keinen Platz für die Erde. Alltäglich gebrauchen wir das Wort »Erde« in verschiedenen Zusammenhängen und Sinnrichtungen, die sich teilweise gegenseitig überlagern.146 Die folgende Aufzählung und Unterscheidung soll lediglich zur groben Kennzeichnung dienen: 1. 2.

3.

146

Die Erde ist unser Heimatplanet, heute zuweilen als »blauer Planet« bezeichnet. Wenn wir sagen »die ganze Welt«, so ist meist die »weite Erde« im Sinne des gesamten Planeten gemeint. Ähnlich gebräuchlich ist die Bedeutung der Erde als Grund und Boden. In diesem Sinne ist sie der Ort für das menschliche Woh­ nen sowie überhaupt für alle irdischen Dinge und Lebewesen. Sie ist das Festgegründete, worauf wir stehen und gehen, was als Fundament für alles Gebaute dient. In einem weiteren Sinne ist die Erde der Humus und Erdboden, die Ackerkrume. Im Erdreich wurzeln die Pflanzen und leben mannigfache Kleintiere und Insekten. Aber es ist auch das, worin die Menschen ihre Toten be-erdigen – »earth to earth, ashes to ashes, dust to dust«.

Vgl. auch Verfasserin, Über Natur, 44ff.

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IV Philosophieren über die Erde

4. 5. 6. 7.

Erde begegnet zudem in zwei großen Gegenüberstellungen: Erde und Wasser oder Meer, und vor allem: Erde und Himmel. Seit Frühzeiten wird die Erde als eines der Elemente verstanden – in unserem Kulturkreis zusammen mit Feuer, Wasser und Luft. In alten (und neuen) Mythen wird die Erde als Natur- und himm­ lische Macht verehrt, die »große Mutter«, Gaia, Mutter Erde. Und schließlich benutzen wir Erde im Plural, zum einen in der Zusammensetzung »seltene Erden«, die im Grunde gar nicht so selten, aber zum Teil von außerordentlichem Wert sind, zum anderen in der Bedeutung von natürlichen Pigmenterden, z.B. roter und gelber Ocker oder grüne Erden.

Abgesehen von der letzten, kann man keine der übrigen Bedeutungen ganz beiseitelassen, wenn man sich fragt, was die Philosophie zur »Erde« sagen kann. All die aufgezählten und zum Teil deutlich unter­ scheidbaren Bedeutungen haben ihren Anteil an dem, woran man da unbestimmt denkt. Es könnte sogar zu dem, was Erde ist, selbst gehören, daß die verschiedenen Bedeutungen, in denen wir von ihr sprechen, sich in keinem festen definierbaren Begriff fassen lassen, daß sie kein umgrenztes Eines, vielmehr so etwas wie ein Feld, ein Bereich, ein an ihm selbst Unbestimmtes ist. Wenn wir über ein Unbestimmtes sprechen wollen, müssen wir es gleichwohl irgendwie beschreiben, dabei aber im Blick behalten, daß jede spezifische Kennzeichnung immer bloß eine Perspektive zur Sprache bringt. Nur eine Konstellation mehrerer Momente trifft die Sache »Erde«. Ich zitiere aus dem 29. Homerischen Hymnus An Allmutter Erde (7.-5. Jahrhundert v. Chr.) und nehme diesen Text nicht als Beispiel für ein mythologisches Verständnis – was er natürlich auch ist –, sondern als eine Beschreibung, die zugleich auf den weiteren Bereich dessen, was »Erde« bedeutet, verweist. Fast alle der zuvor angeführten Bedeutungen sind hier expliziter oder impliziter mit angesprochen: »Die Erde will ich besingen, die Allmutter, die fest begründete, die älteste aller Wesen. Sie nährt alle Geschöpfe, alle, die auf der göttlichen Erde gehen, alle, die in den Meeren sich regen und alle, die fliegen. Von ihrer Fülle leben sie alle. […] Sei gegrüßt, Mutter Erde, Gattin des gestirnten Himmels.«

Ich gebe dem Ensemble der Bedeutungen von Erde, das wir unbe­ stimmt vor Augen haben, wenn wir von der Erde sprechen, einen einheitlichen Namen, der keine Definition, sondern nur eine Anzeige

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oder ein Hinweis sein will: irdische Erde. Was ich mit dieser tau­ tologisch erscheinenden Formulierung – irdische Erde – betonen will, ist die unmittelbare Dieshaftigkeit und Hiesigkeit der Erde. Die Kennzeichen »dieshaft und hiesig« werden insbesondere an den Gegensatzbegriffen des Wortes »irdisch« deutlich. Das Nicht-Irdische ist das Jenseitige, Überirdische, Spirituelle, Geistige, Unvergängliche. Entsprechend ist das Irdische diesseitig und hier gegeben, sinnlichstofflich, vergänglich. Von der Betonung des Irdischseins der Erde her wird verständ­ lich, warum es in der traditionellen abendländischen Philosophie keinen Platz für die Erde gab. Indem sie die allgemeinen Grund­ bestimmungen und Kategorien alles Seienden zum Thema hatte, abstrahierte sie von den besonderen, das jeweilig Individuelle ausma­ chenden Eigenheiten. Nicht ein bestimmtes herrschaftliches Haus, ein bestimmter schwarzgelockter Mensch, eine bestimmte historisch gegebene Freiheit wurden befragt, sondern deren »was« wurde in seiner übergeordneten Allgemeinheit gesehen und untersucht. Das besagt für die Erde, daß sie von einer solchen Philosophie prinzipiell nicht in den Blick genommen werden konnte und kann. Die Erde, unsere Erde, ist ein Einzelnes und Besonderes, es gibt keine Vielfalt von »Erden«, die auf ein ihnen gemeinsames Eines und Wesenhaftes hin befragt werden könnte.147 Es gibt keinen einen Begriff von Erde, unter den diese eine, besondere Erde subsumiert werden könnte. Es gibt zwar den Begriff des Planeten, der wie für alle anderen Planeten auch für die Erde gilt. Die Erde als Erde aber ist singulär und individuell. Sie ist sowohl ein Einzelding wie ein Eigenname. Als unsere Erde ist und bleibt sie uns gegenüber zugleich etwas Eigenes, grundsätzlich Anderes. Die traditionelle Philosophie oder Ontologie hatte schon seit fast zweihundert Jahren, seit der Philosophie des Deutschen Idealismus und vor allem seit Hegel, ihre Verbindlichkeit weitgehend verloren. Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Dilthey, Husserl und die im weiteren Sinne zeitgenössischen Philosophen haben sich immer ent­ schiedener dem Seienden in seiner empirischen Besonderheit, und zwar insbesondere dem empirischen Menschen zugewandt.148 So kam es etwa für Kierkegaard darauf an zu verstehen, was es heißt, ein Die Erde gehört damit in jene merkwürdige Gruppe von »Dingen«, die in dem Sinne einzigartig sind, daß es sie nur einmal gibt, wie u.a. der (christliche) Gott, die Sonne (die unsere Erde bescheint), die Welt, die Menschheit. 148 Es ging nicht mehr um das Seiende als Seiendes. 147

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Mensch zu sein, aber nicht überhaupt ein Mensch, sondern du und ich, jeder von uns als je dieser. Adorno hat im vorigen Jahrhundert, ausdrücklicher noch als Heidegger, eine Hinwendung zum Besonderen, Zufälligen, »Onti­ schen« und zur Beziehung des Menschen zu ihm und inmitten seiner vollzogen. Mit dieser Wendung war insbesondere eine Beschäftigung mit dem Sozialen, Politischen als der – vermeintlich vorrangigen – condition humaine vorgezeichnet. Sartre, Derrida, Sloterdijk, Agam­ ben, um vier sehr unterschiedliche Autoren zu nennen, gehen in dieser Beziehung in eine ähnliche Richtung. Heute kommen wichtige philo­ sophische Denkanstöße von Soziologen – Rosa, Latour, Baumann etc. Im allgemeinen Bewußtsein ist, vor allem in Reflexionen, die sich um eine mögliche Zukunft der Menschen auf dieser Erde sorgen, mit den Menschen auch die Erde, auf der jene leben, ins Blickfeld gerückt. Ein eindrückliches Beispiel für eine neue Bekümmerung um die Erde und ihr Schicksal ist die Bewegung Fridays for Future und alles, was diese angestoßen hat. Dabei geht es nicht nur um die drohende Erd­ erwärmung, sondern z.B. auch um die rasante Abnahme der Pflanzenund Tierarten. Vorrangig wird die Erde jedoch als zu erhaltender Lebensraum des Menschen intendiert, als seine natürliche Umwelt. Dabei fußt diese Bekümmerung ersichtlich nicht auf einer abstrakten Bestimmung des Menschen, sondern auf seinem konkre­ ten In-der-Welt-Sein, und d.h. unmittelbar auf seinem Aufenthalt auf der Erde. In-der-Welt-Sein heißt auch Auf-der-Erde-Sein. Wird nach einer allgemeinen philosophischen Reflexion auf die Erde als mensch­ lichem Lebensraum gefragt, so wird man heute vor allem an Bruno Latour denken. Die Erde in dem von mir intendierten konkreten Sinne spielt in seinem Ansatz eine gewichtige Rolle. Die zu Beginn dieses Jahrhunderts von Paul J. Crutzen vorgeschlagene Kennzeichnung unseres gegenwärtigen Erdzeitalters als Anthropozän149 aufnehmend, weist Latour auf die gegenüber vergangenen Zeitaltern veränderte Bedeutung der Erde hin. Sie ist heute wesenhaft, bis hin zu ihrer geologischen Zusammensetzung, durch menschliches Handeln und Produzieren bestimmt und geprägt. Latour nennt sie das Terrestrische und versteht sie als »neuen Polit-Akteur« und zugleich ausdrücklich auch als Teil des menschlichen Handelns. Der so verstandenen Erde

Es ist erstaunlich, wie schnell und in wie vielen Bereichen sich diese m.E. problematische Kennzeichnung durchgesetzt hat.

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spricht er einen eigenen »Wirkfaktor« zu, demgemäß sie selbst »sich mit uns beschäftigt«.150 Man könnte dieses Sich-mit-uns-Beschäftigen der Erde vielleicht eine objektive Subjektivität – oder auch eine subjektive Objektivität – nennen. Latour intendiert mit seinen Überlegungen eine Theorie des tatsächlichen heutigen Menschseins. Für diesen Menschen stellt die Erde nicht mehr ein bloßes Objekt der Betrachtung dar, sie wird, mit Latours Worten, nicht mehr »von außen«, »vom Sirius her« gesehen. Das Moment des Terrestrischen ist für ihn eine Größe, der »Bodenständigkeit, Realität, konsistente Materialität« nicht mehr fehlen, der also »materielle und dauerhafte Existenz« zukommt (50). Die Erde ist kein »galileisches Objekt« und auch keine bloße, aus­ zubeutende Produktionsressource mehr, sondern sie hat selbst eine eigene »Prozeßnatur«, sie ist ein System, das mit allem Lebendigen »auf« ihr agiert und reagiert (88ff.). Ist dies nun die »irdische Erde«, nach deren philosophischem Verstehen ich frage? Anders gesagt: Ist dies die Erde, die etwa in einer altägyptischen Handschrift aus der späteren 19. Dynastie gemeint ist, wenn dort steht: »Man muß jeden Augenblick die Hand auf die Erde legen können wie der erste Mensch«? Oder auch die, die Benn im Sinn hat, wenn er schreibt: »Am schlimmsten: / nicht im Sommer sterben, / wenn alles hell ist / und die Erde für Spaten leicht.« Oder die, von der Nietzsches Zarathustra ausruft: »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu«. Oder schließlich auch die Erde von Goethes Prometheus, der Zeus herausfordert: »Mußt mir meine Erde / Doch lassen stehn, / Und meine Hütte, / Die du nicht gebaut«. Ich denke, daß sich die irdische Erde, die in diesen Zitaten zur Sprache kommt, grundsätzlich jeder und so auch der Latour’schen Theoretisierung entzieht. Wird sie in einem theoretisch-begrifflichen System erfaßt, so handelt es sich, wie materiell und wirkmächtig sie auch begriffen sein mag, nicht mehr um die irdische Erde, nicht um die Erde als Erde. Zudem frage ich mich, ob es nicht schon das grundsätzliche Ausgehen vom »Anthropozän«, also von einer menschlich erzeugten Erde, schwierig macht, sie als etwas an ihr selbst Eigenes, Fremdes zu erfahren. Muß das Irdische, wenn es als solches gedacht werden soll, nicht doch in irgendeinem Sinne ein – bloß nicht mehr zum Objekt zu machendes – grundsätzliches »Außen« (um den Latour’schen Begriff aufzunehmen) bleiben? Wenn auch ein Außen, 150

Das terrestrische Manifest, 51ff.

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dem wir Menschen zugleich doch auf rätselhafte Weise zugehören, insofern wir eben irdisch sind? Mit diesem Zweifel stellt sich dann allerdings die Frage, ob es überhaupt noch Sinn macht, nach einem Philosophieren über die Erde zu fragen, philosophisch von der Erde sprechen zu wollen. Verweisen wir uns hier nicht selbst über dessen Grenzen hinaus in einen Bereich des Unbegrifflichen, Bildhaften, Dichterischen? Doch – wo steht geschrieben oder wer hat dekretiert, daß es der Philosophie nicht erlaubt ist, den Weg des bildhaften Denkens zu gehen? Gibt es wirklich eine unüberschreitbare Grenze zwischen dem, was in der abendländischen Tradition Philosophie, und dem, was Dich­ tung genannt werden durfte? Man braucht nur unter manchen anderen an Goethe, an Hölderlin oder an Celan zu denken, um zu sehen, daß von der Dichtung her diese angebliche Grenze unbedenklich überschritten wurde und wird. Ich denke, daß ein angemessenes phi­ losophierendes Nachdenken über die Erde nur in der Weise geschehen kann, daß wir auf ihre begriffliche Erfassung verzichten, daß die ihr zugewandte Philosophie also aufhört, im traditionellen Sinne Philosophie zu sein, – auch die buddhistische Weisheit in Ostasien oder die Mystik in ihren verschiedenen Ausprägungen sind ja keine Philosophie im bisherigen abendländischen Sinne. Meiner Überzeugung nach ist die Erde eine »Sache«, die mit der herkömmlichen Philosophie nicht in den Blick zu bekommen ist, eine Sache also, die eines endlichen, erstaunenden, bildhaften Denkens bedarf. Einen entschiedenen Abschied von der »metaphysischen« Philosophie hat Martin Heidegger zu vollziehen versucht. Er hat sogar einen eigenen Vortrag mit dem Titel Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens geschrieben. Ob ihm mit seinem Denken des Seins der Abschied wirklich gelungen ist – ich würde sagen: nein –, mag dahingestellt bleiben. Aber Heidegger ist jedenfalls derjenige im weiteren Sinne zeitgenössische Denker, der in seinem Spätdenken das, was ich die irdische Erde nenne, ein Stück weit zur Sprache gebracht hat. Heideggers Abkehr von der Philosophie läßt sich als Wende vom »was-ist-etwas«- zum »wie-ist-etwas«-Denken kennzeichnen. Was etwas ist, sein substanziell verstandenes Wesen, danach fragte das metaphysische Philosophieren, dem es um das Eine, Bleibende und Unveränderliche in der Welt des Veränderlichen und Endlichen zu tun war. Das sich der konkreten, sinnlichen Welt selbst zuwendende Denken des späten Heidegger geht demgegenüber dem nach, wie

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etwas ist. Ich will dies an einigen Gedanken aus seinem Ding-Vortrag verdeutlichen und damit zeigen, wie hier die Erde und damit eine andere Art des »Philosophierens« ins Spiel kommt.151 Das Ding betrachtet der gleichnamige Vortrag im Ausgang von der Nähe. Die Nähe aber wird verstanden als ein Nähern und d.h. als eine Bewegung, als eine Grundbewegung der Welt. Wenn Heidegger in diesem Aufsatz vom Wesen der Nähe, vom Wesen des Dinges, vom Wesen von Welt spricht, dann spricht er gerade nicht vom unver­ änderlichen Wesen oder Wassein im traditionellen Sinne, dem, was wir gemeinhin meinen, wenn wir vom Wesen der Freiheit oder vom Wesen der Freundschaft reden, also von dem, was etwas, etwa Freiheit oder Freundschaft, in seinem innersten, unzerstörbaren Grund ist, als was es definiert werden kann. Das Wesen ist bei Heidegger vielmehr verbal verstanden, d.h. als ein Zeit-Wort, das ein Geschehen ausdrückt, diejenige Bewegtheit, als die die jeweilige »Sache« »west« und sich ereignet, d.h. ist, wie sie ist. Im strengen Sinne ist die Welt also ein Geschehen von Welt, ein »Welten«. Heidegger sieht die Nähe als ein wesentliches Moment dieses Geschehens der Welt. Im Folgenden geht er der Nähe nach, indem er nach etwas fragt, das in der Nähe ist, nach einem Ding, einem Krug152. Genauer fragt er nach dem, wie der Krug als dieses Krug-Ding ist oder west, also nach dem in ihm sich vollziehenden Geschehen. Fast könnte man die Frage so formulieren: Wie verhält sich ein Krug, was macht ein Krug, wenn er Krug ist? »Das Dinghafte des Kruges«, sagt Heidegger, »beruht darin, daß er faßt« (167), genauer, »in der Leere, die faßt«. Sie faßt, indem sie eine Flüssigkeit aufnimmt und behält, die zum Ausgießen, zum Ausschenken bestimmt ist. Das, was der Krug ist, vollendet sich im Ausschenken, das im Grunde ein Schenken ist. »Das Krughafte des Kruges west im Geschenk des Gusses.« Die Frage nach dem Krug als einem Ding in der Nähe führt zum Schenken. In diesem Schenken aber liegt für Heidegger ein Bezug zur Erde:

151 Mein Verständnis des späten Heidegger läßt bestimmte Momente seines Denkens außer Acht, nimmt dagegen andere wichtiger und bedeutsamer, als er selbst dies vermutlich getan hat. 152 Daß er gerade den Krug wählt, dafür gibt es vermutlich verschiedene Motivatio­ nen; eine mag sein, daß wir den irdenen Krug, also den aus Tonerde gemachten Krug assoziieren können, der als solcher schon auf die Erde verweist. Zum Krug vgl. auch den frühen Bloch, Adorno, Simmel.

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»Das Geschenk des Gusses kann ein Trunk sein. Er gibt Wasser, er gibt Wein zu trinken. / Im Wasser des Geschenkes weilt die Quelle. In der Quelle weilt das Gestein, in ihm der dunkle Schlummer der Erde, die Regen und Tau des Himmels empfängt. […] Im Geschenk von Wasser, im Geschenk von Wein weilen jeweils Himmel und Erde.« (170)

»Die Erde ist die bauend Tragende, die nährend Fruchtende, hegend Gewässer und Gestein, Gewächs und Getier.« (176) Das erinnert an die anfangs zitierte homerische Dichtung – »Sie nährt alle Geschöpfe, alle, die auf der göttlichen Erde gehen, alle, die in den Meeren sich regen und alle, die fliegen« –, erscheint hier jedoch nicht als Mythos, sondern als strenges Denken. Die Erde wird in Heideggers Sätzen durch eine Vielzahl von Verben – Tu-Wörtern, wie man früher gesagt hat – beschrieben, und auch die verwendeten Substantive sind zu einem guten Teil leicht in Verben zu überführen (Schlummer, Tau) oder weisen durch die Bildung mit dem Präfix Ge- auf ein Beziehungsgefüge hin (Gewässer, Getier). Es ist nicht möglich, die aufgereihten Kennzeichnungen in einem Gesamtbegriff zu fassen. Vielmehr könnten die unterschiedlichen Beschreibungen eher an Farben erinnern, die sich zu einem Bild, oder auch an Motive, die sich zu einer Erzählung zusammensetzen. Die Erde ist, mit den Worten des Hymnus, »Gattin des gestirnten Himmels«. Bei Heidegger heißt es: »Im Wesen des Kruges weilen Erde und Himmel.« Für ihn gehören diese beiden, Erde und Himmel, mit zwei anderen Bereichen, denen der Sterblichen und der Göttli­ chen, in die einig-einheitliche Vierfalt der Welt zusammen. »Die Erde ist nur Erde als die Erde des Himmels, der nur Himmel ist, indem er auf die Erde hinabwirkt.«153 Der Himmel ist jene ferne und zugleich nahe Grenze, zu der wir aufblicken und die uns doch auch umgibt. »Die Erde ist angefüllt mit Himmel«, hat die englische Dichterin Elizabeth Barrett Browning einmal geschrieben.154 Wir Menschen leben im Zwischen von beiden. Leibhaft sind wir irdisch, materiell; zugleich tragen wir mit unseren Ideen und Gedanken, Träumen und Imaginationen, mit unserer Freude und unserer Trauer den Himmel in uns, den Himmel mit seinen Wolken und Winden, seiner Sonne und seinem Mond und seinen Sternen.

Heidegger, Hölderlins Erde und Himmel, 161. Obgleich sie mit dem Himmel wohl Gott meint, können wir diesen Satz auch für uns sprechen lassen. 153

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Das Verhältnis zwischen dem sogenannten Materiellen und dem sogenannten Ideellen oder Geistigen gehört zu den größten Proble­ men der Philosophie überhaupt.155 Die Betonung der irdischen Erde scheint den Himmel als unirdisch zu implizieren. Gleichwohl haben Erde und Himmel aneinander teil, u.a. in dem, was sie beide jeweils als Bewegung, als Sich-Verhalten, als Tun sind. Beide werden auf unterschiedliche Weise als befruchtend und nährend, als tragend und umfassend angesehen. Hölderlin spricht einmal die Bäume an: »ihr Herrlichen«, ihr »gehört nur euch und dem Himmel / Der euch nährt’ und erzog, und der Erde, die euch geboren.« (Die Eichbäume). Himmel und Erde bilden keinen Gegensatz, bzw. einen Gegensatz, bei dem die äußerste Ferne zugleich äußerste Nähe, das räumliche Gegeneinander ein qualitatives Ineinander und Miteinander zuläßt. In vielen Mythen und Dichtungen sind sie immer wieder als ein Brautpaar gesehen worden – »es war, als hätt’ der Himmel / die Erde still geküßt, / daß sie im Blütenschimmer / von ihm nun träumen müßt’«.156 Ich zitiere aus dem 1844 veröffentlichten Vormärz-Drama Orla von Albert Friedrich Benno Dulk.157 In einem Gespräch zwischen dem Beichtvater Rezzi und Orla fragt der erstere: Du glaubst an keinen Gott, an keinen Himmel; Da ist die Erde nur und Alles irdisch: Ist denn auch das, was in dir denkt und fühlt, Ist denn auch deine Seele erdgeboren? Und Orla antwortet: Sahst Du schon eine Seele, die nicht irdisch, Nicht Leib war?.. Was da denkt, bin ich’s nicht selber, Der erdgeschaff’ne Mensch?! […] Ja, ich erkenne mich als Sohn der Erde; […] Denn, wenn der Leib, der erdgeborne, lebt, Sich regt und handelt, eine Welt des Schaffens, Warum soll da nicht.. wie dem Pflanzenleben

Auch in den verschiedensten Gebieten der Wissenschaften wird heute versucht, das Ineinander-Verwobensein der sinnlichen und unsinnlichen Momente der Welt und entsprechend des Menschen selbst besser zu verstehen. Ich erinnere nur an den Begriff des Psychosomatischen. 156 Joseph von Eichendorff, Mondnacht. 157 Albert Friedrich Benno Dulk, Orla. Dramatische Dichtung. 155

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Als Geist sich zarter Blumenduft enthebt Des Leibes Thätigkeit, der Sinne Regen, Sich eine Welt gebären, die wir Seele, Die Geist wir nennen […] – ein Gedanke, wie aus der »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer, hundert Jahre vor der Zeit. Heidegger hat eine Bemerkung von Johann Peter Hebel ange­ führt und ausgelegt, die die Menschen in dem Miteinander von Erde und Himmel beheimatet sein läßt: »Wir sind Pflanzen, die – wir mögen’s uns gerne gestehen oder nicht – mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Äther blühen und Früchte tragen zu können.«158 Heidegger erläutert: »Die Erde – dieses Wort nennt in Hebels Satz alles das, was uns als Sichtbares, Hörbares, Fühlbares trägt und umgibt, befeuert und beruhigt: das Sinnliche. / Der Äther (oder Himmel) – dieses Wort nennt in Hebels Satz alles das, was wir vernehmen, aber nicht mit den Sinnesorganen: das Nicht-Sinnliche, den Sinn, den Geist.«159 Das Sinnliche auf der einen Seite und der Sinn auf der anderen. Nicht nur sprachlich zeigt sich die enge Zusammengehörigkeit beider und damit die Fragwürdigkeit der Rede von »Seiten«. Das befeuernde und beruhigende Sinnliche ist nicht sinn-los, und der Sinn manifes­ tiert sich in auch sinnlich Wahrnehmbarem. Selbst die Identifizierung des Irdischen mit dem Sichtbaren und des Himmlischen mit dem Unsichtbaren – z.B. bei Rilke oder bei Hölderlin – trifft nur bedingt: Auch die irdischen Düfte etwa sind unsichtbar, auch die himmlischen Wolken sind sichtbare Erscheinungen des Himmels. Wir können in spezifischen Kontexten von einer himmlischen Erde oder einem irdi­ schen Himmel sprechen. Nur wenn wir diese innige Verschränktheit beider im Blick behalten, können wir auch die gleichwohl bestehende qualitative Differenz von Irdischem bzw. Leiblichem und Himmli­ schem bzw. Geistigem ernst nehmen. Zu der engen Beziehung beider gehört auch ein Zueinanderwol­ len, eine Zu-neigung im wörtlichen Sinne, wie sie sich in der Rede vom Brautpaar niederschlägt. Ausdruck dieser innigen gegenseitigen Beziehung ist für Heidegger die Sprache: »Das Wort durchmißt als der sinnliche Sinn die Weite des Spielraums zwischen Erde und 158 159

Hebel – der Hausfreund, 37. Vgl. hierzu Verfasserin, u.a. Unter anderem: die Dinge, 132.

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Himmel.« (a.a.O., 38) Das können wir in zweierlei Weise verstehen. Zum einen im Sinne eines Zwiegesprächs von Himmel und Erde. Hölderlin spricht diesbezüglich vom »Tönen«: »Fernher, am Tosen des Himmels / Tönt wie der Amsel Gesang / Der Wolken heitere Stimmung« und »darauf / Tönend, wie des Kalbs Haut / Die Erde«.160 Zum anderen kann aber auch die menschliche Stimme, zumal der dichterische Gesang, als »Vermittlerin« zwischen Erde und Himmel verstanden werden. Und dies eben darum, weil die Sprache selbst sinnlich und sinnhaft ist. Heidegger sagt: »Daß die Sprache lautet und klingt und schwingt, schwebt und bebt, ist ihr im selben Maße eigentümlich, wie daß ihr Gesprochenes einen Sinn hat.«161 Etwas später heißt es: »Wiederum erscheint das Wort […] als die Gegend, die Erde und Himmel, das Strömen der Tiefe und die Macht der Höhe, einander ent-gegnen läßt«. Rilke begreift dieses »Vermitteln« der Sprache als ein Verwandeln des Sinnlich-Sichtbaren ins Unsichtbare. In einem Brief schreibt er 1925, drei Jahre nach dem Abschluß der Duineser Elegien: »Unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ›unsichtbar‹ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.« In der 9. Elegie lesen wir: Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn? — Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? — Erde! Unsichtbar! Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag? Erde, du liebe, ich will. Und ebenfalls in der 9. Elegie heißt es dann sehr deutlich: Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern ein erworbenes Wort, reines, den gelben und blaun Enzian. Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, – höchstens: Säule, Turm … aber zu sagen, verstehs, oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein. 160 161

Griechenland, 3. Fassung. Das Wesen der Sprache, 205.

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»Erde, ist es nicht dies, was du willst« – »Erde, du liebe, ich will.« Das Wollen des Dichters erfüllt das Wollen der Erde. In dem zitierten Brief spricht Rilke sogar von einer »Aufgabe, […] neben der keine andere, wesentlich, besteht«. Die Erde ist »die Allen unsägliche«, – und doch ist sie sagbar im Wort. Im Gedicht kann sie ausgesprochen und angesprochen werden. »Die Erde liebt uns. Sie freut sich, wenn sie uns singen hört«, das ist ein Ausspruch der Blackfoot-Indianer. Die Dinge, die sichtbaren – irdischen, himmlischen, menschlichen – Dinge wollen hörbar werden im menschlichen Sprechen. Das Sagen der Erde beschränkt sich nicht darauf, daß sie gedichtet wird. Sie ist auch zu denken. Sie kann nicht in der Weise theoretischer Durchdringung und begrifflicher Bestimmung erfaßt werden. Sie ist, wie vorhin gesagt, nicht identifizierbar, bestimmbar, definierbar. Sie bleibt unsäglich. Denkend wird sie gleichwohl gesagt, indem sie als Horizont oder Rahmen, als Raum dessen erscheint oder durchscheint, was wir an Jeweiligem zu denken haben, worauf wir uns jeweils in seinem »wie es ist« einlassen. Ich denke, daß wir auch hier von einem Wollen der Erde reden können. Sie will in allem, was wir philosophierend denken, mitgedacht werden, eben indem wir alles uns Umgebende und uns selbst als irdisch, als diesem fremden und fremd bleibenden »Ding« Erde zugehörig denken.162 Das entsprechende Denken ist im Wesentlichen kein linear vor­ anschreitendes, argumentierendes, im traditionellen Sinne philoso­ phierendes. Es nähert sich seiner Sache von unterschiedlichen Blick­ punkten her, erfaßt sie manchmal, indem es an ihnen vorbeischaut, es erkundet Umgebungen und verfolgt Sonderwege, es vertraut Ein­ fällen und entdeckt Zusammenhänge, läßt sich auf Einzelnes und Ich habe seit vielen Jahren das in engerem Sinne begriffliche und theoretische Schreiben hinter mir gelassen und aufzuzeigen und zu beschreiben versucht, wie wir unser In-der-Welt-Sein erfahren. Der Begriff oder das Wort »Erde« kommt dabei selten vor. Unausdrücklich ist sie aber in vielfacher Weise präsent. Wenn ich das Denken als ein bildhaftes oder auch ein landschaftliches verstehe, so ist in beiden Bezeichnungen wesentlich die Erde mit impliziert. Ich habe etwa über das Wohnen und Wandern geschrieben. In ihrer Verschränkung machen Wohnen und Wandern das Sein des Menschen auf dieser Erde aus, ohne sie, die ihnen ihren Ort gibt, sind sie gar nicht zu denken. In dem Buch Weile und Weite unternehme ich es, auf unterschiedlichen Wegen und oft im Ausgang von literarischen Zeugnissen, unsere nicht messende und kalkulierende, nicht quantifizierende Erfahrung der Zeit und des Raumes zu erörtern. Es sind irdische Zeiten, während deren wir zögernd verweilen oder etwas kaum mehr erwarten können, es sind irdische Räume, die durch unser Sehnen zugleich unendlich weit und doch unendlich nah erscheinen. 162

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Besonderes ein. Darum habe ich es zuweilen ein landschaftliches Den­ ken genannt, ein Denken, das sich auf seinen jeweiligen Gegenstand wie auf eine Landschaft bezieht, von verschiedenen Perspektiven aus, mal von ganz nah und mal aus der Ferne, mal als zu etwas Vertrautem, Bekanntem und mal als zu etwas Fremdem und Erstaunlichem. Die Erde ist bei all dem immer schon präsent, als je Hier und Dort, Jetzt und Dann, als jeweils selbe und uns immer schon vertraute wie zugleich als jeweilig uns gegenüber andere und fremde. Nicht als Gegenstand des Denkens, sondern als sein Mitspieler. Wollen wir wirklich denkend in die Nähe der jeweiligen Sache kommen, müssen wir unser Ohr für die Weise öffnen, wie sie selbst sich ausspricht, wie sie selbst sich in die Welt hinein zeigt, – und das bedeutet umgekehrt, daß wir sie nicht mit unseren eigenen Vor­ aussetzungen und Vorurteilen, unseren Vorstellungen und Begriffen zudecken sollten. Sowohl das technische Verhalten wie das wissen­ schaftliche Entwerfen und Vorstellen konstruieren und konstituieren ihre Welt und die in ihr vorkommenden Gegenstände von sich aus. Darin liegen ihre spezifische Macht und ihre Mächtigkeit und die Möglichkeit ihres praktischen Erfolgs. Das Medium jenes Denkens und Verhaltens war der logos, der Begriff, der das Allgemeine und Wesenhafte seiner Gegenstände und damit die Wahrheit erkennt. Dem allgemeinen Wesen zuliebe sieht der Begriff ab – abs-trahiert – von den Zufälligkeiten und spezifischen Eigenheiten, die dem zu Erkennenden dann und wann, hier oder dort zukommen mögen. Er will vielmehr das dem Vielfälti­ gen Gemeinsame und es allgemein Kennzeichnende herausstellen. Der Begriff des Lebendigen z.B. grenzt dieses ab gegenüber dem Leblosen und zeigt die wesentlichen Bestimmungen des Lebens auf; er interessiert sich nicht für ein spezifisches Raubtier im Zoo, das an den Gitterstäben seines Käfigs hin- und herstreicht. Die Begriffe im strengen, traditionellen Sinne lassen uns im Gegensatz zu Bildern nichts sehen. Im Begriff des Panthers, wie er in einem zoologischen Lehrbuch vorkommt, sehen wir keinen Panther; ebenso wenig sehen wir z.B. etwas in dem ontologischen Begriff »Substanz«. Demgegenüber malt das Wort der Dichtung jeweils ein Besonde­ res. Rilkes Gedicht von dem Panther, dessen Blick »vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden [ist], daß er nichts mehr hält«, läßt sich im Gegensatz zum begreifenden Erkennen auf die unmittelbare Erfahrung ein. Auch ein anderes, besinnliches Denken, das sowohl sinnlich oder bildhaft zu nennen wäre, steht von vorneherein auf

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der Seite des Vergänglichen. Es subsumiert seine »Sachen« nicht mehr unter die Allgemeinheit einer Merkmalseinheit oder einer Wesensbestimmung, sondern es hört und spürt ihren Besonderheiten nach, sucht sie innerhalb der Welt auf, die die Welt der Menschen und ihres Wohnens ist. Eben dadurch vermag es dem näherzukommen, was Menschsein auf dieser Erde und unter diesem Himmel besagt.163 Sein Sprechen bedient sich der Geschichten und der Bilder, ohne deswegen die Begriffe überhaupt aufzugeben. Diese werden vielmehr verändert, sie bekommen selbst einen bildhaften Charakter.164 Die Gelassenheit und das gelassen-besinnliche Denken umfas­ sen auch unseren Bezug zur wissenschaftlich-technischen Wirk­ lichkeit. Aber das Verhalten und die Einstellung, die diese uns aufzuerlegen scheinen, die Grundmuster, die aus dem SubjektObjekt-Verhältnis folgen, sind in ihrer Begrenztheit zu sehen, als eine bewußt gewählte Möglichkeit zur Erreichung begrenzter Zwecke. Das natürliche Hineingehören in die Welt läßt sich dadurch nicht grundsätzlich in Frage stellen. Es ergibt sich, indem wir in die Welt hineingeboren werden, die wir ein- und ausatmen, die wir materiell und ideell in uns aufnehmen und aus uns sowohl hervorbringen wie ausscheiden. So künstlich auch immer unsere Lebensweise sein mag, die Speisen, von denen wir uns ernähren, die Stoffe, in die wir uns kleiden, die Mittel, mit denen wir uns bewegen, die Materien, die wir bearbeiten, und selbst die Gedanken, auf die wir kommen, – all das ändert nichts an der Tatsache, daß wir, solange wir überhaupt sind, als natürliche Wesen auf der Erde und unter dem Himmel wohnen, daß wir im wörtlichen Sinne »irdisch« sind. Ein neues Verhältnis zur Erde aufzubauen, heißt u.a., die falsch eingefahrenen Wege rückgängig zu machen, die ein freund­ schaftliches Miteinander bedrohen oder bereits fast unmöglich gemacht haben. Die mannigfaltigen Einschränkungen, die unbedach­ ten Mißachtungen, die unendlichen Verletzungen, die wir den mate­ Auch Heidegger ist in vielfältigen Zusammenhängen zumindest unausdrücklich von dieser Überzeugung ausgegangen. Z.B. in dem Vortrag Bauen Wohnen Denken, wo er das Geviert der Welt und den Aufenthalt der Sterblichen in ihm an einer durchaus hier und jetzt eine Stätte verstattenden Brücke aufzeigt und damit keineswegs lediglich ein Zukunftsbild auszumalen versucht. Heidegger spricht hier – auch – von der tatsächlichen Heidelberger Brücke, wie er an anderer Stelle von diesem bestimmten Krug handelt, der im Wirtshaus in Gebrauch ist, von diesem spezifischen Haus, in dem Freuden und Leiden beieinander wohnen. 164 Vgl. hierzu oben 43f. 163

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IV Philosophieren über die Erde

riellen und geistigen Gegebenheiten unserer Erde angetan haben, haben wir unserer eigenen vertrauten Welt angetan, weil wir dieses Vertrautsein selbst nicht wahrgenommen, uns der Zugehörigkeit zu ihr entfremdet haben, z.B. eben durch den – notwendig objektivie­ renden, d.h. Vertrautheit negierenden – Entwurf von Wissenschaft und wissenschaftlich praktizierter Technik. Wenn wir uns wirklich als Wohnende, als die Erde Bewohnende erfahren – und das heißt auch, wenn wir uns nicht als primär rationale, nicht nur als funktionierende, nicht als bloß produzierende Wesen begreifen –, dann haben wir keine gegenständliche Umwelt uns gegenüber, in die wir eingreifen und die wir so oder so, besser oder schlechter, manipulieren können oder sogar müssen, sondern dann gehören wir in eine Welt, und es wird absurd, uns gegen den Zusammenhang zu wenden, dem wir selbst zugehören. Die Erde, auf der wir wohnen, ist keineswegs eine heile Heimat. So erstaunlich schön sie im Wechsel der Wetter, der Landschaften, der Tages- und Jahreszeiten auch sein – und immer bleiben – mag, vor allem ist sie die von Menschen bewohnte und gezeichnete Erde, von Menschen, die sie, zumindest im Bereich unserer Zivilisation, zu einer Funktion ihrer weitgehend selbstbezogenen, auf Herrschaft, Machtzuwachs und Besitz ausgerichteten Bedürfnisse und Aktivitä­ ten gemacht haben. Wie früher schon angedeutet, bin ich jedoch davon überzeugt, daß es – und zwar auch heute schon – die Mög­ lichkeit zu einem gegenüber dem wissenschaftlich-technologischen Denken und den überkommenen alltäglichen Vorstellungen anderen Erfahren und Sprechen gibt. Nicht nur, weil anders gar kein kritischer, d.h. scheidender und unterscheidender Blick auf das technologische Vorstellen möglich wäre, sondern auch, weil es, recht besehen, unsere eigene Erfahrung ist, daß wir uns als in der Welt Wohnende und uns bei den Dingen Aufhaltende wissen und verhalten können. Wenn ich vom Wohnen auf der Erde spreche, dann meine ich vor allem dies, daß wir als irdische Wesen immer schon auf die Erde und ihr zugehören; auf der Erde wohnen, heißt, im Nehmen und im Geben eingebunden sein in die widersprüchliche Vielfalt des Widrigen und Guten, des Verkehrten und Richtigen, des Beschädig­ ten und Tröstlichen, das unsere Welt darstellt. Es heißt, uns mit kritischer Aufmerksamkeit und Gelassenheit, mit Phantasie und Ent­ scheidungsbereitschaft auf das einzulassen, was ein solches Wohnen von uns fordert.

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