Interesse und Moral: Gegenpole oder Bundesgenossen? [1 ed.] 9783428481521, 9783428081523

Kaum ein Gesichtswinkel hat den Blick auf die Beurteilung ethisch relevanter Zustände und Entwicklungen und die zu ihrer

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Interesse und Moral: Gegenpole oder Bundesgenossen? [1 ed.]
 9783428481521, 9783428081523

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WOLFGANG SCHMITZ • RUDOLF WEILER (Hg.)

Interesse und Moral

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 80

Interesse und Moral Gegenpole oder Bundesgenossen?

llerausgegeben von

Wolfgang Schmitz · Rudolf Weiler

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Interesse und Moral : Gegenpole oder Bundesgenossen? I Hrsg. von Wolfgang Schmitz ; Rudolf Weiler.- Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 80) ISBN 3-428-08152-8 NE: Schmitz, Wolfgang; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08152-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Nonn ftir Bibliotheken

INHALT Rudolf Weiler Vorwort .. . ...... . ...... . .. . . . .. ..................... . ... . . .. ....................

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Wolfgang Schmitz Zur Einführung: Das Interesse - Gegenpol oder Bundesgenosse der Moral? . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . .

9

Anton Rauscher Das Interesse - Die Wiederentdeckung und Klärung eines grundlegenden Begriffs für die moderne Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heinrich Schneider Der Interessenbegriff in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Schmitz Eigeninteresse - Gruppeninteresse - Gesamtinteresse. Das Eigeninteresse durch Lebenssinn und Institutionen legitim, effizient und unersetzlich . .. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . .

61

Ingeborg Gabriel Eigeninteresse und Moral. Der geschichtliche und kulturell-religiöse Begriffshorizont als Anfrage an die christliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Rudolf Weiler Zur ethischen Bewertung des Interesses, insbesondere in der Wirtschaft .... . ....... ...... .... . .. . . . ... ...... .. ..... .. . .. . . . . ... . . . .. . .. . . ... . .. ... . 123

J ohannes Schasching Interesse und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Erich Streißler Interesse und Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Alfred Klose Gruppeninteresse und Gemeinwohl .... . .. ... . . . . . . ... . . .. .. . . . . ... . . ... .. 183

Inhalt

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Ferdinand Reisinger Eigenes im Gemeinsamen oder: In der Spannung zwischen Eigeninteressen und Gemeinschaftsinteresse (Fragmentarische Überlegungen basis-sozio-ökonomischer Art) ..................... .. ........ . ...... . ... . . .. 193 Laszl6 Boda Eigeninteresse und Nächstenliebe ......... .. .. . ..................... . ...... 205 Heinrich Schneider Vermächtnis und Auftrag des Liberalismus in christlicher Sicht . . .. 215 Karl Korinek Die berufliche Interessenvertretung im Dienste des Gemeinwohles. Die Kammer-Selbstverwaltung in der freiheitlichen Demokratie 237 Valentin N. Pessenko Interesse und Moral aus neuer russischer Sicht

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J ohannes Kazutoshi Sugano und Yukio Masubuchi

Die Problematik des Interesses im japanischen Denken

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Die Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

VORWORT Die Johannes-Messner-Gesellschaft in Wien freut sich, hiermit den zweiten Band in der Folge einer vor drei Jahren begonnenen Symposienreihe zu veröffentlichen. Wir verweisen bei dieser Gelegenheit auf den 1993 von Werner Freistetter und Rudolf Weiler herausgegebenen und im Verlag Duncker & Humblot erschienenen Band "Die Einheit der Kulturethik in vielen Ethosformen", der das erste Symposium dokumentiert. Wir danken dem Verlag für die neuerliche Übernahme der Publikation des Symposiums, das im Februar 1993 in Wien stattgefunden hat. Die Reihe der Symposien wird mit einer dritten Veranstaltung im Herbst 1995 in Japan über Einladung der dortigen Johannes-Messner-Gesellschaft weitergeführt. Bei dieser Gelegenheit bedanken wir uns auch für die Mitarbeit und finanzielle Unterstützung dieser Publikation durch die Kollegen der japanischen Schwestergesellschaft. Unser besonderer Dank gilt dem Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung für die großzügige Hilfe bei der Drucklegung dieses Bandes. Unser weiterer Dank gilt dem Verleger, Herrn Prof. Norbert Simon, und dem Ersten Hersteller des Verlages, Herrn Dieter H. Kuchta. Wien, im August 1994

Wolfgang Schmitz

Rudolf Weiler

ZUR EINFÜHRUNG: DAS INTERESSE - GEGENPOL ODER BUNDESGENOSSE DER MORAL? Von Wolfgang Schmitz Kaum ein Gesichtswinkel hat den Blick auf die Beurteilung ethisch relevanter Zustände und Entwicklungen und die zu ihrer Korrektur wünschenswerten menschlichen Verhaltensweisen in Vergangenheit und Gegenwart mehr irritiert als der Gesichtswinkel des "Interesses", sowohl auf der Seite ethisch Postulierender sowie auch auf der Seite potentieller Adressaten ethischer Postulate. Nach dem "Großen Brockhaus" bedeutet das Wort "Interesse" : "Anteilnahme, Neigung, Aufmerksamkeit, aber auch Nutzen, Vorteil (,in jemandes Interesse') . . . Soziologisch heißt Interesse zweckgebundenes Streben von Einzelnen oder kollektiven Subjekten; in dieser Bedeutung wirken Interessen bewußt oder unbewußt als Antriebskräfte in Geschichte und Gesellschaft" 1 . Es gehört zu den sozial interessantesten Phänomenen, was aus diesem an sich wertneutralen Begriff im Zusammenhang mit der Wertung konkreten menschlichen Handeins oder Unterlassens geworden ist. Die Bedeutung des Wortes "Interesse" rangiert heute vom Gegenpol schlechthin gegenüber ethisch postulierten Rücksichtnahmen auf andere bis zur verständnisvollen Legitimation für das Fehlverhalten von Adressaten ethischer Postulate. So wurde zum Beispiel das Eingreifen der USA im Rahmen der Weltpolizeiaktion der UNO im Golfkrieg 1991 mit Hinweis auf ihre Erdölinteressen in Kuwait "entlarvt" und ihr viel geringeres und späteres Engagement im Bosnien-Konflikt mit dem Fehlen von solchen Interessen entweder erklärt oder gerade deshalb scharf kritisiert. Ein ehemaliger hochrangiger israelischer Politiker und Diplomat glaubte aufgrund seiner an sich sehr informativen Analyse der erfolgversprechenden Friedensbemühungen im Nahen Osten zu Jahresbeginn 1994 bedauernd feststellen zu müssen, daß der Friedensprozeß "bisher ein Sieg- nicht für Gewissen und Tugend, sondern für den wechselseitigen Eigennutz" war.

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Brackhaus Enzyklopädie, Neunter Band, Wiesbaden, 17. Aufl. 1970, S. 168.

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Die nicht weiter hinterfragten Worte Jeremy Benthams, daß der Staat keine Moral, sondern nur Interessen habe, werden in dieser Hinsicht je nach dem Standort des Beobachters entweder verständnisvoll positiv oder anklagend negativ zitiert. Im Bereich der katholischen Pastoral und Tugendlehre gilt das eigene Interesse oft als gewissensbelastend, so daß sich z. B. ein offenkundig moralisch vorbildlicher ehrenamtlicher Mitarbeiter in einem Heim zufluchtsuchender Frauen der Ehrlichkeit halber zu dem "Eingeständnis" genötigt sieht: "Ich gebe zu, da ist auch ein bißchen Eigennutz in meinem Beiseldienst." Sein Eigennutz besteht darin, daß er dabei aus den Lebenserfahrungen von Menschen lernen kann, die viel durchgemacht haben, sodaß er darüber mit seinen Schülern im Religionsunterricht sprechen kann, die er für die Sorgen und Nöte der sozial Schwachen sensibilisieren möchte! 2 Auf der Linie der inzwischen desillusionierten Vorstellungen des Kollektivismus lag nicht nur die schon verbal verzeichnete Gegenüberstellung von "Einzelinteresse" und "Gemeinwohl" , sondern auch die generelle Behauptung des Vorranges des Letzteren, ungeachtet des Umstandes, daß es sich dabei um eine Abwägung des Wohles vieler einzelner Menschen gegenüber Zuständen auf verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Kooperation handelt. Eine im ethischen Anliegen unter Umständen vielleicht berechtigte, in der Sprache als Verständigungsmittel aber desorientierende Praxis hat sich zum Beispiel in der Bezeichnung eines häufigen Interessenkonfliktes als Gegenüberstellung von "Wirtschafts-Interessen gegen Menschen-Rechte" 3 eingebürgert. Ist die Bezeichnung vom angenommenen ethisch negativen Gebrauch von Rechten als "Interessen" und die Bezeichnung der als ethisch positiv angenommenen Interessen als "Rechte" wirklich einer ethischen Beurteilung der Konflikte zwischen ökonomischen Interessen und von Konflikten zwischen Menschenrechten, erst recht zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Menschenrechten dienlich oder nicht eher hinderlich?- Soll die Sprache als Weg zur Klärung von Sozialkonflikten dienen oder als Waffe für polemisch vorweggenommene eigene ethische Standpunkte? Liegt nicht auch der Gebrauch der Sprache als Waffe statt als Verständigungsmittel der Feststellung eines sehr geschätzten Pastoraltheologen zugrunde, die Kirche wäre nur ihrem eigenen Auftrag und keiner Interessengruppe verpflichtet, statt ganz einfach zu sagen, daß die Kirche natürlich 2 Sylvia Klien, Beiseldienst als Psychohilfe, in: Zeitschrift Caritas, Jänner 1994, S. 10 u . S. 11 3 ÖlE - Österreichischer Informationsdienst für Entwicklungspolitik, Wien, ÖlEaktuell 14 I 93.

Das Interesse - Gegenpol oder Bundesgenosse der Moral?

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nur ihrem eigenen Interesse zu folgen hat und nicht dem irgendwelcher anderer gesellschaftlicher Gruppen? Unter der wohl selbstverständlichen Voraussetzung, daß die Kirche natürlich auch das Interesse hat, ihren Auftrag zu erfüllen. In einem an sich sehr begrüßenswerten Aufruf zur Beteiligung an der Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (EU) sollte der Sinn dafür geschärft werden, daß es dabei "jenseits von allen Kosten-Nutzen-Rechnungen im Kern um eine Gewissensentscheidung" geht. Könnten den Beteiligten die ernarmen Mühen und Belastungen, die mit dem Aufbau einerneuen effizienteren Kooperationsform der europäischen Völkerfamilie notwendigerweise verbunden sind, wirklich zugemutet werden, wenn davon nicht unverhältnismäßig höhere Nutzen erwartet werden könnten? Was kann ein verantwortungsbewußtes Gewissen anderes tun, als die damit voraussichtlich verbundenen Kosten und Nutzen gegeneinander abzuwägen? Und würde nicht überhaupt allzu häufig der Lösung auch einer moralischen Frage überzeugender und nachhaltiger gedient sein, wenn die regelmäßig verächtlich gemeinte Frage: "Was bringt's?" in ihrem tiefsten Ernst voll beim Wort genommen würde? Die Gewinn- oder gar Profitinteressen im marktwirtschaftliehen System werden aus kapitalismuskritischer Sicht seit eh und je als vermeintlicher Antipode zu einem Ordnungssystem mißverstanden, in welchem der Mensch im Mittelpunkt steht, ohne sich der Frage bewußt zu sein, wie denn anders heute gerade in einer solchen Wirtschaftsordnung die mit ihr verbundenen sozialen Funktionen erwartet werden können. Noch schlechter kommen die Gruppeninteressen davon, die oft vollends zwischen die Stühle des Einzelwohls und des Gemeinwohls zu sitzen kommen und- wegen ihrer spezifischen Form des Lobbyismus - auch in einem System sozialpartnerschaftlieber Problemlösungsansätze Verlegenheit bereiten, ganz zu schweigen vom Problem der Abgrenzung gegenüber dem wirtschaftlichen Marktwettbewerb auf der einen und mit dem System der parlamentarischen Demokratie auf der anderen Seite. Auf diese primär negative Sicht der organisierten Interessen wurde auch in der jüngeren wissenschaftlichen Theorie eingegangen. Neuestens wird vorrauging die Disfunktion von Interessengruppen analysiert 4 und diese Tendenz als für die neuere Literatur kennzeichnend gehalten, gegenüber der man früher mehr die positiven Funktionen von Interessengruppen bei der Artikulation und Aggregation von Interessen in den Vordergrund stellte 5 . 4

z. B. Mancur Olson, Towards a Theory of the Rent-seeking society, 1985.

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Die Olsonsche Theorie der Interessengruppen und der Neokorporatismus halten die Organisation von Partikularinteressen für umso schädlicher für die Volkswirtschaft, je enger die Interessengruppen definiert sind. Sie sehen aber immerhin in Absprachen von Spitzenverbänden (Sozialpartnerschaft) womöglich in einer Koordination mit der Regierung einen positiven Beitrag zur Lösung sozialer Konflikte. Angesichts öffentlicher Kritik an der Entwicklung der Österreichischen Realverfassung und ihrer auch international anerkannten Problemlösungskapazität sieht zum Beispiel Karl Korinekder auch Mitglied des Verfasssungsgerichtshofes ist - in den gesetzlich organisierten beruflichen Selbstverwaltungskörperschaften ("Kammern") eine notwendige Ergänzung zu den Gebietskörperschaften (Bund, Länder und Gemeinden) und schlägt ihre konsequente analoge Verankerung in der Bundesverfassung vor, wie aus seinem Beitrag zu diesem Band hervorgeht. Das wäre also eine dritte Ebene (als Politikberatung) neben den Problemlösungsinstitutionen in den politischen Parteien und den regional-föderativen Solidaritäten in Gesetzgebung und Verwaltung. Vor einem solchen Hintergrund oft hilfloser Begriffs- und Vorstellungsverwirrung entziehen sich nicht zuletzt Fragestellungen, die für die Zukunft einer organisierten Völkerfamilie von fundamentaler Bedeutung sind, einer operationalen Beantwortung wie z. B. die Frage, ob die heutigen internationalen Institutionen wie die der Vereinten Nationen, des Internationalen Währungsfonds oder des GATT eine Herrschaft der Starken über die Schwachen oder eine größere Machtkontrolle der vielen zur Eindämmung der Macht weniger sind. Damit steht oder fällt aber die Beurteilung der Struktur der heutigen internationalen Institutionen als brauchbare Ansatzpunkte für eine problemlösende Institutionalisierung der Völkergemeinschaft. 6

I. Polarisierung in der Kant'schen Pflichtenethik Diese Polarisierung von Interesse und Moral findet ihre Erklärung in der Entwicklung einer spezifischen Sicht der Ethik. Ein dafür entscheidender Ansatz mit nachhaltiger Wirkung war die strenge Auffassung Immanuel 5 z. B. Erich Weede, Stichwort "Interessensgruppen" in: G. Enderle u. a .(Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Herder, Freiburg-Basel-Wien 1993, Sp. 458- 466. 6 Vgl. z. B. R. Weiler, Internationale Ethik. Eine Einführung, Zweiter Band: Fragen der internationalen sittlichen Ordnung. Friede in Freiheit und Gerechtigkeit, Duncker und Humblot, Berlin 1989; W. Schmitz, Die Entwicklung der Konditionalität des Internationalen Währungsfonds zu einem ordnungspolitischen Instrument der Weltwirtschaftsordnung. Ein Beispiel für die Interdependenz ordnungsethischer Zielsetzungen auf internationaler und nationaler Ebene, in: K. Homann (Hrsg.), Perspektiven der Ethik 1: Theorie, Ordnungsfragen, Internationale Institutionen, Duncker und Humblot, Berlin 1994, S. 275-302.

Das Interesse- Gegenpol oder Bundesgenosse der Moral?

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Kants dessen, was als Moral bezeichnet werden kann. Kant hat in seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785) postuliert, daß "bei dem, was moralisch gut sein soll, es nicht genug (ist), daß es dem sittlichen Gesetz gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmäßige, mehrmalen aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird " 7 • Kant hat damit doppelt abgehoben vom moralischen Handeln aufgrund guter Zwecke: Durch die Einschränkung auf den guten Willen allein und auf das ausdrückliche Wollen, damit moralisch handeln zu wollen. Kurz: Was nicht ausdrücklich der Moral wegen, sondern bloß aus eigenem Interesse an einem Verhalten geschieht, ist nicht Moral. Es ist erstaunlich, wie diese Auffassung von Neigung (Interesse) und Moral als Gegenpole - wie die eingangs gezeigten Beispiele demonstrieren -auch heute noch die Sicht auf ethisch richtiges Verhalten verstellen. Ist es in den einzelnen Fällen ethischer Beurteilung der Verhaltensweise einzelner Menschen, einzelner Gruppen der Gesellschaft oder einzelner Staaten oder Staatengemeinschaften auch nur wirklich möglich, angesichts der regelmäßig mehrdimensionalen Vielfalt an Motivationen zwischen "Interesse" und der als Gegenpol dazu verstandenen "Moral" zu unterscheiden? Wie viele Mitglieder eines Organes einer Institution müssen in diesem Sinn allein "moralisch" motiviert sein, damit eine moralische Entscheidung derselben zustande kommt? Ist das sich aufopfernde Mühen eines Familienvaters, der für die Erhaltung der Seinen sorgt (an der er neben seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht doch wohl auch echtes persönliches Interesse hat), anders zu beurteilen, als wenn er dies ausdrücklich und bewußt tut, weil er damit einer moralischen Verpflichtung nachkommen will und nur deshalb? Oder die Mutter, die ihr krankes Kind aus emotionaler Mutterliebe pflegt, anders als die, die dies nur aufgrund einer rationalen Entscheidung moralischer Pflichterfüllung tut, womöglich aufgrund ihrer gesetzlichen Sorgepflichten nach dem ABGB? 8 Angesichts des Umstandes, wie die Kant'sche Moralauffassung heute immer noch auf viele und gerade moralisch Engagierte durchschlägt, überrascht es umso mehr, mit welcher Deutlichkeit diese restringierte Moral eines für die Entwicklung der Philosophie so bedeutenden Denkers heute von konsequent denkenden Sozialethikern abgelehnt wird.

7 I. Kant, Kritik der praktischen Vemunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hg. von Wilhelm Weischedel, Immanuel Kant Werkausgabe VII, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1974, S. 14 s Das ABGB ist das (österreichische) Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch.

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Schon die extremen und ersichtlich gekünstelten Beispiele, die Kant anführt, machen deutlich, daß seine Theorie, "bei Lichte besehen", geradezu "widerethisch" ist, meint z. B. der Wissenschaftstheoretiker Helmut Seiffert: "Denn eine Ethik, die jedes normale mitmenschliche Handeln als in Wahrheit egoistisch abwertet und nur Extremsitutationen übrig läßt, schlägt ins Gegenteil um: Aus extremer Selbstentäußerung wird extremer Egoismus, weil nicht mehr der Inhalt des Handelns, sondern nur noch die Bewahrung des Pflichtprinzips- und damit das ,Seelenheil' des Handelnden - zur Leitschnur wird." Kant mache Ethik nicht zum Werkzeug zum Wohle anderer, sondern nur zum Mittel zum Zweck zur Bildung der eigenen sittlichen Person. 9 Nicht minder eindeutig hatte auch schon Johannes Messner diese Moralauffassung zurückgewiesen: "Kants Ethik des Handeins aus bloßem Pflichtbewußtsein wird nicht zuletzt durch den schöpferischen Drang des Menschen in Frage gestellt. Unter Handeln aus Pflicht um der Pflichtwillen versteht Kant eines, das frei ist von emotionalen Motiven, z. B. natürlicher Neigung. Ähnlich verkennt die Ethik, die die ,Uninteressiertheit' als entscheidendes Kriterium für das gute Handeln ansieht, die Wirklichkeit der menschlichen Existenz." Pflicht allein sei zu wenig. 10 - Ist die Neigung eindeutig und überzeugend genug, dann ist das Bewußtsein, damit auch aus Pflicht zu handeln, nicht einmal notwendig, um eine Handlung zu einer sittlich guten zu machen. Eine ausdrückliche Wiederbesinnung auf die traditionelle Zweckausrichtung der Ethik gegenüber der antipodischen Sicht von Interesse und Moral markieren heute beispielhaft drei in wichtigen Fragen so unterschiedliche Sozialphilosophen wie Johannes Messner, Hans Jonas und Peter Singer.

Johannes Messner ist zunächst von einer werteneutralen Sicht des Interesse-Begriffs ausgegangen und hat darin eine Triebveranlagung des Menschen gesehen, der aufgrund der Wertschätzung für etwas zum Streben danach veranlaßt wird. Die kritische Haltung von Ethik und Gesellschaftslehre gegenüber einem individualistisch-liberalistischen Verständnis von Interesse als - vor allem katholischerseits - "gemeinwohlwidrigem Egoismus mit unberechenbarer Sprengkraft für die soziale Ordnung" war eine für Messner begreifliche Reaktion auf die Vorstellung von einem auf das Wirtschaftsinteresse reduzierten Menschen. Auf der anderen Seite aber sah Messner als Folge dieser kritischen Haltung, daß das Interesse als Grundbestand der Natur des Menschen fast 9 H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie Band 3, Verlag C. H. Beck, München 1985; 3. Kapitel Ethik, S. 62 f. 10 J. Messner, Widersprüche in der menschlichen Existenz. Tatsachen - Verhängnisse - Hoffnungen, Tyrolia Verlag Innsbruck-Wien-München 1952, S. 380.

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überhaupt nicht gewürdigt wurde. Er brachte die Grundbeobachtung der modernen realistischen Gesellschaftslehre zum Ausdruck, wenn er feststellte, daß der ganze Gesellschaftsprozeß tatsächlich nach der politischen wie nach der kulturellen, besonders aber auf der wirtschaftlichen Seite auf das Interesse zurückgeht: Die Menschen arbeiten in keinem Bereich in erster Linie um des Gemeinwohles willen, sondern aus Eigeninteresse an einer reichlicheren wirtschaftlichen und geistigen Lebenserfüllung. 11 Die Sittlichkeit definiert Messner mit der "Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken" 12 . Da die Übereinstimmung mit diesen "existentiellen Zwecken" doch den unmittelbaren Interessen des Handelnden dient und gleichzeitig moralisch ist, gibt es also zwischen dem Interesse an der Erfüllung existentieller Zwecke und der Absicht, sich moralisch zu verhalten, einen wesensbedingten und engen Zusammenhang, der dazu zwingt, die so definierten ("aufgeklärten" , "langfristigen", "wahren", "wohlverstandenen") Interessen als moralisches Verhalten zu akzeptieren. Das heißt sicherlich nicht, daß die Befolgung von menschlichen Interessen schlechthin mit moralischem Verhalten identisch ist, heißt aber immerhin doch wohl, daß das Verhalten, das den Interessen an der Erfüllung der existentiellen Zwecke folgt, per se moralisch ist. Soweit zwischen den Zwecken und dem Weg zu ihrer Verwirklichung ein notwendiger Sachzusammenhang besteht, liegt für Messner mit den existentiellen Zwecken als "Grundbegriff seiner Ethik" (NR, S. 42) in der "Sachrichtigkeit" als in dem von der "Natur der Sache" Geforderten, ein entscheidendes Kriterium für die Beurteilung ethischen Verhaltens (NR, S. 42). Mit dem Begriff der "existentiellen Zwecke", welche die einzelmenschliche und gesellschaftliche Existenzordnung einschließt, bleibt der Zweckgedanke in den Mittelpunkt der Naturrechtslehre Johannes Messners gerückt (NR, S. 47). Auch für den heute allgemein akzeptierten Sozialphilosophen Hans Jonas dient die Verantwortungsethik 13 einem sehr konkreten Zweck des Menschen: Jonas "entdeckt" damit, "daß nicht metaphysische Grübelei an sich" (obwohl sie "gewiß ihr eigenes Recht hat"), sondern "angstvolle Verantwortung für die gefährdete Sache die innerste Seele der Fragen ist" . Die Ethik dient dem Zweck der Erhaltung der natürlichen Ressourcen als Existenzba11 J. Messner, Stichwort "Interesse", in: A. Klose u. a. (Hg.), Katholisches Soziallexikon, Innsbruck-Graz, 2. Aufl. 1980, Sp. 1190- 1200. 12 J. Messner, Das Naturrecht, Duncker und Humblot, 7. Aufl., Berlin 1984, s. 41 ff. 13 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Suhrkamp Taschenbuch, st 1085, Frankfurt am Main 1984 (Ersterscheinung 1979).

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sis für den Menschen 14 . Fest steht für Jonas, "daß die Philosophie den neuen Auftrag nur in engster Fühlung mit den Naturwissenschaften aufgreifen kann, denn sie sagen uns, was jene Körperwelt ist, mit der unser Geist einen neuen Frieden schließen soll" (S. 32). Hans Jonas stellt diese Verantwortungsethik als "hart" der "Watte der guten Gesinnung" (der "untadeligen Absicht, aufseitender Engel zu stehen und gegen die Sünde zu sein") nicht ohne spöttischen Unterton gegenüber15. Zeigt diese Orientierung der von Jonas begründeten Ethik nicht tatsächlich die inhaltliche Überlegenheit des Zweckes eines ethisch zu beurteilenden Handeins (und damit des Interesses daran!) vor der formalen Absicht, moralischen Grundsätzen gehorsam zu sein? Auch wenn letztlich eine metaphysische Begründung ausbleibtl 6 , so zeigt doch der weltweite positive Widerhall, den Hans Jonas gefunden hat, die heutige Bereitschaft, existentielle Zwecke des menschlichen Lebens als rationale Begründung sittlichen Handeins oder Unterlassens zu akzeptieren. Auch ein anderer Vertreter der philosophischen Ethik der Gegenwart, der in anderen grundlegenden Fragen zu ganz anderen Antworten kommt als Messner oder J onas, macht den Zweck-Gedanken im Dienste des Lebenssinns zum Ausgangspunkt seines Systems: Peter Singer wendet sich gegen die von Kant hervorgehobene Absicht, moralisch zu handeln, als ausschließliches Kriterium der Sittlichkeit zuungunsten der Absicht, konkrete Zwecke zu erreichen. Er meint, daß. unser Ethikbegriff in dem Maße irreführend geworden ist, wie lediglich der Handlung um des rechten Tun willens ein moralischer Wert zugesprochen wird, ohne daß weitere Motive (z. B. persönliches Interesse welcher Art immer) eine Rolle spielen. Im Hinblick auf das Ganze der Ethik sollten wir - meint Singer - diesen Karrtischen Begriff der Ethik aufgeben. Man sollte sich bei der Suche nach rationalen Gründen für ethisches Verhalten nicht davon abbringen lassen, auch Gründe des Eigeninteresses anzunehmen. 17 Auch Singer sieht Fakten über die menschliche Natur, die uns davon überzeugen, daß Ethik und Eigeninteressen zusammenfallen können, wie z. B. das natürliche Gewissen, die Befriedigung der Neigung des Wohlwol14 H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts. Vortrag, gehalten am 25. Mai 1992 in München, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1993, S. 42. 15 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. S. 10. 16 Wolfgang Erich Müller, Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1988. 17 Peter Singer, Praktische Ethik, aus dem Englischen übersetzt von Jean-Claude Wolf, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1984, S. 283, S . 286 ff. (Original Cambridge University Press 1979).

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lens und des Mitgefühls; die Neigung, an Freundschafts- und Liebesbeziehungen teilzunehmen (S. 289 ff.). Obwohl Singer - inkonsequenterweise - die Sinnhaftigkeit des Lebens als ganzes leugnet, generalisiert er die Selbsterfahrung, daß "wir einen Sinn für unser Leben jenseits unserer Vergnügungen (suchen) und .. . darin Erfüllung und Glück (finden), daß wir tun, was wir für sinnvoll halten". Das passe zu unseren Alltagsbeobachtungen und stehe "im Einklang mit unserer Natur als entwickelte, zielbewußte Wesen". Auch die "klügeren Egoisten", die längerfristige Lebenspläne haben, die sich aber nur um ihre eigenen Interessen drehen, suchen letzten Endes darüber hinausgehenden Lebenssinn (S. 294 ff.). - Das längerfristige "Interesse" ist aber kein Gegenpol zum ethischen Handeln, sondern Ethik geht über das Interesse der einzelnen hinaus, schließt es also als lebenssinnvolles Interesse ein. Liegt da nicht die Konsequenz nahe, auch das Streben nach Erfüllen des Lebenssinns als Weg zum geglückten Leben als Interesse daran zu bezeichnen? Wie fundamental das Interesse des Menschen für seine Lebensfähigkeit heute ist, seinen Lebenssinn zu finden und nach dessen Erfüllung zu streben, hat Viktor Frankl aus eigener Erfahrung erkannt und lehrt dies als "Logotherapie" mit weltweiter Wirkung überzeugend. Für die Problemlösungskapazität der Ethik als dem Wissen über das richtige Verhalten des Menschen ist es sicherlich nicht ohne Bedeutung, daß so unterschiedlich in die Tiefe der Metaphysik gehende Sozialphilosophen im materialen Zweck und im Interesse daran neben oder vielleicht sogar ohne einer bewußten formalen Absicht, moralisch zu handeln, ein so entscheidendes Kriterium für ethisches Verhalten sehen, wie Johannes Messner mit seinen metaphysisch begründeten existentiellen Lebenszwekken des Menschen, Hans Jonas mit seiner Akzeptanz verbindlicher Konsequenzen allein aus der Tatsache menschlichen Lebens, wenn auch ohne metaphysische Begründung derselben, so wie Peter Singer, der den Lebenssinn des einzelnen Menschen, nicht aber den Sinn des Lebens als Ganzes akzeptiert. II. Neue Ansätze der Sozialwissenschaften

Die Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte haben Ansätze entwickelt, die es heute möglich machen, dem schiefen Spannungsverhältnis von Interesse und Moral mit neuen analytischen Methoden und normativen Wegen neu zu Leibe zu rücken: Nachdem die Stoßrichtung der Französischen Revolution auf Gleichheit aller Menschen die Entstehung von auf gleichen Eigenschaften der 2 Interesse und Moral

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Teilnehmer aufgebauten Institutionen (Nationen, Klassen usw.) zur Folge hatte, kam es nun zur Wiederentdeckung der Ungleichheit der Menschen 18 in Persönlichkeit, Verhaltensweisen und Intelligenz als Ansatz für eine Rückbesinnung, die aus der Sackgasse herausführen soll, in die die Entwicklung vom Individualismus zum Kollektivismus geführt hatte. Die (Wieder)Entdeckung des einzelnen Menschen als Person, das heißt als unwiederholbares, einzig mit Selbstzweck und mit Eigenverantwortung ausgestattetes Lebewesen, macht es möglich, im wie immer definierten "Wohl" der vielen einzelnen Personen in der Kette EinzelwohlGruppenwohl-Allgemeinwohl einen durchgängigen personalen Wert zu finden. Auch in der christlichen Moraltheologie ist der einzelne Mensch der Adressat der sittlichen Verpflichtungen. Seine Verantwortlichkeit gegenüber seinem Lebenszweck unterstreicht der neue "Katechismus der katholischen Kirche" unter Berufung auf das Zweite Vatikanum (Gaudium et spes 24,3): Der Mensch ist "auf Erden das einzige Geschöpf (... ), das Gott um seiner selbst willen gewollt hat" 19 . Die Sicht des neuen Institutionalismus macht es heute operational, die schwer greifbare Abstraktion des Begriffs "Gesellschaft" als komplexes Zusammenwirken konkret erlaßbarer Institutionen im mehrdimensionalen Bereich sozialer, das heißt menschlicher Spannungen zwischen unterschiedlichen Interessen der Beteiligten zu verstehen, und die Institutionen selbst als Regelsysteme, welche die darin Zusammenwirkenden durch Signale, Anreize und Sanktionen, durch Verzicht auf andere Alternativen zu einem zieladäquaten Verhalten veranlassen. In der neuen ökonomischen Erklärung menschlichen Verhaltens 20 wurden Methoden entwickelt, die es möglich machen, menschliches Verhal18 z. B. Hans Jürgen Eysenck, Die Ungleichheit der Menschen. Aus dem Englischen von Horst Dieter Rosacker, List-Verlag, München 1975; englisches Original "The Inequality of Men", London 1973; sowie Cyril D. Darlington, Die Wiederentdeckung der Ungleichheit. Aus dem Englischen von Monika Curths und Gerhard Steinborn, Umschau Verlag, Frankfurt am Main 1980; englisches Original "The Little Universe of Man", London 1978. 19 Katechismus der katholischen Kirche, R. Oldenbourg Verlag, München 1993, Ziff. 356; vgl. auch H. Rotter, Person und Ethik, Kunstwerk-Wien 1993. 2o z. B. Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, übersetzt von Monika Vanberg und Viktor Vanberg, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1982, (Originalausgabe: "The Economic Approach to Human Behavior", Chicago 1976); sowie Bruno S. Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete, Verlag Franz Vahlen, München 1990; Mancur Olson, Umfassende Ökonomie, aus dem Amerikanischen von Monika Streissler, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1991 (Encompassing Economics 1991).

Das Interesse - Gegenpol oder Bundesgenosse der Moral?

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ten auf den vielen sozialen Ebenen des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen wie auch des regionalen und globalen Bereichs einschließlich des Bereichs des ethischen Wohl- oder Fehlverhaltens zum Gegenstand rationaler, den ökonomischen Überlegungen analoger NutzenKosten-Vergleiche zu machen, wie sie letztlich auch ethischen Kalkülen zugrunde liegen müssen, wenn Fragen der ethischen Ordnung aufgrund von Vernunfteinsichten gelöst werden sollen. Wie immer dem sei: Die Philosophie, die Theologie und die Sozialwissenschaften unserer Zeit rücken das Interesse in ein konstruktiv positives Verhältnis zur Moral. Das" wohlverstandene Interesse" (J. Messner) ist kein Gegenpol zum ethischen Verhalten, sondern- im Gegenteil- als eine der menschlichen Natur immanente Kraft sein wichtigster und - im ganzen gesehen - sein unentbehrlicher Bundesgenosse. Vom "größten Glück der größten Zahl" der einzelnen Menschen bis zum kollektivistisch - totalitären Postulat "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" hat die Menschheit in den letzten zweihundert Jahren einen inhalts- und überraschungsreichen Lernprozeß durchlaufen, der es reizvoll erscheinen läßt, einen Beitrag zu einer Zwischenbilanz zu versuchen. Das alles hat die Johannes Messner-Gesellschaft veranlaßt, diesen Fragenkamplex zum Gegenstand eines Symposiums zu machen, das am 11. und 12. Februar 1993 in Wien-Neuwaldegg stattgefunden hat. Einige der dort für das Thema einschlägigen diskutierten Beiträge werden zusammen mit anderen in diesem Band publiziert, die den Versuch einer ordnungsethischen Konzeption des Zusammenwirkens institutionell abgegrenzter Interessen ergänzen. Die Beiträge von Autoren aus postkommunistischen Ländern wie aus Ungarn (L. Boda) oder Rußland (V. N. Pessenko) sowie aus einem ganz anderen Kulturkreis wie Japan (J. Sugano und Y. Masubuchi) sollen der Gesprächsanbahnung über das weltweit aktuelle Thema über den bisherigen Horizont hinaus dienen. Das weite Spektrum der übrigen Beiträge zeigt, in welche Richtungen sich die Teilnehmer des Symposiums angesprochen gefühlt haben und welche Fragestellungen mit dem zentralen und aktuellen Spannungsfeld Interesse und Moral als noch offen assoziiert werden. Nicht zuletzt wird mit dieser Publikation an ähnliche Intentionen angeknüpft, wie sie der Veröffentlichung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach "Selbstinteresse und Gemeinwohl" 21 zugrunde gelegen sind, der es um eine Klärung einiger grundlegender 21 Anton Rauscher (Hrsg.), Selbstinteresse und Gemeinwohl. Beiträge zur Ordnung der Wirtschaftsgemeinschaft, Duncker & Humblot, Berlin 1985.

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ordnungspolitischer Fragen unserer modernen Wirtschaftsgesellschaft, also einem, wenn auch besonders wichtigen Teilbereich einer freien Gesellschaft gegangen ist. Setzte sich diese Publikation mit den systemkritischen Vorbehalten auseinander, die im Vorwurf gipfelten, die gegebene Wirtschaftsordnung könne die sozialen und politischen Möglichkeiten eines größeren Maßes von "Humanität" nicht mehr ausschöpfen, so hat sich die vorliegende zum ebenso anspruchsvollen Ziel gesetzt, nach Elementen zu suchen, die die Problemlösungskapazitäten der Gesellschaft in allen ihren Bereichen einer rationalen Überprüfung zugänglich machen um damit dem vitalen wohlverstandenen Interesse als der dem Menschen eigenen Antriebskraft den unersetzlichen Platz zuzuweisen und damit der weiteren Erkenntnis und Entwicklung zu einer dem Mensch adäquaten Ordnung der Gesellschaft neue Energien zuzuführen.

DAS INTERESSE - DIE WIEDERENTDECKUNG UND KLÄRUNG EINES GRUNDLEGENDEN BEGRIFFS FÜR DIE MODERNE GESELLSCHAFT Von Anton Rauscher In der 1968 erschienenen Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Geburtstag schrieb Johannes Messner den Beitrag "Das Gemeinwohl im Laissez-fairePluralismus" . 1 Mit dieser Formulierung bezieht er sich auf den Titel eines Buches, das Briefs zwei Jahre zuvor herausgegeben hatte. 2 Darin analysiert Briefs "Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände". Mit scharfem Blick markiert er die Punkte im Funktionsgefüge des politischen und sozialen Systems der heutigen freiheitlichen Gesellschaft, die ihr zum Verhängnis werden können. Es ist die Gefährdung des Gemeinwohls durch die Interessenmächte und ihre Ausnützung des demokratischen Prozesses zu ihrem SondervorteiL Dies wird nach drei Seiten hin aufgewiesen: Erstens könne das Ausmaß des sonst möglichen Volkseinkommens nicht erreicht werden, weil die Interessenmächte mit ihren überzogenen Einkommensforderungen für konsumtive Zwecke die Produktivitätsquellen nicht zur notwendigen Ergiebigkeit kommen lassen; dies gehe zu Lasten der sozialen Gerechtigkeit. Zweitens werde der Staat für die Interessen der Wirtschaftsgesellschaft so sehr beansprucht und mit neuen Funktionen und Zuständigkeiten überlastet, daß Demokratie allmählich aufhört, Ausdruck der durch ihre Freiheit bedingten und diese mitbedingende Mitverantwortung aller Staatsbürger für die Gestaltung und Führung ihres Gemeinwesens zu sein. Drittens sei die Gemeinwohlentwicklung wesentlich beeinträchtigt, weil die Einkommenspolitik mit dem Auftrieb der Kosten eine allgemeine Preisbewegung nach oben verursache, die sich in Inflation auswirkt; die durch die Interessenverbände überforderten Staatshaushalte verstärken durch ihre Verschuldungspolitik ein inflatorisch aufgeblähtes Wachstum an Nonimalwerten anstatt an Realwerten, dessen innere Schwäche früher oder später zu schweren Rückschlägen führen und die Ordnung aushöhlen muß. 3 1 Johannes Messner, Das Gemeinwohl im Laissez-faire-Pluralismus, in: Soziale Verantwortung. Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Geburtstag. Hrsg. von J . Broermann und Ph. Herder-Dorneich, Berlin 1968, S . 121-138. 2 Goetz Briefs (Hrsg.), Laissez-faire-Pluralismus. Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1966.

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Diese Argumentation hat Messner beeindruckt und sie hat bisher nicht an Aktualität verloren. Aber in welcher Richtung soll die Lösung dieser Problematik gesucht werden? Briefs läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er die Lösung nicht in der Aufhebung des Pluralismus und in der Beseitigung der Verbände, wohl aber in der institutionellen Einbindung der Interessenmächte in die Gemeinwohlordnung erblickt. Es geht um die Überwindung des Laissez-faire-Pluralismus. An diesem Punkte setzen die Überlegungen Messners ein, die zu einer Wiederentdeckung und Klärung des Interesse-Begriffs im katholischen Raum geführt haben. Auf die Frage, wie das Laissez-faire, das die verbandspluralistische Demokratie beherrsche, überwunden werden könne, antwortet Messner mit einer verblüffenden Wendung: "Mit scheint, die Chance liegt im Interesse selbst, das für die Organisation der Gesellschaft in Verbänden bestimmend ist. Denn das Interesse ist einer der stärksten, vielleicht überhaupt der stärkste Anreger der Vernunft, wenn die Wahrheit der Dinge im wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft ihre unnachgiebige Wirklichkeit präsentiert. Diesem Stimulus der Vernunft kommt um so größeres Gewicht zu, als nicht das Gemeinwohl sondern das Einzelinteresse die eigentlichst bewegende Kraft des Gesellschaftsprozesses ist. Denn nicht um des Gemeinwohl willen gehen die Gesellschaftsglieder der Arbeit zum Erwerb eines Einkommens nach, sondern um die Mittel zur Befriedigung ihrer Interessen zu haben, darunter in erster Linie, um sich und den Ihrigen den Lebensunterhalt zu sichern und darüber hinaus ihren vielfältigen Wohlfahrtsinteressen genügen zu können. Für die verbandspluralistische Gesellschaft erhält das Interesse als erstbewegende Kraft des Gesellschaftsprozesses ein potenziertes Gewicht. Denn nicht nur ist die Gesellschaft nach Gruppen zur Wahrung je gemeinsamer Interessen organisiert, die Gruppen verwenden zu diesem Zweck auch politische und wirtschaftliche Macht." 4

3 Wolfgang Schroeder setzt sich in dem Buch "Katholizismus und Einheitsgewerkschaft. Der Streit um den DGB und der Niedergang des Sozialkatholizismus in der Bundesrepublik bis 1960" (Bann 1992) kritisch mit Goetz Briefs und seinem Einfluß auf den Katholizismus auseinander (S. 335- 348). Er nennt ihn einen "polarisierenden Theoretiker", weil er im Machtanspruch der DGB-Gewerkschaften eine typische Ausprägung des Laissez-faire-Pluralismus erblickte. Was Schroeder nicht wahrnimmt, ist in der Tat die Gefahr der Gruppeninteressen, die nach Briefs in allen Bereichen der Gesellschaft zu beobachten sind - und keineswegs nur bei den Gewerkschaften, auch wenn sie sich hier besonders gravierend a uf die Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft auswirken können. Wegen eines wohl ideologisch bedingten Standpunkts ist die Gefahr, die von Interessenmächten ausgehen kann, für Schroeder kein Thema. 4 Johannes Messner , a. a. 0 ., S . 124.

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I. Die traditionelle Kritik des Individualismus Die von Messner betonte Sicht des Interesses, und zwar des Einzelinteresses, steht, auch und gerade im Verhältnis zum Gemeinwohl, im Kontrast zu den Auffassungen, wie sie in den Dokumenten der katholischen Soziallehre und in der christlichen Sozialwissenschaft lange Zeit dominierten. Das Interesse wird als gleichbedeutend mit Vorteil und Nutzen angesehen. Seit dem Übergang ins 16. Jahrhundert bekommt, wie Volker Gerhardt sagt, der Begriff Interesse einen pejorativen Zug. Interesse steht für Eigennutz und Selbstsucht und gilt damit als Ausdruck der egoistischen Weltverfallenheit einer zunehmend von Handel und Geldverkehr abhängigen Menschheit. 5 Es erscheint als Ausfluß jenes individualistischen Geistes, der sich vor allem des Wirtschaftsliberalismus bemächtigt hat. Insofern wird Interesse als Gegensatz zum Gemeinwohl verstanden. Um diese Deutung richtig einordnen zu können, müssen wir uns den Kontext vergegenwärtigen, in dem diese Auffassung entstanden ist. Im 19. Jahrhundert war die sich immer schärfer abzeichnende "soziale Frage" die zentrale Problematik, die auch das christlich-soziale Denken bewegte. Sie hatte ihren Ursprung im Aufkommen der arbeitsteiligen und auf den Markt bezogenen industriellen Wirtschaft. Der Wirtschaftsliberalismus, der damals die bestimmende Kraft in der Politik, im Bürgertum und in der Wissenschaft war, erwies sich als unfähig, der "kapitalistischen Wirtschaftsweise" soziale Strukturen einzuziehen und eine Ordnung zu geben, so daß die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten auch zu einer entsprechenden Verwirklichung des Gemeinwohls geführt hätten. Es bestand kein System der Tarifautonomie, um die Arbeits- und Lohnbedingungen gerecht zu regeln, es gab keine soziale Absicherung der Arbeiter und ihrer Familien, die, ähnlich wie dies in der Agrargesellschaft die Großfamilie geleistet hatte, die Risiken des Lebens aufgefangen hätte, es fehlte das Arbeitsrecht, um die Menschenwürde und die Menschenrechte der Arbeiter im Produktionsprozeß zu sichern. Welche erkenntnistheoretischen Ansätze und Methoden standen zur Verfügung, um die neue Situation verstehen, analysieren und verändern zu k önnen? Die überkommenen wirtschafts- und sozialethischen Leitbilder, die im Mittelalter entwickelt wurden und bis zum Niedergang der Ständegesellschaft ihre Funktion erfüllt hatten, waren nicht mehr geeignet. Wie aber war es mit den wissenschaftlichen Bemühungen der "klassischen Nationalökonomie"? Welches waren die Wertgrundlagen und die Ordnungsvorstellungen, die in den Reflexionen von Adam Smith, John B. Say, 5 Volker Gerhardt, Art. Interesse, in: Theologische Realenzyklopä die, hrsg. v. Gerhard Müller, Band XVI, Berlin, New York 1987, S . 226.

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David Ricardo über die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse entwickelt wurden? Es war das liberale, individualistische Gesellschaftsbild, das in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften den Ton angab. Die Gesellschaft wurde als eine Summe von Individuen verstanden, die selbstgenügsam und selbstmächtig sind und nur, wenn sie wollen, zu bestimmten Zwecken einen Vertrag mit anderen eingehen (Ehevertrag, Arbeitsvertrag, Gesellschaftsvertrag). In dieser Sicht war kein Raum für vorgegebene, überindividuelle, gemeinsame Werte, die in gesellschaftlicher Zusammenarbeit verwirklicht werden. Die katholischen Kritiker der sozialen Verhältnisse, die mit der Industrialisierung entstanden, setzten hier ein. Angefangen von Franz von Baader und Adam H. Müller über BischofKettelerund Baron von Vogelsang bis hin zu Franz Hitze und Heinrich Pesch breitete sich die Überzeugung aus: Der Indidvidualismus ist die Wurzel der sozialen Frage. In diesem Kontext wurde man auch mit dem "Interesse" konfrontiert. Ohne hier auf die bedeutungsgeschichtlichen Entwicklungen dieses Begriffes einzugehen, müssen wir nach dem Stellenwert fragen, der ihm in der Smithschen Wirtschaftslehre zukommt. 6 Der englischen Philosophie der Staats- und Morallehren des 17. und 18. Jahrhunderts verhaftet, wo das Interesse als Eigennutz, als "self-interest" verstanden wird (bei Thomas Hobbes, aber doch auch bei John Locke), erblickt Smith im Interesse das Steuerungsprinzip des wirtschaftlichen Handelns. Beim Interesse handelt es sich um eine natürliche Triebkraft im Menschen. Dabei geht Smith davon aus, daß, wenn der einzelne seinen privaten Interessen nachgeht, diese Verfolgung des eigenen Vorteils ganz von selbst dazu führe, daß dies zumeist auch für die Gesellschaft am vorteilhaftesten sei: "By persuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it" (Wealth of nations IV, 2). "Dies berührt sich mit der begriffs- (und geistes-) geschichtlichen Entwicklung in der französischen Aufklärung, etwa in Condorcets Fortschrittsdenken: Das Allgemeininteresse fordert die völlig freie Entfaltung der Bedürfnisse des Einzelnen." 7 Hermann Roesler, der die erste systematische Kritik der Lehre von Smith geschrieben hat, meint: Den Instinkten die sittliche Leitung des Menschen 6 Vgl. dazu den Artikel Interesse von H.-J. Fuchs und von V. Gerhardt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 479-494. 7 Albert Raffelt, Interesse und Selbstlosigkeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bibliothek), Teilband 16, Freiburg i. Br. 1982, S. 135. Die Stelle bei A. de Condorcet, auf die verwiesen wird, findet sich in dem Werk: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1963, S. 264.

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überantworten zu wollen, würde den Menschen brutalisieren, das wirkliche Sittengesetz verleugnen, den Begriff der Sittlichkeitt verfälschen, dem verderblichsten Egoismus einen Freibrief ausstellen. 8 Unter Berufung auf Julius Wolf, nach dem "der Eigennutz des einzelnen der sicherste Kompaß auf dem Meer des wirtschaftlichen Lebens sei" , sieht Heinrich Pesch auch dort, wo Smith von den Schranken der Selbstliebe spricht und auf die Klugheit, die Gerechtigkeit und das Wohlwollen verweist (Theory of moral sentiments), keine wirkliche Korrektur, weil deren inhaltliche Bestimmung wiederum aus der Selbstliebe heraus erfolge: die Klugheit schütze Gesundheit und Vermögen, die Gerechtigkeit beruhe auf dem Trieb der Vergeltung, das. Wohlwollen werde gesteuert durch die Aussicht auf Belohnung. 9 In diesem Verstehenshorizont ist das Interesse negativ bestimmt und Ausfluß des Individualismus, demgegenüber die traditionelle Auffassung der christlichen Gesellschaftsordnung im Mittelalter mit ihrer Betonung der "geordneten Selbstliebe" und des Gemeinwohls um so heller leuchten mußte. Diese kritische und ablehnende Einstellung dürfte übrigens den Zugang zu Interessenverbänden im wirtschaftlichen Bereich erschwert haben. Auch wenn Bischof Ketteler die in England entstandenen Trade unians schätzte und Leo XIII. in der Enzyklika Rerum novarum das Recht der Arbeiter auf Zusammenschlüsse, um ihre Lage zu verbessern, als ein Naturrecht auswies, blieben doch das Interesse und die Interessenverbände lange Zeit im Zwielicht. Die Gleichsetzung von Interesse und Eigennutz, von Interesse und Egoismus hat auch zu einer betonten Skepsis gegenüber wirtschaftlichen Interessenverbänden geführt. Die katholische Kritik verschärfte sich noch nach dem Ersten Weltkrieg. In der Enzyklika Quadragesima anno (1931) wird die "Vermachtung der Wirtschaft" als das natürliche Ergebnis einer grundsätzlich zügellosen Konkurrenzfreiheit gebrandmarkt (Nr. 106-108). Es ist die Rede von den "wirtschaftlichen Interessenkämpfen" um die Macht. Auch der Staat, anstatt "unparteiisch und allem Interessenstreit entrückt" und "einzig auf das gemeine Wohl und die Gerechtigkeit" bedacht zu sein, sei zur "willenlos gefesselten Sklavin selbstsüchtiger Interessen" geworden (Nr. 109). In diesem Kontext kann man ermessen, warum man sich die Überwindung der (Welt-)Wirtschaftskrise, vor allem die Lösung der sozialen Frage und die 8 Hermann Roesler, Über die Grundlehren der von Adam Smith begründeten Volkswirtschaftstheorie, 2 Erlangen 1871 e1868), S. 30 ff. - Vgl. Anton Rauscher, Die soziale Rechtsidee und die Überwindung des wirtschaftsliberalen Denkens. Hermann Roesler und sein Beitrag zum Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft. München, Paderborn, Wien 1969. 9 Heinrich Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, Erster Band e1904), hier Dritte und Vierte Aufl., Freiburg 1924, S. 293 f.

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Neuordnung der Wirtschaftsgesellschaft nicht anders als mit Hilfe einer "berufsständischen Ordnung" vorstellen konnte. Dieses Modell, das "aus der Auseinandersetzung zwischen den Klassen zur einträchtigen Zusammenarbeit der Stände" führen sollte (Nr. 81), wurde hauptsächlich als Gegensatz zur Klassengesellschaft gesehen. Es impliziert jedoch ebenso einen Gegensatz beziehungsweise eine Spannung zum individualistischen Verständnis von Interesse und Interessenorganisationen sowie ihrem möglichen Beitrag zur Ordnung der Arbeits- und Lohnbedingungen. Um der Enzyklika gerecht zu werden, muß man allerdings auch bedenken, daß die Praxis des Systems der Tarifautonomie in den zwanziger Jahren noch weithin vom Klassenkampf und nicht vom Ziel des Arbeitsfriedens und der Kooperation bestimmt war, was sich in den katholischen Vorstellungen über die Reform der Gesellschaft niederschlug.

II. Erste Ansätze eines Umdenkens nach dem Zweiten Weltkrieg

In der katholisch-sozialen Literatur vor und nach dem Ersten Weltkrieg wird der Begriff "Interesse" nicht eigens thematisiert, sondern in die Kritik am Individualismus einbezogen. 10 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wird im Schrifttum der Begriff Interesse wenig erörtert. Noch ganz im Zeichen von Quadragesima anno konzentriert sich die Aufmerksamkeit einerseits auf die berufsständische Ordnung als Gegenmodell zur Klassengesellschaft und ebenso zu einer bloß nach Interessen strukturierten Gesellschaft. 11 Im Wörterbuch der Politik behandelt Oswald von Nell-Breuning unter dem Stichwort "Individualismus" das "wohlverstandene Interesse". In dieser Auffassung habe das Individuum Interessen und verstehe es, diese auch sachgemäß wahrzunehmen, wenn es daran nicht gehindert werde. Im Indi10 In der Fünften Auflage des Staatslexikons ist "Interesse" kein Stichwort. In dem von Goetz Briefs verfaßten Artikel "Gemeinschaft" taucht das Wort Interesse auf: Die Gesellschaft sei eine künstliche Einheit, regiert von Interessen, ein Gefüge von Klassen, ein Gewebe von geltenden, vertraglich entstandenen "Beziehungen". "Primär herrscht in ihr eine Mißtrauenshaltung der Individuen untereinander; sie kennt keine Solidarität" (Zweiter Band, Freiburg i. Br. 1927, Sp. 521).- Aufschlußreich ist in demselben Band der von Joh. Messner verfaßte Artikel "Individualismus" (Sp. 1459-462), in dem allerdings ein Bezug zum Interesse fehlt.- Auch in den frühen Arbeiten von Gustav Gundlach wird zwar von Interessenverbänden gesprochen, die aber nicht "zu einem Gebilde geistiger Gemeinsamkeit" werden könnten: Dissertation "Zur Soziologie der katholischen Ideenwelt und des Jesuitenordens" (1927), wieder abgedruckt in: Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, Bd. 1, Köln 1964, hier S . 227. 11 Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Artikel "Berufsständische oder leistungsgemeinschaftliche Gesellschaftsordnung", in: Wörterbuch der Politik, Heft I: Zur christlichen Gesellschaftslehre e1947), 2 1954, Sp. 79 ff. Auch in dem 1949 erschienenen Heft IV Zur Wirtschaftsordnung sucht man vergeblich das Stichwort System der Tarifautonomie.

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vidualismus sei unter Gesellschaft, "soweit man dieses Neben- und Durcheinander von Einzelwesen überhaupt Gesellschaft nennen kann," an erster Stelle die Wirtschaftsgesellschaft gemeint, die ihrerseits "nichts anderes ist als das Getümmel der im Verfolg ihrer Interessen auf dem Markte einander begegnenden Wettbewerber." 12 Auch als die Idee der berufsständischen Ordnung wegen des Erfolges der "sozialen Marktwirtschaft" in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eher in den Hintergrund tritt, führt dies noch nicht zu einer differenzierten Betrachtung des Interesses. Die Aussagen der Enzyklika Mater et Magistra verbleiben noch in dem von Pius XI. gezogenen Rahmen. Ausdrücklich hebt Johannes XXIII. hervor: "Oberster Maßstab in der Wirtschaft darf unter keinen Umständen das Einzel- und Gruppeninteresse sein; auch nicht der zügellose Wettbewerb oder die hemmungslose Macht des Stärkeren, das nationale Prestige oder der Machtwille der Nation oder irgendein derartiger Maßstab" (Nr. 38). Vielleicht hat die Streikanfälligkeit, wie sie damals in Italien und auch in Frankreich gegeben war, verhindert, daß neue Überlegungen über die Stellung und Bedeutung der Sozialpartner im System der Tarifautonomie angestellt wurden. Auf der anderen Seite wird in der Enzyklika über die "gesellschaftliche Verflechtung" nachgedacht. Es ist die Rede von "einer reichen Vielfalt von Verbänden, Vereinigungen, Einrichtungen mit wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller, unterhaltender, sportlicher, beruflicher und politischer Zielsetzung sowohl im nationalen Raum wie auf Weltebene" (Nr. 60). Dieser Beobachtung folgt die Bemerkung, daß sich der Vergesellschaftungsprozeß in einer Weise vollziehen könne und solle, "die bei größtmöglicher Nutzung seiner Vorteile doch die mit ihm verbundenen Nachteile vermeidet oder mildert" (Nr. 64). Man spürt, wie sich die Betrachtungsweise erweitert. Die Verfolgung der Interessen müsse im Einklang mit dem Gemeinwohl bleiben (Nr. 65). Für das Pontifikat Pauls VI. ist der Brief bemerkenswert, den Kardinalstaatssekretär A. G. Cicognani an die 37. Soziale Woche der Katholiken Italiens am 5. September 1965 richtete. Erstmals wird der Wert und die Bedeutung der Verbände, die Ausdruck der individuellen Freiheit seien, betont: "Ihre Leistung ist für den Einzelnen wie für die Gesellschaft unerläßlich, insofern die Existenz von Gruppen die freie und rasche Verwirklichung einer intensiveren und funktionsfähigeren Sozialität garantiert, zugleich aber die freie Initiative der menschlichen Person nicht erstickt." 13 Auch wenn diese Aussage besonders an katholische Gruppie12 Oswald von Nell-Breuning, Artikel "Individualismus", in: Wörterbuch der Politik, hrsg. von H. Sacherund 0. von Nell-Breuning, Heft V, Freiburg i. Br. 1951, Sp. 131.

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rungen gerichtet ist, so befaßt sich der Brief doch allgemein mit der "Autonomie der gesellschaftlichen Gruppen im modernen Staat". Gleichwohl überwiegt bei Paul VI. die Sorge um die Verwirklichung des Gemeinwohls, um den Gesamtzusammenhang der Gemeinschaft. Bereits in dem Brief an die Sozialen Wochen Frankreichs vom 2. Juli 1963, der sich mit der demokratischen Gesinnung als Grundlage des demokratischen Staats auseinandersetzt, heißt es, daß es zwischen den Bürgern und dem Staat eine Menge organisierter Interessen gebe, die dem Staat seine Entscheidungen erschweren und die ihn für ihre Zwecke in Anspruch nehmen. 14 Worauf es ankomme, sei ein Doppeltes: Einerseits sollen die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessengruppen konsultiert und aufgefordert werden, die für eine sachgemäße Entscheidung notwendigen Informationen zu liefern; andererseits wird verlangt, daß die Gruppen nicht in erster Linie um die Erweiterung·ihrer Macht besorgt seien, sondern den wahren Interessen ihrer Mitglieder im Rahmen des Gemeinwohls dienen sollen. Das Interesse und die Interessenorganisationen erscheinen nicht mehr nur negativ bestimmt, auch wenn die Sorge um die wachsende Macht der Verbände und die Gefährdung des Gemeinwohls zunimmt. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß Johannes Messner noch in der 1966 herausgekommenen fünften Auflage seines Naturrechts das Interesse kaum erwähnt, dafür aber die Probleme der Interessenmächte und -gruppen (Druckgruppen, pressure groups) an zahlreichen Stellen aufgreift. 15

111. Die Besinnung auf die anthropologische Wurzel Kehren wir nach diesem kurzen Ausflug in die Geistesgeschichte des sozialen Katholizismus zurück zu den eingangs zitierten Ausführungen Messners, wonach die Chance, das in der verbandspluralistischen Demokratie vorherrschende Laissez-faire zu überwinden, im Interesse selbst liegen soll. Es ist für die Denkstruktur dieses großen katholischen Sozialwissenschaftlers charakteristisch, daß er sich nicht mit der Beobachtung und Feststellung begnügt, die gesellschaftliche Wirklichkeit sei von den Interessenmächten bestimmt und man müsse vom sozialethischen Ansatz 13 Der Brief ist abgedruckt in: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Originaltexte mit Übersetzung), hrsg. von Arthur Utz und Brigitta Gräfin von Galen, Bd. III, Aachen 1976, S. 2190-2201 , hier: 2195 . 14 Der Brief ist ebenfalls abgedruckt in: a . a . 0 . (Anm. 11), S. 2156-2167. 15 Vgl. J ohannes Messner, Das Naturrecht, 5. neubearbeitet e und wesentlich erweiterte Auflage, Innsbruck 1966, Sachverzeichnis S. 1325.

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her alles daransetzen, um diesen Pluralismus in das Gemeinwohl einzubinden. Messner hat wohl gespürt, daß dies ein aussichtsloses Unterfangen wäre, wenn man nur beim Staat ansetzen und ihn verpflichten wollte, den Machtansprüchen der Interessengruppen und -organisationen ein Ende zu setzen. Dies würde nämlich die Gefahr des "starken Staates" heraufbeschwören, der den Verbandspluralismus beseitigen oder zumindest rigoros beschneiden würde, um das "Gemeinwohl" in den wirtschaftlichen und sozialen Fragen durchzusetzen. Statt dessen setzt Messner tiefer an. Der lange Zeit herrschende Wirtschaftsliberalismus mit seiner individualistischen Gesellschaftsauffassung und seiner Berufung auf das "wohlverstandene Eigeninteresse" hatte im katholischen Raum den Zugang zur anthropologischen Wurzel des Interesses verschüttet. Messner erkannte die Notwendigkeit, das Interesse aus den Grenzen des bloßen Vorteils- und Nützlichkeitsdenkens, eines anrüchigen Egoismus herauszuholen und die Frage, was eigentlich mit Interesse gemeint ist, neu zu stellen. Dabei war er sich bewußt, daß diese Frage in grundsätzliche Schichten des christlich-sozialen Denkens hineinreicht, vor allem die Zuordnung von Einzelinteresse und Gemeinwohl, also das Verhältnis von Einzelmensch und Gesellschaft in seiner Bedeutung und Auswirkung auf die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen betrifft. Es ist interessant zu beobachten, daß die Bemühungen Messners, den Dingen auf den Grund zu gehen, eine auffallende Parallele bei Jürgen Habermas finden, der ebenfalls im Jahre 1968 sein Werk "Erkenntnis und Interesse" herausbringt. 16 Auch hier geht es darum, das Interesse aus dem Gefängnis der bloßen Ich-Bezogenheit zu befreien, in das es der Marxismus-Leninismus mit der Konstruktion der wahren und falschen Bedürfnisse und Interessen eingesperrt hatte. Die Formel vom erkenntnisleitenden Interesse weist in dieselbe Richtung wie dies bei Messner geschieht, wenn er vom Interesse als dem stärksten Anreger der Vernunft spricht und damit dem Interesse auch bei der Suche und Entdeckung der Wahrheit im gesellschaftlichen Leben eine wichtige Aufgabe zubilligt. In der zweiten Auflage des Katholischen Soziallexikons verfaßt Messner den Beitrag "Interesse". Er sieht im Interesse eine Uranlage des Menschen, wirksam unter den jeweiligen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Es hat seine Wurzel in dem Streben des Menschen nach Selbstverwirklichung. 17 Auch wenn in demselben Artikel das Interesse noch als Triebveranlagung bezeichnet wird, so liegt doch der Nachdruck auf dem Streben, also auf einer ganzheitlichen Grundkraft, die den Menschen auf die Verwirklichung Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt I Main 1968. J ohannes Messner, Artikel "Interesse", in: Katholisches Soziallexikon. Hrsg. von A. Klose, W. Mantl, V. Zsifkovits, 2. Auflage, lnnsbruck 1980, Sp. 1190-1200, hier: Sp. 1193. 16 17

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der Wertziele hindrängt. Das Interesse wird nicht dem instinkthaften Leben zugeordnet, das in der Tierwelt bestimmend ist. Auch dient das Interesse vornehmlich nicht mehr dazu, dem wirtschaftlichen Nutzen und Vorteil nachzugehen, vielmehr durchwirkt diese Kraft den Gesamtbereich menschlicher Wertverwirklichung. Ohne das Interesse fehlt der Antrieb zur Wahrheitserkenntnisund zur Wertverwirklichung, zum Denken und Handeln. Messner zögert nicht zu sagen, die ursprüngliche Äußerung des Interesses sei die "Selbstliebe". Er sieht seine Position durchaus im Einklang mit Thomas von Aquin und den großen christlichen Denkern, die ebenfalls von der Selbstliebe und ihrer rechten Ordnung gesprochen haben. 18 Das natürliche Streben des Menschen ziele auf das EigenwohL Der Selbstliebe komme unter gleichen Umständen der Vorrang vor der Nächstenliebe zu. Anders ausgedrückt: Die Nächstenliebe setzt die Selbstliebe voraus, weil sie dem Menschen sagt, was die Nächstenliebe verlangt - ganz im Sinne der sittlichen Grundforderung des Evangeliums: Den Nächsten lieben "wie dich selbst". Unwillkürlich kommt einem die Frage in den Sinn, ob dieser Ansatz bei der Deutung des Interesses nicht doch auf eine Rezeption des liberalindividualistischen Denkens hinausläuft. Wird hier die Nächstenliebe nicht entleert zu einer abhängigen Variablen der Selbstliebe? Zwei Dinge sind hier zu beachten. Messner war Zeit seines Lebens zu sehr Realist, als daß er die Tatsachen nicht beim Namen genannt hätte. In der Tat ist das Streben und Handeln des Menschen zunächst immer auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse, Wünsche und "Interessen" gerichtet. Dies gilt in besonderem Maße von der Arbeit, wodurch er die dafür notwendigen Mittel erlangt. Dies gilt auch für alle übrigen Aktivitäten wie Sport und Erholung. Zutreffend hat Horst Claus Recktenwald davon gesprochen, daß das Selbstinteresse dem Menschen angeboren ist: "Es ist nicht fiktiv und auch nicht eigens für einen analytischen Zweck konstruiert, wie etwa J. St. Mills ("The saint's of rationalism") homo Oeconomicus oder Karl Marx' Arbeitswert einer Ware. Vielmehr ist das Eigentinteresse eine unveränderliche Tatsache der Natur, die man durch innere und äußere Erfahrung erkennt und die auch ein Kollektiv oder eine kollektive Idee, wie immer geartet, selbst durch Zwang, nicht zu beseitigen, höchstens für relativ kurze Zeit unter extremen Bedingungen oder strenger (Orwell)-Überwachung, zurückzudrängen vermag." 19 18 Vgl. Richard Völkl, Die Selbstliebe in der Heiligen Schrift und bei Thomas von Aquin (Münchener theologische Studien II, 12), München 1956. 19 Horst Claus Recktenwald, Ethik, Selbstinteresse und bonum commune. Eine Analyse der klassischen Ordnungstheorie Adam Smiths, in: Ethik und Wirtschaftswissenschaft, hrsg. v. Georges Enderle (Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF Band 147), Berlin 1985, S. 147.

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Aber - und dies ist der zweite Aspekt, der eine individualistischegoistische Verkürzung und Verbiegung des Interesses nicht zuläßt- weil der Mensch nicht "Individuum" ist, sondern "Person inmitten der Gesellschaft'', wie Heinrich Pesch es formulierte, 20 deshalb richtet sich sein Interesse nicht nur auf seine eigenen Bedürfnisse und Zwecke, sondern ebenso ursprünglich auf die mit seinem sozialen Wesen gegebenen Bindungen und Pflichten, auf die Verantwortung, die er für die "Nächsten" trägt: für seine Familie, für seine Kollegen in der Arbeitswelt, für seine Nachbarschaft, für die Notleidenden und Bedrängten, für alle, die zu seinem Volk gehören und die mit ihm in der staatlich verfaßten Gemeinschaft leben, für alle, die Menschenantlitz tragen unabhängig von Rasse und Hautfarbe, von Intelligenz und Vermögen, Gesundheit und Nationalität. Man darf die Nächstenliebe nicht gegen die Eigenliebe, die Solidarität nicht gegen die Personalität, das Gemeinwohl nicht gegen das Eigenwohl ausspielen. Leider ist die Entwicklung in der modernen Gesellschaft auch von Vorstellungen geprägt, die den Einzelmenschen, seine Interessen, alles was mit dem "Privat-Bereich" zusammenhängt, des Asozialen, um nicht zu sagen des Antisozialen verdächtigen. Auch in christlichen Kreisen hat die Auffassung an Boden gewonnen, erst "die Gesellschaft", der Staat mit seiner dem Gemeinwohl verpflichteten Autorität beziehungsweise seinen Behörden könne und müsse dem Sozialen den Weg öffnen und die Einzelnen zu einem entsprechenden Denken und Verhalten in den Bereichen der Wirtschaft, der Ökologie, der sozialen Sicherungssysteme des Sozialstaats veranlassen oder auch zwingen. Bei dieser Konzeption handelt es sich im Grunde um die Neuauflage der individualistischen Vorstellung von der Gesellschaft als einer Summe von Individuen, von Einzelnen. Nur die Markt-Automatik, die früher im Liberalismus, wenn nur jeder seinen Privatinteressen nachgehe, das Gemeininteresse bewirken sollte, ist ersetzt durch den Staat und seine Zwangsmaßnahmen auf allen Gebieten. Im Bereich des Privateigentums würde eine solche Auffassung dazu führen, daß der Staat nicht mehr der Garant des Gemeinwohls, sondern Grund und Anwalt des Sozialen wäre. Über die von ihm erhobenen Steuern und Abgaben würde er für die Verwirklichung der sozialen Aufgaben und Zwecke sorgen. Was dem Einzelnen dann noch an Einkommen und Vermögen verbleibt, darüber wäre er niemandem Rechenschaft schuldig und könnte tun und lassen, wie es ihm beliebt. Was für ein Zerrbild der im christlichen Verstehenshorizont gewachsenen Auffassung vom Menschen als "Ursprung, Träger und Ziel des gesellschaftlichen Lebens", als Person, die nicht nur für das "Privat-Leben", sondern auch für das soziale Leben die ursprüngliche Verantwortung trägt. Im christlichen Verständnis kommt 20 Heinrich Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, Erster Band e 1904), hier Dritte und Vierte Aufl., Freiburg 1924, S. 29.

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das Soziale nicht erst durch eine dem Einzelnen gleichsam entgegentretende Instanz ins Spiel, vielmehr steht und fällt das gesellschaftliche Leben mit der verantwortlichen Person. Dies ist auch der Grund dafür, daß Messner im Einzelinteresse "die eigentlichst bewegende Kraft des Gesellschaftsprozesses" erblicken kann. Nicht der Staat, nicht irgendeine Institution oder Behörde ist diese bewegende Kraft! Allerdings müssen die Personen, die Bürger ihre wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen "Interessen" nicht nur auf ihre "private" Selbstverwirklichung richten, sondern genau so auf ihre sozialen Aufgaben und Pflichten. Daran mangelt es vielfach im modernen Sozialstaat, der zu einseitig auf die Entwicklung von Institutionen gesetzt hat und zu wenig auf die soziale Verantwortung der Bürger und darauf, daß sie ihre "Interessen" als bewegende Kraft des Gesellschaftsprozesses einsetzen. Worauf es also ankommt, ist, das Interesse der Menschen für die Gestaltung der sozialen Marktwirtschaft, für die Politik, auch für die Kirche zu mobilisieren. Messner spricht von dem vom Interesse ausgehenden "Ordnungswillen" der Menschen, von der "Gemeinwohldynamik der verbandspluralistischen Demokratie", die vom Interesse bestimmt werden kann. Das heißt, auch die Bündelung der Interessen, so daß die Gruppen und Organisationen politische und wirtschaftliche Macht ausüben, ist noch kein Argument gegen das Gemeinwohl. "So sehr vom ungezügelten Interesse am Einkommenswachstum bedenkliche, ja verhängnisvolle Folgen ausgehen, so nicht minder ein wahrhaftes Gemeinwohl- und Wohlstandswachstum." 21 Ohne das Interesse, ohne persönliches Engagement und Leistung, auch ohne den Zusammenschluß der Menschen und die Bündelung von Interessen können die Kräfte nicht so mobilisiert werden, daß zum Beispiel die Wirtschaft ihre Aufgabe, nämlich die Versorgung der Menschen mit Gütern und Diensten bestmöglich erfüllt. Dies gilt auch für alle anderen gesellschaftlichen Lebensbereiche. Problematisch ist nicht das Interesse, auch nicht die organisierten Interessen, sondern die Begrenzung des Interesses auf die private Nutzenmehrung und den Ausschluß der sozialen Aufgaben und Pflichten, problematisch ist gleichfalls eine Interessenpolitik der Verbände, die nur den Nutzen der organisierten Mitglieder anpeilt, aber nicht den sozialen Aufgaben- und Pflichtenkreis erkennt, in dem sie sich befinden.

21 Johannes Messner, Das Gemeinwohl im Laissez-faire-Pluralismus, a. a. 0 ., S. 125. - In einer mehr traditionellen Betrachtungsweise wird die Bedeutung des Interesses für die Verwirklichung des Gemeinwohls oft zu wenig gesehen. Vgl. Bernd Kettern, Sozialethik und Gemeinwohl. Die Begründung einer realistischen Sozialethik bei Arthur F. Utz, Berlin 1992.

Das Interesse - Wiederentdeckung und Klärung eines Begriffs

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VI. Die Frage nach dem Sozialprinzip

Es war der Grundfehler des (Wirtschafts-)Liberalismus, das "wohlverstandene Eigeninteresse" zum Grundprinzip der gesellschaftlichen Ordnung erhoben zu haben. Für das Interesse gibt es in dieser Sicht nur eine Grenze: das Interesse des anderen, wobei die Frage eines wirklichen Interessenausgleichs offen bliebe. Die Gesellschaft wäre ein Konglomerat von Interessen. Das Interesse kann ebensowenig Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung sein wie dies auch ein schrankenloser Wettbewerb, der dazu tendiert, sich selbst aufzuheben, nicht bewerkstelligen könnte. Prinzip der Ordnung, und damit auch der Ordnung der Interessen, kann nur die Norm des Gemeinwohls sein, die konkret die Norm der allseitigen Gerechtigkeit ist.22 Die Verantwortung für das Gemeinwohl trägt der Staat. Schon in einer nicht verbandspluralistischen Gesellschaft war es schwer genug, das Gemeinwohl zu wahren, so daß die Menschen einzeln und in Verbundenheit die Wertziele verwirklichen konnten. Wie kann der Staat das Gemeinwohl heute in einer von Interessenmächten bestimmten Gesellschaft immer neu durchsetzen? Es wurde schon darauf hingewiesen, daß dies nicht dadurch erreicht wird, daß ein starker Staat die Interessenorganisationen beseitigt oder sie unter das eigene Kommando stellt. Dadurch würde die bewegende Kraft des Gesellschaftsprozesses ausgeschaltet werden. Die Frage kann nur lauten, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen der Staat seine Verantwortung für das Gemeinwohl bestmöglich wahren kann. Der Staat kann die Gerechtigkeit für alle nur gewährleisten, wenn er unparteiisch Situationen und Tatbestände, die diese Gerechtigkeit verletzen, beim Namen nennt und den Bürgem überzeugend die Gründe dafür vermittelt. Dies ist verhältnismäßig einfach, wenn es sich etwa um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit handelt. Dies ist nicht leicht, wenn die Ansprüche und Leistungen der Sozialhilfe so angehoben wurden, daß der notwendige Abstand zu den unteren Lohn- und Einkommensgruppen womöglich verloren geht und damit auch das Arbeitsethos in Gefahr gerät. Dies wird schwierig, wenn zum Beispiel der Konsumanteil der öffentlichen Ausgaben zu hoch und der investive Anteil zu gering ist. Und es bedarf schon eines Kraftaktes, eine gravierende Fehlentwicklung in der Wirtschaft, weil man über die Verhältnisse lebt, zu reformieren. Meist sind die Interessenorganisationen erst bei einer krisenhaften Zuspitzung bereit, ihre Ansprüche und Forderungen zurückzunehmen, die heute obendrein in aller Regel mit der Bezeichnung "sozial" und "sozial gerecht" versehen werden. Hier muß der Staat eine gewaltige Aufklärungsarbeit leisten. Er kann und 22 Ders., Artikel "Interesse" , a. a . 0., Sp. 1195. 3 Interesse und Moral

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darf es nicht durchgehen lassen, daß Interessengruppen ihre Ziele als mit dem Gemeinwohl identisch ausgeben. Und er muß die Kraft haben, "unpopuläre Maßnahmen" zu treffen, wobei sich häufig herausstellt, daß sie nur von den betroffenen Interessentengruppen als unpopulär angeprangert werden, von der großen Mehrheit des Volkes aber, wenn sie als gerecht empfunden werden, durchaus als unausweichlich akzeptiert werden. Damit der Staat die Gemeinwohlinteressen gegenüber der Interessenpolitik der Verbände wahrnehmen kann, wäre es auch hilfreich, wenn nicht nur die politischen Parteien, sondern auch alle Interessenverbände ihren Geld- und Machteinsatz transparent machen müßten. Ein solches Vorgehen wäre freilich nur wirksam, wenn auch die Medien dafür gewonnen werden könnten, die kritische Sonde an alle Verstöße gegen die Gerechtigkeit und gegen die "guten Sitten" anzulegen und nicht nur bestimmte Gruppen und Organisation je nach politischer Farbe an den Pranger zu stellen. Dies trägt auch zur Politikverdrossenheit der Bürger bei. Es ist das Verdienst Johannes Messners, das Interesse aus seinem individualistischen Kerker befreit, seinen anthropologischen Gehalt neu entdeckt und es für das christliche Gesellschaftsverständnis erschlossen zu haben. Er hat auch die Grenzen abgesteckt, jenseits deren das Interesse in Selbstsucht und Macht umschlägt. Es ist unsere Aufgabe, die Interessen der Bürger für die gesellschaftlichen Ziele fruchtbar zu machen und gleichsam dafür zu sorgen, daß der Interessenpluralismus in Schach gehalten wird.

DER INTERESSENBEGRIFF IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Von Heinrich Schneider

I.

Die Einladung, im Rahmen dieses Symposions einen Beitrag "Zur Ideengeschichte des Interessenbegriffs" zu übemehmen, hat der Referent mit einigem Zögem angenommen. Das Thema gehört nicht zu seinen hauptsächlichen Arbeitsfeldem, es war auch nicht recht klar, ob der Akzent eher auf die Begriffsgeschichte oder auf eine im weiteren Sinn ideengeschichtliche gelegt werden sollte (wobei im letzteren Fall wohl auch der sozial- und politikhistorische Zusammenhang mitbedacht werden müßte). Das Risiko in bezug darauf, ob die folgenden Anmerkungen zum Diskussionsverlauf des Symposions etwas Nützliches beitragen, liegt beim Veranstalter.. . Das Zögem des Vortragenden hatte einen weiteren Grund in dem Umstand, daß es vorzügliche Wörterbuchartikel zum Thema gibt, mit denen die folgenden Ausführungen, was Quellenverarbeitung, Arbeitsaufwand und Informationsgehalt betrifft, gewiß nicht konkurrieren kann: den Artikel von Fuchs und Gerhardt im Historischen Wörterbuch der Philosophie; 1 den Artikel von Fisch, KoseHeck und Orth im Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe"; 2 vielleicht sollte man überdies den Artikel von Johannes Messner im "Katholischen Soziallexikon" erwähnen, der allerdings in einer anderen Perspektive angelegt wurde. 3

1 Hans-Jürgen Fuchs und Volker Gerhardt, Art. "Interesse", in: Joachim Ritter (+)und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 479-494. 2 Jörg Fisch, Reinhart Koselleck, Ernst Wolfgang Orth, Art. "Interesse", in: Otto Brunner (t), Werner Conze, Reinhart KoseHeck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S . 305-365. 3 Johannes Messner, Art. "Interesse", in: Alfred Klose, Wolfgang Mantl, Valentirr Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl. Graz-Innsbruck-Köln-Wien 1980, Sp. 1190-1200.

3*

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Die Teilnehmer dieses Symposions werden kaum erwarten, daß ihnen diese Lexikonartikel referiert werden - man kann sie nachlesen. Stattdessen sollen im folgenden nur einige zur Diskussionsanregung geeignete Rückerinnerungen an die Bedeutungsgeschichte des Begriffs angeboten werden; der fachlichen Verantwortung des Vortragenden entsprechend wird dann der Akzent auf die politischen Implikationen und Konsequenzen des Denkensam Leitfaden und Maßstab von "Interessen" gelegt werden. So wird das wohl auch von den Veranstaltern intendiert worden sein: das Referat steht zwischen den Beiträgen eines Sozialethikers und eines Soziologen; die Politikwissenschaft hat ihrerseits nach Auffassung nicht weniger ihrer Vertreter die Aufgabe, Prinzipienreflexion und empirische Forschung in Bezug zueinander zu setzen, dabei tut sie gut daran, die historische Tiefendimension ihrer Gegenstände nicht auszublenden. Es wird sich also nicht vermeiden lassen, auch anthropologische und sozialtheoretische Gesichtspunkte in die Überlegungen einzubeziehen: "Politik" {"Politica ... ") ist als Theorie (" ... methodice digesta ") immer schon mit dem Nachdenken über die menschliche Daseinsverfassung und über die Bestimmung der menschlichen Existenz verknüpft gewesen. Als Praxis war sie stets die mehr oder weniger konstruktive oder destruktive Auseinandersetzung um Interessen und ihre Durchsetzung- aber doch zugleich auch der Prozeß der Auseinandersetzung und Verständigung über das, was die Tradition "die menschliche Natur" nennt, sowie über den Sinn des sozialen Handeins und der Geschichte. Aus diesem Grund gibt es kaum irgendwelche Fragen und Antworten im Kontext der Philosophie der Politik, die nicht irgendwie für unser Thema von Belang wären. Man steht in der Gefahr, vom Hundertsten ins Tausendste zu geraten. Um dieser Gefahr des Ausufernsund des Konturenverlusts halbwegs zu entgehen, erlaubt sich der Referent, einige Gesichtspunkte von vielen herauszugreifen. Die folgenden Darlegungen werden daher vielleicht etwas eigenwillig anmuten. Aber das ist besser als die bloße Rückerinnerung an allgemein Geläufiges. Um so nötiger hat dieser Beitrag freilich auch die kritische Diskussion . . . Nur mit knappen Andeutungen wird die anfängliche Begriffsgeschichte in Erinnerung gebracht werden; aber das ist nur ein Vorspiel zur Befassung mit dem eigentlich erregenden Phänomen: daß nämlich in der Neuzeit das Interesse zur grundlegenden sozialtheoretischen und politischen Kategorie wurde- und schließlich zum meistgebrauchten Fremdwort der deutschen Sprache. 4 Was bedeutet das? Welche Veränderungen des menschlichen 4 Dies nach Hartmut Neuendorff, Interesse, in: Harald Kerber, Arnold Sehrnieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie, Reinbek 1984, S . 270-274.

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Selbstverständnisses und der Sinnbestimmung von Politik kommen darin zum Ausdruck? Diese Frage verdient wohl unsere besondere Aufmerksamkeit.

II.

Was man unter "Interesse" in älteren Zeiten verstand, ist uns allen geläufig. s Ganz ursprünglich bedeutet die lateinische Wendung räumliches oder zeitliches Dazwischenliegen; dann aber auch: "anders-Sein" und "anderswo-Sein). Bei Cicero findet sich ferner die Bedeutung "dabei sein", "sich mit im Spiel befinden". Im Mittelalter setzt sich dann die römisch-rechtliche Prägung "id quod interest" als eine den Sprachgebrauch bestimmende Formel durch; sie meint eine Schädigung eigener Belange, die Differenz zwischen einer geminderten Sache und ihrem vollen Wert- und als Korrelat dazu so viel wie "Schadenersatz". Schließlich wird die Verwendung anstelle von "usura" vorherrschend, als Euphemismus für eine noch verpönte Sache 6 - nachdem schon vorher die beiden Bedeutungen "entstehender Schaden" einerseits, "entgangener Gewinn" andererseits zueinander in Relation gebracht worden waren. Die damit verbundene Gleichsetzung von "Interessen" mit "Zinsen" setzt sich in der zweiten Hälfte des 15. und in der ersten des 16. Jahrhunderts durch und bleibt noch bis in die Goethezeit üblich. Zugleich kommt es aber im Lauf der Neuzeit zu einer Ausweitung des Begriffsinhaltes, so daß Jeremy Bentham sagen kann: "lnterest is one of these words, which not having any superior genus, cannot in the ordinary way be defined ... ". 7 Im modernen Denken ist dann Interesse einerseits der Inbebriff alles dessen, woraufhin gehandelt wird (insbesondere woraufhin politisch agiert wird, worumwillen Durchsetzungsstrategien und Gruppen organisiert werden), andererseits der Inbegriff dessen, was jemandem nützt, und zwar sowohl subjektiv (im Sinne eines bewußtgemachten, also reflektierten, Bedürfnisses) wie auch objektiv (im Sinne des Zuträglichen, also dessen, was jemand zu seinem Strebensziel machen sollte).

s Das Folgende im Anschluß an die in Anm. 1 und 2 genannten Artikel. 6 Zur Bedeutung des Abbaus dieser Verpönung vgl. Benjamin Nelson, The Idea of Usury, Chicago 1949. 7 J eremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1780 I 80), zit. nach Ernst Wolfgang Orth aaü. (1982), s. Anm. 2, S. 306.

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In diesem Horizont kann man dann sagen: "Interest governs the world". Diese Formel ist schon im 17. Jahrhundert ein geflügeltes Wort. Aber ein mehrdeutiges: Es kann erstens dazu bestimmt sein, in ideologiekritischer Absicht darauf aufmerksam zu machen, daß erhabene Prinzipien und schöne Worte oft nur verschleiern und verklären, worum es im gesellschaftlichen und politischen Leben in Wirklichkeit geht. Andererseits kann nun, zweitens, im Interessenbegriff ein positiver Wertakzent, ja geradezu eine pädagogische Absicht mitschwingen: Interessenorientiertes Handeln bedeutet Rationalisierung. Man soll(!) sich von seinem Interesse leiten lassen, von seinem "wohlverstandenen" zumindest, wenn schon nicht schlichtweg. 8 Und schließlich ist es, drittens, möglich, "Interesse" sozusagen zum Allerweltsbegriff auszuweiten, so daß dann jedes Streben und Handeln letztlich "in terms of interest" beschrieben, begriffen und erklärt wird. Dann ist beispielsweise jeder Konflikt geradezu selbstverständlich ein Interessenkonflikt - anders läßt sich das gar nicht vorstellen. In dieser Sichtweise hat es dann mit dem Begriff "Interesse" eine ähnliche Bewandtnis wie mit dem "Wert"-Begriff. Es liegt denn auch nahe, beide aneinanderzukoppeln, wie ausdrücklich bei Ralph Barton Perry: "Ein Gut besitzt Wert oder ist wertvoll, wenn es das Objekt eines Interesses ist." 9 Manchen Soziologen und Politikwissenschaftlern scheint das so einleuchtend, daß ihnen die Voraussetzungen und Implikationen dieser Denk- und Sprachregelung gar nicht bewußt sind, geschweige denn, daß sie sie als problematisch betrachten. Es lohnt sich aber, ihnen nachzugehen. Dies soll im folgenden mithilfe einiger Thesen geschehen, die der besseren Übersicht zuliebe zunächst knapp vorgestellt werden: Erstens: Wenn menschlicher Existenzvollzug primär als Artikulierung und Verfolgung von Interessen begriffen wird, dann steht dahinter die Idee der Selbstbestimmung des Schicksals, die spezifisch moderne Konzeption von Freiheit, der "poietische Subjektivismus". In der Entwicklung des bürgerlichen Denkens wird der primäre Entwurf des poietischen Subjektivismus aber abgeflacht und ökonomisiert. Zweitens: Diese Abflachung ermöglicht die friedliche, ja produktive Koexistenz gegensätzlicher Sinnweltentwürfe und Lebenweisen. Sie bildet daher eine Voraussetzung für die pluralistische Demokratie. Vgl. Albert 0. Hirschman, Leidenschaften und Interessen, Frankfurt 1M. 1980. Ralph Barton Perry, Realms of Value, Cambridge I Mass. 1954, S. 2 f.; nach Beat Huber, Der Begriff des Interesses in den Sozialwissenschaften, Winterthur 1958, S . 78. Zu ä hnlichen Zuordnungen vgl. Rüdiger Lautmann, Wert und Norm, Köln und Opladen 1969, S. 32 ff. und 35 ff. 8

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Drittens: Diese Entwicklung ist jedoch nicht konflikltlos an ein schlichtweg bejahtes Ziel gekommen. Sie ist auch als ein Prozeß der Entfremdung und des Authentizitätsverlusts der menschlichen Existenz empfunden und gedeutet worden. Das Interessenparadigma und das pluralistische Leitbild gesellschaftlicher und politischer Ordnung werden im Zeichen einer Hypostasierung einer substanziellen Einheit, die aller Interessenartikulation vorausliegt, in Frage gestellt. Viertens: Diese Auseinandersetzung - etwa für oder gegen den Etatismus, den Nationalismus oder andere Fundamentalismen und Integralismen - ist nach wie vor im Gang. Auch wenn sich die Repräsentanten aller europäischen Staaten im November 1990 in Paris zu den Prinzipien der pluralistischen Demokratie bekannt haben, sind "Fundamentalismen" auch in Europa wieder aufgebrochen- von außereuropäischen Entwicklungen nicht zu reden. Fünftens: Gefragt und erwünscht ist ein produktiver Lernprozeß, der dazu führt, daß der "Realismus" des Interessenparadigmas nicht zur prinzipiellen Beliebigkeit, zur (Ver-)Käuflichkeit und zur Vermarktbarkeit aller Wahrheitsbezüge und Unverfügbarkeiten degeneriert- und der zugleich bewirkt, daß die Einsicht in die um der Unverfügbarkeit der Wahrheit willen notwendigen Grenzen der Vermarktbarkeit der Dinge nicht zur Intoleranz und zum Verzicht auf die Suche nach Verständigung führt. Aber selbst diese fünf Thesen werden nicht in der Ausführlichkeit entwickelt und begründet werden können, wie es eigentlich angemessen wäre. Erst recht wird vieles andere nicht thematisiert werden, was man unter der Überschrift dieses Referats erwarten mag: Weder Helvetius noch der Baron von Holbach werden in angemessener Ausführlichkeit zur Sprache kommen, weder Regel noch Lorenz von Stein, weder die "inclinationes naturales" bei Thomas von Aquin, noch die "existentiellen Zwecke" bei Johannes Messner. Die Auswahl der Betrachtungsgesichtspunkte, die den vorgestellten Thesen zugrundeliegt, mag willkürlich erscheinen; aber nach Meinung des Sprechers war es ratsam, sich nicht unbedingt auf Gedankengänge zu verlegen, die ohnehin allen Gesprächspartnern wohl vertraut sind. Wenn das eine Fehlentscheidung ist, läßt sie sich in der Diskussion kritisieren und korrigieren. Darum bittet der Vortragende bereits jetzt. lß.

Die grundlegende Unterscheidung der Moderne gegenüber früheren Geschichtsepochen besteht, wie Wilhelm Hennis einmal bemerkt hat, darin, daß die Menschen sich selbst und die Politik nicht mehr im Horizont der Aufgabe und der Tugend verstehen, sondern im Zeichen der Freiheit. Der

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Gedanke ist freilich schon oft in Worte gefaßt worden; nicht immer in dieselben. Regel spricht in der "Phänomenologie des Geistes" von einer "wirklichen Umwälzung der Wirklichkeit", von der "neuen Gestalt des Bewußtseins", da die Welt dem Geist schlechthin sein Wille ist, in reeller Allgemeinheit, sich auf den Thron der Welt erhebend. Joachim Ritter hat gezeigt, wie Hegels Philosophie von der Erfahrung der Französischen Revolution geprägt ist, durch die kollektive Tat der Emanzipation aus vorgegebenen, scheinbar unverfügbaren Ordnungen. 10 Die moderne Gesellschaft, liest man in Hegels Rechtsphilosophie, besteht als bürgerliche aus Privatpersonen, "welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben", aber denn doch im Miteinanderwirken aus Privatpersonen zu Bürgern, zu Teilnehmern an einem Gemeinwesen, werden. Das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis, gegen das sich dieses moderne abhebt, kann man sich zum Beispiel vermittels der Lektüre von Hermann Krings' Erstlingswerk vergegenwärtigen. 11 Die Grundposition, die das moderne Wirklichkeitsverständnis charakterisiert, hat man "poietischen Subjektivismus" genannt. 12 Der Kerngedanke ist der des Menschen, der das Subjekt seiner Welt ist- nicht hineingeordnet in einen Kosmos, der die Aufgaben und Bestimmungen vorgibt, sondern selbst dazu ermächtigt und sich berechtigend, "seine Bedürfnisse so wie die Art ihrer Befriedigung selbst zu definieren und selbst in die Hand zu nehmen" . 13 Die Welt ist ihm eben daraufhin zuhanden - sie ist Gegenstand der poiesis. Das, was ist, ist zuvörderst das, was ich habe, was mir zuhanden ist, meiner Verfügungsmacht zu Gebote steht- mein Eigentum. So wird das Eigentum zum Zentralbegriff des Gesellschaftsdenkens, als Unterpfand und als eine Grundgestalt der Freiheit. Sodann aber ist das, was wirklich ist, auch in ausgezeichneter Weise das, was ich mache. Was ich gemacht habe, habe ich wirklich; das produzierende Wesen ist das freie Wesen; was ich selbst hergestellt habe, vermag ich wahrhaft zu bemeistern - was in prägnanter Weise Gianbattista Vico (1708) expliziert hat. Insbesondere aber entwerfe und setze ich meine eigene regula vitae selbst: ich definiere meine Ziele, ich wähle die Mittel zu ihrer Erreichung aus. 10 Joachim Ritter, Regel und die französische Revolution (1956), in: Ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt IM . 1969, S. 183 ff. 11 Hermann Krings, Ordo - Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee, Halle I S. 1941. 12 Bernard Willms, Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts, Stuttgart 1969, sowie Ders., Die politischen Ideen von Hobbes bis HoTschi Minh, Stuttgart 1971, S. 21 f. Vgl. auch schon Hannah Arendt, Vita activa, Stuttgart 1960, sowie Wilhelm Hennis, Politik als praktische Wissenschaft, Neuwied 1963, S . 47 ff. 13 Bernard Willms aaO. 1969, s. Anm. 11, S. 24.

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Horst Eberhard Richter, der Psychoanalytiker, hält dieses Selbstverständnis für ein psychopathisches Phänomen, Eric Voegelin für ein "pneumopathisches". Richter spricht vom "Gotteskomplex": 14 die Menschen hätten es im Bewußtsein der Ohnmacht, dem sie im Mittelalter überantwortet gewesen wären, nicht mehr ausgehalten; so hätten sie die Flucht in ein Selbstverständnis der egozentrischen gottgleichen Allmacht ergriffen, und auf Grund dessen sei die moderne westliche Zivilisation "psychosozial gestört". Voegelin spricht vom noetischen Kurzschluß des Verfalls an die Gnosis, da die Menschen die eschatologische Spannung, in die sie der christliche Glaube versetze, nicht ausgehalten hätten. 15 Der Umbruch wird allerdings auch ganz anders gedeutet, auch von christlichen Theologen: In der Neuzeit sei die genuin christliche Idee der Freiheit von den "Mächten und Gewalten" zu voller Wirkung gekommen; die Modeme habe die genuin christliche Überwindung der "Kosmozentrik" geschichtlich fruchtbar werden lassen. 16

IV. Kann man das Aufkommen der modernen Bewußtseinsposition so geradewegs als geistesgeschichtliches Widerfahrnis oder als pneumatischen Durchbruch deuten, oder als den unerklärlichen Ausbruch einer Psychopathie? Vielleicht ist es hilfreich, auch eine "politische" Deutungshypothese anzubieten. Das erste Produkt des neuzeitlichen poietischen Subjektivismus ist der moderne Staat als eine "berechnete, bewußte Schöpfung" des Menschen, als "Kunstwerk", wie Jacob Burckhardt darlegt: 17 Menschen werden zielstrebig einer systematisch ausgebauten Herrschaft unterworfen, das Zusammenleben wird organisiert, Verhältnisse werden neu gestaltet; das Angesicht der Erde - im besonderen: des Reiches - soll erneuert werden. Der Prototyp des poietischen Subjekts ist der Schöpfer dieses "Kunstwerkes": Friedrich II. der Staufer, "mundi imperator mirabilis", wie man ihn nennt, und- entsprechend einer älteren Tradition- die "lex animata"; Horst Eberhard Richter , Der Gotteskomplex, Reinbek 1979. Erle Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959; Ders., Die Neue Wissenschaft der Politik, München 1959; Ders., Anamnesis, München 1966. 16 Vgl. z. B. Johann Baptist Metz, Christliche Anthropozentrik, München 1962. In der evangelischen Theologie ist die Idee, daß die Moderne (einschließlich des Aspekts der Säkularisierung) eine Frucht des Christentums sei, weiter verbreitet als in der katholischen. 17 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Erster Abschnitt: "Der Staat als Kunstwerk". 14

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so kann er sich als "vicarius Dei" bezeichnen und sagen: "Ego quidem mundi Dominus"- weswegen er manchen Zeitgenossen als der Antichrist galt, als der "vicarius Luciferi", des Engels, der sein wollte wie Gott ... Friedrich war der erste Souverän der abendländischen Geschichte; "Souveränität" ist ja von Haus aus die begriffliche Übersetzung des Gottesprädikates der Allmacht in die politische Sphäre. Aber so wie es den Satz gibt "rex imago Dei", gibt es auch seine analoge Fortführung: "homo imago regis"; die Ideen, die Selbstverständnisse der Herrschenden werden die herrschenden Selbstverständnisse und Ideen; das Lebensmodell des Herrschers wird das repräsentative Vorbild für seine Mitwelt. 18 Solche "Nachbilder" gibt es in der Politik: "omnis rex est imperator in regno suo"; dann aber vor allem in der Geisteswelt: das schöpferische Genie wird so zum "Vorbild" eines jeden, der sich als Schöpfer seines eigenen Lebenswegs versteht, also seine Existenz an Hand der Idee des poietischen Subjektivismus auslegt. Älter noch als die ästhetische Variante des souveränen "homo creator" ist vielleicht die geistliche; man braucht sich nur an die Gnosis zu erinnern; an die Idee der weltüberlegenen geistlichen "Souveränität" der religiösen Vorbilder, die als "Gesetzgeber" gelten; und nicht zuletzt an die Idee des Übermenschen, der schließlich zum Leitbild des Menschen überhaupt wird. 19 Das soll besagen: Erst sind es Ausnahmenaturen, "Genies" ("Virtuosen", wie Max Weber sagen würde), die den Anspruch erheben, selbst zu bestimmen, was sein und gelten soll; ihnen gesteht man das auch zu. Erst später wird dieses Lebensmodell sozusagen verallgemeinert, übrigens auch säkularisiert - und was daraufhin übrig bleibt, ist die Idee der Souveränität des Menschen schlichtweg, der zur Selbstbestimmung ermächtigt und berufen ist, und der also seine eigenen, selbstgesetzten oder selbstgewählten Interessen als den Inbegriff seiner Lebensaufgabe sieht.

V. Die verschiedenen Ausprägungen des "poietischen Subjektivismus" bekommen es mit Gegenpositionen zu tun. Zu massiv ist insbesondere die Erfahrung, daß der Mensch kein souveränes Geistwesen ist, daß ertrotz aller Vemunft, trotz aller Kreativität den 18 Charakteristisch ist es z. B., daß im alten Ägypten das Weiterleben nach dem Tode (und auch das Erscheinen vor einem übermenschlichen Gericht) zunächst dem Herrscher zugeschrieben wurde, dann auch den Großen des Reiches, und schließlich allen Notabeln. 19 Vgl. z. B. Ernst Benz, Das Bild des Übermenschen in der europäischen Geistesgeschichte, in: Ders. (Hrsg.), Der Übermensch, Zürich 1961, S . 19-161.

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Kräften seiner Natur weithin überantwortet bleibt. Die Idee der Souveränität wird durch natürliche Bedürfnisse und durch schwer beherrschbare Passionen blamiert; das Reich der Freiheit ist in das Reich der naturhaften Nötigungen eingebannt. Wie sich hieraus die Strategie entwickelt, bestimmte Passionen durch andere in Schach zu halten - nämlich durch solche, die sich leichter der Lenkung des Verstandes unterwerfen lassen-, und wie so die naturwüchsigen Leidenschaften in den Dienst sublimierter, vernunftimprägnierter Interessen gestellt werden, hat Albert Hirschman gezeigt. 20 Übrigens läßt sich auch dieser Vorgang gleichsam prototypisch im Blick auf die Politik und ihre Theorie verfolgen: Nicol6 Machiavelli begründet die Theorie der Politik auf einer Anthropologie, die den Menschen als passioniertes und ambitioniertes Wesen begreift: Menschen sind vom Begehren getrieben, auf der elementaren Ebene der Lebensnotdurft "per necessita", und oberhalb dieser Basisbedürfnisse "per ambizione" . Dies sind für ihn, der nicht mehr an den Primat des Geistes glaubt, wie die mittelalterlichen Philosophen, die "inclinationes naturales" des Menschen. 21 Sie bedürfen der Eindämmung und Lenkung durch die "prudenza"; diese kalkuliert und definiert ihrerseits die handlungsleitenden Interessen, und zwar durch das rekonstruktive Verstehen der Lage (der "circumstantiae", wie man im Mittelalter gesagt haben würde), und ihrer situativen Zwänge ("necessita"). So muß gerade der homo politicus die Machtgier und den Ehrgeiz zügeln, und nicht nur seine elementaren Begierden, entlang den Interessen der Herrschaftserhaltung. Schon Friedrich Meinecke hat gezeigt, wie sich hieraus die Idee der Staatsraison entwickelt. 22 Dann aber geht die kalkulierende Vernunft mit dem Grundstreben nach Selbsterhaltung und Machtmehrung ein Amalgam ein, so daß sich im "Interesse" Strebenskraft und Rationalität vereinigen - weswegen das Albert 0. Hirschman aaO. 1980, siehe Anm. 8. Siehe Kurt Kluxen, Politik und menschliche Existenz bei Machiavelli, Stuttgart 1967, S. 39.- Bei Thomas von Aquin findet sich die Lehre von den drei "inclinationes naturales", nämlich erstens jene "ad conservationem sui essem secundum suam naturam", zweitens die "inclinatio secundum naturam in qua communicat cum ceteris animalibus .. . ut est coniunctio maris et feminae et educatio liberorum", und drittens die "inclinatio ad bonum secundum naturam rationis, quae est sibi propria" . Die Selbsterhaltung, die Arterhaltung und die Geistentfaltung (die wiederum das Streben nach der Wahrheit über Gott, also das Streben nach Sinnvergewisserung, und das Streben nach mitmenschlicher Gemeinschaft einschließt) sind die von Natur aus legitimen "Interessen" des Menschen - legitim sozusagen aus ontologischen Gründen. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica I.II, q. 94, a. 2. Vgl. die Deutsche Thomas-Ausgabe Bd. 13 (Das Gesetz, kommentiert von Otto Hermann Pesch), Heidelberg und Graz 1977, S. 74 ff. Nicht überall da, wo heute von "basic human needs" die Rede ist, weiß man über die historische Tiefendimension des Begriffs Bescheid. 22 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924), Hrsg. v. Walther Hofer, München 1957. 20 21

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"Interesse" stärker wird als jedes andere Motiv. In diesem Sinn kann Trajano Boccalini (1556 -1613) sagen: "Es ist nicht möglich, einen Fürsten zu binden; ebensowenig wie die Tiere der Herde den Hirten binden können, weil es kein anderes Bindemittel für ihn gibt als das Interesse und den Nutzen." 23 Sein Zeitgenosse Giovanni Botero (1540-1617) schreibt: "Halte es für eine ausgemachte Sache, daß in den Erwägungen der Fürsten das Interesse das ist, was jede Rücksicht besiegt. Und deswegen darf man nicht trauen auf Freundschaft, auf Verwandtschaft, auf Bündnis, auf irgend ein anderes Band, wofern nicht dieses auch das Interesse dessen, mit dem man verhandelt, zum Fundamente hat." 24 Das waren nicht nur Vorurteile des frühen 17. Jahrhunderts; Ähnliches findet man bei Kardinal Richelieu, bei Bismarck 25 - und noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts formulierte John Foster Dulles: "Die USA haben keine Freunde, sie haben lediglich Interessen." 26 Dies alles zeigt, daß bei der Herausbildung des modernen Verständnisses von "Interessen" - abgesehen von der schon erwähnten Bedeutung von "Zinsen"- zunächst das Interesse des Herrschers prägend und maßgebend ist, das Interesse des homo politicus, des Sachwalters der "ragione di stato". Auch hier kommt es erst sekundär zu einer "Verallgemeinerung". Zwar findet sich bereits bei Francesco Guicciardini (1483-1540) die Unterscheidung zwischen dem "interesse dello stato" oder "della citta" einerseits, dem "beneficio proprio" beziehungsweise dem "interesse privato" andererseits; 27 aber dabei dürfte aristotelisch-scholastisches Traditionsgut weiterwirken, in Gestalt der Gegenüberstellung von "bonum commune" und "bonum proprium". Als im Englischen der Ausdruck "interest" geläufig wurde - im Zuge eines Rezeptionswegs aus Italien über Frankreich -, verband man damit zuerst ebenfalls den Gedanken einer Leitschnur für das Handeln von Herrschern und Staatsmännern. Erst im Bürgerkrieg wird es üblich, von den verschiedenen, antagonistischen Interessen der Bürgerkriegsparteien zu sprechen, etwa im Sinne der später so genannten "konfessionellen Interessen" (nämlich denen der Religionsparteien). 28 Auch dafür gibt es ein vormodernes Denkmuster, nämlich in Platons Politeia die Beschreibung der antagonistisch gespaltenen Polis, etwa der Oligarchie: dort gibt es auf Zitiert nach Friedrich Meinecke ebd. (1957), S. 89. Zitiert nach ebd., S. 80. 25 Otto von Bismarck an Leopold von Gerlach am 2. 5.1857, zit. nach Reinhart KoseHeck aaO., 1982, s. Anm. 2, S. 349. 26 John Foster Dulles, zit. nach Bemard Willms, Funktion- Rolle - Institution, Düsseldorf 1971, S. 87. 27 Nach Hans-Jürgen Fuchs aaO. (1976), s. Anm. 2, Sp. 480 f. 28 Dies nach Albert Hirschman aaO. 1980, s. Anm. 8, S . 44 f. 23 24

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einem Territorium gleichsam zwei einander bekriegende Poleis, sozusagen zwei Staaten mit unvereinbaren Staatsräsonen ... Der politische Sinngehalt ist noch eindeutig gegenwärtig (zumal man sich bis zur Durchsetzung des Toleranzgedankens die "polity" nur als ein zugleich staatlich und konfessionell geeintes Gemeinwesen vorstellen konnte 29 ). Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als der bürgerliche Friede und ein Minimum von Glaubensfreiheit errungen waren, setzt sich eine Redeweise durch, die "Interessen" einzelner Individuen, Gruppen und Verbandseinheiten im Sinne ökonomischer Anliegen und Ansprüche als solche bezeichnet. 30 Sie bleibt dann maßgeblich, vor allem, wenn die bürgerliche Gesellschaft im Horizont des Spiels der Interessen begriffen wird (wie in der sozialphilosophischen Deutung dieser bürgerlichen Gesellschaft bis hin z. B. zu Lorenz von Stein). Indessen bleibt auch die politische Bedeutung des Begriffs lebendig - bis hin zum Begriff des "national interest".

VI.

Das bisher gezeichnete Bild wäre unvollständig, würde nicht auch noch eine andere Auseinandersetzung vergegenwärtigt. Vorhin wurde bereits die These entwickelt, daß der "poietische Subjektivismus" durch die Erfahrung der Naturbedingtheit und Naturabhängigkeit des Menschen in Schranken verwiesen und korrigiert wurde, so daß sich eine Bedeutungslinie des Interessenbegriffs gewissermaßen aus der Dialektik und der Vermittlung von Souveränitätsanspruch und Naturunterworfenheit ergab. Der poietische Subjektivismus- als Idee der emanzipatorischen und emanzipierten Selbstermächtigung des souveränen Menschen wird auch noch aus einer anderen Richtung in Frage gestellt: sozusagen nicht nur "von unten", um der Naturnötigungen und Passionen willen, sondern auch "von oben", kraftder im Glauben gegenwärtigen Gottbezogenheit des Menschen: Das, was Horst Eberhard Richter den "Gotteskomplex" des neuzeitlichen Bewußtseins nennt, wird, wie nicht anders zu erwarten, im Namen des Glaubens von der Theologie kritisiert, ja zuweilen geradezu verdammt. Der Traditionshintergrund ist klar: "Sein-Wollen wie Gott" ist die Ursünde. Seit Augustinus ist der "amor Dei" der gute Grundakt des Menschen, der "amor sui" der böse. Unter diesen Voraussetzungen ist das eigensüchtige und eigennützige Streben, das auf die souveräne Selbstverwirklichung und auf die beherrschende Nutzung der Güter 29 Es dauerte vom Ende des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, bis England den Weg von der "Ecclesiastical Polity" (Richard Hooker) bis zum "Civil Government" (John Locke) hinter sich gebracht hatte. 30 Nach Albert Hirschman aaO. 1980, s. Anm. 8, S . 45.

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ausgeht, verwerflich; gut und gottgefällig ist dagegen das uneigennützige Sich-Freuen am Guten ("frui" im Gegensatz zu "uti"); die "delectatio boni", die nicht selbstgenüBlich intendiert werden darf und die von den französischen Moralisten geradezu als "desinteressement" charakterisiert wird. Das französische Denken übernimmt diesen Gedanken vom spanischen, vor allem von den Mystikern und Seelenführern. Einmal abgesehen von Ignatius (es geht darum "salir de su proprio amor, querer y interesse" 31) -"Interesse" ist für den Dominikaner Domingo de Soto (1495-1560), den Beichtvater Kaiser Karls V., ebenso wie für die Hl. Teresa von Avila (15151582) und für ihren Beichtvater, den Karmeliterheiligen Juan de la Cruz (1542 -1592), geradewegs der Gegenbegriff zum "amor de Dias". 32 Gleichwohl ist dies kein Sondergut der Mystiker. Im "Tractado de Republica" des Alonso de Castrillo (1521) ist "Interesse" der Gegenbegriff zur Tugend der Gerechtigkeit; 33 mit anderen Worten: die Orientierung des Handeins am (eigenen) Interesse ist ein Laster. Indessen - diese geistige Bastion kann nicht gehalten werden; das neuzeitliche Selbstbewußtsein setzt sich durch; die Theoretiker können nicht umhin, die Selbstbejahung und damit die Handlungsorientierung am Eigeninteresse als die schlichtweg fundamentale "ratio" gewahrzuwerden; "ratio" heißt ja ursprünglich "Ausrichtung"! Selbst die "gute" Orientierung am "höheren" oder "höchsten" Interesse kann nun nicht mehr ohne Selbstbezug begriffen werden. Am bekanntesten ist diesbezüglich die Unterscheidung von "amour de soi" als gesunder Selbstbejahung und "amour propre" als übler Selbstsucht bei Jean Jacques Rousseau. Das kommt bei Rousseau jedoch keineswegs von ungefähr. Schon bei Thomas von Aquin gibt es Gegenüberstellungen, die an Rausseaus Begriffe erinnern: einerseits die Unterscheidung von "amor amicitiae" (der vom Selbstinteresse freien Bejahung des Gutseins des Geliebten) einerseits und "amor concupiscentiae", der begehrenden, "interessierten" Liebe andererseits; ähnlich auch die Gegenüberstellung von "amor perfectus" (der schlechthin bejahenswerten "caritas") und "amor imperfectus" (wo die Ausrichtung der Seele auf Gott hin mit der Hoffnung für sich selbst imprägniert ist). Indessen denkt Thomas im Horizont des Satzes "gratia perficit naturam"; die Natur selbst, als die den Geschöpfen vom Schöpfer gegebene Daseinsverfassung, legt den "appetitus naturalis" in das Geschöpf, das Streben nach der "perfectio" des eigenen Wesens. Die gnadenhaftverliehene "übernatürliche" Liebe transzendiert die Selbstliebe. 31 Ignatius von Loyola, Exerzitien (1548), nach Ernst Wolfgang Orth aaO., 1982, s. Anm. 2, S. 319. 32 Nach Hans-Jürgen Fuchs aaO., 1976, s. Anm. 2, Sp. 481 f. 33 Zit. ebd.

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Die existentielle Frage, die zum Bedenken dieser Zusammenhänge Anlaß gibt, ist in der Tradition die, ob man um der Brüder willen auf die eigene Seligkeit verzichten kann - oder gar soll. Wie sich die klassische Überlieferung in der Konfrontation mit dem modernen, im Horizont des Eigeninteresses stehenden Selbstverständnis entweder behauptet oder aber in den neuen Horizont einbringen und damit umdeuten läßt, das hat Robert Spaemann vor Jahrzehnten in seiner Habilitationsschrift im Blick auf Fran~ois Fenelon (1651-1715) gezeigt. 34 Der damalige Bewußtseinsstand, gerade auch der kirchliche, geht daraus hervor, daß Papst Innozenz XII. im Jahre 1699 die Lehre, der Mensch könne sich auf Dauer in einem Zustand des reinen, interessefreien amor Dei befinden, ausdrücklich verurteilt hat: Ein nicht in (naturgemäß selbstbezogenen) Interessen befangener Existenzvollzug des Menschen ist eine irrige Vorstellung, und damit verwerflich. (Linus Bopp vermerkt freilich, daß das päpstliche Breve nur nach einem "häßlichen Ränkespiel" der Gegner Fenelons unterzeichnet worden sei . . .)35 Allemal bleibt eine egozentrische, schlicht egoistische Einstellung verwerflich; darüber sind sich die Moraltheologen der frühen Neuzeit einig, seien sie Salesianer oder Oratorianer, Jansenisten oder Jesuiten. Aber einerseits wird selbst die Gottesliebe nun in einen reflexen Selbstbezug rückgebunden, nämlich auf das Motiv der Sehnsucht nach der eigenen Seligkeit bezogen - so beim großen Gegner Fenelons, JacquesBenigne Bossuet (1627 -1704), dem Fenelons interessenfreie Gottesliebe ablehnenswerter Quietismus ist: der auf Erden lebende und handelnde Mensch kann und darf nicht "desinteressiert" sein, auch nicht an "irdischen" Interessen. (Hier regt sich der bürgerliche Eudaimonismus!) Andererseits sagen die Moralisten, die das gelebte Leben sozusagen abseits theologischen Vorverständnisses beobachten, daß selbst in den scheinbar uneigennützigsten Handlungen letztlich der "amour propre" als die eigentliche Triebkraft wirkt; der Mensch ist so verfaßt, daß er aus dem Zirkel der Selbstbezogenheit nicht ausbrechen kann ... La Rochefoucauld meint 1644, daß "amour propre" und "interest" letztlich zwar Feinde der wahren Tugend w ären - aber daß es ohne sie nicht geht: es gibt keine Liebe, die sich entfalten könnte, ohne vom Interesse vorangebracht zu werden ... Das hat auch Konsequenzen für das Gesellschaftsverständnis. In der klassischen Tradition wird die Rangordnung der Stände unter Berufung auf Robert Spaemann, Reflexion und Spontaneität, Stuttgart 1963. Linus Bopp, Art. Fenelon, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. (Hrsg. v. Josef Höferund Karl Rahner), Bd. 4 (1960), Neua usg. Freiburg I Br. 1986, Sp. 75 f., hier Sp. 76. 34

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die unterschiedliche Dignität ihres jeweiligen Ethos gerechtfertigt; dies wird nun als Ideologie durchschaut- La Rochefoucaulds Sentenzen "legen hinter der Maske des Edelmanns den rechnenden Kaufmann frei" .36 In einem nächsten Schritt bildet sich ein bürgerliches Selbstbewußtsein heraus, das von der eigenen moralischen Überlegenheit überzeugt ist, das die überkommene höfische und ständische Kultur als verlogen abwertet, gerade insofern sie sich den Anschein gibt, über bloße Interessen erhaben zu sein. 37 Schließlich wird mehr und mehr deutlich, daß die interessenorientiert handelnde Person, wie das Volker Gerhardt formuliert hat, "als nach Gewinn und Verlust kalkulierendes", d. h. als wirtschaftendes Subjekt vorgestellt wird. 38 Dazu trägt nicht zuletzt der atmosphärische und inhaltliche Wandel der Moralphilosophie bei: Die Tradition der Tugendlehre wird, dem umschriebenen paradigmatischen Wandel gemäß, in den Horizont des Nützlichkeitsdenkens gebracht; an die Stelle der klassischen praktischen Vernunft tritt die strategische Vernunft. Vinzenz Rüfner, der das im Blick auf Benjamin Franklin, David Hume, Adam Smith und schließlich Jeremy Bentham dargestellt hat, 39 führt das auf die "Zersetzung" des alteuropäischen und christlich-mittelalterlichen Ordo-Gedankens durch den Nominalismus zurück. Aber wie konnte das so sozial wirksam und geschichtsmächtig werden? VII. Vielleicht ist es doch zu einfach, sich die Durchsetzung der neuen Bewußtseinshaltung sozusagen eindimensional in der Dimension der Philosophiegeschichte vorzustellen. Man kann vom philosophischen Nominalismus sagen, daß seine Durchsetzung im philosophischen Denken eine "Zersetzung des Ordo-Gedankens" bedeutet. Andererseits: Wenn der "Poietische Subjektivismus" das menschliche Selbstbewußtsein bestimmt, sich als Grundhaltung durchsetzt, bedeutet das abermals die Entwertung des vorgegebenen Ordo, die Welt

36 Volker Gerhardt, "Interesse"- Terminus technicus des neuzeitlichen Denkens, in: Peter Massing und Peter Reichel (Hrsg.), Interesse und Gesellschaft, München 1977, S. 36 ff. hier S. 39. 37 Siehe Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Freiburg 1 Br. 1959. 38 Volker Gerhardt aaO. 1977, s. Anm. 37, S . 38. 39 Vinzenz Hüfner, Der Kampf ums Dasein - Kritische Studie zur Ordnungsidee der Neuzeit, Halle 1929, S . 129 ff.

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wird der Souveränität verfügbar, und zwar sozusagen im Selbstverständnis der handelnden Menschen (zunächst der herrschenden, Neues schaffenden), nicht nur in Lehrgebäuden der Philosophen. Aber man sollte auch noch einen anderen Sachverhalt in Rechnung stellen; er soll zunächst mit den Worten Wilhelm Diltheys, mit der Bitte um Nachsicht für die ausführliche Zitierung, vergegenwärtigt werden: Der mächtigste Beweggrund für die epochale Wandlung" ... lag in der zunehmenden Zersplitterung der Kirche in Sekten, dem immer anwachsenden Streit der Glaubens- und Denkformen und dem so entstandenen kriegerischen Zustande Europas. Schon der Zusammenstoß des christlichen Abendlandes mit den Mohammedanern hatte den theologischen Gesichtskreis durch die Anschauung einer zweiten Weltreligion erweitert. Dann wurde durch den Humanismus die Gleichwertigkeit der antiken Kultur mit der christlichen zur Anschauung gebracht. Hierauf erschütterte die Reformation von innen die Autorität des katholischen Glaubens; indem nun aber nur die Kirche Luthers und die Zwingli-Calvins zu fester Gestalt gelangten, beide umspült gleichsam von den ruhelosen Wellen formloser religiöser Überzeugungen, ist damals ein Zustand äußerster Zersplitterung der religiösen Ideen entstanden. Aus Deutschland ergoß sich die Wiedertäuferische Bewegung in die Schweiz und die Niederlande. Die italienische Religionsverfolgung von den vierziger Jahren an trieb über die Grenzen humanistisch gebildete, verstandesstarke Italiener; ,quibus nulla religio placet, quando papistica iis incepit displicere', wie von ihnen ein Zeitgenosse sagte: sie durchirrten Europa: in Graubünden und zuletzt in Polen faßten sie Fuß und bildeten die sozinianische Lehre aus. In England und Schottland entstand aus der Diskussion über Kirchenverfassung, Kultus und sittliche Zucht ebenfalls eine Zersplitterung der protestantischen Glaubensform in Sekten, die sich dann nach Amerika verbreitete. -Welche innere Zwietracht! Die Tradition der katholischen Kirche enthielt andere Glaubenssätze als die Bibel. Die Bibel bedurfte zu ihrer Interpretation des inneren Lichtes oder der Vernunft. Das Ergebnis der Auslegung nach diesen Maßstäben war ein anderes bei dem Reformierten, als bei dem Lutheraner, bei dem Wiedertäufer oder dem Quäker, ein anderes als bei dem philologisch geschulten Arminianer. In den großen Zentren der religiösen Bewegung, in Nürnberg, Straßburg, Basel, Zürich, London saßen Haus an Haus die verschiedenen Glaubensweisen und Sekten nebeneinander. In manchem Rat einer freien Stadt hatten sie Sessel an Sessel nebeneinander Platz genommen. Es läßt sich nicht sagen, welche Unruhe infolge hiervon sich der Gemüter bemächtigt hat. Wandernde, Flüchtende gingen von Stadt zu Stadt. Bald arme, einfältige Taufgesinnte, bald geistesstolze Italiener. Und hinter diesen religiösen Ruhestörern her die Dämonen der Zeit, Richtschwert und das brennende Holzscheit in den Händen: die katholische Inquisition und das Glaubensgericht der zwei großen protestantischen 4 Interesse und Moral

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Kirchen ... Man begreift, welche Sehnsucht entstand, aus dem Irrsal dieser ringenden Kirchen und Sekten zum Frieden zu gelangen ... " 40 Der Ausweg aus dieser Friedlosigkeit und Orientierungsnot war seinerseits mit einem Wandel des Denkens verknüpft, der dem Durchbruch des "Denkens in Interessen" Vorschub leistete, indem er Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen den öffentlichen Geltungsanspruch aberkannte, indem er sie zu "bloßen Meinungen" erklärte- was dann später ermöglichte, sie als "ideelle Interessen" zu begreifen. Der bahnbrechende Konstrukteur des Modells einer verläßlichen Friedensordnung in einer solchen Welt unversöhnlicher Überzeugungskonflikte war bekanntlich Thomas Hobbes. Er rechtfertigte, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, die Souveränität des Herrschers mit der Notwendigkeit einer heilsamen Repression der Konfliktgegner. Dazu mußte er nicht nur die irdische Ordnungsallmacht des Leviathan, des "sterblichen Gottes", als unbedingt erforderlich aufweisen, sondern zugleich auch die Geltungs- und Durchsetzungsansprüche der Kirchen, Konfessionen und Weltanschauungen delegitimieren. Dies unternahm er, indem er die Rückbindung von Normen an unverfügbare Wahrheiten ablehnte. Berühmt ist sein Satz "Auctoritas non veritas facit legem"- aber statt "auctoritas" muß man hier eigentlich "potestas" lesen, Befehlsgewalt, die - wenn man das mit Worten der Tradition ausdrückt - deshalb befugte "potestas directiva" ist, weil sie faktisch überlegene und daher durchsetzungsfähige "potestas coactiva" sein kann. Die Konsequenz ist, daß es Wahrheiten theologischen oder metaphysischen Charakters nicht geben darf und daher auch nicht geben kann, denn sie würden der Souveränität der Normsetzungsgewalt des Herrschers Grenzen setzen. Soweit also Glaubensüberzeugungen oder philosophische "Erkenntnisse" nicht vom Souverän autorisiert sind, handelt es sich nur um "Meinungen", die ihren Anhängern subjektiv teuer sind, lieb und wert, aber eben kraft subjektiver, sozusagen irrationaler Eingenommenheit. Wenn sie ihren Verfechtern so wichtig und wertvoll sind, daß sie um ihretwillen keinem Streit aus dem Wege gehen und womöglich sogar zum Kampf, zum Martyrium, bereit sind, dann handelt es sich für Hobbes schlicht um "madness" , um Verrücktheit. Also: es geht nicht um die "Wahrheit" solcher Positionen, sondern darum, daß sie jemandem lieb und wert sind. Nun werden sogenannte "Werte" maßgeblich. Der Wert einer Sache ist das Maß seiner Einschätzung in den eigenen Augen oder in den Augen anderer gemäß dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Auch der Mensch hat für Hobbes in diesem Sinn einen meßbaren, das heißt relativen Wert- nämlich das, was für den Gebrauch seiner Kraft gegeben würde. Hannah Arendt 40 Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 3. Aufl. Leipzig und Berlin 1923, S. 93 f.

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vermerkt dazu treffend: " . . . Die uns so bekannte Transformierung der Güter und Tugenden der traditionellen Philosophie ... tritt uns hier zum ersten Mal entgegen. Aber bei Hobbes ist die Tatsache, daß es Werte nur als Austauschwerte geben kann, noch durch keinen idealistischen Nebel verhüllt ... Indem er die Tugend und sogar den Menschen selber als Wert bestimmte, wollte er ... gerade feststellen, daß nichts existierte, außer dem, was in der Gesellschaft gegen etwas anderes austauschbar ist. Diese allgemeine Austauschbarkeit hat mit dem Preis ... insofern etwas zu tun, als jedes zu einem Wert gewordene Gut oder jede in einen Wert transformierte Tugend ihren Preis hat, nämlich dasjenige, wofür ihr Besitzer bereit wäre, sie einzutauschen ... Die Vergesellschaftung der Güter, der Tugenden und schließlich der Menschen, die sich darin beweist, daß alles zum Wert wird ... , führt automatisch zu einem radikalen Relativismus ... " 41 Wie erinnerlich, hat sich später Immanuel Kant leidenschaftlich gegen diese Sichtweise gewandt: nur Sachen haben einen "relativen Wert". Personen dagegen haben Anspruch auf "Achtung"; 42 denn als sittliches Wesen hat der Mensch nicht einen "Preis" (so daß "an dessen Stelle auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden kann"), sondern eine Würde- d. h. er ist "über allen Preis erhaben", kann weder einen "Marktpreis" noch einen "Affektionspreis" zugesprochen bekommen; die Menschenwürde verdient nicht (relative) "Wertschätzung", sondern "Achtung". 43 Gleichwohl hat sich in der Philosophie eine Redeweise durchgesetzt, in der die Probleme der menschlichen Lebensgestaltung unter Bezugnahme auf "Werte" zur Sprache kommen. 44 Auch in den Sozialwissenschaften ist es üblich geworden, normative Überzeugungen als Wertungen und ihre sprachlichen Artikulationen als "Werturteile" zu fassen. 45 Und schließlich ist diese Terminologie auch in der Politik und in der Alltagssprache gängig geworden. Nur selten ist man sich dabei des Umstandes bewußt, daß die Wahl dieser Redeweise eine Strategie ist, die es gestattet, praxisrelevanten Wahrheitsfragen auszuweichen, indem die möglichen Antworten zu bloßen "Meinungen" umgedeutet werden, und die entsprechenden Überzeugungen 41 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt I M. 1958, S. 219 f. 42 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Zweiter Abschnitt (Ausg. in 10 Bänden von Wilhelm Weischedel, Bd. 6), Darmstadt 1968, S. 60. 43 Vgl. ebd. S. 68 f . 44 Vgl. dazu die Darstellung von Jürgen Gebhardt, Die Werte, in: Rupert Hofmann, Jörg Jantzen, Henning Ottmann (Hrsg.), Anodos: Festschrift für Helmut Kuhn, Weinheim 1989, S. 35-54, sowie auch schon Helmut Kuhn, Werte- eine Urgegebenheit, in: Hans-Georg Gadamer und Paul Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 7: Philosophische Anthropologie, Zweiter Teil, S. 343 -373 . 45 Vgl. dazu Heinrich Schneider, Anmerkungen zum Problem der politischen Kultur, in: Hubert Feichtlbauer, Willibald Girkinger, Alfred Klose (Hrsg.), Zwischenrufe (Festschrift für Eduard Ploer), Linz 1990, S. 154-218, u . a. S . 161 ff.

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zu sogenannten "Wertvorstellungen", deren Anerkennung Lust, deren Ablehnung Unlust verursacht. Dadurch wird der "Geltungswert" solcher Meinungen und Wertvorstellungen mit anderen Vor- oder Nachteilen kommensurabel. Gewissensüberzeugungen werden vermarktbar, sie werden als "Wertpräferenzen" behandelt und damit gleichsam zu "ideellen Interessen" umfunktioniert, die gegen andere Interessen, z. B. materielle, aufgewogen und ausgetauscht werden können. Ihnen gegenüber ist es dann sinnvoll, eine Haltung einzunehmen, die sich in Sätzen ausdrückt, wie etwa: "Was ist mir das wert?" oder "Das kauf' ich Dir nicht ab!" Die Ausformulierung von Gewissensansprüchen und von Einsichten in praxisrelevante Wahrheiten in der Terminologie der sogenannten "Werte" gehört in jenen Zusammenhang, den Karl Marx als den der "Warenwelt" (und der dazugehörigen Bewußtseinsverfassung) beschrieben hat. Freilich, daß in einer Händlergesellschaft Wahrheiten und Tugenden "vermarktet" werden, weswegen dort sozusagen nichts mehr heilig und im letzten alles verkäuflich ist, haben schon viel ältere Denker erkannt, beispielsweise Montesquieu . . . 46 In unseren Tagen hat übrigens auch Robert Spaemann dargelegt, daß die moderne westliche Gesellschaftsauffassung auf der "Denk- und Lebensform des funktionalen Äquivalententauschs" beruht, daß aber "zentrale Begriffe des Christentums in diese Denkform nicht übersetzbar sind",- in eine Denkform, der die Rede von "Werten" adäquat ist, weswegen Spaemann besorgt daran erinnert, daß schon Heidegger "den Begriff des Wertes selbst als geheime Aufhebung des in ihm Gemeinten bezeichnet" habe, "als Vorboten des Nihilismus."47 Ob daraus auch vergleichbare Folgerungen für das Denken am Leitfaden von Interessen abgeleitet werden können? Immerhin haben die vorangegangenen Ausführungen deutlich gemacht, daß die von der weiter oben referierten These von Ralph Barton Perry nahegelegte Auffassung, es bestehe ein nicht nur oberflächlicher Zusammenhang zwischen dem "Denken in Interessen" und dem "Denken in Werten", nicht ganz von ungefähr kommt. Begibt sich also eine Gesellschaftslehre und eine Politiktheorie, die sich prinzipiell vom Begriff des Interesses leiten läßt, in die Nähe eines vielleicht nicht praktischen, aber sozusagen ontologischen Nihilismus - insbesondere dann, wenn sie "Interessen" auch noch mit "Werten" in Bezug setzt?

46 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XX Kap. 2: "Man sieht, daß in den Ländern, wo man nur vom Handelsgeist beseelt ist, auch mit allen menschlichen Handlungen und allen sittlichen Tugenden Handel getrieben wird . . . " (zit. nach der Ausg. v. Ernst Forsthoff, Tübingen 1951, Bd., II, S. 3). 47 Robert Spaemann, Einsprüche, Einsiedeln 1977, S. 8 und S . 41 ; vgl. auch S. 17 f .

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VIII.

Autoren wie Hannah Arendt, Robert Spaemann und Eric Voegelin, 48 nicht zu reden von Karl Marx, aber wiederum auch Carl Schmitt, 49 scheinen die Durchsetzung des Interessenparadigmas, und ineins damit die Umfunktionierung von Wahrheits- und normativen Verbindlichkeitsüberzeugungen zu "ideellen Interessen", eine bedenkliche Abkehr von der abendländischen Tradition zu halten. Aber kann man dies nicht auch anders sehen? Bernard Willms hat die Gegenthese zur Nihilismussorge formuliert: "Seitdem mit der neuzeitlichen Entwicklung zentrale Sinngebungssysteme, die ,Wahrheit' garantieren, durch die Freiheit der Vernunftsubjekte ersetzt wurden ... , sind inhaltliche Allgemeinheiten ... zu bloßen ,Werten', d. h. zu privaten Präferenzen, geworden. Werden private Präferenzen wiederum öffentlich geltend gemacht, so kann man nur von ,Interessen' sprechen ... Daß es nicht mehr um Wahrheiten, sondern um Interessen geht, ist ein Fortschritt." 50 Das heißt: Das Maßgeblichwerden des Denkens in Interessen hängt mit Errungenschaften der Freiheit zusammen. In der Tat bewerkstelligt Hobbes die Entschärfung der Überzeugungskonflikte dadurch, daß er die Wahrheitsansprüche und -Überzeugungen zu lusterregenden, annehmlichen Vorstellungsanmutungen umdeutet: sie sind seiner Lehre zufolge mehr oder minder massiv präferierte "Meinungen" ohne objektiven Wahrheitsbezug und daher ohne öffentlich verbindlichen, womöglich gar dem Souverän gegenüber erhebbaren Geltungsanspruch. Hobbes greift, um so argumentieren zu können, auf eine naturalistische (manche sagen auch: materialistische) Anthropologie zurück. Man kann eine solche Konfliktentschärfung aber auch anders begründen, nämlich zum Beispiel so, wie das ein Zeitgenosse von Hobbes unternimmt, der anglikanische Theologe Jeremy Taylor: 51 Taylor geht von der Schwäche der menschlichen Vernunft aus, derzufolge menschliches Wissen immer nur auf der Suche nach Wahrheit ist: "reason" kommt Gott zu, dem Menschen nur "reasoning" ; menschliche Gedanken haben sozusagen immer etwas von

48 Vgl. die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand in "Die Neue Wisssenschaft der Politik", aaO., 1959, s. Anm. 16, S. 30-42. 49 Siehe Carl Schmitt, Eberhard Jüngel, Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Harnburg 1979. 50 Bernard Willms aaO. 1971, s. Anm. 26, S. 30 f. 51 Siehe dazu Martin Greiffenhagen, Skepsis und Naturrecht in der Theologie Jeremy Taylors, Hamburg-Bergstedt 1967.

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bloßen Meinungen an sich; die menschliche Vernunft hat die' Wahrheit als Ziel ihres Suchens vor sich, aber nie im Besitz, und somit verbleibt das menschliche Denken in einer Sphäre der Probabilität. Von solchen Prämissen her betrachtet ist dann die Akzeptanz der Interessengebundenheit des menschlichen Handelns (und auch der Bedingtheit der dazugehörigen "Wertperspektiven", sit venia verbo) ein Index der Kreatürlichkeit und eine Rechtfertigung der Toleranz, oder - anders gesagt - der notwendigen Verknüpfung von Engagement und Askese; Überzeugungen und Interessen werden dann im Geist der Mahnung des Ersten Korintherbriefs geltend gemacht: so zu besitzen, als besäße man nicht .. . In moderner und profaner Sprache bringt das bekannte Wort von Joseph Schumpeter, es sei das Merkmal des Kulturmenschen, daß er sich für seine Anliegen einsetzt, obwohl er ihre Relativität erkannt hat, eine vergleichbare Einsicht zum Ausdruck. Das Denken an Hand des "Interessen"-Begriffs ist sich der eigenen Kontingenz bewußt, es impliziert, daß es neben den je eigenen Interessen stets auch andere gibt, denen man die Rechtmäßigkeit nicht von vornherein absprechen kann. Wie wichtig das für das Gedeihen eines freiheitlich geordneten Gemeinwesens ist, kann man sich an Hand der Antithese klar machen. Jener Klassiker des modernen politischen Denkens, der das Spiel und Widerspiel der Interessen durch eine neue kollektive Unmittelbarkeit überwinden, d. h. die durch das ungeläuterte Eigeninteresse verunreinigte Zusammenleben die Menschen von dieser "Entfremdung" befreien wollte, ist bereits einmal erwähnt worden: Jean Jacques Rousseau. Mit seiner Lehre von einer volonte generale, die alle partikularen Interessen schlichtweg überbieten soll, knüpft er an die Raisonnements der ebenfalls schon in Erinnerung gebrachten neuzeitlichen Moraltheoretiker an, und über sie an Augustinus. Freilich mit charakteristischen Kontrafakturen: Die heilsgeschichtlichen Vorstellungen christlicher Theologen ersetzt er durch Annahmen über eine ursprünglich gute, dann korrumpierte, jedoch einer politischen Erlösung fähige menschliche Strebens-und Willensnatur. Als heiliges Wesen lebt der Mensch im "amour de soi meme", in der reinen, gleichsam unentfremdet instinktiven Strebung des Selbstvollzugs. Als entfremdetes Wesen lebt er im "amour propre". Beide unterscheiden sich signifikant voneinander: Der "amour de soi meme " ist zuinnerst verbunden mit dem Solidaritätsinstinkt, der "pitie"; der "amour propre" hat diesen Solidaritätsbezug verloren, ist daher egoistisch; er ruft zwischenmenschliche Rivalitäten und Dominanzverhältnisse hervor, und dies macht um der Aufrechterhaltung eines geordneten Zusammenlebens willen die Errichtung des Staates nötig, zur Kanalisierung und Eindämmung der partikularen und kaufligierenden Interessen. Aber stabil und menschenwürdig ist der Staat erst, wenn er auf der Selbstübereignung aller an die "volonte genenile" beruht, so daß alle zugleich Gesetzgeber und Gesetzesadressaten sind, mithin ihre Freiheit

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nicht verlieren, sondern in vergesellschafteter Form leben und betätigen. Dann aber agiert sozusagen jeder Bürger als Agent des höheren Allgemeininteresses, nicht seines ursprünglich eigenen. Wenn man Rousseaus gedankliche Entwicklung genauer betrachtet, erkennt man den Traditionsbezug deutlicher: 52 Der im "amour propre" lebende böse Mensch macht sich selbst zum Zentrum aller Dinge; der gute Mensch hingegen fügt sich in das Ganze ein, er richtet sich auf das "gemeinsame Zentrum" hin aus. Doch was heißt dies? Im "Emile" identifiziert Rousseau noch Gott als dieses gemeinsame, gemeinschaftsstiftende Zentrum. Im "Contrat social" dagegen tritt das "corps politique" an diese zentrale Stelle, das Volk vereinigt sich "en corps" - das heißt: das Gemeinwesen ist ein "corpus mysticum", aber es wird sozusagen unter ausdrücklichem Verzicht auf das übermenschlichpersonale Zentrum konstruiert, an dem die Glieder des "corpus Christi mysticum" teilhaben und dem sie ihre Einigung verdanken. Das Gemeinwesen ist gleichsam als Kollektiv "incurvatum in se". 53 Dabei weiß Rousseau im Grunde sehr wohl, daß die Einigung der individuellen Willen zur volonte generale nicht kraft immanenter Spontaneität möglich ist; es braucht dazu einen "höheren Geist" , den "Legislateur" , der imstande sein muß, "die menschliche Natur sozusagen umzuwandeln", anstelle des "leiblichen Daseins" ein "geistiges" zu setzen. Sein Tun hat "mit menschlicher Herrschaft nichts gemein" , er vollbringt sein "die menschliche Kraft übersteigendes Unternehmen" mit einer "Macht, die gleich Null ist" . 54 Kurz: die Stiftung eines wahrhaft menschenwürdigen Gemeinwesens.bedarf eines Vermittlers der "nova lex", der die Menschen über ihre Natur hinaushebt, kraft einer Vollmacht, die nicht von dieser Welt ist.... Man muß die volonte-generale-Spekulation Rousseaus als nichttheologische Umdeutung der corpus-mysticum-Lehre begreifen, um zu erkennen, daß die "Befreiung" von den konkreten und kontingenten Interessen der Einzelnen und der Gruppen eine Verwandlung der menschlichen Natur voraussetzt, also unter den Bedingungen der empirischen Realität nicht möglich ist- oder diese vergewaltigt. Jacob Talmon hat Rousseau einen der Gründerväter des "politischen Messianismus" und insbesondere den Vordenker der "totalitären Demokratie" genannt; 55 dies ist jedoch insofern problematisch, als Rousseau ja die Realisierung der volonte generale für jede politische Ordnung fordert, auch für die Monarchie, auch für Vgl. Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, Neuwied 1959. Für Augustinus ist das "cor incurvatum in se" bekanntlich die Umschreibung für den Kurzschluß existenzieller Selbstbefriedigung, der das Wesen des "amor sui" ausmacht. 54 J ean Jacques Rousseau, Le cantrat social, Buch II Kapitel 7, zit. nach der dt. Ausg. mit einer Einleitung von Romain Rolland, München 1948, S. 90 ff. 55 J . L . Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln und Opladen 1961, S. 34 ff. 52

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die Aristokratie; darüber hinaus erklärt er ausdrücklich, eine wirkliche Demokratie habe es nie gegeben und werde es nie geben, sie tauge nur für ein Volk von Göttern. 56 Der von Rousseau entworfenen potentiell totalitären Verneinung der Legitimität konkreter und empirischer Interessen von Individuen und Gruppen tritt, ebenfalls im 18. Jahrhundert, eine Antithese gegenüber, die die Legitimität der Interessenpolitik in einer pluralistisch fundierten und verfaßten Republik bejaht und begründet. Ihre Verfechter halten die Idee der Aufhebung aller partikularen Interessen in einer umfassenden kollektiven Vergemeinschaftung a la Rousseau für eine Fehlkonstruktion, die sich nur auf Kosten der Freiheit und damit der Humanität durchsetzen ließe. Das klassische Dokument dieser Lehre, sozusagen das Gegenstück zum Cantrat social, sind die 85 "Federalist" -Essays von Alexander Hamilton, John Jay und James Madison (1787 I 88): Es gehört zur Realität der menschlichen Gesellschaft, daß es verschiedene Klassen, Interessengruppen und Gesinnungsgemeinschaften gibt. Deshalb ist auch die Rousseau'sche Identität von Herrschenden und Beherrschten ein Ungedanke. Wären die Menschen Engel, dann bräuchte man kein "government". Sie sind es nicht, also muß es eine Regierung geben. Da aber auch die Regierenden keine Engel sind, muß man sie kontrollieren. Die Pointe besteht darin, daß im Englischen "control" auch Herrschaft heißt, und "government" das politische Institutionensystem im Ganzen. "Controlled Government" bedeutet also, daß die politischen Entscheidungen an den Willen der Bürger rückgekoppelt werden; die republikanische Verfassung verhindert den Ausbruch der Regierenden wie der Regierten aus der Ordnung des Rechts. Es besteht nicht nur eine "Gewaltenteilung" und eine wechselseitige Zuordnung zwischen den Staatsorganen, sondern gewissermaßen auch zwischen den Bürgern und den Amtsinhabern, vor allem zur Vermeidung einer Mehrheitsdiktatur, das heißt: zur Verhinderung der Identifikation eines partikularen (und sei es auch mehrheitlichen) Interesses mit der salus publica.

IX. Die beiden Leitmodelle der modernen politischen Ordnung- gewissermaßen das interessenfreundliche und das interessenfeindliche - und die Möglichkeiten ihrer Vermittlung stehen seit dem späten 18. Jahrhundert und damit insbesondere auch seit den beiden großen bürgerlichen Revolutionen dieser Zeit, der Amerikanischen und der Französischen, im Zentrum der Auseinandersetzung um Rechtsstaat und Demokratie. Der Prozeß der Amalgamierung ging schon im 19. Jahrhundert so weit, daß Abraham 56

Ebd. Buch III Kap. 4, aaO. S. 124 ff.

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Lincoln in seiner Gedenkrede für die Gefallenen von Gettysburg die gewaltenteilende, auf den Grundrechten und auf der Anerkennung des Interessen- und Überzeugungspluralismus beruhende Republik als das "government of the people, for the people, and by the people" bezeichnen konnte, während noch für die Verfassungsväter der USA und auch für die "Federalist"-Autoren "Demokratie" eine schlechte Sache war. In der deutschen Nachkriegsdiskussion ist zeitweise Ernst Fraenkels "Neopluralistische" Demokratiekonzeption stark beachtet worden. 57 Hinter seiner Gegenüberstellung von "plebiszitärer" und "repräsentativer Komponente" des "demokratischen Verfassungsstaates" stand die konzeptionell maßgebende Antithese von "apriorischer" und "aposteriorischer" Gemeinwohlbestimmung. "Apriorismus" des Gemeinwohls bedeutete dabei die rousseauistische Ablehnung einer freien Artikulation und Auseinandersetzung partikularer Interessen, "Aposteriorismus" andererseits die Bereitstellung einer politischen Arena für ihr freies Spiel und Widerspiel; aber dabei betonte Fraenkel dennoch mit Nachdruck, es müsse auch einen "nichtkontroversen Sektor" von solidaritätssichernden gemeinsamen Überzeugungen geben. In seinen späten Lebensjahren identifizierte er diese unmißverständlich mit dem Naturrecht, und zwar mit dem christlich verstandenen. Das Prinzip, Interessen nach Maßgabe naturrechtlicher Prinzipien und Normen zur Geltung kommen zu lassen, bedeutete das Erfordernis, es als "wohlverstandenes" zu artikulieren, also kritisch und selbstkritisch zu überprüfen. 58 Dies muß man ausdrücklich festhalten, weil die beiden modernen Demokratiekonzeptionen, die im vorigen Abschnitt einander gegenübergestellt wurden - die in Bezug auf den Interessenpluralismus positive wie die diesbezüglich negative -, von Haus aus ihre je eigenen "bürgerlichen Naturrechtslehren" zur Grundlage hatten. Darauf hat vor längerer Zeit Jürgen Habermas hingewiesen: 59 Es gibt in der politischen Ideengeschichte Europas zwei Paradigmen der Politik, in 57 Siehe Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964 u. ö. - Dazu auch Hans Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, Leverkusen 1977. 58 Das war übrigens auch kein neuer Gedanke: schon im 17. Jahrhundert konzipieren die französischen Jansenisten das Interesse als Ausdruck des "amour propre raisonnable et eclaire"; aber dabei darf man nicht nur an ein kalkulierendes Raisonnement denken; in der französischen Lehre von den Interessen klingt auch das Moment der Anteilnahme mit an; "interessant" heißt im Frankreich des 17. Jahrhunderts zuallererst "mitleiderregend"; mit anderen Worten: "Interessen" durften auch schon im Horizont des damaligen Denkens, um als legitim zu gelten, nicht einfach "egoistisch", zur Solidarität antithetisch, gedacht und geltend gemacht werden . 59 Jürgen Habermas, Naturrecht und Revolution (1962), in: Ders., Theorie und Praxis, Neuwied/Rh. 1963, S. 52-88.

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gewisser Weise korrelativ zu Ernst Fraenkels Gemeinwohl-Apriorismus und -Aposteriorismus: ein monistisches und ein pluralistisches. Im monistischen Politikverständnis stellt sich die "naturrechtlich" geforderte Ordnung als Produkt kultureller und politischer Überwindung des Naturwüchsigen durch die Vernunft und die von ihr angeleitete souveräne Gestaltungsmacht dar. Der politische Wille bringt die Vernunftnatur der menschlichen Gesellschaft zu sich selbst. Im pluralistischen Paradigma der Politik kommen umgekehrt die Vernunft und ihr Naturrecht dadurch zur Geltung, daß die Politik, sofern sie eine willentliche, also künstliche und im Grunde willkürliche Umgestaltung der Verhältnisse zurückgedrängt, daß die Macht eingedämmt, daß der "ordre positiv" auf den "ordre naturel" zurückgeführt wird: erst die Befreiung der gesunden, naturwüchsigen Kräfte läßt die natürlichen Gesetze entsprechend den wahren Interessen aller unverfälscht und ungehemmt zur Wirkung kommen. In den beiden von Habermas einander gegenübergestellten "Naturrechtslehren der bürgerlichen Gesellschaft" kommen gegensätzliche Bestimmungen des Verhältnisses von Freiheit und Ordnung und demgemäß auch unterschiedliche Grundverständnisse von "Politik" zum Ausdruck. Dem einen Leitbild entspricht ein etatistisches und tendenziell illiberales Konzept: Politische Ordnung liegt in der Obhut eines souveränen Herrschaftsträgers, sei er hobbesianisch als Monarch oder als Abstimmungskörper gedacht, oder rousseauistisch als Kollektiveinheit. Das andere, tendenziell liberale Modell beruht auf dem Prinzip der immer wieder aufgegebenen "consociatio" der Bürger und der Gruppen, auf der Idee des immer wieder neu unternommenen Ausgleichs der Interessen im Streben, sich miteinander zu vertragen. Auch hier kann es unterschiedliche Staatsformen geben, konstitutionell-monarchische wie bei John Locke, pluralistisch-republikanische wie bei den "Federalist"-Autoren, oder sozial-genossenschaftliche wie bei Harold Laski, um nur Beispiele zu nennen. Der von Habermas aufgewiesene Dualismus hat übrigens eine realgeschichtliche Tiefendimension. Otto Hintze hat schon vor Jahrzehnten zwei Typen der Staatsbildung im europäischen Spätmittelalter nebeneinandergestellt. 60 Je nachdem, ob das betreffende Gebiet zum karolingischen Reichsverband gehörte oder nicht, verlief die Begegnung mit dem Römischen Recht ganz unterschiedlich. Davon hing ab, wie sich das Verhältnis von Freiheit und Ordnung, von Vielfalt und Einheit ausprägte; auch die Chance der Etablierung absoluter monarchischer Herrschaft war davon mitbestimmt. Hintze sah das anschauliche Kriterium für die Entwicklung des einen oder des anderen Ordnungstyps darin, ob das spätmittelalterliche 60 Otto Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes (1930), in: Ders., Staat und Verfassung, 2. Aufl. Göttingen 1962, S. 120-139.

Der Interessenbegriff in historischer Perspektive

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Ständesystem gemäß dem Dreikuriensystem oder gemäß dem Zweikammersystem ausgestaltet war (und ob demgemäß die Stände gegenüber der Krone koalieren konnten). Dies war eine verfassungspolitische Weichenstellung in monistische (etatistische) oder pluralistische (liberale) Richtung, oder anders ausgedrückt: darüber, ob gesellschaftliche Interessen größere oder geringere Chancen erhielten, sich zu artikulieren und politisch geltend zu machen. Davon hing dann auch die Einschätzung der "Legitimität" eines freien Spiels gesellschaftlicher Interessen ab. Das zeigt: Es geht nicht nur um "Begriffsgeschichte" und auch nicht nur um eine für sich betrachtete "Ideengeschichte" , wenn man darlegen will, wie das Interesse in der Gesellschaft und in der Politik begriffen und eingeschätzt wurde. Die Chance der Durchsetzung von "Ideen" hängt von historischen Machtprozessen ab- und von Interessenkonstellationen. Auch heute kann "Ordnungspolitik"- etwa eine solche, die den Pluralismus der Interessen freigeben und I oder in einen Rahmen der Gemeinwohlsicherung einordnen will - sozusagen nicht einfach "ersonnen" (abstrakt entworfen) und dann implementiert, im Modus der "poiesis" realisiert werden. Das letzte lehrreiche Beispiel hierfür ist die feierliche Einigung aller KSZE-Teilnehmerstaaten auf ein pluralistisches Verständnis von Rechtsstaat, Demokratie und marktorientierter Wirtschaftsverfassung, wie es in der "Charta von Paris für ein neues Europa" im November 1990 proklamiert wurde. Noch nie gab es im neuzeitlichen Europa eine so umfassende und inhaltlich substanzreiche Übereinkunft der politischen Repräsentanten Europas über die Prinzipien und Leitlinien der gesellschafts- und verfassungspolitischen Entwicklung. Sie stellt eine "Magna Charta" auch zugunsten der Freiheit der Vertretung von Interessen und Überzeugungen im öffentlichen Leben dar. Aber was bedeutet dies für die reale Entwicklung? Regel meinte seinerzeit: wenn das Reich der Vorstellungen erst revolutioniert sei, halte die Wirklichkeit nicht stand. So einfach ist es nicht; zumindest reicht es nicht aus, wenn die "Vorstellungen" von 35 oder nun mehr als 50 Staats- und Regierungschefs revolutionär oder evolutionär so zur Konvergenz gebracht werden, daß sie am Ende eine solche Charta unterzeichnen. (Die inzwischen unabhängig gewordenen Staaten, insbesondere die im ehemaligen Herrschaftsbereich der Sowjetunion, haben sich ja bereit erklärt, die Unterschrift ihrer Oberhäupter nachzuholen . .. ) Die Verfassungswirklichkeit bleibt dahinter zurück. Man ist versucht, mit Bertolt Brecht festzustellen: "Doch die Verhältnisse, die sind nicht so!" nämlich so, daß eine zivilisierte Auseinandersetzung frei artikulierter und organisierter Interessen tatsächlich stattfindet. Es genügt, an die Lebensund Entfaltungsinteressen nationaler oder religiöser Minderheiten in manchen Teilen Europas zu denken, um zu erkennen, daß es noch längst nicht

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überall jene pluralistisch-freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung gibt, innerhalb derer Menschen und Gruppen die Chance haben, ihre Interessen mit Aussicht auf einen fairen politischen Prozeß zur Geltung zu bringen.

X. So bleibt auch für Europa die Zukunft der politischen Ordnung nach wie vor offen. Das heißt: auch die Auseinandersetzung um die Sinnbestimmung der gesellschaftlichen und politischen Interessen geht weiter. Das Ende der "Begriffs- und Ideengeschichte des Interesses" ist nicht in Sicht. Für die absehbare Zukunft dürfte zweierlei wichtig sein: Erstens: Ob angesichts der modernen Tendenz zum Abbau hoheitlicher Willensbildung und Entscheidung zugunsten kooperativer Verabredungen und multilateraler Prozesse des Interessenausgleichs so etwas wie ein interessenübergreifendes Gemeinwohl realiter noch Chancen hat- oder ob sich die Chancen allgemein zurnutbarer (d. h. gemeinwohlgerechter) Willensbildung in partnerschaftliehen Kooperationssystemen womöglich sogar vergrößern, wie das z. B. neuerdings Fritz Scharpf meint erkennen zu können. 61 Zweitens: Ob auch im Bereich der "Ideensysteme", der Sinnwelten, sozusagen der vorwissenschaftliehen Theorie, Orientierungsperspektiven gefunden werden, die es gestatten, Interessen nicht nur nach Maßgabe der hinter ihnen stehenden Machtressourcen zu bewerten, und die zugleich individuelle und kollektive Egoismen bei aller Anerkennung der Freiheit im Namen einer gruppen-, ja vielleicht sogar staatenübergreifenden Solidarität dazu bringt, sich kritisch und selbstkritisch zum "wohlverstandenen" und gemeinwohlbewußten Interesse zu läutern. 6 2

61 Siehe Fritz Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa, Opladen 1992, S. 93-115. 62 Das Problem wurde in den letzten Jahren insbesondere im Rahmen der sog., "Kommunitarismus"-Diskussion erörtert, siehe dazu z. B. Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt IM. 1993; Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt I M.-New York 1993; Christel Zahlmann (Hrsg.), Kommunitarismus in der Diskussion, Berlin 1992.

EIGENINTERESSE - GRUPPENINTERESSE -

GESAMTINTERESSE

Das Eigeninteresse durch Lebenssinn und Institutionen legitim, effizient und unersetzlich Von Wolfgang Schmitz

I. Eine neue Phase ethischer Reflexion Auf dem historischen Entwicklungsprozeß vom Individuum zum Kollektiv als zentrale Begriffe in Politik und Sozialwissenschaften ist uns das wichtigste ethische Postulat abhanden gekommen: Die Pflicht und das Recht, unseren eigenen Interessen zu folgen. Wir haben dies folgenden Prioritäten geopfert: "Gemeinnutz geht vor Eigennutz!" (Nationalsozialismus), "Ich bin nichts, die Partei ist alles!" (Bundeskanzler Sinowatz, Vorsitzender der SPÖ), "Ästhetik des Untergangs des Individuums um einer großen Sache willen" (Antje Vollmer). Müssen wir nun wieder von vorne anfangen, dem Pendelschlag der Geschichte folgend oder gibt das hegelianische Entwicklungsgesetz von These - Antithese - Synthese einen Fingerzeig? Zeigt sich am Horizont ein neues Paradigma? Antje Vollmer stellt die Frage, "ob noch einmal am Ende der Epoche der Aufklärung ein Versuch gemacht wird, eine Grundlage des Zusammenlebens und des Produzierens der Menschheit zu definieren, die ethischen Kriterien einer menschlichen Sinnfrage genügt. Es bleibt eine große bedrohliche Leerstelle." Und manchmal habe sie den Eindruck, "das nachdrückliche Fragen der Konservativen ,Was bleibt denn von der Linken?' habe damit zu tun, daß sie mit dieser kulturellen Leerstelle nicht gern allein gelassen werden." 1 Gehen wir von zwei Befunden aus: 1. Wir haben auf dem Weg des Lernprozesses von der Entdeckung des Individuums zur Zuflucht zum Kollektiv das Kind mit dem Bade ausgegossen. 2. Wir haben mit dem Verlust des Lebenssinns vergessen, was unsere eigenen Interessen wirklich sind. 1 A. Vollmer, What's left? Moralisch amoralisch. DasScheitem eines Gesamtentwurfs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 19 vom 23. Januar 1993.

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Daß die Gewinnung neuer bzw. Wiedergewinnung entglittener ethischer Erkenntnisse Früchte einzelmenschlicher und gesellschaftlicher Lernprozesse sind, ist selbst eine Wiederentdeckung angesichts des schon auf Thomas von Aquin zurückreichenden Wissens um eine gewisse "Veränderlichkeit" der menschlichen Natur und der menschlichen Vernunft: Das sittlich-rechtliche Bewußtsein des Menschen unterliegt der Entwicklung genauso wie Erkenntnisse der "Wissenschaften" , ebenso entwickeln die Menschen ihre Fähigkeit zur Einrichtung menschlicherer Gesellschaften, weil sie durch Erfahrung und Nachdenken, by trial and error, zu einem vollkommener seine Aufgabe erfüllenden Gemeinwohl gelangen, das für alle reichlichere Befriedigung ihrer leiblichen, seelischen und geistigen Bedürfnisse bedeutet. 2

II. Wiederentdeckung des Eigeninteresses als ethisches Postulat Der hohe Rang des Eigeninteresses als Verhaltensmotivation gewinnt auf den verschiedensten Gebieten menschlichen Verhaltens und menschlicher Verhaltensnormen wieder wachsende Bedeutung.

1. Das Prinzip Eigennutz: Die Selbsterhaltungspflicht Auf dem Gebiete der Biologie hat das Eigeninteresse als Selbsterhaltungstrieb Beachtung gefunden durch Nahrungsmittelaufnahme, Schutz vor Kälte und Hitze, Schutz vor Krankheiten, Anlegen von Vorräten, Nestbau, Flucht vor und Abschreckungsgesten oder Notwehr gegen bedrohliche Feinde, Kapitulation durch Unterwerfungsgesten im Rivalenkampf im Falle drohenden Unterliegens (Selbsterhaltungstrieb stärker als Fortpflanzungstrieb), Anpassungen zur Abwehr von Bedrohungen, als generelles Verhalten, das Nützliche zu tun, das Schädliche zu meiden. Das Prinzip Eigennutz gerade als Ursache sozialen Verhaltens individueller Lebewesen hat die Verhaltensforschung am Beispiel der Tierwelt und die vergleichende Verhaltensforschung anhand analoger Erscheinungen beim Menschen wieder entdeckt. Es geht um Gesetzmäßigkeiten, die dem Verhalten der Lebewesen schlechthin zugrundeliegen und deren Kenntnis eine Theorie für das Verständnis der Verhaltensweisen möglich macht. Die scheinbare Selbstlosigkeit, mit der Tiere in Familien und Rudeln für einander eintreten oder in Schwärmen und Herden zusammenleben, beruht 2 Zitiert von J. Messner, Thomas von Aquin. Seine Bedeutung für die Gegenwart, in: Ethik und Gesellschaft. Aufsätz 1965-1974, Verlag J . P. Bachern in Köln, 1975, s. 368.

Eigeninteresse - Gruppeninteresse - Gesamtinteresse

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in Wirklichkeit auf Eigennutz. Diese Erkenntnis gibt dem Zusammenwir-

ken von Individuen eine neue Deutung. 3

Für die christliche Idee des Lebenssinns ist die Selbsterhaltungspflicht ein so wichtiges ethisches Postulat, daß der Selbstmörder bis zum neuen Kodex des Kanonischen Rechts (CIC) der Römisch-katholischen Kirche (1983) prinzipiell ein Sünder war, dem kein christliches Begräbnis gestattet wurde. Seit dem neuem Codex ist der Selbstmörder unter Umständen ein Sinnesverwirrter, der nicht mehr Herr seiner Entscheidungen und daher dafür - wenigstens im Diesseits - nicht verurteilt werden darf. Damit folgte die Kirche den Erkenntnissen der modernen Psychiatrie, derzufolge ein Selbstmörder im Verlust seines Lebenswillens stets ein Kranker, ein pathologischer Fall ist (Erwin Ringel). Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen moralischen Verpflichtung des Christen, sein Leben zu leben,sein Leben zu verteidigen und alle Chancen zum Überleben wahrzunehmen und mit der Gabe seiner Gesundheit sorgsam umzugehen (Schutz vor Drogen, schädlichen Genußmitteln und krankmachenden Lebensweisen).

2. Das Eigenwohl: vorrangige Pflicht vor der Nächstenliebe Das christliche Liebesgebot (Mk 12, 31) postuliert wohl das Gebot der Gottesliebe als absolut vorrangig. Was aber das zweite Liebesgebot betrifft, ist die christliche Moraltheologie heute darauf gerichtet, die Rangordnung des Ich gegenüber dem Du nach langer Zeit einer gewissen Fehlakzentuierung wieder zurechtzurücken: Das Liebesgebot verlangt nicht, den Nächsten mehr zu lieben als sich selbst. Der Mensch soll seinen Nächsten nur lieben wie sich selbst. Die Eigenliebe ist der Ausgangspunkt und die Vergleichsnorm. Bruno Schüller erinnert daran, daß in Handbüchern der katholischen Moraltheologie "fast schockierend" zu lesen steht: "Die Selbstliebe geht dem Rang und der Pflicht nach der Nächstenliebe voran." 4 Unter Liebe sei dabei "tätige Sorge für das Wohl" gemeint. In seinen Bestrebungen, diesem Vorrang der Selbstliebe, der ohnehin nur gelten soll, wenn man selbst und der andere auf gleichwertige Güter in gleicher Weise angewiesen ist, gerecht zu werden, leitet er sowohl aus dem Gebot der Nächstenliebe wie auch aus der goldenen Regel die Forderung nach einer unparteiischen Liebe 3 Wolfgang Wickler, Uta Seibt, Das Prinzip Eigennutz. Ursache und Konsequenzen sozialen Verhaltens, Harnburg 1977. 4 Mausbach-Ermecke, Katholische Moraltheologie, Bd. 1, München 1959, S. 135; cit. von B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie, Patmos Verlag, Düsseldorf, 3. durchges. Aufl. 1987 (1. Aufl. 1973), S. 79.

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ab: Beide sind selbst keine Vorzugsregeln, sondern disqualifizieren jede parteiische Bevorzugung. Trotzdem hält auch Schüller an einer vorrangigen Pflicht, für seine eigene Person zu sorgen (S. 88) fest. Er hält die Unterscheidung der Person des anderen und der eigenen Person als sittlich bedeutsam: In vieler Hinsicht kann jeder nur allein oder besser als alle anderen für sein eigenes Wohl sorgen. In diesen Fällen ist die sittlich richtige Aufgabenteilung klar und einleuchtend vorgegeben: Wer allein für eine Aufgabe geeignet ist, kann auch nur allein zu ihr verpflichtet sein; wer besser als andere für eine Aufgabe fähig ist, ist auch vor anderen aufgefordert, diese Aufgabe zu übernehmen. "Die damit gegebene Vorzugsregel hat ihren unmittelbaren Grund nicht in einem mehr oder weniger an geforderter sittlicher Liebe, sondern in einem unterschiedlichen Können des einzelnen Menschen, also in einem Faktor, der zumindest nicht notwendigerweise in sich selbst ein sittlicher Wert ist." (S. 105). Die Abstufung der eigenen abnehmenden persönlichen Verantwortung für Nächste, Nähere und Nahe, die der katholischen Moraltheologie seit der Scholastik vertraut ist, bringe eine weitere Relativierung des Liebesgebotes: Der kontraproduktiven Forderung, daß jeder für jeden Sorge tragen solle, stehe die effizientere Aufgaben- und Pflichtenteilung gegenüber, die nicht möglich wären, ohne Prioritäten zu setzen (S. 109). Bei näherem Zusehen erweist sich auch in der Moralphilosophie in gar nicht so seltenen Situationen sogar ein Vorrang der Selbstliebe vor der Nächstenliebe als ethisches Postulat. Die Gleichstellung der Nächstenliebe mit der Selbstliebe hält nicht jeder kritischen Hinterfragung stand, wenn der personalen Eigenverantwortlichkeit bis in ihre letzten sozialen Konsequenzen nachgegangen wird. Die Verantwortungsethik Hans Jonas' beruht auf dem durch Verantwortung begründeten eigenen Interesse, das Interesse der nachfolgenden Generation zu wahren. Im Falle eines unvermeidbaren Konflikts zwischen dem eigenen Interesse und dem der anderen hat das eigene Interesse an der Abwendung eines höchsten Übels (nicht hingegen an der Erringung eines höchsten Gutes!) sogar immer Vorrang, und allein die Entschuldigung der Notwendigkeit: "Denn man kann ohne das höchste Gut, aber nicht mit dem höchsten Übel leben." Dieser deffensive Akzent der Moral gilt auch für die Güterahwägung zwischen eigenen Interessen: Für die Alternative des Alles Gewinnens oder Alles Verlierens besteht nie ein guter Grund, aber das Unveräußerliche zu retten suchen mit der Gefahr, über diesem Versuch alles zu verlieren, kann sittlich gerechtfertigt und sogar geboten sein. 5 5 H . Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die t echnologische Zivilisation, Suhrkamp Taschenbuch 1085, Frankfurt am Main 1984 (Erstausgabe 1979), S. 79.

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Auch J. Messner hebt hervor, daß das "Eigenwohl des Menschen Schranke seiner Liebe zum Mitmenschen sein (muß): Nur einer Liebe zum Mitmenschen willen darf der Mensch nicht Opfer an der eigenen wesenhaften Persönlichkeitserfüllung bringen". Er nennt als ein Beispiel dafür eine karitative Betriebsamkeit als Selbstflucht statt Sinnerfüllung in wahrhafter Liebe. 6 Auch ethisch darf ja nicht außer acht bleiben, daß die geordnete Selbstliebe gerade darin besteht, daß für den Menschen das an sein wesenhaftes Eigenwohl sich knüpfende Eigeninteresse einen höheren sittlichen Wertrang einnimmt, als die Hingabepflicht in Nächstenliebe und die Tätigkeit im Dienst des Allgemeininteresses. 7 Aus einem Vorrang der Nächstenliebe vor der Selbstliebe hingegen ließe sich überhaupt keine brauchbare Handlungsmaxime ableiten. Eine solche Gesellschaft, in welcher jeder für die anderen sorgen muß, würde im Chaos untergehen. Wer im Sinne eines radikalen Altruismus allein für andere Sorge tragen wollte, für dessen Lebensunterhalt müßten wieder andere Sorge tragen. 8 Eine auf Altruismus aufgebaute Wirtschaftsordnung wäre in der Bedürfnisbefriedigung nicht nur völlig ineffizient, sie würde die dazu notwendigen knappen Ressourcen notwendigerweise vergeuden, weil im Zweifelsfall jeder nur seine eigenen Bedürfnisse wirklich kennen kann. Die Selbstlosigkeit (desinterestedness) kann nicht letztes Kriterium der Sittlichkeit sein, weil es für sich allein negativ und formal bleibt, während das Kriterium der Sittlichkeit positiv und inhaltlich bestimmt sein muß, auch wenn ebenso sicher ist, daß die Selbstlosigkeit des Handelns ein sekundäres Kriterium von größter praktischer Bedeutung ist. Ebenso wenig kann die rückhaltlose Hingabe der Persönlichkeit an Kollektivwerte als Höchstwerte nicht das oberste Ordnungsprinzip der Gesellschaft sein. 9

3. Das eigene Heil: Selbstzweck des Menschen Das letzte Ziel der Eigenliebe ist das eigene Heil. Kein Christ ist in der Lage oder wäre dazu berechtigt, zugunsten irgendeines anderen Menschen auf sein eigenes (Seelen-)Heil zu verzichten. Der Christ kann und darf und soll wohl bereit sein, sein irdisches Leben, sein irdisches Glück, sein Eigentum für einen anderen zu opfern, er kann und darf ihm aber sein Heil 6 J. Messner, Kulturethik, mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, Tyrolia Verlag Innsbruck-Wien-München 1954, S. 296. 7 J . Messner, Du und der andere. Vom Sinn der menschlichen Gesellschaft. Kommentare zur Pastoralkonstitution, Verlag J. P. Bachern Köln, 1969, S. 102. 8 Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), GütersIch 1991, Zif. 146, S. 104 9 J . Messner, Kulturethik, S. 297 f.

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im umfassenden letztendlichen Sinn nicht opfern. Für Messner ist Sittlichkeit schlechthin "die Selbstverwirklichung des Menschen in der Persönlichkeit" . 10 Bezüglich des Verhältnisses von Wert und Interesse hält Messner sogar im Bereich des Religiösen die Frage nicht für unberechtigt, inwieweit im Durchschnitt des religiösen Lebens ausschließlich die "Werte des Heiligen" und nicht auch das Interesse an dem eigenen, vorläufigen und endgültigen Schicksal des Menschen, seinem Heil, mitbestimmend sind. Gewiß handle es sich auch bei diesem Interesse um echte Werte, aber das Interesse als mitbeteiligte bewegende Kraft sei doch unverkennbar. Mit diesen Hinweisen auf das Interesse will Messner eine in der menschlichen Natur gelegene kulturelle Antriebskraft hervorheben, die im Auge zu behalten sei, um nicht in eine idealisierend abstrakte, den konkreten Menschen übersehende Kultur- und Gemeinwohlauffassung abzugleiten. 11 Zum Heil ist der einzelne Mensch bestimmt, nicht die ihm dienenden Institutionen. Auf die Frage, die Frau welchen Mannes jene Frau im Himmel sein wird, die auf Erden mehrmals geheiratet hatte, antwortet Jesus: "Nur in dieser Welt heiraten die Menschen. Die aber, die Gott für würdig hält, an jener Welt und an der Auferstehung von den Toten teilzuhaben , werden dann nicht mehr heiraten." (Lukas 20, 27- 38) - Da es nach dem Tode keine zwischenmenschlichen Konflikte mehr gibt, sind dann auch die zu ihrer Lösung gedachten Institutionen nicht mehr notwendig. Mit der Selbstverantwortung des Menschen für seine Selbstverwirklichung in seinem wahren Sinn besitzt der Mensch die ihm gegenüber dem ganzen unserer Erfahrung zugänglichen Universium auszeichnende Stellung eines Selbstzweckes, eine Stellung, die ihm auch zukommt in der ganzen Erstreckung seines Seins durch alle gesellschaftlichen Bereiche hin. Der Mensch ist bei der Erfüllung der ihm als Persönlichkeit gestellten Aufgaben von der Gesellschaft abhängig, jedoch als Aufgaben der Persönlichkeit kann er sie nur in Selbstbestimmung und daher in Selbstverantwortung erfüllen, sodaß der Gesellschaft nur eine Hilfsstellung zukommen kann. 12 Der Mißerfolg des Kollektivismus liegt darin, daß der individuell definierte Eigennutz einem kollektiv gesehenen Gemeinnutz untergeordnet wurde. Die korrigierende Antwort liegt in der Idee, den Gemeinnutzen dem Wohl des einzelnen Individuums dienstbar zu machen, etwa nach dem J. Messner, Kulturethik, S . 276 J. Messner, Du und der andere, S. 101 12 J . Messner, Kulturethik, S. 178; daß dies für die gesamte zu schaffende politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung gilt, ist auch die Soziallehre der katholischen Kirche (GS 9). 10 11

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Gesamtinteresse

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Postulat der christlichen Soziallehre in ihrer Akzentuierung seit dem II. Vatikanum. Diesem zufolge ist das Gemeinwohl nicht Selbstzweck, sondern ist für das Wohl jedes Einzelnen da: Die einzelne menschliche Person ist Mittelpunkt, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen, das heißt allen Handeins in Wirtschaft, Recht, Staat etc. (Gaudium et spes GS 25). Die Feststellung, daß alles, was auf der Erde ist, am Menschen als ihrem Mittel- und Höhepunkt auszurichten ist, ist heute kein Spezifikum der christlichen Ethik, sondern die "fast einhellige Auffassung der Gläubigen und der Nichtgläubigen" (GS 12), macht diese Aussage zwar noch nicht zu einem Gemeinplatz, zeigt aber, was der gesellschaftliche Lernprozeß heute schon alles hinter sich gelassen hat. Selbst kommunistische Staaten (wie z. B. die seinerzeitige DDR) bekundeten solche Absichten in ihrer Verfassung. Die entscheidende Frage ist, was der (einzelne) Mensch ist und worin seine Schwächen und worin seine Würde und Berufung liegen (GS 12). Der Sinn des Gemeinwohls wird heute von der Kirche darin gesehen, "den unantastbaren Lebenskreis der Pflichten und Rechte der menschlichen Persönlichkeit zu schützen und seine Verwirklichung zu erleichtern." 13 Diese "neuen Ansätze der katholischen Soziallehre" hebt Messner hervor: "Die Wertinteressen oder einfach die Interessen (denn alle Interessen zielen auf Werte höherer oder niederer Ordnung ab) werden zur bewegenden Kraft der von Natur aus dynamischen Gemeinwohlentwicklung. Mit dem Ausdruck "Interessen" erhalten die Überlegungen über Persönlichkeitserfüllung und Gemeinwohlentwicklung einen sehr realistischen Zug. Die Menschennatur, wie sie ist, bleibt konkret sichtbar. " Die Tatsache, daß eine enge Beziehung zwischen Gemeinwohl und Interessen besteht, wird schon daraus ersichtlich, daß die Ausdrücke Gemeinwohl und Allgemeininteresse vielfach als gleichbedeutend gebraucht werden. 14 Messner nennt es eine in der heutigen Anthropologie vertretene Tatsache, daß der Mensch Vollmensch nur in der Gesellschaft wird und daher aus eigenem Interesse seine Vollentfaltung in der Verbundenheit mit und in der Verantwortung für den anderen zu suchen hat. 15

4. Das Eigeninteresse: Ausgangspunkt der Sozialethik Das Eigeninteresse ist auch Ausgangspunkt jeder kompetenten philosophischen Befassung mit menschlich - sozialen Problemen. Johannes Messner beginnt die Darstellung seines geschlossenen Systems der alle 13

14 15

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Pius XII, Pfingstbotschaft 1941. J . Messner, Du und der andere, S. 100. J. Messner, Du und der andere, S . 11.

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Bereiche umfassenden Gesellschaftsethik mit der Natur des Menschen ("Fundamentalethik"). Das 1. Kapitel (des über 1200seitigen Werkes) "Der Mensch" beginnt mit den Überlegungen, warum eine Wissenschaft vom Naturrecht, deren Gegenstand die gesellschaftliche Ordnung ist, zunächst scheint, von der Gesellschaft als solcher ausgehen zu müssen. Er meint : "Ihre Eigenart selbst scheint dies zu fordem. Sie besitzt ihr eigenes Sein, sie handelt unabhängig vom Individuum, und das Individuum hängt nicht nur in seiner Entfaltung ganz von ihr ab, sondem ist weitgehend ihrem Willen unterworfen; der Prozeß der Vergesellschaftung ist, national und intemational, im ständigen Fortschreiten begriffen. Außerdem überlebt die Gesellschaft den Menschen: Staaten überleben viele Generationen von Menschen, Nationen überdauem hunderte von Jahren. Und schließlich besitzt das Wohl der Gemeinschaft einen solchen Vorrang über das Wohl des einzelnen, daß von diesem, wenn notwendig, das Opfer von Gut und Leben für die Gemeinschaft gefordert sein kann." 16 Messner fährt dann fort: "Zweifellos mag die Gesellschaftslehre mit der Erforschung als Ganzem beginnen, wenn sie darangeht, ihre Natur zu ergründen, die Gesetze ihres Seins, ihres Lebens und ihrer Tätigkeit aufzufinden. Je weiter sie jedoch in ihrer Untersuchung fortschreitet und zum Seinsgrund der Gesellschaft vordringt, um so mehr wird sie sich der Frage gegenübersehen, worin die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht und worauf sie beruht. Die Gesellschaftslehre wird dann finden, daß alles gesellschaftliche Sein an den Menschen hängt, die die Gesellschaft bilden. Und wenn sie nach den Kräften des Lebens und Wirkens der Gesellschaft forscht, dann wird die Gesellschaft wieder auf die Menschen stoßen, die in der Gesellschaft zusammengeschlossen letztlich wirken und handeln. Wenn die Gesellschaftslehre schließlich nach den Rechten und Funktionen der Gesellschaft fragt, wird sie sich vor den Eigeninteressen und den Eigenrechten der Menschen (Hervorhebung d. Verf.) sehen. Allen diesen sich der Gesellschaftslehre aufnötigenden Fragen kann sie nur genügen mit einer Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Tatsächlich liegt jeder Gesellschaftlehre und Sozialethik eine Auffassung vom Menschen, eine philosophische Anthropologie, zugrunde 17 , über die klar und eindeutig Rechenschaft abzulegen eine ihrer fundamentalen wissenschaftlichen Aufgaben ist. Daher ist es berechtigt, wenn nicht geboten, die Antwort auf die Frage nach dem Menschen an die Spitze der Gesellschaftlehre zu stellen."

16 J . Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Duncker und Humblot, 7. Aufl. Berlin 1984, S. 23 f. 17 Vgl. W. Schmitz, Die ethische Fundierung der Ordnungspolitik. Hinter jeder Konzeption ein Menschenbild, in: Wirtschaftspolitische Blätter 2 I 1988, SS. 232-

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Es ist das besondere Verdienst des Sozialethikers Johannes Messner, meinte Artbur F. Utz, dem Eigeninteresse eine zentrale Stelle im Aufbau der Gesellschaft eingeräumt zu haben, ohne dabei die der Gesellschaft vorgeordneten Werte zu verlieren. 18 Das gelingt Messner damit, daß er das "wahre" Eigeninteresse auf die der Gesellschaft vorgeordneten Werte ausrichtet, das heißt auf die dem einzelnen Menschen aufgegebenen existentiellen Zwecke.

5. Das Subsidiaritätsprinzip: Verantwortungsvorrang des Einzelnen Nach dem heute auch außerhalb der christlichen Soziallehre wiederentdeckten Prinzip der Subsidiarität beginnt das Recht und die Verpflichtung der Gesellschaft zur Hilfe erst dort, wo der einzelne überfordert ist. Der einzelne Mensch und seine Leistungsfähigkeit ist Erstverpflichtung und hat Vorrang: Die Sozialenzyklika Quadragesimaanno- QA (1931) hat dieses Prinzip zum ersten Mal in jene klassische Formel gebracht, in der es heute auch in der Europa-Diskussion oft gebraucht wird: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen( ... ). Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." (QA 79) Utz begründet dieses Prinzip sozialethisch mit der Erkenntnis, daß das Gemeinwohl konkret a priori nicht bestimmt werden kann und daher den individuellen Antriebskräften in der Handlungsordnung die Priorität zufällt. Das Subsidiaritätsprinzip erhält noch eine besondere individualistische Note durch die Bedeutung, die dem Eigeninteresse zukommt (S. 55 f.). Das Subsidiaritätsprinzip hat als ein "höchstwichtiger sozialphilosophischer Grundsatz" (QA 79) seinen Ursprung in einer Vernunfteinsicht und verpflichtet zu einer neuen Denkweise, die sich aus der Tradition des christlichen Sozialdenkens ergab: "Der Mensch ist in seiner Freiheit zur Selbstverwirklichung fähig und verpflichtet. Sie wird ihm nicht von außen aufgezwungen, er findet sie anlagemäßig in sich vor." 19 Das Subsidäritätsprinzip nach QA ist Teil eines "Bauplanes, der auf eindeutigen ethischen 18 A. F. Utz, Sozialethik, III. Teil: Die Soziale Ordnung, IfG Verlagsgesellschaft mbH, Bonn 1986, S. 43 . 19 J. Schasching, z. B. in: KSÖ- Nachrichten und Stellungnahmen der Katholischen Sozialakademie Österreichs 2 I 1993 vom 6. 2. 93 , S 1 ff.

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Prinzipien aufruhte und den Verantwortlichen in Wirtschaft und Gesellschaft eine klare Orientierung gab." (J. Schasching). Denselben Gedanken formuliert Rudolf Weiler heute (1993) mit den Worten: "Das Gemeinwohl muß sich von unten aufbauen." 2o Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen und Begriff nach dem einzelnen Menschen gegenüber nachrangig und davon abhängig, ob der Mensch oder eine Institution auf der ihm näherstehenden Stufe diese Hilfe braucht. Das Prinzip der Subsidiarität gibt den Verantwortungsvorrang der Persönlichkeit (als Zweck) vor der Solidarität (als Mittel) dadurch Ausdruck, daß es die Beweislast dem aufbürdet, der eine solidarische Lösung bzw. eine Lösung höherer solidarischer Komplexität verlangt. Das Subsidiaritätsprinzip hat eine freiheitsfördernde Funktion. 21

6. Menschenrechte vor Staatssouveränität Die jüngste Entwicklung im Völkerrecht als bisheriges Rechtsverhältnis zwischen souveränen Staaten ist durch eine deutliche Tendenz zur Einführung der Rechte einzelner Menschen als Rechtssubjekte charakterisiert, die vor der Souveränität der einzelnen Staaten Vorrang haben. 22 Die heute noch unlösbar scheinenden bewaffneten Auseinandersetzungen in vielen Teilen der Welt sind weniger durch mangelhafte Tugendhaftigkeit sich verantwortlich wissender Politiker, sondern durch den Mangel an geeigneten Institutionen gekennzeichnet, die in mangelhafter Voraussicht auf diese neuen und unerwarteten kriegerischen Konflikte noch nicht geschaffen werden konnten: von Institutionen zur Sachverhaltsfeststellung und Anklageerhebung über die Einrichtung von zuständigen Gerichten bis zur Einsetzung eines überstaatlichen legitimen Gewaltmonopols zur Durchsetzung von ethisch akzeptablen Lösungen. Auf die harte Tatsache, daß Integrationsprozesse, die in der Einrichtung von Zentralorganisationen auf einer neuen Ebene ihren Niederschlag finden, oft eine lange Anlaufzeit brauchen, ehe sie einigermaßen effektiv werden, hat vor wenigen Jahren der Zivilisationsforscher Norbert Elias hingewiesen, auch wenn es sich dabei nicht um eine so lange Periode handeln muß, wie er angesichts des damaligen Ost-West-Konfliktes noch angenommen hatte. 23 20

R. Weiler, Referat zum Weltfriedenstag am 25. Jänner 1993 in Wien

Vgl. auch Helmut Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. Strukturprinzip einer europäischen Union, Veröffentlichung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Duncker und Humblot, Berlin 1993, S. 141. 22 Otto Kimminich, Neue solidarische Weltordung, in .O. Kimminich, A. Klose, L. Neuhold (Hg) Mit Realismus und Leidenschaft. Ethik im Dienst einer humanen Welt. Valentin Zsifkovits zum 60. Geburtstag, Graz - Budapest 1993, SS 9-16. 21

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Wie jeder Übergang zu einer neuen, höheren Integrationsstufe zugleich auch den Übergang zu einer neuen Stellung des Individuums in seiner Gesellschaft mit sich bringt, meint Elias, bedeutet auch der Aufstieg der Menschheit zur dominanten Überlebenseinheit ebenfalls einen Individualisierungsschub (S. 309 f.). 7. Die Menschenwürde im Zielbündel der Ordnungspolitik

Der Entdeckung und Einführung der Menschenrechte in das Völkerrecht entspricht die Entdeckung und Einführung der Würde des Menschen in die Ökonomie und ihre Wahrung und Entwicklung in das Zielbündel der Ordnungspolitik. Das Wesen der Menschenwürde liegt darin, daß der einzelne Mensch das Ziel und der Zweck jeder gemeinschaftlichen Aktion ist. Keine Institution (weder Markt, noch Staat, noch Familie, noch Wissenschaft, noch Kirche) sind Selbstzweck, sie haben dem Wohl der vielen einzelnen Menschen zu dienen. Jeder einzelne Mensch ist unvertretbar und unwiederholbar, jeder hat seine spezifischen eigenen existentiellen Zwecke. Jeder Mensch ist Selbstzweck. Wird akzeptiert, daß jeder Mensch eine unwiederholbare und unverwechselbare Person ist, daß seine Persönlichkeit Gegenstand eines lebenslangen Lern- und Entwicklungsprozesses ist und daß diese Selbstverwirklichung seinen Lebenssinn ausmacht, so heißt das mit anderen Worten, daß die Verwirklichung der in jedem Menschen anders grundgelegte Persönlichkeit Selbstzweck und jede Institution dieser Lebensaufgabe der darin betroffenen Personen als Mittel zum Zweck zu dienen hat. Die Würde des Menschen kommt im ökonomischen Bereich darin zum Ausdruck, daß er aufgrund des Einbringens seiner Fähigkeiten und Ressourcen in der arbeitsteiligen Wirtschaft ein Einkommen bezieht, das ihn in die Lage versetzt, als Konsument am Einkommenskreislauf teilzunehmen und als Selbstzweck die Institutionen als Hilfe dazu in Anspruch zu nehmen. Die Würde des Menschen, der mangels eigener Fähigkeiten oder Ressourcen- aus welchen Gründen immer - nicht Verbraucher sein kann, wird dadurch gewahrt, daß er durch vom staatlichen Gewaltenmonopol erzwungene oder durch freiwillige Transferleistungen privater Institutionen veranlaBte zweite und dritte Einkommensverteilung zum Konsumenten gemacht und damit in den volkswirtschaftlichen Einkommmenskreislauf einbezogen wird. 23 N . Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 302 f.

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In der Ökonomie ist der Mensch vor allem in seiner Funktion als Letztverbraucher das Ziel und der Zweck jedes sparsamen Umgangs mit knappen Ressourcen. Der weitere Zweck der wirtschaftlichen Tätigkeit, die menschlichen Qualitäten in seiner Funktion als Produzent zu entfalten, ist seiner Funktion als Konsument nachgeordnet. 24

8. Der "wohlverstandene" Utilitarismus: Annäherung von Selbstinteresse und Moral Der hohe Rang des Eigeninteresses als Verhaltensmotivation kennzeichnet auch die Entwicklung zum aufgeklärten Utilitarismus: die Annäherung von Selbstinteresse und Moral. Die Nachzeichnung der Entwicklung des klassischen zu einem aufgeklärten Utilitarismus rückt das "wohlverstandene" Eigeninteresse der menschlichen Person durch fortschreitende Erweiterung des Nutzenbegriffes in immer größere Nähe zu seinen moralisch postulierten Sollensvorstellungen. Durch seine Analyse der Defizite des psychologischen Hedonismus J. Bentham's und J. St. Mill's wird Sidgwick - wider Willen - zu einem der Wegbereiter einer präferenztheoretischen Interpretation des Nutzenbegriffes wie sie im Rahmen der modernen Wohlfahrtsökonomie vorherrschend geworden ist. 25 Die Konvergenz von Tugend und Selbstinteresse hält Sidgwick aber für unwahrscheinlich, umso mehr wird er sich als überzeugter Utilitarist bemühen, die menschlichen Lebensbedingungen zu verbessern. 26 Zu einer postklassischen Entwicklung des auf diese Weise erweiterten Utilitarismus darf auch Johannes Messner (1891-1984) gerechnet werden. Sein Bestreben ging allerdings - anders als das Sidgwicks - dahin, umgekehrt die Konvergenz des wahren Selbstinteresses zur Tugend hin zu entwickeln. Die von Messner eingeführten existentiellen Zwecke jedes Menschen als letztes Ziel aller menschlichen Bemühungen und damit die Identität von "wahrem" Selbstinteresse und moralischer Verpflichtung markiert einen wahrhaften Paradigmenwechsel der Sicht von Interesse und Moral, der für die Postmoderne kennzeichnend sein dürfte. 24 W. Schmitz, Mittelpunkt der Wirtschaft: Der Mensch als Konsument. Und der Beitrag der Kirchen zu einer menschenwürdigen Gesellschaft, in: H. Schamheck , R. Weiler (Hg), Der Mensch ist der Weg der Kirche. Festschrift für Johannes Schasching, Berlin 1992, SS 221-239 25 Ulrich Gähde, Zum Wandel des Nutzenbegriffs im klassischen Utilitarismus, in: U. Gähde, W. H. Sehrader (Hg.), Der klassische Utilitarismus. Einflüsse Entwicklungen- Folgen, Akademie Verlag, Berlin 1992, S. 108. 26 Wilhelm Vossenkuhl, Sidgwicks Utilitarismus, in: U. Gähde, W. H. Sehrader (1992), S. 141 f.; dieser Band ist im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt zum klassischen Utilitarismus entstanden, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 1988 im Rahmen ihres Schwerpunkts "Ethik- interdisziplinärer Ethikdiskurs - fördert.

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Auf derselben Linie liegt z. B. auch Amartya Sen, der "die Entwicklung als einen Prozeß der Ausweitung menschlicher Fähigkeiten zu einem lebenswerten Leben" 27 sieht. Wird Eigeninteresse so weit gefaßt wie das, was Adam Smith "prudence" (Klugheit, Vorsicht) nannte (unter Berücksichtigung dessen, was man als "geläutertes Selbstinteresse" bezeichnen könnte), dann wären einige der ethischen und kooperativen Überlegungen schon in dem Begriff Eigeninteresse enthalten. Die Rationalität als innere Folgerichtigkeit in der vorherrschenden Ökonomie, d. h . das Verfolgen des Eigeninteresses, schließt daher in sich den Einfluß ethischer Überlegungen und kooperativer Motivation nicht aus. 28 Es sollte möglich sein, deontologische Zwänge, die der Zuwendung zu Zielen moralische Zwänge auferlegen, in eine hinreichend klare Formulierung der Zielfunktion selbst einzubeziehen. Sind das nicht bloß zwei andere Wege der Definition der Zielsetzungen, wenn man (wie Sen) meint, daß die Marktwirtschaft eben nicht nur Gewinnmaximierung braucht, um erfolgreich zu sein und zu gedeihen, oder wenn man die Zielvorstellungen, die hinter den "besonderen Arten moralischer Vorstellungen" stehen, die die Marktwirtschaft braucht, in die Gewinnmaximierung als unternehmerisches Ziel einbaut? Wenn die Annahmen der ökonomischen Standardliteratur (worunter Sen praktisch die Gegenwartsliteratur aller Neo-Theorien versteht) seiner Meinung nach die Marktbeziehungen angemessen erklären, bei der Erklärung der Verhaltensweisen wie etwa der Verantwortung gegenüber Arbeitnehmern, Firmentreue, die für die Marktwirtschaft sehr wichtig sein können, aber versagen (S. 115 f.), so liegt das doch offenbar darin, daß - wie die moderne Institutionenlehre erkannt hat - der Markt nur eine Institution unter anderen und in ihrem Erklärungsbereich auf die Marktbeziehungen beschränkt ist, während für die Erklärung bzw. Gestaltung anderer gesellschaftlicher Zielsetzungen wie Verteilungsgerechtigkeit, Beseitigung der Armut, Verbesserung der öffentlichen Gesundheit, Produktion öffentlicher Güter, Beachtung externer Effekte, Umweltschutz, Geldwesen etc. andere Institutionen adäquat sind (z. B. der Staat als Parlament, Nationalbank, Gerichte usw. sowie Sozialpartner, Pflichtversicherungen, karitative Einrichtungen u. a.).

27 A. Sen, Einige aktuelle Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Gesellschaftliche und ethische Aspekte der Ökonomie. Ein Kolloquium im Vatikan, Päpstlicher Rat, Justitia et Pax, vom 5. November 1990, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz am 1. April 1993, S. 109. 28 A. Sen, S. 114.

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lß. Die Gesellschaft als Zusammenleben von einzelnen Menschen in Institutionen

1. Der Einzelne: alleingelassen in der anonymen Massengesellschaft? Ein ähnliches Schicksal wie zunächst der (scheinbaren) Dichotomie von Interesse und Moral beschieden war, drohte auch dem (scheinbaren) Gegensatzpaar Individuum und Gesellschaft. Von der Angst des Einzelnen vor der Macht der ihn umgebenden und ihn bedrohenden "anonymen" Gesellschaft, der Berührungsangst mit der unbekannten, undefinierbaren Auflösung des Einzelnen in der "atomisierten" Gesellschaft bis zum Umschlagen dieser Berührungsfurcht zum Streben nach Geborgenheit des Einzelnen als Anonymer in der ebenso rätselhaften wie universalen Masse 29: Jedes Mal fühlt sich das isolierte Individuum - auf sich allein gestellt - einer fremden und feindlichen Umwelt gegenüber oder- darin untergetaucht (scheinbar) anonym geborgen. Aus der Rat- und Hilflosigkeit, denen uns die Sicht der Gesellschaft als formlose Masse von Individuen zu überlassen drohte, hat uns - um einen zu nennen, der das besonders anschaulich herauszuarbeiten verstand Norbert Elias herausgeführt: Mit Hilfe des Paradigmenwechsels der Sicht der "Gesellschaft der Individuen" zu ihrem neuen Verständnis als Zusammenleben der Individuen in ihren Funktionszusammenhängen 30 , das heißt dann in der Weiterentwicklung dieser Sicht in einem System von Institutionen. Die Institutionentheorie ist heute auch geeignet, Wege zu öffnen für die Annäherung von Interesse und Moral von Gegenpolen zu potentiellen Bundesgenossen.

2. Institutionen -die Struktur der Gesellschaft Die moderne Institutionenlehre (Institutionenökonomik) erklärt die Gesellschaft als das Zusammenleben von Menschen in zahlreichen Institutionen. Die "Institution" wird als System von Regeln verstanden, deren Einhaltung durch Eigeninteresse, Signale, Anreize und Sanktionen bewirkt werden. Solche Institutionen oder Regelsysteme sind zB die Eigentumsordnung, das Vertragsrecht, Wettbewerbsmärkte, die Staatsverfassung, die Währungsordnung, das Steuerrecht, die Einrichtungen der Sozialversiche29 Vgl. z. B. Elias Canetti, Masse und Macht, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1981, S. 9 ff. (Erstpublikation Düsseldorf 1960). 30 N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen (1939), veröffentlicht erst 1987 als Teil I des gleichnamigen Bandes, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 15-98.

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rung, die Bildungsinstitutionen, politische Parteien, gesetzliche und private Interessenvertretungen, Kirchen und Ordensgemeinschaften, wissenschaftliche Einrichtungen zur Forschung, zur Ausbildung und zur Politikberatung- um nur einige wahllos aufzuzählen. Die menschliche Gesellschaft ist infolge der Mängel und der Begrenztheit der Menschen eine Konfliktgesellschaft. Die Institutionen sind die Einrichtungen, die der Lösung sozialer Konflikte dienen. 31 Die Sicht der Gesellschaft als Zusammenleben nicht von einzelnen Menschen, sondern von Menschen in Institutionen (Ordnungstheorie, Institutionenlehre), die Erfahrung, daß solche Institutionen nicht nur evolutionär entstehen, sondern u. U. auch bewußt und überlegt "gesetzt" werden müssen (Ordnungspolitik) und daß dies unentbehrlich ist, wenn Gemeinwohlziele verwirklicht werden sollen (Ordnungsethik, Institutionenethik) sind die drei Säulen einer Gesamtkonzeption des "Denkens in Ordnungen" (Walter Eucken), einer Allgemeinen Theorie der Gesellschaftspolitik. In den heute ausreifenden Früchten eines langen Lernprozesses in der theoretischwissenschaftlichen Erkenntnis und in der praktisch-politischen Erfahrung haben die Sozialwissenschaften heute damit eine Problemlösungskapazität anzubieten, die in gleicher Weise für die Industrieländer wie auch für die Nachfolgeländer des "realen Sozialismus" wie ebenso für die Länder der Dritten Welt zur Verfügung steht. Unter Ordnungstheorie wird hier verstanden die Lehre (das systhematische Wissen) über die Zusammenhänge von Individuen und Institutionen sowie über deren Interdependenz, wie sie sind. Dazu zählt unter anderem auch die Diagnose des Status quo. Unter Ordnungsethik wird hier die Lehre über die ges.e llschaftspolitischen Zielsetzungen verstanden, d. h. über den Zustand der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme (Wirtschaft, Recht, usw.): zB ökonomische Effizienz, hoher Beschäftigungsgrad, soziale Sicherheit, Schutz vor illegitimer Gewalt, usw, wie sie sein sollte. 32

31 W. Schmitz, Die Weltkrise als Krise der Problemlösungsmechanismen , in: Europäische Rundschau, Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte, 2 I 84, S . 29-42. - Wie diese Einrichtungen mit der Sinnfindung der Einzelnen notwendigerweise zusammenhängen, wird unten unter "Ordnungsethik" behandelt. 32 W. Schmitz, Ordnungsethik, Versuch einer Klärung ihres Gegenstandes und der Dimension ihres Anliegens. in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik des Instituts für Wirtschfatspolitik an der Univeristät zu Köln, Heft 3 I 1992, SS. 213-230; drs., Hat der Westen eine Wirtschafts- und Sozialordnung? Der Lernprozeß in Ordnungstheorie, Ordnungsethik und Ordnungspolitik. Elemente für eine allgemeine Theorie der Gesellschaftspolitik, Vortrag an der Wirtschaftsuniversität in Budapest am 14. Oktober 1992.

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Unter Ordnungspolitik wird hier die Lehre über die Institutionen (Mittel, Zwischenziele) verstanden, die eingesetzt, beseitigt, abgeändert oder kombiniert werden müssen, damit der Zustand der Gesellschaft, wie er ist oder zu werden droht, in den Zustand verändert wird, wie er sein sollte. Zur Aufklärung eines Mißverständnisses im Beitrag R. Weilers in diesem Band soll festgestellt werden, daß die volle Problemlösungskapazität durch das wissenschaftliche Zusammenwirken von Ordnungstheorie, Ordnungsethik und Ordnungspolitik gegeben ist.

3. Institutionen: Verzicht auf Freiheitsräume aus Eigeninteresse Geoffrey Brennan und James Buchanan begründen die Einführung von Institutionen wie folgt: "We require rules in society because, without them, life would indeed be ,solitary, poore, nasty, brutish and short', as Thomas Hobbes told us more than three centuries ago33. Only the romantic anarchist thinks there is a ,natural harmony' among personsthat will eliminate all conflict in the absence of rules. We require rules for living together for the simple reason that without them we would surely fight. We would fight because the object of desire for one individual would be claimed by another. Rules define the private spaces within which each of us can carry on our own activities." 34 Das Wesen der so gesehenen Institutionen liegt nicht im direkten Zusammenlegen von Interessen, sondern im gemeinsamen Verzicht auf Freiheitsräume als Handlungsalternativen, die diesen gemeinsamen Interessen entgegenstehen würden. Dieser Teilverzicht auf Freiheit wird durch das Eigeninteresse der Beteiligten begründet.

4. Institutionen - ethisch definiert Der Begriff "Institution" kann auch aus dem Gesichtswinkel der Ethik definiert werden. Die Institution ist aus dieser Sicht ein Regelwerk, das zur Verwirklichung eines gesellschaftlichen Zustandes notwendig ist, der zur Verwirklichung der individuellen existentiellen Lebenszwecke (Johannes Messner) der Teilnehmer (zB der Entwicklung der Persönlichkeit) unentbehrlich, zumindest sehr hilfreich ist, aber selbst bei Zutreffenzweier ganz unrealistischer Voraussetzungen wie volle, dauernde Tugendhaftigkeit aller Beteiligten, nicht errreicht werden kann. 33 Thomas Hobbes, Leviathan (1651), deutsch: Suhrkamp Frankfurt am Main 1984. 34 G. Brennan - J. M. Buchanan, The Reason of Rules. Constitutional Political Economy, Cambridge University Press, Cambridge etc. 1985, S. 2. Vgl. auch J . M. Buchanan, The Limits of Liberty, University of Chicago Press 1975.

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Für diese nach diesem Gesichtspunkt noch nicht überall gebräuchliche Unterscheidung in individualethische und sozialethische Postulate bietet sich die Unterscheidung von Individualethik als Lehre von den Postulaten an individuell Handelnde und Sozialethik als Lehre von den Postulaten an solche Adressaten an, die über die Regeln und die jeweils optimale Kombination von Institutionen zu entscheiden haben (vor allem Politiker, Verbandsfunktionäre, Publizisten, Politikberater, Wähler). Das gängigste Beispiel für das letztere sind die Verkehrsregeln: Selbst ein noch so hoch entwickelter Tugendstandard aller einzelnen Verkehrsteilnehmer kann nie in der Lage sein, Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs zu gewährleisten. Dazu bedarf es notwendigerweise der Einigung auf bzw. der Einsetzung von Regeln für alle denkbaren konfliktträchtigen Verkehrssituationen. Die Institution der Verkehrsregeln soll bewirken, daß die einzelnen Teilnehmer durch Signale, Anreize und Sanktionen veranlaßt werden, sich im eigenen Interesse so zu verhalten, daß sie damit dem Gemeinwohl, das heißt in diesem Fall auch den Interessen aller anderen Verkehrsteilnehmer dienen. Die Verkehrsregeln sind auch ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit komplementärer Institutionen. Die Vermeidung der eigenen Gefährdung reicht als Anreiz nicht aus. Ein realitisches Menschenbild muß mit der dem Menschen eigenen "Trittbrettfahrer" -Mentalität rechnen: damit, daß es einzelne gibt, die sich das regelgetreue Verhalten der Mitteilnehmer durch eigene Regelverletzung zunutze machen wollen. Auch die Trittbrettfahrermentalität kann wohl zum Teil, aber doch nicht zur Gänze durch Verkehrserziehung und Hebung der Verkehrsmoral behoben werden. Es braucht dazu immer auch das legitime staatliche Gewaltmonopol, welches z. B. im Wege des Strafmandats für durchsetzbare Sanktionen sorgt. Ein anderes Beispiel ist der Wettbewerbsmarkt für eine optimale Allokation der Ressourcen. In einer komplexen, das heißt vom Einzelnen nicht überschaubaren Gesellschaft ist selbst die höchste denkbare Tugendhaftigkeit aller Teilnehmer zur Information darüber ungeeignet, in welchen Waren- und Dienstleistungsproduktionen zu jedem Zeitpunkt der sozial relativ dringendste Bedarf gegeben ist und wie die knappen Ressourcen zu seiner Befriedigung auf den verschiedenen Produktionsstufen optimal zu kombinieren sind. Wie das Eigeninteresse aufgrund der in einer Wettbewerbswirtschaft gegebenen Regeln, Signale, Anreize und Sanktionen Zustände zur Folge hat, die dem allgemeinen Interesse entsprechen, zeigte Johannes Messner: Der Wettbewerbsmarkt erfüllt als Institutionaufgrund des Selbstinteresses der Beteiligten eine dreifache Sozialfunktion. Da mit dem Eigeninteresse verbunden, zählt der Markt zu den stärksten gesellschaftsbindenden Kräften, d. h. als Mittel zur Bewältigung der den Einzelmenschen bei der

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Erfüllung der ihnen mit den existenziellen Zwecken gestellten Lebens- und Kulturaufgaben. 35 Die zweite soziale Funktion des wettbewerbsgesteuerten Marktes liegt darin, daß sich der Tauschwert der Güter hin zu den geringsten Kosten bewegt. Die Verfügung über knappe Güter nach dem ökonomischen Rationalprinzip widerspricht daher nicht nur nicht ethischem Verhalten, sondern es ist sogar selbst ein ethisches Postulat. 36 Die dritte Sozialfunktion des Marktes sieht Messner in seinem Dienst am wirtschaftlichem Wachstum: Er mobilisiert ein Höchstmaß von Kräften der Wirtschaftsgesellschaft zur Erzielung einer reicheren und besseren Dekkung ihres Lebens- und Kulturbedarfs. Die Kooperation erfolgt durch die Konkurrenz. Der Gewinn ist ein Signal für eine erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe der konkurrierenden Unternehmen (S 991). Heute wird die soziale Funktion des Wettbewerbs in zahlreichen Diensten gesehen, die der Wettbewerbsmarkt für die Gesellschaft und für den einzelnen leistet. 37 Diese ethische Sicht der Institutionen (Institutionenethik) erweist sich als ein sehr fruchtbarer paradigmatischer Zugang zur Konzeption einer umfassenden konfliktelösenden Solleusordnung der Gesellschaft. Sie kann aber keine metaphysische Ableitung aus einer Annahme über den Sinn des einzelmenschlichen Lebens ersetzen, wie Rudolf Weiler in seinem Beitrag in diesem Band mit Recht feststellt. Ich behaupte dies auch gar nicht, im Gegenteil: Die Nutzung der Problemlösungskapazität der Institutionenethik setzt nur nicht in allen Einzelfällen letzte metaphysische Begründungen voraus. Zur vollen Problemlösungskapazität der heute zur Verfügung stehenden Ergebnisse der sozialwissenschaftliehen Lernprozesse freilich bedarf es der Institutionenlehre und einer Beantwortung der Sinnfrage3s als zwingend logischen Ausgangspunkt für die Auswahl und Koordinierung der gesellschaftlichen Zielsetzungen, denen die Institutionen dienen.

35 J. Messner Das Naturrecht, S. 990 36 J. Messner, Sozialökonomik und Sozialethik. Studie zur Grundlegung einer

systematischen Wirtschaftsethik, Parderborn, 2. Aufl. 1929, S. 37, dann aber näher ausgeführt in: Das Naturrecht, S . 982 ff. 37 W. Schmitz (Hg), Was macht den Markt sozial? Die Grundzüge der Sozialen Marktwirtschaft, 2. Aufl. Wien 1982, S. 18; ders., Die soziale Funktion des Wettbewerbs, in: G Merk, H. Schamböck, W. Schmitz (Hg), Die soziale Funktion des Marktes. Beiträge zum ordnungspolitischen Lernprozess. Festschrift für Alfred Klose zum 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 3-20. 38 Siehe z. B. W. Schmitz, Christliche Sinnfindung und neues Ordnungsdenken. Eine zukunftsträchtige Symbiose, in: G. Putz u. a . (Hg.), Politik und christliche Verantwortung. Festschrift für Franz-Martin Schmölz, Tyrolia-Verlag InnsbruckWien 1992, S . 173-186.

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5. Individualethik und Sozialethik: komplementär, aber andere Ebenen Beide oben genannten Beispiele zeigen auch die unübersehbare komplementäre Verbindung von Individual- und Sozialethik. Beide liegen auf zwei verschiedenen Ebenen (des persönlichen Einzelwohles und der gesellschaftlichen Chancen), die sich in einem Tatbestand notwendigerweise treffen: Jede Institution braucht einen individualethischen Mindestkonsens, der in der ausreichenden Akzeptanz der Regeln liegt (die z. B. durch Erziehung bewußt gefördert werden kann) und der meist die Anerkennung der damit in enger Verbindung stehenden Regelwerte einschließt, wie z. B. im Falle des Wettbewerbsmarktes die Unterscheidung von Mein und Dein auf Grund der Institution des Privateigentums oder die Einhaltung von "Treu und Glauben", das heißt die Anerkennung des Grundsatzes, daß Verträge einzuhalten sind. Auch dieses Beispiel zeigt, daß die Vertragstheorie wohl die Gründe für das Zustandekommen problemlösender Institutionen erklärt, deren Funktionieren aber allein nicht erklären kann. So wenig wie das legitime staatliche Gewaltmonopol ohne breiten Konsens der Beteiligten auf die Dauer funktionieren könnte, so wenig können die wichtigsten Institutionen auf seine Unterstützung verzichten. Darüber hinaus unterschätzt der Individualethiker oft den prinzipiellen und tiefgreifenden Unterschied zwischen diesen beiden ethischen Bereichen, der Individualethik (Tugendlehre) und der Sozialethik (Institutionenethik), die bis zum weitgehenden Auseinanderklaffen beider Begriffsinhalte als jeweils etwas ganz anderes führen können: Hat die Individualethik im Dienste der Verwirklichung des Menschen ein höchstmögliches Niveau zum Ziel, so soll die Institutionenethik bei ihrer Förderung des Gemeinwohles die moralische Anstrengung des Einzelnen vor Übe~forderung schonen. 39,40 Diese Diskrepanz ist wahrscheinlich der ausschlaggebende Grund dafür, daß die kirchliche Pastoral, die das Heil und damit die Veränderung des einzelnen Menschen zum Ziel hat, oft zu wenig Verständnis dafür hat, daß die staatliche Ordnungspolitik mit dem Menschen auskommen muß, wie er eben ist. Es genügt, daß sie höheren Moralansprüchen des Einzelnen nicht im Wege steht. Wenn die Ordnungspolitik auch auf eine Mindestmoral als Durchschnittsmoral aufgebaut wird, muß doch in (im voraus unbekannten) Einzelfällen mit der schlechtesten Variante der Mißachtung selbst der Mindestmoral (z. B. durch bewußte Rechtsbrecher) gerechnet werden. Der 39 John Rawls, eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Herbert Vetter, Frankfurth a. M. 1979, Amerikanisches Original: A Theory of Justice, Harvard 1971 40 Karl Homann, Gerechtigkeit und Wirtschaftsordnung, Vortrag auf dem 25. Intemationalen Kongreß der Intemationalen Vereinigung deutsch - sprachiger Moraltheologen und Sozialethiker vom 19.-23. August 1991 in Erfurt (BRD).

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Anteil der letzteren kann unter Umständen bis zum Albtraum der Unregierbarkeit ansteigen. Die Unentbehrlichkeit des individualethischen Mindestkonsenses für die Funktionsfähigkeit der Institutionen hat Hartmut Kliemt zur Schlußfolgerung geführt, daß es ohne persönliche keine kollektive Moral, ohne individuelle Tugend keine kollektiven Institutionen gibt. Kollektive Selbstbindungen müssen in individuellen verankert sein. Insoweit hat das individualistische Element der Ökonomik unbeschränkt Bestand, während das "rationalistische" nur mit Einschränkungen aufrecht erhalten werden kann, da individuelle Selbstbindung nicht allein aufgrund der rationalen Einsicht in deren Nützlichkeit existiert (was nicht heißt, daß sie damit nicht begründet werden könnte! Der Verf.): "Die Moral von der Geschieht': Ohne Tugend gibt es Ethik nicht." 40 a

IV. Die Ethik der Zielsetzungen: die offene Flanke der offenen Gesellschaft

1. Jedes Gesellschaftssystem: Institutionen und Ethik Douglass C. North, der Pionier der Neuen lnstitutionenökonomik, schließt seine Untersuchung von "Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung" 41 mit einer lapidaren Formulierung ihres Ergebnisses, demzufolge man effiziente Institutionen in einem Staatswesen erhält, das eingebaute Anreize zur Schaffung und Sicherung effizienter Eigentumsrechte hat. Er schließt aber eine noch offene Frage an und hält es für schwer, "vielleicht sogar unmöglich", ein solches Staatswesen mit vermögensmaximierenden, aber durch keine weiteren Rücksichten beschränkten Akteuren zu modellieren. Es ist für ihn kein Zufall, daß ökonomische Staatsmodelle in der Literatur zur öffentlichen Wahlhandlung den Staat zu einem Mafia-ähnlichen Gebilde machen, oder, um ihren Ausdruck zu verwenden, einen Leviathan. Der Staat wäre dann nichts weiter als eine Maschine zum Umverteilen von Vermögen und Einkommen. Aber mit der herkömmlichen Literatur zur öffentlichen Wahlhandlung allein ist es offensichtlich nicht getan, wie er mit seiner Untersuchung zeigen wollte. In der Richtung, in welcher N orth die notwendige ergänzende Antwort sucht, kann er nur ermuntert werden: Er meint, daß "formlose Beschrän40a H. K.liemt, Selbstbindung und Selbstverwirklichung, 10. Kapitel: Ökonomische Analyse der Moral, in: Bernd-Thomas Ramb- Manfred Tietzel (Hg.), Ökonomische Verhaltenstheorie, Verlag Vahlen, München 1993, S . 308. 41 Aus dem amerikanischen übersetzt von Monika Streissler , J . C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1992, S. 167, (Originalausgabe "Institutions, Institutional Change and Economic Performance", Cambridge University Press, Cambridge u . a . 1990).

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kungen", das heißt rechtlich nicht erzwingbare evolutionäre Institutionen von Belang wären und viel mehr über kulturspezifische Verhaltensnormen und ihr Verhältnis zu formgebundenen Regeln in Erfahrung gebracht werden müsse, um hier genaueren Aufschluß zu erhalten (S. 167 /168). Die weitere ernsthafe Erforschung von Institutionen, mit welcher nach North gerade erst vielversprechend begonnen wurde, wird in der von ihm angeregten Richtung einer analytischen Ethik seinen Erwartungen recht geben. Unsere Thesen für die weitere Richtung dieser Forschungstätigkeit sind folgende: Die formlosen Beschränkungen (die evolutionären Sitten), das heißt die kulturspezifischen Verhaltensnormen, das ist der ethische Mindestkonsens der Beteiligten, der formlose Beschränkungen überhaupt erst möglich und durchhaltbar macht. Dieser ethische Mindestkonsens ist das Ausmaß der ethischen Übereinstimmung jener ausreichenden Zahl von Beteiligten, welche zur Funktionsfähigkeit von Ordnungen und ihrer Institutionen unerläßlich ist. Jedes Ordnungssystem braucht neben den Anreizen für die Kooperationsbereiten meist auch Sanktionen zur Vermeidung von Trittbrettfahrern und anderen Kooperationsunwilligen. Eine Ordnung kann aber nicht nur auf Sanktionen und Strafandrohungen aufbauen. Man kann nicht neben jeden Menschen einen Polizisten stellen und zu dessen Kontrolle noch einen Gendarmen. Jede Ordnung braucht- wenn sie effizient sein will- eine breite Basis an Überzeugung, daß die Einhaltung ihrer Spielregeln nicht nur eine Frage des Gehorsams z. B. gegenüber der Staatsmacht, sondern auch eine sittliche Verpflichtung ist, und wäre es auch nur im wohlverstandenen Eigeninteresse. Dazu ist im allgemeinen auch der Durchschnittsmensch fähig, der so gesehen werden muß, wie er ist: prinzipiell irrtumsfähig und nicht immer zum Guten geneigt. Auch wenn es zu den Aufgaben der Institutionen zählt, die Beteiligten in ihrer Individualmoral nicht zu überfordern, geht es ohne innere Zustimmung zu ihrem Regelwerk nicht, es genügt jedoch ein Mindestkonsens, der notwendig ist, um die Sanktionen des Systems vor ihrer Überforderung zu schützen. Jeder Markt würde zusammenbrechen, wenn jede Vertragsgegenleistung mit Hilfe der Gerichte durchgesetzt werden müßte. Zu einem solchen ethischen Mindestkonsens zählen z. B. die Unterscheidung von Mein und Dein und der Grundsatz, daß Verträge zu halten sind. 42 42 Vgl. W. Schmitz (Hg.), Was macht den Markt sozial? Die Grundzüge der sozialen Marktwirtschaft, Dr. Karl Kummer-Institut für Sozialpolitik- und So,zialreform, 2. Aufl. 1982, Kap. 1.5 Ein ethischer Minimalkonsens - Voraussetzung eines jeden Ordnungssystems, S. 45-54.

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Neben diesem individualethischen Mindestkonsens ist in einer freiheitlichen Demokratie auch ein sozialethischer Mindestkonsens notwendig, wenn die Mehrheitsentscheidungen zustande kommen sollen, die für diejenigen Zielsetzungen allenfalls notwendig sind, die bei noch so hochgradiger und lückenloser Tugendhaftigkeit aller Beteiligten nur durch Institutionen erreicht werden können.

2. Institutionen als Mittel und Lebenssinn zur Auswahl der Ziele Die moderne Ordnungstheorie erklärt die Institutionen als Mittel zur Erreichung von Zielsetzungen, die bei noch so hoher persönlicher Qualität aller beteiligten Einzelnen ohne Institutionen nicht erreicht werden können. Demokratische Strukturen, Gewaltenteilung, Marktwirtschaft sind nur Mechanismen geordneten Zusammenlebens, deren Instrumente und Methoden, nicht schon die Sache selbst. 43 Das "System von Verfahrensregeln" braucht für jeden Teilnehmer eine Zielsetzung. Die Blindheit für den Mangel an Lebenssinn nannte Joachim Fest, ehemaliger Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), bildhaft und treffend die "offene Flanke der offenen Gesellschaft". Er meint: "Offensichtlich bedarf der Mensch einer solchen Antwort, der Sehnsucht nach etwas ganz Anderem, Großem, Fraglosem, etwas, was ihm eine Bestimmung gibt über steigende Tariflöhne und die jährlichen Ferien auf Ibiza und den Seychellen hinaus, man kann auch sagen, nach Transzendenz. Dieses Bedürfnis ist seit dem Niedergang der christlichen Glaubensgewißheit von den politischen Utopien in Anspruch genommen und umgedeutet worden. Sie lebten davon und bekämpften es zugleich. Sie versprachen Erlösung, verlagerten sie aber ins Diesseits. Nichts anderes ist der Grund dafür, daß viele Parteigänger des Sozialismus den Zusammenbruch ihrer Utopie als eine Art methaphysischen Verlust erleben." Fest schließt mit bewundernswert ehrlicher Offenheit: "Ich habe denn auch keine Antwort auf die Frage, wer oder was die methaphysische Bedürftigkeit der Menschen stillen kann. Die Lektion, die die abgelaufene Epoche den Mitlebenden erteilt hat, lautet, daß die Politik dafür keine oder nur grauenhafte Antworten bereithält. (. . .) Das alles muß, nach so langer Vergesellschaftung, wieder zur Sache jedes einzelnen werden." Diese offene Flanke läßt nicht einen Mangel an Ethik schlechthin erkennen (vgl. "Ethisierung des Wohlstandsideales"), sondern das Fehlen einer 43 Joachim Fest, Offene Gesellschaft mit offener Flanke. Nach dem Ende der Utopien die Frage: Was tritt an ihre Stelle? in: FAZ vom 21.10.1992; inzwischen auch erweitert zu J. Fest, Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, Siedler Verlag Berlin 1993.

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Ethik, die auf Lebenssinn und damit auf einem konsistenten Menschenbild beruht (S. 43 ff.). Mit der Diskussion über den Lebenssinn des einzelnen Menschen beginnt erst die nicht nur von Fest vermißte existentielle Diskussion. Die Erkenntnis, daß alles mit allem zusammenhängt, verlangt nicht, daß jeder für jeden verantwortlich ist und jeder ständig an alles denken und womöglich stets über alles zugleich schreiben muß, sondern daß jeder Mensch wenigstens gelegentlich von der Staffelei seines (auch wissenschaftlichen) Alltagswirkens zurücktreten soll, um sein Tun im Zusammenhang mit der für ihn überblickbaren Welt kritisch beurteilen zu können. Der Lebenssinn der einzelnen ist eine Voraussetzung auch für kollektive Zielsetzungen. Jede Zielsetzung beruht letztenendes zumindest auf einem gewissen Verständnis des Sinns des Lebens der Beteiligten. Dieser Lebenssinn soll der Zielsetzung (etwa der Wirtschaft) nicht eine zusätzliche Bedeutung geben, wie Rudolf Weiler in seinem Beitrag zu diesem Band besorgt für die Meinung einer Institutionenethik hält. Der Lebenssinn steht als letzte Begründung hinter jeder menschlichen Zielsetzung, auch hinter der ökonomischen, das heißt der des sparsamen Umgangs mit knappen Ressourcen.

3. Die Antwort Johannes Messners auf die Sinnfrage: Die existentiellen Zwecke jedes Menschen Eine philosophische Antwort auf die von Joachim Fest gestellte Frage nach dem Lebenssinn versuchte Johannes Messner mit dem auf jeden einzelnen Menschen abgestellten Begriff der existentiellen Zwecke. Messner definierte den Zweck des Menschen als Ziel seines Verhalten-Sollens: "Die Sittlichkeit besteht in der Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken." 44 Da die Gesamtnatur des Menschen nach ihrer körperlichen und geistigen Seite in Frage steht, besteht demnach die Sittlichkeit in der Naturrichtigkeit (daher im gesellschaftlichen Bereich in der ,Sachrichtigkeit', in dem von der ,Natur der Sache' Geforderten). Und da die in der Natur des Menschen vorgezeichneten Zwecke von ihm in Selbstbestimmung (Freiheit) in den jeweils gegebenen Umständen zu verwirklichen sind und die Eigenart der Menschlichen Existenz bedingen, nennt sie Messner die ,existentiellen Zwecke' des Menschen.

44

6*

J. Messner, Das Naturrecht. S . 41 ff.

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Die "existentiellen Zwecke" bilden- nach seinen eigenen Worten- den Grundbegriff seines ethischen Gesamtsystems. Der Stellung der Zwecke in der traditionellen Naturrechtsethik zufolge eignet dieser ein teleologischer Wesenszug. Der anthropozentrische Wesenszug seiner Ethik ergibt sich daraus, daß diese Begriffsbestimmung der Sittlichkeit im Einklang steht mit der allgemeinsten und sichersten menschlichen Erfahrung. Messner kann diese Zwecke so umschreiben: die Selbsterhaltung einschließlich der körperlichen Unversehrtheit und der gesellschaftlichen Achtung (persönliche Ehre); die Selbstvervollkommnung des Menschen in physischer und geistiger Hinsicht (Persönlichkeitsentfaltung) einschließlich der Ausbildung seiner Fähigkeiten zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen sowie der Vorsorge für seine wirtschaftliche Wohlfahrt durch Sicherung des notwendigen Eigentums oder Einkommens; die Erweiterung der Erfahrung, des Wissens und der Aufnahmefähigkeit für die Werte des Schönen; die Fortpflanzung durch Paarung und die Erziehung der daraus entspringenden Kinder; die wohlwollende Anteilnahme an der geistigen und materiellen Wohlfahrt der Mitmenschen als gleichwertiger menschlicher Wesen; gesellschaftliche Verbindung zur Förderung des allgemeinen Nutzens, der in der Sicherung von Frieden und Ordnung sowie in der Ermöglichung des vollmenschlichen Seins für alle Glieder der Gesellschaft in verhältni.smäßiger Anteilnahme an der ihr verfügbaren Güterfülle besteht; die Kenntnis und Verehrung Gottes und die endgültige Erfüllung der Bestimmung des Menschen durch die Vereinigung mit ihm. Für Messner besteht kein Zweifel, daß eine solche Aufzählung der existentiellen Zwecke des Menschen, ausgenommen die letzten, allgemeine Zustimmung findet. Das beweist, daß das vollentwickelte sittliche Gewissen des Einzelmenschen selbst, wenn es sich mit dem Sinn des Lebens beschäftigt, sich auf die existentiellen Zwecke des Lebens verwiesen sieht, die es in der menschlichen Natur vorgezeichnet findet. Messner sieht darin einen Beweis von bedeutendem Gewicht dafür, daß sein Prinzip des Sittlichen der Wirklichkeit entspricht. Einen Beweis von nicht geringerem Gewicht sieht er in der Tatsache, daß ein solcher Inbegriff der existentiellen Zwecke ganz allgemein Kraft des entwickelten sittlichen Bewußtseins der Menschheit in Gebrauch steht zur Beurteilung der Richtigkeit oder Verkehrtheit des Funktionierens gesellschaftlicher Einrichtungen (Institutionen) und gesellschaftlicher Systeme, mögen auch im einzelnen die Akzente verschieden gelegt werden. Tatsächlich hat der Mensch die wesenhafte Naturordnung im einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Leben nicht nur als abstraktes Vernunftwesen, sandem immer auch als konkretes Geschichtswesen zu verwirklichen, d. h. in der Bedingtheit seiner Existenz durch die geschichtlichen Verhältnisse, die Umstände, die Situation. Diese Bedingtheit wurde

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zwar von der traditionellen Naturrechtsethik immer hervorgehoben, ihre Tragweite jedoch nicht immer im einzelnen durchgearbeitet. Für eine wirklichkeitsnahe Naturechtsethik von heute schien Messner die Hervorhebung dieser Bedingtheit der Verwirklichung der Naturrechtsordnung schon in ihrem Grundansatz geboten. Dem zu entsprechen war mit dem Begriff der "existentiellen" Zwecke beabsichtigt. Diese Sichtweise von Johannes Messner von "lebensrichtig" als wegweisend für jeden Menschen ungeachtet seiner subjektiven Sicht der Werte und seines letztlich unwiederholbaren Lebenssinns erklärt, wieso es möglich ist, für mehrere Menschen gemeinsame Regeln und Institutionen zu finden: Es gibt ausreichende Gemeinsamkeiten der auf Zusammenleben angewiesenen Individuen, die eine Einigung auf gemeinsame Regeln zur Erreichung gemeinsamer Teilziele nahelegen und auch möglich machen. Die letzte Identität von Christ-Sein und Mensch-Sein findet darin seine Erklärung, wenn auch die mitunter noch recht beträchtlichen Schwierigkeiten gegenüber den Kulturkreisen vorhanden sind, die außerhalb der Tradition der Antike, der jüdisch-christlichen Wertewelt und der europäisch-amerikanischen Aufklärung liegen. Die Identität von sachgerecht, menschengerecht und gesellschaftsgerecht, die theologisch durch die Einheit der Schöpfung und philosophisch durch die Einheit des Kosmos als "System" bedingt ist, ist auch die Erklärung des inneren wesentlichen und durchgängigen Zusammenhanges von jeweils richtig verstandenem - Eigeninteresse, Gruppeninteresse und Gesamtinteresse, und der notwendigen Symbiose aus Denken in Ordnungen und christlichem Lebenssinn. 45 Das Pendant zur Ordnungs-(System-)theorie für das Zusammenwirken von Institutionen als Seins-Ordnungen ist die Ordnungsethik zur möglichst widerspruchsfreien Ableitung der existentiellen Zwecke aus dem Lebenssinn, d. h. vom Menschenbild als Ausgangspunkt des Systems der Ethik als Sollens-Ordnung. 46

45 W. Schmitz, Christliche Sinnfindung und neues Ordnungsdenken. Eine zukunftsträchtige Synthese, in: G. Putz, H. Dachs, F . Homer, F. Reisinger (Hg.), Politik und christliche Verantwortung. Festschrift für Franz-Martin Schmölz, InnsbruckWien 1992, SS. 173-186. 46 W. Schmitz, Ordnungsethik, Versuch einer Klärung ihres Gegenstandes und der Dimension ihres Anliegens. in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Univeristät zu Köln, Heft 3 I 1992, SS. 213 - 230.

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V. Das Selbstinteresse: wichtigste Motivation für soziales Regelverhalten Das für die Zeugung und die Aufzucht der Nachkommenschaft zur Erhaltung der Art jeweils notwendige und wechselnde Sozialverhalten (z. B. saisonal bestimmte Bildung von Schwärmen oder Absonderung von Paaren, Wahl der Nist- und Futterplätze und Zufluchtsorte) wird bei den Tieren durch den Trieb bestimmt, dem zu folgen im zwingenden Eigeninteresse dieser Individuen liegt. Die vergleichende Verhaltensforschung hat gezeigt, daß die Verhaltensweisen der Menschen in gar nicht so wenigen Situationen-trotz der prinzipiellen Freiheit des Menschen, aus Verhaltensalternativen zu wählen - gegenüber dem Verhalten höherentwickelter Tiere verblüffend ähnlich ist. 47 Das liegt in ihrer biologischen Nähe und in ihrer körperlichen und sozialen Bedingtheit. Auch bei Menschen sind daher die Grenzen zwischen dem Eigeninteresse und dem Interesse des Partners nicht immer erkennbar oder eindeutig zu ziehen. In einer funktionierenden Familie z. B., in welcher die Eigenliebe der einzelnen Familienangehörigen, ihre gegenseitige Nächstenliebe, die tätige Sorge für das Wohl der anderen und die gesetzliche Sorge- und Unterhaltspflicht oft deckungsgleich sind, gilt dasselbe: Die Grenzen zwischen Selbstinteresse und Interesse am Wohl des Nächsten sind auch bei Menschen oft nicht eindeutig zu ziehen, z. B. in einer geglückten sexuellen Partnerschaft, aber auch in jeder geglückten Beziehung überhaupt, in welcher das Glück des (der) anderen unmittelbar als eigenes Glücksempfinden erlebt wird. Diese enge Verbindung der Sorge um die engsten Familienangehörigen bringt die Formulierung "Er denkt nur an sich und seine Angehörigen" als Bezeichnung für Egoismus zum Ausdruck. Und gerade darum kann die Zweigenerationen-Familie nicht völlig beliebigen Regeln folgen, wenn sie ihrem Sinn in der möglichsten Identität des Wohles des einzelnen mit dem Wohl der unmittelbaren Angehörigen finden soll. Auf der anderen Seite sollte man mit der Zuweisung der Funktion von Institutionen nur für komplexere Gesellschaften vorsichtig sein: Der ProblemlÖsung auch im engsten Familienkreis sind Instuitutionen wie z. B. das private Familienrecht viel häufiger hilfreich, wenn nicht unentbehrlich (Erbrecht!) als es zunächst den Eindruck hat. Einzelinteresse, Gruppeninteresse und Gesamtinteresse sind nicht von vornherein unter allen Umständen zueinander im Widerspruch: Institutionen zur Erreichung von Gruppeninteressen enthalten sowohl unmittelbare 47 Adolf Portmann, Das Tier als soziales Wesen, Suhrkamp Taschenbuch 444, Frankfurt am Main 1978 (Erstausgabe 1953).

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Einzelinteressen wie auch eigene Interessenverzichte, die aber im Interesse des "wohlverstandenen" oder "aufgeklärten" (längerfristigen) Eigeninteresses notwendig sind. Institutionen, die zusammen das Gesamtinteresse (Gemeinwohl) bewirken sollen, verwirklichen gleichzeitig Zustände, die im mittelbaren Eigeninteresse liegen, wie auch solche, die im mittelbaren Interesse einer oder mehrerer Gruppen liegen, wie auch Verhaltensweisen, die im Sinne eines wohlverstandenen Eigeninteresses Verzichte auf kurzfristige Egoismen auf einem meist geographisch abgegrenztem Gebiet zugunsten der Gesamtheit seiner Bewohner einschließen, womöglich unterschieden nach Gebietskörperschaften, wie Gemeinden, Länder, Staaten, Staatengemeinschaften, Völkerfamilie. Je durchgehender das eigene Interesse jedesmal sichtbar wird, desto konsequenter werden ihre Regeln befolgt und desto problemlösender werden solche Institutionen zielgerecht funktionieren. Es ist kaum vorstellbar, daß nicht irgendein "recht verstandenes" Eigeninteresse grundsätzlich immer irgendwie dabei ist.

VI. Das Gemeinwohl als Interesse aller Beteiligten

1. Gemeinwohl ist Allgemeininteresse In einem Vortrag, den Johannes Messner im Jahre 1961 gehalten hat, fand er es angesichts der zentralen Stellung, die Leo XIII. und Thomas von Aquin dem Gemeinwohl im Leben und Streben der Gesellschaft zuweisen, erstaunlich, wie wenig in der wissenschaftlichen katholischen Gesellschaftslehre über das Gemeinwohl zu finden ist. Dies umso mehr, als die Berufung auf das Gemeinwohlprinzip in päpstlichen Äußerungen, im katholischen Schrifttum sowie in der Erörterung tagespolitischer Fragen eine Rolle spielt wie kaum ein anderer ethischer Begriff, nicht einmal der der Gerechtigkeit. 48 Messner fand dann die überraschende Antwort auf die Frage nach der Natur des Gemeinwohles in der Umschreibung durch einen Professor der Moraltheologie und des Kanonischen Rechts, der kurz und bündig meinte: "Das Gemeinwohl ist das, woran alle ein Interesse haben." Nicht zu Unrecht spreche man tatsächlich statt vom Gemeinwohl auch synonym vom Allgemeininteresse (S. 22).

48 Johannes Messner, Das Gemeinwohl. Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, Verlag A. Fromm, Osnabrück 1962, S. 12 und S. 22.

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2. Der Zweck des Gemeinwohles- das Einzelwohl Das Interesse jedes Einzelnen an Glück, Selbstentfaltung, größtes Glück der größten Zahl (J. Bentham)- heute "ein geglücktes Leben" (Korff) oder "gelingendes Leben" (Reinhard Marx) als anderen Ausdruck für "erfüllten Lebenssinn" (V. Frankl)- läßt erkennen, daß sich hinter dem Begriff des Gemeinwohls ein allgemeiner Zustand verbirgt, der für die Erfüllung der existentiellen Zwecke jedes Menschen nützlich, wenn nicht sogar notwendig ist. Die utilitaristische Begründung des Gemeinwohls als Hilfe für den einzelnen bei der Erfüllung seiner existentiellen Lebenszwecke durchläuft die Sozialethik Johannes Messners wie ein roter Faden: von der "Goldenen Regel" bis zu den Institutionen der Völkergemeinschaft. Die Begründung der "Goldenen Regel" als klassisches Regelverhalten ist das eigene Wohl. (S. 14). Wenn freiheitliche Demokratie...:._ so meinte Messner weiter- einen Sinn hat, kann es nur der sein, daß die Staatsbürger selbst entscheiden, in welchen Werten sie ihr Gemeinwohl als das "größte Glück der größten Zahl" verwirklicht sehen wollen. Soll "die Würde des Menschen" nicht leere Phrase sein, dann darf ihm nicht zugemutet werden, sich darüber von Regierungen, von Politikern und Managern unterrichten zu lassen. (S. 19). Sein spezifisches Entwicklungsziel, seinen Lebenssinn muß jeder Mensch selbst bestimmen können, andere Menschen und selbst sinnstiftende Institutionen können ihm dabei nur helfend zur Seite stehen. Die letzte Entscheidung hat der um Sinn-Erkenntnis und Sinn-Erfüllung ringende Mensch selbst zu verantworten. Die Letztverantwortlichkeit des Menschen gibt seinem individuellen Gewissen seinen hohen Rang, auch dem irregeleiteten (Karl Rahner). Johannes Messner beginnt sein "Kompendium" der alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden "Gesamtethik" mit dem Kapitel über "Das Gewissen" . 49 Ein weiterer Weg, der Würde des Menschen Rechnung zu tragen, liegt darin, den Menschen zu nehmen, wie er aufgrund seiner gestörten Natur (nach katholischer Auffassung) oder aufgrund seiner gefallenen Natur (nach lutherischer Auffassung) oder aufgrund der menschlichen Erfahrung (als Conditio humana), das heißt aufgrund seines begrenzten Wissens und seines wechselvollen Wollens ist. Der Mensch ist niemals ausschließlich gut oder ausschließlich böse, er ist in beiden Richtungen über Zeit und Umstände hinweg ambivalent.

49 J . Messner, Ethik. Kompendium der Gesamtethik. Prinzipienethik - Persönlichkeitsethik - Kulturethik - Rechtsethik - Gesellschaftsethik - Staatsethik Wirtschaftsethik, Innsbruck - Wien - München 1955, S. 3 ff.

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So kommt Messner zu einem anthologischen Begriff des Gemeinwohls: Nur in der Gesellschaft und durch die in vielfachen Schichtungen ("Solidaritäten", d. Verf.) von der Familie bis zur Lebensgemeinschaft des Staates wirkenden, den Menschen formenden und bildenden Kräfte wird er zum Vollmenschen. Nur so können sich alle seine Fähigkeiten seelischer wie körperlicher Art entwicklen, Er braucht die Gesellschaft zur Vollentfaltung seiner religiösen und seiner sittlichen Persönlichkeit, angefangen von der Gewissensbildung genauso wie er sie braucht zur Vollentfaltung seiner Kräfte, die ihm den Erwerb des Lebensunterhalts durch Ausübung eines Berufes ermöglichen. (S. 37). Daraus bietet sich heute ein ordnungsethischer Begriff des Gemeinwohls als Allgemeininteresse aller Mitglieder der Gesellschaft an: Das ist das Gemeinwohl als Gesamtheit der Umstände, die dem einzelnen Menschen helfen, die von ihm wahrgenommenen existentiellen Lebenszwecke zu erreichen, die er nur durch das Zusammenwirken mit anderen Menschen in zahlreichen und sich oft überlappenden Institutionen erreichen kann. Der Zweck des Gemeinwohles aber bleibt das Wohl des Einzelnen. Messner steht sogar der noch viel individualistischereD Sicht des klassischen Utilitarismus nicht fern: "Um den wahren Kern der Formel von Bentham zu verwenden", hält es Messner für zulässig zu sagen: "Das Gemeinwohl ist die durch die gesellschaftliche Verbundenheit bedingte größtmögliche, der Bestimmung der Menschennatur zugeordnete Glückserfüllung der Gesellschaftsglieder in ihrer größten Zahl". "Bestimmung der Menschennatur" soll auf die an die Persönlichkeitswerte gebundene Lebenserfüllung jedes Einzelnen hinweisen. 50 Das Gemeinwohl besteht damit in den Gesellschaftsmitgliedern und ist umso allgemeiner, je größer die Zahl der Glückserfüllten ist. Messner hat mit der Gleichsetzung des Gemeinwohles mit allen Einzelwahlen das traditionelle Verständnis nicht ganz aufgegeben, ist aber dem Unterschied zwischen den beiden Begriffen als "Chance für möglichst alle" und als "Verwirklichung durch möglichst alle" in seiner Unterscheidung der (zehn) Dimensionen des Gemeinwohles 51 nahegekommen. Eine präzise Unterscheidung legt heute die Funktion der Sozialethik als Theorie der gesellschaftlichen Zielsetzungen mit Hilfe der Institutionenlehre nahe. Die vergleichende Verhaltensforschung zeigt die Änderung von der Beobachtung der Schwerpunkte "Erhaltung der Art" in der Pflanzen- und Tierwelt zum Schwerpunkt "Schicksal des Einzelnen" im menschlichen Zusammenleben. Den biologischen Beitrag zu einerneuen Auffassung von Menschen hatte Adolf Portmann geleistet, der einen wichtigen Teil seiner 50 51

J . Messner, Das Gemeinwohl, S . 39. J . Messner, Das Gemeinwohl, S. 43-123.

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zoologischen Forschung auf anthropologische Fragen gerichtet hat: Gerade weil er zum Ergebnis kam, daß der Kampf um Geltung und Würde des Einzelmenschen nicht durch Übersteigerung des Individualismus geführt werden konnte, galt es für ihn, die Einsicht in unsere primär soziale Grundstruktur zu stärken, das ursprüngliche Umfaßtsein des Einzelnen durch die Welt und die Gruppe zu zeigen, zugleich aber auch die Eigenart der Rolle des Individuums auf allen höheren Stufen des Lebens deutlich zu machen. 52 Und das alles im Kampf um die Geltung und Würde des Einzelmenschen!

3. Das Gemeinwohl als Ziel gesellschaftspolitischer Institutionen Einen solchen wünschenswerten Zustand der Gesellschaft beschreibt z. B. das übliche Bündel wirtschafts- und sozialpolitischer Zielsetzungen im "magischen Vieleck" (wachsender Wohlstand für alle, hoher Beschäftigungsgrad, ökonomischer Umgang mit knappen, insbesondere natürlichen Ressourcen, gerechtere Einkommensverteilung, stabiler Geldwert konvertibler Währungen, usw.). Die Aufnahme der Wahrung und Erfüllung der Menschenwürde in den Zielkatalog macht die Definition der Sozialethik (Institutionenethik) zur Theorie der Zielsetzungen, die selbst bei höchster Tugendhaftigkeit aller Beteiligten nur mit Hilfe geeigneter Institutionen erreicht werden können, möglich. Das läßt die direkte Verbindung vom Selbstinteresse über die diversen Gruppeninteressen zum Allgemeininteresse als jeweils andere Formen der Wahrung des Selbstinteresses erkennen, sowie die Notwendigkeit der Ergänzung der so verstandenen Tugendlehre (Individualethik) durch so verstandene Sozialethik. Als Ziel gesellschaftspolitischer Institutionen 53 ist das Gemeinwohl etwas substantiell anderes als das Wohl der Einzelnen: Das Gemeinwohl ist die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch den Einzelnen ermöglichen, die eigene Vollendung voller und leichter zu erreichen (GS 26). Diese lehramtliche Formulierung des Gemeinwohlbegriffes übernimmt also nicht eine eher traditionell aristotelisch-thomistische Ansicht, der zufolge "das Wohl jedes Einzelnen im Gemeinwohl als ethischer Wert voll enthalten sei nach dem Grundsatz ,das Ganze ist mehr als die Teile' ".54 52 A. Portmann, Biologie und Geist, Suhrkamp Taschenbuch 124, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1978, S. 7 (1. Aufl 1973). 53 W. Schmitz, Eine Theorie der gesellschaftspolitischen Zielsetzungen. Zur Neuauflage von J . Messners "Naturrecht", in: Wirtschaftspolitische Blätter 5 I 6-1959, S . 266-268. 54 Walter Kerber, Gemeinwohl, in: Staatslexikon, Bd. 2 (1986), S. 858.

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Wenn auch nicht immer ganz frei von der genannten traditionellen Betrachtungsweise zieht sich die Sicht des Gemeinwohles als Gesamtheit der Bedingungen zur Persönlichkeitsrealisierung der einzelnen dazu selbstverantwortlichen Menschen doch wie ein roter Faden durch die profunde und damals erstmalige Monographie Messners. 55 Das Gemeinwohl ist daher in dieser Sicht nicht die Verwirklichung aller Einzelwohle- dazu wäre auch niemand anderer als der Einzelne imstande! - sondern lediglich die Gesamtheit aller Chancen dazu für möglichst alle. Das Einzelwohl wird nur dann erreicht, wenn diese Chancen auch tatsächlich ergriffen werden. Ergreifen Einzelne diese Chancen (z. B. .durch Wahl eines Arbeitsplatzes) nicht, obwohl angemessene Arbeitspläg.e angeboten werden, ist wohl das Gemeinwohl erreicht, nicht aber das Wohl der Einzelnen, die diese ihnen gebotenen Chancen nicht ergreifen. Auf diese Unterscheidung zwischen Ermöglichung der Befriedigung und tatsächlicher Befriedigung menschlicher Bedürfnisse hatte schon der schwedische Ökonom Gustav Cassel, den auch Messner eingehend studiert hatte, großen Wert gelegt: "Zweck jeder Wirtschaft ist Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Die Wirtschaft ist also eine Tätigkeit, die auf Ermöglichung einer solchen Bedürfnisbefriedigung hinausgeht. Jedoch ist der Akt der Bedürfnisbefriedigung selbst nicht als eine wirtschaftliche Tätigkeit zu rechnen. Die Bedürfnisbefriedigung bedeutet als solche meistens eine gewisse mehr oder weniger aktive Tätigkeit der Person, die ihre Bedürfnisse befriedigt. Wer seinen Hunger stillen will, muß essen, diese Tätigkeiten gehören nicht in das Bereich der Wirtschaft" 56 , und erst recht nicht in das Bereich staatlicher Zuständigkeit, möchte man heute hinzufügen. Wenn man doch wohl davon ausgehen muß, daß die bloße Chance für die Entwicklung der Persönlichkeit weniger ist, als von dieser Chance auch tatsächlich Gebrauch zu machen, dann ist das Gemeinwohl (als Summe aller Chancen) doch wohl - entgegen einer gängigen Phraseologie weniger als die Summe aller Einzelwohle (als Verwirklichung dieser Chancen). Alfred Klose versteht (in seinem Beitrag zu diesem Band) unter Gemeinwohl etwas ganz anderes, nämlich nicht die Gesamtheit der Bedingungen, sondern den jeweiligen Erfolg dieser Bemühungen bei den beteiligten Personen. Daher ist für ihn - in Anlehnung an Jung-Stilling - die Aggregierung der vielen einzelnen Beiträge von persönlichem "Besten" zu einem "allgemeinen Besten" das Gemeinwohl. 55

J . Messner, Das Gemeinwohl. Osnabrück 1962.

G. Cassel, Theoretische Sozialökonomie, C. F. Wintersehe Verlagshandlung Leipzig, 2. verbesserte Auflage 1921 (Erstauflage 1919), S. 1. 56

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Hier muß die Frage der tatsächlichen Addierbarkeit so unterschiedlicher "persönlicher Besten" unerörtert bleiben. Mit diesem Problem haben sich die Public Choice Theorie und die Wohlfahrtstheorie eingehend beschäftigt. A. Klose ist jedoch in der katholischen Sozialtradition in bester Gesellschaft. Dies hatte von Thomas von Aquin 57 bis A. F. Utz sogar zur Folge, daß diese es für sinnvoll hielten, der Sozialethik einen Wertvorrang vor der Individualethik 58 und in der Folge auch dem Gemeinwohl einen Vorrang vor dem Wohl aller Einzelnen und dem Allgemeininteresse einen Vorrang vor dem Interesse aller Einzelnen einzuräumen. Die Thomas-Tradition geht hier von einer Auffassung des Staates als einem Lebensprozeß aus, der als solcher Selbstzweck ist 59 , und von der aristotelisch-thomistischen Vorstellung von der Priorität des Ganzen vor dem Einzelnen. - Wenn damit vielleicht nur das Wohl vieler Einzelner vor dem Wohl weniger Einzelner gemeint ist, dann setzt ein solcher Konfliktfall jedenfalls aber immer ein gleich definiertes individuelles "Wohl" voraus. Die Weiterentwicklung von Thomas schien Messner aber schon deshalb notwendig, weil er (in Übereinstimmung mit Utz) bei Thomas die Idee der Freiheit und der Menschenrechte, wie wir sie heute verstehen und wie sie für das Verständnis des Gemeinwohles entscheidend sind, nicht finden kann. Bei Thomas hätten Staatengemeinschaft und Gemeinwohl eine Stellung, die nur aus seiner starken Anlehung an Aristoteles zu erklären sei, und mit der heutigen, sicher im Grunde aus der christlichen Lehre vom Menschen stammenden Idee der Freiheit schwerlich vereinbar ist, zumal die Sicherung der Freiheitsrechte eine der "allerwichtigsten" Gemeinwohlaufgaben sei. Messner hatte sich von der sich damals abzeichnenden Überbewertung des Gemeinwohles auf Kosten der Freiheitsrechte der Einzelnen und der kleineren Einheiten der Gesellschaft zu einer vorsichtigeren Umschreibung des Eigenwertes und Eigenrechtes des Gemeinwohles veranlaßt gesehen, "die man damals tadeln zu müssen glaubte". 60 Eine gewisse Unklarheit über die Rangordnung von Einzelwohl und Gemeinwohl aber kennzeichnen nicht nur einschlägige Passagen bei Johannes Messner, sondern auch heute nicht minder noch die offizielle katholische Soziallehre. Soweit nicht unter gleichen Bezeichnungen nicht im Grunde ganz Verschiedenes gemeint wird oder ganz unterschiedliche Perspektiven der jeweils selben Sache verstanden werden müssen, läßt sich J . Messner, Das Gemeinwohl, S. 10 f. Auch Messner hatte eine Phase (Die Soziale Frage 1933), in welcher er in der Auseinandersetzung mit Cathrein, der dem Begriff Sozialethik als Unbegriff die Berechtigung absprach, glaubte, sich im Sinne von Thomas die Überordnung der Sozialethik über die Individualethik zueigen machen zu sollen (Das Gemeinwohl, s. 129). 59 A. F. Utz, Sozialethik, 3. Teil: Die Soziale Ordnung, S. 15 f., 18. 60 J. Messner, Das Gemeinwohl, S. 129 f. 57 58

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daraus wohl erkennen, daß da doch noch wichtige Antworten offen sind. Vieles spricht dafür, einen solchen vielleicht mehr emotionalen als rationalen Begriff wie das "Gemeinwohl" in heute verständlicherer theoretischer Terminologie zu präzisieren.

4. Das Wohl und die Wohle Als ein Hindernis für solche ethisch sehr unterschiedlich zu verstehende Beurteilungen von subjektiven und objektiven Zuständen erweist sich eine literarisch sehr weit verbreitete Gewohnheit, die ich als "Poesie des Singular" bezeichnen möchte. Diese tritt regelmäßig in Erscheinung, wenn das unbefriedigte intellektuelle Bedürfnis nach Einheit der Fragestellung durch rhetorische Ästhetik befriedigt werden soll. So ist z. B. "das Gemeinwohl" wohl als Abstraktion sinnvoll, als konkrete Beschreibung sozialer Verhältnisse aber gibt es so viele Gemeinwohle als es Institutionen gibt (z. B. Gemeinden, Staaten, Staatengruppen, Wettbewerbsmärkte, Kirchen, Familien etc.), denen es obliegt, die genannten Chancen zu schaffen. Ebenso verhält es sich mit "dem Einzelwohl": Wenn damit nicht eine gedankliche Abstraktion verstanden werden soll, gibt es so viele unterschiedliche Einzelwohle als es einzelne Menschen gibt. In bewußter Weiterbildung der thomistischen Lehre, die in Anlehnung an Aristoteles den Akzent auf das politische Gemeinwohl, auf den Staat und die Staatengemeinschaft legte, betonte Messner den Gemeinwohlpluralismus, den er darin begründet sieht, daß auch die Gliedstaaten ein ihren natürlichen Zwecken entsprechendes Gemeinwohl zu verwirklichen haben. Der zu einseitige Akzent auf den Staat behindere die Erkenntnis, daß in der modernen Demokratie das Gemeinwohl auch verpflichtende Sache des Staatsbürgers ist. Noch viel weiter relativiert wird die Aufgabe des Staates im Lichte der heutigen Erfahrung, daß der Staat neben anderen Institutionensystemen wie Wirtschaft, Wissenschaft, öffentliche Meinung etc. ein Teilsystem im sozial-arbeitsteiligen Zusammenwirken aller Institutionen ist, denen zusammen die Schaffung des Chancenzustandes obliegt, der den Einzelnen seine Persönlichkeitsbildung ermöglichen soll. Wenn das Gemeinwohl im Mittelpunkt der katholischen Soziallehre, "ja der Ethik überhaupt" (Messner im "Gemeinwohl" , S. 10) steht und wenn gleichzeitig der Mensch der Mittelpunkt des Handeins in Wirtschaft, Recht, Staat etc. ist (GS 25), dann kann- wenn diese Philosophie konsistent sein soll und es nur einen Mittelpunkt gibt! - unter dem Gemeinwohl und dem einzelnen Menschenwohl nur etwas zwar Zusammengehöriges, aber unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten Gesehenes verstanden werden: Etwa

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als die vielfältigen Chancen zur Persönlichkeitsentfaltung mit Hilfe der vielen Institutionen (als sozialethisches Postulat) und die tatsächliche Verwirklichung durch die vielen Einzelnen (als individualethisches Postulat). Daß Johannes Messner sich dieser theoretischen Schwierigkeiten bewußt war, läßt seine Bemerkung erkennen, daß er sich das Gemeinwohlproblem immer wieder neu gestellt hat, bei der Arbeit an der "Kulturethik" (1954) und an der "Sozialen Frage" (6. Aufl. 1956) und am "Naturrecht" (3. Aufl. 1958), und sich ihm dabei stets weitere Aspekte aufgedrängt haben. Worauf es ihm in allem besonders ankam, war die weniger gepflegte Grundlagenforschung in der Gemeinwohllehre, aber ebenso die Verantwortungslagerung in der modernen und verbandspluralistischen Demokratie. 61 Die beachtliche Problemlösungskapazität der heutigen Sozialwissenschaften sollte auch dem vertieften Verständnis des Spannungsverhältnisses Einzelinteresse-Allgemeininteresse zugute kommen.

VII. Die wissenschaftliche Ethik als Theorie der individuellen und gesellschaftlichen Zielsetzungen

1. Ordnungstheorie, Ordnungspolitik, Ordnungsethik Das Zusammenwirken von Theorie, Politik und Ethik hat bei der Entwicklung der Disziplin der Allgemeinen Theorie der staatlichen Wirtschaftspolitik zu folgenden methodischen Zuordnungen geführt: Die Erkenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge sind Gegenstand der Theoretischen Nationalökonomie (der Volks- und der Betriebswirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft), die Erforschung der Ziel- Mittel- Zusammenhänge, einschließlich der notwendigen Rahmenbedingungen sind Anliegen der Theoretischen Wirtschaftspolitik. Die Entwicklung einer selbständigen Disziplin ist im deutschen Sprachraum möglich geworden, seit die Entwicklung der Preistheorie eine darauf aufbauende "Kunstlehre" (Martha Stefanie Braun 1929) möglich gemacht hatte. 62 Offen war für die Theoretische Wirtschaftspolitik zunächst die Frage geblieben, woher sie neben ihrer "Instrumentenlehre" ihren normativen Zweig (Egon Tuchfeldt) ableiten kann. Einigkeit bestand von Anfang an darüber, daß die Erkenntnis der Zielsetzungen nicht Sache der Ökonomen ist, sondern daß sie von außen ("politisch") vorgegeben werden (z. B. P. K. Samuleson 63 und in der Folge auch Th. Pütz 1971 64, E. Küng 1972) und

61

J. Messner, Das Gemeinwohl, S. 131.

M. St. Braun, Theorie der staatlichen Wirtschaftspolitik, Leipzig-Wien 1929 unter Bezugnahme auf die Preistheorie Carl Mengers. 62

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Gegenstand sozialphilosophischer Überlegungen sind (z. B. W. A. Jöhr 1957, H. Giersch 1961, A. Woll 1984) 65 und jedenfalls offengelegt werden müssen. Im Kontext mit Wirtschaftstheorie und Theoretischer Wirtschaftspolitik ist Wirtschaftsethik also die Lehre von der Förderung oder Beeinträchtigung sozialer Werte im Wirtschaftsleben durch bewußte Zielsetzungen und unbeabsichtigte bzw. in Kauf genommene Nebenwirkungen. Unter "sozialen Werten" werden hier solche verstanden, die nur im gesellschaftlichen Zusammenwirken d. h. durch Regeln und Institutionen verwirklicht werden können. Die Wirtschaftsethik beruht auf einem interdisziplinären Zusammenwirken der philosophischen oder der theologischen Ethik mit der Volkswirtrschaftslehre ("reine Theorie") und mit der Theorie der ZielMittel-Analyse (Theoretische Wirtschaftspolitik). Was über das Zusammenwirken von Theorie, Politik und Ethik im Bereich der Wirtschaftswissenschaften gezeigt wurde, gilt analog für den vielschichtigen Konfliktlösungsbedarf in allen Bereichen der Gesellschaft. Der Dreischritt Theorie-Ethik-Politik entspricht seit Aristoteles dem Grundschema jedes rationalen gesellschaftspolitischen Wirkens des "Sehen-Urteilen-Handeln". Mit Ordnungstheorie und Ordnungspolitik wird eine Dimension angesprochen, die die Ordnungsvorstellungen von Walter Euc~n (1952) und der Schule des Ordo-Liberalismus auf alle, auch die nicht ökonomisch bedingten zwischenmenschlichen (=sozialen) Probleme ausdehnt. Die Ordnungstheorie versucht - nicht ohne Inspiration durch die allgemeine Systemtheorie und die Kybernetik - die vernetzten Zusammenhänge aller Art innerhalb der heute so komplexen Gesellschaft als zusammenwirken von Regelsystemen und Kreislaufzusammenhängen zu erklären. Die Ordnungstheorie und die Ordnungspolitik werden von Ph. HerderDorneich als eine analytische Methode zur Erklärung der sozialen Zusammenhänge definiert, die lediglich auf unterschiedliche Fragestellungen abgestellt sind: Die Ordnungstheorie fragt nach den beobachtbaren Zusammenhängen von Institutionen untereinander wie auch nach ihrer Effizienz zur Erreichung bestimmter (vorgegebener) Zielsetzungen. Die Ordnungspolitik fragt auf Grund dieser Erfahrung umgekehrt nach den Institutionen, P. K. Samuelson, Foundations of Economic Analysis, Cambridge, Mass. 1947. Theodor Pütz, Grundlagen der theoretischen Wirtschaftspolitik, Stuttgart 1971. 65 Näheres bei W. Schmitz, Die ethische Fundierung der Ordnungspolitik. Hinter jeder Konzeption ein Menschenbild, in: Wirtschaftspolitische Blätter 2 I 1988; weiters siehe Th. Pütz, Stichwort "Theorie der Wirtschaftspolitik", in: A. Woll (Hg.), Wirtschaftslexikon, 2. Aufl. München-Wien 1987, S . 568 ff. 63 64

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von denen die Erreichung (vorgegebener) Zielsetzungen erwartet werden kann. Die Zielsetzungen sind das wissenschaftliche Objekt der Ordnungsethik. Den sehr präzise zu fassenden Unterschied zwischen Individualethik und Institutionenethik hat Gernot Gutmann auf den Punkt gebracht: Bei der Frage nach den ethischen Grundlagen und Implikationen der ordnungspolitischen Konzeption geht es nicht vorwiegend um die sittliche Überzeugung der einzelnen Konsumenten, Produzenten und Wähler, sondern um das Problem der ethischen Qualität der Ordnung selbst. 66 Mit unseren Worten: Es geht bei einer ordnungspolitischen Konzeption um den individualethischen Mindestkonsens und um die Ethik der ordnenden Institutionen. Gleichzeitig legt Gutmann - ohne den Begriff selbst zu verwenden folgende treffende Definition der Ordnungsethik nahe: als die wissenschaftliche Frage nach der ethischen Qualität der Ordnung als unterschieden von der Individualethik als dem sittlichen Verhalten der einzelnen, innerhalb dieser Ordnung am ökonomischen und politischen Prozeß unmittelbar Beteiligten.

2. Ordnungsethik (Sozialethik) - eine normative Wissenschaft Daß nicht nur die analytische, sondern auch die normative Ethik mit wissenschaftlichen Methoden vorgehen kann, ist noch nicht von allen anerkannt. Das aber ist eine Voraussetzung dafür, daß die Ordnungsethik - wie jede normative Wissenschaft - als Ergebnis interdisziplinärer Zusammenarbeit formuliert werden kann, als Zusammenschau z. B. von Ordnungstheorie und einer von einem Menschenbild abgeleitete Frage nach dem Lebenssinn jedes einzelnen Menschen (als seine existentiellen Zwecke) als Zweig der Philosophie. Pütz nahm (noch im Jahre 1965) insbesondere daran Anstoß, daß Mahr seinen Gemeinwohlbegriff inhaltlich-material bestimmt sieht durch weltanschaulich bedingte Wertungen, die sich (Pützs Meinung nach) einer rational-wissenschaftlichen und damit allgemeingültigen Begründung entziehen, und daß nach der Auffassung Mahrs der Gemeinwohlbegriff und seine inhaltliche Bestimmung nicht nur unentbehrlich ist für die Urteilsbildung in politischen und insbesondere wirtschaftspolitischen Fragen, sondern daß Mahr die Verantwortung des Sozial- und Wirtschaftswissenschafters nicht darin erschöpft, daß er sich nur der rational zwingenden Erkenntnis der Ursache-Wirkung- und Mittel-Zweck-Zusammenhänge widmet und die Fragen der Zielsetzungen dem Politiker überläßt, und, daß er 66 G. Gutmann, Ethische Grundlagen und Implikationen der ordnungspolitischen Konzeption "Soziale Marktwirtschaft", in: G. Gutmann-A. Schüller (Hg.), Ethik und Ordnungsfragen der Wirtschaft, Baden-Baden 1989, S . 343.

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auch die moralische Verantwortung empfindet, aufgrund seiner eigenen "Weltanschauung", seiner persönlichen Wertungen zu Fragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung Stellung zu nehmen und sein Wissen über die Seins-Zusammenhänge in den Dienst der Verwirklichung bestimmter Werte und Ziele zu stellen.67 Pütz hatte sich in seinem Beitrag zur Mahr-Festschrift die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, ob und in welcher Weise der Begriff des Gemeinwohls, den er synonym mit dem Ausdruck Gesamtinteresse gebrauchte, so bestimmt werden kann, daß er für eine Theorie der Wirtschaftspolitik Operationale Bedeutung gewinnt. Ein solcher Gemeinwohlbegriff müßte es seiner Meinung nach vor allem möglich machen, Gesamtinteressen und Gruppeninteressen zu unterscheiden und Urteile darüber zu fällen, wieweit bestimmte Verhaltensweisen von Repräsentanten (Funktionären) der Interessengruppen (Verbände) und des Staates in Übereinstimmung oder Widerspruch mit dem Gemeinwohl (Gesamtinteresse) stehen. Typisch sei die Neigung vieler Verbandsfunktionäre, die Befriedigung der Verbandsinteressen eo ipso als förderlich für das Gesamtinteresse anzusehen. Manche Staatsmänner und besonders Wirtschaftspolitiker neigen dagegen zu der Auffassung, daß gerade die Einflußnahme der Verbandsfunktionäre auf die staatliche Wirtschaftspolitik dem Staat die Wahrung des Gemeinwohls erschwere, wenn nicht unmöglich mache. Doch könne man andererseits den Verbandsfunktionären nicht zumuten, bei der Verfolgung ihrer Verbandsinteressen das "Gemeinwohl" zu berücksichtigen, wenn es nicht möglich ist, eindeutige Kriterien für die Unterscheidung von Gruppen- und Gesamtinteressen und für die Beurteilung des Verhältnisses von Gruppen. und Gesamtinteressen im Sinne von Vereinbarkeit (bzw. Unvereinbarkeit) aufzustellen. Die Sozialphilosophie als Lehre zur Begründung allgemeingültiger Normen zur Gestaltung des sozialen Lebens lehnte Pütz als unwissenschaftlich ab im Anschluß an Max Webers Auffassung, daß die Sozialwissenschaften keine rational zwingenden Erkenntnisse darüber gewinnen können, welche Werte bzw. Ziele für das soziale Leben gelten sollen. 68 Obwohl er expressis verbis die kurz vorher erschiene Arbeit Johannes Messners "Das Gemeinwohl, 1962" als "hervorragendes Beispiel für eine sozialphilosophische Lehre vom Gemeinwohl als einen Inbegriff normativer Werte" anerkannte, blieb Pütz bei seiner Meinung, daß es für die bisherigen sozialphilosophischen Gemeinwohlbestimmungen (einschließlich derjeni67 Th. Pütz, "Das Gemeinwohl" als Begriff der theoretischen Wirtschaftspoitik, in: Wilhelm Weber (Hg.), Einheit und Vielfalt in den Sozialwissenschaften, Festschrift für Alexander Mahr, Wien - New York 1966, S. 261 ff. 68 Im Hinblick auf eine Bemerkung R. Weilers in seinem Beitrag zu diesem Band möchte ich unterstreichen, daß ich diese Meinung von Pütz nicht teile (siehe VII/3).

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gen Messners) kennzeichnend sei, daß die von ihnen entwickelten Kriterien zu allgemeiner Natur sind, um mit ihrer Hilfe beurteilen zu können, welche konkreten Wirtschaftsordnungen, konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen und welchen Interessen und Verhaltensweisen von Sondergruppen (Wirtschaftsverbänden) der Vorzug vor anderen zu geben wäre. Überdeckt der Gemeinwohlbegriff eine Vielzahl bzw. praktisch die meisten konkret vorhandenen Variationen von Ordnungen, Zielen, Maßnahmen und Verhaltensweisen, dann habe er für die Beurteilung wirtschaftspolitischer Probleme eine außerordentlich eng begrenzte Relevanz. Dabei will Pütz unter Gemeinwohl bzw. Gesamtinteresse nicht die Summe der Einzelinteressen verstanden wissen, weil die Einzelinteressen (Individualbedürfnisse) qualitativ verschieden sind und mehr oder weniger in einem Konfliktverhältnis stehen. Geht man davon aus, daß nur Personen Träger von Bedürfnissen sind, so könne das Gesamtinteresse nur als Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Sonderinteressen verstanden werden. Unter Allgemeininteressen versteht Pütz die in einer Gesellschaft dominierenden Werte und Zielvorstellungen, das heißt nur solche Zielvorstellungen, die sich im politischen Willenbildungsprozeß durchsetzen und damit für Gesetzgebung und Verwaltung maßgeblich werden. Wissenschaftliche Aussagen können seiner Meinung nach nur über die Vereinbarkeit von Zielsetzungen gemacht werden, sowie "Uber die Eignung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Erreichung gewünschter Ziele und Zielkombinationen.

3. Institutionenökonomik macht Ordnungsethik zum Partner interdisziplinärer Kooperation Die in den letzten Jahrzehnten entwickelte Institutionenökonomik gibt der normativen Sozialethik eine neue Chance zur Präzisierung ihrer institutionellen Vorraussetzungen und Möglichkeiten und damit eine neue Chance zur interdisziplinären, das heißt wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit den analytischen Sozialwissenschaften. Die Institutionenökonomik greift einen Grundgedanken des "Vaters" der Nationalökonomie als Wissenschaft und Moralphilosophen Adam Smith (Theory of Moral Sentiments, 1759; Wealth of Nations, 1776) auf: Die für Interaktionen erforderliche Verläßlichkeit der wechselseitigen Verhaltenserwartungen können oder müssen nicht mehr durch altruistische Motive oder durch allen Teilnnehmem gemeinsame Ziele sichergestellt werden, sondern durch allgemeine Regeln, die die Akteure im eigenen Interesse beachten. 69 69 K. Homan, F . Blome-Drees, Wirtschafts- und Untemehmensethik, Göttingen 1992, S. 22.

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Die in der Individualmoral so wichtigen Motivationen werden in der in Institutionen als System von Regeln, Signalen, Anreizen und Sanktionen organisierten komplexen Gesellschaft weitgehend unwichtig. Die Leistungsfähigkeit einer modernen Wirtschaft wird unter Verzicht auf altruistische, solidarische Motive und unter Verzicht auf gemeinsame Ziele vorwiegend durch die geeignete Regelbindung der Akteure erzielt. So wächst die Steuerungskapazität ungeheuer an. Daß die Individualmoral aber als ethischer Mindestkonsens für die Funktionsfähigkeit der Institutionen notwendig ist, haben wir schon aufgezeigt. So wird die Wirtschaftsethik zur Ordnungsethik, weil die Erreichung sozialethischer Zielsetzungen von den dazu eingesetzten Regeln und Institutionen erwartet werden kann. Das macht es möglich, bei den Regeln, die die Interaktionen kanalisieren, zwischen Rahmenordnung und den Handlungen innerhalb der Rahmenordnung (A. Roman: Spielregeln und Spielzügen) zu unterscheiden. Im Rahmen dieser Regeln verfolgen die Wirtschaftssubjekte ihre je eigenen Ziele. Die gesamtwirtschaftliche Rechtfertigung dafür liegt nicht in einer Rechtfertigung des "Egoismus", des "Privatinteresses" oder des "Gewinnstrebens", sondern darin, daß eine solche Wirtschaftsordnung zum Wohle der Allgemeinheit mehr Wissen zu verarbeiten und zu nutzen vermag (F. A. Hayek) und wegen der zahlreichen sozialen Funktionen z. B. des Wettbewerbsmarktes (J. Messner) als eine Ordnung, die durch das Zusammenwirken von Institutionen in gleicher Weise zu gemeinsamen wie auch zu spezifischen Zielen gesteuert wird. Die Möglichkeit, daß sich Verbandsinteressen gegen das Gesamtinteresse durchsetzen, ist nicht in erster Linie eine Frage der (Individual-) Moral und der Tugend der Beteiligten. Das eigentliche Problem sind die Regeln des Spiels, die dafür sorgen, daß sich Verbandsinteressen nicht auf Kosten Dritter durchsetzen. Findet solches statt, dann kann meist Staatsversagen angenommen werden: ordnungspolitisch falsche Weichenstellungen, die dazu führen, daß das, was für den einzelnen vernünftig ist, der Gesamtheit schadet. Die Aufgabe des Staates besteht darin, die Regeln des Spiels (die Institutionen) so zu ändern, daß Einzel- und Allgemeininteressen harmonieren. 70 Die beste Kontrolle organisierter Gruppeninteressen ist der Interessenausgleich der Beteiligten über den Wettbewerbsmarkt. Als einen häufigen Fall der Einigung der Sozialparner zu Lasten Dritter erörtert Watrin die heutige Handhabung der kollektivvertraglich vereinbarten Löhne. Ferner ist das Kollektivvertragsystem infolge der mangelnden Lohnsatzdifferen70 Christian Watrin, Nützen oder schaden Verbände dem Gemeinwohl? in: C. G. Fetsch, A. Schwingenstein (Hg), Verbändemacht gegen Gemeinwohl? Die Tarifpartner vor neuen Aufgaben, Trl.er 1989, S. 9-24.

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zierung zwischen blühenden und schrumpfenden Regionen starr. Es führt entweder zur Arbeitslosigkeit dort, wo die Lohnsätze zu hoch sind, um rentables Wirtschaften noch zu ermöglichen, oder es treibt in die Inflation, wenn sich die Notenbank zwingen läßt, durch Geldmengenausweitung die Reallöhne zu "akkommodieren". Ein (schrittweiser) Übergang zu marktwirtschaftlicher Lohnfindung bietet sich hier als die auch dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Lösung an: die Beschränkung der Branchenkollektivverträge etwa auf branchenspezifische Mindestlöhne, verbunden mit Betriebsvereinbarungen für prosperierende Unternehmen (als Teilnahme der Arbeitnehmer an der Gewinnentwicklung). Das japanische Lohnsystem liegt etwa auf einer solchen Linie des Vorranges der Arbeitsplatzsicherung vor der Einkommenssicherung. Die Honorierung besonders gefragter Fachkräfte erfolgt meist heute schon durch spezifische Einzelarbeitsverträge. Wenn man moralische Werte geltend machen will (die nur im Wege von Institutionen verwirklicht werden können, d. Verf.), muß man folglich bei den Rahmenbedingungen, also an der Wirtschaftsordnung ansetzen. Aus diesem Grunde wird die Wirtschaftsethik als Ordnungsethik entwickelt. Die Rahmenordnungen bestimmen die Handlungsergebnisse und daher müssen die Spielregeln reformiert werden (und nicht die Spielzüge), wenn man die Wettbewerbsergebnisse aus moralischen Gründen nicht akzeptieren kann. (K. Homann, F . Blome-Drees, S . 36). Für den Fall konträrer Interessen, die infolge Marktvermachtung keiner Wettbewerbskontrolle unterliegen und zu deren Ausgleich im Konfliktfall keine problemlösenden Institutionen zur Verfügung stehen, wie zB im Falle von Streik und Aussperrung (die regelmäßig zu Lasten unbeteiligter Dritter ausgetragen werden), muß der Gesetzgeber die Partner eines potentiellen Faustrechts unter Friedenspflicht stellen und zu Schieds-Institutionen verpflichten, deren Ergebnisse äußerstenfalls mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols durchgesetzt werden müssen, wenn die Sozialpartner selbst keine verbindliche Schiedsvereinbarung treffen. Hier klafft in den meisten Ländern noch eine gefährliche ordnungspolitische Lücke. Es bestehen allen Erfahrungen nach immer weniger Gründe anzunehmen, daß die Interessen der Verbände stets mit den privatrechtliehen Interessen (z. B. nach dem Einzelarbeitsvertrag) aller ihrer Mitglieder voll korrespondieren. Die Sozialethik als Ordnungsethik (Institutionenethik) macht es nun möglich, die Zusammenhänge von Eigeninteresse, Gruppeninteresse und Gesamtinteresse auf ein durchgehendes Eigeninteresse zurückzuführen und die Lösung divergierender ethischer Anliegen von einer unterschiedlichen Kombination von Institutionen zu erwarten, sowie für sozialphilosophisch begründete Zielsetzungen, die nach dem heutigen Stand der Erfahrungen

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und der Theorie optimalen Institutionen vorzusehen. In keinem humanen Rechtsstaat dürfen gefährliche Konfliktpotentiale ohne irgendeiner Institution zur Problementschärfung zugelassen werden. A. F. Utz hat Recht, wenn er meint, daß Probleme, wie z. B. die exzessive Handhabung des Streikrechts zulasten unbeteiligter Dritter, nur auf der Basis der Wirtschaftsordnung erfolgversprechend behandelt werden können und daß komplexe Probleme wie dieses die Katholische Soziallehre dazu zwingt, sich ernstlich mit der Frage der Wirtschaftsordnung zu befassen. 71 Die bis heute, wenn auch sicherlich nicht wirkungslos entwickelten Institutionen dieser Art reichen von der zivilrechtliehen Haftung für Drittschäden bis zum kalmierenden Einfluß hochqualifizierter Politikberatung, wie z. B. dem (staatlichen) Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (in der Bundesrepublik Deutschland) und dem Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen der großen gesetzlichen Interessensvertretungen und des Gewerkschaftsbundes in Öster reich 72, mit der Aufgabe, objektiv erhobene bzw erhebbare volkswirtschaftliche Daten sowie anerkannte ökonomische Zusammenhänge außer Streit zu stellen und verbleibende Streitfragen präzise zu formulieren und gemeinsam mögliche Auswege zu finden. Spätestens in der Gemeinwohlproblematik tritt die Interdependenz aller gesellschaftlichen Teilbereiche zu Tage. Kein Bereich bleibt für sich und läßt sich außerhalb jeder Rücksicht auf tragende Strukturen und Elemente des Ganzen ordnen. 73 Institutionen müssen wir als Adressaten ethischer Postulate sehen und ihre arbeitsteiligen Funktionen (z. B. Verantwortung der Unternehmungen für Optimierung des Ressourceneinsatzes und Verantwortung der Regierung für hohen Beschäftigungsgrad) erkennen. Das heißt aber z. B. auch Arbeitsteilung zwischen den Lobbyisten zur Interessenformulierung gegenüber anderen problemlösenden Institutionen zum Interessenausgleich, wie -je nach den lösungsbedürftigen Konflikten- etwa Wettbewerbsmarkt oder demokratisch strukturierte Parlamente. Welche Institutionen mit welchen Anteilen jeweils in einer Gesamtordnung zum Zuge kommen, hängt 71 Arthur F . Utz (Hg), Die Katholische Soziallehre und die Wirtschaftsordnung, Trier 1991,S. 373; J . Messner, Der Funktionär . Seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft, Innsbruck- Wien- München 1961, insbesondere S. 233 ff. ("Die noch unbewältigte politische Aufgabe") ist noch nicht überholt. 72 Rezente Literatur: Herbert Pribyl, Sozialpartnerschaft in Österreich. Mit einer Einführung von Alfred Klose, Wien 1991; Hans Seidel, Der Beirat für Wirtschafts und Sozialfragen, WIFO-Institut, Wien 1993. 73 Anton Rauscher (Hg.), Selbstinteresse und Gemeinwohl. Beiträge zur Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft,. Berlin 1985, Vorwort, S . 7.

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auch von den näheren Umständen und den sozialphilosophischen Orientierungen ab 74, das heißt der Zusammensetzung des gesellschaftspolitischen Zielbündels.

4. Sozialethik - nicht hierarchischer, sondern zeitlicher Vorrang Sozialethik und Institutionenökonomik sind gleichberechtigte Partner der interdisziplinären Kooperation. Interdisziplinäre Kompetenz setzt bei allen Partnern disziplinäre Kompetenz voraus. Sie beginnt aber schon im eigenen Kopf 75 und unterscheidet die Wege zur interdisziplinären Integration durch die für jede der beteiligten Disziplinen kennzeichnenden Erkenntnismethoden. Aus der Logik ihrer Aufgabenstellung gibt es aber eine zeitliche Rangordnung ihres Beitrages. Entscheidend ist zuerst, worin die existentiellen Zwecke des Menschen gesehen werden und was infolge dessen der Inhalt des Gemeinwohls sein soll: Erst dann ist es sinnvoll zu fragen, auf welche Weise und durch welche Maßnahmen der Staat und I oder andere dafür in Frage kommende Institutionen die im Gemeinwohl definierten Zwecke erreichen oder den Menschen zur Verwirklichung ihres Eigenwohles helfen können. 76 Der Suche nach einer Institution, die für höchste Effizienz im Umgang mit knappen Ressourcen Sorge tragen soll, muß die Annahme vorausgehen, daß die höchste Effizienz im Umgang mit knappen Gütern ein hochrangiges Anliegen der menschlichen Existenz ist. Selbst wer sich bloß bestehenden Institutionen, die defacto für Effizienz sorgen, bewußt oder unbewußt anvertraut, tut dies in der vorausgegangenen bewußten oder unbewußten Annahme, daß dies für die Erreichung seines eigenen Zieles gut tut. Wer sich aber bewußt damit auseinander setzt, das heißt wissenschaftlich reflektiert, der muß diese zeitliche Rangordnung einhalten. Der Vorrang der wissenschaftlichen Erkenntnis der Sozialethik vor der Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnis der Institutionenökonomik ist aber nur ein zeitlicher Vorrang. Im Hinblick auf die kritische Bemerkung Rudolf Weilers in seinem Beitrag zu diesem Band soll das wissenschaftstheoretisch näher erklärt werden. 74 Christian Watrin, Gesellschaftliche Wohlfahrt Zur volkswirtschaftlichen Sicht der Gemeinwohlproblematik, in: A. Rauscher, S. 461 ff. 75 Jürgen Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität? In: Jürgen Kocka (Hg.), Interdisziplinarität. Praxis-Herausforderung-Ideologie" Frankfurt a. M. 1987, s. 153 ff. 76 Alfred Klose, Zur Gemeinwohlproblematik - Perspektiven einer gemeinwohlorienterten Politik aus der Sicht christlicher Sozialethik., in: A. Rauscher, S. 497.

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Schon zur präzisen Formulierung der Zielsetzungen bedarf es des Zusammenwirkens beider wissenschaftlichen Methoden. Bei diesem interdisziplinären Zusammenwirken sind alle beteiligten wissenschaftlichen Erkenntniswege gleichrangig: die Erkenntnisse über die Sollensordnung und die Erkenntnisse die Seinsordnung betreffend. Wenn beide gleich wichtig sind, so kann die eine nicht wichtiger sein als die andere. Sie sind auch rational gleichrangig. Die eine bietet nicht mehr Wahrheit über ihren Forschungsbereich als die andere über den ihren. Das ist auch das Kennzeichen jeder Interdisziplinarität, die sich hier als fächerübergreifendes Denken versteht, das zu einer Vereinheitlichung des Verständnisses von Phänomenen führt, indem es die Teilerklärungen verschiedener Disziplinen (hier der Sollensordnung- dort der Seinsordnung der Gesellschaft) miteinander zu verknüpfen sucht. 77 Eine logische Rangordnung gibt es innerhalb der Konzeption einer Sollensordnung: Der Begriff des Guten und des Wertes liegt dem Begriff des Sollens voraus wie der Grund dem Begründeten oder - wie Max Scheler es formulierte: "Jedes Sollen (ist) in einem Wert fundiert (und nicht umgekehrt)." 78 Die interdisziplinäre Gleichrangigkeit von Sollenspostulaten und Seinsanalysen ergibt sich aus der Tatsache, daß menschlich verantwortungsbewußtes Handeln beides in gleicher Dringlichkeit notwendig hat. Das hatte Johannes Messner schon in seiner Habitnationsarbeit 1927 sozialphilosophisch als fundamental überzeugend zum Ausdruck gebracht. 79 Das Zweite Vatikanische Konzil (1965) hat das als "realtive Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" für die Römisch-katholische Kirche nunmehr ausdrücklich zum lehramtlich anerkannten Grundsatz erhoben, welcher besagt, "daß die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaft ihre eigenen Gesetze und Werte haben", die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten muß. 80 Der Autor tritt dafür ein, die bisher im historischen Lernprozeß herausgestellten Prinzipien einer humanen Gesellschaftsordnung wie etwa Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl und Partizipation durch das Prinzip der ausreichenden Sachkenntnis zu erweiternB 1, nicht nur, um große

77 Helmut Reinalter (Hg.), Vernetztes Denken - Gemeinsames Handeln. Interdisziplinarität in Theorie und Praxis, Kulturverlag Thaur-Wien-München 1993, S . 7. 78 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 5. Aufl. 1966, S. 193. 79 J . Messner, Sozialökonomik und Sozialethik. Studie zur Grundlegung einer systematischen Wirtschaftsethik, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, 2. Aufl. 1929, S. 49 ff. 80 Pastoralkonstitution über "Die Kirche in der Welt von heute" (GS 36); deutsche Fassung 1966.

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Fehler bei der Anwendung der ersteren zu vermeiden, sondern auch, um die genannten anthropologisch begründeten Prinzipien mit konkreten Inhalten zu erfüllen und die Problemlösungskapazität der Humanwissenschaften voll zur Entfaltung zu bringen.

81 Siehe W. Schmitz, Das noch verborgene sechste Prinzip der katholischen Soziallehre: Zum guten Willen das gute Wissen, in: Die Furche Nr. 19 vom 9. Mai 1991.

EIGENINTERESSE UND MORAL

Der geschichtliche und kulturell-religiöse Begriffshorizont als Anfrage an die christliche Ethik Von Ingeborg Gabriel I. Einleitung

Vor einiger Zeit kam ein Studentin der Psychologie zu mir. Sie hatte sich vorgenommen, in ihrer Diplomarbeit die in ihrem Fachgebiet weitverbreitete These in Frage zu stellen, daß das Eigeninteresse die einzige Antriebskraft des Menschen darstelle. Daß dies nicht so sei, wollte sie anhand der Lehren der Religionen- und hier vor allem des Christentums- aufzeigen. Denn diese - so meinte sie - seien primär altruistisch ausgerichtet, d. h. am Wohl des Nächsten orientiert. Ihr Anliegen war berechtigt. Theorien, die im Eigeninteresse den einzigen Motor menschlichen Handeins sehen, stellen eine grobe Vereinfachung beobachtbarer Phänomene dar. Wenn dann noch unter der Hand das als faktisch Angenommene mit dem SeinSollenden identifiziert wird - wie in Populärversionen aller Art der Fall, -wird ein platter Egoismus gleichsam "wissenschaftlich" legitimiert. Das Grundaxiom einer derartigen "Ethik" bildet dann die Annahme, daß jedwedes Verhalten ethisch sei, solange es der Persönlichkeit entsprechend ihren selbst definierten Werten diene. Das weitere Gespräch zeigte aber auch die Schwierigkeiten, die sich dem Versuch entgegenstellen, zu klaren Aussagen hinsichtlich des Begriffs des Eigeninteresses zu kommen. Die Ergänzung des Eigeninteresses durch eine weitere Antriebskraft "Fremdinteresse" befriedigt nicht. Und wie verhält es sich mit den Religionen? Setzen sie wirklich das Wohl des Nächsten an die Stelle des Eigeninteresses? Verlangen sie somit ein ethisches Verhalten, das der Grundstruktur des Menschen, wie sie psychologisch postuliert wird, gerade entgegengesetzt ist? Es ist, als ob das mit Eigeninteresse Gemeinte, je mehr man sich ihm zu nähern sucht, sich desto mehr dem Zugriff entzieht. Zugleich spiegelt die Frage, was denn nun das Eigeninteresse beinhalte und wie es ethisch zu bewerten sei, eine Problemstellung wider, die offenkundig viele Zeitgenossen bewegt und von daher der Untersuchung wert ist.

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Ich möchte mich ihr in zwei Schritten nähern: Zum ersten durch eine Skizze des weitgespannten historischen und kulturellen Verstehenshorizontes des Interessenbegriffs. In einem zweiten Schritt soll dann die Frage nach der möglichen Bedeutung des Eigeninteresses für eine christliche Ethik gestellt werden.

II. Die historischen Metamorphosen des Interessenbegriffs: ein Überblick Die oben beschriebene Individualisierung und ethische Entgrenzung des Interessenbegriffes stellt die vorläufig letzte Etappe einer Begriffsgeschichte dar, die recht kuriose Windungen aufweist. 1 In seiner modernen Bedeutung taucht "Interesse" erstmals in den französischen Wörterbüchern des ausgehenden 17. Jhdts. auf. Es bezeichnet dort "Ce qui importe, ce qui convient en quelque maniere que ce soit, ou a l'honneur, ou a l'utilite, ou a la satisfaction de quelqu'un." 2 Neben dieser neutralen Bedeutung steht eine pejorative: Das Adjektiv "interesse" bezeichnet einen Menschen, der zu sehr an seinen Interessen hängt, "qui a son profit particulier en veue dans tout ce qu'il fait". 3 Den Gegenbegriff zu dieser Untugend des Eigennutzes bildet die Uneigennützigkeit (desinteressement). 4 In der Folge schwankt der Begriff zwischen der wertneutralen Bedeutung - im Deutschen: "an etwas interessiert sein" - und der pejorativen, moralischwertende: Eigeninteresse als Eigennutz. Mit dem Wirtschaftsliberalismus des ausgehenden 18. Jhdts.- vornehmlich in seinen popularisierten Versionen - vollzog sich die Wende hin zu einer uneingeschränkt positiven Wertung des Eigeninteresses, von dem man nun annimmt, daß es quasi automatisch dem Gemeinwohl diene. So schreibt die "Deutsche Encyclopedie" von 1793: "In allen Staaten, die das Eigentum eingeführt, kann keine andere Triebfeder als das Interesse stattfinden, und dieses wahre Interesse jedes Privatmannes in den Gewerben, stimmt auch mit dem gemeinschaftlichen Besten ... überein." 5 Dieser schrankenlose Optimismus hinsichtlich der Gemeinnützigkeit des Eigeninteresses bewahrheitete sich nicht. 6 Die 1 Vgl. vor allem J. Fisch I E. W. Orth IR. Koselleck, "Interesse": Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 3, Stuttgart 1982, 305-365. 2 " . . . was auf gewisse Weise wichtig oder angenehm für jemanden ist, sei es für seine Ehre, seinen Nutzen oder seine persönliche Befriedigung". Ebenda 313. 3 " ... der seinen Vorteil bei allem, was er tut, im Auge hat." Ebenda. 4 Die Gegenüberstellung von egoistischem interessement und anzustrebendem desinteressement herrscht auch in der spirituellen Literatur der Zeit vor. Ebenda. 5 Ebenda 315. 6 Die Väter der Nationalökonomie waren hier um vieles behutsamer: Sie gründeten ihre Theorien auf die Beobachtung der für sie erstaunlichen Tatsache, daß das

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Gegenideologie des Marxismus vertrat einen ebenso konsequenten "Interessenpessimismus", der gleichfalls deterministisch war: 7 Das Interesse ist Interesse der herrschenden Bourgeoisie, und von daher per se sozial schädlich. Zur verwirrenden Unschärfe des Begriffs, die ihm von seinen Anfängen her anhaftete, trat so der Gebrauch als ideologisches Kampfwerkzeug. In den vergangenen Jahrzehnten- einer Zeit, in der die Sozialutopien des 19. Jhdts. zunehmend an Bedeutung verloren- machte der Interessenbegriff neuerdings eine Metamorphose durch: Eigeninteresse wurde nun simpel zu dem, was die Entwicklung der Einzelperson fördert, und erhielt von daher eine uneingeschränkte Legitimation. 8 Zusammenfassend: Der Begriff des Eigeninteresses wurde und wird jeweils durch die mehr oder weniger vagen Hoffnungen bzw. Ängste einer Epoche inhaltlich gefüllt. Diese entsprechen zugleich deren sozial wirksamen gedanklichen Vorstellungen vom Menschen und seiner Beziehung zur Welt. Er gründet somit in einer impliziten anthropologischen Grundoption, von der her die mit ihm verbundenen Erwartungen erst verständlich werden. 111. Die kulturell-religiösen Variationen des Eigeninteresses

1. Die Protestantismusthese Max Webers Dem - eben skizzierten - Wandel in der Zeit entspricht eine ebenso große kulturelle Variabilität. Dies ergibt sich daraus, daß in der Art und Weise, wie der Mensch sein eigenes Interesse wahrnimmt, sich gewissermaßen seine gesamte kulturell geprägte "Weltanschauung" spiegelt. Diese ist aber ihrerseits durch religiöse Vorstellungen mitbestimmt. Dies aufzuzeigen, war - in Gegenwendung gegen die monokausal materialistische moralisch (A. Smith war Moraltheologe) traditionell scheel angesehene Nutzenstreben des einzelnen für die materielle Versorgung der Gesellschaft vorteilhafte Folgen haben kann. Das "Eigeninteresse" des (hypothetischen) homo oeconomicus eignet sich von daher als Prognoseinstrument der Ökonomie, ohne daß dies eine moralische Wertung einschließt etwa in dem Sinne, daß Eigennutz in sich moralisch gut, da ökonomisch nützlich, sei. 7 Vgl. G. Klaus IM. Buhr, Interesse: Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. G. Klaus IM. Buhr, Band 2, Harnburg 1972, 534-537. 8 B. Grom, Vom Egotrip zur Solidarität: StZ 3 I 1993, 145 f. charakterisiert das Menschenbild der "Vordenker" des "Psychoboom(s) ... der späten 60er Jahre" Abraham Maslow und Carl Rogers folgendermaßen: "Die selbstzentrierte Sicht . .. wollte zwar keinen Egoismus, verdächtigte aber soziale Normen und Pflichten von vomherein als Überich-Zwänge, die die freie Selbstentfaltung gefährden. Beide Autoren meinten, ... mit zunehmender Selbstverwirklichung fielen Selbstdisziplin und Vergnügen, Eigeninteresse und Uneigennützigkeit zusammen."

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Geschichtsdeutung von Karl Marx- das Anliegen Max Webers. 9 Dementsprechend sieht er in den religiösen Grundeinstellungen nicht den einzigen, wohl aber einen wesentlichen Erklärungsgrund für das Verständnis wirtschaftlicher Entwicklungen. In der "Protestantischen Ethik", seinem religionssoziologischen Hauptwerk, stellt er sich die Frage nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln und dem weltgeschichtlichen Ort jenes homo oeconomicus, dessen Eigeninteresse so strukturiert war, daß es in rastloser Arbeit den Typos der modernen, okzidentalen Wirtschaftsgesellschaft des Kapitalismus 10 hervorbrachte. Max Webers Antwort auf diese Frage war die seit ihrem Erscheinen vieldiskutierte These, daß der Protestantismus 11 in seinen popularisierten und somit sozial wirksamen Ausformungen 12 für die Ausbildung des Kapitalismus mitentscheidend war. Denn jede Erklärung, die die kapitalistische Wirtschaftsform einfach aus dem menschlichen Profitstreben ableiten will, muß deshalb versagen, da -wie er pointiert ausführt - der ",Erwerbstrieb', ,Streben nach Gewinn', nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen hat. Dieses Streben fand und findet sich bei Kellnern, Ärzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöhlenbesuchern, Bettlern: - man kann sagen: bei ,all sorts and conditions of men', zu allen Epochen aller Länder der Erde, wie die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war und ist." 13 Zum materiellen Eigennutz, wie er sich immer und überall findet, mußten somit andere Faktoren treten, die erst der jeweiligen Wirtschaftsform ihr spezifisches Gepräge gaben. Für die heutigen Industrienationen 14 9 "Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen. Von diesen ist in den nachstehend gesammelten Aufsätzen die Rede.": Max Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. v. J . Winckelmann, München 1969, 21 (im folgenden zitiert als PE). 10 Kapitalismus wird hier wertneutral als typologische Bezeichnung einer bestimmten Wirtschaftsform verstanden, die ihrerseits in der Geschichte in unterschiedlichen Formen auftritt. Hier handelt es sich näherhin um den modernen, okzidentalen Kapitalismus, vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972 (Nachdruck von 1921), 96 f. et passim. 11 Zur Umschreibung des mit Protestantismus Bezeichneten vgl. M. Weber PE 115: "1. der Calvinismus in der Gestalt, welche er in den westeuropäischen Hauptgebieten seiner Herrschaft im Laufe insbesondere des 17. Jahrhunderts annahm; 2. der Pietismus; 3. der Methodismus; 4. die aus der täuferischen Bewegung hervorgewachsenen Sekten." Eine teils andere Entwicklung gab es seiner Ansicht nach unter lutherischem Einfluß. 12 Max Weber bezieht sich als Soziologe auf die dogmatische Lehre in jenen Formen, in denen sie sozial wirksam wurde. Er geht daher von der populären religiösen Literatur der Zeit aus und analysiert die dort vorhandenen moralischen Einstellungen und ihre dogmatischen Begründungen. 13 PE 12. 14 Japan bildet hier eine Ausnahme, die einer gesonderten Analyse bedürfte.

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und ihre Wirtschaftsform ortet Weber diese geistesgeschichtlichen Wurzeln in gewissen Ausprägungen des Protestantismus. Die protestantische Weltanschauung und Ethik prägten nach Weber das Verhalten der Wirtschaftssubjekte in der Weise, daß der moderne, okzidentale Kapitalismus entstehen konnte, und sie blieben auch noch lange, nachdem sie sich von ihrer religiösen Entstehungsgrundlage gelöst und über ihren konfessionellen Entstehungsort hinaus Verbreitung erlangt hatten, wirksam. 15 Die breitangelegten Untersuchungen zur" Wirtschaftsethik der Weltreligionen" sollten diese These stützen, indem sie komplementär dazu darlegten, wieso weder auf dem Boden der konfuzianistisch geprägten Kultur Chinas, noch der hinduistischen und buddhistischen Indiens noch auf jenem des Judentums der Kapitalismus als Wirtschaftsform entstehen konnte. Den Grund dafür findet er darin, daß das Eigeninteresse als Grundlage des ökonomischen Verhaltens in diesen Kulturen aufgrund der unterschiedlichen religiös und gesellschaftlich vermittelten Werthaltungen grundlegend anders strukturiert war. Welcher Art war nun aber die konkrete Ausformung des Eigeninteresses in diesen Protestantismen und wodurch wurde sie bestimmt? Wie in seinen religionssoziologischen Untersuchungen insgesamt geht Max Weber auch hier davon aus, daß sich das menschliche Handeln im religiösen Motivationshorizont in der Spannung von Weltzuwendung und Weltablehnung vollzieht, wobei jeweils einer der beiden Pole dominant ist. Im prostestantisehen Bereich fand nun die Weltzuwendung ihren wesentlichen Ausdruck im Berufsgedanken und den damit verbundenen ethischen Haltungen (Berufsethos). 16 Denn: durch die Aufhebung der geistlichen Stände wurde der Beruf für jeden Christen zur Berufung, in der sich sein Glaube bewähren mußte, d. h. in der er sein Heil zu wirken hatte. 17 Die Weitabwendung konkretisierte sich ihrerseits in einer strengen (kirchlich verordneten 18} Askese. Diese "puritanische" Lebensform verlangte den Verzicht auf VerVgl. PE 59 ff.; 165 f.; 182 ff.; 359. "Es kommt also in dem Begriff "Beruf" jenes Zentraldogma aller protestantischen Denominationen zum Ausdruck, welches die katholische Unterscheidung der christlichen Sittlichkeitsgebote in "praecepta" und "consilia" verwirft und als das einzige Mittel, Gott wohlgefällig zu leben, nicht eine Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit durch mönchische Askese, sondern ausschließlich die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten kennt, wie sie sich aus der Lebensstellung des Einzelnen ergeben, die dadurch eben sein "Beruf" wird." PE 67. 17 "Denn für jeden ohne Unterschied hält Gottes Vorsehung einen Beruf (calling) bereit, den er erkennen und in dem er arbeiten soll, und dieser Beruf ist ... ein Befehl Gottes an den Einzelnen, zu seiner Ehre zu wirken." PE 169. 18 "Die Herrschaft des Calvinismus . .. wäre für uns die schlechthin unerträglichste Form der kirchlichen Kontrolle des Einzelnen, die es geben könnte." PE 31. Weber zitiert hier Sebastian Franck, der den Sinn der Reformation folgendermaßen zusammenfaßt: "Du glaubst, du seist dem Kloster entronnen: es muß jetzt jeder sein Leben lang ein Mönch sein." PE 357. 15

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gnügungen und Künste jeder Art, die als potentiell gefährdend für das Seelenheil galten. Derartige asketische Forderungen kennen nun freilich auch andere Religionen. Spezifisch war aber, daß die geforderte Zucht methodisch in den Dienst der beruflichen Leistung gestellt wurde. Deren eigentliches Ziel bildeten aber weder Besitz 19 noch Erfolg, sondern die Ehre Gottes und die eigene Heilsgewißheit. Diesem Streben nach dem certitudo salutis kommt in der Webersehen Protestantismusthese eine zentrale Rolle zu. Er führt es auf die kalvinische Form der Prädestinationslehre zurück, wonach Gott aus reiner Gnade im voraus einige erwählt, andere jedoch verdammt, ohne daß gutes Handeln diesen willkürlichen Beschluß göttlicher Freiheit zu beeinflussen vermöchte. Nun war zwar die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen aus streng dogmatischer Sicht nicht erkennbar. Doch das menschliche Bedürfnis, sich des eigenen Heils zu vergewissern, schuf jene popularisierte Version der Doktrin, wonach die berufliche Bewährung zum Zeichen dafür wurde, wer zu den electi gehörte. Die Prädestinationslehre verstärkte somit das Berufsethos dahingehend, daß das Interesse am eigenen ewigen Heil, also am Jenseits, in ein radikales Interesse am Diesseits umschlug. Diese permanente Spannung zwischen der Notwendigkeit zum Selbstbeweis der Erwählung und dem "Wurmgefühl" 2 0 des Menschen angesichts eines Willkürgottes wurde zur treibenden Kraft für eine innerweltliche Askese, die ihren Ausdruck in einem in höchstem Maße rationalen und rationalisierten Alltagshandeln fand. 21 Der berufliche Erfolg wurde so - entgegen der ursprünglichen Lehre - zum Mittel, sich des eigenen Gnadenstandes zu versichern. 22 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Zusammenspiel zwischen einer methodisch-asketischen Lebensführung, deren letztes Ziel das eigene Heil darstellte, die sich vorzüglich im Berufsethos konkretisierte, und der gleichzeitigen Ablehnung von Luxus und jedweder Verschwendung eine 19 "Dem Puritaner dagegen war der Besitz als solcher ebenso Versuchung wie etwa dem Mönch. Sein Erwerb war ebenso ein Nebenerfolg und Symptom des Gelingens seiner Askese wie der der Klöster.": Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bände, I, Tübingen 1988, 532 (im folgenden zitiert als RS I-III). 2o PE 145. Zum anthropologischen Pessimismus im Protestantismus vgl. auch PE 119. 21 "Gerade im Alltag bewährte sich die Gnade und Erwähltheit des religiös Qualifizierten. Freilich nicht im Alltag, wie er war, sondern in dem im Dienst Gottes methodisch rationalisierten Alltagshandeln. Das rational zum Beruf gesteigerte Alltagshandeln wurde Bewährung des Heils." RS I 264. Arbeitsunlust wurde so zu einem Zeichen fehlenden Gnadenstandes, PE 169. 22 Das Gefühl der Heilsungewißheit wurde durch das Wegfallen jeder Form kirchlicher Vermittlung verschärft. Weber sieht entsprechend in dieser Form der Prädestinationslehre (wie sie ähnlich auch von den Jansenisten vertreten wurde) und dem damit verbundenen Wegfall der Notwendigkeit kirchlicher, Gnade vermittelnder Ordnungen auch die Basis des modernen Individualismus, PE 122; 124 f. ; 197 ff.

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Wirtschaftsordnung ermöglichte, in der sich höchste Leistungsbereitschaft mit äußerster Sparsamkeit verband, 23 was zu langfristigen Investitionen auf Kosten des gegenwärtigen Konsums befähigte. Das Eigeninteresse war somit nicht primär am Gewinn orientiert, sondern Heilsinteresse, dem der materielle Gewinn gleichsam als Nebenprodukt zufiel.24 Denn, wie im obigen Zitat ausgeführt, das Streben nach Gewinn gibt es bei "all sorts and all conditions of men", und es konnte daher nicht ausreichen, um die kapitalistische Wirtschaftsform hervorzubringen und zu erhalten.

2. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Diese These über die Interessenstruktur, die der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in ihrer Entstehung zugrunde lag, suchte Max Weber, durch seine mehrbändige "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" abzustützen. Seine erste Untersuchung galt der chinesischen Kultur. Denn - so meinte er - die diesseitig orientierte, konfuzianische Lebenslehre und Ethik sowie der im chinesischen Kulturraum aufgrund der Bevölkerungsdichte traditionell sparsame Umgang mit knappen Ressourcen, und das in China von alters her vertretene Ideal universeller Wohlfahrt 25 schienen auf den ersten Blick äußerst günstige Bedingungen für die Entstehung einer Wirtschaftsform, wie sie der Kapitalismus ist, zu bieten. 26 Daß dies nicht geschah, schreibt Weber vor allem dem Fehlen eines dem protestantischen analogen handwerklichen und wirtschaftlichen Berufsethos, 27 sowie traditionalistisehen Verhaltensweisen, sei es in der religiösen Erscheinungsform der Magie oder der gesellschaftlichen des Konventionalismus, zu. 28 Die weiters behandelten Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme des Hinduismus und Buddhismus seien hier nur in aller Kürze skizziert. Geht man von dem Gegensatzpaar Weltzuwendung und Weitabwendung aus, so stel23 "Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuß des Reichtums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust, vor allem der Ablenkung von dem Streben nach ,heiligem' Leben." PE 167. 24 Und pointiert zitiert Weber J. Wesley, den Gründer der methodistischen Gemeinschaft: "Wir haben keine Wahl als den Menschen zu empfehlen, fromm zu sein und das heißt reich zu werden." RS I 532. 25 "Die gebildeten und r egierenden Schichten sollten nach ihrer eigenen Ansicht begreiflicherweise eigentlich auch die am meisten Besitzenden sein. Aber das letzte Ziel war doch: möglichst universell verbreiteter Besitz im Interesse der universellen Zufriedenheit. " RS I 436. 26 "Daß ,Erwerbstrieb', hohe, ja exklusive Schätzung des Reichtums und utilitaristischer ,Rationalismus' an und für sich noch nichts mit modernem Kapitalismus zu tun haben, kann man also gerade an diesem typischsten Land des Erwerbes studieren." RS I 530. 27 "Der Fachmensch aber war für den Konfuzianer auch durch seinen sozialutilitarischen Wert nicht zu wirklich positiver Würde zu erheben." RS I 532. 28 RS I 527.

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len sie den größtmöglichen Kontrast zu dem "konfuzianischen System des radikalen Weltoptimismus" 29 dar, da es sich hier um die "theoretisch und praktisch weltverneinendstell Formen von religiöser Ethik, welche die Erde hervorgebracht hat", handelt. 30 Denn die asiatischen Erlösungsreligionen stehen in je spezifischer Weise in einem "dauernden Spannungsverhältnis zur Welt und ihren Ordnungen". 31 Die ausgeklügelten Formen methodischasketischer Lebensführung, die auf ihrem Boden entstanden, dienten dementsprechend nicht der Gestaltung, sondern der Überwindung der Welt und ihrer Scheinhaftigkeit. Das Ziel des individuellen Heilswegs war die Weltindifferenz und zugleich die Minimierung weltgestaltenden Handelns. Ein extremes Beispiel für die hohe kulturelle Variabilität des "Eigeninteresses" bietet das Verhalten der indischen Pariakasten. Ihre Angehörigen hielten deshalb besonders rigid an den Regeln des sie benachteiligenden Kastenwesens fest, weil dies für sie den Weg darstellte, um in eine höhere Kaste wiedergeboren zu werden. Sie hofften somit, wirtschaftliche Besserstellung nicht durch zielgerichtetes ökonomisches Handeln, sondern durch bestmögliche Anpassung an die bestehende Gesellschaftsform zu erreichen. 32 Der Zeithorizont - der nach der Lehre der Samsara (Wiedergeburt) mehrere Leben umfaßt- verkehrte so ihr Eigeninteresse in das Gegenteil des uns Geläufigen. Doch auch für die anderen Kasten bestand keine Grundlage für ein Berufsethos im obigen Sinn. 33 Auch dem Buddhismus als Religion ging es ursprünglich um die Erlösung des einzelnen von der Welt und ihrer Leidhaftigkeit durch die Bewährung in einer weltflüchtigen Askese "gegen die Welt und das eigene Tun, nicht in und durch beides." 34 Zum Abschluß seien noch die Reflexionen M. Webers über die jüdische Ethik zusammengefaßt. Die jüdische Ethik steht vor allem "innerlich weltenfern allen Heilswegen der asiatischen Erlösungsreligionen". 35 Die RS I 522. RS I 536. 31 RS I 541. 32 "Gerade für die niedrigen Kasten, die durch rituelle Kastenreinheit das Meiste zu gewinnen hatten, war die Versuchung zu Neuerungen am geringsten und ihr noch heute oft besonders strenges Festhalten an der Tradition erklärt sich aus der Größe der Verheißungen, die gerade für sie durch eine Abweichung von ihr bedroht waren." RS II 121; vgl. auch RS III 5. 33 "Die ,Berufs'-Erfüllung aber, welche z. B. in höchster Konsequenz das Baghavadgita forderte, war ,organischen' und das heißt: streng traditionalistischen Charakters und dabei mystisch gebrochen: Ein Handeln in der Welt, doch nicht von der Welt. Schlechthin keinem Hindu wäre es eingefallen, in dem Erfolg seiner ökonomischen Berufstreue das Zeichen seines Gnadenstandes zu erblicken oder - was wichtiger ist- die rationale Umgestaltung der Welt nach sachlichen Prinzipien als eine Vollstreckung göttlichen Willens zu werten und zu unternehmen." RS II 360. 34 RS II 367. Einer Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann, ist, inwieweit westliche Einlüsse, z. B. das Leistungsdenken, auch diese Religionen herausgefordert und in gewisser Weise transformiert haben. 35 RS II1 6. 29

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Weltzuwendung des Judentums ist aber nicht Folge eines Weltoptimismus, der durch die Ewigkeit kosmischer Ordnungen begründet ist. Die Welt ist vielmehr für den Juden Schöpfung, d. h. aber, sie ist "weder ewig noch unabänderlich." 36 Jede konventionalistische Erstarrung ist von daher nicht religiös legitimiert. Ebenso wie die Welt Gottes Schöpfung ist, so sind die " ... gegenwärtigen Ordnungen ein Produkt des Tuns der Menschen . .. ein geschichtliches Erzeugnis also". 37 Ihre Defizienz wird somit menschlichem Tun (Sünde) zugeschrieben. Für die Zukunft ist jedoch verheißen, daß sie radikal verändert werden, um "dem eigentlich gottgewollten Zustand wieder Platz zu machen". So wurde nach Max Weber " . .. das ganze Verhalten der antiken Juden zum Leben durch diese Vorstellung einer künftigen gottgeleiteten politischen und Sozialrevolution bestimmt." 38 Diese Hoffnung auf einen radikalen Wandel der Verhältnisse spiegelt sich auch im ethisch geforderten Verhalten wider. Sein Ziel stellt die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung in Gerechtigkeit dar. Es geht somit nicht um Weltüberwindung durch Weltverneinung, sondern um Weltgestaltung als Teil des Schöpfungsauftrages (Gen 1, 28) im Dienste der Gerechtigkeit. Es ist Aufgabe des Israeliten, das göttliche Wort und Tun, das auf eine gerechte Sozialordnung zielt, zu befolgen bzw. nachzuahmen. Dies und nichts anderes besagt der Herrschaftsauftrag. Aus der Weltsicht des Judentums verbindet sich somit das Wissen um eine geschaffene gute Ordnung mit jenem um die Veränderbarkeit und die Notwendigkeit der Veränderung dieser Ordnung, die durch Gott und den Menschen gemeinsam (die Gewichte sind hier in verschiedenen Schichten des Alten Testaments verschieden) herbeigeführt werden soll und werden wird. In der dieser Weltsicht entsprechenden Ethik spielen rituelle Gebote eine sekundäre Rolle. Primär ist vielmehr eine "rationale, das heißt von Magie sowohl wie von allen Formen irrationaler Heilssuche freie religiöse Ethik des innerweltlichen Handelns ... " 39 Sie konkretisiert sich in der "strengen Pflicht der brüderlichen Nothilfe", 40 ebenso wie in detaillierten Rechtsvorschriften, 41 bis hin zum Völkerrecht. 42 Magie, Orgiastik, der astrologische Determinismus Babylons, aber auch der Totenkult Ägyptens werden, da sie von irdischer Verantwortung ablenken, RS III 5. Ebenda. 38 RS III 5 f. Oder an anderer Stelle pointiert: ,.Und Jahwe? Er blieb immer ein Gott der Erlösung und Verheißung. Aber das Wichtige war, sowohl Erlösung als Verheißung betrafen aktuelle politische, nicht innerliche, Dinge. Erlösung von der Knechtschaft der Ägypter, nicht von einer brüchigen, sinnlosen Welt ... ", RS III 136. 39 RS III 6. 40 RS III 15; 73 f . 41 Z . B. spricht Max Weber vom Deutemomium als "Kompendium der r eligiösen Ethik". RS III 57. 42 RS III 92 f. 36

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abgelehnt. 43 Vielmehr kommt "auf das sittlich richtige Handeln, und zwar das Handeln gemäß der Alltagssittlichkeit, () für das besondere, Israel in Aussicht gestellte Heil alles an. So trivial und selbstverständlich das scheinen könnte -nur hier ist es zur Grundlage religiöser Verkündigung gemacht worden und sehr besondere Bedingungen führten dazu". 44 Als Belohnung für die Befolgung dieser ethischen Normen, also für den Gebotsgehorsam, wurde ursprünglich das Wohlergehen des Einzelnen und des Volkes als innerweltliche Rekompensation erwartet. 45 Zusammenfassend lassen sich zwei Grundzüge herausschälen, die das Judentum in seinem Weltbezug von den anderen Religionen unterscheiden: 1) Die Vorstellung Jahwes als eines Gottes, der Schöpfer ist und in die Geschichte eingreift (nicht eines über dem Kosmos thronenden Demiurgen), erweist sich als die Voraussetzung für die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Ordnungen auch durch seine Anhänger und letztlich alle Menschen, die als imaginesDeimit dem Herrschaftsauftrag in seiner Vertretung betraut sind. 2) Dem entspricht eine rationale auf eine gerechte Ordnung zielende Ethik, gereinigt von aller Magie und unter Relativierung des Rituellen (mit seiner auch immer vorhandenen Tendenz zum Magischen). Diese Grundausrichtungen des Judentums und seiner Ethik mit ihrer Dynamik auf Weltveränderung hin wirkten im Christentum weiter, das sie über das Alte Testament als Heilige Schrift rezipierte, und gewannen so universale Bedeutung. 46

IV. Eigeninteresse und Moral: Überlegungen zu einer christlichen Position

Man kann nun fragen: Welche Schlüsse lassen sich aus dem begriffsgeschichtlichen sowie dem kultur- und religionssoziologischen Befund für eine ethisch-normative Bewertung des Eigeninteresses ziehen? Zum ersten sollte die hohe inhaltliche Variabilität des Begriffs zur Vorsicht im Umgang mit ihm mahnen, um nicht zeitbedingte Verengungen in die eigene Betrachtung einfließen zu lassen. Wie der begriffsgeschichtliche Befund zeigte, gab es seit dem 17. Jhdt. immer wieder Pendelschläge RS III 203 f., 217. RS III 311. 45 RS III 223. 46 "Ohne die Uebernahme des Alten Testaments als heiligen Buches hätte es auf dem Boden des Hellenismus zwar pneumatische Sekten und Mysteriengemeinschaften mit dem Kult des Kyrios Christos gegeben, aber nimmermehr eine christliche Kirche und eine christliche Alltagsethik ... Ohne die Emanzipation von den rituellen, die kastenartige Absonderung der Juden begründenden Vorschriften der Thora aber wäre die christliche Gemeinde ganz ebenso wie etwa die Essener und Therapeuten eine kleine Sekte des jüdischen Pariavolkes geblieben." RS III 7. 43

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zwischen einer schrankenlosen Bejahung des Eigeninteresses und seiner ebenso wenig fundierten moralischen Verurteilung. Der religionssoziologische Befund ergab seinerseits- auch wenn man den Thesen Max Webers nicht in allem zustimmen will -, daß das menschliche Eigeninteresse je nach dem kulturellen und religiösen Horizont vielfältige Formen annehmen kann. Denn sein Inhalt wird durch Weltsicht und Menschenbild der betreffenden Kultur und Religion mitbestimmt, was auch für die ethischen Normen weitreichende Folgen hat. So kann das Eigeninteresse sowohl auf das gute Leben in der Welt, als auch auf die Überwindung einer Welt zielen, die für die Erfüllung der wirklichen Hoffnungen und Sehnsüchte des Menschen ohne Bedeutung erscheint. Die gegensätzlichen Haltungen der Weltzuwendung bzw. Weltabwendung, wie sie in der Religion grundgelegt sind, bestimmen ihrerseits die Lebensführung und Ethik. Das Judentum als Fundamentreligion des Christentums nimmt hier eine Sonderposition ein. Zwar geht es ihm grundlegend um Weltzuwendung, aber nicht in der prinzipiell-unkritischen Haltung des Weltoptimismus, sondern mit dem Ziel der Weltveränderung, die nicht Hybris, sondern Teil des von Gott erhaltenen Repräsentationsauftrages des Menschen ist. In jenen Ausformungen des Protestantismus, die für Max Weber einen Ursprung der kapitalistischen Entwicklung bilden, nimmt das jüdisch-christliche Ethos eine ganz spezifische geistesgeschichtliche Form an. Ob man dieser These zustimmen kann oder nicht, so macht sie doch klar, daß die Antriebskraft Eigeninteresse, wie wir sie in unserem Kulturraum vorfinden, als Resultat eines äußerst vielschichtigen Motivationskomplexes anzusehen ist. 47 In seinem Zentrum steht das rationale Handeln als Teil einer methodischasketischen Lebensführung im Dienste innerweltlicher Berufsbewährung und -leistung. Wesentlich ist dabei, daß nicht primär utilitaristische Nutzenkalküle, auch wenn sie nicht ausgeschlossen sind, sondern zuerst und vor allem die religiöse Suche nach Heilsgewißheit jene ungeheure Dynamik freisetzt - auch dies wiederum in Zusammenhang mit anderen Faktoren -, der sich der moderne, okzidentale Kapitalismus verdankt. Der kulturgeschichtliche Befund kann also vor Simplifizierungen bewah-. ren. Er ist jedoch auch von Relevanz, wenn es gilt, das Eigeninteresse aus christlicher Sicht inhaltlich zu füllen, insofern dieses eben nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Weltsicht (Deut ungshorizont) und eines bestimmten Menschenbildes verstehbar wird. Die folgenden sozialethischen Überlegungen aus christlicher Sicht sollen in zwei Schritten vorgenommen werden. Zum ersten geht es um eine schöpfungstheologisch-anthropologische Grundlegung, die anhand der Lehre von J ohannes Messner von den 47 Diese Einsicht ist auch insofern interessant, als sie mögliche Gründe für das gegenwärtige "Verdunsten" ursprünglich religiös fundierter, aber durch lange Zeit noch säkularisiert tradierter wirksamer ethischer Haltungen und Motivationen bietet, so z. B. des Berufsethos.

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"existentiellen Zwecken" sozialethisch entfaltet werden soll. In einem zweiten Schritt wird es dann darum gehen, in Umrissen zu zeigen, welche Form das Eigeninteresse innerhalb des gesamten Deutungs- und Motivationshorizonts der christlichen Lehre insgesamt annimmt.

1. Die Lehre von den "existentiellen Zwecken" (J. Messner) als Grundlegung einer normativen Theorie des Eigeninteresses Das Christentum teilt mit dem Judentum die Schöpfungslehre und die mit dem Mitschöpfungsauftrag (Gen 1, 28) verbundene prinzipielle Weltzuwendung. 48 Durch die Schöpfung grundgelegt ist auch die Würde des Menschen als Folge seiner Gottebenbildlichkeit ebenso wie seine Sozialität (vgl. Gen 1, 27; 2, 18). Diese imago Dei-Lehre wurde in der aristotelischthomasischen Tradition philosophisch entfaltet und ontologisch begründet. In dieser Tradition steht auch J. Messner, der im Anschluß an den thomasischen Begriff der inclinationes naturales seine Lehre von den "wesenhaften Lebenszwecken", die er später als "existentielle Zwecke" und zuletzt als "Wirkweisen der menschlichen Natur" bezeichnete, entwickelte. 49 Die Bedeutung dieses anthropologischen Grundaxioms für die vorliegende Frage liegt nun m . E. nach darin, daß in den "existentiellen Zwecken" eine unverkürzte Sicht der universal gültigen, d. h. natürlichen Dimensionen des Menschlichen vorgegeben ist. In ihnen wird gleichsam der unverrückbare Orientierungsrahmen aufgezeigt, auf den die menschliche Person für ihre Entfaltung angewiesen bleibt. Das" wohlverstandene Eigeninteresse" kann daher nichts anderes sein als die Verwirklichung der eigenen Person entlang dieser natural vorgegeben Linien. Nach Messner umfassen die "wesenhaften Lebenszwecke" sowohl Rechte und Pflichten der Selbsterhaltung und Persönlichkeitsentfaltung in materieller (Unversehrtheit, Nahrung, Kleidung, Einkommen) und immaterieller (Ehre, Wissen, Kunst) Hinsicht, sowie im Bereich der Sozialbeziehungen (Familie, Gesellschaft) und der Religion. 50 48 Auf die christologische relecture dieser Schöpfungslehre bei Paulus, wonach in der Taufe eine Neuschöpfung der von Sünde entstellten Menschennatur erfolgt (vgl. vor allem 1 Kor 5, 17) soll hier nicht eingegangen werden. Dies obwohl sie geistesgeschichtlich in allen christlichen Kirchen, vorzüglich aber in den protestantischen, in hohem Maße wirksam wurde, wobei die Verdorbenheit des Menschen ("anthropologischer Pessimismus"), so scheint es, oft stärker betont wuräe als die Erlösung in Christus, die für Paulus zentral ist. 49 Die verschiedenen Bezeichnungen erscheinen insofern bedeutsam, als sie sich gegenseitig interpretieren. Vgl. dazu R. Weiler, Die "existentiellen Zwecke" im Verständnis von Johannes Messner: Erfahrungsbezogene Ethik. Festschrift für Johannes Messner zum 90. Geburtstag, hrsg. v. V. Zsifkovits IR. Weiler, Berlin 1981, 129-138. so Vgl. die ausgefaltete Aufzählung in J. Messner, Das Naturrecht, Berlin 7 1984, 42.

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Es handelt sich somit um einen umfassenden, inhaltlichen Kanon, der die menschliche Seinsstruktur in ihren vielen Dimensionen offen- und normativ festlegt. Es geht dabei näherhin um die anthropologische Grundeinsicht, daß der Mensch immaterielle ebenso wie materielle Interessen hat, daß er gleichursprünglich Individual- und Sozialwesen ist, und daß eine letzte, transzendente Sinngebung zu seinem Wesen gehört. Dadurch wird jede Verkürzung des Menschlichen ausgeschlossen. Dies gilt sowohl für eine Reduktion menschlichen Strebens auf materielle Interessen, wie für eine Verengung auf eine individualistisch mißverstandene Selbstentfaltung. Die Lehre von den "existentiellen Zwecken" erweist sich so als ideologiekritisches Instrument und als wirksames Korrektiv gegen - von Einzelerkenntnissen der Humanwissenschaften her fälschlich extrapolierte - anthropologische Entwürfe, die das Menschliche auf eine ursprüngliche Dimension verkürzen wollen, der die anderen nachgeordnet wären, sei sie ökonomisch-materiell, individuell oder auch religiös. Dieser mit der Natur des Menschen gegebene Orientierungsrahmen darf jedoch nicht als bis ins einzelne starr und fixiert angesehen werden. In der konkreten individuellen oder kulturellen Verwirklichung wird vielmehr natürlicherweise einzelnen Werten jeweils größere Bedeutung beigelegt werden als anderen. So wird es Individuen ebenso wie Kulturen geben, für die materielle Werte, andere, für die Gemeinschafts- oder religiöse Werte im Vergleich mit den anderen Wertgruppen wichtiger sind. Auf unsere Thematik bezogen: das "Eigeninteresse" kann innerhalb des normativ vorgegebenen Rahmens der existentiellen Zwecke unterschiedliche individuelle und kulturelle Formen annehmen. Ebenso gilt jedoch, daß es auch Grenzen derartiger in sich berechtigter individueller und kultureller Akzentuierungen gibt, jenseits derer es zu Deformationen kommen muß. So ist beispielsweise eine Ausweitung der materiellen Bedürfnisbefriedigung auf Kosten aller anderen Seinsebenen möglich (Konsumismus), aber der Entfaltung eines Menschen (und einer Kultur) hinderlich. 0. Höffe spricht hier treffend . von einem "hedonistischen Paradoxon", 51 insofem das letztlich erstrebte Glück eben nicht dadurch erlangt wird, daß man die eigenen Interessen und nur sie wahrnimmt, sondem indem man sich für andere Menschen (Nächstenliebe) und Ziele (z. B. das bonum commune) einsetzt. Trotz möglicher legitimer individueller und kultureller. Schwerpunktsetzungen im Hinblick auf die "existentiellen Zwecke" herrscht somit auch eine gewisse Unbeliebigkeit. Dabei läßt sich Übereinstimmung in allen Religionen ausmachen, daß geistigen und religiösen, aber auch Gemeinschaftswerten für die Entfaltung des Menschen ein höherer Eigenwert zukommt als der Erfüllung seiner mate51 "Wer dauemd nur an sein eigenes größtes Glück denkt, kann eher sicher sein, dieses Glück nie zu finden." Vgl. 0. Höffe, Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus: ders., Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt 1979, 120-159, 133.

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riellen Interessen, die im Dienste ersterer stehen. 52 Es ist also gerade nicht so, daß diese eine Art "Überbau" darstellen- auf den gleichsam verzichtet werden könnte- oder, daß nach der Befriedigung materieller und individueller Interessen die Erreichung der anderen Ziele sich gleichsam von selbst ergäbe. 53 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die existentiellen Zwecke als univeral gültiger Orientierungsrahmen vor einer verkürzten Sicht (welcher Art immer) der menschlichen Natur und der mit ihr gegebenen Eigeninteressen bewahren können. Zugleich läßt dieser Rahmen einen gewissen Raum für eine individuell und kulturell unterschiedliche Gewichtung verschiedener Zwecke, wobei allerdings die Integrität des Menschen verlangt, daß alle Seinsebenen adäquat und ihrem Rang gemäß berücksichtigt werden. 54

2. Eigeninteresse und christliche Ethik Wie der religionssoziologische Befund zeigte, wird das, was jeweils unter Eigeninteresse inhaltlich verstanden wird, durch den religiösen Kontext bedeutsam modifiziert. Ich möchte nun in diesem letzten Punkt fragen, welcher Art die Prägung ist, die das menschliche Eigeninteresse durch das Christentum erfährt. Hier können sich nun in der Tat Zweifel einstellen, ob ein derartiger Versuch den Begriff des Eigeninteresses nicht doch bis zur Unangemessenheit hin überdehnt. Aber das Problem ist eben - wie sowohl die begriffsgeschichtlichen als auch die religionssoziologischen Überlegungen zeigten -, daß sich der Begriff kaum begrenzen läßt, sei es auf ein individuell oder materiell verstandenes Eigeninteresse, ohne daß dies letztlich in die Aporie einer Reduktion des Menschlichen führte. Dies eben brachte uns dazu, die existentiellen Zwecke als das Gesamt der natürlichen Strebungen des Menschen als normativen Raster für die Bestimmung des Eigeninteresses zugrunde zu legen. Wir sahen auch, daß keine Ebene innerhalb dieses Rasters abhebbar ist, sondern alle gleichursprünglich zusammenwirken. Jede Verkürzung führt ihrerseits in Paradoxa, seien sie hedonistischer oder individualistischer Art mit den entsprechenden Folgen für den einzelnen, aber auch für seine ethischen Haltungen und über sie hinaus für die Gesellschaft. Dies gilt nun aber auch für die Herauslösung der religiösen Seinsbestimmung des Menschen und die sich daraus ergebenden ethischen 52 Dem entspricht, daß die existentiellen Zwecke nach J. Messner rangmäßig geordnet sind: "Der Rang der Zwecke steigt so auf von den in äußeren, materiellen Gütern liegenden Zwecken über die des biologischen, weiters über die des gesellschaftlichen und geistigen zum allumfassenden sittlichen und religiÖsen Bereich." J . Messner, Das Naturrecht, a. a. 0. 50. 53 Vgl. Fußnote 8. 54 Es wäre interessant, aufgrund dieser normativen Einsicht in die menschliche Natur, den religionssoziologischen Befund, wie ihn Max Weber präsentiert, zu gewichten. Dies übersteigt jedoch den Rahmen dieser Arbeit.

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Konsequenzen. 55 Diese religiöse Ebene soll nun anhand des Christentums thematisiert werden. Dabei wird jener mit der Schöpfung gegebene Orientierungsrahmen, wie er von J. Messner anthropologisch durch die existentiellen Zwecke entfaltet wird, als Basis vorausgesetzt. Die Frage, die zu beantworten bleibt, ist dann, welcher Art die Gewichtungen sind, die das Christentum innerhalb dieses schöpfungsmäßig vorgegebenen universalen Rahmens vornimmt. Dies stellt ein riskantes Unternehmen dar. Zum einen, weil ein derartiger Versuch den Rahmen dieses Artikels übersteigt. Es ist daher nur möglich, erste Überlegungen dahingehend anzustellen, worin derartige christliche Gewichtungen bestehen könnten. Zum zweiten, weil es das Christentum nicht gibt. Unterschiedliche Traditionen und Konfessionen setzen und setzten in der Geschichte verschiedenste Schwerpunkte, und bereits das Neue Testament selbst, auf das ich mich im folgenden stützen möchte, enthält die Schriften verschiedener Autoren mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Ungeachtet dieses Pluralismus lassen sich Linien aufzeigen, die m. E. nach dem Eigeninteresse aus biblischer Sicht seine spezifische Struktur geben. Ich möchte zwei herausgreifen, die mir besonders bedeutsam erscheinen. Es besteht eine radikale Skepsis gegenüber dem Eigenwert materieller Zwecke. Dies jedoch keineswegs aufgrund einer prinzipiellen Verneinung der Welt und ihrer Güter, 56 sondern wegen deren Unbeständigkeit. Sie können dem dem Menschen wesensgemäßen Streben nach Dauer und bleibender Sicherheit nicht genügen. 57 Ihre Überbewertung führt angesichts der Realitäten des Lebens den Menschen in das, was man als "humanes Paradoxon" bezeichnen könnte: Zum "hedonististischen Paradoxon", das in die Isolation führt, 58 tritt die Infragestellung alles Humanen 55 Hier ist insofern Vorsicht geboten, als die Erfahrung zeigt, daß ein säkular motiviertes Ethos - ebenso wie die Ethoi anderer Religionen - in hohem Maße zum Einsatz für humane Werte befähigen kann. Dessen ungeachtet gilt es zu berücksichtigen, daß das säkularisierte Ethos in unserem Kulturraum sich vom Christentum herleitet und in der ursprünglich christlichen Relativierung eines expliziten Glaubens zugunsten der Liebe, d. h. der Humanität (vgl. z. B. Mt 25), bereits grundgelegt ist. Auch hier ist somit eine Religion, eben die christliche, Quell- und Wurzelgrund des Ethos, auch wenn sich dieses von seiner religiösen Basis gelöst hat. 56 Das christliche Ethos ist und bleibt hierin dem jüdischen verpflichtet. 57 So wird z. B. im Gleichnis vom Kornbauern, der für seine reiche Ernte Scheunen bauen will (Lk 12, 16-21), nicht dessen Handeln verurteilt, sondern eine Haltung, die der Lebensrealität des sterblichen Menschen nicht gerecht wird. Die Sinnspitze ist hier also nicht eine soziale Verurteilung, sondern die "Torheit", d . h. das realitätsferne Verhaltenangesichts des Todes; aus ähnlichem Grund wird in Mt 6, 19-21 das "Schätzesammeln" in Frage gestellt. In der Parallelstelle in Lk 12, 33 f. (ähnlich Lk 16, 9) tritt die Aufforderung zur Solidarität mit den Armen als Motiv hinzu; an anderer Stelle wird vor der Vergötzung des Reichtums gewarnt (vgl. z. B. Lk 16, 13). 58 Ein Kommentator hebt zu Recht hervor, daß in Lk 12, 16-21 der Bauer kein anderes Gegenüber hat als sich selbst (weder andere Menschen noch Gott) und kein anderes Interesse als seine eigene, individuelle Wohlfahrt.

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durch den Tod hinzu. Dementsprechend steht das Eigeninteresse, das in allen seinen Dimensionen als in sich legitim begriffen wird, nach neutestamentlichem Verständnis in einem eschatologischen Zeithorizont59 und erfährt von daher eine wesentliche Umstrukturierung. Als Beispiel für diese Umformung seien die Lohnverheißungen des Neuen Testaments herangezogen. 60 Die biblischen Texte gehen dabei im Anschluß an die spätjüdische Frömmigkeit implizit davon aus, daß der Verzicht auf Güter, die eben gut sind, nur insofern für den Menschen als sinnvoll und gerechtfertigt angesehen werden kann, als er um eines Besseren willen erfolgt. 61 Dieses maius aber ist die Teilhabe am Reich Gottes (z. B. Mt 25, 34) bzw. am Himmel(reich), oder das ewige Leben (Mk 10, 30 par.). 62 Grundlegend besagt dies nichts anderes, als daß das wesenhafte Interesse des Menschen als Person jede welthafte Erfüllung transzendiert und diese von Gott her nicht nur zugesagt, sondern in Christus bereits geschehen ist. 63 Die Frage nach dem eigentlichen Interesse des Menschen wird somit christlicherseits dahingehend beantwortet, daß der Mensch als Person seine wirkliche Erfüllung nur durch die Zusage dieses Leben transzendierender Dauer (ewiges Leben) und bleibender personaler Gemeinschaft mit Gott und untereinander (Himmel) finden kann. Diese Verheißung personaler Gemeinschaft, die mit der Taufe bereits anfanghaft verwirklicht- also nie nur futurisch zu verstehen ist- bedeutet somit, daß die vitalen Interessen des Christen explizit (und 59 Zur Thematik Eschatologie und Ethik vgl. z. B . W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 5 1989, 22-43. 60 Zum exegetischen Befund vgl. vor allem E. Würthwein, misthos: ThWNT, IV, 699-736; G. Bomkamm, Der Lohngedanke im Neuen Testament: Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze Band II (Beiträge zur evangelischen Theologie 28), München 1963, 69-92 ; W. Pesch, misthos: H. Balz I G. Schneider (Hg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1981, 1063-1066. 61 Die exegetische Diskussion zeigt, wie gerade der Lohngedanke als problematisch empfunden wird, da er scheinbar die personale Realität der Gottesbeziehung in eine sachliche, in ein do, ut des, pervertiert. Vgl. z. B. G. Bomkamm, a . a . 0 ., der sich ihm durch drei Überlegungen zu nähern sucht: 1) Die Lohnverheißungen sind eingebettet in die personale Beziehung Gott- Mensch (er spricht hier vom HerrKnechtverhältnis); 2) sie sind Teil der Gerichtsaussagen und 3) -und in unserem Zusammenhang am wichtigsten -: Die Angewiesenheit auf Lohn entspricht der geschöpfliehen Begrenztheit des Menschen. Anders gewendet: Das Eigeninteresse ist mit der Exist enz des Menschen als Geschöpf verbunden. Die Skepsis gegenüber dem Lohngedanken, wie sie die exegetische Diskussion prägt, kann dabei als Indiz dafür gelten, wie sehr die Ent gegensetzung von Egoismus und Altruismus (interessement und desinteressement, vgl. Fußnote 4) nachwirkt. 62 Vgl. vor allem Mk 10, 28-30 (par. Mt. 19, 27-30; Lk 18, 28-30). Dort wird die Frage des Petrus, welcher Lohn den Jüngern (also den Gläubigen) zuteil werden wird, die ihr Eigentum verlassen haben, um ihm nachzufolgen, von Jesus positiv aufgegriffen. Zur detaillierten Auslegung vgl. z. B. K.-G. Reploh, Markus- Lehrer der Gemeinde, Stuttgart 1969, 201-210. 63 So wird m. E. nach der Lohngedanke der Synoptiker bei Paulus und Johannes christozentrisch und damit personal gewendet: Der Lohn des Glaubenden ist nun die personale Gemeinschaft mit Christus.

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jedes Menschen als Geschöpf implizit) durch Gott selbst gewahrt werden. Seine vollmenschliche Existenz hängt demnach nicht von den vielen Zufälligkeiten lebensgeschichtlicher Konstellationen ab, sondern vom Glauben, d. h. der vertrauensvollen Bindung an einen Gott, der "erlöst", d. h. der die Interessen des Glaubenden wahrnimmt. 64 Dabei ist festzuhalten, daß diese religiöse Radikalisierung keine Entwertung der anderen Güter menschlicher Existenz bedeutet, wohl aber sie auf eine letzte Erfüllung hin relativiert. Zuletzt bleibt nun zu fragen, ob einem derartig weitgefaßten, die eschatologische Ebene umschließenden Interessenbegriff irgendwelche Relevanz in individual- und sozialethischer Hinsicht zukommt. Dazu zum Abschluß einige Anmerkungen. 6 5 Unsere Gesellschaft versteht sich als pluralistisch. Dies bedeutet, daß das gemeinsame Ethos nur einige Grundwerte umfaßt, also wenig determiniert ist. Diese Gesellschaftsform kann dadurch ein Höchstmaß an individueller Überzeugungsfreiheit gewährleisten. 66 Sie bleibt aber zugleich - und dies darf nicht vergessen werden - zur Aufrechterhaltung eines ethischen Standards, der das legal festgelegte Minimum überschreitet, auf Gruppen angewiesen, die - aus religiöser oder säkularer Motivation - ein höher determiniertes Ethos vertreten. Ohne derartige Gruppen besteht die Tendenz, daß das Ethos in der pluralistischen Gesellschaft zu einer Grenzmoral (G. Briefs) hin erodiert. Ein aus dem christlichen Glauben gespeistes Ethos, das davon ausgehen kann, daß die vitalen Eigeninteressen des Menschen letztlich durch Gott gewahrt sind, sollte - unabhängig von der gesellschaftlich gängigen Moral - jene innere Sicherheit vermitteln, die zum Einsatz für alle echt humanen Werte, die aufgrund der inkarnatarischen Struktur des christlichen Glaubens ja zugleich christliche Werte sind, befähigt. Dies auch dann, wenn dies die Bereitschaft erfordert, persönlich oder gemeinsam Nachteile in Kauf zu nehmen. Ein christliches Ethos erscheint somit in einer Zeit sinkender Wertgebundenheit, sowohl wegen seiner aus der Tradition übernommenen umfassenden Sicht der conditio humana, wie siez. B. in der Lehre von den existentiellen Zwecken von J. 64 Den Hintergrund der neutestamentlichen bildet die alttestamentliche Soteriologie, wonach Jahwe der go'el, Auslöser, seines Volkes ist. Der Terminus bezeichnet ökonomisch-rechtlich jenen, der seinen in Schuld geratenen Verwandten auszulösen hat. Gott ist demnach "Erlöser", insofern er sich für die Lebensinteressen des in Schuld(en) Geratenen einsetzt. 65 Die Grundstruktur, die zwischen Glaube und Ethos, Befreiung und Beauftragung zum ethischen Handeln besteht, spiegelt bereits der Dekalog (Ex 20, Dtn 5) wider. Eine ähnliche Verbindung schafft nach dem Neuen Testament die Taufe. Vgl. dazu Hans Halter, Taufe und Ethos. Paulinische Kriterien für das Proprium christlicher Moral (Freiburger Theologische Studien 106), Freiburg 1976. 66 Dies ist m. E . nach ihr entscheidender Vorteil gegenüber allen totalitären Gesellschaftssystemen, die ihr eigenes Ethos als gesamtgesellschaftlich verbindlich deklarieren.

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Ingeborg Gabriel

Messner zum Ausdruck kommt, als auch aufgrund der Verheißung der Vollendung der eigenen Person in Gott, die zum ethischen Handeln auch unter Schwierigkeiten ermächtigt, als unverzichtbar gerade auch für die pluralistische Gesellschaft. Andererseits- und hier kehre ich zur einleitenden Fragestellung zurück - muß jede Reduktion des Interessenbegriffs auf das Streben nach einem individuell und materiell verstandenen Eigenwohl, auch wenn dies nicht intendiert ist, notwendigerweise zu einem Sinken des ethischen Standards einer Gesellschaft führen. Gerade dies scheint jedoch in einer Zeit, die nach einer solidarischen Lösung der anstehenden Probleme verlangt, weniger denn je vertretbar.

ZUR ETHISCHEN BEWERTUNG DES INTERESSES INSBESONDERE IN DER WIRTSCHAFT Von Rudolf Weiler In einem Leitartikel gab die Wochenschrift Economist Ende 1992 (Dec., 26) ihrem Rückblick auf das vergangene Jahr die Gestalt eines Artikels 13 einer Weltgeschichte unter der Überschrift The disastrous 21st century. Dieses erste Jahrhundert des dritten Jahrtausends hätte zwar mit dem Sieg der Konföderation der Demokratien nach dem Zusammenbruch der totalitären kommunistischen Regime den Sieg des Glaubens an Jedermann, den Sieg des Menschenrechts auf politische und wirtschaftliche Freiheit gebracht, doch Nationalismus und totalitäre Staatsformen, aufgestiegen als Machtzentren in der islamischen Welt und in China, bestimmten dann sehr bald das anbrechende dritte Jahrtausend. Tatsächlich erleben die marktwirtschaftliehen Demokratien heute innenpolitisch eine Krise in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, die ihre Führungsrolle auch außenpolitisch in Frage stellt. Der Export ihres scheinbar siegreichen Systems in die postkommunistischen Staaten und der Prozeß der Transformation dieser in Marktwirtschaften und Demokratien erweist sich als viel schwieriger als es zuerst schien. Die Einführung einer demokratischen Maschinerie und marktwirtschaftlicher Gesetze kann nicht ohne eine entsprechende Rahmenordnung erfolgen, sonst hängen sie in der Luft. Letztlich geht es nicht ohne Rückbindung einer menschlichen Gemeinschaft von Einzelakteuren auf ein gemeinsames Grundwissen und einen Grundkonsens darüber, was objektiv geht als verbindendes Gutes oder Gemeinwohl, um Gemeinsinn. Nicht die Zuflucht zu Visionen oder Utopien eines "neuen" Menschen können letztlich Orientierung geben, sondern nur die Rückfragen nach dem Grund menschlicher kultureller Kooperation, die dann Zusammenhänge aufzeigen, Richtung bieten und sich nicht in sozialen Appellen erschöpfen. Erst damit kann Sozialreform von allgemeiner Gültigkeit und Anwendbarkeit im Bereich der Gesinnung und Institutionen in einem universellen Rahmen erarbeitet und gesichert werden.

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I. Das Interesse in ideengeschichtlicher Sicht

1. Wortverständnis Vom lateinischen Wortverständnis her bezeichnet Interesse ganz allgemein eine wichtige Sache. Im heutigen Sprachgebrauch stellt es einen sehr mehrdeutigen Begriff dar. Nach Ernst Wolfgang Orth 1 müsse man sich daher bei der Benützung dieses Begriffs bewußt sein, daß er vorzüglich "rhetorisch operativ" verwendet würde. In der Philosophie ist Interesse "kein prägnanter Grundbegriff", er spielt viel mehr in der Umgangssprache seine Rolle. 2 Durch seine Offenheit zu psychologischen und subjektiven Wertangaben nimmt der Begriff daher heute eine nicht unbedeutende Position ein, um vor allem Inter-Subjektives zu bezeichnen. Insbesondere im nicht-technischen, nicht-wirtschaftlichen oder nicht-juristischen Bereich wird aus der lateinischen Wurzel des "Dazwischen-Seins" die Bedeutung von Vorteil und Nutzen ganz allgemein in das Interesse hineingelegt. Während der Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie bis in unsere Tage zeige sich, wieder nach Orth 3 , im Gebrauch des Interessenbegriffs geradezu ein "Indiz für das Bedürfnis" nach einer solchen anthropologisch gebrauchten Kategorie. Der Interessenbegriff werde nachgerade als ein "Medium von Orientierungsversuchen", ein "operativer Begriff", aber keine anthropologisch-philosophische Kategorie. Der Verlust an metaphysischer Orientierung in der Philosophie der Neuzeit und die Zuwendung zum konkreten Menschen in seinen- soweit empirisch faßbaren! - Sozialbezügen habe damit das Interesse vornehmlich zum Maßstab einer verkürzten Anthropologie werden lassen. 4 Das so verstandene Interesse konnte psychologisch operationalisiert und damit auch rein diesseitig moralisch gerechtfertigt werden. Ohne letzte Begründung und Norm blieb es disponibel und konnte auf die äußerlich erfahrbare politische und wirtschaftliche Ebene reduziert werden. Es entstand der homo politicus und vor allem der homo oeconomicus. 5 Aus dieser 1 Interesse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, (305 -310), 306. 2 Vgl. in angeführtem Lexikonartikel den Abschnitt von Jörg Fisch, Interesse in Wörterbüchern und Lexika vom 16. bis zum frühen 20. Jht., (310-317), 310. In unterschiedlichen Bezügen bekommt der Interessenbegriff spezifische Bedeutung. 3 Hauptakzente des Interessenbegriffs vom 16. bis ins 19. Jht., in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, (318-336), 318. 4 Den Verlust der "Einheit von Ökonomie und Ethik" skizziert ideengeschichtlich mit dem Beginn der Neuzeit Elmar Waibel, Ökonomie und Ethik, Stuttgart 1984, 62 ff. Wieweit es K. Homann gelingt, von seinem ordnungsethischen Ansatz über Moral und Markt, Ethik und Ökonomik wieder zu verbinden, wird auch Gegenst and dieser Untersuchung sein. Vgl. Karl Homann, Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, 21-111.

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operativen Handhabung des einzelmenschlichen Interesses (self-interest!) war im Utilitarismus die Reduktion auf den Nutzenbegriff als Grundkategorie die logische Folge. Um den Nutzen des Individuums zu einem allgemeinmenschlichen Prinzip zu objektivieren, hat der klassische englische Liberalismus des 18. Jhts., vor allem durch AdamSmithund seine Sympathieethik, denselben wie ein neutrales Relais und Kriterium der Persönlichkeits- und Gesellschaftsbildung herauszuarbeiten gesucht. 6 Die Selbstliebe wird zum Medium des Nutzens für jeden Menschen, weil durch sie, um eine Formel nach Jeremy Bentham zu gebrauchen, gleichsam darauf Verlaß ist, daß aus ihr "der größte Nutzen der größten Zahl" hervorgehe. Jeder brauche sich- hier wieder nach Adam Smith 7 - zur konkreten Sicherung seiner eigenen Existenz und für seine eigenen Bedürfnisse nicht auf das direkte Wohlwollen der anderen verlassen, sondern könne sich gesellschaftlich auf die Vorteile, die die anderen jeweils auch suchten, stützen. Es genüge gleichsam, die Selbstliebe der anderen und nicht ihre Humanität zu seinem eigenen Vorteil zu nützen; redeten wir also nicht von unseren eigenen Notwendigkeiten, sondern von ihren Vorteilen, so werde sich die Interessenharmonie von selbst ergeben! August Friedrich von Hayek gehe in seiner liberalen ökonomischen Theorie nach den Hauptwerken des klassischen Liberalismus, besonders nach Adam Smith, von der Würde des menschlichen Individuums und dem moralischen Primat seiner Freiheit aus. Daraus folgert er unmittelbar die Tugenden (sie!) des freien Marktes und die Notwendigkeit einer begrenzten Regierung unter der Herrschaft des Rechts. 8 So ergäbe sich im Zusammenleben der Einzelnen eine "spontane Ordnung". Die moralischen Maximen bedürften keiner menschlichen oder göttlichen Autorität, sondern folgten aus der individuellen Freiheit, soweit sie zugleich eben auch die bürgerliche Gesellschaft unter der Herrschaft des Rechts (rule of law) schaffe. So schaffe die Freiheit der Einzelperson die nötige Universalisierung der Gerechtigkeit spontan; die Berufung auf soziale Gerechtigkeit aber sei ein Mythos! 5 Vgl. Gerhard Kirchgässner, Homo oeconomicus, Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 1991. Als individualistisches Verhaltensmodell ist dieser Ansatz ökonomisch sehr leistungsfähig zur Erklärung wirtschaftlichen Verhaltens des Menschen. Es wurde aber "außerhalb der traditionellen Ökonomie ... ein herrschendes Paradigma" (141) für neue Bereiche der Gesellschaftstheorie. 6 Vgl. Orth, 316 ff. und den von ihm (Anmerkung 175) zit. Hartmut Neuendorf, Der Begriff des Interesses, Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith, Marx, Frankfurt 1973. 7 Vgl. die Originalzitate bei Orth, 335 f. 8 Erst der offenbare Verzicht auf anthropologische Grundwerte, auch des Sozialen, ermöglicht die operative "spontane" Verbindung von ethischen Kategorien mit gesellschaftlich-ökonomischen Abläufen als scheinbar sich selbst regelnden (harmonischen) Mechanismen!

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Mit dieser Wende zurück zum klassischen Liberalismus verzichte v. Hayek auf eine rational durchkonstruierte Erkenntnistheorie des Sozialen. Er stütze sich auf vor allem ökonomische, aus Erfahrung dort gewonnene einzelne Einsichten, die er durch die Leitidee einer spontanen Sozialordnung vereinigte. Aus rivalisierenden Praktiken im Wettbewerb auf dem Markt ereignete sich einfach mittels Auswahl diese Ordnung. So entstünden unbeabsichtigt aus menschlichen Handlungen soziale Instrumente. Diese Erkenntnis der Bedeutung eines Regimes der Freiheit im sozialen Leben genügt v. Hayek, drohe doch sonst die Gefahr eines abstrakten Liberalismus und unkritischen Rationalismus. 9 Gerade das Beispiel v. Hayeks und seines liberalen Denkens zeigt einerseits die für viele Bereiche der Wirtschaftstheorie ideengeschichtlich bedeutsame Leistung des klassischen Liberalismus für das Verständnis des sozialen Geschehens, aber auch andererseits die erkenntnistheoretische Verkürzung und anthropologisch-individualistischen bzw. pragmatistischen Einschränkungen in dieser Theorie. Man kann das allein an der Verwendung des Tugendbegriffs hervorheben. Es zeigt sich außerdem für uns, daß der Interessenbegriff zu unbestimmt und im Gebrauch historisch überfrachtet ist. 1o Auch im klassischen Liberalismus hatte das Interesse keinen klaren anthropologischen Begriffsinhalt. Hier wie auch sonst in der (Sozial-)Philosophie ist das Interesse kein Leitbegriff geworden. Am ehesten befassen sich heute die empirischen Sozialwissenschaften mit Interessenlagen, z. B. von Populationen oder Gruppen, unter zunächst wertfreien Annahmen. Als moralische Kategorie gewinnt das "Interesse" nur aus Zusammenhängen Bedeutung. Interesse und Interessenwahrnehmung haben also sittliche Relevanz, sind aber nicht in sich Indikator oder Kriterium von Sittlichkeit. Die Wirklichkeit des Sozialen läßt sich von der Reduktion der sozialen Phänomene, wie es im individualistischen Ansatz der Philosophie vor allem unter dem Nutzenbegriff geschieht, nicht ausreichend ursächlich vom Indi9 In der obigen Interpretation stützt sich der Verfasser auf Gray, John: Hayek on Liberty, Oxford 1984, der sich auf die vorherige Zustimmung v. Hayeks zu seinem Manuskript berufen kann. 10 In der Modellbetrachtung der Wirtschaftssysteme werden die Begriffe notwendig gedanklich vereinfacht. Bei ökonomischen Interessen in Verbindung mit menschlicher Bedürfnisbefriedigung und entsprechenden Handlungen stellen sich immer Sinnfragen, geht es nicht nur um die Prüfung von Sachverhalten. Dies muß beim "ökonomischen Interesse" jeweils mitbedacht werden. Vgl. Helmut Leipold, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Vergleich, Stuttgart 1976, 13 ff. Der Bericht über ein amerikanisches Forschungsprojekt zu interpersonalen Vergleichen des Wohlbefindens kommt letztlich zum Ergebnis, Wohlbefinden unter normativer Sinnbetrachtung sei nicht operationalisierbar und daher ein bedeutungsloser Begriff. Vgl. Jon Elster and John E . Roema (Ed.), Interpersonal Comparisons of Well-being, Cambridge 1991.

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viduum her erklären. Das zeigt sich deutlich an der Tatsache, daß der Prozeß der Kultur und damit der gesamtmenschlichen Entwicklung wesentlich das Individuum auf Gesellschaft (mit anderen) verweist und damit die Bestimmung des Nutzens im menschlichen Leben sozial abhängig und also sozial vermittelt ist. Vom Individuum her besteht aber die wesentliche Anlage hin auf Einheit in der Gesellschaft. Einheit ist keine rein soziologische Kategorie vom Ganzen zu den Teilen, weil sie ja für das Individuum ebenso konstitutiv ist. Treffend hat z. B. Norbert Elias 11 aus seinem soziologischen Denken heraus gezeigt, daß die Vorstellung des Menschen als "wirloses Ich" nicht möglich ist. Er hat damit auf tiefere als soziologische Gründe für Gesellschaft und Einheit im gesellschaftlichen Leben hingewiesen als auf individuelle Kategorien. Auf das Problem der Übersetzung und Anwendung des europäischen Interessenbegriffs in Kontext anderer Kulturen kommen in diesem Sammelband Kazutoshi Sugano und Yukio Masubuchi im Artikel Die Problematik des Interesses in japanischer Sicht ausführlich zu sprechen. Bemerkenswert ist besonders, daß im japanischen Denken das Interesse in seinen verschiedenen Wortwurzeln in der Gesamtbedeutung auch eine objektive und innere Orientierung einschließt, also eine rein instrumentell egoistische Verwendung für das Ethos ausgeschlossen erscheint. Damit ist auch die Möglichkeit der Erziehung im Bereich der Interessenwahrnehmung festgestellt, also eine Möglichkeit der inneren Veränderung der Richtung zum Zueinander der Menschen durch Tugend. 12

2. Einfluß und Wirkung der individualistisch-utilitaristischen Wendung der europäischen Philosophie in der Neuzeit auf den Interessenbegriff Die geistesgeschichtliche Wende mit der Neuzeit hat sehr treffend Charles Taylor besonders in seinem kulturkritischen Entwurf zur Identität der Moderne, Sources of the Self 13 , am Interessenbegriff charakteristisch herausgearbeitet. Der Liberalismus beschränke sich auf die angenommene Sicht des Menschen allein auf sich selbst ohne Rücksicht auf besondere Verbindlichkeiten gegenüber anderen Individuen, anderen Traditionen, Praktiken und Vorstellungen des Guten. Doch nur unter dieser Rücksicht, in einer kommunitären Ethik, könnten für die ethische Zustimmung und 11

12.

Die Gesellschaft der Individuen, hrsg. von Michael Schröter, Frankfurt 1987,

12 Vgl. auch den Artikel von Sugano, Erziehung zum Frieden- aus japanischer Sicht, in: R. Weiler, V. Zsifkovits (Hrsg.), Unterwegs zum Frieden, Wien 1973, 513529. 13 University Cambridge Press 1989. Vgl. seinen Beitrag, Liberale Politik und Öffentlichkeit, in: Krzysztof Michalski (Hrsg.), Die liberale Gesellschaft, Stuttgart 1993, 21-68.

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Auseinandersetzung spezifische gemeinsame Verhaltensweisen des handelnden Menschen und seiner Identität als Ausgangspunkt gewonnen werden. Für diesen utilitaristischen oder auch für den kantianischen Standpunkt reiner Deontologie des Sittengesetzes wären die Individuen oder ihre Interessen auf Gebote bezogen, die wie allgemeine und gleiche Prinzipien konzipiert sind und gleichen Respekt erwarten oder die allgemein funktionellen Charakter haben, aber ohne Beziehung auf die innere Konstitution der Menschen. A. Maclntyre 14 drücke dies so aus: Nicht "wie soll ich handeln" ist von außen zu fragen, sondern es ginge um die innere Eigenschaft des Handelnden, "welche Art von Person sollte ich sein", um das gute Leben als Antwort auf die Frage nach der Ethik zu geben. Also von der Tugendethik her, im Sinne des Aristotelismus sei die Frage zu beantworten. So sei die Wende zum Individualismus die signifikante Unterscheidung der Moderne von den früheren ZivilisaHonen geworden. Das Naturrecht würde entsprechend der Interpretation Taylors bei Locke Ausdruck der Autonomie des menschlichen Individuums und führte zur Säkularität der Moderne. Damit ist auch die Würde des Menschen auf seine autonomen Ziele, im Sinne des ganz gewöhnlichen Lebens beschränkt. Das gute Leben, der Ruf zur Tugend, als Lebenssinn nach Aristoteles, wäre entthront. Es bleibe der "Naturalismus" des Aufklärungsdenkens und eine rein prozeduale Ethik. 15 In der Schlußfolgerung schreibt Taylor 16 : "Proceduralistic ethics are sometimes motivated by a strong commitment to the central modern life goods, universal benevolence and justice, which they wrongly believe can be given a special status by segregating them from any considerations about the good." Taylor beklagt den Verlust der moralischen Erkenntnisquellen, der ursprünglich theistischen Basis der Ethik, und die naturalistische Zentrierung auf eine bloße Vernunft im desengagierten, rein scientistischen Verständnis. 17 So herrsche in der europäischen Ethik seit der Neuzeit in der Moraltheorie die prozedurale Ethik vor, die immer mehr rein szientistisch das Handeln des Menschen untersuche, die Quellen des Guten aber nicht erkennen könne, die Freiheit im Erklärungsansatz am besten leugnen zu Der Verlust der Tugend, Frankfurt 1987, (After Virtue, 2 1985}. Vgl. insbes. a. a. 0., Part I, 1. u. 2. 16 A. a. 0., 496. 17 Vgl. a. a . 0., 495 f. Seine Hinweise auf den Wertgedanken und die innere Erfahrung im sittlichen, auch intuitiven Bewußtsein des Menschen erinnert hier stark an die erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Ethik besonders bei Johannes Messner in seiner Kulturethik, Innsbruck 1954, 84 ff. und 225 ff. 14

15

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können glaube, hingegen statt dem Guten als Ziel des Menschen alles auf berechenbares Wohlwollen setze. Die "instrumentelle Gesellschaft" wird so zur blassen Institution. Anstelle des lebendigen Reichtums der Gesellschaft herrsche inhaltliche Leere vor, die Zweckhaftigkeit statt der Tugenden. Am Ende stehe die Konsumgesellschaft von heute, in der sich die Beziehungen der Menschen zueinander auf eine Reihe von verteilten Rollen beschränkten. Es fehle aber der strikte Sinn für Identifikation der Bürger mit ihren öffentlichen Institutionen. Das kennzeichne den von Taylor so oft angesprochenen "Atomismus" der Moderne. Die Ethik hingegen sieht er zur Metaethik geschrumpft. Gut und Böse würden dadurch unverbindlich nur als verschiedene Güter zur Wahl gestellt, so als gäbe es eben mehrere Güter und nicht die Entscheidung zwischen dem Guten und eben dem Mangel des Guten, dem Bösen, nach der klassischen ontologisch bestimmten Ethik. So komme es in unserer Kultur heute zur Gefahr der Aufweichung des Geistes, statt ihn nämlich zu stärken und die vergrabenen Güter zu heben, die im jüdisch-christlichen Theismus implicite als eine göttliche Bekräftigung des Menschlichen gegeben seien. 18 Wiederholt beruft sich Taylor 19 auf Macintyre und seinen Hinweis auf die Einsicht der traditionellen Naturrechtslehre der abendländischen Ethik, gegen den Zeitgeist der Moderne, auf das Streben und die Suche des Menschen nach Sinn (life is seen as a "quest", a "quest for sense"). Er stellt dazu die Identität des Menschen im Gegenüber des Subjekts zum Guten als Objekt (Identity and the Good)2° heraus. Erst die objektive Kenntnis des Guten führe zum Verstehen des eigenen Ichs und zum Erfassen des Lebenssinnes. Erkenntnistheoretisch sieht Taylors kommunitäre Ethik in der historischen Situation der Suche nach Identität des modernen Menschen das Problem darin, im Pluralismus und der Komplexheit dieser Gesellschaft eine adäquate Basis für die Erkenntnis und Artikulation moralischer Ontologie zu finden, ohne direkt auf Gott zu rekurrieren. 21 Es müsse genügen, zu zeigen, wie die Modellvorstellung von einer praktischen logischen Vernunft als Basis ethischen Urteils im Sinne szientistischer instrumenteller Handhabung und des Naturalismuus beschränkter empirischer Sozialwissenschaften, wie die bloße Berufung auf "gute" Gefühle etwa, nicht ausreiche. Die so unerforscht gebliebene pluralistische Natur der modernen Gesellschaft müßte schon genügen zu zeigen, wohin man mit einem solchen naturalistischen Unterdrücken der Ontologie des Guten käme, und es erlauben, moralische und geistige Intuitionen zu artikulieren, die doch IB 19 20

21

Vgl. a. a. 0., 500 ff. A. a. 0 ., 17 f. und 48. A. a . 0 ., 105. "Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt."

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darauf hinwiesen. Er führt die Subjektivität und Beschränktheit des modernen ethischen Denkens, ihre folgliehe prinzipielle Säkularität und eindimensionale Sicht des Lebens nur als "Gewöhnlichkeit" und nicht moralisch bedeutungsvoll und in Würde (dignity) verstanden, durch den Verlust des Sinnes für das wahrhaft "gute Leben", für die Tugend gegeben. 22 Somit kann, bestätigt durch die gegenwärtige geistige Gegenbewegung des Kommunitarismus, von der traditionellen ontologisch basierten Naturrechtsethik her die Schwäche der Gegenwartsethik im allgemeinen, und im besonderen bei der Sozialethik, in der Erkenntnis des Guten für den Menschen festgehalten werden. Darin ist die folgliehe subjektivistische und relativistische Basis des moralischen Denkens unserer Zeit ausgemacht, die für die Erklärung des sittlichen Handeins auf universelle Prinzipien verzichtet und nur beschränkt verallgemeinernde Theorien oder Modelle anbietet, also eigentlich Ersatz- oder Verzichtsethiken, allerdings im Gewande ausreichend erscheinender Rationalität, wobei der moderne Mensch viele Gründe anführt, um sich damit begnügen zu können. Dies wird gerade am Festmachen des Interessenbegriffs am Ego des Individuums deutlich und am Verlust des ontologischen Zugangs zum Gemeinwohlbegriff.

3. Die Instrumentalisierung des Nutzenbegriffs im Selbstinteresse Mit der Neuzeit liegt ein Paradigmenwandel des Nutzenbegriffs (utilitas) in der Philosophie vor durch rein methodischen Gebrauch für das Streben nach Selbsterhaltung des einzelmenschlichen Lebens unter Verzicht auf die bis dahin auch eingeschlossene Bedeutung im Sinne des Guten für den Menschen. Dies bedeutet eine Instrumentalisierung des Nutzens als materiales Prinzip und seine Fixierung am Eigennutz, einfachhin am selfinterest oder Selbstinteresse. Von daher erfolgt nur ein Stufenbau und System der Interessen im Utilitarismus, der sich so in eine individualistische ebenso wie kollektivistische Theorie bei der Erklärung menschlicher Vergesellschaftung teilen kann. Das gesellschaftliche Grundparadigma ist ganz konkret der Eigennutz oder das Selbstinteresse geworden. Naturrecht und Natur des Nutzens werden naturalistisch systematisiert, wenn auch noch John Locke entgegen Hobbes, als dem Ahnvater der Wende, an einer individuellen Menschennatur im metaphysischen Sinn festhält und ausdrücklich auf dessen Recht auf solche "äußere Dinge wie Leben und Eigentum" hinweist. Die damit aber vollzogene Wende von der Metaphysik zur Empirie hat nach Gerhard Kirchgässner zur Folge, "daß die Annahme des Eigennutzes der Individuen zunächst eine neutrale Annahme ist, die moralisch besonders positives wie besonders verwerfliches 22

A. a. 0 ., Preface, 111.

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Verhalten ausschließt, und daß sie deshalb für das durchschnittliche menschliche Verhalten in vielen Situationen typisch und insofern auch realistisch ist. Außerdem gibt es auch Situationen, in denen es sinnvoll erscheint, kontrafaktisch eigennütziges Verhalten zu unterstellen. Daher spricht wohl alles dafür, in der Regel mit der Annahme des Eigennutzes zu arbeiten und nur in bestimmten Ausnahmefällen von dieser Annahme zugunsten des Altruismus (oder anderer Annahmen) abzuweichen." 23 Damit aber hat die Philosophie den (Eigen-)Interessenbegriff den neuzeitlichen Sozialwissenschaften zu ihrem Gebrauch überlassen und sucht zugleich, um die Grundlagenfragen der Vorgänge der Nutzenmaximierung mit ihrer allerdings selbst begrenzten Erkenntnismöglichkeit - hypothetisch also- plausibel zu machen, etwa bei Adam Smith mit der Sympathieethik und dem Verweis auf eine "Unsichtbare Hand" nach Erklärungshilfen. Der philosophische Utilitarismus macht so den Egoismus zu einem quasi allgemeinen Prinzip, das die Sozialwissenschaften in ihrer Forschung als Hypothese zugrundelegen können. Auch die Rechtswissenschaften unterstellen im Rechtspositivismus dieses Interessenkalkül analytisch-normativ als "public interest" dem Rechtssystem. 24 So konnten sich aus der Sozialphilosophie die Humanwissenschaften in Ökonomie, Psychologie und Biologie als Fortschrittswissenschaften in der Anwendung von Empirie und vermittels einer philosophischen Grundhypothese herausentwickeln. Zugleich verdeckte das Interessenkalkül - ob öffentlich, ökonomisch oder politisch - das nicht so direkt ausgesprochene Bild vom homo oeconomicus oder politicus. Es genügte, die praktische Vernunft mit konkreten Ordnungsfragen mittels spekulativer Hypothese zu verbinden und den letzten Grund der Vergesellschaftung des Individuums angesichts des Erklärungsbedarfs der vordergründigen Praxis offen zu lassen. Vor allem in der Ökonomie konnten AdamSmithund nach ihm z. B. August Friedrich v. Hayek heute das als für die Praxis annehmbar ausreichend bewiesen zeigen. 25 23

A. a. 0., 65.

Die Grenzen des methodisch "reinen" Rechtspositivismus werden heute mehr und mehr aus sozialer Abhängigkeit und Interdependenz jedes Rechtssystems er kannt. So weist Ronald Dworkin - in einer revidierten rechtspostivistischen Position stehend - auch darauf hin, daß kollektives Handeln aus öffentlicher Sicht statistisch und auch gemeinschaftlich (communal) gesehen werden kann. "Als Gruppe zu handeln" bedeutet auch, "ein Bewußtsein davon und Gemeinschaftsvorstellungen" (und wohl auch Rechte!) zu haben. Vgl. seinen Beitrag "Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft, in: Krzysztof Michalski (Hrsg.), a . a . 0 ., 69-102 . 25 Vgl. dazu bes. Peter Massing, Peter Reichel (Hrsg.), Interesse und Gesellschaft, München 1977; vgl. insbes. Hardy Boullon, Ordnung, Evolution und Erkenntnis, Hayeks Sozialphilosophie und ihre erkenntnistheoretische Grundlage, Tübingen 1991, wo in zwei Kapiteln Hayeks Theorie der spontanen Ordnung und kulturellen Evolution behandelt wird. Es zeigt sich hier, wie die erkenntnistheoretische Grund24

9*

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Durch die funktionale Einbindung in praktizierbare Ordnung war es vernünftig, das utilitaristisch rationalistisch definierte Interesse einfach zum "wohl verstandenen" Interesse zu erheben. Dieser Erfolg der Aufklärungsphilosophie bestimmt. letztlich auch den kritischen Rationalismus von Karl R. Popper, daß es kein weiteres Zurück auf die Metaphysik geben kann als das Prinzip der vorläufig nicht mehr möglichen Falsifikation und so des Offenhaltens der Gesellschaft. Moral wird damit bewußt zur Grenzmoral, wenn auch die Gefahr besteht, daß die eingeschlagene Tendenz der Optimierung in eine solche der eigentlichen Minimierung durch Verlust der Orientierung und jeder Transzendenz auf eine schiefe Ebene nach unten führt. Die Verschiebung der Wahrheitsfrage auf die Empirie kann die Theoriebelastung jeder Empirie nicht aufheben. Forschung und Wissenschaft entgeht nicht dem Kontext der politisch-gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse und führt über die Hypothese hinaus zumindest zum Dialog mit der Wahrheitsfrage oder zur Suche nach weiterer Orientierung über Vorläufiges. Das Programm naturwissenschaftlicher Forschung, Hypothesen oder Modelle können die durch den Ausfall der Wahrheitsfrage entstandene Lücke für Mensch und Gesellschaft - hier eben die Frage nach dem Kriterium des wahren Interesses und seiner Wahrnehmung in der Gesellschaft! -nicht auf die Dauer ausfüllen.

4. Eigeninteresse und Gemeininteresse Das Verhältnis von Egoismus und Altruismus ist für das utilitaristische Interessenverständnis das Kernproblem. Für die Pflichtethik (Kant) scheidet Interesse bei der Begründung des Sittlichen vorweg aus. Für den utilitaristischen Ansatz hingegen bleibt der Altruismus ein Sonderfall der Natur, der der Erklärung bedarf. Für den rein empirisch orientierten Forscher stellt etwa im anthropologischen biologischen Programm des Menschen der Altruismus keine Konstante seiner Entwicklung dar. 26 Daß lageaus Hayeks Werk schwierig herauszulesen ist, also dem menschlichen Organismus die Theorie des Entstehens einer Ordnung aus den Sinnen im naturalistischen Verständnis eigentlich untypisch erscheinen und unbeweisbar bleiben muß, trotz aller verstreuter Hinweise im Opus des großen Ökonomen! So bleibt es eb en wie schon bei Adam Smith bei einer "Spurensuche" nach der Moral des Menschen in der Wirtschaft. Vgl. den Artikel von Joachim Starbatty, Die List der unsichtbaren Hand, in der FAZ vom 14. Juli 1990, 11 ("Smith verbindet systematische Deduktion mit empirisch-beobachtender und historisch-exemplifizierender Denkweise" ; die "invisible hand" ist "Frucht empirischer Beobachtungen und analytischer Überlegungen" ; die "deistische Denksicht" teilt Smith einfach mit seiner kulturellen Umwelt.) 26 Das hindert fortschrittsgläubige Sozialwissenschafter nicht, z. B. in Verbindung mit dem biologischen Entwicklungstheorem zu hoffen, mittels Material aus ihrer "Altruismusforschung" das Gesellschaftsleben des Menschen einmal so zu

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es sogenannte "emergente Konstanten" gibt, erscheint beim Menschen und seinem Handeln eben als eine Art "zweite Realität ... , eine Welt des Sollens oder der Werte gegenüber der naturhaft vorgegebenen Wirklichkeit. Angesichts der Komplexität dieser Zusammenhänge lassen sich in den Sozialwissenschaften eher ... Quasi-Gesetzmäßigkeiten herleiten als an Naturgesetze gemahnende Theorien." 27 Der moralische Interessenbegriff entzieht sich letztlich der sozialwissenschaftliehen Erfassung, ohne freilich damit die in ihrer Begrenztheit verstandene Betrachtung mit Hilfe empirischer Methoden in ihrem Wert mißachten zu wollen. Gerade die Wissenssoziologie hat dies auch zum Gegenstand ihres Forschens gemacht, wie über den Personbegriff 28 sich Gesellschaft auch ethisch als eigenes Phänomen und Wert zwischen- und überpersonal konstituiert. Damit ist mit Schelers Ansatz gezeigt, wie Personalität sich in Verbundenheit mit der Gesellschaft vollzieht und alle menschliche Gemeinschaft aus der Zuwendung von Personen erwächst, also aus Personverhältnissen, oder wesentlich aus der Sozialität dieser Personen selbst. Personsein und Sozialsein stehen im inneren Zusammenhang. Die Sozialität des Menschen ist ursprünglich, metaphysisch also gegeben und ist nicht später als Individualität, sondern hat nur ihren Seinsgrund eben im Personsein. Nach dieser teilweise mit den Begriffen der Soziologie selbst gezeigten Begrenztheit des individualistisch-utilitaristischen Interessenbegriffs erweist sich eine nähere Untersuchung der Begriffe von Egoismus und Altruismus als Kernproblem. Für die individualistisch-utilitaristische Anthropologie ist das Selbstinteresse des Subjekts in der Gemeinschaft - zeitgeschichtlich im Verständnis jetzt das der civil society, der bürgerlichen Gesellschaft Gleicher! -der Ausgangspunkt. Es wird ohne weitere metaphysische Verankerung zum rein subjektiven Nutzenkalkül des Einzelnen, hier auch im Kollektiv, für das Wohlbefinden ganz allgemein signifikant. Ein Verhalten des einzelnen Menschen anderen gegenüber ohne Bezug auf ein Selbstinteresse scheidet somit aus. Das betrifft vor allem die soziale Normenproblematik. Rechte müssen dem handelnden Menschen als nützverändern, daß auf "natürlichem Wege" es zum "größeren Nutzen für die Gesellschaft" käme (vgl. Morton Hunt, Das Rätsel der Nächstenliebe, Der Mensch zwischen Egoismus und Altruismus, Frankfurt 1992, vgl. bes. 15 und 214-216). Dann wäre es im System und ohne Ethik erklärt! 27 Robert H. Reichardt, Paradigmenwechsel in den und im Lichte der Sozialwissenschaftenschaften, in: Mitteilungen der Österr. Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften, Jg. 11, 3-4, 1991 (66- 80), 76; vgl. vom selben Autor, Anthropologische Reflexion im Kontext sozialwissenschaftlicher Theorien, in: H . Oswald (Hrsg.), Macht und Recht, Opladen 1990. 28 Vgl. Max Schelers Versuch einer Grundlegung des ethischen Personalismus in seinem Buch Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 1921.

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lieh empfohlen oder gerechtfertigt werden, um plausibel zu sein. Soziales Verhalten auf Grund der empirischen Annahme realer subjektiver Interessen kann aber sowohl materielle wie geistige, wertbezogene Interessen, also weltanschauliche, politische oder kulturelle Fragen abdecken und bandhabbar machen. Es entstehen gute Gründe, um gemeinsame Interessen zu erklären oder zu prognostizieren. Gruppeninteressen als "vereinigte" Einzehnteressen können dann den Charakter von Überzeugungen annehmen und Sozialstrukturen begründen. Damit kann ohne Prüfung des Verhaltens nach Gut und Böse, allein vom Individualnutzen her, im liberalen Staat eine Ordnungsinstanz für Freiheit und soziale Bindung aufgebaut werden. Individuelle Freiheit erhält ihr "öffentliches Gesicht". 29 Der Vorteil der Vernachlässigung oder auch nur Rückverschiebung der metaphysischen und ethischen Frage und damit der Objektivierung des Interesses seit dem klassischen Liberalismus liegt auf der Hand. Die Bindung des öffentlichen Interesses an eine Seinsordnung, dem Sollen Ideale zugrundezulegen, ist für analytisch-empirisches Vorgehen zu vage. Wenn für den Einzelnutzen ein gültiges Urteil möglich ist, dann soll es auch für alle in der Gruppe gelten nach der Vorzugstheorie des größten Nutzens der größten Zahl (Jeremy Bentham) oder eben anderen üblich gewordenen kommunikativen "bürgerlichen" Theorien (Vertragstheorien) des Gemeininteresses. Offen bleibt aber immer nach diesen Theorien das sittliche Kriterium des Besseren für die erzielte Summe der Einzelinteressen anstelle der wesenhaften Übereinstimmung derselben. 30 Trotz der Vernachlässigung einer letzten anthropologischen Begründung des Selbstinteresses hat A. Smith mit seiner Sympathieethik einen Weg gezeigt, zumindest die altruistische Relation des Eigeninteresses, allerdings rein rational mit Hilfe des Mitgefühls als gegenseitigen Vorgang in Rechnung zu stellen. 31 Das Eigeninteresse gewinnt so einen "Wir-Bezug", indem der soziale Sachverhalt der Marktgesellschaft als arbeitsteilig den Ansatz ergibt, aus dem das Kalkül der subjektiven Nützlichkeit verallgemeinert werden könne! Dies wurde in der subjektiven Wertlehre der neoklassischen Ökonomie, vor allem durch die Österreichische Schule über den Neolibera29 Vgl. Ralf Dahrendorf, Freiheit und soziale Bindungen, in: Krzysztof Michalski (Hrsg.), a . a. 0., (11-20), 20. 30 Vgl. Virginia Held, The public interest and individual interests, New York 1970. 31 Horst Claus Recktenwald hat dies durch seine Interpretation der Lehren von Adam Smith in Verbindung mit der Neuherausgabe der deutschen Übersetzung seines "Wealth of Nations" in der einleitenden Würdigung (München 1974) aufgezeigt. Die weitere Entwicklungslinie der Rolle des Selbstinteresses für die ökonomische Wertlehre wie allgemein für die Selbstdisziplin des Menschen als wirtschaftlich Handelnden und die daraus gewonnenen Schranken in der öffentlichen Moral finden sich in einem kurzen Übersichtsartikel von Recktenwald, Über Gemeinwesen und über Kollektive, Was bedeutet Adam Smith' Ordnungsidee für die Deutschen?, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik 29 (3[1986], 25-27.

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lismus methodisch individualistisch weitergeführt zum homo oeconomicus, indem über ein verkürztes Menschenbild und eine entsprechende Werttheorie ein Konzept wirtschaftlicher Freiheit ermöglicht würde. Das Gemeinwohl in der freien Marktwirtschaft ergibt sich also am besten noch "aus der individuellen Nutzenmaximierung" . 32 Damit werden aber wirtschaftliche Sachgesetzmäßigkeiten zur Regel mit allgemeinmenschlichem Anspruch, Wirtschaftspolitik hingegen könne andere als sozialwirtschaftliche Ziele eben politisch durchsetzen. Soziale Gerechtigkeit entzieht sich der Kompetenz der Ökonomie. Das Soziale schlechthin wird in die gesellschaftliche "Rahmenordnung" ohne verbindliches sittliches Kriterium abgeschoben. Für die ethische Beurteilung genügt nach Adam Smith die Sympathie oder z. B. nach John Rawls die Fairness als aus der Ratio gewonnenes normatives Prinzip, genug für die Wahrung des Gemeininteresses. Es ist genug für ein neuzeitliches ordnungspolitisches Denken, um gesellschaftliche Vorgänge zu gewichten und in Relation zu bringen. Damit ist eine Wirtschaftsethik mit dem prinzipiellen Festhalten am Gemeinwohl als Vorrangprinzip vor dem Eigennutzen seiner ethischen Aufgabe enthoben. Ethik hilft nur in Einzelfragen die Rolle einer kritischen Stimme für wirtschaftlich rationale Entscheidungen einzubringen, aber spricht dann nur mit vielen Stimmen im Konzert der Sozialwissenschaften. Oder sie kann als Prinzipienethik nur allgemein den Appell nach Solidarität ohne Sachkompetenz vortragen. 33 5. Vom Selbstinteresse zum modernen Wohlfahrtsbegriff

In der großen Zahl finden sowohl der neuzeitliche liberale Individualismus als auch die neoklassische Theorie rationaler ökonomischer Beziehungen die Annahme, daß der Mensch als ein gleichermaßen rational Handelnder betrachtet werden könne, operativ zielführend. Dies genüge trotz der Tatsache, daß das Selbstinteresse zwar als formales Kriterium erscheint, es gegen dessen Rationalität durch Selbstsucht auch moralische Fehler geben mag, diese aber in einer liberalen Gesellschaft ausgeglichen werden könnten, da in dieser der historischen Erfahrung nach noch der eheste Ausgleich zu den am wenigsten begünstigten Einzelnen und Gruppen möglich sei. Sonst gebe es nur den Rückgriff auf ein rational letztlich nicht ins Detail 32 Helmut Kaiser, Eigennutz, Gemeinwohl, Subsidiarität Zur anthropologischen Grundlegung der Wirtschaft, in: Zeitschr. Ev. Ethik, Jg. 37, H. 3, (189-204), 193. 33 Vgl. Helmut Kaiser, a . a . 0 . Die moderne Zuwendung der Ethiker zu konkreten Fragen war Gegenstand der Tagung d er Societas Ethica 1992 unter dem Titel The Turn to Applied Ethics. Vgl. den Tagungsbericht mit dem Einleitungsartikel von Robert Heeger, What is Ment by "Turn to Applied Ethics", in: Robert Heeger and Theo van Willigenburg (eds.), Karopen 1993, 9-16.

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berechenbares Einzelverhalten, als eine von Zwangsregelungen von oben nicht bestimmte, freiheitliche einzelne Nutzenbewertung. Im sozialen Wohlfahrtsdenken sollte es tatsächlich zu einem individuellen Vergleich und Ausgleich im Rahmen des gedachten Kollektivs der Individuen kommen. Einerseits ist dies eine Prognose gemäß dem liberalen Gedanken, andererseits wird diese Erwartung als historisch faktisch erwiesenes Argument z. B. von August Friedrich v. Hayek ins Treffen geführt, daß die Wirtschaft im wesentlichen am besten jenseits politischer Einmischung zu bleiben habe. 34 Die Einschätzung des Selbstinteresses für die "öffentliche" Wahl (public choice) wird auch für die Gesamtheit der Individuen auf die gleiche Weise angenommen wie sie "auf den Märkten" in der Wirtschaft, also auch ebenso im politischen oder bürgerlichen Bereich erfolge, immer zur Verfolgung des Eigeninteresses. Das Marktmodell ist die Grundlage der gesellschaftlichen Interessenfindung, das Eigeninteresse der Ausgang für das allgemeine Interesse. Die Interessen der Bürger decken die Autorität der Regierung, die im Interessenkonflikt in der Öffentlichkeit die Prinzipien 35 für deren Lösung in Gerechtigkeit in der Orientierung der staatlichen Intervention an durch das Eigeninteresse vermittelte Prinzipien, an den individuellen Freiheitsrechten letztlich, zu gewinnen hätte und nicht an einem höheren Gemeinwohlbegriff. Zugrunde liegt der gedachte Gesellschaftsvertrag, abgeschlossen zwischen Individuen, auf den die daraus entwickelten BasisInstitutionen des bürgerlichen Lebens, insbesondere eben die "Märkte", zurückgehen. Zur näheren Vergleichbarkeit kann man unter dieser Basisannahme von individuellen Präferenzskalen zu solchen sozialer Aussagekraft durchaus gelangen, ohne dazu eine lenkende Instanz außer dem Selbstinteresse anerkennen zu müssen. Keine Instanz sonst könnte es besser. 36 Daher kommt nach der liberalen Theorie dem so entwickelten sozialen Wohlfahrtsstaat k eine Präferenz in der Anwendung staatlicher Gewalt gegenüber dem individuellen Bürgerrecht zu. Demokratische Wertkrisen, die immer mit finanziellen wirtschaftlichen Krisen verbunden erscheinen, sollten nicht den Selbstbezug auf das Interesse und den Bezug letztlich auf individuelle Vorsorge und Verantwortung überdecken. Im Ergebnis ist also der vor allem methodisch heute angewandte liberale Individualismus essentiell, für die Verteidigung der freien politischen Gesellschaft im allgemeinen wie ebenso von Bedeutung für die soziale Wohlfahrt im moralischen Sinn des Utilitarismus. Das soziale Leben, ethisch oder politisch oder wirtschaftlich, ist eine Schöpfung der Individuen und in seinem Ursprung 34 35

36

Vgl. sein entscheidendes Wer k The Constitution Of liberty, 1960. Ein methodischer Weg zu solchen Prinzipien ist z. B. das "Pareto-Optimum". Siehe K. K. Arrows "impossibility theorem" .

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als Vergesellung immer dem freien Bürger gegenüber mittelbar und nachrangig! 37

6. Die geistesgeschichtliche Einordnung der Institutionen-Ethik Die neoliberale Institutionen-Ethik und ihr Utilitarismus-Subjektivismus gilt heute als ausreichender Ansatz für die Ordnung der Wirtschaft. Der Gemeinwohlethik und ihrem teleologischen Ansatz in der Natur des Menschen wird heute vorgeworfen, sie sei angesichts der Entwicklung der empirischen Argumentationsfülle der utilitaristischen Ethik besonders in der Wirtschaftsethik zu sehr nur im allgemeinen und im ontologischen Argument verblieben. Der um eine materialistische Objektivierung im historischen Entwicklungsprozeß bemühte kollektivistische Utilitarismus dagegen ist durch die Praxis der kommunistischen Zwangssysteme politisch und wirtschaftlich heute zurückgeworfen. Radikale Kritik am Liberalismus ist mit Schwerpunkt aus Gründen des sozialen Ausgleichs hinsichtlich Einkommensverteilung und politischer Macht dennoch in politisch-wirtschaftlichen Krisen, auch aus weltanschaulichen und sozialphilosophischen Begründungen als Herausforderung aktuell geblieben. Freilich trifft diese Kritik eines "schrankenlosen Kapitalismus" angesichts der real existierenden politischen Verhältnisse und der bestehenden Wertekultur in den westlichen demokratischen Gesellschaften heute nicht voll. Diesen Kritiken mangelt oft einerseits die ökonomische Kompetenz, anderseits geht das von ihnen gezeichnete Krisenszenario an der Wirklichkeit vielfach vorbei, bzw. liegt ihrer Analyse ein dogmatisches Denkschema zugrunde. Das zeigt schon allein der einseitig pejorative Gebrauch von mehrdeutigen Begriffen wie "Kapitalismus", "Wettbewerb" oder "Markt". Entscheidend ist, daß sie das der Natur des Menschen folgende Argument von der Natur der Sache nicht beachten, wonach es Sachrichtigkeiten gibt. Die Zielverwirklichung im gesellschaftlichen Leben ist immer auf die Beachtung von Tatsachen angewiesen, die durch beste Gesinnungen allein nicht veränderbar sind, z. B. die Knappheit wirtschaftlicher Güter. So finden wir auch unter Vertretem der katholischen Soziallehre Richtungen, die unter "Kapitalismus" einfachhin eine Wirtschaftsordnung versteh en wollen, wo die Mittel oder Institutionen der Wirtschaft vom Menschen losgelöst sind und sich selbst steuem. Der Mensch stünde dann nicht mehr im Mittelpunkt, wäre nicht mehr Ziel der Wirtschaft. Die Kapitalismuskritik der kirchlichen Lehrdokumente wird darauf als totale Ableh37 Nähere Literaturhinweise finden sich unter Stichworten wie Individualism, lnterests, Liberalism, Social choice, Social contract, Social welfare, oder Welfare state z. B. in den Literaturangaben der Artikel in: The Blackwell Dictionary of Twentieth-Century Social Thought, Oxford 1993.

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nung dieses "Systems" interpretiert und ein "Dritter Weg" zwischen "Kapitalismus" und "Sozialismus" gesucht, wo die Ethik und nicht der Markt die Wirtschaft steuerte. Die Ethik habe Vorrang vor der Ökonomie, daher habe die Ethik für die Wirtschaftsordnung zu sorgen. 38 Hiermit wird die Sachrichtigkeit des menschlichen Verhaltens in der Wirtschaft in ihrer Verbindung mit der sittlichen Ordnung nach der Natur der Sache und deren Bedeutung in der kritisierten Wirtschaftsordnung als völlig dem ethischen Kriterium entzogen gesehen, darum in einer Gegengesellschaft das Heil ersehnt. 39 Die Institutionenökonomik 40 wird heute vor allem zum Verständnis der Marktwirtschaft auch von der Wirtschaftsethik herangezogen und besonders am Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft und deren Rahmenordnung bei der ökonomischen Entwicklung in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg exemplifiziert. Als ein besonderer Vertreter der Institutionenethik ist Karl Homann hervorgetreten. 41 Dabei schließt er den institutionellen Ordnungsgedanken an Adam Smith an, der in der Wirtschaft nicht von einer Nachordnung der Einzelinteressen den Interessen anderer gegenüber ausginge, sondern die individuelle Interessenordnung faktisch dem Wettbewerb am Markt überließe und allfällige Wettbewerbsregelverstöße und -nachteile im Konfliktfall der Rahmenordnung des Marktes und deren eigenen Logik überließe, die dann "institutionell" das lenke, wozu die Moral als Appell allein nicht ausreiche. Das legt er etwa am Begriff von Götz Briefs von der Grenzmoral dar, der die Tendenz innewohne, noch tiefer zu sinken, wenn nicht der Markt mit seinem Wettbewerb ein eigenes Moralniveau erzwingen ~önnte. 42 38

49.

Vgl. Herwig Büchele, Christliche Glaube und politische Vernunft, Wien 2 1990,

39 Antikapitalistischer Affekt durchaus nicht neu von den Autoren dieser Richtung in der Katholischen Soziallehre vertreten - ist ebenso federführend wie die Hoffnung auf einen "neuen Menschen" entgegen wirtschaftlichen Sachgegebenheiten für einen Neuentwurf derselben im Sammelband Jenseits katholischer Soziallehre: neue Entwürfe christlicher Gesellschaftskritik, hrsg. von Friedhelm Hengsbach, Düsseldorf 1993. 40 Die institutionalistische Richtung in der Ökonomik hat den Institutionenbegriff insbesondere sozialphilosophisch nicht tiefer begründet und differenziert. So fehlt die genügende Beachtung des Unterschieds von Institionen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht ihrer Entwicklung bzw. soziologisch in primäre und sekundäre, vor allem aber ethisch in fundamentale und abgeleitete Institutionen, z. B. die Untersuchung von Helmut Dietl, Institutionen und Zeit, Tübingen 1993. So führt die Betrachtung des Rechts als Institution zur rechtsphilosophischen Rückfrage nach der Gerechtigkeit und dem Wesen des Rechts oder zum Standpunkt der Sophistik wie in der Antike. Eine vordergründige Institutionensicht ohne Seinsmetaphysik des Sozialen bleibt beim Individuum als Subjekt und Objekt, also im Zirkelschluß! 41 Vgl. Wettbewerb und Moral, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft 31 (1990), 34-56. 42 Vgl. a. a. 0., 35.

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Auffallend an Homanns Argumentation ist, daß er eine wirtschaftliche Gesetzmäßigkeit, den Wettbewerb am Markt, aus einer analytisch erhobenen Regelmäßigkeit individuellen Verhaltens zu einem logischen Zwangsgesetz der Sozialethik erhebt: "Der Wettbewerb zwingt alle Wettbewerber in diese Logik und läßt ihnen keine andere Wahl". Für Homann sind Wettbewerb und Moral identisch, dabei sei zwischen beiden kein Gegensatz denkbar. Die moralische Idee habe bei der "Gestaltung der Rahmenordnung anzusetzen. Wirtschaftsethik in der Marktwirtschaft ist paradigmatisch Ordnungsethik. "43 Schon allein die Verwendung des analytisch-empirischen Begriffs Paradigma für einen ethischen Ordnungsbegriff zeigt die Vernachlässigung der Beachtung des Unterschiedes von empirischem und ethisch-philosophischem Sprachgebrauch. Noch bedeutsamer ist die erkenntnistheoretische Position, wenn mit vorgeblich ethischen Sätzen rein pragmatisch argumentiert wird. Wenn an anderer Stelle derselbe Autor für die kirchliche Sozialbotschaft "ökonomische Kompetenz" einfordert 4 4, mutet es ebenso sehr vereinfachend an, daß er der Kirche Kritik am "Kapitalismus" ungeprüft verwehren will, weil sie den Wettbewerb als Mittel moralisch nicht "wirklich" akzeptiere, sondern immer noch Einwände erhebe. Er identifiziert sichtlich Wirtschaftsordnung mit sittlicher Ordnung, die Sache mit dem Menschen als individuellem Akteur, eben geleitet nur vom Selbstinteresse am Markt. Das Soziale könne durch die "Rahmenordnung" wie von selbst am besten gesichert werden (dem Markt konform) und würde so automatisch zum sittlichen Ergebnis für die "Gesellschaft" (als Kollektiv des so individuell "geordneten" Interesses). Es ist nach diesem Denkschema neoliberaler Ökonomen im Gewande von - zwar vielleicht überzeugten! - "Ethikern" ersichtlich, daß sie keinen Unterschied zwischen Individual- und Sozialethik bzw. nur das individualistische Argument kennen, ebenso wie sie keine eigene allgemeine Grundlegung der Ethik im Sinne eines sittlichen allgemeinen Kriteriums für gut und böse kennen. Anstelle dessen setzen sie prognostizierte "Ziele" der Politik oder höchstens angewandter Ethik in eine lose Sprachverbindung mit von ihnen als moralisch angesprochenen Zwecken menschlichen Strebens. 45 A . a . 0., 41. Vgl. Ein Gespräch mit dem Wirtschaftsethiker Karl Homann, "Die Kirchliche Botschaft muß mit ökonomischer Kompetenz gepaart sein" , in: Herder-Korrespondenz 45 (1991), 311-317. 45 Zugrunde liegt die Annahme, daß sich die Marktgesellschaft getrennt von anderen ordnenden Einflüssen auf gesellschaftlicher bis staatlich-öffentlicher Ebene selbst steuert. Die Mikroökonomik unter vereinfachenden Annahmen und im Rückgriff auf die subjektive Wertlehre hat hier viele neue Erkenntnisse gebracht. Mit der Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Entstehung und Wirkweise von wirtschaftli43 44

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Bei allen sachlichen Übereinstimmungen gilt dieser Vorwurf der methodischen und erkenntnistheoretischen Schwäche im obigen Sinn auch dem Artikel des geschätzten Mitherausgebers Wolfgang Schmitz in diesem Band. Er beruft sich zwar sehr deutlich auf Johannes Messners Naturrechtslehre und gibt dem "Lebenssinn" des Menschen eine zusätzliche Bedeutung für die Zielsetzungen der Wirtschaft. Gemeinwohl und Ordnungsethik werden sogar als "Partner" anerkannt, aber "gemacht" werden sie dazu durch die Institutionenökonomik, denn das "Regelverhalten aller Beteiligten" wird durch das Einzelinteresse bestimmt. So beruft sich Schmitz trotz aller Partnerschaft von Ökonomik und Ethik - was soll ein "zeitlicher Vorrang" bei "Gleichberechtigung" in der Wertordnung verschiedener Disziplinen wirklich aussagen 46 , wenn er kurz davor mit Berufung auf Th. Pütz im Anschluß an Max Weber die "Sozialphilosophie als Lehre zur Begründung allgemeiner Normen zur Gestaltung des sozialen Lebens" abgelehnt hat?47 Unter Verweis u. a. auf den oben zitierten Charles Taylor fordert die Ausrichtung der praktischen Vernunft des Menschen von seiner inneren Natur he:r; das Ziel des Guten als menschliche Vollkommenheit und zugleich als das für alle in der Gesellschaft allgemeine Gute. Erst in der Zuwendung auf das Seinsgute im Menschen und damit auf das für alle Menschen Gute gerichtete Handeln - getragen von den handelnden Personen in der der Sozialnatur des Menschen gemäßen solidarischen gesellschaftlichen Kooperation - erweist sich die Zweckmäßigkeit und sittliche Güte der dem Menschen im sozialen Prozeß für seine sittlichen Handlungen notwendigen Mittel, eben der Institutionen. Diese können selbst personalen Charakter haben, wie das Sozialinstitut der Familie, also natürliche Gesellschaft sein, frei geschaffene Personenverbindung, aus der Koalitionsfreiheit gewachsen, oder auch Zweckmittel von logischer Rationalität wie alle interpersonalen Tauschvorgänge zu gesellschaftlichen Zielen, aus denen gedachte und folglich danach faktisch vorfindbare Sozialinstitutionen, wie Märkte, hervorgehen. Vom Ursprung her bis zum tatsächlichen Geschehen sind sie nie für den bewußt dort handelnden Menschen a-ethisch und nur selbstregulierende Mechanismen. Sie stehen bei all ihrer Sachrichtigkeit unter dem Kriterium der sittlichen Richtigkeit, auch wenn sie durch Sachgerechtigkeit ihrem sittlichen Zielletztlich - aber immer in der menschlichen "Handhabung" zum Unterschied der Annahme einer "invisible hand" - dienen sollen, aber nie müssen und auch nicht immer dienen! chen Institutionen, vor allem den Markt, durch die ökonomische Theorie droht aber die Vernachlässigung sozialphilosophischer Einsichten. Diese verkürzte Institutionenlehre ereilt dann das Schicksal des homo oeconomicus, sie steht letztlich nicht auf dem Boden menschlicher Wirklichkeit und gesellschaftlicher Zusammenhänge. 46 Schluß seines Aufsatzes, VII, 4, 102 f. 47 A. a. 0., VII, 2, 97.

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ll. Das "Gute" und die "Interessen"

1. Die erkenntnistheoretische Lücke der Institutionenethik Die methodische Gleichstellung sozialethischer mit sozialwissenschaftlieber ökonomischer Erkenntnis in der Institutionenmoral in der Wirtschaft löst nicht das erkenntnistheoretische Problem des damit verbundenen Subjektivismus und Nominalismus. Es geht beim Verweis traditioneller naturrechtlicher Wirtschaftsethik auf die metaphysische Lücke der liberalen Ökonomik nicht darum, daß Institutionen nicht leistungsfähig sein könnten, es geht aber um den Erweis des Sozialzwecks der Wirtschaft für Mensch und Gesellschaft jenseits von Angebot und Nachfrage. 48 Die aktuelle Grundfrage nach dem Fehlen einer Gemeinwohlmetaphysik und -ontologie 49 ist die, ob das moderne Denken für eine solche Fragestellung noch zu öffnen wäre. Das Grundproblem ist, wieweit heute das "Naturrecht" noch im sozialen Bewußtsein verankert ist, um von der Gesellschaft akzeptiert und praktiziert zu werden. 50 Sicher ist, daß es für das "Naturrecht" an sich in der Gesellschaft, auch in dieser unserer Gesellschaft, schon vom Begriff her keine letzte Entscheidungsinstanz gibt und geben kann. Von seinem metaphysischen Grund her steht hinter ihm nur die naturrechtlich verstandene "Volkssouveränität", die faktisch durch Abstimmung aller Glieder der Gesellschaft konsensuell sich betätigt, also Vertragsgestalt ebenso wie Rechtsinhalt erlangt. Dies ist im letzten ein logisches Prior, wenn auch eine zeitliche Vorordnung nicht historisch auszumachen ist. So bleibt es eine Wahrheits- und Seinsfrage, die sich der Mensch stellen kann, aber nicht muß.

48 Dar auf hat Bernd Kettern in einer Buchbesprechung zur Publikation von Clemens Dölken, Katholische Sozialtheorie und liberale Ökonomik, Tübingen 1992, hingewiesen: Zwischen liberaler Ökonomik und Katholischer Soziallehre - Anmerkungen zum jüngsten Versuch eines Brückenschlages, in: Die neue Ordnung, 47. Jg., H. 5, Okt. 1993, 395-398. 49 Alfred Kloseist im Band "Selbstinteresse und Gemeinwohl", Hrg. von Anton Rauscher, Berlin 1985, 495-543, in einem ausführlichen Artikel "Zur Gemeinwohlproblematik" dieser metaphysisch im Sein grundgelegten Gemeinwohsicht im Dialog mit den Sozialwissenschaften ausführlich nachgegangen und stützte sich dabei besonders auf ein klassisches Buch dazu von Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Idee, Wirklichkeit und Aufgabe, Osnabrück 2 1968. 50 Vgl. Nicolas-Calera, Naturrecht und soziales Bewußtsein, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen, Gedächtnisschrift für Rene Marcic, Hrsg. von Dorothea Mayr-Maly u . Peter M. Simons, Berlin 1983, {846-852), 851, den Hinweis, für das Naturrecht gebe es keine letzte Entscheidungsinstanz. Die Naturrechtslehre selbst hat dies im Gedanken der eben "naturrechtlich" verstandenen Volkssouveränität der gesellschaftlichen Gewissenseinigung in einem Rückgriff auf eine Art metaphysische Grundintention der Personeinheit der Gesellschaft immer so verstanden .

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Die Institutionenmoral geht von einem Rahmen von Regeln aus, die auf Hypothesen des gesellschaftlichen menschlichen Verhaltens beruhen, die, analytisch gewonnen, zur Methode im Sinne eines Ordnungssystem geschlossen werden. Diese Regeln nun mit sittlicher Kompetenz auszustatten, also dem ethischen Kriterium des (für den Menschen als Gesellschaftsglied) Guten, des Gemeinwohls im Sinne der ontologischen Sozialethik anzugeben, versucht W. Schmitz in seinem obigen Beitrag 51 dadurch zu erreichen, daß er der Institution von den Teilnehmern her ein Ziel vermittelt. Er macht dies über den Lebenssinn der Individuen unter Rückgriff auf die "existentiellen Zwecke" nach Johannes Messner. So gesehen wird aber die Institution und ihre Regelmäßigkeit selbst Kriterium des Sittlichen. Sie bleibt so aber nur Mittel zum Guten und bedarf der Einordnung in das Sittliche erst durch rechten Gebrauch durch den Menschen. Die Institution ist Mittel, das gesellschaftliche Ziel für den Menschen richtig erreichen zu helfen. Diese Richtigkeit ist in der Mittelanwendung gelegen und so Voraussetzung der Zielerreichung. Das Ziel aber bestimmt sich aus der Sittlichkeit, gemessen am Menschen und der Erfüllung der existentiellen Zwecke, die nicht auf einen Grundzweck des Individuellen reduzierbar sind. Institutionen haben selbst keine Ethik, sondern stehen in der ethischen Ordnung. Ihre Ordnung kommt aus der Ethik, weil sie Institutionen im Dienste des Menschen sein sollen. Der Ablauf der Institutionen nach ihren Gesetzmäßigkeiten hat nicht den Charakter des bloß ökonomisch-technischen Vorgangs. Vom sittlichen Urteil her ist die Sozialethik für die Wirtschaft erstzuständig und kompetent. Das ist kein Vorranganspruch oder Anmaßung von Kompetenz im Ökonomischen. Der Rückfall in den neoliberalen Harmonieglauben wäre vielmehr gegeben, wenn aus "interdisziplinärer Kooperation" der Anschein entstünde, die Institutionen müßten mit ihren Sachgesetzen auf dem Markt nur je eingeführt werden, um dann selbst als Ordnungsethik zu funktionieren. Sozialethik ist immer Ordnungsethik im klassischen sittlichen Verständnis. Die nach der Institutionentheorie entwickelte Institutionen- oder Ordnungsethik kann diesen Mangel der Orientierung an einem allgemein gültigen sittlichen Kriterium durch ihre allseitige Ableitung vom liberalen Eigeninteressenkalkül nicht abschaffen. Sie kommen vielmehr in die Gefahr, blind zu werden für den anderen "Rahmen" jeder Wirtschaft, das sind jeweils die sozialen Verhältnisse, die es immer erfordern, idealtypisch gedachte, marktwirtschaftliche Mechanismen speziell und gezielt anzuwenden! Hier beginnt erst die Aufgabe der Wirtschaftsethik in der Anwendung der Institutionen als Mittel zum Zweck verbunden mit Gesinnung. Dies besagt auch die alte Forderung der katholischen Soziallehre bei jeder "sozialen Frage" nach Reform der Gesinnung und der Institutionen! 51

Siehe 140.

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Horst Friedrich Wünsche 52 hat dem "Neoliberalismus unserer Tage" vorgeworfen, sozial erblindet zu sein, "wie es dem klassischen Liberalismus im Übergang von Adam Smith zu John Prince-Smith geschehen ist". Seine Unfähigkeit, soziale Fragen zu lösen, zeige sich besonders deutlich bei den Ratschlägen, die Ökonomen den Politikern in Reformländern erteilten. Ohne ontologische Basis für die sittliche Ordnung, allein mit dem Regelwerk von Institutionen, bleibt eine darauf aufbauende Ordnung, auch wenn sie sich als Institutionenordnung oder -ethik ausgibt, im Modelldenken. Ethik muß vielmehr auf Institutionen angewandt werden, ihren Rahmen aber nicht nur unter Funktionalität überprüfen, sondern menschlichen Zielen zuordnen. Sie kann Gesinnung durch Ziele einbringen, die Gesinnung der Menschen in der Gesellschaft darauf hinordnen. Sie kann aber auch durchaus die Ordnungsmechanismen nach ihrer Hinordnung auf die Lösung des sozialen Problems- hier in der Wirtschaft!- überprüfen. Die Problemlösungskompetenz liegt bei der Institution so, daß sie erst adäquat durch den Menschen, die Gesellschaft, dazu angewandt werden muß. Manchem Ökonomen mag das als Selbstverständlichkeit erscheinen, in der praktischen Wirtschaftspolitik ist dies jedoch keineswegs so.

2. Vom anthropologisch-philosophischen Grund des Sittlichen zum ethischen Kriterium des Interesses In seinem Artikel "Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftsethik" verfolgt Karl Homann das Anliegen, die "Wirtschaftsethik" vor der Gefahr zu bewahren, durch Moralisieren die Moral zu zerstören. 53 Das bedeutet für die Wirtschaftsethik "Dominanz der Institutionenethik" oder - mit Adam Smith - "aus ethischen Erwägungen . . . die Entkoppelung von Handlungsmotiven und moralisch erwünschten Handlungsergebnissen" . 54 Den gegen ihn, wie er schreibt, gelegentlich gerichteten Vorwurf des "ökonomischen Reduktionismus" glaubt Homann durch die "Intention" entkräften zu können, "moralische Normen und Ideale ... in ökonomische Argumentationen" zu übersetzen. Dies werde erreicht, indem er die Begriffe der modernen Ökonomik auf deren tragenden Rahmen bezieht. Sie drücken nur aus "Vorteile und Nachteile, was immer die Menschen selbst darunter verstehen (wollen)". 55 Damit verschiebt er aber nur die Ansatzfrage der Ethik und entgeht keineswegs dem Vorwurf des Reduktionismus, einer verkürzten utilitaristi52 Soziale Marktwirtschaft und der Rückfall des Neoliberalismus in den Harmonieglauben, in: Die neue Ordnung, 47. Jg. I 1993, (164-169), 169. 53 In: Anton Rauscher (Hrsg.), Die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche, Donauwörth 1992, (103 -121), 121. 54 104 f . 55 112.

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sehen Ethik und des Pragmatismus-Szientismus. Er tut also so, als ob sein Ansatz anderen vorzuziehen wäre, z. B. auch dem des traditionellen Naturrechts oder auch der Wertphilosophie, die er schlicht als "deontologische Konzepte" bezeichnet und auch fälschlich mit der Verantwortungsethik Hans J onas' gleichsetzt. 56 Die Schwächen seiner auf das Wirtschaftliche reduzierten Argumentation und Methode, die auf einem letztlich vorgefaßten Markt- und Demokratieverständnis im Sinne des Liberalismus der abendländischen Moderne basieren und nicht auf einem allgemein gültigen ethischen Kriterium, gibt er in dem Artikel auch zu. Sein Konzept wäre "in einem bestimmten Sinn imperialistisch", es wende "die ökonomische Methode auf die Moral an". 57 Einerseits solche "Grenzen der Wirtschaftsethik" offen einzugestehen, ja die der Ethik eigene Methode bewußt auszuschließen und andererseits aber ethischer Kritik am volkswirtschaftlichen Verhalten des Menschen schlechthin die Berechtigung abzusprechen- und sei es für ein Verhalten am Markt aus "Profitsucht", so als ob es das angesichts der "Rahmenordnung" dort gar nicht geben könne! - ist wohl nur Zeichen subjektiver Voreingenommenheit. 58 Der also offenbare ökonomische Reduktionismus der Institutionenethik der Richtung Karl Homanns ist auch von solchen Vertretern wie Wolfgang Schmitz nicht zu beheben, solange sie in einer gewissen Unlogik zwar von Gemeinwohl und, aufbauend nur auf den Einzelinteressen, zugleich von Allgemeininteresse nur sprechen, dennoch aber dem sozialen Wesen des Menschen und damit der Sozialethik keinen ursprünglichen Seinsansatz in der Menschennatur zumessen. Die ganze erkenntnistheoretisch-methodische Schwäche einer Institutionenethik im oben verstandenen Sinn erweist sich angesichts ihres Unvermögens, vom Ansatz h er, Kulturethik zu sein. Jede spezielle Ethik, die systemkonform konzipiert ist, ist durch ihre ideengeschichtliche Position befangen und für jede Fundamentalkritik wertblind, zugleich versucht sie, sich pragmatisch für die beste Problemlösung kompetent zu halten. Damit beschränkt sie ihre selbst beanspruchte Problemlösungskapazität auf die ökonomischen Zusammenhänge. Die eigentlich ethische Urteilsfindung gemäß der Sachrichtigkeiten, also aus der "Natur der Sache" zu sozial gerechten Lösungen in der Wirtschaftsgesellschaft zu gelangen, unterbleibt. Ein Beweis ist die vordergründig methodisch geführte Auseinandersetzung 113. 117. 58 Eingangs seines Artikels (103) wird von Homann so der Vorwurf von Profitsucht in einer kapitalistischen Wirtschaft und folglich der Aufruf nach "Bewußtseinswandel" als unökonomisch abgetan. Als einer der zu Unrecht moralisierenden Appellanten wird Papst Johannes Paul II. namentlich genannt. 56 57

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um die richtige Anwendung der Prinzipien von Marktwirtschaft und Demokratie heute nach den verschiedenen sozialwissenschaftliehen Schulrichtungen. Das kann an einem brennenden Problem der heutigen marktwirtschaftliehen Ordnung beispielhaft am Arbeitsmarkt gezeigt werden, konkret an der Hilflosigkeit bei der Lösung des Problems hoher struktureller Arbeitslosigkeit in den westlichen Demokratien. Die Entlassung des Arbeitswertes in das subjektive Kalkül individuellen Nutzens in der freien Marktwirtschaft hat die nicht nur wirtschaftliche Nutzenbemessung der Arbeit des Menschen dem Markt überlassen, sondern das gesamte gesellschaftliche Wertgefüge ökonomisch dominiert. Das kulturelle Sinngefüge menschlichen Lebens ist von der individuellen Nutzenerwartung des Marktwerts der Leistung menschlicher Wertschöpfung, also vom ökonomischen Arbeitswert, dem Lohn, dominiert. Die Profitgesellschaft unterwirft alles ökonomischer Rationallität. Die menschliche Kultur ist unter dem Diktat des Nutzens als "Quelle des ReiChtums" eindimensional geworden. Der Sinn wird nachgeliefert, die Ethik kommt eben nachher. Zuerst ist doch der homo oeconomicus, und insoferne ist der Mensch sein eigener Schöpfer. Ohne Teilhabe an der ökonomischen Wertschöpfung - als Arbeitsloser, ohne Arbeit, wie immer und wann immer- steht der Mensch als Marktpassiver außerhalb des Systems und ihrer begrenzt gedachten adäquaten Wirtschaftsethik. Nur wer aktiv am Arbeitsmarkt beteiligt ist, hätte eine Stimme in der Wirtschaft - und folglich von daher die Wirtschaftsethik. Sonst kann er nur "moralisieren", denn Moral greift nur über die Institutionen. 59 Die liberalistische Verengung des eudämonologischen Ansatzes der traditionellen Ethik zum individuellen Nutzenkriterium der Ethik hat enorme Bedeutung für den Siegeszug der neuzeitlichen ökonomischen Entwicklung in der industriellen Gesellschaft gehabt. Es kam zwar zur Spaltung in das System des kollektivistischen Utilitarismus unter dem Anspruch des zentralistischen Sozialismus-Kommunismus, die Menschheit zum irdischen Glück zu führen. In der Systemauseinandersetzung hat sich aber der individualistische Utilitarismus durch sein demokratisches freiheitliches System vorläufig als siegreich erwiesen. Doch ist auch ihm die soziale Krise 59 Die Verbindung von Arbeit mit dem Berufsgedanken als ethischer Sinnmotivation sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Dies gilt nicht nur im Sinn individueller Motive, sondern bedeutet vor allem auch ein soziales Band aus Berufsverbundenheit im Berufsstand mit Richtung zwar auf Interessengemeinschaft, aber mit Unterschied zum vordringlichen Gruppeninteresse freier Verbände. In der Berufsgemeinschaft verbinden sich "öffentliche" und "private" Moral naturbedingt. Vgl. dazu Dr. Karl Kummer-Institut, Steiermark (Hrsg.), Wolfgang Mantl, Bruchlinien der Zeit, Die katholische Soziallehre, Ursprünge- Entwicklungen- Ausblicke, Wien-Köln 1989, 9-19.

10 Interesse und Moral

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wesentlich inhärent. Es fehlt ein universales ontologisch im Menschen begründeten Kriterium für das wahrhaft menschliche Glück. Nach der wesentlichen Konstitution des Menschen vollzieht sich Lebenssinnfindung im individuellen und sozialen Bereich sowohl in geistiger und materieller Hinsicht. Aber erst mit der Erfüllung des Kultur- und Wertsinns menschlichen Lebens ist gutes Leben oder Glück gesichert. Dazu braucht es ein natürliches Gefüge überindividueller Gemeinschaften in der Gesellschaft - auch als kleine "Inseln des Glücks", wie z . B. die Familie, die Heimat oder auch die Berufsgemeinschaft! Die Schlüsselfrage liegt in der anthropologischen Basis, in der inneren Konstitution der menschlichen Natur und ihrer eudämonologischen Bestimmung. Die Erkenntnis derselben erfolgt in Verbindung von Empirie und sittlichem Bewußtsein und ist daher immer auch historisch und sozial, in Gemeinschaft zu begehen und nicht auf dem Wege bloßen rationalen Kalküls des Einzelnen. In der Vielfalt und zugleich Einheit der vernunftbegabten Menschheit, eben auf dem Weg der guten Sitten, des gelebten Ethos und nachfolgender Ethik(en), also vermittels der Vernunftnatur des Menschen und aller Menschen wird das Gute für Mensch und Gesellschaft erlaßt und erreicht. Jede rationale Ablehnung universaler Ethik und Eingrenzung menschlichen Handeins etwa auf Institutionen- oder Wirtschaftsethik ist Methodenwillkür. Paul W. McNellis 60 hat dies im Anschluß an die Naturrechtsethik von Johannes Messner wieder herausgearbeitet. Er hat erneut auf die fälschliehe Dichotomisierung der Ethik in Erfolgs- und Gesinnungsethik hingewiesen und eben mit Messner auf das aristotelische Verständnis der teleologischen Ethik verwiesen und auf die heute durch einige Autoren betriebene mißverständliche Verwendung dieses Begriffs im konsequentialistischen Sinn, der Deontologie gegenüberstellend, dabei die Naturrechtsethik als deontologisch bezeichnend. Damit ging aber diesen "teleologischen" Strömungen der Ethik heute 61 die universelle ontologische Basis für ein ethisches allgemeines Kriterium und folglich auch für den Gemeinwohlbegriff verloren. 62 McNellis stellt aber Messners Verdienst für das bessere Verständnis des Gemeinwohlbegriffs heraus, was auch Wolfgang Schmitz und Alfred Klose in ihren Beiträgen in diesem Buch tun. Sie berufen sich vor allem auf das wichtige Buch Messners, Das Gemeinwohl: Idee, Wirklichkeit, Aufgabe. 63 60 The Familiy and the Analogy of Gratitude, The Role of the Family in Johannes Messner's Thought, dissertation, Boston 1993, 73 ff. 61 Gegen solche Richtungen in der Moraltheologie hat die Enzyklika Papst Johannes Pauls II. Veritatis splendar (1993) schwere Bedenken erhoben! 62 Bedauernde Stimmen dazu in U.S .-Veröffentlichungen zit. McNellis, 75 (Anm. 34), u. a . Charles Taylor, Patrick Riordan und Alasdair Maclntyre.

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Schmitz tut dies freilich, indem er Messners Begriff des Allgemeininteresses nicht auf das von diesem explizite dargelegte ethische Kriterium des menschlichen Interesses bezieht. Für Messner ist Interesse nämlich eindeutig ein Wertbegriff und hat Sinnbezug. Das Einzelwohl bedarf nicht erst einer Einordnung in das AllgemeinwohL Der Mensch ist ebenso Einzelwesen als auch gesellschaftliches Wesen, er ist immer ein Kulturwesen, das mit seinem Eigeninteresse das Gemeinwohl einbinden muß. Das Gemeinwohl geht auf sein ethisches Gemeinwohlbewußtsein ebenso ursprünglich zurück, wie das Eigenwohl seinem Gewissen einsichtig ist. Also erfährt sein Interessengewissen Einzel- wie Gemeininteresse gleicherweise normativ als Ordnungsaufgabe. 64 Das wohlgeordnete Eigeninteresse ist daher als Einzelwohl immer mit dem Gemeinwohlkraft der Naturordnung durch die Stimme des personalen Gewissens verbunden, also durch Einsicht in das Menschsein. Es gibt keinen Konflikt zwischen einzelmenschlicher und gesellschaftlicher Sittlichkeit, der nicht durch das sittliche Kriterium vom Sinnziel menschlicher Existenz her lösbar wäre. Die menschliche Vernunft ist nach der Tugendethik nicht allein durch rational-logisches Vorgehen auf Sachgüter gerichtet, sondern auf ein Gesamtgutes im Sinne eines Sollens. Dieses sittliche Gesamtziel wird durch Wertestreben auf Teilziele menschlicher Existenz vermittelt. Johannes Messners Begriff der existentiellen Zwecke ist geeignet, diese Vermittlung durch die Betonung innerer Erfahrbarkeit, verbunden mit den tatsächlichen empirischerfaßten Lebensverhältnissen induktiv richtig und zugleich von allgemeiner sittlicher Gültigkeit zu erweisen. Durch die anthropologische Grundlegung des Guten in der menschlichen Natur als naturgemäß und so als Streben nach dem Guten, durch diesen Eudämonismus der Tugendethik, ist das allgemeine Gute nie nur formelle Pflichtethik und auch nie nur Ergebnis utilitaristischer Abwägung, sondern hat immer sozialen Gemeinbezug wie ebenso den Bezug auf die menschliche Person als Einzelwesen. Damit ist ebenso die dementsprechende Richtigkeit menschlichen Verhaltens in den Sachbereichen menschlicher Lebensgestaltung angesprochen. Das menschlich Gute ist das Gute des Menschen und das Gute für den Menschen. So formuliert es McNellis65 unter Berufung auf Johannes Messner 5 6 und Robert Spaemann. 67 63

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Osnabrück 2 1968.

A. a. 0., 23. Vgl. a . a. 0., 76.

66 Im "Naturrecht", a . a . 0 ., 73 f. schreibt Johannes Messner: "Die Naturrechtsethik ist ... eudämonologische Ethik. " Die endgültige Erfüllung des Glückstriebes nach der Triebkonstitution, den existentiellen Zwecken des Menschen sei in seiner Natur grundgelegt, dem sittlichen Naturgesetz. Es verlange nach dem Guten für den Menschen, ist nicht durch "ein Gut für den Menschen unter anderen" erfüllt. 67 Glück und Wohlwollen: Versuch über Ethik, Stuttgart 2 1990.

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Der Schlüssel zur erfahrungsnahen Einsicht in diese Verbindung von Vernunftnatur des Menschen und Sozialnatur (zoon politik6n) nach Aristoteles ist für Messner darin zu finden, "daß der Mensch zuerst und vor allem ein Familienwesen ist. " 68 Die Interessenharmonie ist im Menschen grundgelegt, durch seine Vernunftnatur vermittels der Erfahrung, beginnend in der "Urerfahrung" in der Familie. 69 In der Familiengemeinschaft gilt nicht das Gesetz biologisch gelenkter Überlebenstriebe, das "Gesetz der Horde", sondern es entsteht menschliche Sitte und Kultur gemäß der Vernunft. "Ihre natureigenen Triebe der Liebe, der Achtung, der Sorge füreinander sowie der natureigene Trieb zum Streben nach dem eigenen Wohl und dem dieses bedingende Wohl des Ganzen zu einer Gemeinschaftsordnung" ließen das Naturrecht als "Existenzordnung" erleben, also mit Rechtsinhalten und deren Geltung in einer Vorrangordnung. Da das Naturrecht nicht schon eine festgefügte Ordnung darstellt, sondern nur Ordnungsprinzipien, zeigt sich ein weiter Bereich von Schlußfolgerungen daraus, eröffnet sich in ihrer Anwendung der Bereich der "guten Sitten" und der positiven Rechtsordnungen. Das bedeutet auch Fehlbarkeit von sittlichen Gebräuchen und Rechtsentwicklungen, aber auch von Konfliktmöglichkeiten mit der sittlichen Ordnung im einzelmenschlichen und sozialen Bereich, da alle sittlichen Akte vom freien Willen ursächlich ausgehen und daraus letztlich ihre sittliche Verantwortlichkeit und Qualifikation erfahren. Woher kommt also das "wohl geordnete Eigeninteresse", das vom Einzelwohl das Gemeinwohl mitbedenkt? Aus der Existenzordnung des Menschen als "Naturordnung", aus dem Sittengesetz, das durch das jeweilige Gewissen der Individuen die Ordnung für Einzelmensch und Gesellschaft erlaßt. Darum ist das Gewissen auch als Interessengewissen des Menschen immer auch Sozialgewissen und Rechtsgewissen, das Soziale hingegen immer auch als Ordnungseinheit verstanden schon vor allen Versuchen, diese Einheit erst rational zu konstruieren oder gegebene Verfassungen völlig zu verändern und neu zu konstruieren. Gesellschaft vom Einzelmenschen her ausschließlich rationalistisch instrumental oder prozedural aufzufassen- sei es nach individualistischem oder kollektivistischem Utilitarismus - übersieht die Grenze der Verfügbarkeit des Menschen über seine Natur. Die für das Einzel- wie das Gemeinwohl entscheidenden Tugenden entsprechen immer Persönlichkeitswerten, die individuell in der Familie Das Naturrecht, 308. Johannes Messner, a. a. 0., spricht von einer "allgemeinmenschlichen Wirklichkeit", einem empirisch-historischen Zugang zum Naturrecht, der sich in allen uns bekannten Völkerschaften findet und so zur Einsicht in die elementaren sittlichen Prinzipien (Naturrechtsprinzipien) führt. Er nennt diesen Weg der Naturrechtserkenntnis "induktiv-ontologisch" als Verbindung von Seinseinsicht (Metaphysik) mit induktiv-analytischen Erkenntnisvorgängen und folglich deren Anhindung an das Naturgesetz und den Willen Gottes (Theologie). 68

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grundgelegt sind. Liebe ist ein Grundgut menschlicher Existenz, auch wenn wir Richtungen der Liebe nach Selbst- und Nächstenliebe unterscheiden, aber nicht vom Ansatz her trennen können. Das Leben in der Liebe braucht das Individuum wie die Gesellschaft, für beide muß sie gelernt und als Tugend auf Werte hin entfaltet werden. Ebenso ist es mit der Gerechtigkeit, ob sie individuell oder sozial wirksam ist und auf einzelmenschliche oder soziale Beziehungen gerichtet ist. Die von den Kommunitaristen für die Kultur der Moderne geforderte Rückkehr zur Tugend zeigt diese eindeutig als Voraussetzung, um das ethische Potential des Menschen wieder für die gesellschaftliche Kultur zu reaktivieren. Zugleich zeigt sich im Blick auf die Familie diese als grundlegende Ordnungseinheit, verstanden als Gemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern. Der Ausfall einer naturrechtliehen Familienkultur, bzw. deren Erneuerung erscheint so als der kritische Punkt gesellschaftlicher Kultur überhaupt, also besonders auch heute. Erst mit und nach der Rückbindung des Ethischen an sittliche Wahrheit, an die Existenzordnung des Menschen, vermittels seiner Vernunft als dem ihm als Individual- und Sozialwesen Gemäßen, ist der Mensch verwiesen, das jeweils Zweckdienliche in seinem Verhalten unter dieser letzten Zweckbestimmung gemäß der "Natur der Sache" anzustreben, also in Sachrichtigkeit. 70 Die Sachgesetze menschlichen Verhaltens sind demnach zwar empirisch erfaßbar, aber in der Anwendung nicht "autonom" im Sinne von Wertfreiheit und von sittlicher Neutralität. Sie dienen den sittlichen Zielen und Werten und müssen gemäß ihren Eigengesetzlichkeiten aber in der jeweiligen Befolgung untereinander zur Übereinstimmung gebracht und nach der sittlichen Grundordnung eingesetzt werden. Die Übereinstimmung von sittlicher mit sachlicher Richtigkeit ist daher nur von beiden Seiten her, von den Sachgesetzen wie ebenso von der sittlichen Ordnung her durch die Vernunft zu betreiben. Die entscheidende Rolle kommt dabei vermittels des freien Willens der sittlichen Vernunft oder dem Gewissen zu! 71 70 Johannes Messner erlaßt dies durch die "existentiellen Zwecke". Ähnlich Messners Ansatz beim Zugang über die Erfahrung gelangt Robert Dubin ausgehend von der Erfahrung der Selbstrealisierung des Individuums in Handlungen und Werten(!) in seiner soziologisch und psychologisch vorgenommenen Betrachtung zu "zentralen Lebensinteressen", die ihm eine originale und intuitive Erforschung (perceptive exploration!) der Verbindungen zwischen Personen und Gesellschaft anzeigen. Er bezeichnet dies noch als "kreativen" Individualismus, verweist dabei aber auf die auch ideell gewachsene "Position" des modernen Bürgers gegenüber industriellen und kommerziellen Institutionen in einer komplexen Welt. Vgl. sein Buch Central Life Interests, Oxford 1992. 71 Die Eigengesetzlichkeiten des wirtschaftlich Sachrichtigen sind allein schon dadurch begrenzt, daß die jeweiligen Sachziele in ihrer Verwirklichung nicht an sich harmonisch zueinander stehen, sondern wieder der politischen Abstimmung bedürfen, entweder nach einem sittlichen Kriterium oder letztlich pragmatisch-willkürlich. Erinnert sei an das sogenannte "magische Vieleck" der wirtschaftspolitischen Teilziele.

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Die Sachwirklichkeit des Wirtschaftlichen ist Teil des Menschseins und daraus folgt die Aufgabe, sie in allen ihren Bezügen immer besser zu erkennen. Sie kann nicht an sich im Widerspruch zur sittlichen Ordnung, zum Guten für den Menschen stehen, sie bleibt auch im volkswirtschaftlichen Sachzusammenhang immer auf die sittliche Endbestimmung ausgerichtet. Sie hat aber ihre Eigengesetzlichkeiten, die es zu erkennen und zu wahren gilt, will man das sittliche Ziel erreichen. Darin besteht die Aufgabe der Wirtschaftsethik, mit dem wirtschaftlich Richtigen das sittlich Gute zu erreichen, das Böse zu meiden. Dies richtet sich nach dem Kriterium des Guten in seiner Anwendung auf die Sozialwirtschaft gemäß der Sachrichtigkeit unter Wahrung der sittlichen Bestimmung des wirtschaftlichen Handelns als Kulturaufgabe. Der Mensch bleibt so gemäß seiner Natur aber als verantwortlich mit seinem freien Willen, auch im Ablauf der Institutionen, Handelnder. Der Rückgriff auf eine nicht näher bestimmte Wirksamkeit oder Mechanik außer dem Bewußtsein des Menschen wird so in der Sozialwirtschaft nicht in Anspruch genommen und eine reduktionistische Ethik vermieden. In einem treffenden Bild beschreibt Philip Pettit7 2 unter Hinweis auf die ordnende Kraft menschlichen sittlichen Bewußtseins im personalen wie sozialen Geschehen dies als die Wirkung der "intangible-hand" (Unfaßbare Hand) zum Unterschied von Smith' "invisible-band". lll. Die Kultur der Interessen in der Wirtschaft

Die methodische und zumeist auch anthropologische Verkürzung der Wirtschaftsethik auf den Einzelmenschen als Subjekt der Wirtschaft und deren Lenkung dann durch Institutionen verstellt auch Kritikem der modemen marktwirtschaftliehen Ordnungen den Blick zum adäquaten Verständnis der wirtschaftlichen Sachgesetze. Daher kommt es bei der Suche nach einer "solidarischen" und "ethischen" Wirtschaftsgesellschaft entgegen dem rein empirischen instrumentellen Denken zur "Sehnsucht nach der Schönen neuen Welt". 73 Entscheidend in der Auseinandersetzung um den realistischen Weg zur gerechten Wirtschaftsordnung ist in Wahrheit die Frage nach dem Kriterium der Sittlichkeit, das geeignet ist, wirtschaftliche Richtigkeit mit sittlicher Ordnung zu verbinden, das Sollen auf dem Sein aufzubauen oder The Common Mind, An essay on psychology, society and politics, Oxford 1993. Herwig Büchele beschrieb seine Sozialutopie unter diesem Titel (Wien 1993). Schon in seinem o. a. Buch, Christlicher Glaube und politische Vernunft, 129, setzt er sich für eine "Kontrast"gesellschaft ein. Sie sei "Chance zur gemeinsamen Freiheit" , der "einzig realistische Weg". 72 73

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die Instrumente und Mittel des Wirtschaftlichen auf das Ziel menschlicher, gesellschaftlich-kultureller Vollentfaltung auszurichten.

1. Das Kriterium der Sittlichkeit in der Wirtschaft Das Ziel der Wirtschaft ist der Mensch, da er die Deckung seiner Bedürfnisse nur durch wirtschaftliches Handeln erreichen kann und dazu auf den Mitmenschen verwiesen ist. Nur so kann er seine Lebensziele auch erreichen. Die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten entstehen auf diese Weise und sind keine Automaten. Ebensowenig hört der Mensch im Wirtschaftsprozeß und also auch in der Wirtschaftsordnung auf, ein sittlich verantwortliches Wesen zu sein, auch wenn er sich mit seinem Willen vernünftigen Regeln in der Gesellschaft unterwirft. Ja, er ist sogar angewiesen, diese zu seinem Vorteil- auch im Blick auf andere! -zu verstehen und zu gebrauchen. Ein solches allgemeines Kriterium der Sittlichkeit muß vor allem seine Eignung erweisen, auch im Bereich der Wirtschaft, in der sozialen und einzelmenschlichen Dimension, Maßstab zu sein für die Übereinstimmung der Handlungen mit der Seinsbestimmung des menschlichen Lebens im besonderen und im allgemeinen. Dieses kann nur über den Weg der Erkenntnis aus dem eigenen Bewußtsein in Verbindung von Lebenserfahrung mit intuitiver Einsicht erfolgen. Für die traditionelle Ethik ist es das gute Leben als Glückserfüllung, als Ziel. Der Weg dahin geht über die Tugenden. 74 In Erneuerung der Tugendethik wäre daher mit kommunitaristischen Ethikern der Weg zur Überwindung des Atomismus der Moderne die Weckung für die Sinn- und Zielfrage bei den Einzelnen. 75 Diese Herausforderung auf Ziele hin läßt sich aber auch durchaus empirisch auffassen. Ziele müssen der Vernunft vorgegeben sein, die nie im egoistischen Sinn autonom sein kann, soll sie den Zielen verbunden bleiben und sie nicht selbst geschaffen haben! So ist der induktiv-ontologische Weg über die Untersuchung der von Johannes Messner 76 so genannten existentiellen 74 Dieser Weg zeigt sich schon in der Doppeldeutigkeit des Wortes Int eresse: Einmal steht die verstandesgemäße Zuwendung des Willens als Interessenahme und damit das Gute im Vordergrund. Das andere Mal ist das Interesse als Ziel des Begehrens, zur Erlangung eines Wohlbefindens im Vordergrund. Die intellektuelle Seite der Interessenahme spricht die Vernunft in ihrer Öffnung auf Wahrheit an, die andere gefühlsmäßig den Standard des sinnlichen Begehrens. Der Mensch aber sucht doch nach einem objektiven Kriterium seiner Interessen. Vgl. zu diesem Gedanken John Finnis, Fundamentals of Ethics, Oxford 1983. 75 Vgl. inbes. die Publikationen von Charles Taylor und seine wiederholten Bezüge auf Alasdaire Macintyre. 76 Vgl. insbes. sein Naturrecht, a. a. 0., 40 ff.

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Zwecke als Zugang zur Bestimmung des Kriteriums der Ethik bestätigt. Diesen Zugang kurz im Blick auf die Erfordernisse einer Wirtschaftsethik zu gehen, soll hier herausgestellt werden. Die Sicherung des Lebens- und Kulturbedarfs des Menschen ist ganz offensichtlich durch den Mangel an wirtschaftlichen Gütern bestimmt, so daß es zum wirtschaftlichen Handeln als Kooperationsvorgang auf jeder Stufe der Entwicklung der Wirtschaft kommt. Wirtschaftliche Kooperation wieder ist nur als sozialer Tauschvorgang in der Regel denkbar, der auf dem Markt - als gedachter Institution wie jeweils auf realen Teilmärkten - sich unter Menschen vollzieht, wobei eine völlige Trennung von Richtigkeit und Sittlichkeit nicht möglich ist. Die sittliche Kultur der Beziehungen erfordert eine optimale Funktionstüchtigkeit der Institutionen zum gesetzten Ziel, wobei die Menschen, die sich der Institution bedienen, diese durch Einsicht in Ordnung und folglich durch ihren Ordnungswillen benützen müssen. 77 Auch eine Teilverwirklichung der Zielsetzung bei der Funktionserfüllung ist ein sittliches Ergebnis und hängt von Zielsetzung und vom Gebrauch her von den Menschen ab, die sich des Instruments sowohl ethisch verantwortlich wie sachgemäß bedienen. Die traditionelle Wirtschaftsethik hat vom allgemeinen Kriterium der Sittlichkeit her immer daran festgehalten: in oeconomicis oeconomice!

2. Interessenkultur und Institutionenmoral Das ethische Kriterium nach den existentiellen Zwecken erscheint in der Lage, die Widersprüche zwischen einzelnen Interessen und den für alle Menschen gleich wesentlichen bedeutsamen Wesenszielen und Antrieben in einem Gesamtinteresse zum Einklang zu bringen. Recht verstandenes Interesse hat daher in sich moralische Qualität und bedient sich der gesellschaftlichen Institutionen. Wobei eine Institution, immer mit der Grundverfassung des Menschen als individuelles und soziales Wesen verbunden ist, also mit den naturnotwendigen Kooperationsverfahren des Interessenaustausches. So ist der Markt nicht erst mit der wirtschaftlichen Ordnungsannahme einer Tauschgesellschaft entstanden durch die Konkurrenz von Subjekten zur Interessenbefriedigung. Er hat eine grundlegende soziale Ordnungsaufgabe und bedarf demnach immer erst im sozialen Leben seiner situationsgebundenen, historischen Verwirklichung. Markt und Konkurrenz sind daher nie zuerst a-ethisch, die Marktgesetze sind von der Sozialnatur des Marktvorganges her sachgesetzlich ebenso wie vom Ziel der Menschengemäßheit her - also teleologisch-ontologisch! - auf das Gute hin be77 Vgl. Rudolf Weiler, Interessenkalkül und moralisches Prinzip, in: Festschr. für Anton Rauscher, hrsg. von Norbert Glatzel und Eugen Kleindienst, Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, Berlin 1993, 673-684.

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stimmt. Insoferne könnte man von einer Sozial-Metaphysik aller Kooperationsvorgänge - z. B. des Marktes - sprechen. Von der Persönlichkeitsethik her handelt es sich beim Marktverhalten des Menschen immer auch um Tugendverhalten, also um sittliche Wertbestimmung der Akteure am Markt. Dadurch, daß dieses Verhalten nie reine private Entscheidung aus individuellem Nutzen oder Interessenkalkül ist, ist Moral immer als Faktor in der Wirtschaft nicht nur als individueller, sondern immer auch als gesellschaftlicher Vorgang erhalten. Daraus erst erwächst die Möglichkeit der Institutionenethik. Überdies ist auch in der Markttheorie leicht zu erkennen, daß es vielfach nicht nur Einzelinteressen sind, die den Markt aufbauen, sondern in Haushalten verbundene Menschen oft gemeinsam auftreten, von der Familie bis zu einem ganzen Volk. Nicht umsonst hat heute die Business Ethics nach einer Zeit der pragmatischen Orientierung zuletzt stärker zur Theorie und kritischen Sicht der Praxis - auch unter Einfluß schlechter Beispiele in der Wirtschaft als ethisch zu verurteilende Praktiken!- die ethische Qualität im wirtschaftlichen Prozeß wieder stärker beachten gelehrt. Diese Rückkehr zum sozialen Wertbezug in der Wirtschaftsethik gerade in der japanischen Diskussion heute entnimmt der Verfasser einer Reihe von Beiträgen, die ihm gedruckt in einem Tagungsbericht aus 1991 von der Tokyo Conference on The Ethics of Business in a Global Economy unter dem gleichen Titel vorliegen. 78 Überhaupt hält die Tradition der Ethik im ostasiatischen Denken, z. B. besonders in Japan, an einer universellen Moral und sittlichen Wahrheit auch heute viel stärker fest als das westeuropäisch-amerikanische Denken. Schon die Begründer des Konfuzianismus bis zu dessen Vertretern heute und die moralische Praxis in diesen Ländern kennen durchaus außer Gleichheit und Freiheit der Individuen die sozialen Bindungen, in der Familie etwa, aber auch im wirtschaftlichen (betrieblichen!) Leben wie in der Moral überhaupt. 79 Neben der Bedeutung der individuellen Freiheit und Gerechtigkeit hat heute die Besinnung auf die Gründe der Gleichheit aller Menschen und die sozialen Rechte, insgesamt die soziale Gerechtigkeit, neue Aktualität erlangt. Nicht nur in der Wirtschaft stellt sich die Frage des Interessenausgleichs, auch im politischen Leben als Kulturfrage und Überlebensfrage der Demokratie, mehr als nur eine Frage der Methode der Machtkontrolle. 78 Copyright by the Institute of Moralogy, 2-1-1, Hikarigaoka, Kashiwa-shi, Chiba-ku, 277 Japan. 79 Darum mehren sich heute die kritischen Stimmen zum Individualismus auch in Europa, da er in seinen Folgen für dessen Zivilisation als existenzbedrohend angesehen wird. Dem Individuum würde jede erdenkliche Hilfe zuteil, die Gesellschaft aber drohe zu verarmen und buchstäblich auszusterben. Das wäre der Untergang der westlichen Kultur. (Vgl. Meinhard Miegel, Stefanie Wahl, Das Ende des Individualismus, Die Kultur des Westens zerstört sich selbst, München 1993.)

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3. Markt und Demokratie als Instrumentarien der interessenpluralistischen Gesellschaft Wo immer im sozialen Interessenspiel keine objektive und normative Basis anerkannt wird, stellt sich die Gefahr des Pragmatismus und folglich der Interessenwillkür. Freier Markt wie ebensolche formale Demokratie bedürfen einer Rahmenordnung zur Erhellung des Spiels der Interessen einzelner, deren Durchsetzung ständig durch andere bedroht ist, wobei Machtausnützung Einzelner immer auch zu Gruppenmacht führt. Dieser Gruppenpluralismus zeigt nun im Bezug auf die Interesseneinbindung ein gespaltenes Bild ebenso wie das individuelle Selbstinteresse in Spannung zum Allgemeininteresse steht. Die Wahrung von Gruppeninteressen kann auch ein positiver Beitrag für die gesellschaftliche Kooperation sein, nicht nur kontraproduktiv und konfliktträchtig. Im Sozialen ist die Wirkung des menschlichen Handelns immer eine Vervielfachung, die durch Addition der Einzelbeiträge nicht auszudrücken ist. Das Allgemeininteresse als Summe der Einzelinteressen ist nur nach einer besonderen empirischen Schätzung unter Annahme eines Sozialzweckes zu ermitteln. Die Frage ist jedoch, welche Annahmen einen solchen Charakter haben, der sie als im sittlichen Sollensrahmen befindlich legitimiert, und also dieser Rahmen unter Einschluß aller Erfahrung konstitutiv für menschliche Gesellschaft ist. Die traditionelle Sozialethik spricht von natürlichen Gemeinschaften, die der Sozialnatur des Menschen wesensgemäß entsprechen neben freien Vereinigungen individueller Einzelwesen. Die Annahme eines solchen "freien" Sozialzwecks ist konstitutiv willkürlich vom Vertragswillen der einzelnen Glieder abhängig, soferne er nicht gegen die Sittenordnung verstößt. Ebenso verhält es sich mit der Rahmenordnung sozialer Beziehungen, wenn ihr Zweck auf freier Übereinkunft beruht. Der rein pragmatische Ordnungsweg im Sozialen mit der Vielfalt der Gesellungsformen ohne einen anderen Bezug als freie vertragliche Vereinbarungen bedeutet hingegen die Annahme der Anarchie der Interessen bzw. deren pragmatische Selbstregelung. Die spontan entstehenden Ordnungen nicht tiefer nach ihrem Sozialzweck zu untersuchen, ist eine Vereinfachung, die nicht nur einen rationalen Erkenntnisbereich zumindest vernachlässigt, sondern mit der ethischen Erfahrung auch den Bereich der Erfahrung des gesellschaftlichen Pluralismus insgesamt reduktionistisch allein vom Individuum und seinem auf Nutzen gerichteten Verhalten ableitet, damit aber gegen die soziale Grunderfahrung des Menschen steht. Das andere pragmatische Extrem wäre eben die kollektivistische Lösung, die im öffentlichen Bewußtsein angesichts des Scheiteros des Kommunismus in dieser Form als Irrweg erscheint. Der Ausfall einer Gemeinwohlethik ist aber bei beiden Formen des Pragmatismus festzustellen. Nur die

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Erkenntnis des Gemeinwohlbezuges der menschlichen Interessenanlage wurzelhaft beginnend mit dem individuellen Interesse der Einzelperson und seiner wesenhaften Gemeinwohlorientierung auf objektive Solidarität hin -begründet einen bis zum Weltgemeinwohl durchgehenden Interessenpluralismus des Menschen als Sozialwesen. Das bedeutet nun nicht einen automatischen Interessenausgleich nach einer wie immer festzustellenden Formel, sondern beginnend im Gewissen der Einzelperson zugleich als Sozialgewissen eine Tugendaufgabe, Ausgleich und Ordnung in den sozialen Beziehungen zu schaffen, hier insbesondere soziale Liebe als Grundlage zu schaffen und soziale Gerechtigkeit normativ zu gewährleisten. Das heißt konkret aber, neben der entsprechenden Gesinnungsarbeit für den Wirtschaftsethiker, zugleich die institutionelle sachrichtige Lösung der politischen und vor allem näherhin volkswirtschaftlichen Fragen der Interessenordnung zu betreiben, soll Ethik nicht bei Appellen an das Gewissen im allgemeinen und in Individualethik angesichts ungerecht erscheinender Verhältnisse stehen bleiben. Die aus der empirischen Beobachtung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten in der systematischen Untersuchung der Ökonomie, insbesondere unter Zuhilfenahme der Ordnungs- und Institutionentheorie, hat allerdings heute auch viele neue Erkenntnisse gebracht und hohe Brauchbarkeit erwiesen. Ordnungsfragen des Sozialen stellen sich ja im einzelnen irruner konkret. Daher müssen ethische Entscheidungen sachlich vorbereitet werden, um zur konkreten Entscheidung bei jeder Interessenwahrnehmung zu gelangen. Diese Entscheidung beruht aber immer auf Sachkompetenz wie ebenso auf sittlicher N ormeneinsicht. Dabei ist es nicht so, daß die Sozialwissenschaften heute trotz ihres Erkenntnisfortschritts ein fertiges Modell von Lösungen parat hätten und Markt und Demokratie wie Rezepte einfach zu verschreiben wären. Die von ihnen entwickelten Theorien, Muster und Regulierungen des Gesellschaftlichen richten sich zwar auf Institutionen. Deren abstrakte Sicht muß im Konkreten aber erst Gestalt annehmen, der Markt z. B. in Teilmärkten; die sozialen "Rollen" müssen erst gelebt werden. Es kommt darüber hinaus irruner auch zu Mischformen unter Anwendung von Typologien. Die Aufgabe einer sozialen Kultur oder Kultur der Solidarität bleibt in jeder Gesellschaft aus Erfahrung unbestritten. Neben der Tätigkeit von "Instanzen des Sozialen" - im gesellschaftlichen Pluralismus vom Staat bis etwa zu korporatistischen Organisationen in der Wirtschaft, von Parteien in der Politik - gilt es, das gesellschaftliche Bewußtsein, getragen vom Gewissen jedes Bürgers und seines Interesses mit seinen speziellen Interesseneinbindungen zu beachten. 80 80 Eine Studie zur Sozialen Marktwirtschaft spricht treffend von einem "adäquaten marktwirtschaftliehen Denken", das die Orientierung auf die notwendigen

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4. Die Gemeinwohlordnung in der Wirtschaft als Erfüllung der sozialen Gerechtigkeit Die Institutionentheorie in der Wirtschaft hat zur besseren Erkenntnis des Funktionierens der Institutionen daselbst wesentlich beigetragen. Die weitere Zuwendung zu diesem Thema in der Institutionenethik sollte aber nicht allein bei der Nutzung der Rahmenbedingungen der Institutionen, gleichsam zusätzlich aus sittlicher Sicht, stehen bleiben, sondern die Brükke zur Prinzipienethik schlagen als spezielle Ethik in der Wirtschaft, statt sich von den sittlichen Grundfragen losgetrennt, "autonom" zu erklären. Institutionenethik ersetzt nicht, sondern wendet ethische Prinzipien in der Wirtschaft an. Das besagt nicht die Eitelkeit des Ethikers, mehr von der Wirtschaft zu verstehen, keine "Anmaßung des Wissens", von der Friedrich August von Hayek im Blick auf den staatlichen Entscheidungsträger für die Wirtschaftspolitik spricht. 81 Der Markt und auch die Demokratie sind nicht letztes Erkenntnisinstrument für soziale Entscheidungen, die Institutionen damit nicht letzte Rückgriffmöglichkeit für soziale Regulierungen, weil eben die Organisationsfähigkeit des Menschen, Institutionen zu schaffen, letztlich auf den Zweck derselben zurückgeht. Ihr rechter Gebrauch aber ist für den Menschen individuell und sozial gesehen - ethisch bestimmt. 82 Es ist der Mensch, der sich der Institutionen oder auch Strukturen gemäß seiner Erkenntnis und Vernunft bedient! 83 Die Frage stellt sich freilich, ob es der Mensch heute nicht in seiner größeren Zahl vorzieht, sich den Institutionen zu unterwerfen, statt sie kritischer Reflexion mit politischer Wirkung zu unterziehen. Bewußtseinsänderungen impliziert. Hrsg. von Beigewum, Vom ,obsoleten' zum "adäquaten" marktwirtschaftliehen Denken, Marburg 1992. 81 The Fatal Conceit, Oxford 1988. 82 Jede Ordnungspolitik steht vor der Frage des richtigen Einsatzes der Freiheit, nach dem Maß der Gerechtigkeit das Ziel zu erreichen. Der sittliche Gebrauch der Freiheit ist immer nach dem inneren sittlichen Maß der personalen Menschenwürde und deren Rechte und Pflichten individuell und sozial bestimmt. Der individualethische Ansatz braucht in der Gesellschaft immer auch ein allgemeines Kriterium der Moral! Um den ethischen Zugang zum Mitmenschen im Sinne objektiver Moral kommt letztlich keine noch so individualistische Sozialtheorie als Ordnungstheorie herum. Sie kann diese Frage immer nur vorläufig unbeantwortet lassen und vernachlässigen. 83 Vgl. den falschen Ansatz zur Sozialreform allein bei den "Strukturen" und die Schuldzuweisung an den "Kapitalismus" bei bestimmten Richtungen der Befreiungstheologie. Hier wird ein vermeintlicher soziologischer Sachverhalt aus moralischen Gründen kurzschlüssig ideologisiert. Ebenso könnte man aus einer reduktionistischen Wirtschaftsethik die Sachgesetze als unbestechlich interpretieren, so als ob die Gesetze des Marktes nie zu Unrecht mißbraucht werden könnten. Vgl. Raul Fornet-Betancourt (Hrgs.), Verändert der Glaube die Wirtschaft?, Theologie und Ökonomie in Lateinamerika, Freiburg 1991.

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Diese Frage als Herausforderung begleitet die Geistesgeschichte, seit sie sich der Naturrechtsfrage in der griechischen Antike offen gestellt, insbesondere auch durch den Universalanspruch christlicher Moral. Die Frage wird wieder durch jene Richtungen zur Seite geschoben, die sich von der Modeme durch die Fortschritte der empirischen Anthropologie bestätigt fühlen und die Naturrechtsethik unter Ideologieverdacht stellen, die Gerechtigkeitsfrage als Mythos für naiv erklären und sie einfach als eine Zeitströmung abtun. 84 Das soziale Gerechtigkeitsdenken in der Wirtschaftsgesellschaft mit ihren weltweiten wie ebenso kleinräumigen Verteilungsproblemen als im letzten unrealistisch und unbeantwortbar in den wechselnden Verlauf der moralischen Diskussion abzuschieben, erscheint angesichts historischer Erfahrungen mit blutigsten Konflikten und gewaltigen kulturellen Krisen dennoch als blasser Rationalismus, als Spiel mit Markt und Demokratie. Das Potential der Interessen, wenn es vom Willen fehlgeleitet und zum Machtwillen von Großgruppen vereint wird, kann selbst ein "Weg zur Sklaverei" werden. Die Frage besonders nach sozialer Gerechtigkeit bei der Interessenwahrnehmung zu stellen, ist daher immer aktuell und von großer kultureller Bedeutung. Mit der Frage nach der Universalisierbarkeit des Maßes auch des individuellen Interesses geht das ethische Maß der Gerechtigkeit allgemein über die Vertragsgerechtigkeit hinaus. Der rein individualistische empirische Ansatz des Gerechtigkeitskalküls bleibt immer ein Hilfskriterium. Der tugendethische Ansatz aber führt zu einem überindividuellen Seinsziel, dessen Wirklichkeit über das empirisch Faßbare hinaus zu einem evidenten Rückschluß der Vernunft aus rationalem Vorgehen und Willensentschluß auf das Du hin, den Mitmenschen und sein wesenhaft gleiches Interesse führt. Das bedeutet gleichermaßen ein Gemeinwohlinteresse. Damit ist die Abstimmung der sozialen Gerechtigkeit auf das Gemeinwohl (in seinem Stufenbau) auf die Vernunft und den guten Willen in Sonderheit entscheidend verwiesen. Ob der Mensch das heute in Gemeinschaft genügend kann, also die Stimme der sozialen Gerechtigkeit auch in den Großbereichen der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bis zum Weltniveau - abgesehen vielleicht von den Kleingruppen - ist die Frage. Sie hängt tatsächlich von der Erfahrbarkeit der Verhältnisse und deren gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen ab. Daher ist die Antwort auf diese Frage zwar grundsätzlich im sittlichen Kontext offen, Wagnis der Entscheidung zum Guten oder Bösen. Für die Institutionenethik bleibt dies 84 Vgl. den Artikel von Panayotis Kondylis, Wider die universale Ethik, Ist der einzelne so vernünftig, wie die Kommunikationstheorie es möchte?, in: FAZ vom 12. 2. 1992.

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an der Weggabelung zu Freiheit oder Knechtschaft nach ihrem empirischen Instrumentarium allein nicht entscheidbar, auch wenn sie für Freiheit, aber ohne Wertbezug, optiert hätte, angesichtsdes Risikos Mensch als sittliches soziales Wesen. Die neoaristotelische Richtung der kommunitaristischen Ethik ist sich durchaus gegen den Strom modernen Denkens und individuellen Interessenkalküls der Schwierigkeit einer Universalistischen ethischen Argumentation bewußt und sucht mit ihren Argumenten den Blick auf Zeugnisse des inneren Bewußtseins des Menschen zu schärfen, um diesen Zugang zu sittlicher Evidenz und Tugend aus der unerforschten pluralistischen Natur der modernen Gesellschaft wieder zu öffnen. 85 Es geht ihr um eine adäquate Basis für ethische Ontologie in der Auseinandersetzung mit der Geisteskultur unserer Zeit. Hier liegt der Verweis auf die verdienstvollen Bemühungen von Johannes Messner nahe, das allgemeine Kriterium der Sittlichkeit insbesondere als Prüfstein der sozialen Gerechtigkeit in der Wirtschaft in Verbindung mit der empirisch-analytischen Methode der Sozialökonomik handhabbar zu machen und den ontologisch-anthropologischen Grund der sozialen Rahmenordnung der Wirtschaftsgesellschaft aufzuzeigen. Vernünftiges Handeln hat immer historischen Konnex und ereignet sich in Gemeinschaft. Der Zugang zur universalen Interessenerfahrung und dessen eudämonologische Zielbestimmung wird schon unmittelbar im Erleben von Gemeinschaft zuerst in der Familie als sozialem Schoß der menschlichen Person erfahren. Warum sollte diese Erfahrung plötzlich nur egoistisch geprägt sein? Ist die instrumentelle institutionelle Nutzung dieser Erfahrung als bloßer Eigennutz wirklich so konfliktlösend und menschengerecht, wenn sie von manchen pragmatisch universalisiert wird? Gemeinwohl ist mehr als eine InteressenformeL Der Zugang dazu auch als Wohlfahrtsbegriff in der Gesellschaft wird durch das einzelmenschliche Gewissen sittlich-normativ beschritten, als das durch das soziale Gewissen geordnete Interesse. Gemeinwohl ist kein vager Begriff, wenn auch in historischer und sozialer Dimension immer Wagnis und Aufgabe des Menschen und aller Menschen. IV. Nachwort

Mit der Einbindung des Interesses in die allgemeinmenschliche sittliche Ordnung und der inhaltlich-kritischen Überprüfung durch das sittliche Kriterium an "der Hand der existentiellen Zwecke"- in bewußter Anspielung auf die Annahme einer "unsichtbaren Hand" -hat die Sozial- und 85

Vgl. Charles Taylor, a. a. 0., insbes. das Vorwort, bzw. 8 ff.

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Wirtschaftsethik ihren eigenständigen Ordnungsansatz, aber mit der Sozialökonomik bei je eigener Methode im Bezug auf dieselbe gesellschaftliche Wirklichkeit. Das bedeutet für die ethische Sicht des Gemeinwohls in der Wirtschaftsgesellschaft aber die Anwendbarkeit der sozialethischen Grundprinzipien in Verbindung mit den Sachgesetzmäßigkeiten der Wirtschaft. Dies näher auszuführen, insbesondere auch auf das Ziel sozialer Gerechtigkeit hin, auf individuelle Lebenserfüllung und soziale Wohlfahrt, bleibt Aufgabe der Wirtschaftsethik als Grundlage jeder Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik.

INTERESSE UND SOLIDARITÄT Von Johannes Schasching Interesse und Solidarität sind Grundbegriffe, die das katholische Sozialdenken seit Jahrhunderten geprägt haben. Eine besondere Aktualität aber erhielten diese beiden Grundbegriffe in dem, was man als katholische Soziallehre im engeren Sinn bezeichnet. Man kann in jeder Sozialenzyklika das Spannungsfeld zwischen Interesse und Solidarität aufzeigen und kommt dabei zu äußerst interessanten Ergebnissen. Man kann dabei vor allem feststellen, daß es in dieser Frage im katholischen Denken einen Reifungsprozeß gegeben hat, der in der Enzyklika Centesimus annus einen gewissen Abschluß gefunden hat. Ich möchte mich in meinen Ausführungen auf zwei Gedankenkreise beschränken. In einem ersten, zeitgeschichtlichen, möchte ich anhand von zwei Sozialdokumenten das Ringen um eine zeitgerechte Lösung der Spannung zwischen Interesse und Solidarität aufzeigen. Es geht dabei um den ersten Sozialhirtenbrief der Österreichischen Bischöfe aus dem Jahr 1925 an dessen Vorbereitung Johannes Messner persönlich beteiligt war. Es geht aber ebenso um die Vorbereitung der Sozialenzyklika Quadragesimaanno an der P. Oswald von Nell-Breuning SJ den Hauptanteil hatte. In einem zweiten Gedankenkreis soll eine Skizze der Enzyklika Centesimus annus versucht werden, die wie kaum ein vorausgehendes Sozialdokument der Kirche eine Antwort auf die Frage der Beziehung zwischen Interesse und Solidarität gegeben hat.

I. Das zeitgeschichtliche Ringen Eine Vorbemerkung erscheint wichtig: Weder der Sozialhirtenbrief der Österreichischen Bischöfe noch die Enzyklika Quadragesima anno verfolgten ein theoretisches Ziel. Beiden ging es um eine Antwort auf eine ganz konkrete gesellschaftspolitische Herausforderung. Sie bestand in der dramatischen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Situation Österreichs bzw. Europas nach dem ersten Weltkrieg. Sowohl Messner als auch Nell-Breuning waren davon überzeugt, daß zwei Gesellschaftssysteme das Problem Selbstinteresse und Solidarität nicht zeitgerecht zu lösen imstande waren: weder der damalige Kapitalis11 Interesse und Moral

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mus noch der damalige Sozialismus. Messner schreibt: "Weder aus dem Kapitalismus noch aus dem Sozialismus kann eine neue Gesellschaftsordnung kommen, die aus der Katastrophe herausführen könnte". Nell-Breuning sagt in seinem Entwurf zu Quadragesimaanno "Licht vom Himmel": "Die Lösung der Situation ist weder vom Kapitalismus noch vom Sozialismus zu erwarten". Die Begründung ist einleuchtend: Der liberalistische Kapitalismus war der Überzeugung, daß das Interesse von selber über den Markt zum Wohl aller führen würde und deshalb nicht der marktfremden Solidarität bedarf. Der damalige Sozialismus glaubte daran, daß die Ausschaltung des kapitalistischen Selbstinteresses durch die Kollektivisierung der Produktionsmittel auf weite Sicht zu jener Solidarität führen würde in der jeder nach seinem besten Können zum Gemeinwohl beiträgt, aber nur das beansprucht, was er nötig hat. Obwohl Messner damals unter dem Einfluß von Steinbüchel das Grundanliegen des Sozialismus "die Achtung vor der sittlichen Würde des Menschen" durchaus anerkannte, ließ er keinen Zweifel darüber bestehen, daß dieser Sozialismus die Würde des Menschen nicht hinreichend wiederherstellen konnte, weil er in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel den entscheidenden Zugang zur Solidarität sah, nicht aber in der Wiederherstellung einer partnerschaftliehselbstverantwortlichen Gesellschaft. Sowohl für Messner als auch für NellBreuning war es klar, daß für beide Systeme die Gesellschaft eine bloße "Nützlichkeitseinrichtung" darstellte. Zu dieser Skepsis gegenüber Kapitalismus und Sozialismus kam sowohl bei Messner als auch bei Nell-Breuning ein weiterer Faktor. Er bestand in einem gewissen Mißtrauen dem damaligen handlungsschwachen Parteienstaat gegenüber. Messner sagte: "Der bestehende Staat ist ein Klassenstaat, steht unter der Herrschaft der Klassen, ist aber nicht der gemeinwohlorientierte Staat". Eine ähnliche Auffassung vertrat Nell-Breuning in seinem Grundtext zu Quadragesima anno: Der gemeinwohlwidrige Klassenstaat kann nur dann wieder zu seiner eigenen Aufgabe zurückgeführt werden, wenn er sich unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips für die Wiederherstellung eines "mit wohlgefügten, in sich gefestigten Gliedern" ausgestatteten Gesellschaftskörpers einsetzt. Nur in einer solchen neuen Gesellschaftsordnung wird es möglich sein, das Eigeninteresse der Gesellschaftsglieder mit den Anforderungen des Gemeinwohles in Einklang zu bringen. Aus diesen Aussagen ergibt sich ein weiteres bedeutsames Element, das für das zeitgeschichtliche Verständnis des katholischen Sozialdenkens wichtig ist. Es besteht in einem gewissen Optimismus, daß sich aus der christlichen Tradition Bauelemente einerneuen Gesellschaftsordnung aufzeigen ließen, die über die Verkündigung der sittlichen Grundsätze hinausgingen und in die Konkretheit der Verwirklichung wiesen. Die heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen "Richtungen" des So-

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zialkatholizismus der Nachkriegsjahre gingen meist um diese Fragen. Messner ist zu diesem Zeitpunkt eher noch zurückhaltend und vertritt sehr allgemein die Meinung, daß "die Verbindung deutschen Genossenschaftsgeistes und christlicher Nächstenliebe" zwei entscheidende Kräfte in der Überwindung der Zerrüttung der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung sein müßten. Wesentlich war für ihn die Gesinnungsreform. Sie ruft zur Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung, sowohl auf Seiten der Arbeitgeber wie auch der Arbeitnehmer. Nell-Breuning geht in seinem Entwurf zu Quadragesima anno einen Schritt weiter und ist davon überzeugt, daß sich aus den "ewig gültigen Vemunftsprinzipien" der christlichen Tradition die Baugesetze einer berufsständisch gegliederten Gesellschaftsordnung ableiten ließen. Sie müßte wesentlich verschieden sein von der korporativen Ordnung der vorindustriellen Gesellschaft, aber vom gleichen Grundgesetz der selbstverantwortlichen Gesellschaft geprägt sein. Auch Nell-Breuning war davon überzeugt, daß dies letztlich nur durch die christliche Gesinnungsreform möglich sein würde. Darum erhielten die christlichen Arbeitervereine in seinem Entwurf eine zentrale Bedeutung, weil nur durch sie "jene Menschen gebildet werden konnten, mit denen die neue Gesellschaftsordnung verwirklichbar wäre". Zusammenfassend läßt sich die zeitgeschichtliche Skizze so formulieren: In den so schwierigen Jahrzehnten nach dem ersten Weltkrieg stand sowohl die Kirche Österreichs als auch das kirchliche Lehramt in Rom vor der Verpflichtung zu einem wegweisenden Wort. Es ist bekannt, daß Pius XI., so wie die Bischöfe Österreichs, bereits 1925 an eine neue Sozialenzyklika dachte. Die politischen Ereignisse in Italien veranlaßten ihn aber, sein Projekt für einige Jahr zurückzustellen. Eines der Grundthemen in dieser Suche nach dem "gebührenden Wort" war die Frage der Beziehung zwischen Selbstinteresse und Solidarität, auch wenn sie nicht ausdrücklich so formuliert wurde. Zwei Systeme boten Lösungen an: auf der einen Seite der damalige liberalistische Kapitalismus, auf der anderen Seite der damalige Sozialismus. Das katholische Sozialdenken mußte beide Systeme zurückweisen, weil sie auf einem falschen Menschenbild und einem verfehlten Gesellschaftsbild aufruhten. Die Kritik beider Sozialdokumente, des Österreichischen Sozialhirtenbriefes und der Enzyklika Quadragesima anno, war hart und eindeutig. Aber beide Dokumente lehnten das Interesse als menschliches und gesellschaftliches Grundelement nicht grundsätzlich ab. Für sie bestand die entscheidende Frage darin, wie das Selbstinteresse sozial verpflichtet eingebunden werden konnte. Die Antwort auf diese Frage war nicht leicht. Die Tatsache des bestehenden heftigen Klassenkampfes bot wenig Hoffnung auf eine Entwicklung in Richtung einer Sozialpartnerschaft. Der handlungsschwache, lP

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von Klasseninteressen und Parteihader gelähmte Staat, vermittelte ebenfalls keine Ordnungsidee. Es ist durchaus verständlich, daß das katholische Sozialdenken in dieser Situation auf ein zentrales Ordnungsprinzip der christlichen Tradition zurückgriff: das auf dem Subsidiaritätsprinzip aufruhende Baugesetz der selbstverantwortlichen Gesellschaft in dem Interesse und Solidarität wechselseitig eingebunden sein sollten. Daß die konkrete Formulierung "Genossenschaftsgeist" (Messner) und "berufsständische Ordnung" (Nell-Breuning) mißverständlich und zeitgebunden waren, ändert nichts an der grundsätzlichen Bedeutung dieser Aussage: Das Interesse ist ein Grundelement der menschlichen Existenz, aber es bedarf der bewußten gesellschaftlichen Einbindung.

ll. Eine Wegspur in das 21. Jahrhundert

Es wurde bereits gesagt: Man könnte in jedem Sozialdokument des kirchlichen Lehramtes das Spannungsverhältnis zwischen Interesse und Solidarität nachzeichnen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Aussagen der Enzyklika Centesimus annus, weil sie einen gewissen Abschluß auf der Suche nach einer zeitgerechten Antwort darstellt. Die entscheidenden Aussagen lassen sich auf drei Ebenen formulieren:

1. Interesse und Solidarität in der Wirtschaft Die Sozialenzyklika wiederholt einen Kernsatz der katholischen Soziallehre: Die Erdengüter sind für alle da. Da sie aber knapp und noch nicht konsumreif sind, müssen sie produziert werden. Damit heißt die entscheidende Frage: Wird die Zielbestimmung der knappen Güter für alle sachgerecht und menschenwürdig dann gewährleistet, wenn die Produktion einem Kollektiv übertragen wird oder wenn das Selbstinteresse wirksam bleibt? Centesimus annus entscheidet sich aufgrund ihres Menschenbildes und ihrer Gesellschaftsvorstellung für die zweite Alternative. Darum führt sie vier Bauelemente an, die das Sachziel der Wirtschaft auf menschengerechte Weise verwirklichen: das sozialgebundene Eigentum; die mit Wissen und Können und Mitverantwortung ausgestattete Arbeit; den ethisch handelnden Unternehmer und den leistungsbedingten Gewinn; den Markt. Als entscheidenden fünften Baustein führt Centesimus annus die Einbindung der vorausgehenden Elemente in die Erfordernisse des Gemeinwohles an. Das heißt mit anderen Worten: Das in den vorausgehenden vier Bausteinen wirksame Selbstinteresse führt keineswegs automatisch zur Zielverwirklichung des wirtschaftlichen Handelns: "Die Erdengüter sind für alle da".

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Die vier Bausteine brauchen für ihre Wirksamkeit Voraussetzungen und Hilfen, die sie selber nicht erstellen können, zum Beispiel eine Rechtsordnung, Geldordnung und Sicherheit. Es gibt aber ebenso Güter und Dienstleistungen, die der Markt nicht erstellen kann, die aber für das Gemeinwohl unabdingbar sind, zum Beispiel Schule und Erziehung, soziale Dienste, Kulturförderung. Es braucht daher die Einbindung des Selbstinteresses in die Solidarität des Gemeinwohles. Eines ist allerdings für Centesimus annus von großer Bedeutung: Die Einbindung in die Forderungen der Solidarität darf sich nicht zwischen dem einzelnen und dem Staat erschöpfen. Die Enzyklika weist ausdrücklich darauf hin, daß Solidarität gerade auch im Bereich der Unternehmen angestrebt und verwirklicht werden muß. Das Unternehmen besteht nicht nur in einer Gruppe von Aktionären sondern "in einer Gemeinschaft von Menschen" (43). Nach der Soziallehre der Kirche geht es im wirtschaftlichen Handeln nicht ausschließlich darum, daß Güter und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden, sondern, daß es auch möglich ist, "mehr Mensch zu werden" (Laborem exercens 9).

2. Interesse und Solidarität als Bausteine der Gesellschaft Die katholische Soziallehre bezeichnet den Menschen als Person ein "Projekt Gottes", das auf Selbstverwirklichung angelegt ist. Diese Selbstverwirklichung aber ist nicht im Einzelgang möglich sondern nur in der Begegnung mit den Mitmenschen, dem "Geschenk Gottes an den Menschen" (41). Der Mensch als Person "kann sich nicht an ein bloß menschliches Projekt ... sondern nur an einen anderen hingeben" (41}. Diese Begegnung aber entspringt dem, was Messner als "die existentiellen Triebe" im Menschen bezeichnet: dem Lebens- und Liebestrieb; dem Trieb der Freundschaft und Nachbarschaft; dem Trieb der materiellen Fürsorge; dem Sicherheitstrieb; dem Kulturtrieb und dem Trieb nach Transzendenz. Daraus ergibt sich von selber eine notwendige Spannung und Dynamik zwischen Selbstinteresse, oder anders ausgedrückt, Selbstverwirklichung und Solidarität. Aus der eben angegebenen Vielfalt der menschlichen Grundwerte ergibt sich von selber auch die Mehrstufigkeit der Solidarität. Sie hat in der Ehe und Familie eine andere Intensität und Spontaneität als in der Arbeit im Betrieb und im Leben als Staatsbürger. Sie wird in der Intimgruppe spontan und affektiv geleistet, in Institutionen und Verbänden aber bedarf sie einer Begründung und muß gelegentlich abgerungen werden. Aber das ändert nichts daran, daß es sich auch hier um eine Ausdrucksform der Solidarität zur Verwirklichung der dem Menschen verpflichtend vorgegebenen Ziele handelt.

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Aus dieser Überzeugung warnt Centesimus annus vor der Gefahr der "Entfremdung" in der modernen Gesellschaft und führt dafür als Beispiel die Gestaltung der menschlichen Arbeit an. "Wenn sie nur so organisiert wird, daß sie möglichst hohe Erträge abwirft ohne daß danach gefragt wird, ob sich der Arbeiter durch seine Arbeit als Mensch entfalten kann oder verkümmert. Dies entscheidet sich daran, ob seine Teilnahme an einer echten solidarischen Gemeinschaft wächst oder seine Isolierung ... zunimmt" (40). Das heißt mit anderen Worten: Von der Ausgestaltung der einzelnen Sozialbeziehungen und Gesellschaftsgebilden hängt es wesentlich ab, ob die Menschen sich in einen engstirnigen Egoismus zurückziehen oder zurückgeworfen werden oder ob sie Anreiz und Möglichkeit zum solidarischen Verhalten finden. In diesem Zusammenhang verdient ein Wort Johannes Pauls II. besondere Beachtung: "Es ist unmöglich, vom Durchschnittsmenschen eine voll entfaltete Haltung der Solidarität gegenüber dem Staat und der internationalen Gemeinschaft zu erwarten, wenn sie nicht vorher auf der Ebene der Gruppen und lnstitutionen vorbereitet und eingeübt wurde" (10.12.1983). Centesimus annus formuliert das gleiche Anliegen so: "Um die heute verbreitete individualistische Denkweise zu überwinden, braucht es ein konkretes Bemühen um Solidarität und Liebe, das in der Familie beginnt ... Außer der Familie erfüllen auch andere gesellschaftliche Zwischenkörper wichtige Aufgaben und bilden je eigene Solidaritätsnetze ... Der Mensch lebt in einer Vielfalt von zwischenmenschlichen Beziehungen und in ihnen wächst der ,Subjektcharakter der Gesellschaft'" (49).

3. Interesse und Solidarität im Kontext der Wertekultur Centesimus annus macht eine bedeutsame Aussage: Wenn die Wirtschaft verabsolutiert wird, "wenn Produktion und Konsum von Waren schließlich die Mitte des gesellschaftlichen Lebens einnehmen und zum einzigen Wert der Gesellschaft werden, der keinem anderen untergeordnet wird, so ist die Ursache dafür nicht allein und nicht sosehr im Wirtschaftssystem selbst, sondern in der Tatsache zu suchen, daß das ganze sozio-kulturelle System mit der Vernachlässigung der sittlichen und religiösen Dimension versagt hat" (39). Diese Aussage ist deshalb von solcher Bedeutung, weil sie unmißverständlich darauf hinweist, daß Selbstinteresse und Solidarität nicht primär ökonomische oder politische Faktoren darstellen, sondern in enger Beziehung zur Wertekultur einer Gesellschaft stehen. Aus dieser Wertekultur empfängt das Selbstinteresse seine Berechtigung aber auch seine Grenze und aus der gleichen Wertekultur wird solidarisches Verhalten begründet

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und motiviert. In ihr entfaltet der Mensch "seine Kreativität, seine Intelligenz, sein Wissen von der Welt und den Menschen ... In ihr entfaltet er seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, zum persönlichen Opfer, zur Solidarität und zum Einsatz für das Gemeinwohl" (51). In diesem Zusammenhang prägt Centesimus annus den in der katholischen Soziallehre neuen Begriff der "Humanökologie" (38) und erklärt ihn selber: Man ist mit recht darum besorgt, daß Pflanzen und Tieren der jeweils notwendige Lebensraum erhalten bleibt oder wiederhergestellt wird. Man ist aber viel zu wenig darum besorgt, ob der Einzelmensch und die gesellschaftlichen Gruppen jene geistig-sittliche Umwelt vorfinden, in der sie über ein rein egoistisches Interesse hinauswachsen und damit solidaritätsfähig werden. Es geht hier um eine Wertekultur "die der Marktmechanismus allein nicht gewährleisten kann" (40). Um Mißverständnisse zu vermeiden, erklärt Centesimus annus in aller Deutlichkeit: Die Kirche will ihre Wertekultur den anderen Menschen nicht aufzwingen. "Die christliche Wahrheit ist nicht von dieser Art" (46). Sie bietet ihre Wertewelt an und ist bereit, im Dialog mit allen Menschen guten Willens am Aufbau einer Wertekultur mitzuarbeiten, die die notwendige Voraussetzung für eine furchtbare Zuordnung von Interesse und Solidarität bildet.

INTERESSE UND UTILITARISMUS Von Erich W. Streißler

I. Mein Thema ist besonders schwer zu behandeln. Die Frage drängt sich auf: Was haben die Veranstalter unter "Utilitarismus" verstanden, als sie diesen Titel wählten? Utilitarismus ist ein höchst vielschichtiger Begriff. Im engeren Sinne bezeichnet Utilitarismus das philosophische System von Jeremy Bentham, James Mill und seinem Sohn John Stuart Mill um 1800 und bis etwa 1850 in England. Aber diese Überlegungen sind nur mehr von historischer Bedeutung. Allgemeiner betrachtet ist Utilitarismus erstens eine englische politische Reformbewegung, ja Revolutionsströmung, etwa 1780 bis 1840, mit Ausläufern in Frankreich vor und zur Zeit der Französischen Revolution; zweitens eine weltliche Ethik oder Moralphilosophie der letzten dreieinhalb Jahrhunderte, wieder ausgehend von England, mit puritanischen Anfängen; drittens ein rein technisch-instrumentales Annahmensystem in den Wirtschaftswissenschaften. Ich zitiere den neuesten Survey-Artikel in Palgrave's Dictionary: "Utilitarianism has overtly triumphed in only one area of what were once termed the moral sciences, namely economics." 1 (dt.: Der Utilitarismus ist offensichtlich siegreich nur in einem Gebiet der Moralwissenschaften, wie man früher sagte, nämlich der Nationalökonomie.) Wegen seiner instrumentalen und partiellen Verwendung in der Ökonomie gilt gegen den Utilitarismus dort auch nicht der Vorwurf einer Fülle logischer Widersprüche und einer verengten Psychologie, den man gegen den Utilitarismus als ein umfassendes philosophisches System erheben kann.

1 The New Palgrave A Dictionary of Economics, Bd. 4, Artikel "Utilitarianism", C. Welch, S. 770-775, hier S. 772.

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Unsere erste Frage muß sein: Warum triumphierte der Utilitarismus in gewissem Sinne gerade in den Wirtschaftswissenschaften? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich mich zweckmäßigerweise im Zusammenhang dieser Veranstaltung an die Evangelien wenden, und ich bringe nunmehr zwei Gleichnisse, die Christus vorgetragen hat: Erstens Matthäus, 20, 1-16: "Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen Weinberg. Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten. Er sagte zu ihnen ,Geht auch ihr in meinen Weinberg. Ich werde euch geben, was recht ist'. Und sie gingen. Um die sechste und die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder auf den Markt und machte es ebenso. Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen ,Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?' Sie antworteten ,Niemand hat uns angeworben.' Da sagte er zu ihnen ,Geht auch ihr in meinen Weinberg'. Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinberges zu seinem Verwalter ,Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten bis hin zu den ersten'. Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie mehr zu bekommen, aber auch sie erhielten nur einen Denar. Da begannen sie über den Gutsherrn zu murren und sagten ,Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet und du hast sie uns gleichgestellt. Wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen.' Da erwiderte er einem von ihnen ,Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh. Ich will dem Letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will, oder bist du neidisch, weil ich zu anderen gütig bin?'" Ich bringe noch das Gleichnis vom anvertrauten Geld - Lukas, 19, 1127: Jesus sagte: "Ein Mann von vornehmer Herkunft wollte in ein fernes Land reisen, um die Königswürde zu erlangen und dann zurückzukehren. Er rief zehn seiner Diener zu sich, verteilte unter ihnen Geld im Wert von zehn Minen und sagte: ,Macht Geschäfte damit, bis ich wiederkomme'. Da ihn aber die Einwohner seines Landes haßten, schickten sie eine Gesandtschaft hinter ihm her und ließen sagen ,Wir wollen nicht, daß dieser Mann unser König wird'. Dennoch wurde er zum König eingesetzt. Nach seiner Rückkehr ließ er die Diener, denen er das Geld gegeben hatte, zu sich rufen. Er wollte sehen, welchen Gewinn jeder bei seinen Geschäften erzielt hatte.

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Der erste kam und sagte ,Herr, ich habe mit deiner Mine zehn Minen erwirtschaftet'. Da sagte der König zu ihm ,Sehr gut, du bist ein tüchtiger Diener. Weil du im kleinen zuverlässig warst, sollst zu Herr über zehn Städte werden'. Der zweite kam und sagte ,Herr, ich habe mit deiner Mine fünf Minen erwirtschaftet'. Zu ihm sagte der König ,Du sollst über fünf Städte herrschen'. Nun kam ein anderer und sagte ,Herr, hier hast du dein Geld zurück. Ich habe es in ein Tuch eingebunden und aufbewahrt, denn ich hatte Angst vor dir, weil du ein strenger Mann bist. Du hebst ab, wo du nicht eingezahlt hast, und erntest, was du nicht gesät hast'. Der König antwortete ,Auf Grund deiner eigenen Worte spreche ich dir dein Urteil. Du bist ein schlechter Diener. Du hast gewußt, daß ich ein strenger Mann bin, daß ich abhebe, was ich nicht eingezahlt habe, und ernte, was ich nicht gesät habe. Warum hast du mein Geld dann nicht auf die Bank gebracht? Dann hätte ich es bei der Rückkehr mit Zinsen abheben können.' " Ich schreite zur wirtschaftlichen Analyse dieser beiden Gleichnisse. Zwar geht es natürlich um das "Himmelreich", aber welches Anschauungsmaterial wird zur Illustration gewählt? Christus schildert gerade Wirtschaft als Bereich vielfacher Wahlmöglichkeiten, und zwar gesellschaftlich zulässiger sowie ethisch zulässiger Wahlmöglichkeiten: Der Gutsherr im ersten Beispiel darf um die erste, dritte, sechste, neunte und elfte Stunde Taglöhner anheuern, und nicht nur einmal am Tag, einmal in der Woche oder gar einmal im Jahr. Der Gutsherr darf einen bestimmten Lohn vereinbaren: z . B. einen Denar oder "ich gebe dir, was recht ist". Er darf den vereinbarten Lohn ausbezahlen. Es ist nicht klar, ob der gesellschaftsübliche Lohn (das ist ein Denar), oder der vereinbarte Lohn oder der der Leistung entsprechende Lohn der gerechte ist. Es ist also nicht eindeutig festgelegt, was die Bezahlung zu sein hat. Es bleibt eine Wahlmöglichkeit. Und am erstaunlichsten: Der Gutsherr darf individuell entscheiden, zu tun, was er will: "Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will, oder bist du neidisch, weil ich zu anderen gütig bin?" (Fast möchte man hier mit Bentham sagen: "Every man is the best judge of his interest." Angesprochen ist geradezu der methodische Individualismus!) Man beachte im übrigen, um zu dem Referat von Pater Schasching überzuleiten: Gerade indem der Gutsherr individualistisch handelt, handelt er solidarisch mit den Ärmsten: Es geht ja darum, daß er denjenigen, die keine Arbeit gefunden haben bis zur elften Stunde, ebenso viel zahlt wie den anderen. Das aber sind die Benachteiligten. Der Gutsherr beharrt auf seinem individualistischen Handeln, im Gegensatz zum gesellschaftstypischen, das nicht solidarisch wäre.

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Zum zweiten Gleichnis: Es gibt viele Geschäfte, viele davon sind gesellschaftlich zulässig und ethisch zulässig. Zweitens, diese Geschäfte haben unterschiedliche, verschiedene Ergebnisse. Eine Mine wird verwandelt in zehn Minen, eine andere Mine verwandelt in fünf Minen. Unterschiedliche Möglichkeiten führen zu unterschiedlichen zulässigen Ergebnissen. Drittens, zumindest kann man Kreditzinsen auf ein Darlehen bei der Bank erhalten als sozusagen die letzte, am wenigsten ertragreiche Möglichkeit. Es gibt viele zulässige mögliche Tätigkeiten, zwischen denen zu wählen ist. Gerade nach den Evangelien wird also Wirtschaft in pluralistischer Gesellschaft geschildert. Danach ist Wirtschaft erstens ein Bereich zahlreicher grundsätzlich, d. h. a priori, gleichermaßen zulässiger Entscheidungen. Wirtschaftliche Entscheidungen sind nicht notwendig prädeterminierte, also nicht moralisch oder gesellschaftlich eindeutig prädeterminierte Entscheidungen. Zweitens ist Wirtschaft ein Gesellschaftsbereich, der durch die Gesellschaft definiert ist als ein solcher, in dem Individuen sich individuell verhalten dürfen, in dem der einzelne Individualist sein darf. -Natürlich ist Wirtschaft nur ein Teilraum der Gesellschaft, aber eben der der individuellen Freiheit, gerade auch nach den Evangelien. "Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?" Und drittens wird nach den Evangelien Wirtschaft geschildert als ein Gesellschaftsbereich, der notwendigerweise eine Wahl zwischen verschiedenen, in Konflikt stehenden ethischen Werten impliziert, zwischen verschiedenem Guten und Bösen, besonders in dem Gleichnis des Gutsherm: Soll er Vertragstreue als oberstes Prinzip beachten, wofür er sich entscheidet, oder lieber eine leistungsgerechte Entlohnung gewähren, genau abgemessen nach der Mühe? Ist es zulässig, Erwartungsenttäuschungen herbeizuführen? Wiederum ein ethisches Problem: Vertragstreue kann zu Erwartungsenttäuschungen führen. Konflikte zwischen verschiedenen ethischen Verpflichtungen oder gerechten Erwartungen treten somit in der Gesellschaft auf. Diese Konflikte werden gesellschaftlich zugelassen. Warum? Weil es sich um Abwägungen zwischen verschiedenen, nicht eindeutig gereihten, weil ethisch eher nachrangigen und unbedeutenden Werten handelt. Es geht eben nicht um Fragen wie: Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen, Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Hier wäre die Entscheidung eindeu-

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tig, etwa im Falle: Ich erhalte mehr Geld nur durch den Tod des Nachbarn. Es geht vielmehr um die unbedeutenderen, kleinen Werturteilskonflikte in den unerwarteten, immer neuen, unsicheren Situationen, also um ein Problem partieller ethischer Ordnung. Und das ist die Begründung für den Utilitarismus in der Ökonomie: Es kann sich nur um Entscheidungen handeln im Konflikt von verschiedenen ethischen Positionen, wobei aber keine von diesen eindeutig prädominant ist. Die Frage lautet: Wie entscheidet man in solchen notwendigen Konfliktsituationen ohne klar im vorhinein prädeterminierte Normen.

m. Utilitarismus ist Bewertung gesellschaftlicher Zustände nach dem individuellen Nutzen der betroffenen Einzelmenschen. An dieses Kalkül wird der Ökonom gewöhnt, wobei freilich ein vernünftiger Ökonom auch die Grenzen der Anwendbarkeit dieses Kalküls kennt. Dieses ökonomische Kalkül ist jedoch manchmal auch außerhalb der Wirtschaft sinnvoll anwendbar. Ein Beispiel ist das berühmte Problem der Triage: Eine Katastrophe tritt ein, viele Schwerverletzte werden in ein Spital eingeliefert, es ist nur ein Arzt da, es gibt beschränkte Kapazitäten des Spitals. Wer wird operiert? Wie wählt man aus? Wiederum der typische ethische Konflikt, ein unausweichlicher Konflikt: Wird der eine behandelt, kann man den anderen nicht behandeln. Wen wählt man aus? Vielleicht die Jungen, nicht die Alten? Vielleicht die mit höchster Genesungschance, nicht diejenigen, die höchstwahrscheinlich auf alle Fälle sterben werden? Vielleicht die mit einer wichtigen Aufgabe im Leben, zum Beispiel die Mütter kleiner Kinder? Das sind typisch utilitaristische Entscheidungen. Die Triage ist eine irreligiöse, weltlich orientierte Entscheidung, was man aus historischer Sicht sofort erkennt: Im Fall einer religiös geprägten Zeit würde die Wahl zwischen den vielen Opfern, von denen nur wenige behandelt werden können, Gott anvertraut werden. Nicht der Mensch entscheidet nach menschlichem Ermessen. Statt dessen wirft man zum Beispiel das Los. Aber ist das in unserem heutigen Verständnis christlich? Wahrscheinlich aus heutigem Verständnis nicht. Utilitarismus entstand als Versuch, eine rein weltlich argumentierende Ethik zu finden . Er muß aber dennoch nicht in Konflikt mit dem Christentum stehen. Trotz seines Versuches einer rein weltlichen Ethik kann Utilitarismus in manchen Situationen, die nach geoffenbarter Ethik unbestimmt sind, in christlichem Sinne eingesetzt werden.

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IV.

Wenden wir uns nun kurz dem politischen Utilitarismus als revolutionäre Bewegung in England vor und nach 1800 zu. Als politische Parteiideologie handelt es sich natürlich nicht um ein logisch geschlossenes System, sondern um eine Ad-hoc-Argumentation, eine, die eine der großen englischen Revolutionen, nämlich die Revolution von 1828 bis 1833, herbeiführen wollte und in dieser Revolution siegte. Gleichzeitig machte die siegreiche Parteiideologie vergessen, daß es sich um eine für die englische Gesellschaft gesellschaftserschütternde, ja - im bisherigen Verständnis - gesellschaftsvernichtende Revolution handelte. Das 18. Jahrhundert Englands war geprägt von zwei Parteien: den Tories (übersetzt als Konservative) und den Whigs (übersetzt als Liberale). Der politische Schlachtruf der Tories lautete: "the church and property" (dt.: die Kirche und Eigentum), der der Whigs: "property and liberty" (dt.: Eigentum und Freiheit). Eigentum ist also in beiden Schlagworten enthalten. Zum Verständnis sei festgehalten: England hatte im 18. Jahrhundertund bis 1828 I 29 - mit Abstand die am stärksten ausgeprägte Staatskirchengesellschaft, die es je auf der Welt gab, einschließlich sogar der byzantinischen, eine Tatsache, die weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Die herrschende Gesellschaft heißt noch heute "the establishment" , und zu ihr gehörte damals vor allem "the established church", die allein politisch berechtigte und politisch berechtigende Kirche. Der König war das Haupt der Kirche. Er war der Verteidiger der Kirche und führte als solcher den Titel: "defensor fidei" [Verteidiger des Glaubens). Die Kirche war die Stütze des Königs. Die anglikanischen Geistlichen waren im England des 18. Jahrhunderts die einzigen bezahlten "Lokalbeamten"; denn England hatte keine bezahlte Lokalbürokratie im engeren Sinne. Diese Geistlichen wurden vielfach politisch bestellt. Sie waren Hauptträger der Staatsideologie, wie sie sich vor allem in den Staatspredigten der anglikanischen Kirche äußerten, eine Predigtform, die sonst wohl kaum existierte. An großen Staatsfeiertagen gab es die großen Staatspredigten, etwa in St. Paul's Cathedral, wo der Bischof von London vor der ganzen höheren englischen Gesellschaft predigte. Bedeutsame religiöse Staatsfeiertage waren der Fasttag am 31. Januar, dem Tag der Enthauptung König Karls I., das religiöse Fest der Wiederinbesitznahme des Königreiches durch Karl Il. am 28. Mai, das Fest am 5. November, dem Tag der Niederschlagung des katholischen "Pulverkomplotts" und gleichzeitig der Tag, an dem Wilhelm von Oranien in England landete. Sie wurden durch religiöse Ausführungen zur Staatstheorie geheiligt. Volle Bürgerrechte verlieh nur die Teilnahme an der anglikanischen Kirche. Für das volle Bürgerrecht, für jedes Staatsamt war

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der "Test" erforderlich: "Test" hieß die Kommunion in der anglikanischen Kirche, als notwendige Voraussetzung jedes Staatsamtes, ja des Wahlrechtes. Staatszweck war die Erhaltung der "protestant religion", die Erhaltung des "protestant settlement". Allein die "protestant religion", die Staatskirche garantierte nach dieser Auffassung alles Eigentum: Denn das hieß "church and property"! Garantiert durch die Mitwirkung in der Staatskirche war nämlich insbesondere auch Eigentum am Kirchengut, an den Parlamentssitzen, an den politischen Rechten, die als Eigentum aufgefaßt waren. Die Kirche war göttlich, der König war göttlich, göttlich eingesetzt, ihr Zusammenwirken in der Verfassung war göttlich: "church and property" hieß Erhaltung der göttlich garantierten Gesellschaftsordnung durch die Kirche. Die anglikanische Kirche hatte somit vor allem einen Staatszweck. Das war die herrschende Ideologie der Tories und auch vieler rechter Whigs. Die Gegenthese, "property and liberty", wird vor allem von nicht der anglikanischen Kirche angehörenden Engländern vertreten, von "dissenters and non-conformists", wie das hieß, also den "nicht Zustimmenden" gegenüber der Gesellschaft, denjenigen, die die "Gesellschaft" leugnen. Defoe zum Beispiel war ein typischer Vertreter dieser "dissenters", der WhigIdeologie, er sprach vom "divine right of freeholders" anstelle des "divine right of kings": Er stellte also ein göttliches Recht des individuellen Eigentümers entgegen dem göttlichen Recht des Königs. Der Eigentümer in dieser Gegenideologie definiert sich seine eigene Freiheit und den Staat, der ihm nützlich erscheint zur Sicherung seiner eigenen Zwecke. Und damit sind wir beim politischen Utilitarismus: Was die Tories gottgegeben nannten, nannten die Utilitaristen bloße Gewohnheit. Durch Gewohnheit allein, behaupteten sie, können gesellschaftliche Institutionen nicht gerechtfertigt werden. Alle Rechte seien geschaffen, daher auch aufhebbar. Das aber war eine im herrschenden Staatsverständnis absolut häretische, absolut revolutionäre Auffassung! Wegen des ausgeprägten Staatskirchenturns war in England jeder Nicht-Anglikaner notwendig Staatsrevolutionär. Und so begann man in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts und dann wieder ab 1814 zu fragen, wem die kirchlich verfaßte Staatsgesellschaft eigentlich nützte. Sie nützte "King and Company" sagte man, "König und Kumpanei" , und meinte damit die ganze aristokratische Gesellschaft und die anglikanische Kirche, im Gegensatz zum einzelnen Bürger. Ist es nützlich, daß die Bürgerrechte an den Kommuniongenuß in der anglikanischen Kirche gebunden sind und an einen Eid, der die Transsubstantiation leugnet? Diese aus der Sicht der anglikanischen Kirche absolut häretische Frage, diese absolut häretische, sogar radikale Bewegung zusammen mit ein paar schweren politischen Fehlern in einer Ecke Großbritanniens, nämlich in Irland, führte 1829 zu einer fundamentalen Verfassungs-

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änderung, die das gesamte, staatskirchenrechtlich geprägte englische Staatsverständnis zerstörte. Diese Verfassungsänderung widersprach dem Throneid des Königs, der schwören mußte, die protestantische Religion zu wahren. Ja, sie zog das Thronrecht des Königs in Zweifel, denn sein Stammvater war 1740 nur der 58. der Erbfolge nach Geblüt gewesen, aber der erste Protestant in der Nachfolgereihe, den man finden konnte. Diese vom Utilitarismus herbeigeführte, säkularistisch, also häretisch motivierte Verfassungsänderung, von der man sicher war, daß sie schließlich das englische Gesellschaftsmodell zerstören würde, machte offensichtliche "Antichristen" zu vollberechtigten Bürgern. Ich spreche natürlich von der Katholikenemanzipation. Denn für einen Anglikaner mit der geschilderten Staatskirchentradition waren Katholiken offensichtliche Antichristen. Sie waren nicht akzeptable Staatsbürger, und das wurde genau begründet damit, daß sie vom Papst eidentbunden werden konnten. Der Eid war besonders wichtig in der englischen Gesellschaftsstruktur. Nach gängiger anglikanischer Darstellung lehrte die katholische Kirche, daß es keinen Treu und Glauben gegen Häretiker geben dürfe oder müsse. Daher waren aus dieser Sicht Katholiken nicht rechtsgeschäftsfähig. Und außerdem hatten die Katholiken in der anglikanischen Tradition die gewaltsame Konversion zur alleinseligmachenden Kirche auf ihre Fahnen geschrieben. Es war also vollkommen dem Staatsverständnis widersprechend, Katholiken die vollen Amts- und Bürgerrechte zu geben. Mit der Verfassungsreform von 1829 brach diese religiös geformte englische Gesellschaft zusammen. Es ist interessant, daß entsprechenderweise alle Katholiken in England bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus politisch notwendig Liberale waren, weil Tory sein ja notwendig "church and property", also die Rechtsunfähigkeit von Katholiken implizierte. Lord Acton, der berühmte katholische Historiker, war daher Liberaler. Und so brachte der aus der Sicht der herrschenden Gesellschaft absolut häretische Utilitarismus in England gerade die Katholikenemanzipation. Auf sein Konto zu schreiben sind noch weitere Errungenschaften: Die Abschaffung von aus utilitaristischer Sicht nicht als gesellschaftsnützlich verstandenen Einrichtungen, wie zum Beispiel die Abschaffung der Sklaverei, oder die Abschaffung der Folter (Beccaria). Die Antisklavereibewegung betonte die nicht gesellschaftliche Nützlichkeit der Sklaverei und ist eine typische Bewegung des politischen Utilitarismus und ebenso die Bewegung zur Abschaffung der Folter. Allen diesen Vorstellungen ist gemeinsam, daß die bestehende Gesellschaft nicht als gottgegeben verstanden wird, nicht als solche schon gerechtfertigt. Gefragt müsse vielmehr werden, ob sie in irgendeinem Sinne für die Gesellschaftsmitglieder nützlich sei. Dieser Gedanke war aber, wie gesagt, politisch revolutionär. Damit habe ich die utilitaristischen Vorstellungen des politischen Utilitarismus einer ganz

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bestimmten Zeit und in einem ganz bestimmten Land (England) mit gewissen Ausstrahlungen auf Frankreich und Italien beschrieben.

V. Ich wende mich als nächstes ganz kurz dem philosophischen Utilitarismus zu. Dieser geht in England insbesondere auf den dritten Earl of Shaftesbury zurück. Shaftesbury und Mandeville entwickelten den Gedanken, daß eigennütziges Verhalten gesellschaftsnützlich sein könne und es oft sei. In seinem wohlverstandenen Eigennutz müsse man sich jedoch das Wohl der Mitbürger zum Eigeninteresse machen: die Idee der "generalized benevolence". Zum Eigeninteresse gehört eben auch das Interesse der Gesellschaft und damit der Mitmenschen. Adam Smith spricht dabei von der notwendigen Tugend der "sympathy". Das Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen ist ein notwendiger Teil der individualistischen Haltung und in diesem Sinn ein Teil des Eigeninteresses. Ein mitmenschliches Interesse soll aus Gründen seiner allgemeinen Nützlichkeit verinnerlicht werden. Das sind ethische Gebote, ein Sollen als Ausfluß des Utilitarismus. Es ist festzuhalten, daß in dieser Sicht kein Gegensatz besteht zwischen Einzelinteresse und Solidarität. Mein Einzelinteresse befiehlt mir auch ein "allgemeines Wohlwollen", eine "Sympathie" dem anderen gegenüber; denn ich bin ja ein Mitglied der Gesellschaft, ich wünsche auch, daß man mir entsprechend entgegenkommt, ich lebe in und mit dieser Gesellschaft und muß daher versuchen, sie zu erhalten.

VI.

Ich komme als nächstes zum geschichtsphilosophischen Utilitarismus, der eine reine Seinsbeschreibung ist, nicht ein Sollen schildert. Dieser geschichtsphilosophische Utilitarismus geht vor allem auf Adam Smith zurück: Gesellschaftliche Institutionen stehen im Systemwettbewerb. Sie werden sich insbesondere dann erhalten können, wenn sie für die Gesellschaft nützlich sind. Sie müssen den allgemeinen Ausleseprozeß des Wettbewerbs bestehen. Der Wettbewerb erhält nur das Nützliche; und er ist selbst nützlich, weil er diesen Ausleseprozeß nach Nützlichkeitskriterien vorantreibt. Am stärksten wird diese Position heute vertreten von Friedrich August von Hayek, insbesondere in seinem letzten Buch, The Fatal Conceit - the Errors of Socialism (1988): Institutionen werden sich nur erhalten, wenn 12 Interesse und Moral

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sie das Überleben in einer Gesellschaft bestmöglich sichern. Erfolgreiche Institutionen haben sich als nützlich erwiesen. Von dem sozialwissenschaftliehen Ausleseprinzip des Nützlichen inspiriert war Charles Darwin. Biologische Auslese erfolge nach dem Prinzip der Arterhaltung und damit der Nützlichkeit für die Art. Gegenwärtig erleben wir den etwas läppischen Triumphalismus unternehmerischer Marktwirtschaften, genauer von deren nicht selten kurzsichtigen Vertretern: Unternehmerische Marktwirtschaften hätten sich als nützlicher erwiesen als die Systeme des real existierenden Sozialismus. In Passagen ein interessantes Dokument dieses neuesten marktwirtschaftliehen Triumphalismus ist übrigens auch die Sozialenzyklika Centesimus Annus: Nach 24 (1) dieser Enzyklika hat sich "zweifellos die Untauglichkeit des Wirtschaftssystems" des real existierenden Sozialismus erwiesen. Und nach 33 (4) gilt: "Die jüngste Erfahrung aber hat bewiesen: ... eine Entwicklung ... haben jene Länder durchgemacht, denen es gelungen ist, in das allgemeine Gefüge der wirtschaftlichen Beziehungen einzutreten". Nützlich sei also gerade auch für die "ärmsten Länder" die Teilnahme am Weltmarkt, während "die jüngste Erfahrung ... bewiesen (habe), daß die Länder, die sich ausgeschlossen haben, Stagnation und Rückgang erlitten haben". VII.

Mein vorletztes Kapitel gilt dem technisch-instrumentalen Utilitarismus in der Ökonomie, der vor allem auf Adam Smith zurückgeht. Hier sind vier verschiedene Gedanken zu unterscheiden. A. Erstens ist der einfache Gedanke festzuhalten: "Wirtschaftliches, gesellschaftliches und staatliches Leben läßt sich dadurch . . . berechenbar machen, daß das rationale Prinzip des individuellen Vorteilsstrebens . .. vorausgesetzt wird". 2

Man beachte: Dies besagt nicht, daß die Individuen egoistisch handeln sollen. Es besagt nur: Erstens täten sie dieses oft; und zweitens, wenn sie es tun, lassen sich viele wirtschaftliche Erscheinungen treffsicher prognostizieren: Die Prognosefähigkeit dieser instrumentalen Annahme ist erstaunlich groß. Ein Beispiel: Warum bleiben viele überflüssig und unzeitgemäß gewordenen staatlichen Regulierungen erhalten? Warum werden offensichtlich sinnlose eingeführt? Weil sie sicherlich einmal der sie verwal2 Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 10. Bd., Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1959, Artikel "Utilitarismus", S. 611 ff., Carl Brinkmann, hier S . 611.

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tenden Bürokratie nützen, für diese Posten erhalten oder neue schaffen und die Bürokratie daher unzählige Argumente zu ihrer Rechtfertigung und Druckmittel für ihre Bestandssicherung erfinden wird. B. Zweitens: Beschränkt normativ wird das Eigeninteresse in der von Smith und Hayek vertretenen Vorstellung: Alle gesellschaftlichen Institutionen seien so zu gestalten, daß sie selbst bei dummen und schlechten, bei egoistisch handelnden Akteuren funktionsfähig bleiben: Sie müßten Institutionen sein, die individuell schlechtes und mangelhaftes Handeln zum gesellschaftlichen Besten führen. Und das sei deshalb erforderlich, weil Solidarität in der Großgesellschaft gar nicht verstehbar, daher nicht praktizierbar und daher auch nicht zu erwarten sei. C. Drittens: Nach welchen Interessen seien wirtschaftliche Zustände zu bewerten? Die Antwort lautet seit Adam Smith: "natürlich" (?)nach dem Konsumenteninteresse. Smith formulierte in WN IV.viii.49: "Consumption is the soleend and purpose of all production" . Zu bewerten seien wirtschaftliche Zustände also nicht nach dem egoistischen Interesse einzelner Produzenten, nicht nach deren Nützlichkeit. Wir alle seien hingegen Konsumenten. Konsument zu sein ist die generalisierte Rolle in der Wirtschaft, das allgemeine Interesse. Ökonomen werden voll und ganz auf eine Beurteilung aller wirtschaftlichen Zustände und Prozesse aus der Sicht des Konsumenten erzogen. Hier stehen wir vor dem Ökonomistischen Werturteil der Profession, problematisch wie jedes unbedingte Werturteil. Technisch heißt dieser Maßstab in der Ökonomie die Paretoeffizienz. Dergenaue Gegenpol zu diesem Werturteil (das sich durchaus auch in Konzilsdokumenten gespiegelt findet) ist die Philosophie der Sozialenzyklika Laborern Exercens, die freilich in ihrer Einseitigkeit wiederum ebenso problematisch ist, wie die Konsumentenausrichtung der Ökonomen. D. Schließlich viertens, der methodische Individualismus. Er besagt, daß in der Beurteilung wirtschaftlicher Zustände von der Bewertung durch die betroffenen einzelnen auszugehen sei. Eine radikale, von Ökonomen nicht voll akzeptierte Ausformung dieses Postulates sind Jeremy Bentham's drei Prinzipien: (1) "Individual well-being ought to be the end of all moral action". (Das ist wohl zu weitgehend in der Behauptung, solches sei allein moralisch: Es sollte nur das Ziel wirtschaftlicher Tätigkeit sein.) t2•

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Erich W. Streißler (2) "Each individual is to count for one and not more than one" (Das ist deswegen zu weitgehend, weil am Markt der Reichere mehr zählt als der ärmere Wirtschaftsbürger.) (3) "The object of social action should be to maximize general utility". (Aber können wir eine solche allgemeine Nützlichkeit intellektuell überhaupt fassen?)

vm. Letztlich komme ich zum Utilitarismus im engeren Sinne in der heutigen Ökonomie. Wie weit wird ein solcher vertreten? Folgendes ist festzuhalten: A. Eine wohlfahrtstheoretische Bewertung von Zuständen ist nur möglich, wenn wir irgendwie Nutzwertvorstellungen von Individuen zusammenfassen, aggregieren können.

Wie können wir aber in einer demokratischen Gesellschaft, in der schon von der Verfassung methodischer Individualismus geboten ist, überhaupt wirtschaftspolitische Ziele definieren oder gar verschiedene gegeneinander abwägen? Bruno Kreisky formulierte angeblich einmal: "5% Inflation ist mir lieber als 5% Arbeitslosigkeit." Warum? Trifft Arbeitslosigkeit und Inflation nicht verschiedene Menschen und verschiedene Interessen? Warum sind die Interessen der einen seiner Meinung nach vorzuziehen? Am liebsten stellt der Ökonom daher fest: Kreisky hatte gar keine Wahl; er bekam schließlich beide Übel gleichzeitig. B. Der bedeutendste aller wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreisträger, Kenneth J. Arrow, bewies: In einer pluralistischen Gesellschaft lassen sich einzelne Präferenzen gar nicht notwendigerweise widerspruchsfrei zusammenfassen, wenn wir nicht einen Nutzenabtausch oder eine gegenseitige Nutzenahwägung zulassen. Quantifizierte Nutzenvergleiche sind also erforderlich. Seine Überlegungen führten somit zu einer fundamentalen Skepsis gegenüber jedem zu simpel denkenden Utilitarismus und andrerseits der Erkenntnis, daß wir sehr viel annehmen müssen, wenn wir gesellschaftliche Nutzenkalküle anstellen wollen. Zum Beispiel ist Benthams zweites Prinzip unhaltbar: Es führt häufig zur Nichtentscheidbarkeit bei der Reihung von mehr als drei Zielen. Und sein drittes Prinzip verweist auf ein höchst schwieriges Optimierungsproblem, das im allgemeinen nicht ohne zusätzliche, weitgehend arbiträre Annahmen lösbar ist.

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C. Schließlich drittens: Bei Unsicherheit über die Realisierung wirtschaftlicher Zustände müssen wir quantifizierbare Nutzen annehmen, um zu Aussagen zu kommen. Wir müssen Erwartungsnutzen bilden, das heißt Nutzen gewogen (anders ausgedrückt multipliziert) mit Wahrscheinlichkeiten bilden . Eine solche Erwartungsnutzenbildung ist heute, bei all ihrer Problematik, dominant in der Theorie. Sie ist die Grundlage für jede Kasten-Nutzenanalyse staatlicher Projekte: Erforderlich bei staatlichen Wirtschaftsprojekten ist eine Effizienzklärung im Umgang mit fremden Geldern. Die moderne Ökonomie hat also die Problematik utilitaristischer Vorstellungen voll erkannt, kommt aber ohne sie bei der Lösung wichtiger Fragen nicht aus.

GRUPPENINTERESSE UND GEMEINWOHL Von Alfred Klose

I. Zur Ausgangslage

In der pluralistischen Gesellschaft findet die Interessenvielfalt in einer Fülle von Organisationen einen sinnfälligen Ausdruck. Wir können von einer weithin durchorganisierten Gesellschaft sprechen. Dabei handelt es sich freilich um Verbände und Vereinigungen sehr unterschiedlicher Art, dies hinsichtlich Mitgliederzahl, finanzieller Leistungskraft und Einflußmöglichkeiten. So bedeutet die große Zahl der Interessenverbände noch keineswegs, daß wirklich alle Interessengruppen einigermaßen ausreichend vertreten sind. Die Aggregation der unterschiedlichen Interessen der einzelnen Menschen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen weicht nun sehr voneinander ab, noch mehr gilt dies für die Durchsetzung der dann gegebenen Gruppeninteressen. Der Interessenausgleich in der modernen Gesellschaft ist ein vielschichtiger und komplizierter Vorgang. Die für die Gemeinwohlorientierung verantwortlichen staatlichen Institutionen erfahren aber durch diesen Interessenausgleich im vorstaatlichen Raum eine sehr weitgehende Entlastung. Wenn wir an die Sozialpartnerschaft denken, so kann etwa in der Lohnund Einkommenspolitik von den hier wirkenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Bedeutsames geleistet werden. Die Sicherung des sozialen Friedens ist im Interesse des Gemeinwohls gelegen. So tragen die Interessenverbände vielfach zur Verwirklichung der Gemeinwohlorientierung bei, auch wenn sie nur wichtige Voraussetzungen dafür schaffen. Die letzte Verantwortung für das Gemeinwohl tragen die staatlichen Institutionen. Die so weitreichende Differenzierung der Interessen in unserer Gesellschaft gilt freilich nicht nur hinsichtlich der Gruppeninteressen. Jeder einzelne Mensch hat persönliche Interessen, die sich von denen anderer vielfach unterscheiden. Die Gemeinsamkeit des Berufes, Übereinstimmung in weltanschaulichen, religiösen oder politischen Fragen, gemeinsame Vorhaben und Interessen in anderen kulturellen Fragen oder in Bereichen des Sportes und anderer Freizeitgestaltung - dieses und noch viel mehr führt zur Bildung von Vereinigungen, in denen gemeinsame Interessen hervortreten.

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J ohannes Messner sieht das Interesse als "Uranlage des Menschen", die unter "den jeweiligen gesellschaftlichen Voraussetzungen" wirksam wird und ihre Wurzel im Streben des einzelnen nach Selbstverwirklichung hat.l Die Gegebenheiten in der Gesellschaft von heute bringen es mit sich, daß die Durchsetzung von Interessen weitgehend organisiert werden muß. Dabei ist es kennzeichnend, daß weithin eine negative Einstellung gegenüber den Gruppeninteressen gegeben ist: Sie gelten vielfach als gemeinwohlwidrig. So versuchen große Interessenverbände in der Vertretung bedeutsamer Gruppen in der Gesellschaft manche ihrer Interessen als Gemeinwohlziele zu kennzeichnen; so weisen Gewerkschaften zur Rechtfertigung relativ hoher Lohnforderungen auf damit verbundene Wachstumseffekte hin, Unternehmerorganisationen auf die Geldwertstabilität bei der Abwehr solcher gewerkschaftlicher Initiativen.

II. Einzelwohl und Gemeinwohl Es ist wiederum Johannes Messner, der darauf hinweist, daß sich die inhaltliche Komponente des Gemeinwohls aus den Möglichkeiten ergibt, die dem einzelnen Menschen in seiner Lebenserfüllung offenstehen: Dieser einzelne soll in der "Vervollkommnung der Menschennatur", in der "Verwirklichung der existentiellen Lebenszwecke" sein Hauptinteresse sehen. 2 Der Staat und die anderen Gemeinschaften sollen im Sinne ihrer grundlegenden Aufgaben dem einzelnen Menschen jene Hilfen leisten, die er zur Erfüllung eben dieser wesenhaften Lebenszwecke benötigt. Es ist der moderne Sozial- und Bildungsstaat, der damit entscheidende Voraussetzungen für die Lebenserfüllung des Menschen setzt. Bei aller Verschiedenheiten der persönlichen Interessen gibt es bestimmte Grundgegebenheiten bei den existentiellen Lebenszwecken: So ist ein der Menschenwürde entsprechendes Leben nur möglich, wenn die materiellen Grundlagen sichergestellt sind, wohl aber auch nur, wenn ein Mindestmaß geistig-kultureller Entwicklungsmöglichkeiten vorhanden ist. Vielfältige Erfahrungen sprechen dafür, daß sich kulturelle Werte oft gerade bei sehr einfachen Lebensverhältnissen finden lassen, so etwa in der bäuerlichen Kultur entlegener Bergdörfer und Höfe. Auch die materiellen Grundlagen einer menschenwürdigen Lebensführung können bescheiden sein: Aber es geht hier auch um ein Mindestmaß. Die Gesellschaft soll durch die Institutionen alles daran setzen, schöpferische Aktivitäten zu fördern: So ist zunächst das Bewußtsein der eigenen 1 Johannes Messner: Art. Interesse, in: Kath. Soziallexikon, hrsg. von Alfred Klose, Wolfgang Mantl, Valentin Zsifkovits, Graz u. a. 2 1980, Sp. 1190 ff. 2 Johannes Messner: Das Naturrecht, Innsbruck u. a. 5 1966, S. 212 f.

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Verantwortung für sehr viele Menschen ein entscheidender Ansporn zur Initiative. Es ist das Bewußtsein vom einmaligen Wert des einzelnen Menschen, das geweckt werden muß. Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika "Redemptor hominis" hervorgehoben, daß es um den "konkreten" Menschen geht, um "den Menschen in seiner individuellen, nicht wiederholbaren Wirklichkeit" (13). Entgegen der heute gegebenen Wirklichkeit in vielen Regionen dieser Erde dem einzelnen Menschen sinnvolle Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten sicherzustellen ist eine entscheidende Gemeinwohlaufgabe. Nun ist freilich eben dieses Gemeinwohl mehr als die Summe des Einzelwohls. Johann Heinrich Jung-Stilling, dieser universale Denker und Zeitgenosse, auch Freund von Goethe, umschreibt dieses Gemeinwohl, "das allgemeine Beste", aus der "Summe der einzelnen Besten"; es werde erreicht, wenn jeder einzelne zum allgemeinen Besten beiträgt. Jung-Stilling versteht aber auch als Ziel des Gemeinwohls eine "Vervollkommnung und Beglückung aller moralischen Wesen", liegt damit nicht weit von Messners Grundanliegen. 3 Solche Ziele sind nur erreichbar, wenn im Gemeinwohl mehr gesehen wird als die Summe der Interessen der einzelnen. Das Einzelwohl, die Verwirklichung der wesenhaften Lebenszwecke des einzelnen, setzt eine Chancengleichheit in der staatlich organisierten Gesellschaft voraus. So müßten im Bildungssektor alle Benachteiligungen überwunden werden, die sich aus ungünstiger Wohnlage, der Entfernung von den für den einzelnen in Frage kommenden Bildungseinrichtungen, vor allem aber aus der Einkommens- und Vermögenslage ergeben. In vielen Staaten ist schon Bedeutsames in dieser Richtung geschehen; in noch mehr Ländern sind die Barrieren zur Bildung hin noch lange nicht überwunden. Heute geht es in den meisten Ländern um die Sicherung von ausreichenden Arbeitsplätzen: Die Vollbeschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik wird zu einem wichtigen Bereich der Gemeinwohlverwirklichung. Wir müssen uns auch hier bewußt sein, daß angesichts hoher Arbeitslosenraten vielfach die quantitativen Ziele so stark hervortreten, daß qualitative Probleme zurücktreten: Wir brauchen im Sinne des Gemeinwohls und der Erfüllung der existentiellen Lebenszwecke der Menschen nicht nur eine ausreichende Zahl irgendwelcher Arbeitsplätze, sondern auch jene, in denen die Menschen eine ihren Anlagen und Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung und Entwicklungsmöglichkeit finden. Wir sehen immer wieder, daß junge Menschen zumindest für einige Zeit Arbeitslosigkeit einer ihnen sinnwidrig erscheinenden Beschäftigung vorziehen; andererseits erleben wir, daß andere junge Menschen Einkommensverluste in Kauf nehmen, wenn sie eine sinnvoller erscheinende Arbeitsstelle finden. 3 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lehrbuch der Staats-Polizeywissenschaft, Leipzig 1788, S. 6.

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Die Verwirklichung solcher Zielsetzungen hängt nicht zuletzt davon ab, wieweit es gelingt, im Zuge eines gesamtwirtschaftlichen Interessenausgleiches die starken Interessenvertretungen zu einer Einordnung ihrer Zielsetzungen in eine Gemeinwohlorientierung zu bringen. Wenn etwa die Gewerkschaften in Krisenzeiten an einer sehr vorsichtigen Lohnpolitik mitwirken, wird darin ebenso ein Beitrag zum Gemeinwohl zu sehen sein wie in einer Zustimmung zu steuerlichen Umschichtungsmaßnahmen in Richtung zu mehr Investitionsförderung. Immer wieder geht es auch darum, daß die Interessenverbände ihren Mitgliedern auch klar machen, daß gewisse gemeinwohlorientierte Haltungen zwar kurzfristig Nachteile bringen können, aber längerfristig nicht nur im Interesse des Gemeinwohls, sondern auch des Einzelwohls liegen. So sind wohl die meisten Menschen an einer Geldwertstabilität ebenso interessiert wie an einer Vollbeschäftigung und einem wirtschaftlichen Wachstum, wohl auch an der Erhaltung einer lebenswerten Umwelt. Iß. Neue ethische Herausforderungen

Sind nicht die Funktionäre der Interessenverbände überfordert, wenn sie solche Haltungen einnehmen? Werden nicht die Verbandsmitglieder die Zugehörigkeit zur Interessenvertretung aufkündigen (so eine freiwillige Mitgliedschaft gegeben ist) oder zumindest die Funktionäre, die solche Auffassungen vertreten, abwählen? Wolfgang Schmitz, der einerseits lange Zeit in einer Interessenvertretung gewirkt hat, aber auch entsprechende Erfahrungen als Finanzminister und Notenbankpräsident in Österreich gemacht hat, stellt fest, daß es heute um eine "Ordnungsethik als Institutionenethik" gehe. Schmitz macht die an sich selbstverständliche, uns aber vielfach zu wenig bewußte Tatsache deutlich, daß die Gesellschaft "nicht aus der Summe einzelner Menschen", sondern aus Personen besteht, "die in unterschiedlichen, vielgestaltigen Institutionen zusammenleben, die zur Erreichung sozialethischer Postulate unentbehrlich sind". Daher handle nicht die Gesellschaft, sondern die Institutionen. Die Unentbehrlichkeit einer solchen Institutionenethik muß uns mehr bewußt werden. Schmitz sagt, daß gerade die christlichen Kirchen und wohl auch die Vertreter einer christlich motivierten Soziallehre an einer solchen Institutionenethik in ganz besonderer Weise interessiert sein müßten. 4 Wir haben es in jeder Gesellschaft und ihren Teilbereichen mit Menschen zu tun, die ihre Fehler und Schwächen haben; dies gilt auch für 4 Wolfgang Schmitz: Christliche Sinnfindung und neues Ordnungsdenken, in: Politik und christliche Verantwortung, Festschr. für F. M. Schmölz, hrsg. von Gertraud Putz u . a ., Innsbruck 1992, S . 173 ff.

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Politiker und Verbandsfunktionäre. Man kann Institutionen verbessern, was freilich auch bedeutet, daß es Menschen mit entsprechenden Grundhaltungen gibt. In diesem Sinn brauchen wir Politiker und Funktionäre in allen Institutionen, denen für die gesellschaftliche Entwicklung Bedeutung zukommt. Ziel bleibt die Verbesserung der Institutionen. Dabei kann nicht einfach in einem Gleichgewicht der organisierten Großgruppen die Voraussetzung für eine Gemeinwohlordnung gesehen werden. Johannes Messner stellt in seinem Buch über den Funktionär fest, daß "unterentwickelte" Gebiete entstehen, wenn "an Stelle einer nach den Forderungen der Gerechtigkeit angestrebten Gemeinwohlordnung" nur ein "Gleichgewicht im Gegeneinander der Gruppen" verwirklicht wird, die "gesellschaftliche Macht" besitzen. 5 Es müssen auch die tragenden Institutionen des Staates in die Verwirklichung der Gemeinwohlordnung einbezogen sein, denen die letzte Verantwortung zukommt. Sonst drängen die organisierten Großgruppen die Machtlosen an den Rand. John Rawls bezeichnet als Ziel der Gerechtigkeit eine entsprechende Grundstruktur der Gesellschaft: Es gehe um die Frage, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und Grundpflichten sowie die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen. 6 Arthur Rich spricht von "Fairness" als Weg zur Lösung von Verteilungsfragen. 7 Die soziale Gerechtigkeit läßt sich nur in gewissen Grenzen verwirklichen, muß aber immer mit neuen Anstrengungen angestrebt werden. So kann eine Sozialpartnerschaft den sozialen Frieden sicherstellen, damit ein Klima sachlicher Verhandlungen. In diesem Klima können dann koordinierte Verhandlungen mit Lohnabschlüssen geführt werden, die sich in eine gesamtwirtschaftlich konzipierte Lohn- und Einkommenspolitik einfügen. Sache der gesamtstaatlichen Institutionen ist es dann, die Einkommensentscheidungen für die sozial schwächeren Gruppen wie die Pensions- und Rentenbezieher, die über keine starken Interessenverbände verfügen, zu finden. Jede christliche Soziallehre rückt von den Ideen der Klassenspaltung und des Klassenkampfes ab: Die Enzyklika "LABOREM EXERCENS" stellt die Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit besonders nachdrücklich heraus und will mit einer "Vielfalt von Körperschaften mittlerer Ebene mit wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Aufgaben" eine Gemeinwohlordnung verwirklichen (14). Wichtig ist, daß nicht nur die mächtigen Großgruppen, sondern möglichst alle Schichten in diesem Verbandsgeflecht der pluralistischen Gesellschaft vertreten sind, daß in diesen Organisationen, 5

6 7

Johannes Messner: Der Funktionär, Innsbruck u . a . 1961, S. 260. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, S. 23 ff. Arthur Rich: Wirtschaftsethik, Gütersloh 2 1986, S. 208.

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aber noch viel mehr in den gesamtstaatlichen Institutionen wie Regierung und Parlament Persönlichkeiten wirken, die über ihren eigenen Interessen und denen ihres Umfeldes nicht die Gemeinwohlziele aus dem Auge verlieren.

IV. Übereinstimmende Gemeinwohlziele Konsens- und Konkordanzdemokratie gewinnen heute an Bedeutung. Dies mindert nicht die wichtige Funktion der Opposition. Es zeigt sich aber, daß Gemeinwohlinteressen im Sinne der Erhaltung des bestehenden politischen Systems, der politischen Kultur und noch mehr der Lebensgrundlagen der Gesellschaft nur möglich sind, wenn starke politische Kräfte über jene Mehrheiten verfügen, die auch längerfristige Lösungen der anstehenden politischen Probleme ermöglichen. Das bedeutet nicht Erstarrung eines bestimmten Regierungssystems. Es geht nur darum, jene Instabilität zu vermeiden, die bei jeder mit Belastungen verbundenen längerfristig wirksamen Maßnahme Legislaturperioden vorzeitig beendet und kurzfristig wirkende Regierungen nicht die Kraft aufbringen läßt, staatspolitisch notwendige Reformen durchzuführen. In unserer Zeit stehen in Europa so entscheidende Fragen wie die der Großraumbildung und Integration an, ebenso Fragen der Umweltsicherung, die nur überstaatlich und international sinnvoll lösbar sind. Die Katholische Soziallehre gibt ebenso wie die Evangelische Sozialethik zukunftsweisende Hinweise: Vor allem wird die Notwendigkeit einer Kooperation aller staatstragenden Kräfte zur Erreichung von Gemeinwohlzielen immer wieder hervorgehoben. Auch im Bereich der Orthodoxie kommen mahnende Stimmen, so angesichts der schwierigen Lage in Rußland vom Patriarchen Aleksej II und anderen Bischöfen. Es bildet sich aus ökumenischer Sicht allmählich viel Gemeinsames an Christlicher Soziallehre heraus: Darin liegt gewiß eine starke Zukunftshoffnung für verstärkte gemeinsame Bemühungen aller christlichen Kirchen. Es mag dabei noch ein weiter Weg zu einer wirklich gemeinsamen Soziallehre zu gehen sein: Leichter sind aber gemeinsame Auffassungen über die anstehenden sozialen Probleme zu gewinnen als etwa über theologische Differenzen. Caritas, Flüchtlingshilfe, Sorge für die Entrechteten und Benachteiligten - all das sind Probleme, für die aus dem Geist der Bergpredigt gemeinsame Lösungen gefunden werden können. Franz Hornerist nach einer Analyse von Programmen konservativer und christlichdemokratischer Parteien zum Ergebnis gelangt, daß das Bekenntnis dieser Parteien zum Pluralismus wesentlich ist. 8 Die Bejahung der 8 Franz Horner: Konservative und christ-demokratische Parteien in Europa, Wien 1981, S . 93 ff.

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Vielfalt gesellschaftlicher Beziehungen, die zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft wirken - wobei der einzelne in seiner Eigenständigkeit nicht unterdrückt werden darf- macht das Wesen dieses Pluralismus aus. Heute kommen mehr oder minder alle modemen demokratischen Parteien zu einer solchen Pluralismuskonzeption. Die stärkere Differenzierung unserer Gesellschaft im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich, die Vielfalt der Institutionen und die hohe Konfliktintensität muß durch mehr Solidarität ergänzt und ausgeglichen werden. Dies ist auch ein Grundanliegen jeder Christlichen Soziallehre. Es geht in diesem Sinn darum, übereinstimmende Gemeinwohlziele herauszustellen. Eine Kultur der Solidarität muß auch das politische System kennzeichnen: Die Gruppeninteressen müssen überall dort zurücktreten, wo die Gemeinwohlziele vorrangig sind. Die Konsensfindung auch in umstrittenen Fragen grundsätzlicher Art mag oft schwierig sein: Denken wir an Fragen der Landesverteidigung, der Integration mit der Aufgabe bestimmter Souveränitätsrechte, an die notwendige Ansiedlung von Flüchtlingen, denen eine Rückkehr in die Heimat nicht möglich ist. Am schwierigsten ist es, die Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung in Fragen der Solidarität mit der Dritten Welt zu finden- einem Grundanliegen der Christlichen Soziallehre, dies aus der Sicht aller großen christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Es geht um einen "ökonomischen und ethischen Minimalkonsens über die wirtschaftliche Lage der Menschheit angesichts der technischen und kulturellen Entwicklung", aber auch um umfassende Initiativen, die Lebensqualität aller Menschen entscheidend zu heben (R. Weiler) 9 • Der angesehene evangelische Sozialethiker Rolf Kramer macht deutlich, daß man im Fall dieser Entwicklungshilfe nicht allein auf die ordnenden Kräfte des Marktes vertrauen könne. 10 Die christlichen Kirchen haben auch immer neben der materiellen die geistigkulturellen Hilfen in den Vordergrund gestellt, dies nicht nur in ihrer Missionsarbeit, sondem insbesondere im Schul- und Hochschulwesen.

Wir sind uns heute noch wenig der Tatsache bewußt, daß es auch ein "Weltgemeinwohl" gibt, daß wir alle letztlich ein Interesse haben müssen, diese Erde als Wohnstatt für die Menschheit zu erhalten. Dies bedingt nicht nur ein Bewußtsein für die Notwendigkeit einer intemational koordinierten Umweltpolitik, sondem auch die Einsicht in die Bedeutung der Entwicklungspolitik als eines entscheidenden Teiles einer weltweiten Gesellschaftspolitik. Rudolf Weiler spricht in diesem Sinn von der heute zu wenig einsichtigen Tatsache, daß "Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe nicht ein Almosen an die Entwicklungsländer, sondem Ausdruck solidariRudolf Weiler: Internationale Ethik, 2. Bd., Berlin 1989, S . 179 ff. Rolf Kramer: Die christliche Verantwortung in der sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart 1973, S. 200 ff. 9

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scher Pflicht und damit eine Rechtsfrage im Zusammenhang mit dem Weltgemeinwohl" darstellen. 11 Wolfgang Schmitz hat in seinem grundlegenden Beitrag in diesem Buch die menschliche Gesellschaft als eine Konfliktgesellschaft dargestellt - das nicht nur im staatlichen Bereich, sondern ganz besonders auf Weltebene. Die Entwicklungspolitik mit dem Ziel einer allmählichen Anpassung erscheint aus heutiger Sicht als Utopie. Christliches Sozialdenken ist bei allem Sozialrealismus utopisch in dem Sinn, als es von einem starken Optimismus erfüllt ist und in Langzeitkategorien denkt. Kirchen, die in eine weite Vergangenheit zurückblicken, vermögen auch eine langfristige Zukunftsvision zu entwickeln. Ein Bischof aus einem sehr armen Land, der äthiopische Patriarch Abuna Paulos, hat bei seinem Wien-Besuch im Juni 1993 mit allem Nachdruck hervorgehoben, daß sich die christliche Nächstenliebe auf "die Nahen und die Fernen" beziehen müsse. Es geht bei einer Zukunftsvision des Christentums immer mehr um eine Sicht einer weltweiten Gemeinschaft, dies trotz aller Differenzierungen und Spaltungen. Im demokratischen politischen System wirken viele Institutionen an den Entscheidungsprozessen mit, nicht nur Regierung, Parlament und politische Parteien, sondern auch die zahlreichen Verbände und viele andere Organisationen, vor allem auch die Träger der Massenmedien. Diese pluralistische Form der politischen Meinungsbildung und der damit verbundenen Entscheidungsprozesse vollzieht sich in vergleichbarer Form auch in den überstaatlichen Bereichen, so bei der europäischen Integration. Trotz der Vielfalt der mitwirkenden Institutionen treten die Gemeinwohlziele vielfach deutlicher hervor. Wichtige gesellschaftspolitische Grundanliegen wie Friedenssicherung innerstaatlich und weltweit, Umweltschutz und Schutz des Lebens werden immer mehr zu gemeinsamen Zielen. Entscheidend ist, daß die Institutionen in der Lage sind, die immer neu aufbrechenden Interessenkonflikte zu lösen. Die Institutionenethik wird zu einem entscheidenden Grundanliegen. In allen diesen Institutionen wirken Menschen, die an einer funktionsfähigen Ordnung der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche interessiert sind. So verbinden sich die Interessen der einzelnen mit denen der Institutionen und der staatlich oder international organisierten Gesellschaft. V. Gegenkräfte und Störfaktoren Mit diesen Überlegungen soll nicht eine utopische Zukunftsvision dargestellt werden. In der menschlichen Gesellschaft gibt es immer wieder Zeiten, in denen starke Zeichen der Hoffnung wirken. Dies mag für 1789 ebenso gegolten haben wie für 1989. Die Hoffnungen auf die Französische 11

Rudolf Weiler: a. a . 0 . S. 221.

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Revolution haben nur kurzfristig gewirkt. Das Hoffnungsjahr 1989 wird von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika "Centesimus annus" besonders gewürdigt. Der Papst erinnert daran, daß im Verlauf der Achtzigerjahre in Afrika, Asien und Lateinamerika gleichfalls diktatorische, "von Unterdrückung gekennzeichnete Regime" zusammengebrochen sind. So sei die Hoffnung "auf einen Wandel" berechtigt; es gehe um eine gewaltlose Überwindung von Ungerechtigkeit, um den Aufbau eines menschenwürdigen Lebens in solidarischer Zusammenarbeit, in besonderer Weise auch um Hilfe für die Staaten, die eine neue politische Ordnung erreichen wollen (22, 28, 29). Trotz der schwierigen Lage der GUS-Staaten, trotz der Fülle der ungelösten Probleme Osteuropas sollte dieser Geist der Hoffnung aufrecht erhalten werden. Die immer neuen Mahnungen des Papstes zur Hilfe durch die demokratischen Industriestaaten des Westens sowohl an die Dritte Welt als auch an die ehemals kommunistischen Länder zeigen die Wege zur Verwirklichung einer Ordnung im Sinne des Weltgemeinwohls auf. Gegenkräfte wirken heute in vielen Bereichen: Im besonderen ist es der übersteigerte Nationalismus, der Kräfte einer Entsolidarisierung auf nationaler wie auf internationaler Ebene auslöst. Dabei werden auch reaktionäre Gruppen wieder aktiv, die sich gegen jene Reformen wenden, die eine marktwirtschaftliche Ordnung mit einem demokratischen politischen System verbinden wollen. Innerstaatlich zeigen sich diese nationalen Bewegungen in einer Ausländerfeindlichkeit, vor allem in jenen Staaten, die über einen hohen Gastarbeiteranteil verfügen und I oder zahlreiche Flüchtlinge aufgenommen haben. Nationalismus dieser oder jener Art ist immer Gruppenegoismus, gemeinwohlwidrig und destruktiv. Störfaktoren gegen Durchsetzung von Gemeinwohlinteressen zeigen sich in weiten Bereichen der Medien. Eine einseitige Kritik bestehender Institutionen und Ordnungskräfte ruft Skepsis und Mißtrauen hervor: Die Zweifel an den Fähigkeiten und auch den Möglichkeiten der verantwortlichen Entscheidungsträger werden in unsachlicher Art übertrieben. Gewiß können Fehlentwicklungen wie die im zerfallenen Jugoslawien solche Skepsis verursachen. Bundespräsident Thomas Klestil hat beim Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps 1994 gesagt, angesichts eines Versagens des Sicherheitssystems müsse es eines der zentralen Ziele internationaler Zusammenarbeit sein, der Politik und ihren Institutionen wieder mehr Glaubwürdigkeit zu geben. Dazu ist nicht zuletzt sachgerechte und wahrheitsorientierte Berichterstattung in den Medien notwendig. Noch dringender ist der Gewaltverzicht auf nationaler wie internationaler Ebene. Wir sehen immer wieder brutale Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung, dies

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besonders häufig bei nationalistischen Gruppierungen. Attentate und Auslösung innerer Unruhen bedrohen auch heute die Sicherheit und die Stabilität in einer Reihe von Staaten. VI. Die Zukunftsvision einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nach so weitgehenden Zerstörungen materieller und geistiger Werte, nach dem unfaßbaren Massenmord an so vielen Menschen hat Johannes Messner mit seinem "Naturrecht" zur Besinnung auf die Rechtsgrundlagen aufgerufen, die in der Menschennatur begründet sind. Ausgehend vom natürlichen Sittengesetz stellt Messner für jede Handlung des Menschen, so auch in der Politik, die Notwendigkeit einer Gewissensentscheidung heraus. Die Vernunftseinsicht sagt dem Menschen in den größeren und kleineren Gemeinschaften, was rechtens ist; in diesen Gemeinschaften soll er auch lernen, über seine kurzfristigen Interessen die Bedeutung von Gemeinwohlwerten zu erkennen, aber auch jene Toleranz erlernen, ohne die keine menschliche Gemeinschaft bestehen kann. So lernt der einzelne auch die "Institutionenethik" schon in der Familie. Nach Messner soll eine zukunftsweisende Gesellschaftspolitk den "Bestand der staatlichen Gemeinschaft dadurch verbürgen", daß sie unter Wahrung des Gemeinwohlzieles allen Leistungsgruppen und allen sozialen Schichten einen gerechten Anteil am Volkseinkommen sicherstellt. 12 Messner spricht auch von der Vielfalt der naturrechtlich begründeten Gesellschaftsgebilde; das politische System muß diesem Pluralismus immer wieder gerecht werden: Messner weist auf den Verantwortungspluralismus hin, auf die vielschichtigen Verflechtungen der Entscheidungsträger in der Demokratie. 13 Geteilte Verantwortung, wie sie in der pluralistischen Gesellschaft erforderlich ist, setzt Toleranz und Kompromißbereitschaft voraus, aber auch die Fähigkeit der staatlichen Entscheidungsträger, immer wieder auf den Ausgleich von Gruppeninteressen Bedacht zu nehmen. Aber nur scheinbar sind die zentralistischen Entscheidungen in Diktaturen leichter: Gewiß können sie auf den Interessenausgleich weitgehend verzichten. In der Demokratie sind die Entscheidungsprozesse schwieriger: Sie sind aber gerade durch die Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Gruppen in der Gesellschaft von mehr Stabilität getragen, vor allem durch mehr Gerechtigkeit bestimmt. Letztlich entspricht das so komplexe Entscheidungssystem der demokratischen Ordnung mehr der Menschenwürde. 12 Johannes Messner: Art. Gesellschaftspolitik, in: Kath. Soziallexikon, Anm. 1, Sp. 332 ff. 13 Johannes Messner: Der Funktionär, s. Anm. 5, S . 27 ff., 257 ff., 271.

EIGENES IM GEMEINSAMEN oder IN DER SPANNUNG ZWISCHEN EIGENINTERESSEN UND GEMEINSCHAFTSINTERESSE

Fragmentarische Überlegungen basis-sozio-ökonomischer Art* Von Ferdinand Reisinger I. Erste Erkundungsschritte an der Sache Der Titel dieses Überlegungsganges ist nicht von vornherein selbstverständlich. Eine Präzisierung der Absicht ist von Nöten, damit wir das vielfach Deutbare in die Nähe der Eindeutigkeit bringen. Beabsichtigt ist nicht weniger und nicht mehr als dies: eine begründende Deutefigur zur Sprache zu bringen, sie sodann auszuleuchten und auf ihre Tragweite zu befragen. Zu Hilfe kommt dabei das soziologische Denken eines Kirchenvaters, des heiligen Augustinus. Er war zweifelsohne einer jener Vordenker, die die Bedeutung des Individuellen, des Existenziellen, des Persönlichen unterstrichen haben. Aber er war, so meine ich mehrfach nachweisen zu können, auch ein Mann mit viel soziologischem Gespür, mit einer Antenne für die Strebekräfte im Zusammenleben (auf kleinem Raum, wie auch in der Friedens- bzw. Unfriedenswirklichkeit in Kirche und Welt). Welche Interessen treiben uns - als Menschen, als Christen? Ist es eindeutig, was wir anstreben müssen: das Eigene oder das Gemeinsame? Suchen wir das Gemeinsame, soweit es das eigene Interesse braucht und zuläßt, oder müssen wir das Eigene reduzieren um eines größeren Gemeinsamen willen? Wohin neigt das Herz- das einzelne wie das einer Gemeinschaft? Was erstrebt die Seele- die individuelle wie die kollektive? Gibt es einen Seismographen dafür, was wir können - einzeln und gemeinsam - , einen Impulsgeber dafür, was wir sollen, eine Eichskala dafür, was wir wollen (können, mögen, sollen, müssen) .. .? • Das Thema ist ausführlicher behandelt in: F. Reisinger, Vom Eigenen im Gemeinsamen. Ein sozio-theologischer Überlegungsgang - mit der AugustinusRegel in der Hand . . ., in: In unum congregati (Mitteilungen der Österreichischen Chorherrenkongregation, 39. Jg. (1992), Heft 1 I 2, 77- 91; auch: Ferdinand Reisinger, Vom Eigenen im Gemeinsamen, in: Geraser Hefte (Jg. 1992), 18-23. 13 Interesse und Moral

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Aber halten wir inne: Unser (Rahmen-)Thema ist zuerst das des Interesses. Zwischen Eigenem und Gemeinsamem sind wir ausgespannt: im Sozialen, im Existenziellen und im (Höchst-)Persönlichen. Welchem Interesse sollen und dürfen wir dienen, welche Seite darf nicht zu kurz kommen? Geht es in meinem Leben vorrangig um meinen Nächsten- wer immer das sein mag -, oder bin ich mir doch selber der Nächste? Das AusgespanntSein kommt einem sensiblen Schaukeln auf einem Schwebebalken gleich: Wohin sollen wir das Gewicht verlagern ... ? Menschenleben ist Eingespannt-Sein und ein Hineingenommen-Sein in einen spannenden Interessenskampf. Wir sind auf Gedeih und Verderb mitten drin- und das heißt eigentlich "interessiert". Ob wir das Interesse voll wahrnehmen, annehmen und verantwortlich gestalten, ist freilich eine andere Frage ... Aber darum geht es eigentlich bei den Anstrengungen in der Politik, bei der Gestaltung von Gesellschaft. Es ist somit eine Frage nach der Grundfigur des mit- und füreinander Lebens. Das meint eine Fragerichtung, in der die großen Worte und Leitprinzipien von Solidarität und I oder Subsidiarität beheimatet sind. Es ist eine Anfrage an unser Streben nach der Selbstverwirklichung und I oder dem Gemeinwohl, an die Schwerpunktsetzung zwischen Zentralismus und I oder Föderalismus, letztlich ein Einpendeln zwischen Einheit und Vielfalt (oder wie immer man die Spannung in den überkommenen Formeln fassen mag). Auf dieser Spur wollen die folgenden Gedanken Ausschau halten. Hören wir hin auf das, was das Leben sagt. II. Interessens-Befragung Vorweg: Besagt es etwas, daß wir in unserer Sprache das (Lehn-)Wort "Interesse" haben, daß wir seinen Sinn kennen und erspüren? Was bedeutet es aber, und was könnte es besagen, daß wir das anders orientierte Wort, nämlich "Extraesse", nicht kennen? Man müßte das wohl so interpretieren: Der Mensch ist ein "Interessent", ein "Insider" in seiner Welt, in der Welt überhaupt. Und doch gibt es so viel Klage über (öffentliches wie privates) Desinteresse. Die Zeitgenossen sind offensichtlich am Rückzug, am Marsch zurück in eine Nische (des Privaten, des Höchstpersönlichen, das niemanden etwas angeht). Die Menschen möchten lieber heraus aus der Welt, in der man eigentlich Insider sein müßte. Da ist also heutzutage vieles in Gang, und nicht wenig steht auf dem Spiel .. .

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Vielleicht mag das Wortspiel ("Interesse - Extraesse") zunächst recht trivial erscheinen. Und doch ist die gemeinte Sache im Sozialen, im Ökonomischen, im Ökologischen nicht unerheblich. Unsere Alltagssprache, unser Sprachgebrauch, das, was wir sagen, macht uns aufmerksam darauf, wie wir denken, fühlen, wie wir sind; wie wir von der Welt, von uns selber (von einander, vom Miteinander und auch von Gott) reden, so leben wir . . . Die Befragung der einfachen Redeweise über das Insider-Sein oder Outsider-Sein, vom jeweiligen Interessiert-Sein reicht sicher nicht aus, um die Komplexheit der Bezüge, aber auch der Beschränkungen, in denen Menschen und Gruppierungen stehen, auszuleuchten. Und noch dazu sind die Menschen nun einmal nicht eindeutig, sondern vielseitig. Sie leben nicht geradewegs, sie gehen nicht geradeaus durchs Leben, so als hätten sie nur ein Interesse. Wir irren und suchen, mehr hierhin oder mehr dorthin. Und nun tut das nicht nur ein Einzelner, sondern das tun viele, ja alle! Die Interessen kollidieren, kreuzen sich; was mag dabei herauskommen ... ? Ich möchte die beiden großen Buchstaben

E-G als Kürzel einführen und verwenden: und das bedeutet zunächst " Eigenes - Gemeinsames". Das Kürzel allein aber assoziiert schon vieles. Es bringt eines der Problemfelder, nämlich das der "Europäischen Gemeinschaft" sofort in Erinnerung. Und dabei beginnt wohl auch schon das Schwanken, wohin es uns denn zieht: hinein oder heraus ... Leben ist zweifelsohne immer - das heißt innerhalb einer gewaltigen Menge von Interessen - ein Schwanken. In Interessensbezügen stehen heißt auch: in einem Zustand von Ruhelosigkeit leben müssen. Unser InsiderSein und Interessiert-Sein ist somit auch ein Dazwischen-Sein, ein Mittendrin-Sein, mit Anhänglichkeiten dorthin oder hierhin. Die Rede von den Interessen hat also da ihren Ort: bei den Menschen als Zwischenwesen, als Hin- und Hergerissenen, und als Akzente-Setzenden. Die Scholastik war bemüht, Ordnung im Leben zu sehen, Ordnung ins Dasein zu bringen; sie entwickelte zu diesem Zweck eine Theorie von den " inclinationes naturales". Es scheint, daß die im Deutschen übliche Übersetzung dieses Terminus mit "Strebekräften" nur einen Teil des Problems und der Sache zur Sprache bringt. Die "Tendenzen" sind gemeint (vgl. "tendere"); wie sie da sind, sollen sie erhoben werden; sie sind aber nicht leicht auf einen Nenner zu bringen . . . "Ich bin wie ich bin - wir sind wie wir sind": Das ist mehr als eine komplexe Tatsache; das ergibt so etwas wie eine "Gemengelage": einen ganzen Haufen von Entwicklungen, mit einer Vielzahl von Überlagerungen: 13*

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schichtenweise, haufenweise, bisweilen chaotisch verknüpft und hin- und hergezerrt. Kann man merken, wohin wir tendieren? Oder wissen wir vielleicht sogar, wohin wir tatsächlich neigen, wohin es uns zieht (uns, mich, die anderen)? Ergibt sich daraus ein Gesamtprojekt des Wollens? Und was kann dabei herauskommen ... ? Die bisherigen Überlegungen klingen ein wenig nach dem Motto: "Rettet das Chaos". Aber genau das wollen wir nicht: daß es nur drunter und drüber geht. Die fundamentalen soziologischen und ökonomischen Fragen lassen sich auf der Basis einer Chaosphilosophie kaum artikulieren, geschweige denn lösen. Eine sozio-ökonomisch vertretbare Ethik braucht darum auch Aussagen anderer Art, auch solche über Basisstrukturen; danach suchen wir: Läßt sich ins Insgesamt des turbulenten Geschehens - gerade auch in Politik und Wirtschaft - eine Ordnung hineindenken, vielleicht sogar hineinbringen? Bis zum Beweis der Unmöglichkeit wollen wir daran festhalten, daß man es versuchen sollte. Was hier jetzt angegangen wird, ist der Versuch eines Querschnitts: anhand der sozialen Wirklichkeit soll erkennbar werden, welche Hauptstränge es im Beziehungsgeflecht menschlichen Daseins gibt: Die These lautet: "Eigenes im Gemeinsamen" oder "Eigenes im Wettstreit mit dem Gemeinsamen"? Wenn wir es auf die Formel bringen

"E + G", dann spüren wir, daß es bisweilen ein Kreuz gibt zwischen den Interessen, die da sind, die rivalisieren- in uns, zwischen uns, unter uns .. .

m. Eigenes : Gemeinsames Wie können wir das Eigene umschreiben, wie das Gemeinsame, und wie deuten sich die beiden Pole in ihrer Beziehung? Klarerweise stellen wir uns dies so vor: Das Eigene ist das Kleinere als das Gemeinsame; wie aber verhält sich nun das Kleinere zum Größeren? Welchen Part nimmt der Teil im Ganzen ein, was können und sollen die Einzelelemente im Verhältnis zu den zumeist anderen, zu mehreren, zu allen .. .?

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Und welches ist nun eigentlich der Korrelationsbegriff zum Gemeinsamen? Kann nicht als Widerpart zum Gemeinsamen auch das Einsame gedacht werden? (Diese abweichende Spur sollten wir nicht ignorieren). Aber bleiben wir beim Unterschied zwischen Eigenem und Gemeinsamem: Das Eigene wie das Gemeinsame beinhalten auch eine gewisse ökonomische Komponente. Das Eigene wie das Gemeinsame beinhalten ein gewisses "Haben". Das Eigene und das Gemeinsame fragen nach dem Meinen und nach dem Unseren. Welchen Posseß, welchen Besitz, welche Potenz haben die eigenständigen Teile gegenüber dem Gemeinsamen? Gerade hier steht das Eigene sehr oft in einem gewissen Gegenüber zum Gemeinsamen. Das Eigene will das Selbständigsein, das oft in einem konträren Interesse zum Vorgegebenen gesucht wird. Und dann besteht noch eine weitere Möglichkeit: daß das Eigene einfach neben dem Gemeinsamen gesucht wird und allein stehen möchte. Das Eigene wird zum Privaten, d. h. zum "Herausgelösten", zum HöchstEigenen, das möglichst ohne Bezug zum Gemeinsamen definiert wird. Radikal und total ist eine solche Separation freilich nicht möglich. Im großen und ganzen stehen das (jeweils) Eigene und das Gemeinsame in einer Wechselwirkung, in einer Korrelation. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Es hängt also vieles davon ab, wie jeder sein Eigenes sieht und definiert; das hat Auswirkungen auf die Rolle des Gemeinsamen. Und wenn überhaupt kein Gemeinsinn mehr da ist, endet alles in einer Wüste von Eigensüchtigkeit. Wenn aber das Gemeinsame mit Härte diktiert wird, verlieren die einzelnen Teile den gesunden Eigenstand. Es geht also um nicht weniger und auch um nicht mehr als um eine Standortbestimmung und um den Stellenwert vom Eigenen im Gemeinsamen respektive gegenüber dem Gemeinsamen. Es ist also eine nicht unerhebliche Frage, ob dem Eigenen ein wirklicher Selbstand zukommt. Ist etwas ein in sich gültiges Eigenes oder ist es nur ein Teil eines jeweiligen Ganzen? Falls es wahrhaftig Eigenes ist, kann es nicht billig aufgelöst oder aufgehoben werden. Es kann sich freilich einbringen, es muß sich entfalten können in einem gemeinsamen Wollen, möglicherweise bis zur selbsterstrebten Aufhebung des eigenen Selbst - ohne daß es sich deswegen in ein Nichts auflöst oder zunichte gemacht werden muß. (Dies beinhaltet (nicht zuletzt in kirchlichen Kontexten) eine soziologische Problematik mit vielen Konsequenzen für den Bestand von (geistlichen) Sozietäten.) Eine weitere Frage, die sich ergibt, ist die: Wie weit muß das Eigene sich (gleichsam) begrenzen und einschränken, wenn es in einem Gemeinsamen seinen Platz finden und behaupten will? Und das ist keine statische Angele-

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genheit; das beinhaltet Dynamik. Es ist die Frage des Gebens und des Nehmens. Was bringt ein einzelnes Individuum, eine Gruppe in ein jeweiliges Gemeinsames ein, und was hat es und braucht es vom Gemeinsamen? Anschauungsbeispiele für diese Thematik finden sich auf jeder soziologischen Ebene: in der Ehe, in der Familie, in der Kleingruppe, in der Ordensgemeinschaft, im Staat, im Staatenverband (wie der EG bzw. EU), in der UNO und nicht zuletzt auch in der Kirche. Wie weit ist es hier möglich, das Eigene zu bewahren und trotzdem Mitglied in einem Gemeinsamen zu sein? Welches Gewicht hat der bzw. das Einzelne im Gemeinsamen (Frage nach Identität)? Wie kann man sich und sein Anliegen zur Sprache bringen, welche Resonanz erfährt man dabei? Wenn wir das reflektieren, geht es somit um ein grundlegendes Kapitel im Demokratieverständnis: Es ist auch eine Frage nach der Struktur: nach der solidarischen wie auch nach der subsidiären Struktur, nach dem Verhältnis von den Starken zu den Schwachen, vom Oben zum Unten (et vice versa). Natürlich treffen dabei Interessen aufeinander, die jeweils auch ein Stück existenzielle Realität verkörpern. Sie können mehr oder weniger gegeneinander gerichtet sein, sie können irgendwie nebeneinander herlaufen, sie können aber auch einander bekämpfen oder sonst irgendwie aufeinander abgestimmt sein. In jedem Gemeinwesen aber gibt es ein diffuses Konglomerat von Problemen und Anliegen. Zum Beispiel: Wenn Österreich seinen Beitritt zur EU vorbereitet bzw. zur Abstimmung bringen will, gibt es die einen Interessen, die dafür sprechen, die anderen, die zuwiderlaufen. Es ist nicht leicht möglich, alles in einem gemeinsamen Interesse zu integrieren. Möglich ist allenfalls ein Kompromißpaket, von dem aber noch lange nicht gesagt ist, daß es tatsächlich die Mehrheit bzw. alle befriedigen kann ...

IV. Ein Reflexionsansatz (vielleicht sogar ein Lösungsmodell) beim hl. Augustinus Wie ist der Schwebebalken im Interessensspannungsfeld in der Waage zu halten? Gibt es Schwergewichte, die nach der einen oder der anderen Seite ziehen oder drücken? Gibt es eine Möglichkeit, einem Hang nach einer Seite gegenzusteuern? Und noch einmal: Woher kommt eine Eichmarke, an der man den Gang der Dinge messen könnte ...? In kleinen Gemeinschaften wird das Sensible dieser Frage schnell erkennbar. Regelungen für Gemeinschaftsleben sind darum allemal genötigt, diese bestehenden Fakten und die darauf folgenden Reaktionen zu benennen und dagegen Korrekturimpulse zu setzen.

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Die soziologische Aussagekraft von Ordensregeln als Modelle für andere Gemeinschaftsgefüge wird unterdessen mehrfach angesprochen. Die Regula des hl. Benedikt ist so etwas wie ein fundamentaler Entwurf für einen (spirituellen) Kloster(auf)bau; die Autorität des Abtes ist die eine Säule, die Bereitschaft, sich einzuordnen, die andere. Bei Ignatius von Loyola ist die "acies ordinata" das Leitbild, in das sich die einzelnen Glieder einfügen wie in eine bindende Vorgabe. Auch der hl. Augustinus hat (so etwas wie) eine Ordensregel geschrieben. Es ist eine Gelegenheitsschrift (Epistula 210, verfaßt um das Jahr 410). Es ist ein kurzes und sensibles Dokument, "mehr Gebet als Gebot" ; sie ist in mehrfacher Hinsicht eine Paraphrase: Die eine Verstehensfolie ist das "Vater unser" (vgl. das Schlußkapitel), die andere das Hauptgebot der Liebe (vgl. den Einleitungssatz). Es geht um Liebe "en gros und en detail", wie sie das Bild der florierenden Jerusalemer Urgemeinde vorstellt: daß alle "ein Herz und eine Seele waren" (Apg 4,32). Es geht also um ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem Augustinus aber sehr wohl weiß und erspürt, daß es aus (zum Teil grundverschiedenen) Einzelelementen (und was für welchen!) besteht; beinahe alle denkbaren Unterschiede werden dabei angesprochen; es gibt die Armen und die Reichen, die Gesunden und die Kranken, die Idealisten und die Realisten, die Demütigen und die Stolzen, die Streitsüchtigen und die Friedenswilligen, die Introvertierten und die Extravertierten, die mehr oder weniger Heiligen. Die Augustinusregel kennt vorweg keine Aufnahme- bzw. Einstiegskriterien (also auch nicht das der Gemeinschaftsfähigkeit): "In unum congregati (sunt)": So stehen die vielen beisammen: mit Richtung auf Einheit. Die angesagte Einheit ist aber nicht von der Art einer zwingenden Uniformität, sondern rechnet mit der respektvollen Anerkennung der Eigenheiten all jener, die da sind. Das erfordert fürs erste (den rein menschlichen) Anstand und Respekt voreinander. Da dies nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, ist es keineswegs ausgemacht, daß das Wagnis Communio gelingen muß. Es braucht den (bzw. die) Verantwortlichen, die für das Funktionieren des Unternehmens "Gemeinschaft" Sorge tragen; sie sollen freilich nicht wie Herren über die anderen verfügen wollen, sie müßten vielmehr nach dem Vorbild des füßewaschenden Herrn zum Dienen bereit sein. Der Leitgedanke der Apostelgeschichte "und sie hatten alles gemeinsam" (4,32) ("et erant illis omnia communia") wird dabei nicht kollektivistisch (oder kommunistisch) interpretiert ("keinem gehört etwas, alles gehört allen"); es geht vielmehr um die Überwindung einer Habensmentalität ("weniger brauchen ist besser als viel haben (wollen)" Kap. III I 5); es geht um eine Klärung und Relativierung der Ansprüche ("non dicatis aliquid proprium"). Der Gemeinschaft ist damit dann eine Lebenschance eröffnet,

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wenn sie im Lot ist, wenn die Beziehungen spielen, wenn sich die Gemeinschaft auf die Einzelnen verlassen kann und die Einzelnen wissen, was sie in der Gemeinschaft wert sind. In diesem Kontext wird unser Thema nach Eigenem und Gemeinsamem in einer kurzen Passage explizit thematisiert (und um diesen Satz kreist das ganze Reflektieren in diesem Beitrag):

"Die Liebe - von der es heißt, sie sucht nicht ihren eigenen Vorteil (1 Kor 13) - stellt das Gemeinsame über das Eigene und nicht das Eigene über das Gemeinsame." (Kap. V I 2). Der Liebe ist es also aufgegeben, die Strebekräfte zu steuern, vor allem den Hang zur Eigensucht zu kompensieren. Vielleicht mag hier etwas anklingen von der Skepsis, die der Kirchenvater Augustinus zeitlebens (persönlich-praktisch, wie vor allem auch theoretisch) dem "amor sui", der Eigenliebe, entgegengebracht hat (vgl. sein Konzept der "Civitas Dei" bzw. "Civitas diaboli"). Jedenfalls ist in der bipolar ausgerichteten Formel der kritische Punkt im Visier: "Caritas sie intelligitur, quia communia propriis et non propria communibus anteponit". Es geht um ein "anteponere ", also um das Gewichten eines Interesses: Welcher Seite gibt man mehr Gewicht: dem Eigenen oder dem Gemeinsamen? Was bekommt schlußendlich den Vorzug, was gilt (für den Einzelnen wie für die Gruppe) als vorzüglich ... ? Der Mehrwert der Investition in den Gemeinschaftstopf wird also angesprochen: Wer mehr auf die Gemeinschaft als auf sein eigenes Wünschen schaut und bauen kann, leidet deswegen nicht Mangel oder Not; die Gemeinschaft sollte es dabei aber auch nicht darauf abgesehen haben, die (oder auch nur einen) Einzelnen in ihren legitimen Eigenrechten und Interessen zu entmündigen oder zu beschneiden. Hintangehalten sollte freilich werden eine "Selbstbedienungsgenossenschaft", in der jeder nur darauf kalkuliert, wie er im Gemeinschaftsunternehmen besser "abschneidet" oder vielleicht sogar "aussteigt". Eine Gemeinschaft, die überwiegend aus faulen oder spekulierenden "Minderleistern" besteht, die weniger investieren wollen, als sie herauszunehmen gedenken, kann nicht Bestand haben. Die Eichmarke muß (in allen Gliedern) bewußt bleiben; und das bedeutet eigentlich: Es braucht den Glauben daran, daß das Sich-Einbringen (das auch ein Sich-selbst-Zurücknehmen[-Müssen] inkludieren kann), nicht notwendig einen Verlust der Selbständigkeit und des Eigenstandes nach sich ziehen muß. Wenn genug an Gemeinschaftspotential da ist, lassen sich auch die Ausnahmen (die Kranken, die Gemeinschaftsgestörten, etc.) aushalten. Der "Grundwasser-

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spiegel" am Gemeinschaftssinn ( "unanimitas", "concordia ") darf aber eine gewisse kritische Marke nicht unterschreiten. In einer Gemeinschaft, in der es sich eine Vielzahl (oder- was Gott abhüten möge- vielleicht sogar die Mehrzahl) gut gehen läßt auf Kosten der gemeinschaftlich Engagierten, wird das Band der Solidarität bald reißen; das Gespür für die subsidiäre Gesinnung wird verdunsten; letztendlich bleibt auch die Entwicklungsmöglichkeit der Einzelpersönlichkeiten, (die ja auch der Gemeinschaft bedürfen), auf der Strecke. Wo das Gemeinsame nicht die ihr zustehende Wertschätzung erfährt, bleiben die Menschen (und die Menschlichkeit insgesamt) unter dem ihnen möglichen Niveau. Das Bemühen um die Gemeinschaftsgesinnung und in Richtung auf eine gemeinschaftsdienliche Praxis muß also auch das persönliche Streben prägen. Augustinus schreibt seine "soziologische Eichformel" darum mit dem folgenden Satz fort:

"Und ihr habt es um so weiter gebracht in eurer Heiligkeit, als euch dies gelingt" (nämlich: das Gemeinsame über das Eigene und nicht das Eigene über das Gemeinsame zu stellen). Das heißt mit anderen Worten: Jenen, denen es gelingt, das Gemeinsame zum eigenen Anliegen zu machen (und die nicht ständig zwischen den Vorund Nachteilen im Interessenskampf abwägend kalkulieren) ist in Aussicht gestellt, auch in ihrer eigenen Persönlichkeit zu wachsen; jene, die durch eigene Anspruchslosigkeit dem Gemeinsamen den Vorzug geben, die das Gemeinschaftsinteresse zum eigenen Projekt gemacht haben, gehen deswegen ihrer Einmaligkeit nicht verlustig. Menschen mit großem Gemeinschaftssinn werden gerade darin unverwechselbar (und oft genug auch unaustauschbar), sie werden zu Originalen. Die persönliche Sorge wie auch die institutionelle Verantwortung um den Bestand und um die Entfaltung des Gemeinsamen dieneneo ipso dem Wohl aller wie auch der Einzelnen, sofern die Gemeinschaftsziele nicht auf Kosten der persönlichen Entwicklung von Einzelnen angestrebt werden. Die Gemeinschaftsverantwortung hat darum auch dafür Sorge zu tragen, daß die Einzelnen ihre je eigene Möglichkeit und Verantwortung wahrnehmen (können und müssen!). Es gilt auch, darauf aufmerksam zu machen, wo sich die Einzelnen durch F1ucht in die Gemeinschaft selber zu entlasten suchen. Der Interessensausgleich in einer funktionierenden und spielenden Gemeinschaft ergibt sich nicht in einer kalkulierenden Abwägung (Wieviel muß jeder unbedingt zum gemeinsamen Wohl "bei-steuern"?); die Interessen können und müssen einander integrierend wahrnehmen. Die Gemeinschaft muß die Einzelnen (auch mit ihren bisweilen schrulligen Eigenheiten) gelten lassen ("leben und leben lassen"); die Einzelnen dürfen die

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Gemeinschaft aber auch nicht zum Mittel für ihre höchstpersönlichen, privaten Zwecke umfunktionieren. Die Waage der Gemeinschaft ist nur dann im Lot, wenn der Seismograph funktioniert, der anzeigt, wohin die Tendenzen derzeit zu massiv drücken: Wenn die Einzelinteressen zu sehr in Anspruch genommen werden, gilt es Wert darauf zu legen, den Gemeinschaftsanliegen mehr Gewicht zu verleihen. Wird andererseits das Gemeinschaftliche überbetont, so daß die Einzelnen unterzugehen (vielleicht sogar draufzugehen) drohen, wird es Zeit, den Gemeinschaftszwang zu lockern. Aufgabe der für die Gemeinschaft Verantwortlichen (und das können in einer zunehmend demokratisierten Gruppe immer mehr sein) ist es, Sorge zu tragen, daß sich beide Seiten, die nach dem Eigenen und die nach dem Gemeinsamen, gleichzeitig und in Bezugnahme aufeinander entfalten und kultivieren. Bedenklich wäre eine einseitige Entwicklung, in der die eine Seite nur auf Kosten der anderen es sich besser einzurichten trachtet. Die anders orientierte Tendenz ist anzustreben: daß die eine Seite zugunsten der anderen wirkt. Gemeinschaft aber spielt (nur), wenn sie mitspielende Mitglieder und Beitragsbringer hat. Die eben versuchte Skizze (die nichts anderes beabsichtigt als den hl. Augustinus paraphrasierend zur Sprache zu bringen) ist so etwas wie eine Vision einer Freiwilligen-Gemeinschaft (vgl. im Schlußkapitel der Augustinusregel: "Ihr sollt leben können wie Freie unter der Gnade und nicht wie Sklaven unter einem Gesetz"). Die hier mit eigenen Worten formulierte Grundfigur läßt sich denn auch - so meine ich belegen zu können detailliert in einzelnen Passagen der Augustinusregel noch untermauern (insbesondere im langen Kapitel über Streit und Versöhnung).

V. Die Frage nach der Brauchbarkeit Augustinus legt uns also einen Gemeinschaftsimpuls vor, in dem er aufzuzeigen versucht, was "die Regel sein sollte", was aber leider nicht immer möglich ist ... Gilt ein solcher Impuls nur für eine bestimmte Kleingruppe? Ist es ein Modell nur für Spezialisten, -aber keineswegs für die "breite Masse"? Diese Frage ist mehr als legitim. Es ist Wert darauf zu legen, die Problemlösungskompetenz einer These am jeweiligen Ort zu belassen: Was für wenige denkbar ist, muß noch lange nicht allen möglich sein; was im Kloster vielleicht erwartet werden kann, darf im Staat nicht vorausgesetzt werden. In der hier versuchten Skizze geht es aber auch keineswegs darum, ein einfaches Modell auf eine viel komplexere Wirklichkeit zu übertragen, d. h.

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die klösterliche Denkweise dem Staatsleben oder gar internationalen Beziehungen überstülpen zu wollen. Was aber- so vermute ich- legitimerweise aufgegriffen werden kann, ist dies: die Deutefigur anschaulich zu machen, die in sämtlichen Interessenskämpfen wirksam ist, seien sie nun einfacherer oder komplexerer Natur: Daß das Gemeinschaftsinteresse nur funktionieren kann, wenn es das Eigeninteresse akzeptiert, wenn es die Eigentendenzen zu ihrem Recht kommen läßt, sie aber auch in die notwendige Pflicht nimmt. Daß aber auch die Eigeninteressen den Namen "legitimes Interesse" nur dann zurecht verdienen, wenn sie nicht auf Kosten der Gemeinschaftserfordernisse grassieren. Jegliches Gesellschaftssystem pendelt also zwischen zwei Polen: Entweder: "Soviel Eigenes als möglich und soviel Gemeinsames als notwendig", oder: "Soviel Eigenes als notwendig und soviel Gemeinsames als möglich." (Dem ersten wären die liberalen Entwürfe zuzurechnen, dem zweiten die kollektivistischen und holistischen). Keine der beiden Thesen sollte absolut gelten. Sie stehen stets in sich korrigierender Spannung. Wenn die Interessenssphären aber nur in einem Interessenskampf gegeneinander gerichtet sind, führt diese Haltung zu nichts anderem als zur Auszehrung des Gesamten (d. h. des überhaupt vorrätigen Potentials). Wenn der Kampf radikal und brutal wird (sprich: im Krieg), ruinieren alle miteinander das Gemeinsame und damit sich selber. Wenn die spezifischen Interessen aber einander zugeordnet und wenigstens aufeinander abgestimmt sind (und bleiben), besteht die Chance zum gelingenden Aufbau des Gesamten, zugunsten des Gemeinsamen wie der jeweiligen Eigen-Chancen. Damit ist aber, so scheint es, auch der Zweck-Mittel-Zirkel aufgebrochen: Die einzelnen Interessen sind nicht dem Gemeinschaftsinteresse (wie Mittel zu einem Endzweck) unterzuordnen, und die Gemeinschaftszwecke haben nicht nur Dienstfunktion zum Wohl der Einzelnen: beide Seiten sind füreinander konstitutiv (gleichsam "con-konstitutiv"). Das eine scheint klar: Die Extreme sind in der christlichen Deutefigur nicht vertretbar; d. h. weder der krasse Individualismus nach stirnerscher Prägung ("mir geht nichts über mich"); genauso wenig aber auch der entmündigende Kollektivismus bzw. Kommunismus (nach dem Motto: "durch die Partei bin ich alles, ohne sie bin ich nichts"). In der Mitte gilt es einen Ausgleich und eine gegenseitige Aufhebung der Interessen ineinander anzustreben. Daß dies zweifelsohne viel Spürsinn, Selbstüberwindung, Realitätsbewußtsein und noch eine ganze Menge anderer Tugenden braucht, steht

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gewiß außer Zweifel. Daß dies alles sich nicht durch Zwangsmaßnahmen oder massive Parolen und Ideologien herbeizwingen läßt, gilt genauso. Daß aber auch der rohe Interessenskampf (um seiner selbst willen) nicht das probate Mittel ist, sollte einleuchten. Um so mehr tut ein Erfassen der Grundfigur not, mit der man den wirklichen Verhältnissen gerecht werden kann, mit deren Hilfe man aber auch falsches Bewußtsein durchleuchten kann (liberal-individualistische Tendenzen ebenso wie absolute Gemeinschaftsideologien; acht zu haben ist also auch auf eine grassierende hypertrophe Gemeinschaftsemphase, hinter der sich nicht selten auch versteckte Privatinteressen austoben ... ). Wir stehen im Leben inmitten der konkreten Tendenzen und lnteressensverschränkungen, die man nicht ungestraft ignorieren sollte. Wir stehen aber auch in einem Lernprozeß, wie Demokratie spielen kann(- oder auch nicht), wie Solidarität und Subsidiarität zusammenwirken können, wie Selbstverwirklichung (für jedermann) zugleich mit erstrebtem Gemeinwohl möglich sein sollte. Kurzum: Das Eigene hat Zukunft, wenn es nicht nur neben dem Gemeinsamen existiert. Das eigene Interesse schadet sich selber, wenn es nur gegen das Gemeinsame erkämpft wird. Das Eigene hat eine offene Chance im lebensfähigen Gemeinsamen, und das Gemeinsame wird als schön erfahrbar, wenn es dem je eigenen Einzelnen zugute kommt.

EIGENINTERESSE UND NÄCHSTENLIEBE Von Laszl6 Boda "Eigeninteresse und Nächstenliebe" ist schon seit langem ein anspruchsvolles Thema nicht nur in der christlichen Spiritualität, sondern auch in der Moraltheologie. 1 Es ist aber eine Frage, die auch von dieser Seite die soziologische und sozialethische Dimension des Menschen betrifft. Johannes Messner schreibt darüber in dieser sozialethischen Perspektive. Die Frage von "Eigeninteresse und Nächstenliebe" hat außerdem eine spezielle Aktualität in unseren Tagen, nach den vier Jahrzehnten der marxistischen Parteistaaten, besonders im Bereich des ehemaligen Ostblocks, wo der Begriff "Interesse" Teil der ideologischen Propaganda war. Die Omnipräsenz der Interessen wurde als Prinzip der sog. "wissenschaftlichen Weltanschauung" an den Fakultäten, in den Schulen und auch mit allen Propagandamöglichkeiten der Medien verkündet. Wie kann diese anspruchsvolle Frage ganz logisch verhandelt werden? Wie kann man darauf einfach und verständlich reflektieren? Erstens ist es notwendig, das Problem zu skizzieren, die Begriffe zu klären, dann die Möglichkeiten der Lösung zu suchen und die Konklusionen zu ziehen. I. Wesen des Problems Das Wesen der Frage "Eigeninteresse und Nächstenliebe" kann ganz einfach skizziert werden, wenn man die zwei Extreme der Anhaltspunkte gegenüberstellt. Eine der Extreme ist die Meinung von Bischof Fenelon, der die echte christliche Liebe - auch die Nächstenliebe -nur ohne irgendein Interesse akzeptiert. Nach seiner idealistischen Auffassung gibt es nur eine einzige legitimierbare Handlungsweise und Motivation: das, was wir ironisch als "chemisch reine" Liebe bezeichnen könnten. Diese anscheinend sehr spiritualistische Idee wurde von der Kirche mit Recht verurteilt. Die andere Position, die zugleich eine materialistische und atheistische Ideologie ist, vertritt die anderen Extreme: die Absolutierung der Interessen-Motivation in allen möglichen menschlichen Handlungen; also nicht nur in der Politik oder im Wirtschaftsleben. Deswegen wurde die christliche 1

Conf. B. Häring: Das Gesetz Christi, 1961, Freibur:g im Br. II. 356-361.

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Nächstenliebe des Evangeliums von den Marxisten der Parteistaaten nicht akzeptiert und nicht verstanden. Die Grundthese dieser Position kann so formuliert werden: Die menschliche Handlung und damit die menschlichen Entscheidungen sind notwendigerweise durch das Interesse motiviert, sogar determiniert. Die ganze Erziehung und Bildung in den ehemaligen Parteistaaten war durch diese Ideologie so beeinflußt, daß davon auch einige tiefgläubige Pädagogen infiziert wurden. Das kann als die Lehre von Omnipotenz und Omnipräsenz des Interesses formuliert werden. Das wurde aber von der Kirche und von der christlichen Soziologie ebenso wie die Lehre von Fenelon nicht akzeptiert. Wie können wir für die Sozialethik und Moraltheologie eine christliche Lösung finden? Gibt es überhaupt eine wirklich überzeugende Lösung in dieser Frage? Dazu ist es auch von dieser Seite notwendig, den Begriff des Interesses zu klären: was es bedeutet und was es nicht bedeutet?

II. Begriff "Interesse" Es ist vor allem notwendig, daß der Begriff "Interesse" begrenzt werde, und zwar nach dem Anspruch der Moraltheologie, sonst könnte man keine Chance für eine überzeugende Lösung finden. Alles hängt also davon ab, wie man den Begriff interpretiert und versteht. 2 Dabei können wir die Basis dieser alten Formel schon in der thomasischen Lehre finden. 3 Es gibt drei Arten der "bona", die die Güter bedeuten, und zwar von moralischen Aspekten der menschlichen Motivationen aus. 4 bonum delectabile }

amor concupiscentiae bonum utile bonum honestum ... amor amicitiae a) Das "bonum delectabile" beinhaltet die sinnlichen Güter, die rohe oder humanisierte Motivation des Lustprinzips, und damit auch die hedonistischen und weltlich- eudaimonistischen ethischen Richtungen. Das ist die Interessensphäre des instinktiven Verlangens, der Genußliebe. 2 Conf. Johannes Messner, Interesse, in: A. Klose - W. Mantl - V. Zsifkovits (Hrsg.): Kath. Soziallexikon, Innsbruck 1980, 1190-1200. 3 1-II-ae 4 q 8 a "non propter utilitatem, neque delectationem", sondern "ut eis bene faciat" . .. Diese Zitate beinhalten alles, was für uns notwendig ist: die Motivation des "utile" und "delectabile" ebenso, wie die Motivation der Liebe als "amoris amicitiae" (bonum honestum). 4 Diese einfachen drei Begriffe wurden schon von der Scholastik fonnuliert. Sie sind aber auch heute wohl brauchbar.

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b) Das "bonum utile" kann als Rahmen der verschiedenen Bestrebungen nach materiellen wirtschaftlichen Gütern interpretiert werden, das eigene Varianten hat. Doch gibt es ein typisches Nutzenmotiv: das Geld. Die sogenannten utilitaristischen Ethiken gehören auch zum "bonum utile", wenn auch die angelsächsische Interpretation (Bentham u. a.) mit sozialeudaimonistischen Tendenzen gemischt ist. Was in diesem Sinne "nützlich" ist, ist das "utile", das utilitaristisch Verstandene. Und das ist auch eine typische Sphäre der menschlichen Interessen. c) Das "bonum honestum" ist aber als Begriff etwas Rätselhaftes. Das Wort weist auf die Ehre des Menschen hin. Es handelt sich dabei um die Würde der Person. Die volle Bedeutung des Wortes wird in den päpstlichen Enzykliken und im christlichen Personalismus erklärt. Wenn die Hauptmotivation der menschlichen Handlung oder Entscheidung die Person selbst ist, die ihre eigene und spezifische Würde und ihr eigenes Recht hat, kann die Sphäre der Interessen transzendiert werden. Das ist schon kein "Eigeninteresse" mehr. Das ist schon der Motivationsbereich der echten Nächstenliebe. Diese Liebe, so lehrt das Evangelium, will geben und nicht nur akzeptieren. Nach der Lehre Jesu ist es der Gipfel dieser Liebe, wenn einer sein Leben für seine Nächsten gibt (Jo 15,13). Es gibt also zwei unterschiedliche Bedeutungen der Liebe. Wenn man sagt: "Ich liebe den guten Wein", liebt man sich selbst. Das ist ohne Zweifel eine Form des "Selbstinteresses". Wenn man hingegen sagt: "Ich liebe dich", konzentriert man seine Aufmerksamkeit auf die andere Person, auf den "Anderen". 5 Diese zwei Arten der Liebe sind heute schon vielseitig erklärt und akzeptiert, nicht nur von der Seite der christlichen Spiritualität und Moraltheologie, sondern z. B. von dem berühmten Historiker Arnold Toynbee, der zugleich Geschichtsphilosoph ist und deswegen dieses zweideutige Wort "Liebe" anhand von authentischen historischen Beispielen verdeutlichen kann. 6 Doch wäre es eine illusorische und falsche Typologie, wenn man sagte: es gibt zwei Kategorien der Menschen, die bloß egoistischen, von Selbstinteresse motivierten Menschen und die bloß altruistischen, nur von der Nächstenliebe motivierten Personen. Das wäre eine naive Simplifikation der Kategorisierung. Die Wahrheit ist, daß die menschliche Person sich in den vielschichtigen Konflikten der Motivationen von Eigeninteresse und Nächstenliebe entwickelt. Das ist ein dynamischer Aspekt der Personwerdung und damit ein gerechter Anspruch einer dynamisch orientierten Sozialethik ebenso, wie der sogenannten "dynamischen MoraltheoDas markante Wort des Personalismus: "der Andere". L. Boda: Moraltheologie der christlichen Mündigkeit , Budapest 1986, 118. Quelle: Surviving the Future, 1971. Die egoistische Liebe verursachte u. a. die Eroberungskriege der Geschichte. 5

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logie". Ein typisches Beispiel ist die Persönlichkeitsentwickung der Apostel. Einige von ihnen fragen zuerst, was für einen Lohn sie bekommen, wenn sie sich an Jesus binden. Am Ende aber geben sie ihr Leben für Jesus, indem sie als Märtyrer für ihn sterben. 7 Zur Erklärung der Begriffe gehört aber auch, daß wir in dieser Beziehung die unterschiedlichen Aspekte der Sozialethik und Moraltheologie verstehen. Die Sozialethik- auch bei Johannes Messner- orientiert sich mehr in der Richtung des Gemeinwohls einerseits und des Eigeninteresses des Menschen anderseits. In klassischer Ausdrucksweise formuliert: die Sozialethik beschäftigt sich mit dem, was dem Menschen "ex iustitia" gebührt. Die Aufgabe der Moraltheologie ist es aber auch, daß sie die Gewissensverpflichtungen des Menschen zu deuten versucht, insofern jene "ex caritate" verpflichten. In der Sozialethik kann und soll also das menschliche Eigeninteresse wirklich legitimiert werden, kann das Wort "Selbstverwirklichung"- auch bei Johannes Messner- problemlos gebraucht werden. Im Rahmen der Sozialethik sollte also besser formuliert werden: "Selbstinteresse und Gemeinwohl" statt "Selbstinteresse und Nächstenliebe". 8 Besonders das "bonum utile" ist sehr wichtig im Bereich der Sozialethik, wie das z. B. bei den angelsächsischen Denkern (Bentham, Stuart Mill u. a.) zu finden ist.

Iß. Möglichkeiten der Lösung Die klassischen scholastischen Begriffe- "bonum delectabile" , "bonum utile", "bonum honestum"- müssen heute neu interpretiert werden, sind aber auch heute lebendig und gültig. Ebenso gilt das Thomasische Prinzip vom Ausschließen der Extreme. 9 a) Erstens kann man sagen, daß die spiritualistische und naividealistische Idee Fenelons, "die Liebe ohne Interesse" (amour desinteressee), theologisch nicht legitimierbar ist und von der Kirche zu Recht verurteilt wird. 10 7 Die vielzitierte Frage: "Quid ergo erit nobis?" verdeutlicht das Selbstinteresse (conf. Mt 19,27). 8 Von dieser Seite gibt es ein markantes Problem von heute: das Eigeninteresse eines Staates und das Gemeinwohl Europas (conf. England und die heftigen Diskussionen über Maastricht). 9 Darüber: L. Boda: Aliter in Theoria aliter in Praxi? Reflexion über die zwei Extremen der ethischen Normierung. Soc. Ethica, Jahresbericht, 1989, 89. 10 Conf. Alois Wolkinger, Lohnmoral, in: H. Rotter G. Virt (Hrsg.): Neues Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck 1990, 451 - 453. Fenelons Theorie nennt man auch "amour pur". Die Texte des kirchlichen Lehramts: DS 2351-2357. "Caritas pura = sine ulla admixtione motivi proprii interesse" 2351.

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Das ewige Leben darf auch als Lohn erhofft werden. Das Problem ist nämlich nicht, daß man im Sinne der Gerechtigkeit auf Lohn wartet, sondern vielmehr, was man als Lohn betrachtet? Die Verheißung des Himmels beinhaltet nach der Lehre des Islam das "bonum delectabile", also auch die körperliche Lust. Ebenso gibt es primitive Religionen, die die irdischen Lebensbedürfnisse in den Himmel "transplantieren" (z. B. Robbenfett). Die christliche Lösung ist klar und überzeugend: Wenn der Lohn die Person selbst in ihrer Personwürde ist, liegt schon keine Motivation des Selbstinteresses mehr vor. Lohn Gottes ist Gott selbst, sagt Augustinus. b) Das andere Extrem ist ebensowenig legitimierbar, gehört es nämlich wesentlich zu einer materialistischen und atheistischen Ideologie und damit zu einem materialistischen und atheistischen Menschenbild. Das stärkste Argument gegen diese Ideologie ist ihr Bankrott im Leben, wie er nach den vier Jahrzehnten der Ostblock-Parteistaaten stattgefunden hat: Bankrott in der Politik, Bankrott in der Pädagogik, Bankrott in der Ethik, Bankrott im Wirtschaftsleben, und was das Peinlichste ist: Bankrott im Bereich der sozialen Gerechtigkeit, die ursprünglich die marxistische Soziologie als Grundtendenz auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Die christliche Liebe - auch die Nächstenliebe - blieb in dieser Ideologie radikal unverstanden. Die Sphäre des Interesses wurde verabsolutiert. Die auch von der Selbstkritik einiger Marxisten bekannte Konklusion war aber, daß einige Menschenrechte und Ansprüche, die ihre Begründung in der Sphäre des Selbstinteresses haben, von den Staaten mit Parteiherrschaft einfach geleugnet wurden. Diese zwei Extreme können also die Frage von "Selbstinteresse und Nächstenliebe" nicht lösen. c) Die christlich akzeptierbare und proklamierte positive Lösung kann zuerst auf der Ebene der Sozialethik gefunden werden. Das ist zugleich eine gute Gelegenheit, die Interpretation Johannes Messners zu bewerten und ihr zu folgen. Sie ist nämlich christlich ganz authentisch: Messner versteht das Interesse als eine "Triebveranlagung des Menschen" und versucht eine konsequent sozialethische Lösung zu geben, indem er das Selbstinteresse nicht der Nächstenliebe, sondern dem Gemeinwohl gegenüberstellt. Er betont also die Unhaltbarkeit eines "gemeinwohlwidrigen Egoismus" und stellt heraus, daß die Beachtung des Allgemeininteresses von großer Wichtigkeit ist. Die Motivation des Eigeninteresses kann nämlich nur in dieser Gegenseitigkeit legitimiert werden. Nach Messner ist das Interesse eine "Uranlage des Menschen". Alle Lebewesen streben nach Selbstverwirklichung, sagt er. Die normale Selbstliebe kann sowohl biblisch als theologisch begründet werden: biblisch, weil die Form der Nächstenliebe eben die Selbstliebe ist, 14 Interesse und Moral

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zumindest im Sinne des Alten Testaments; theologisch entspricht das auch der Lehre des Doctor Angelicus. Ein Zitat von Messner: "Nach Thomas von Aquin zielt alles natürliche Streben des Menschen auf das Eigenwohl, ist daher die richtige Selbstliebe ein Naturrecht des Menschen", sogar, bemerkt er weiter, "hat unter gleichen Umständen die Selbstliebe den Vorrang vor der Nächstenliebe". Die spezielle sozialethische Lösung gibt Messner dadurch, daß er die Lehre der christlichen Anthropologie ernst nimmt. Die materialistische Verfassung des Menschen wird so transzendiert, wird überzeugend überwunden. Der Mensch hat nämlich nicht nur materielle Bedürfnisse. Er ist nicht nur, was er ißt. "Interessen sind immer an Werten orientiert", konstatiert Messner. Danach zitiert er die Lehre der heutigen Psychologie und Anthropologie. Nach dieser Lehre hat der Mensch nicht nur eine leibliche, sondern auch eine seelische Natur und damit auch seelische und geistige Triebe, Ansprüche. Es ist zumutbar, daß die seelischen Ansprüche auch den Weg zur Nächstenliebe finden, besonders unter Führung des Evangeliums. Das Wohlwollen und die aus der menschlichen Natur kommende Solidarität kann z. B. als natürliche Wurzel der Nächstenliebe betrachtet werden. Außerdem wird vom natürlichen Sittengesetz beansprucht, daß der Mensch dem anderen gebe, was dem anderen gebührt. Was aber wir- nach der goldenen Regel des Evangeliums - von anderen erwarten, müssen wir auch den anderen geben . Es wird aber bei Johannes Messner nicht nur der materialistisch verfaßte Interessebegriff überwunden, sondern auch die liberalistische Interpretierung des Interesses stark kritisiert. Das ist der Begriff des vom Liberalismus empfohlenen "wohlverstandenen Eigeninteresses". Dieses wurde nämlich nach der christlichen Sozialethik nicht "wohl verstanden". Ich zitiere die Formulierung Messners, der auf die gefährlichen Konsequenzen dieser Lehre hinweist: "Seit die individualistisch-liberalistische Gesellschaftslehre das freigesetzte wirtschaftliche Interesse zur Grundnorm der gesellschaftlichen Ordnung erhoben hatte, sahen sich die Ethik und Gesellschaftslehre katholischerseits zu einer kritischen Haltung gedrängt, die das so verstandene Interesse für einen gemeinwohlwidrigen Egoismus mit unberechenbarer Sprengkraft für die soziale Ordnung hielt." 11 d) Die ganz überzeugende Lösung der spannungsvollen Frage "Eigeninteresse und Nächstenliebe" wurde aber durch den christlichen Personalismus begründet, zumindest in der Perspektive der Moraltheologie. 12 Der

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Conf. Johannes Messner, o. a. , 1190.

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Personalismus kann als eine moderne Konzeption des "bonum honestum" verstanden werden. Nach dieser Auffassung ist die menschliche Person kein bloßes "Individuum" im sozialethischen Sinne, weil sie auf den "Anderen" und damit auf die Gesellschaft angewiesen ist. Personalismus ist also kein Individualismus. In der Perspektive der päpstlichen Sozialenzykliken- besonders bei Papst Johannes Faul II. -wird die Würde der Person so akzentuiert, daß er in der "Haben oder Sein"-Frage nicht nur mit Gabriel Marcel oder Erich Fromm harmoniert, sondern auch mit der Lehre der Bibel. Diese Lösung ist ganz einfach und sehr überzeugend. Der Konsumhedonismus unserer Epoche bleibt im Rahmen des "bonum delectabile". Die verschiedenen Formen der Wirtschaftstheorien bleiben auf der Ebene des "bonum utile". Es ist also unvergleichbar aktuell und notwendig, die Rolle der Personwürde zu akzentuieren, und zwar nicht nur nach dem Untergang des Kommunismus, sondern auch in der Atmosphäre eines wieder entstandenen liberalen Kapitalismus, der eine starke Versuchung für die ehemaligen Ostblockstaaten darstellt. IV. Konklusionen

Welche Konklusionen können aus der vorangegangenen Reflexion gezogen werden?

Erstens ist es möglich, die Absurdität einer Philosophie zu beweisen, die sich auf das isolierte Selbstinteresse konzentriert. Selbstinteresse als Grundoption des Lebens? Max Stirner versuchte diese Theorie zu verteidigen. Es handelt sich um eine radikale Gleichgültigkeit der Gesellschaft und dem Gemeinwohl gegenüber. Nach dieser Position zählt nur das Individuum mit seinem radikalen Selbstinteresse (Das Einzige und sein Eigentum, 1845). Kann dieses Lebensprinzip universalisiert werden? - Keineswegs! Die Absurdität eines solchen Versuches wird ganz offenbar, wenn die Konsequenzen bedacht werden. Es ist nämlich eine gewaltige Erfahrung der menschlichen Geschichte, daß der Egoismus einiger den Altruismus anderer voraussieht. Der Egoismus kann also als ein Parasit des Altruismus in der Gesellschaft verstanden werden. Die Absurdität solch eines gesellschaftlichen Solipsismus kann mit einem seltsam anmutenden Beispiel erklärt werden: mit dem Klub der Egoisten. Wenn die Klubmitglieder ihre 12 Der Personalismus ist mehr eine Gedankenperspektive als eine Methode. E. Mounier, M. Buher, R. Guardini sind besonders wohlbekannte Vertreter dieser Denkweise, die die Würde und Werte der Person konsequent akzentuiert. Conf. E . Mounier: Le Personalisme, Paris, 1950. Johannes Paul II. ist in besonderem Sinne auch ein Vertreter des Personalismus. 14*

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eigenen Ideen propagieren möchten, etwa unter dem Titel "Die einzig realistische Lebensphilosophie", so wäre ein solcher Versuch schwer inkonsequent. Das Grundinteresse der Klubmitglieder besteht nämlich darin, daß die anderen möglichst optimale Altruisten seien. Das ist die konsequente und unentbehrliche Basis für ihren Egoismus. Es wäre dementsprechend viel konsequenter, z. B. die Bibel zu propagieren. 13 Eine wohlbegründete Wahrheit der Sozialethik ist es also, daß der Preis des radikalen Egoismus der Altruismus der Mehrheit ist. Die These Stirners ist also nicht universalisierbar. Mehr noch: Die großen Egoisten des ethischen Kontextes sind die großen Despoten und Diktatoren im Rahmen der Politik. Die tragikomische Konklusion aber ist die, daß es zwei sehr unterschiedliche Formen des Altruismus gibt: den Altruismus der Heiligen und den Altruismus der Sklaven. Das Wesen ist dasselbe: für andere zu leben. Aber wie? Aus freier Grundoption oder aus Zwang? Der Altruismus der Heiligen ist mit der Grundoption der Nächstenliebe identisch. Der Altruismus der Sklaven aller Zeiten ist voll von Haß. Bei den Sklaven bleibt kaum Raum für die Nächstenliebe, wie ebensowenig Raum für ihr Eigeninteresse bleibt, ausgenommen vielleicht innerhalb der Familie. Ihre Solidarität wird nicht von der Liebe, sondern vom Haß gestärkt. So sieht die Formel von Stirner in der Praxis der Geschichte aus.

Zweitens scheint es, daß die ganze Atmosphäre der Frage von InteressenMotivation im 17. und 18. Jahrhundert sehr spürbar vorhanden gewesen sein muß. Die hedonistisch-eudaimonistischen und utilitaristischen ethischen Tendenzen dominierten wahrscheinlich (Rokoko, Frühkapitalismus). Es war also obligatorisch, Antwort zu geben. Die Antwort von Fenelon vom Jansenismus beeinflußt - war die "amour pur", die "Liebe ohne Interesse". Die Antwort wurde aber auch in der Kantschen Philosophie formuliert, und zwar nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Ästhetik von Kant. Das ethisch Gute ist nicht deswegen gut, weil es angenehm oder nützlich ist. Ebenso wird bei ihm das Schöne von der Interessen-Motivation gereinigt. Das Schöne kann ohne Interesse gefallen. 14 Das ist aber nicht die einzige und endgültige Antwort. Drittens ist die Antwort des personalistischen Denkens klar, konsequent und überzeugend; darüber hinaus steht sie in Einklang mit der Lehre der Bibel. Das Wesen dieser Lösung ist folgendes: Wenn die Hauptmotivation der Handlung oder Entscheidung die Person selbst in ihrer Personwürde ist - das ist das "bonum honestum" -, wird die Handlungsweise oder 13 Conf. L . Boda: Moraltheologie der christlichen Mündigkeit, 285 (auf ungarisch publiziert, 1986, 511 S.). 14 Conf. J. Fischl: Geschichte der Philosophie, 1964, Styria, 349: "uninteressiert gefällt".

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Entscheidung nicht vom Interesse motiviert. Ein einfaches Beispiel kann das erklären. Wenn ein Mann nach einer langen Reise nach Hause kommt, bringt er wahrscheinlich auch Geschenke mit. Wenn nun das Geschenk wichtiger ist als der Mann selbst, ist die Liebe der Frau von materiellen Interessen motiviert. Ein anderes Beispiel von der Ehe. Wenn der sog. SexAppeal des Partners das Hauptmotiv ist, ist es als "bonum delectabile" ebenso eine typische Interessen-Motivation wie das Geld des Partners ("bonum utile), aus welchem Grund in beiden Fällen von "Interessen-Ehe" gesprochen wird, im Gegensatz zur Liebesehe.

Viertens: Die Dichter und Schriftsteller haben einen besonders verfeinerten Sinn dafür, daß sie die Macht des Interesses im menschlichen Leben spüren können. Der berühmte katholische Dichter Charles Peguy sagte, daß es Menschen gibt, die für die Kirche leben, und solche, die aus der Kirche leben. Es ist wirklich geistreich, aber poetisch formuliert. Die Realität ist, daß z . B. die Priester teilweise aus der Kirche, teilweise für die Kirche leben. Aber wie? Um bei der Literatur zu bleiben, kann der Roman von Trollope erwähnt werden: The Warden (1855), mit folgendem Inhalt: Ein anglikanischer Priester lebt als Kurator vom Benefizium eines Armenhauses, und zwar sehr gut und bequem. Die Armen des Hauses hingegen leben in drückender Armut. Also drängt sich eine rätselhafte Frage auf: Dominiert in dieser Lebensform die Nächstenliebe oder das Eigeninteresse? Gibt es überhaupt entsprechende Entscheidungsmodelle, um die konkreten Dilemmasituationen der Liebe zu lösen? Wenn ein Student dem anderen so hilft, daß er dabei seine eigene Pflicht vernachlässigt, kann das ethisch nicht gutgeheißen werden. In diesem Fall dominiert sein Eigeninteresse. Wenn aber der andere unerwartet krank wird und es notwendig wird, ihn ins Krankenhaus zu transportieren, sollte die Prüfung hintangesetzt werden: Die Forderung der Nächstenliebe ist wichtiger. Die besten Beispiele aber finden sich im Rahmen des Familienlebens. Markante Dilemmasituationen sind etwa: persönlicher Erfolg des Mannes oder der Frau? Selbstverwirklichung in der Wissenschaft oder Kunst oder aber Erziehung der Kinder? usw. Es ist kaum zu leugnen, daß Eigenliebe und Nächstenliebe nicht selten gegeneinander verstoßen können.

Fünftens hängt die Lösung in konkreten Fällen vielfach von der Bewertung ab. Darum ist es sehr wichtig, die Grundwerte des Lebens zu akzentuieren. Von der Seite des "bonum honestum" ist zu erwähnen, was Seneca sagt: die menschliche Person ist heilig für die menschliche Person. Die Person sei Zweck und kein bloßes Mittel, so lehrte Kant. Für uns ist die Bibel das wichtigste Handbuch, was die Rolle der echten Liebe betrifft. In den Sozialenzykliken der Päpste wird die Würde der Person immer besser herausgestellt (z. B. Laborern exercens, Familiaris

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Consortio). Die ursprüngliche Lehre finden wir im Brief an die Epheser. Nach Paulus seien die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen Leib: "Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst." (Eph 5,28). Das ist eben der Schlüssel der theologischen Interpretation. Es bezieht sich nicht nur auf die Ehe, sondern - im besonderen Sinne - auch auf die Nächstenliebe im allgemeinen. Wenn der andere in mir ist, in mir lebt, in mir bleibt - so das Evangelium -, bedeutet das, daß das Eigeninteresse und die Nächstenliebe fast zusammenfallen, es also keine Spannung mehr gibt zwischen diesen zwei Begriffen. Leider gibt es wenige, die diese Lösungsform realisieren können, abgesehen vielleicht von den Heiligen. Doch es gibt Medizinen, die teilweise von der Sozialethik, teilweise von der Moraltheologie hochgeschätzt werden: die Gerechtigkeit und die echte Liebe. -Konklusion: Das Interesse ist eine Großmacht in der Welt, aber es ist nicht allmächtig.

VERMÄCHTNIS UND AUFTRAG DES LIBERALISMUS IN CHRISTLICHER SICHT* Von Heinrich Schneider

I. Einer der bedeutenden Vertreter des christlichen Liberalismus in unserem Jahrhundert, Alfred Müller-Armack, der eigentliche Vordenker der "sozialen Marktwirtschaft", meinte einmal: was wir in unserer Ideenlandschaft nötig hätten, wäre eine "soziale Irenik": eine auch theoretisch angeleitete Bemühung um Verständnis und Verständigung zwischen den gesellschaftlich und politisch wirksamen "-Ismen" . 1 "Jede Weltanschauungsgruppe steht heute vor der Aufgabe, ihre geistige Isolierung zu überwinden und das Anliegen der anderen auch für sich mit zu bedenken". Seither hatte sich die Szenerie gewandelt. Man hatte die Parole der Entideologisierung ausgegeben und meinte auf das "Zeitalter der Ideologien" Rückschau halten zu können. 2 Es sah so aus, als ob es sich kaum mehr lohnen würde, Gegensätze und Gemeinsamkeiten von Doktrinen zu untersuchen, die eigentlich in die Vergangenheit gehörten, und von denen sich die wirkliche Problematik der zeitgenössischen Gesellschaft mehr und mehr zu entfernen schien. Es wurde modern, von der "Postmoderne" zu reden und darauf hinzuweisen, daß die Ideologien des 17., des 18., und des 19. Jahrhunderts vielleicht noch in etlichen Dekaden des 20. Jahrhunderts wirksam geblieben wären, daß es aber nun darauf ankomme, im Blick auf das 21. Jahrhundert zu neuen Ufern aufzubrechen. Mittlerweile hat abermals ein Szenenwechsel stattgefunden. Statt "Entideologisieung" wurde "Re-Ideologisierung" zum gängigen Schlagwort. 3 Aber vor allem in den neunziger Jahren handelte es sich nicht mehr nur um Auseinanderetzungen von Intellektuellen und Meinungsmachern und

* Der Beitrag wurde bei einer 1993 in Wien veranstalteten Konferenz über die Bedeutung des Liberalismus und des christlichen Sozialdenkens für die Reformpolitik in Mittel- und Osteuropa vorgetragen. 1 Alfred Müller-Armack, Soziale Irenik {1950), in: Ders., Religion und Wirtschaft, Stuttgart 1959, S. 559-578. 2 Siehe Daniel Bell, The End of Ideology, Glencoe,Ill. 1960; Karl Dietrich Bracher, Das Zeitalter der Ideologien, Stuttgart 1982. 3 Vgl. Karl Dietrich Bracher ebd. S. 271 ff., S . 294 f .

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um die Prägung des gesellschaftlichen Bewußtseins durch eher allgemeine Hintergrundvorstellungen, durch Stimmungsschübe und durch literarische Fehden und Raisonnements, sondern um sehr handfeste, auf Entscheidungsnötigungen bezogene Debatten, nämlich im Anschluß an die Umbrüche in Osteuropa. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft standen gesellschaftspolitische Weichenstellungen auf der Tagesordnung, und es boten sich vornehmlich die überkommenen Leitbilder z. B. für die Ausrichtung von Wirtschaftsreformen an. Schon vorher war die "Civil Society" als das positive Kontrastmodell zur totalitären Gleichschaltungspolitik betrachtet und von den Trägern des Umbruchs als ordnungspolitisches Ziel auserkoren worden. Der Liberalismus wurde wieder als eine attraktive Idee empfunden. Aber was ist er? Manche radikal-liberale Reformpolitiker in Mittel- und Osteuropa meinen: Die Freigabe aller gesellschaftlichen Entwicklungen an die Kräfte des Marktes - nicht mehr und nicht weniger. Ist das richtig? Die Frage nach dem Kontext, in dem diese Idee steht, ist wahrscheinlich nicht überflüssig. Aber man hat es nicht ganz leicht, sich ein angemessenes Bild von diesem Kontext zu machen. Ein sachkundiger Historiker hat erklärt, "daß selbst eine auch nur als Arbeitshypothese akzeptierte Definition der historischen Erscheinung, die der Begriff Liberalismus evoziert, noch aussteht." 4 So wird die folgende Darstellung weniger einen gesicherten Diskussionsstand wiedergeben als einige Diskussionsanregungen anbieten können.

II.

Der erste Satz eines Lexikonartikels mag als Einstieg dienen; man liest: "Liberalismus bezeichnet eine an der Freiheit von Individuen und Gruppen als oberster Norm orientierte Auffassung von sozialem Verhalten und politischer Organisation." 5 Üblich ist die Unterscheidung von politischem und wirtschaftlichem Liberalismus; vielleicht ist es hilfreich, die Differenzierung noch etwas weiter zu treiben, etwa wie folgt:

4 Lother Gall in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band "Liberalismus" (Bd. 85 der Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek), 2. Aufl. Königstein I Ts. 1980, S. 9. 5 Rainer Koch, Art. Liberalismus, in: Wolfgang W. Mickel in Verbindung mit Dietrich Zitzlaff (Hrgs.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986, S. 276280.

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(I) Der Politische Liberalismus geht davon aus, daß die Freiheit des Bürgers die Vermutung der Rechtmäßigkeit und des Vorrangs gegenüber staatlichen Regelungsansprüchen für sich hat. Um dieses Prinzips willen muß die Staatsmacht begrenzt und an begrenzte Aufgaben gebunden werden. Daher sind Menschenrechte und Grundfreiheiten, Machtkontrolle durch Gewaltenteilung sowie Gesetzesvorrang und Gesetzesvorbehalt die Grundpfeiler des liberalen Rechtsstaates. Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht umgekehrt. Die Konsequenz ist eine Auffassung vom politischen Gemeinwesen, die das "Civil Government" als eine Einrichtung zur politischen Geschäftsführung und zur Erbringung von Dienstleistungen zugunsten des Gemeinwohls im Namen und Auftrag der Civil Society betrachtet; das Gemeinwohl aber besteht in erster Linie in der Sicherung der Freiheit der Bürger. (li) Der Wirtschaftliche Liberalismus geht davon aus, daß auch im Wirtschaftsleben die Freiheit der Einzelnen ein grundlegendes Prinzip ist, dessen Sicherung durch die Wirtschaftsordnung bestmöglich dem Interesse aller und damit dem Gemeinen Besten dient. Die Handlungsfreiheit des Einzelnen muß daher durch eine Rechtsgeschäftsautonomie - also durch die Gewährleistung der Befugnis zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung der eigenen Interessen- gewährleistet werden. Die unerläßliche Grundlage dafür ist das Recht auf Sondereigentum. Die wichtigste Institution des Wirtschaftslebens ist der Markt, d. h. eine für alle Teilnehmer am Wirtschsaftsleben offene Sphäre des frei zu vereinbarenden Austauschs von Gütern, produktiven Leistungen und Diensten sowie von Nutzentiteln.

Die Institution des Marktes kann auch in der Politik von Nutzen sein; die Konzeption der Konkurrenzdemokratie ist die theoretische Ausarbeitung dieses Gedankens. (III) Der Geistig-Kulturelle Liberalismus proklamiert die Freiheit der Verbreitung von Ideen und die Freiheit der Entscheidung des einzelnen zugunsten von Ideen und Meinungen; das Geistesleben einer Gesellschaft sollte ein freier Ideenmarkt sein und nicht auf der Vorgabe einer verbindlichen Weltanschauung beruhen, deren Geltung womöglich noch mit politischen Machtmitteln durchgesetzt wird. Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit sowie die ordnungspolitische Sicherung des "freien Marktes der Ideen und Meinungen" (etwa durch die Presse- und Medienfreiheit und durch die Kontrolle der Einflußnahme politischer und wirtschaftlicher Mächte auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozeß) sind daher unerläßliche Elemente einer liberalen Ordnung. Die bisher umschriebenen drei Dimensionen einer liberalen Ordnung darf man nach der Auffassung ihrer Vertreter nicht unabhängig voneinander betrachten; sie stehen in einem strukturell notwendigen Zusammenhang.

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Autoren wie Walter Eucken sprechen unter Bezugnahme darauf von der "Interdependenz der Ordnungen"; 6 schlagwortartig formuliert: Wer A sagt, muß auch B sagen. Eine pointierte Ausprägung dieses Gedankens ist die These von Friedrich August von Hayek, daß nicht, wie die Linke gern behauptete, Kapitalismus zum Faschismus führt, sondern daß umgekehrt die Ablehnung des wirtschaftlichen Liberalismus zum Verlust der politischen Freiheit führt. 7 Wenn man aber schon nicht einfach Elemente einer Doktrin aufzählen, sondern sich Zusammenhänge vergegenwärtigen will, dann liegt es nahe, auch die historische Dimension in den Blick zu nehmen, d. h . eine vierte Komponente der hier entworfenen Skizze, nämlich den ... (IV) Liberalismus als Geschichtsideologie, die Auffassung, daß die Geschichte ihren Sinn in der Bewegung zu immer mehr Freiheit hat. Es kommt nicht von ungefähr, daß sich die Liberalen häufig "die Fortschrittlichen" nannten. Die Idee des Liberalismus ist in vielfältiger Weise mit der Fortschrittsvorstellung verbunden. Liberale glauben daran, daß Menschheit im Gang der Geschichte aus dunkleren Zeiten der Unfreiheit in hellere Epochen der zunehmenden Freiheit voranschreitet Eben deshalb ist es kein Zufall, wenn in Krisenzeiten des Fortschrittsglaubens auch der Liberalismus in eine Krise gerät.

m. Wo kommt diese Sicht der Dinge her? Wo liegen ihre Anfänge und Wurzeln? Die gängige Auffassung besagt, daß die entscheidende Entwicklung im 17. Jahrhundert beginnt, in Holland und England; die niederländische Bewegung sei die ursprünglichere, die englische die historisch wirkmächtigere gewesen; die Kämpfe in England, im Zeitraum von 1603 bis 1688, hätten den Durchbruch gebracht. Es spricht indessen manches dafür, die Wurzeln schon geraume Zeit vorher zu verorten. Alois Dempf hat seinerzeit die "Altliberalen" noch im Mittelalter erkannt. 8 Bereits im vierzehnten Jahrhundert wird der Wertvorrang der Persönlichkeit vor dem Staat postuliert. 9 Die politischen Institutionen sind dazu da, irdische "tranquillitas" zu gewährleisten, also den äußeren Frieden, nicht etwa die sittliche Vervollkommnung der Menschen, 6 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Tübingen 1975; siehe auch die gekürzte Ausgabe Reinbek 1959, S. 21 ff. S. 124 ff. 7 Friedrich A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach-Zürich 1947. 8 Alois Dempf, Sacrum Imperium, München 1929, S . 399 ff. 9 Vgl. ebd., S 401.

Vermächtnis und Auftrag des Liberalismus in christlicher Sicht

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ihre Hinführung zu jener Tugend, die zum Heil führt. Es kommt zur Betonung der Eigenverantwortung des Einzelnen für das Gelingen seines Lebens, der Verschiedenheit der Menschen, zur deutlichen Unterscheidung der Staatsaufgaben und Befugnisse im Zeichen einer Gewaltenteilung, anknüpfend an die alte These des "regimen mixtum" - so z. B. bei Johannes Quidort von Paris; 10 Marsilius von Padua begrenzt die Staatsaufgaben so wie die modernen Liberalen auf die Sicherung des friedlichen Umgangs miteinander und auf den Schutz gegenüber äußeren Bedrohungen. Die Gesellschaft selbst ist ein Interaktionsgefüge nach Maßgabe der spezifischen Leistungen unterschiedlich veranlagter Menschen gemäß dem System der Bedürfnisse (wenn man den Hegel'schen Ausdruck verwenden darf). Daß die Aufgaben und Befugnisse der öffentlichen Gewalt auf bürgerliche Willensbildung und Übereinkunft zurückgeführt werden, ist in dieser Sicht legitim, weil die einzelnen auch geistig und geistlich zur Selbstbestimmung autorisiert sind. Die politische Hoheitsgewalt, so ebenfalls Marsilius, darf nicht zum Machtinstrument einer Konfession werden. 11 Schon vorher hatte Thomas von Aquin - übrigens Johannes Quidorts Lehrer (von dem einige Lehraussagen zunächst kirchlich verurteilt wurden, der aber dann als Heiliger der meistverehrte katholische Theologe wurde) - die unbedingte Bindung des Menschen an sein Gewissen betont. 12 Hinter den neuen Sichtweisen mittelalterlicher Theologen steht einerseits die Lebenserfahrung der Stadtkultur; der Liberalismus ist ein Produkt der Urbanität: im städtischen Lebensraum müssen Menschen und Gruppen mit je eigener Mentalität, Priester und Laien, Patrizier und Mönche, Gilden und Zünfte, einfaches Volk und Bettler, miteinander auskommen, das "Leben und leben lassen" im Zeichen der "Einheit in der Vielheit" lernen. Andererseits gehört die Auseinandersetzung zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt zu den Voraussetzungen der neuen Denkweise. Die "Altliberalen" sind sozusagen die - wie alle Intellektuellen der Zeit theologisch gebildeten - Hofideologen der weltlichen Verantwortungsträger; Marsilius von Padua begibt sich an den Hof Kaiser Ludwigs des Bayern; wenn er zugunsten der Beschränkung der politischen Aufgabe auf die "temporialia" plädiert, dann dient das dem Kaiser als Rechtfertigung dafür, daß er, was seine Amtsführung betrifft, nicht auf den für die "spiritualia" zuständigen Papst hören muß ... 1o S. ebd. S. 422 ff., S. 426 ff. Vgl. dazu neuerdings die Einleitung in: Fritz Bleienstein (Hrsg.), Johannes Quidort von Paris, Über königliche und päpstliche Gewalt, Stuttgart 1969. 11 S. ebd. S . 431 ff., 435 f., 438 f . 12 Thomas von Aquin vertritt als erster mittelalterlicher Theologe die Auffassung, daß das Gewissen den einzelnen auch dann unbedingt verpflichtet, wenn der Gewissensspruch objektiv irrig ist. Vgl. Johann Baptist Metz, Christliche Anthropozentrik, München 1962, S. 60 f.

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Hierzu ist eine Anmerkung am Platze. Der neuzeitliche Liberalismus erscheint als eine Ideologie des Vorrangs der Gesellschaft vor dem Staat. Aber da gibt es eine eigentümliche historische Dialektik: Zunächst geht es um die Auseinandersetzung zwischen dem regimen politicum und dem regimen sacerdotale, zwischen "weltlicher" und "geistlicher Gewalt"; dann aber tritt die "bürgerliche Gesellschaft", gleichsam als die säkulare Erbin der "ecclesia", der politischen Herrschaft und ihren Trägern als eigenständige, um ihre Emanzipation ringende Größe gegenüber. Tatsächlich entwickelt sich das Freiheitsbewußtsein im Hochmittelalter zuerst als das an der "Libertas Ecclesiae" interessierte Bewußtsein; 13 sodann aber tritt es auch als Bewußtsein eigener Entscheidungschancen der Stände und Städte auf: im toten Winkel der Großautoritäten "regnum" (beziehungsweise "imperium") und "sacerdotium". Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte - die Auseinandersetzung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt gibt den Ständen und Städten die Möglichkeit, ihre eigene Position zu stärken. Zugleich entwicklelt sich auch ein eigentümliches Selbstbewußtsein der Intellektuellen: die (theologisch gebildete) Vernunft sieht sich berufen, im Konflikt der positiven Autoritäten eine Schiedsrichterfunktion wahrzunehmen, die jeweiligen Ansprüche der Konfliktparteien zu beurteilen. Für die Entwicklung und Durchsetzung liberaler Ideen wird dann aber ein anderer Vorgang besonders wichtig: die Glaubensspaltung mit ihren Konsequenzen. 14 Der moderne Hauptpromotor der nicht-theologischen Rechtfertigung der Staatshoheit, Thomas Hobbes, greift um die Mitte des 17. Jahrhunderts sozusagen die These des Marsilius von Padua, der Staat sei ein rein weltliches Gebilde zur Sicherung des Friedens, wieder auf und radikalisiert sie auf charakteristische Weise. Die Souveränität des "Leviathan", des irdisch allmächtigen Staates, ist nötig, weil nur so das "bellum uniuscuiusque contra unumquemque" stillgestellt werden kann, durch Repression mit Hilfe unbedingter Gewaltüber13 Grundlegend: Gerd Tellenbach, Libertas- Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, Stuttgart 1936; Herbert Grundmann, Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift, 183. Bd. (1957}, S . 23 ff. 14 Das Folgende, insbesondere der Abschnitt über Hooker, Hobbes, Taylor und Locke, z. T. in Anlehnung an: Heinrich Schneider, Der Interessenbegriff in historischer Perspektive, in diesem Band, S. 35-60. Vgl. dazu auch Joseph Leder, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, Bd. 1 I 2, Stuttgart 1965, ferner Roman Schnur, Individualismus und Absolutismus - Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes, Berlin 1963, sowie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie, Ebracher Studien, Stuttgart 1967, S. 75-943.

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legenheit. Nicht nur das sozusagen quasi-natürliche Machtstreben, das durch die Furcht vor Übermächtigung durch andere in einer unsicheren Welt von Egoisten motiviert ist, bewegtkraftder Todesfurcht die Menschen zur Unterwerfung unter den friedenssichernden "sterblichen Gott"; die stärkste Nötigung ist vielmehr die, die "madness", die fundamentalistische Verrücktheit der Konfessionskämpfer, niederzuhalten. Da aber ein friedliches Zusammenleben auch erfordert, daß man eine gemeinsame "Sinnwelt" teilt, also irgendwie "geistig", in der Sphäre der Vorstellungen, miteinander verbunden ist, schreibt der Souverän eine öffentlich verbindliche Zivilreligion vor. Sie beschränkt sich bei Hobbes auf den Glaubenssatz "Jesus is the Christ" - was man im übrigen mit dieser Aussage verbindet, ist subjektive Meinung ohne öffentlichen Verbindlichkeitsanspruch. Wirklich überzeugend ist diese vorgebliche Lösung des Problems der Friedensordnung nicht. Tatsächlich bezeichnet ja die Konstruktion Hobbes' nur eine Station auf dem Wege einer Entwicklung, die vor ihm begonnen hatte und erst später an ein Ziel kommt. Gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts hatte noch der anglikanische Bischof Richard Hooker sein Werk "Of the Laws of Ecclesiastical Polity" geschrieben: Für ihn ist es klar, daß jedes politische Gemeinwesen zugleich eine Art Kirche sein muß. Politische Einheit bedarf der Einheit im Geistigen und Geistlichen, der "hom6noia", wie das in der aristotelischen Tradition hieß. 15 Eben diese wird durch die Glaubensspaltung aufgesprengt. In einem schwierigen, nicht ohne Umwege ablaufenden Prozeß wird schließlich der Weg zur "Civil Society" beschritten; an seinem Ende steht, ungefähr hundert Jahre nach Richard Hooker, John Locke mit seiner Lehre, daß die Regierung Sache der "Civil society" sei, der Gesamtheit der Bürger; das "Government" ist dazu da, im Namen und im Auftrag der Gesellschaft die Geschäfte der Allgemeinheit zu führen; davon, daß der Staat auch selbst eine Art Kirche sein müsse, ist nicht mehr die Rede. Wichtiger als die konfessionelle Einheit ist dazu einerseits ein "civil" oder "civic spirit", ein ausgeprägter Sinn für Selbstverantwortlichkeit und für Mitverantwortung im Hinblick auf das gemeinsame Wohl- anstelle der Bereitschaft, sich obrigkeitlicher Gängelung zu unterwerfen; andererseits aber die Bereitschaft zur Toleranz, zum friedlichen Auskommen mit Angehörigen anderer Konfessionen. Allerdings verdienen in den Augen Lockes weder Atheisten noch Katholiken diese Taleranzen (die letzteren, weil er sie als Agenten einer "auswärtigen Macht", nämlich des Papsttums, betrachtet). Auf halbem Weg zwischen der "Ecclesiastical Polity" und dem "Civil Government" stehen einerseits Hobbes, andererseits der anglikani15 "Hom6noia", Gleichartigkeit des "nous", ist bei Aristoteles die solidarisierende Substanz einer polis, die philfa politike; vgl. Athanasios Moulakis, Homonoia, München 1973. Der lateinische Ausdruck dafür ist "concordia".

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sehe Theologe Jeremy Taylor. Hobbes hat man, trotz der illiberalen Allmacht seines Souveräns, als einen Ahnherrn liberalen Denkens bezeichnet, weil er die politische Herrschaftsordnung als eine zweckrationale Veranstaltung im Dienste des bürgerlichen Friedens konstruiert hat, als eine im Interesse des Individuums am Frieden und an Lebenssicherheit erforderliche, also in seinem Dienste stehende Einrichtung. Sein in den gängigen Darstellungen der politischen Ideengeschichte weniger prominent behandelter Zeitgenosse Taylor würde es freilich mehr verdienen, als Vorbereiter liberaler Auffassungen gewürdigt zu werden. Für ihn erfordert das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Überzeugung nicht die repressive Unterdrückung abweichender Gewissenspositionen (obschon er als anglikanischer Theologe die Verknüpfung von Staat und Kirche bejaht). Vielmehr ist das "Leben und leben lassen" im geistigen Bereich im Hinblick auf die Fehlbarkeit des menschlichen Denkens gerechtfertigt. Obschon Taylor lehrt, daß es grundlegende Naturrechtseinsichten gibt, plädiert er für eine Haltung skeptischer Bescheidung, in der man seine eigene Meinung nicht zum Maßstab aller Dinge machen darf. Die Reformation ist für das Aufkommen des Liberalismus also insbesondere dadurch bedeutsam geworden, daß die Konfessionskämpfe zur Einsicht in die Notwendigkeit der Toleranz und der Trennung geistlicher und politischer Verbindlichkeiten führte; 16 das "Erlebnis der Religionskriege" führt zu der Erkenntnis, man könne "die Wahrheit des Christentums" nicht dadurch retten, "daß die Kirchen sich um ihrer Dogmenwillen gegenseitig ausrotten" . 17 Überdies spielt ein Inhalt des reformatorischen Christenglaubens ebenfalls eine wichtige Rolle: Die Ablehnung der katholischen Hierarchieprinzipien zugunsten der Idee des allgemeinen Priestertums der Gläubigen bedeutet, ins Politische übersetzt, die Autonomie des freien Einzelnen. Die wichtigste "ordnungspolitische" Errungenschaft der Auseinandersetzungen im Zeitalter der Kirchenspaltung sind die Menschenrechte und Grundfreiheiten. Die Diskussion darüber, ob es sich dabei zutiefst und bestimmend um die Institutionalisierung von Klasseninteressen der Unternehmer handelte (für Marx ist die Menschenrechtsidee ja eine spezifisch 16 Im vorangehenden Abschnitt wurde vor allem auf die Entwicklung in England Bezug genommen; zur französischen vgl. neben dem Werk von Joseph Lecler, aaO. (1965), s. Anm. 14, auch Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg, Berlin 1962; zur deutschen vgl. Fritz Dickmann, Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich im 16. und 17. Jahrhundert (1964), in: Ders., Friedensrecht und Friedenssicherung, Göttingen 1971, S. 7-35. 17 Eric Voegelin, Der Liberalismus und seine Geschichte, in: Karl Forster (Hrsg.), Christentum und Liberalismus (Studien und Berichte der Kath. Akademie in Bayern, Heft 13), München 1960, S. 13-42, hier S . 16.

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bourgeoise Ideologie), oder doch um etwas anderes, ist bekannt. 18 Der These, es sei im Grunde um die Kapitalverwertungsfreiheit gegangen, steht die andere gegenüber: das Ursprungsrecht sei das der religiösen Dissenters auf ungestörte Hausandacht gewesen. Der britische Liberale Lord Acton wurde nicht müde zu erläutern, der letzte Rechtfertigungsgrund der Menschenrechte gegenüber dem Staat sei der Vorrang der Gewissenspflichten: "In der Erfüllung der Pflichten gegen Gott ungehindert zu sein, ist der höchste Anspruch des Menschen. Dies ist der geheime Wesenskern der Menschenrechte. Alle Freiheit besteht in der Wurzel in der Bewahrung einer inneren Sphäre, die von der Staatsgewalt ausgenommen ist." 19 Immerhin läßt sich wohl nur so die "heilige" Motivation des Kampfes um die Menschenrechte verstehen, auch wenn es in aller Regel Interessen sind, die den Ideen Schubkraft für die "realpolitische" Verwirklichung liefern.

IV. Jedenfalls hat das alles Konsequenzen für die Durchsetzung einer modernen Gesellschaftsauffassung; der Liberalismus wird zu einer bewegenden Kraft. Auch das liberale Wirtschaftsdenken darf nicht einfach als ein Theoriekonstrukt von Vordenkern der "klassischen Ökonomie" begriffen werden. Wie die Ideologie des wirtschaftlichen Liberalismus in konkreten Existenzlagen verwurzelt ist, wo sie also ihren "Sitz im Leben" hatte, kann man sich verständlich machen, wenn man Alfred Müller-Armacks Untersuchungen zum Calvinismus im Rahmen seiner Kultursoziologie unter diesem Gesichtspunkt anschaut: 20 Menschen streben nach einem gelingenden Leben, nach Aufstieg, Erfolg und Selbstverwirklichung. Im katholischen Bereich gibt es die Perspektive der kirchlichen oder der weltlichen (das heißt in der Epoche des Obrigkeitsstaates: der staatlichen) Karriere. Man wird, österreichisch gesprochen, entweder Prälat oder Hofrat, oder man möchte es werden (wenn man nicht dem grundbesitzenden Adel angehört). Im protestantischen Bereich ist die Alternative (ob man Superintendent oder Geheimrat werden möchte) keine so starke; im Zeichen des Summepi18 Vgl. Roman Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964. 19 Zit. nach: Ulrich Noack, Politik als Sicherung der Freiheit Nach den Schriften von John Dalberg-Acton, dem Historiker der Freiheit 1834-1902, Frankfurt/M. 1947, S. 185 f. 2o Alfred Müller-Armack, Genealogie der Wirtschaftsstile (1940), in: Ders., aaü. (1959), s. Anm. 1, S . 46-244.

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skopates der Landesfürsten ist auch der Geistliche eine Art Staatsbeamter. Aber problematisch wird die Sache für den begabten Nachwuchs der Reformierten, etwa in den Niederlanden unter habsburgischer Herrschaft. Wenn die Karrierewege in die öffentlichen Institutionen verschlossen sind, muß man sie sich im Weg der Privatinitiative bahnen, im freien Feld der selbstverantwortlichen Betätigung; man muß "seines Glückes Schmied" werden, d . h. etwas "auf eigene Faust" oder "auf eigene Rechnung" unternehmen. Der Liberalismus ist dann die Idee, aus dieser Not eine Tugend zu machen- die Rechtfertigungslehre eben dieser regula vitae. Wenn sich das auch noch mit der calvinistischen Vorstellung verknüpft, daß eine effektive Kultivierung dieser Tugend ein Anzeichen der Begnadung, der "Erwählung" ist, wird den Trägem dieser Lebenseinstellung zusätzlich eine "übernatürliche" Prämie in Aussicht gestellt. So erscheint das Streben nach möglichst rationaler Verfolgung eigener Erfolgsinteressen dann als "die" tugendhafte Haltung schlechthin; der "homo oeconomicus" wird zum pädagogischen Leitbild der auf "Lebenserfolg im freien Feld", d . h. auf einen "offenen Markt", angewiesenen Schicht. So wird der ökonomische Liberalismus zur Ideologie. Allerdings bleibt, wie Erich Streißler gezeigt hat, das liberale Denken doch mit der altabendländischen Tradition verbunden: 21 Den berüchtigten "Manchester-Liberalismus" habe es gar nicht wirklich gegeben, es habe sich dabei um eine polemische Konstruktion Disraelis und der Konservativen gehandelt, mit der man die Gegner des Agrarprotektionismus verunglimpfen wollte. Die klassischen englischen Nationalökonomen, allen voran Adam Smith, hätten sehr wohl die Gemeinwohlbindung des Eigentums und die sozialen Pflichten der Individuen wie des Gemeinwesens betont, seien mithin keineswegs Ideologen jenes ungehemmten, sozial verantwortungslosen Egoismus gewesen, der gemeint ist, wenn Gegner der liberalen Ideen diese als "liberalistisch" abqualifizieren. Der politische Liberalismus entwickelt sich als Antithese zum neuzeitlichen Obrigkeitsstaat, vor allem zum Absolutismus und zum Polizeistaat. 22

21 Erich W. Streißler, Hundert Jahre Sozialenzykliken- Eine wirtschaftswissenschaftliche Analyse, in: Herbert Schamheck und Rudolf Weiler (Hrsg.), Der Mensch ist der Weg der Kirche, Festschrift für Johannes Schasching, Berlin 1992, S. 77-117. 22 In Verbindung mit dieser Aussage ist eine methodische Anmerkung vielleicht nicht überflüssig: politische Ideenkomplexe sind, mindestens in der Ausprägung, in der sie geschichtswirksam werden, in den wenigsten Fällen Elfenbeinturmphilosophien. Insbesondere die modernen "-Ismen" artikulieren sich im Widerstreit mit Gegenpositionen. So wie man eine politische Partei nur im Kontext eines konkreten Parteiensystems angemessen charakterisieren kann, läßt sich auch der Liberalismus nur als der Prozeß der Selbstvergewisserung einer Geistesbewegung - und das heißt konkret: ihrer Träger - in der Auseinandersetzung mit Gegnern, Konkurrrenten und Partnern begreifen.

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Der neue Staatsgedanke beruht auf dem "poietischen Subjektivismus" der souveränen Herrscher - mit Horst-Eberhard Richter könnte man sagen: auf dem Gotteskomplex der modernen Staatslenker, die darauf aus waren, das Angesicht der Erde zu erneuern. 23 Es geht ihnen insbesondere um die "Menschen-Zurichtung" - etwas krude gesprochen: darum, aus "Menschenmaterial" Menschen zu machen, um das Glück auf Erden zu befördern, übrigens keineswegs in rein diesseitiger Orientierung. Das schließt, wie erwähnt, die "geistige Gleichschaltung" ein, wie sie schon in der Sicht der hergebrachten Theorietradition für unbedingt nötig erachtet wurde: ein Gemeinwesen ohne "concordia" zerfällt, concordia aber erfordert Übereinstimmung in den eigentlich wichtigen geistigen und geistlichen Dingen. 24 So bildet sich das Staatskirchensystem oder zumindest das Bündnis von Thron und Altar heraus - in Österreich entwickelt sich bekanntlich das theologische Fach der Pastoral als eine Lehre der Erziehung und Hinführung des Gläubigen zur Staatswillfährigkeit. 2s Nicht von ungefähr artikuliert sich daher der Liberalismus häufig als eine Bewegung konfessioneller Dissidenten. 26 Was die polizeistaatliehen Anstrengungen betrifft, die Untertanen in eine ordentliche Verfassung zu bringen, so ist ein Text aus der Feder eines radikalen Obrigkeitsgegners recht aufschlußreich: "Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden ... , bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, verhindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden .. . ". 27 Eben dagegen richtet sich das selbstbewußt werdende Bürgertum mit seinem Emanzipationsstreben. Es erkämpft die Eingrenzung der Staatsmacht durch die Bindung der Obrigkeit an Schranken (Menschen- und Zum folgenden vgl. den in Anm. 14 erwähnten Beitrag d. Verf. Vgl. oben Anm. 14 und den dazugehörigen Text. 25 Vor allem im Sinne von Franz Stephan Rautenstrauch (1734 -1785); vgl. Heinz Schuster, Die Geschichte der Pastoraltheologie, in: Franz Xaver Arnold, Karl Rahner, Viktor Schurr, Leonhard M. Weber (Hrsg.), Handbuch der Pastoraltheologie, Bd. I, Freiburg I Br. 1964, S. 40-92, hier S. 42 ff. 26 Die Neigung englischer Katholiken zum Liberalismus ist ein Beispiel, der mehrfach zitierte Lord Acton personifiziert diese Haltung. 27 Pierre-Joseph Proudhon, zit. nach Wilhelm Hennis, Legitimität Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Peter Graf Kielmannsegg (Hrsg.), Legitimitätsprobleme politischer Systeme (Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 7 1 1976), S. 9-38, hier S. 35. 23

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Bürgerrechte als Abwehrrechte gegen den Staat), durch die Inanspruchnahme des Rechts zur Schrankenerrichtung für die Volksvertretung: das Handeln der Obrigkeit muß an die gesetzlicher Ermächtigung und Zweckvorgabe gebunden werden: die Gubernative wird zur bloßen Exekutive umfunktioniert. Insbesondere aber wird die politische Entmachtung der Kirchen erstrebt: Der Staat muß ihnen gegenüber in eine Position der Überparteilichkeit versetzt werden - die Staatsmacht soll nicht mehr als Kampfinstrument in der Hand einer Konfession gegen die anderen eingesetzt werden können. Die Kirchen werden dadurch einerseits in die Freiheit von obrigkeitlicher Bevormundung und Instrumentalisierung entlassen, aber auch dem Risiko der Selbstbewährung in der Gesellschaft ausgesetzt. Damit hängt aufs engste auch der kulturelle Liberalismus zusammen. Er fordert vor allem einen Pluralismus der Glaubensüberzeugungen und der Weltanschauungsgruppen. Es darf keine "Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten" (Robert Havemann) geben, weder als eine staatliche noch als eine kirchliche noch als (gar) eine Parteibehörde. Auch hierbei steht die Erfahrung der Glaubenskriege im Hintergrund; die "temporalia" und die "spiritualia" gehören in zwei verschiedene Bereiche, Glaubensüberzeugungen sind höchstpersönlich, dürfen nicht mit politischen Mitteln aufgezwungen werden, sondern sind sozusagen nur "Angebote" ihrer Vertreter auf dem Markt der Weltanschauungen. Gleiches gilt dann aber auch für nichtkonfessionelle, philosophische und andere Weltbilder, Sinnentwürfe und Lebensmodelle - also auch für Moralen, vorausgesetzt sie implizieren nicht Beeinträchtigungen der geistigen und moralischen Freiheit der Andersdenkenden und Anderslebenden, und sie zersetzen nicht die geistigen Grundlagen des Gemeinwesens. Es läßt sich leicht verstehen, daß hier Probleme für das liberale Denken liegen: was ist an verbindlichen und verbindenden Gemeinsamkeiten überhaupt nötig? Nur die Anerkennung von "Verkehrsregeln", zur Verhinderung destruktiver Kollisionen auf einem Feld, in dem jeder sich selbst den Weg und das Ziel wählt? Oder müssen Ziele und Wege der Mitglieder einer Gesellschaft doch irgendwie miteinander kompatibel sein? Nach welchen Kriterien soll hierüber entschieden werden? In liberaler Sicht gewiß nicht nach offenbarungstheologisch gewonnenen. Aber welche anderen Orientierungsinstanzen gibt es? Wo und wie läßt sich ein dem Streit enthobener Grund für die Formulierung verbindlicher Einsichten, vor allem mit normativem Gehalt, finden? Zwei Antworten werden vorgetragen: In Frankreich meint man, die Vernunft als solche grundgebende Instanz ausmachen zu können, in England die Erfahrung - so bieten sich die französische, rationalistische Aufklärung einerseits, die englische, empiristische andererseits als philosophische Begründungen liberalen Denkens an. Aber alsbald

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werden neue Problematiken sichtbar: Die Tendenz des Rationalismus zu einer doktrinären Objektivierung der Vernunftsätze führt zu einerneuen Illiberalität, wie sie vor allem im Jakobinismus zum Vorschein kommt. Die Tendenz des Empirismus zur liberalen Großzügigkeit und zum Zweifel am Raisonnement, also an der Vernunft, enthält eine Neigung zur Unverbindlichkeit, zur relativistischen Beliebigkeit - oder aber zur Selbstüberantwortung an Empfindungen und Strebungen, etwa solche der Annehmlichkeitsmaximierung. Wenn schon Verbindlichkeiten postuliert werden, dann leitet man sie von unhintergehbaren subjektiven Erfahrungen ab; die moralische Pflicht zur Solidarität, zur Distanzierung von egoistischen Regungen, wird dann etwa auf Gefühlserfahrungen, "moral sentiments", auf Sympathieregungen zurückgeführt. Bei den Anthropologien nimmt man aus Abneigung gegenüber der "Metaphysik" lieber eine gewisse Vordergründigkeit und Simplizität in Kauf. Immanuel Kant überwindet dann die in dieser Dissoziation angelegte Degeneration des Menschenbildes: Der Mensch ist Sinnen- und Vernunftwesen zugleich, die Natur legt überdies den Keim zur Zwietracht in die Menschengattung, während andererseits der Mensch "durch seine Vernunft bestimmt" ist, "in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich ... zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren." 28 Die Ordnung des politischen Gemeinwesens muß dem entsprechen; der Zentralgedanke ist der der Menschenwürde, sie hat ihren Grund in der sittlichen Berufung des Menschen, die Freiheit einschließt und sinnerfüllt macht. Auch die "moral sentiments" bindet Kant in seine Anthropologie der Sittlichkeit ein: "Teilnehmende Emfindung" ist für ihn keine bloß naturwüchsige Regung, sondern "überhaupt Pflicht", und sie trage "den Namen der Menschlichkeit". Insofern gehört zur menschenwürdigen Ordnung des Zusammenlebens nicht nur eine republikanische Staatsverfassung, sondern auch eine sittliche Solidarität der Mitglieder der Gesellschaft, sie steht zur Idee der Autonomie keineswegs im Gegensatz. Man muß freilich anmerken, daß trotz aller Einwirkung der Philosophie Kants auf die liberale Bewegung, vor allem in Deutschland, 29 keine politische Gruppierung oder gar Partei von "Kantianern" auf den Plan getreten ist; die Lehren des Königsherger Philosophen wurden über Fries und Leonard Nelson eher zur politischen Doktrin des sog. "ethischen Sozialismus" umgeformt. Der Kulturliberalismus wurde, außerhalb des deutschen Bildungsbürgertums, kaum mit kantischen Ideen imprägniert. 28 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798 I 1800), Zweiter Teil, li. E . ("Der Charakter der Gattung"), nach: Werke in 10 Bdn., hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1986, S. 678. 29 Vgl. dazu Gerhard Ritter, Vom sittlichen Problem der Macht, Bern 1948, s. 123 ff.

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Schließlich muß wohl auch noch ein Blick auf den geschichtsideologischen Liberalismus geworfen werden. Daß der Gedanke der Berufung des Menschen zur Freiheit mit der Idee des zum Besseren führenden Geschichtsprozesses verknüpft sein kann, leuchtet ein. Man kann diese Verknüpfung auch wieder im Blick auf Kant genauer betrachten. Er meint, daß gerade die Vernunft uns dazu auffordert, "die Menschengattung ... als eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen," 30 ohne daß es freilich berechtigt wäre, sich hierauf zu verlassen; vielmehr komme es darauf an, "an diesem ... Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern, mit aller Klugheit und moralischer Vorleuchtung, die Annäherung zu diesem Ziele (ein jeder, soviel an ihm ist) zu befördern." 31 Dies ist freilich eine reflektierte, sozusagen sublimierte Version des Fortschrittsgedankens, keineswegs die einzige im Liberalismus geläufige. Überdies wurde die Idee des geschichtlichen Fortschritts nicht erst von Liberalen aufgebracht. 32 Schon aus der Zeit um 500 v. Chr. ist der Ausspruch des Xenophanes überliefert: " ... mit der Zeit finden die Sterblichen suchend das Bessere". Im christlichen Denkraum 33 setzt sich die Idee der Heilsgeschichte durch: nach dem Sündenfall verheißt Gott die Erlösung, die Menschwerdung des Gottessohns stellt einen Höhepunkt der Geschichte dar, aber danach erfolgt kein Niedergang, denn das Heilswerk Christi wirkt weiter - bis zur letzten Auseinandersetzung zwischen den göttlichen und den bösen Mächten, an deren Ende "ein neuer Himmel und eine neue Erde" geschaffen werden. Inzwischen ist die Welt - in der im Mittelalter sehr wirksamen augustinischen Tradition - eine Kampfstätte zwischen den Kräften der "Civitas Dei" und der "Civitas terrena". Trotz der Unterscheidung zwischen Heilsgeschichte und profaner Weltgeschichte gibt es gewisse Verknüpfungen. 34 Unorthodoxe Denker wie Joachim von Fiore entwerfen eine zukunftsorientierte Zeitalterlehre: nach dem alttestamentlichen Reich des Vaters, und dem neutestamentlichen des Sohnes steht, da es ja drei göttliche Personen gibt, das "Dritte Reich", das des Heiligen Geistes, bevor, in dem die Gnade sich voll durchgesetzt haben wird, so daß Freiheit und Solidarität das Dasein bestimmen. Der Prämonstratensermönch Anselm Kant aaO. (s. Anm. 28), S . 690. Ebd. S. 683. 32 Zum folgenden: Reinhart Koselleck, Christian Meier, Art. "Fortschritt" , in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart KoseHeck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 351-423. 33 Dazu Heinrich Schneider, Eschatologie und Politik, in: Religion-WissenschaftKultur (Jahrbuch der Wiener Kath. Akademie), 23. Jg., 1972 I 1973, S. 55-83. 34 Vgl. Max Seckler, Das Heil in der Geschichte, München 1964. 30

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von Havelberg sieht schon in den Neuerungsbewegungen der Gegenwarter hat vor allem die Neugründungen mönchischer Orden vor Augen- die vorantreibende Geisteskraft Gottes gegen die naturhafte Trägheit der Menschen ankämpfen. Aber die Vorstellung eines "Procursus" hat weiter zurückgehende Wurzeln, man kann an die Saatkorn- und Wachstumsgleichnise des Neuen Testaments denken, und an Irenäus von Lyon (der den Gedanken entwickelt, daß es selbst noch im Himmel ein "ewiges Weiterewandern" zu immer größerem Heile gibt). In der Neuzeit kommt es zur Herauslösung des Fortschrittsgedankens aus der positiven Theologie des Christentums und dann zur Säkularisierung: Herder und Lessing sehen Gott als den "Paidagogos" der Menschheit, der sie zur Humanität führt. Andererseits kommt es zu einer gnostischen Umformung der Fortschrittsidee, die nun nicht mehr Inhalt zugleich mutigen wie demütigen, dennoch anspornenden Hoffnung ist (wie noch bei Kant), sondern als eine Notwendigkeit begriffen wird, die man mit einer gewissen Verbissenheit bejaht und verkündet. So ist es etwa bei Voltaire, Turgot und vor allem bei Condorcet. Im Kampf um den Sieg der Vernunft stützen sich die radikalen Aufklärer gleichsam auf die gewollte Gewißheit des Unbedingten: die Fortschrittsidee wird zur Ersatzreligion. Im Jahre 1815 gründet Charles Comte die Zeitschreift "Globe" und stellt ihr die Aufgabe, der "revolution permanente" zu dienen, worunter er eine konsequente auf Dauer gestellte Reformpolitik versteht, die destruktivrevolutionären Bewegungen den Wind aus den Segeln nimmt. 35 Er ist damit einer der Väter des Linksliberalismus, der auf "peaceful change" ausgeht - ein "Liberaler" in dem heute noch in den USA üblichen Sinn des linksevolutionären Reformismus. Mit anderen Worten: Der Liberalismus verbindet sich mit dem Fortschrittsgedanken, aber in durchaus unterschiedlichen Varianten, zumal die Fortschrittsidee selbst sehr verschieden konzipiert werden kann, u. U. auch ausgesprochen illiberal. Andererseits gibt es auch die Erfahrung der Anfechtung liberaler Errungenschaften, und dann wird die Verknüpfung von Liberalismus und Fortschrittsvorstellungen fragwürdig, die Liberalen werden konservativ, es geht ihnen darum, errungene Freiheiten und freiheitsbestimmte Ordnungsformen zu erhalten und zu verteidigen.

35 Dies nach Erle Voegelin aaO. (1960), s. Anm. 17, S . 21 f.- Der Gedanke, daß man gewaltsamen Reformen durch Reformpolitik zuvorkommen sollte, ist im frühen 19. Jahrhundert sehr geläufig; zu seinen Vertretern gehören nicht nur Liberale, sondern auch Konservative wie Franz von Baader; vgl. Reinhart KoseHeck im Art. "Revolution", in: Otto Brunner (t), Werner Conze, Reinhart KoseHeck aaO. (s. Anm. 32), Bd. 5 (1984), s. 7511 f .

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V. Dies alles zeigt, daß liberale Bewegungen immer wieder an Scheidewege geraten. In der aktuellen Auseinandsersetzung kann es entweder zu doktrinären und puristischen Verhärtungen kommen, oder zu produktiven Begegnungen mit dem jeweiligen Gegner, Kontrahenten oder Partner. In der kulturellen Sphäre gibt es beispielsweise die Alternative der Anerkennung der orientierenden und motivierenden Kraft der Religion und überhaupt des Geistigen (einschließlich seiner sittlichen Dimension wie bei Kant) oder aber der Infragestellung der Geistesmächte im Zeichen einer rücksichtslosen Relativierung, die das Geistesleben und die Kultur als einen bloßen Naschmarkt versteht. Die verschiedenen Varianten des Modells der Beziehungen zwischen Staat und Kirchen bieten hierfür signifikantes AnschauungsmateriaL 3 6 Wirtschaftsliberalismus kann sich einerseits als ein ungehemmter ins Ökonomische übersetzter Sozialdarwinismus darstellen (verbunden mit dem Glauben, das "survival of the fittest" im Marktwettbewerb werde ohnehin zum Besten für die Gesellschaft führen) , oder als ordnungspolitisch orientierter "Neoliberalismus", der womöglich auch die soziale Dimension der Ordnungspolitik und die Wohlfahrtsaufgaben des Staates durchaus anerkennt. Im Politischen liefe die doktrinäre Verabsolutierung des Freiheitsprinzips auf eine Anarchie hinaus; die Alternative dazu ist der freiheitlichpluralistisch-demokratisch verfaßte Rechtsstaat. Doktrinäre Verabsolutierungen rufen in der Regel Antithesen hervor, und die Auseinandersetzung kann Formen des heißen oder kalten Bürgerkriegs annehmen, in denen das Grundanliegen der liberalen Bewegung, die Freiheit, auf der Strecke bleibt. Es gibt aber auch den anderen Vorgang: die produktive Verknüpfung von Ideen und politischen Zielen. Das bemerkenswerteste Beispiel ist wohl die Entwicklung des Gedankens der Grundrechte. In einem mühsamen Ringen hat sich sozusagen eine Synthese aus Grundrechtsverbürgungsprojekten unterschiedlicher Richtungen herausgebildet: 37 Die Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt (nach Jellinek die Rechte des "status 36 Zu denken wäre z. B. an das amerikanische Modell, wie es insbesondere von John Courtney Murray SJ europäischen Betrachtern verständlich gemacht wurde, einerseits, die "antiklerikalen" Vorstellungen im kontinentaleuropäischen Liberalismus andererseits. 37 Grundlegend: Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg/Br. 1892. Vgl. auch Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl., Berlin 1957, S. 163 ff., v. a . S. 170; Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt IM. 1971, S. 357 ff., v. a. 372 ff.

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negativus"), wie etwa die Gewissensfreiheit, die (äußere) Freiheit der Person, die Eigentumsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, aber auch die Meinungs-, Rede-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind eine liberale Errungenschaft. Die Teilhaberechte am politischen Gemeinwesen wie insbesondere das allgemeine Wahl- und Stimmrecht, die Abschaffung von Zulassungsbeschränkungen für öffentliche Amtspositionen u. ä. (bei Jellinek heißen sie Rechte des "status activus") waren Kampfziele der demokratischen Bewegung, die sozusagen links vom klassischen Liberalismus stand. Die Rechte auf Leistungen des Staates, also die sog. "sozialen Grundrechte" gehen auf Forderungen der sozialistischen oder auch der (z. B. Christlich-)Sozialen Bewegung zurück. Schließlich gibt es grundrechtsähnliche Bestands- und u. U. Autonomiegarantien auch für Institutionen, etwa zugunsten der Kirchen, der Gemeinden, der Universitäten oder auch der Familie als Institution - hierbei handelt es sich in der Regel um die verfassungsrechtliche Verbürgung konservativer Anliegen. Auch wenn von Staat zu Staat ebenso wie von Epoche zu Epoche die "Balance" zwischen den verschiedenen Komponenten des modernen Grundrechtssystems unterschiedlich gestaltet sein mag - im ganzen hat sich eine Art Amalgam herausgebildet, dem man oft die ursprüngliche Heterogenität gar nicht mehr anmerkt; das wird z. B. darin deutlich, daß man "liberale Freiheitsrechte" zugleich auch als unabdingbare Elemente des "demokratischen" Prozesses betrachtet und auch sonst den strukturellen Zusammenhang der einzelnen Rechte herausstellt. 38 Das heißt: es gab produktive Begegnungen und Synthesen aus liberalen und anderen Ideenbeständen, und auch Lernprozesse. Wesentliche Errungenschaften des liberalen Denkens sind heute Gemeingut, mindestens im westlichen Zivilisationskreis. Besonders bemerkenswert sind die Wandlungen des Verhältnisses zum liberalen Denken im katholischen Bereich. Die Klassiker des Liberalismus (wie auch der Demokratie) - Locke, Montesquieu, Rousseau zum Beispiel - standen alle auf dem Index der für Katholiken verbotenen Bücher. Papst Gregor XVI. erklärt in der Enzyklika "Mirari vos" im Jahre 1832, es sei ein "Wahnsinn" und ein "seuchenartiger Irrtum", daß für jeden die "Freiheit des Gewissens" (in Anführungszeichen!) verkündet und erkämpft werden solle. 39 Auch die Meinungs- und Pressefreiheit führe zu einer "Seuche", die für das öffentliche Leben todbringender sei als jede andere. 38 Vgl. etwa Konrad Hesse, Grundrechte - Bestand und Bedeutung, in: Ernst Benda u. a . (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesr epublik Deutschland, Berlin 1983, S. 79 ff. 39 Text in: Arthur Utz und Brigitta Gräfin von Galen (Hrsg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, Bd. I, Aachen 1976, S. 136 ff.

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Papst Pius IX. erklärt im "Syllabus" von 1864, es sei eine zu verurteilende Lehre, daß die Kirche die Philosophie sich selbst überlassen solle; verurteilt wird ferner die Aussage, der Mensch solle die Freiheit haben, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, die er für die wahre hält; auch eine Unterstellung der Volksschulen und der Höheren Schulen unter die Autorität des Staates (anstelle der kirchlichen Leitung) wird ausdrücklich verurteilt. 40 Papst Leo XIII. wendet sich in seiner Enzyklika "Libertas praestantissimum" von 1888 gegen die These, die menschliche Freiheit werde zwar dem "ius naturale" und der "lex divina sempiterna" unterstellt, im übrigen aber sei ihr freier Gebrauch erlaubt. Zurückgewiesen wird in der Enzyklika ferner die Gleichberechtigung der Religionen vor dem staatlichen Gesetz sowie die "schrankenlose Meinungsfreiheit" und die Lehr- und Forschungsfreiheit, sofern sie sich von der unfehlbaren Lehre der Kirche unabhängig dünkt. Allerdings müsse die Kirche manches, was an sich fragwürdig und Gott nicht wohlgefällig ist, dulden, wenn es gilt, ein größeres Gut zu bewahren oder zu erreichen, beziehungsw~ise ein größeres Übel zu verneiden (auch Gott lasse, wie schon Augu~tinus lehrte, als Regent der Welt vieles ungestraft und schaue darüber hinweg ... ). Auf der anderen Seite erinnert die Enzyklika zustimmend an die Lehre, daß eine tyrannische Herrschaft legitimerweise abgeschüttelt werden kann; es ist legitim, sich dafür einzusetzen, "ut civitates suis legibus vivant, civesque quam maxima augendarum commodorum facultate donentur"; d. h. also, daß Gemeinwesen nach ihren eigenen Gesetzen leben, und daß die Bürger den größtmöglichen Wirkungsraum bzw. die besten Chancen zur Mehrung des Wohlstandes erhalten. 4 1 In solchen Aussagen deutet sich bereits ein Wandel an - aber erst in unserer Zeit kommt es zum Durchbruch einer christlichen Liberalität: das II. Vatikanische Konzil erkennt die Gewissensfreiheit auch in Glaubensdingen an, und ebenso die legitime Pluralität politischer Sichtweisen und Handlungsperspektiven, auch unter Christen; 42 diese Texte sind hinreichend bekannt und oft kommentiert worden, sodaß hier keine ausführlichen Erläuterungen erforderlich sind. Vor allem aber muß in diesem Zusammenhang das Subsidiaritätsprinzip zur Sprache kommen. Es wird derzeit zumeist im Sinne der Maxime referiert, daß man der engeren Gemeinschaft zugunsten der weiteren nicht Text ebd. S . 34 ff. Text ebd. S. 180 ff. 42 II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" vom 7. Dezember 1965; Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes" vom selben Tag. 40

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das wegnehmen darf, was sie selbst zum guten Ende bringen kann. Vor allem im Blick auf die europäische "Verfassungspolitik", insonderheit in bezugauf das Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, ist diese Aussage gewiß von besonderer Aktualität. 43 Aber sie umschreibt ja nur einen Teilinhalt des Subsidiaritätsprinzips; vielmehr wird sie in der Enzyklika "Quadragesima anno" per analogiam aus einer grundlegenderen abgeleitet: daß nämlich das, was der Einzelmensch (homo singularis) aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Communität übertragen werden darf; jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen nach subsidiär. 44 Arthur Fridolin Utz hat nachdrücklich betont, daß damit nicht etwa eine "alte Wahrheit" rekapituliert wurde, vielmehr habe man das Prinzip "erst in moderner Zeit" formulieren können; dazu sei ein Anstoß vom Liberalismus erforderlich gewesen. 45 Dessen ungeachtet muß das Prinzip im Kontext des christlichen Naturrechtsdenkens verstanden werden, in seiner neueren, von der unbedingten Bejahung der Menschenwürde ausgehenden und daher die Menschenrechtsidee bejahenden Ausprägung. Allerdings: Die geschilderte Entwicklung war nur deshalb möglich, weil es schon in der vorausgehenden christlichen Lehre eine Basis dafür gab, etwa in den Überzeugungen von der beschränkten Hoheitsgewalt des Staates und von der Verpflichtung des Menschen, seinem Gewissen zu gehorchen (freilich auch: um seine Gewissensbildung bemüht zu sein). Noch einmal darf der schon früher erwähnte Lord Acton zitiert werden: "Religiöse Freiheit ist das schöpferische Prinzip der bürgerlichen Freiheit ["civil liberty" , H. S.], und bürgerliche Freiheit ist die notwendige Bedingung der religiösen." 46 Schon aus diesem Grund ist die produktive Begegnung christlichen und liberalen Denkens und ist auch die kritische Überprüfung geläufiger Schlagworte vom widernaturrechtliehen Liberalismus nur zu wünschen. Andererseits mag sich daraus auch ein modifiziertes Bild von den Erfordernissen einer liberalen Politik ergeben, von den umfassenden und tieferliegenden Voraussetzungen, in die beispielsweise das Leitbild der Marktwirtschaft oder das der Konkurrenzdemokratie eingebettet ist.

43 Vgl. dazu Helmut Lecheler , Das Subsidiaritä tsprinzip - Strukturprinzip einer europäischen Union, Berlin 1993; Siegfried Magiera, Föderalismus und Subsidiarität, in: Heinrich Schneider und Wolfgang Wessels {Hrsg.), Föderale Union Europas Zukunft?, München 1994 (im Ersch.). 44 Papst Pius XI., Enzyklika "Quadragesima anno" (1931), Abschnitt 79. 45 Arthur Fridolin Utz, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Subsidiaritätsprinzips, in: Ders. (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip, Heidelberg 1953, S. 7 ff. Vgl. auch: Ders., Sozialethik, I. Teil: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Heidelberg und Löwen 1964, S. 279 ff. 46 Zit. nach: Ulrich Noack aaO. (1947), siehe Anm. 19, S. 186.

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VI.

Vielleicht könnte christlich-liberales Denken unseren Erörterungen auch noch in anderer Richtung behilflich sein, und in diesem Sinn sollen schließlich noch zwei weitere Aussagen Lord Actons in Erinnerung gebracht werden. Erstens: "Der sicherste Prüfstein, ob ein Land wirklich frei ist, ist das Maß von Sicherheit, das Minderheiten genießen." 47 Zweitens: "Diejenigen Staaten sind ihrem Wesen nach die vollkommensten, welche verschiedene besondere Nationalitäten umfassen, ohne sie zu unterdrücken." 48 "Das Zusammenleben verschiedener Nationen unter dem gleichen Staat deutet einen Stand größeren Fortschritts an, als die nationale Einheit, die das Ideal des modernen Liberalismus ist." 49 Ein föderalistisches Leitbild politischer Ordnung sollte die Nationalstaatsdoktrin ablösen; diese nämlich "weist die Rechte und Wünsche der Einwohner ab, indem sie ihre divergierenden Interessen in einer fiktiven Einheit absorbiert; sie opfert ihre verschiedenen Neigungen und Pflichten dem höheren Anspruch der Nationalität auf und unterdrückt alle natürlichen Rechte und festgesetzten Freiheiten in der Absicht, sich selbst geltend zu machen." 50 Diesen Worten möchte man einen Gedankengang an die Seite stellen, der in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein wichtiger Inmpuls für die Idee der Einigung Europas gewesen ist: Der Gründer der Paneuropa-Union, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, erinnerte seinerzeit daran, daß das neuzeitliche Europa im 17. Jahrhundert der Gefahr der Selbstzerfleischung ausgesetzt war, im Zeichen der Konfessionskriege, und daß diese Erfahrung den Anlaß zu einer Kulturerrungenschaft gegeben hat, von der in diesem Beitrag schon die Rede war: zu der liberalen Idee des "Civil Government", die das Leitbild der "Ecclesiastical Polity" ablöste. Coudenhove meinte: So wie damals mörderische Auseinandersetzungen dadurch ihr Ende fanden, daß die Hoheitsgewalt des Staates gegenüber den Konfessionsparteien in einen Status der Überparteilichkeit versetzt wurde, sei es nun an der Zeit, dafür zu sorgen, daß die Staatsmacht auch nicht mehr als Kampfinstrument in den Händen eines Volkstums gegen andere Volkstümer genutzt werden kann, d. h., daß man ihren Einsatz im Nationen- und Nationalitätenkampf als Mißbrauch erkennt. Die Sicherung des Friedens und der Freiheit verlange daher eine Reform der politischen Ordnung dahingehend, daß die Rechtshoheit des Gemeinwesens auch gegenüber den nationalen Gemein47 48 49 50

Zit. Zit. Zit. Zit.

nach: nach: nach: nach:

Ebd. S. 206. Ebd. S. 219. Ebd. Ebd. S. 217.

Vermächtnis und Auftrag des Liberalismus in christlicher Sicht

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schaften- so wie seinerzeit gegenüber den konfessionellen- "überparteilich" konstituiert werde. Das war damals eines der stärksten Argumente zugunsten der übernationalen Gestaltung des europäischen Zusammenschlusses- als nämlich die Europapolitik noch nicht auf Westeuropa beschränkt war, wie nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Zwischenkriegszeit hatte man ja noch die komplizierten Probleme des Miteinanders und Gegeneinanders von Minderheiten und Volksgruppen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa vor Augen. So konnte das westeuropäische Konzept eines "Europas der Nationalstaaten" als fragwürdig erscheinen, weil die meisten Staaten im zentralen und östlichen Teil des Kontinents keine wirklichen, homogenen Nationalstaaten waren. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg hat Karl Jaspers den Gedanken erneuert, mit dem Wort Europa stehe man vor der Alternative zwischen Balkanisierung und Helvetisierung. Heute ist uns wieder beklemmend deutlich geworden, was "Balkanisierung" heißt. Sollte daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß wir einen neuen Sinn für die "Helvetisierung" entwickeln sollten, für den Gedanken an eine die gemeinsame Freiheit der Bürger, der Gruppen (auch der Volksgruppen) und der Nationen sichernde Eidgenossenschaft? Lord Actons Versuch, die Idee der liberalen Freiheit über den Begriff der nationalen Souveränität hinaus weiterzudenken, und Coudenhoves Vergleich des ersten großen Durchbruchs liberaler Ordnung des Gemeinwesens im 17. Jahrhundert mit der Herausforderung durch nationale Rivalitäten im 20. Jahrhundert sind bemerkenswerte Gedanken. Sie könnten dazu anregen, das Erbe des modernen Freiheitsdenkens nicht nur nicht zu vergessen, sondern als Impuls zur Bewältigung neuer Herausforderungen fruchtbar werden zu lassen.

DIE BERUFLICHE INTERESSENVERTRETUNG IM DIENSTE DES GEMEINWOHLES

Die Kammer-Selbstverwaltung in der freiheitlichen Demokratie 1 Von Karl Korinek I. Einleitung

Die Kammern sind ins Gerede gekommen. In der politischen Diskussion 2 wird dabei nicht bloß über Einzelfragen der Organisation und ihrer rechtlichen Ausgestaltung gesprochen- vielmehr werden auch Strukturprinzipien des Kammersystems, wie insbesondere das Prinzip der Pflichtmitgliedschaft in Frage gestellt. Damit steht freilich- wie zu zeigen sein wirddas System der wirtschaftlichen und beruflichen Selbstverwaltung 3 insgesamt zur Diskussion. In dieser Situation ist es angebracht, sich der staatsrechtlichen Grundlagen und Zusammenhänge zu besinnen und der Frage nach dem verfassungsrechtlichen Konzept der Kammer-Selbstverwaltung nachzugehen. Auf welchen staatsrechtlichen Grundlagen beruht unser System der KammerSelbstverwaltung und was meinen Wortlaut und Sinn unserer Verfassung I Dieser Beitrag ist ein teilweiser Wiederabdruck von K. Korinek, Staatsrechtliche Grundlagen der Kammer-Selbstverwaltung, in: Das Recht der Arbeit, 41. Jahr I Nr. 2 vom April1991, S. 105-S. 114. Auf die wichtigsten seither eingetretenen Entwicklungen bzw. Publikationen wird in den Anmerkungen Bezug genommen. 2 Die Diskussion wurde zunächst im Handelskammerbereich geführt und war dort getragen durch- m. E. nicht ausreichend reflektierte- Positionen mancher Wirtschaftstreibender, die Kategorien des marktwirtschaftliehen Ordnungssystems (Wettbewerbsfreiheit, Verringerung staatlicher Regulierung und staatlichen Zwanges) auf das staatliche Ordnungssystem übertragen. Politisch wurde die Diskussion vor allem von freiheitlicher Seite entriert. Grobes Fehlverhalten einzelner Funktionär~, insb. im Bereich der steiermärkischen Arbeiterkammer, und die Thematisierung im Wahlkampf hat der Diskussion Beschleunigung verliehen, sie aber auch emotionalisiert und von den sachlichen Grundlagen weggeführt. Darauf habe ich schon in einem Vortrag zum Thema "Selbstverwaltung und Verfassung" auf einem Festakt zum 70jährigen Bestand des B-VG hingewiesen(= WipolBl1991, 48 ff.), in dem viele der hier näher ausgearbeiteten Gedanken entwickelt wurden. 3 Zum System vgl. insb. Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung (1970); Welan I Gutknecht, Selbstverwaltung, in: Rill (Red.), Allgemeines Verwaltungsrecht, FS-Antoniolli (1979), 410 ff. sowie Antoniolli 1 Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht (1986), 436 ff. und die dort gegebene Literaturzusammenstellung.

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zur wirtschaftlichen und beruflichen Selbstverwaltung? Vielleicht können wir aus der Besinnung auf die staatsrechtlichen Grundlagen und rechtlichen Grundstrukturen auch Ansätze für Antworten auf die heute in der aktuellen politischen Diskussion gestellten Fragen entwickeln und für die Reformdiskussion nutzbar machen. Derartige Besinnung auf das Grundsätzliche kann die öffentliche Diskussion der Reformanliegen, die von Unsicherheit über die Grundlagen, Begriffsverwirrung und Informationsmangel gekennzeichnet ist, durchaus gebrauchen. II. Die Struktur des Systems der Kammer-Selbstverwaltung und ihre staatsrechtlichen Grundlagen

I. Die Grundlagen des Demokratiebegriffs des B-VG Das demokratische Prinzip, wie es in der Österreichischen Bundesverfassung realisiert ist, wurzelt zweifellos in dem individualistisch-radikaldemokratischen Gedankengut eines Jean-Jacques Rousseau, 4 aber keineswegs nur in diesem. Nach Rousseaus Idee der Demokratie sollten die von allen Bindungen freigesetzten Individuen als Volk die Herrschaft ausüben; denn nur wenn Souverän und Volk ein und dieselbe Person wären, sei sichergestellt, daß die Herrschaft dem allgemeinen Wohl diene; der Wille der Bürger sei identisch mit dem Gemeinwohl, der "volonte generale". Damit dieser Wille richtig zum Ausdruck gebracht werden könne, sei es von besonderer Bedeutung, daß es im Staat keine Aufteilung der Gewalten und keine Sondergruppen gebe. Dieses Gedankengut von der absoluten und unteilbaren Gewalt des Souveräns hat nun aber auch eine etatistisch-totalitäre Konsequenz: Das wurde erstmals deutlich, als die berühmt-berüchtigte loi Le Chapelier 1791 den neu auftretenden Arbeiterverbänden und überhaupt allen Korporationen ein Ende setzen sollte, 5 und hat sich schließlich in grauenhafter Perfektion in der unter Berufung auf den Gemeinwillen geübten Schrekkensherrschaft der Jakobiner 1793 I 94 gezeigt: Uneingeschränkt von intermediären Gewalten konnten die Jakobiner ihre Erziehungsdiktatur errichten.6

4 Vgl. z. B. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie (1958), 117 ff., sowie konkret für unseren Zusammenhang Brünner, Verbände in der Parteiendemokratie (197 4), 40 f. 5 Siehe dazu etwa Lehne, Demokratie ohne Illusionen (1967), 47 f. 6 Vgl. etwa Schmitt, Art. "Französische Revolution" in: Staatslexikon der GörresGesellschaft7, Bd. 2 (1986), Sp. 664 ff. oder Fraenkel I Bracher, Staat und Politik (1957), 56 f .

Die berufliche Interessenvertretung im Dienste des Gemeinwohles

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Man hat den Eindruck, daß auch heute mitunter Demokratie nur gesehen wird im Antagonismus von Individuen und dem Staat. Insbesondere sogenannte freiheitliche Ideologien lassen sich oft auf den - vereinfachenden -Nenner zurückführen: hie die Bürger- hie der Staat. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit: 7 Wir wissen, daß es zwischen den einzelnen Bürgern als Individualitäten und der Summe der Bürger als einheitlichem Staatswillen noch etwas anderes gibt und - letztlich im Interesse der Freiheit - auch geben muß. Wir können einfach nicht leugnen, daß es auch legitime Teilinteressen gibt, deren Verfolgung und Integration eine Staatsaufgabe ist. 8 Die Gesellschaft von heute ist pluralistisch strukturiert; sie kann nicht nur vom Staat her, sie muß auch nach ihrer Interessengliederung verstanden und repräsentiert werden. Wir wissen seit langem, 9 daß das Interesse ein Strukturelement der Gesellschaft ist; Interessengegensätze sind der modernen Gesellschaft wesenseigen, ja sie zählen zu den stärksten Antriebskräften des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts- eine Einsicht, die insbesondere Johannes Messner artikuliert hat, die wir aber auch bei Theoretikern der Sozialdemokratie formuliert finden. 10 Es gibt nicht ein Volksinteresse, sondern unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft, auch wenn das von bestimmten politischen Ideologien her nur schwer verständlich sein mag. In diesem Sinne spricht etwa Roman Herzog zutreffend davon, daß in unserer pluralistisch strukturierten Gesellschaft eine Verwirklichung von Gemeinwohl "ohne Würdigung und Befriedigung von Partialinteressen" nicht vorstellbar sei. 11 Diese pluralistische Komponente ist neben der individualistischen und der etatistischen Komponente Grundlage des demokratischen Systems der Österreichischen Verfassung. Das Volk im Sinne des Art. 1 B-VG, von dem alles Recht ausgeht, ist nicht bloß die Summe der Individuen; es ist ein mehrfach gegliedertes, insbesondere nach Interessenbereichen gegliedertes Volk. 12 Das anerkennt die Verfassung, wenn sie die in der Gemeinde 7 Siehe insb. Scheuner, Politische Repräsentation und Interessenvertretung, DÖV 1965, 577 ff. 8 Dazu insb. Schambeck, Kammerorganisation und Ständeordnung, in: Burghardt u. a. (Hrsg.), Im Dienste der Sozialreform, FS-Kummer (1965), 465 ff. 9 Die grundlegenden Forschungen Steins stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: Vgl. insb. in: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 1. Bd., Leipzig 1850, insb. 22 f. 10 Vgl. insb. Messner, Die soziale Frage7 (1964), 506, oder etwa Renner in seiner Rede vor der Konstituierenden Vollversammlung der Wiener Arbeiterkammer, abgedruckt in Arbeit und Wirtschaft 1964, 14 f. 11 Herzog, Das Verbandswesen im modernen Staat, in: Die Verbände und ihr Ordnungsanspruch (1965), 4 ff., insb. 13. 12 So schon Brünner , Verbände 50 f.

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verkörperte örtliche Gemeinschaft als Selbstverwaltung einrichtet oder wenn sie Kammern un·d gesetzliche Interessenverbände und damit Einrichtungen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung vorsieht. 13

2. Das Selbstverwaltungssystem gesetzlicher Interessenvertretungen In Österreich existieren- rechtlich geordnetl 4 - neben privatrechtlich organisierten Interessenverbänden 15 gesetzliche Interessenvertretungen, die als Selbstverwaltungskörper eingerichtet sind. 16 Das bedeutet, 17 daß sie vom Staat durch Hoheitsakt eingerichtet sind, daß man ihnen ex lege angehört, 18 daß ihre Organe aus der Mitte der Selbstverwaltungsangehörigen bestellt werden, 19 daß sie aus Mitteln der Selbstverwaltungsangehörigen finanziert werden, daß ihnen eine Kompetenz zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben zukommt und ihnen zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch teilweise Hoheitsgewalt übertragen ist und daß sie relativ unabhängig sind, weisungsfrei gegenüber dem Staat, aber an die staatliche Aufsicht gebunden. Es ist wichtig, sich der Unterschiede gegenüber der Interessenvertretung durch private Verbände bewußt zu sein: 20 13 Siehe Art. 115 ff. B-VG (betreffend die Gemeindeselbstverwaltung) und Art. 10 Abs. 1 Z 8 und 11 sowie Art. 141 Abs. 1 B-VG (betreffend die Kammern und gesetzlichen Interessenvertretungen). Zur verfassungsrechtlichen Grundlegung dieser Einrichtungen der Selbstverwaltung vgl. insb. Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung (1970), 34 ff. 14 Vgl. Winkler, Staat und Verbände, VVDStL H 24, 1966, 34 ff., 38 ff., 47. 15 Man muß nicht immer nur an den ÖGB oder die Vereinigung Österreichischer Industrieller denken; es gibt - insb. auf Unternehmerseite - eine große Zahl von kleineren Verbänden, deren Aufgabenbereich fachlich eng begrenzt ist: vgl. insb. die Beiträge von Wenger I Seidel, Freie Verbände in der gewerblichen Wirtschaft und Nußbaumer, Freie Verbände im Geld- und Kreditwesen, beide in: Pütz (Hrsg.), Verbände und Wirtschaftspolitik in Österreich (1966). 16 Vgl. FN 3. 17 Dazu insb. Korinek, Selbstverwaltung, 11 ff.; darauf aufbauend: Antoniolli 1 Koja, 351 ff. sowie auch Winkler, Die Rechtspersönlichkeit der Universitäten (1988), insb. 319 f. 18 Selbstverwaltung ohne Pflichtmitgliedschaft ist undenkbar; man kann auch aus einer Gemeinde nicht "austreten"; vgl. dazu näher unten Pkt. II I 4. 19 Das demokratische Prinzip der Selbstverwaltung hat eine besondere historische Bedeutung, auch für die demokratische Entwicklung unseres Staatswesens. Auf den Zusammenhang von Selbstverwaltung und Demokratie hat schon Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, hingewiesen. Vgl. zu dem hier angesprochenen Zusammenhang insb. auch Klecatsky, Interessenverbände und Parlament, in: Die Verbände und ihr Ordnungsanspruch (1965), 23 ff. 20 Vgl. insb. Salzwedel, Wirtschaftliche und soziale Selbstverwaltung in Österreich und der BRD, in: Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Selbstverwaltung, Schriftenreihe der BWK, H. 4 {1967), 8 ff., und Korinek, Kammern und Verbände in der Österreichischen Rechtsordnung, WipolBl 1970, 3 ff.

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Private Verbände sind eine freie Schöpfung der Bürger; Selbstverwaltungskörper (wie Gemeinden, Kammern oder Sozialversicherungsträger) sind eine Schöpfung des Staates. Sie sind organisatorisch und funktionell aus dem Staat im engeren Sinn ausgegliedert und daher organisatorisch selbständig und funktionell unabhängig, in ihrer rechtlichen Fundierung aber dennoch als rechtliche Geschöpfe des Staates zu sehen. 21 Private Verbände beruhen auf der Vereinsfreiheit; die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern hat mit der Vereinsfreiheit nichts zu tun (weshalb auch ihre Einrichtung die Vereinsfreiheit nicht verletzt; 22 ) sie beruht vielmehr auf der Organisationsgewalt des Staates. Die Bürger können ihre Interessen in voller Freiheit kollektivieren; der Staat hat nur öffentliche Interessen zu verfolgen; er kann daher Selbstverwaltung nur zur Wahrnehmung bestimmter öffentlicher Interessen einrichten und ist bei ihrer Ausgestaltung an das aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete Sachlichkeitsgebot gebunden. 23 Private Verbände haben nicht die Aufgabe, das Gemeinwohl zu verwirklichen, sie müssen es gemäß den Gesetzen bloß respektieren. Selbstverwaltungskörper sind demgegenüber stets dazu berufen, in ihrem Wirkungsbereich das ihnen anvertraute Teilstück des Gemeinwohls zu realisieren: 24 etwa die Selbstverwaltungsangehörigen betreffenden öffentlichen Aufgaben zu besorgen25 oder dem Staat spezifischen Sachverstand zur Verfügung zu stellen,26 an der Kreation von Staatsorganen mitzuwirken, indem sie Personen für staatliche Aufgaben namhaft machen, die sachverständig und in Kenntnis der spezifischen Interessen "ihrer" Gruppe tätig sein können,27 21 22 23 24

Winkler, Rechtspersönlichkeit, 313 ff., 316. Vgl. dazu näher unten Pkt. II I 4. Vgl. insb. VfSlg 1977 I 8215 sowie unten bei FN 50 bis 52. Vgl. etwa Schambeck, in: Verbände, 58 f. und Salzwedel, Wirtschaftliche und soziale Selbstverwaltung, 10. 25 Man denke etwa an die Gemeindeselbstverwaltung oder die Besorgung der Aufgaben der Außenhandelsförderung durch die Bundeswirtschaftskammer. 26 Von der "Mobilisierung des Sachverstandes" spricht zutreffend Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen (1956), 270. Konkret denke man etwa an die Gesetzesbegutachtung (dazu Korinek, Selbstverwaltung, 116 ff.) oder die sachverständige Mitwirkung von Kammervertretem in Beiräten der Verwaltung (dazu etwa Korinek, Beiräte in der Verwaltung in: Rill (Red.), FS-Antoniolli, 468 ff.). 16 Interesse und Moral

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oder die gemeinsamen Interessen der in ihnen zusammengefaßten Mitglieder gegenüber anderen Interessengruppen oder gegenüber dem Staat zu vertreten -wohlgemerkt: die gemeinsamen Interessen, die aufgrund eines Interessenausgleichs zwischen den Interessen aller Mitglieder zu finden sind, 28 nicht bloß die Interessen jener, die sich freiwillig zu einer bestimmten Vereinigung zusammengeschlossen haben.

3. Die Aufgaben der wirtschaftlichen Selbstverwaltung Die berufliche und wirtschaftliche Selbstverwaltung dient somit einerseits der Wahrnehmung bestimmter Staatsaufgaben und andererseits der umfassenden Interessenvertretung, dem Interessenausgleich unter Einbeziehung möglichst aller relevanten Einzelinteressen. Diese Doppelfunktion von dezentralisierter, mittelbarer Staatsverwaltung und Interessenvertretung ist - wie insbesondere Wilhelm Weber gezeigt hat 29 - den Kammern seit ihrer Schaffung eigen. In beidem erfüllen sie Aufgaben der Realisierung des Gemeinwohls in einer pluralistisch-interessenmäßig gegliederten Gesellschaft. Daß die dezentralisierte Besorgung von Verwaltungsagenden in Selbstverwaltung eine legitime öffentliche Aufgabe darstellt, versteht sich von selbst und ist nicht weiter umstritten. Aber auch die Funktion der umfassenden Repräsentation von Interessen ist eine legitime Aufgabe der Selbstverwaltung: 30 Trefflich hat diese öffentliche Aufgabe der Vertretung der gemeinsamen Interessen der Verwaltungsgerichtshof beschrieben, als er ausgeführt hat, 31 es sei "Aufgabe der gesetzlichen Interessenvertretungen, die möglicherweise widerstreitenden Interessen ihrer Mitglieder im internen Bereich aufeinander abzustimmen und nach außen hin in allen Angelegenheiten eine gemeinsame Stellungnahme zu beziehen". Die in den Selbstverwaltungskörpern erfolgte demokratische Willensbildung summiere nicht die Interessen der von der Institution vertretenen Personen, sondern integriere sie, 32 27 Man denke etwa an die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, an die Wirtschaftsverwaltung oder an die Krea tion von Organen in der Universitätsverwaltung durch die entsprechenden Organe der Österreichischen Hochschülerschaft. 28 Vgl. Korinek, Selbstverwaltung, 105 ff. (mwH). 29 Weber, Die großen Wirtschafts- und Sozialverbände, in: Mayer-Maly I Nowak I Tomandl (Hrsg.), FS-Schmitz (1967), Bd. II, 312 ff. Vgl. dazu auch Schwarz, Arbeitsrecht und Verfassung (1972), 14 ff. 30 Vgl. schon Weber, Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart (1967), 142 ff., insb. 158; weiters etwa Korinek, Selbstverwaltung, 21 ff., 195 ff . (mwH), Schwarz, 18 oder Fröhler I Obemdorfer, Körperschaften, 9 ff., insb. 14. 31 1963 I VwSlg 6059 I A.

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die gemeinsamen Interessen seien damit etwas von den Einzelinteressen grundsätzlich Verschiedenes. Gerade diese Funktion der Selbstverwaltung aber erfordert es, Vorkehrungen dafür zu treffen, daß nicht die Einzelinteressen einiger weniger, etwa besonders potenter Mitglieder, zu den gemeinsamen Interessen werden. Das schließt es auch aus, diese Funktion der Vertretung der im Interessenausgleich gefundenen gemeinsamen Interessen bloß freien Verbänden zu übertragen; denn diese können immer nur die Interessen der in ihnen jeweils zusammengefaßten Mitglieder vertreten. Ein funktionierender Interessenausgleich aber erfordert eine obligatorische Mitgliedschaft, da nur so eine "Richtigkeitsgewähr für die kammerinterne Willensbildung" 33 gegeben ist- daß also tatsächlich erreicht wird, daß die letztlich vertretenen Interessen auch wirklich die "gemeinsamen Interessen" sind, die zu vertreten gesetzliche Aufgabe der Kammern ist. In diesem Zusammenhang ist von einer Entscheidung des (deutschen) Bundesverfassungsgerichts zu berichten, deren Formulierung allgemein gültig ist34 und auch in unserer heutigen Österreichischen Diskussion Beachtung finden sollte: Das BVerfG führte zu Recht aus, daß auch die Interessenvertretung eine öffentliche Aufgabe darstelle, denn die "Vertretung gemeinsamer Interessen" sei mehr als "reine Interessenvertretung": "Die von der Beschwerdeführetin gezogene Parallele zu den freien Verbänden übersieht, daß diese primär die Interessen ihrer Wirtschaftszweige vertreten, so daß eine umfassende Würdigung entgegenstehender und allgemeiner Interessen von ihnen nicht ohne weiteres erwartet wird. Demgegenüber ist es den Industrie- und Handelskammern gesetzlich zur Pflicht gemacht, stets das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft im Auge zu behalten und die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe lediglich ,abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen', es ist ihnen die gesetzliche Verantwortung dafür auferlegt, daß sie im Rahmen ihrer Aufgabe, die gewerbliche Wirtschaft im ganzen zu fördern, das höchstmögliche Maß von Objektivität walten lassen. An der Erfüllung dieser Aufgabe besteht ein erhebliches öffentliches Interesse .. . Der Wert der von den Kammern erarbeiteten Vorschläge und Gutachten beruht einmal auf der Unabhängigkeit ihres Urteils, zum anderen auf dem Maß des Überblickes, das die Kammern im Bereich der zu beurteilenden Verhältnisse besitzen. Die Gutachten gewinnen ihre sachliche Autorität daraus, daß sie über die Spezialkenntnisse und beruflichen Erfahrungen der So auch Herzog, in: Verbände 14. So Reiger, Pflichtmitgliedschaft zu den Kammern aufheben? WipolBl 1983, 130 ff. , 132. 34 Die Entscheidung bezieht sich auf die (deutschen) Industrie- und Handelskammern, hat aber argumentativ darüber hinausgehende Bedeutung. 32

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einzelnen Branchen und Unternehmen hinaus die Auffassungen und Beurteilungsmaßstäbe der gesamten gewerblichen Wirtschaft zur Geltung bringen können. Den Kammern steht ein weiter Kreis sachverständiger Fachleute zur Verfügung, innerhalb dessen die verschiedenen Gesichtspunkte und Anschauungsweisen zur Wort kommen, aber auch in sich ausgeglichen werden können." 35 Nicht nur die Hilfstätigkeit für den Staat, die den Kammern mitunter übertragenen Verwaltungsaufgaben und die Mitwirkung an der staatlichen Verwaltung und der Sozialversicherung durch Organkreation oder in Form von Beiräten, sondern auch die zentrale Funktion der Interessenvertretung ist somit eine öffentliche Aufgabe. Und die Kammern sind dabei dazu berufen, mitzuwirken, in einer pluralistisch interessenmäßig gegliederten Gesellschaft Gemeinwohl zu verwirklichen. Gerade die Aufgabe der Interessenvertretung aber erfordert eine selbstverwaltungsmäßige Konstruktion auf allen Ebenen: auf der Ebene der Unternehmer ebenso wie der Arbeitnehmer, auf der Ebene der selbständigen Land- und Forstwirte ebenso wie auf der Ebene der Arbeitnehmer in diesem Bereich. 36 Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Einrichtungen der Selbstverwaltung wird besonders in der Geschichte des Arbeitkammerrechts deutlich: Schon knapp nach Gründung der ersten Handelskammer, die ja bekanntlich auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurückgeht, 37 wurden Forderungen nach Einrichtung analoger Institutionen für die Arbeitnehmer erhoben. 38 Es war eines der ersten Anliegen der jungen Republik, Arbeiterkammern zu schaffen. Und schon am 26. Februar 1920- also sogar vor der Beschlußfassung über die Bundesverfassung - beschloß die Konstituierende Nationalversammlung das erste Arbeiterkammergesetz. 39

35 BVerfGE 15 1 18 (vom 19.12.1962); wiedergegeben auch bei Reiger, WipolBl 1983, 132 f. 36 Vgl. dazu Korinek, WipolBl 1970, 3 ff. 37 Vgl. etwa Geissler, Die Entstehung und der Entwicklungsgang der Handelskammemin Österreich, in: Mayer (Hrsg.), 100 Jahre Österreichische Wirtschaftsentwicklung 1848 bis 1948 (1949), 21 ff. und Klose, Die Verwirklichung der Selbstverwaltung in der Österreichischen Handelskammergesetzgebung, Diss. (1955), insb. 45 ff. 38 Vgl. dazu die gesammelt herausgegebenen Stenographischen Protokolle der im Arbeiterkammerausschuß abgehaltenen Enquete betreffend die Errichtung von Arbeiterkammem, Wien 1889, sowie die Denkschrift von Palla, Die Interessenvertretung der Arbeiterschaft in Österreich, Wien 1921. Zur Geschichte der Arbeiterkammem vgl. Winkler, Werden und Wesen unserer Arbeiterkammem, Arbeit und Wirtschaft 1964, H. 5, 13 ff. sowie vor allem März I Weissel, Die Kammem für Arbeiter und Angestellte, in: Pütz (Hrsg.), Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 4 (1 967), 57 ff. 39 StGBl 1920 I 100.

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Schon die Regierungsvorlage zu diesem Gesetz machte die Bedeutung der Einrichtung von Arbeiterkammern im Gesamtkontext des erstrebenswerten Zusammenwirkens der gesetzlichen Interessenvertretungen von Unternehmern und Arbeitnehmern deutlich: 4 0 "Es handelt sich darum, für die in Gewerbe und Industrie, im Handel und Verkehr beschäftigten Arbeiter und Angestellten Kammern zu schaffen, die den entsprechenden Kammern der gewerblichen Wirtschaft nicht nur völlig gleichwertig, sondern auch in ihrem Wirkungskreise und in ihrer Organisation derart ähnlich gestaltet sind, so daß ein Zusammenwirken der beiderseitigen Körperschaften bei Lösung von wichtigen Problemen der wirtschaftlichen Verwaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist." Diesen Gedanken brachte 1920 auch Karl Renner in seiner Ansprache in der Konstituierenden Versammlung der Wiener Arbeiterkammer zum Ausdruck, deren Inhalt und staatspolitische Dimension nichts an Aktualität eingebüßt hat. Renner sagte damals: "Es ist der Grundgedanke jeder Interessenvertretung, erstens und allen voran die besonderen Interessen des Kreises, für den sie berufen ist, in voller Klarheit darzustellen und in zweiter Linie dabei auf gegensätzliche Interessen anderer Schichten soweit wie möglich Bedacht zu nehmen." Renner legte dar, wie wichtig es insbesondere für die Gesetzgebung ist, umfassend über die unterschiedlichen Interessen informiert zu sein und sagte: "Aus diesem Grunde muß das Kammersystem vollständig sein, das heißt: es muß alle Interessengruppen nebeneinander in eigenen Kammern erfassen. In gemeinsamen Kommissionen vermögen dann die Gegensätze ausgetragen und abgeschliffen zu werden." 41 Damit ist freilich auch aufgezeigt, wie wichtig ein umfassendes Kammersystem auch für eine funktionierende Sozialpartnerschaft ist. 4 2 Renner hat das lange vorausgesehen, wenn auch die konkrete Ausgestaltung der Sozialpartnerschaft erst nach den bedrückenden historischen Erlebnissen der Zwischenkriegszeit und der nationalsozialistischen Diktatur im Geiste des gemeinsamen Wiederaufbaus möglich wurde. 43 Um so mehr sollten wir uns März f Weissel, in: Pütz (Hrsg.), Verbände, 394. Wiedergegeben in Arbeit und Wirtschaft 1964, H . 5, 14. 42 Klose (Ein Weg zur Sozialpartnerschaft [1970], 27 f.) hat daher mit gutem Grund die Erlassung des AKG als entscheidende Weichenstellung auf dem Weg zur Sozialpartnerschaft bezeichnet. Zur Relevanz der organisatorischen Grundlagen für die Sozialpartnerschaft vgl. etwa Korinek, Idee und Entwicklung der Sozialpartnerschaft in Österreich, in: Ress (Hrsg.), Rechtsfragen der Sozialpartnerschaft (1987), 9 ff. , insb. 13 ff. oder Talos, Sozialpartnerschaft: Zur Entwicklung und Entwicklungsdynamik kooperativ-konzentrierter Politik in Österreich, in: Gerlieh et al (Hrsg.), Sozialpartnerschaft in der Krise (1985), 56. 43 Vgl. Korinek, Sozialpartnerschaft und Parlament, in: Schamheck (Hrsg.), Österreichischer Parlamentarismus - Werden und System (1986), 613 ff. , insb. 635 ff. 40

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heute dessen bewußt sein, daß zu den wesentlichen Voraussetzungen einer konsensorientierten Demokratie, eines partnerschaftliehen Zusammenwirkens und einer sachorientierten, die Interessen der verschiedenen in der Wirtschaft tätigen Gruppen miteinbeziehenden Politik die umfassende Repräsentation wirtschaftlicher und sozialer Interessen in Selbstverwaltungseinrichtungen wie den Arbeiterkammern, Handelskammern, Landwirtschaftskammern usw., zählt.

4. Die Pflichtmitgliedschaft und ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit Selbstverwaltung bedarf - das ist an sich eine Selbstverständlichkeit, man muß es aber angesichts der aktuellen politischen Diskussion betonen - der Pflichtmitgliedschaft; fehlt diese, kann man von Selbstverwaltung nicht sprechen. 44 Ist aber "Pflichtmitgliedschaft" zu einem Selbstverwaltungsträger, also auch außerhalb verpflichtender Staatsangehörigkeit zu Bund und Ländern 45 verfassungsrechtlich zulässig? Für die Gemeinden wird man dies aus der Verfassung unmittelbar ableiten können, da eine "Pflichtmitgliedschaft" der Gemeindebürger in einer Gemeinde vom B-VG zwingend vorausgesetzt ist. 46 Gilt gleiches so müssen wir uns jetzt noch fragen - auch für die nichtkommunale Selbstverwaltung, konkret: für die wirtschaftliche und berufliche Selbstverwaltung durch Kammern? Ohne in diesem Rahmen der Frage der verfassungsrechtlichen Grundlagen und Anforderungen der nichtkommunalen Selbstverwaltung im einzelnen nachgehen zu können, 47 ist doch für unseren Zusammenhang der wirtschaftlichen und beruflichen Selbstverwaltung auf folgendes hinzuweisen: Die Österreichische Bundesverfassung regelt die Einrichtung von Kammern als gesetzliche Interessenvertretungen nicht, sondern geht von ihrer Existenz aus. 48 Die wirtschaftliche und berufliche Selbstverwaltung ist so 44 Vgl. schon Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht (1927), 358 sowie weiters Korinek, Selbstverwaltung, 16 ff. (mwH) oder Antoniolli I Koja, 352. 45 Art. 6 B-VG. 46 Vgl. Art. 116 Abs. 1, 117 Abs. 2 und 118 Abs. 2 B-VG. 47 Vgl. dazu schon Korinek, Selbstverwaltung, 34 ff. und für den Bereich der Sozialversicherung ders., Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, ZAS 1972, 163 ff., 211 ff.; nunmehr insb. auch Oberndorfer, Die Pflichtmitgliedschaft als Wesensmerkmal gesetzlicher, beruflicher und wirtschaftlicher Interessenvertretungen, in: Strasser-FS (1993), 275 ff. und Pernthaler, Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich (1994).

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vom Verfassungsgesetzgeber vorausgesetzt worden, und zwar in der Ausprägung, in der er sie bei der Erlassung der entsprechenden Normen des B-VG vorfand. Der Verfassung schwebt so ein bestimmtes Bild der wirtschaftlichen und beruflichen Selbstverwaltung vor, wie sie zum Zeitpunkt des Entstehens der entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelungen bestanden hat. Zu diesem Bild zählt aber zweifellos auch die Pflichtmitgliedschaft: Sowohl die "Kammergesetze" der Monarchie 49 als auch jene der jungen Republik 50 normierten als geradezu selbstverständlich eine obligatorische Mitgliedschaft (verbunden mit entsprechenden Pflichten zur Beitragsleistung zur Finanzierung der Kammer) zu den jeweiligen Selbstverwaltungskörpern. Die Einrichtungen der beruflichen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung sind daher einschließlich des sie mitprägenden essentiellen Merkmales der Pflichtmitgliedschaft bundesverfassungsrechtlich vorausgesetzt und anerkannt und somit verfassungsrechtlich fundiert, also "unmittelbar von der Verfassung getragen". 51 Ungeachtet dieser Umstände wird in der (politischen) Diskussion immer wieder die Frage aufgeworfen, ob denn diese obligatorische Mitgliedschaft mit dem Grundrecht der Vereinsfreiheit, insb. der dieser immanenten sog. "negativen Koalitionsfreiheit", also dem Recht, einem Verein nicht angehören zu müssen, in Einklang zu bringen sei. Bei einer derartigen Argumentation wird freilich übersehen, daß die Schaffung von Seihstverwaltungseinrichtungen als auf der staatlichen Organisationsgewalt beruhend mit der Vereinsfreiheit gar nichts zu tun hat. So wie die Zusammenfassung der Bürger eines Bundeslandes oder einer Gemeinde oder die Zusammenfassung bestimmter Versicherter zu einem Sozialversicherungsträger eine Frage der Staatsorganisation ist und die Vereinsfreiheit nicht tangiert, so wird auch durch die Schaffung von Berufskammern oder anderen Einrichtungen der wirtschaftlichen und beruflichen Selbstverwaltung die Vereinsfreiheit nicht berührt. Mehrfach hat daher der Verfassungsgerichtshof die Einrichtung von Kammern und anderen beruflichen Selbstverwaltungskörperschaften als 48 So schon Werner, Selbstverwaltung und Bundesverfassung, ÖJZ 1950, 437 ff., sowie auch Winkler, VVDStL H. 24, 40. Schamheck (Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Klecatsky [Hrsg.], Die Republik Österreich [1968], 251) berichtet, daß das bei der Arbeit am Zustandekommen des B-VG auch die Ansicht Kelsens war. 49 Vgl. aus dem Bereich der wirtschaftlichen S elbstverwaltung etwa § 16 des Gesetzes über die Einrichtung von Handels- und Gewerbekammern, RGBl 1850 I 122 und § 107 GewO 1859 (RGBl 1859 I 227) sowie aus dem Bereich der Kammern der freien Berufe etwa § 22 der Advocatenordnung, RGBl 1868 I 96. 50 Vgl. § 8 Abs. 1 iVm § 22 Abs. 2 des Gesetzes über Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie, StGBl1920 I 98 und§ 8 Abs. 3 des Arbeiterkammergeset zes, StGBl 1920 I 100. 51 Winkler, Rechtspersönlichkeit, 301 und 314.

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verfassungsrechtlich zulässig qualifiziert 52 und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem die belgisehe Ärztekammer betreffenden Fall entschieden, 53 daß die obligatorische Mitgliedschaft bei Berufskammern an sich konventionsgemäß ist. Bei ähnlicher Verfassungslage wie in Österreich hat auch das deutsche Bundesverfassungsgericht zu den Industrie- und Handelskammem erkannt, daß die Einrichtung der Pflichtmitgliedschaft mit den Grundrechten der Vereinigungsfreiheit, der Freiheit der Berufswahl und der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit nicht in Widerspruch steht. 54 In einem grundlegenden Erkenntnis aus 1977 (zur "Salzburger Jägerschaft")55 hat der Verfassungsgerichtshof die bis dahin kontroverse Frage entschieden und erkannt, daß der einfache Gesetzgeber durch die Bundesverfassung ermächtigt ist, Selbstverwaltungskörper einzurichten (und dementsprechend auch eine obligatorische Mitgliedschaft zu diesen Einrichtungen vorzusehen). Er ist aber dabei nicht von jeder verfassungsrechtlichen Bindung frei. Der VfHG hat nämlich im zitierten Erkenntnis bestimmte verfassungsrechtliche Schranken betont, die dem Gesetzgeber für die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpem vorgegeben sind, 56 und zwar durch das sich aus Art. 7 B-VG ergebende Sachlichkeitsgebot, das Gebot der Einrichtung einer staatlichen Aufsicht zur Überwachung der Rechtmäßigkeitder Verwaltungsführung der Selbstverwaltungskörper sowie durch das Gebot, daß einem Selbstverwaltungskörper zur eigenverantwortlichen und weisungsfreien Besorgung nur solche Angelegenheiten überlassen werden dürfen, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der zur Selbstverwaltungskörperschaft zusammengefaßten Personen gelegen und geeignet sind, durch diese Gemeinschaft besorgt zu werden. 57 Bleibt die Schaffung eines Selbstverwaltungskörpers und die Begründung von Pflichtmitgliedschaft zu diesem und dem damit abgesteckten 52 Vgl. etwa VfSlg 1953 I 2500, 1956 I 3120, 1977 1 8215 oder mit Bezug auf Art. 11 MRK - VfGH vom 13.12.1986, B 42 I 85. Auf Grundlage dieser Judikatur wurden mehrfach auch Beschwerden, die die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft zu Selbstverwaltungskörpern in Frage stellten, mangels Aussicht auf Erfolg gern. Art. 144 Abs. 2 B-VG abgelehnt: So etwa in zwei Beschlüssen vom 26. 2. 1988, B 460187, B 1396187. 53 Urteil vom 23. 6. 1981, Fall Le Campte u. a ., EuGRZ 1981, 551 ff. 54 Vgl. FN 35. Vgl. dazu auch die umfassende und ausgewogene Ableitung dieses Ergebnisses bei Fröhler I Oberndorfer, Körperschaften, 16 ff. 55 1977 I VfSlg 8215 (= ÖZW 1978, 123 ff., mit Besprechung durch Pernthaler). Vgl. dazu einerseits die Kritik von Mayer, Entwicklungstendenzen in der Rechtsprechung der VfGH, ÖJZ 1980, 337 ff., 340 ff., andererseits die zustimmende Position von Öhlinger, Entscheidungsbesprechung VwGH 1986 I DRdA 1986, 205 ff. , 208 f. 56 Vgl. Pernthaler, ÖZW 1978, 126 und Öhlinger, DRdA 1986, 208. 57 Das Prinzip der Gruppenbezogenheit kommt auch in anderen Entscheidungen, etwa VfSlg 1971 I 6495, 1979 I 8485 oder 1979 I 8539 zum Ausdruck.

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verfassungsrechtlichen Rahmen, so bestehen dagegen nach der ständigen Rechtsprechung der Österreichischen und internationalen Gerichte, die in Einklang mit der herrschenden Lehre steht, keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

5. Alternativen zur Selbstverwaltungskonstruktion Es gibt- verfassungspolitisch gesehen- freilich auch Alternativen zur Selbstverwaltungskonstruktion. Die spezifisch öffentlichen Aufgaben, die von der Rechtsordnung den Kammern zur Besorgung zugewiesen werden, können auch durch andere Organe besorgt werden. Entsprechende Verfassungsänderungen vorausgesetzt, 58 könnte man auch den Weg zur Beseitigung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung gehen: Die derzeit von den Selbstverwaltungskörpern dezentralisiert "für den Staat" besorgten öffentlichen Aufgaben (wie z. B. die Außenhandelsorganisation der Bundeswirtschaftskammer, das Disziplinarwesen bei den Kammern der freien Berufe, die Mitwirkung an der Bestellung von Staatsorganen [etwa in der Wirtschaftsverwaltung, der Sozialverwaltung, der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit oder der Universitätsorganisation], das Einbringen differenzierten Sachverstandes zur Besorgung von Staatsaufgaben u. v. a.) müßten von anderen Organen wahrgenommen werden. Da teils aus verfassungsrechtlichen Gründen, 59 teils aus faktischen Zwängen 60 eine Übertragung dieser Aufgaben an vereinsmäßig organisierte oder anderswie konstruierte Verbände mit freiwilliger 58 Die Verfassungsbestimmung des § 1 HKG wurde inzwischen auf eine bloße Kompetenzregelung reduziert, die für sich einer einfachgesetzlichen Beseitigung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung wohl nicht im Wege stehen würde (vgl. Art. IV der 8. HKG-Nov., BGBl 1991 I 620). 59 Es würde wohl kaum mit dem Sachlichkeitsgebot vereinbar sein, das Disziplinarwesen bei den Kammern der freien Berufe, die Bestellung von Verfahrenshelfern durch die Rechtsanwaltskammern, die Abwicklung von Aufgaben der Förderungsverwaltung oder die Mitwirkung an der Bestellung von Staatsorganen freien Verbänden zu übertragen, denen nicht alle Berufszugehörigen angehören; das auch kritisch zu Funk, Die Zwangsmitgliedschaft- ein "Wesensmerkmal" der beruflichen Selbstverwaltung?, in: Schwarz-FS (1991), 227 ff. 58 Insb. ist dabei an die Verfassungsbestimmung des § 1 HKG und die Verfassungsbestimmungen in § 5 AKG zu denken. 59 Es würde wohl kaum mit dem Sachlichkeitsgebot vereinbar sein, das Disziplinarwesen bei den Kammern der freien Berufe, die Bestellung von Verfahrenshelfern durch die Rechtsanwaltskammern, die Abwicklung von Aufgaben der Förderungsverwaltung oder die Mitwirkung an der Bestellung von Staatsorganen freien Verbänden zu übertragen, denen nicht alle Berufszugehörigen angehören. 60 Man denke etwa an die Aufgabe der Führung und Finanzierung der Außenhandelsorganisation der Bundeswirtschaftskammer.

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Mitgliedschaft 61 weitgehend 62 ausscheidet, bliebe als einzig mögliche Konsequenz die Übernahme dieser Funktion durch den Staat selbst. Die Artikulation von Interessen wäre bei Beseitigung der gesetzlichen Interessenverbände mit obligatorischer Mitgliedschaft freien Verbänden zugeordnet. Dabei muß man sich der Tatsache bewußt sein, daß in einem solchen System jene stärker sein würden, die mehr wirtschaftliche Potenz aufbringen und die durch Einsatz von finanziellen Mitteln und letztlich sogar durch Sezessionsandrohung das Verhalten der Verbände stärker zu beeinflussen und zu steuern vermögen würden als finanziell schwächere Mitglieder. 63 In einem solchen System würde naturgemäß die Integration der unterschiedlichen Interessen nicht in der interessenmäßig gegliederten Selbstverwaltung und durch das Zusammenwirken von Selbstverwaltungskörpern, sondern durch den Staat erfolgen. Das System bloß freier Interessenverbände entspricht daher dem Modell eines starken Staates und damit dem Rousseauschen Bild eines individualistisch-etatistischen Gemeinwesens. Es ist ein Modell eines Staates, das dem Prinzip der Konzentration beim Staat und nicht dem Prinzip der Subsidiarität entspricht. 64 Subsidiarität aber und nicht Zentralisation dient der Freiheit: "libertas und nicht dominatio liegt immer dann vor, wenn das Subsidiaritätsprinzip verwirklicht ist", hat Theo Mayer-Maly einmal sehr schön und zutreffend formuliert. 65 61 Ganz abgesehen davon, daß die Kompetenzgrundlage für die Einrichtung von in der politischen Diskussion unglücklich so genannten "Kammern mit freiwilliger Mitgliedschaft" und die Übertragung öffentlicher Aufgaben an diese durchaus fragwürdig wäre. 62 Dieser Befund trifft natürlich nicht auf sämtliche von Selbstverwaltungskörpern besorgten öffentlichen Aufgaben zu; eine sachverständige Beratung könnte auch durch freie Verbände erfolgen und auch eine Entsendung oder Namhaftmachung von Mitgliedern sachverständiger Beiräte könnte durch freie Verbände mit einem gewissen Repräsentationsgrad geleistet werden. 63 Vgl. etwa Reiger, Begutachtungsrecht der Kammern, WipolBl1967, 209. In der schon erwähnten Entscheidung des deutschen BVerfG (vgl. FN 35) heißt es dazu: "Wäre der Beitritt zur Industrie- und Handelskammer freiwillig, so hinge die Zusammensetzung der Mitgliedschaft vom Zufall ab. Die Kammern wären auf die Werbung von Mitgliedern angewiesen. Finanzstarke Mitglieder würden sich in den Vordergrund schieben und mit Austrittsdrohungen die Berücksichtigung ihrer Sonderinteressen und Sonderauffassungen zu erzwingen versuchen. Durch Fernbleiben oder Austritt ganzer Gruppen von Handel- und Gewerbetreibenden könnte den Kammern der Einblick in ihre Verhältnisse erschwert oder entzogen werden. In gleichem Maß wären die Vertrauenswürdigkeit solcher Kammern, ihre umfassende Sachkunde und Objektivität nicht mehr institutionell gesichert." 64 Vgl. statt vieler Messner, Soziale Frage, 368 ff.; Schambeck, Art. "Staat in der katholischen Gesellschaftslehre" und Zsifkovits, Art. "Subsidiaritätsprinzip" , in: Katholisches Soziallexikon2 (1980), Sp. 2894 ff. und 2994 ff . 65 Mayer-Maly, Zur Rechtsgeschichte der Freiheitsidee in der Antike und im Mittelalter , ÖZöffR, Bd. VI, 1955, 399 ff., 410.

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Auch das Modell eines starken Staates entspricht einem legitimen Bild der Demokratie; es entspricht aber nicht jenem Bild einer pluralistischen Demokratie, das unserer Verfassung zugrunde liegt. 66 Denn wenn unsere Verfassung von Kammern und gesetzlichen Interessenverbänden spricht, dann hat sie diese in ihrer selbstverwaltungsmäßigen Ausprägung vor Augen. 67 Die Diskussion und die Entscheidung der Frage nach der sogenannten Pflichtn:_itgliedschaft betrifft somit in Wahrheit eine sehr grundsätzliche Strukturfrage unseres staatlichen Systems insgesamt. Deshalb ist es auch nicht sachgerecht, die Entscheidung darüber den Angehörigen der jeweiligen Selbstverwaltungskörper zu übertragen. 68 Denn es geht dabei nicht bloß um diese, sondern um allgemeine Strukturfragen unserer Staatsorganisation. Und es geht - will man die Wirksamkeit der Funktion der Kammern sichern - darum, eine "symmetrische Lösung" zu erreichen, die dem Postulat Karl Renners "Das Kammersystem muß vollständig sein" entspricht. 69

6. Die Selbstverwaltung und Gewaltentrennung Es ist ein Gemeinplatz festzustellen, daß es auch in einem demokratischrechtsstaatliehen Gemeinwesen Staatsmacht gibt. Staatsmacht aber muß im Interesse der Freiheit der Bürger in Grenzen gehalten werden. 70 Das Modell, das unsere demokratisch-freiheitlichen Verfassungen kennen, um diesem Anliegen zu entsprechen, ist von Montesquieu für unser heutiges Verfassungsverständnis nutzbar gemacht worden: es ist das Modell der Gewaltenteilung. 71 Nur wenn staatliche Macht auf verschiedene Organe aufgeteilt wird, wenn diese in ihrer Kompetenz- und damit Machtausübung begrenzt sind und sich gegenseitig kontrollieren, ist die Freiheit des Menschen vor dem übermächtigen Staat geschützt: le pouvoir arrete le pouvoir, hat Montesquieu treffend formuliert.

Vgl. dazu oben Pkt. II I 1 dieses Beitrages. Vgl. Korinek, Selbstverwaltung, 34 ff. (mwH). 68 IdS auch Krejci, in: Die Presse- Rechtspanorama vom 30.1.1991. 69 Vgl. oben bei FN 41. 70 "Nicht im Pluralismus liegt die Hauptgefahr für den heutigen Staat, sondern ... in der Ansammlung der Macht" hat Peters (Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung [1969], 193) treffend formuliert. 71 Grundlegend Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung (1959) sowie aus dem Österreichischen Schrifttum insb. Winkler, Das Österreichische Konzept der Gewaltenteilung in Recht und Wirklichkeit, Der Staat 1967, 293 ff. sowie Welan, Die Gewaltenteilung, in: Schamheck (Hrsg.), Das Österreichische BVG und seine Entwicklung (1980), 481 ff. (mwH). 66 67

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In der politischen Realität Österreichs funktionieren mehrere Mechanismen in dieser Weise gewaltenhemmend: es sind dies insbesondere die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit von den politischen Organen der Gesetzgebung und Verwaltung - im besonderen auch: die Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit, die bundesstaatliche Organisation mit der Aufteilung der Staatsgewalt auf Bund und Länder, das Spannungsverhältnis von Regierung und Opposition und nicht zuletzt auch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern. 72 Man muß also sehen, daß Selbstverwaltung auch gewaltenhemmend und damit staatsmachtbegrenzend 73 und auf diese Weise freiheitssichernd wirkt. 74 Auch unter diesem Aspekt wird deutlich, daß Beseitigung von Selbstverwaltung Staatsstärkung bedeutet. Und in der Tat wird ja der Angriff gegen die Konstruktion der beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Selbstverwaltung vor allem von jener Gruppe in unserer Gesellschaft getragen, die ideologisch stärker einem individualistischen Konzept mit einem den Individuen gegenüberstehenden starken Staat mit Machtmonopol und Konzentration der politischen Führung anhängt, einem Modell somit, das stärker an den Theorien Rousseaus als an denen Montesquieus ausgerichtet ist. Zutreffend hat daher Christian Starck in einer "falsch verstandenen monistischen Demokratiekonzeption" eine "Gefahr für die freiheitssichernde Funktion der Gewaltenteilung" gesehen. 75 ßl. Schlußbemerkungen

Die bisherigen Darlegungen wollten die Struktur, die geistesgeschichtlichen Wurzeln und die staatsrechtliche Dimension zeigen und - einem Professor sei dieses wertende Bekenntnis gestattet - das System an sich rechtfertigen. Und es sollte darauf hingewiesen werden, daß die Alternative zur wirtschaftlichen und beruflichen Selbstverwaltung nicht mehr Freiheit, sondern mehr Staat ist. 76 Im System der wirtschaftlichen und beruflichen 72 Schon Montesquieu hatte die große Bedeutung der "pouvoirs intennediares" für eine Verfassung der Freiheit erkannt. 73 Darauf hat insb. Schambeck, Ist der moderne Staat ein Ständestaat? in: Verbände, 64 ff., nachdriicklich hingewiesen. 74 Das zeigt auch der historische Zusammenhang, geht doch die Schaffung der ersten Kammern in Österreich auf die revolutionären Kämpfe um eine Konstitution und um Freiheitsverbürgungen des Jahres 1848 zurück. Vgl. zu diesem Zusammenhang etwa Weber, in: FS Schmitz, Bd. II, 317 ff. Für die Rechtsanwaltskammern hat jüngst Walter Prunbauer (Pflichtmitgliedschaft, Anw. 1991, 7 f.) auf diesen Konnex hingewiesen. 75 Starck, Art. "Gewaltenteilung" in: Staatslexikon, Bd. 2, Sp. 1023 ff., 1026. 76 Vgl. in diesem Sinne auch die eindriicklichen Formulierungen von Schwarz (Arbeitsrecht und Verfassung, insb. 18), in denen die Sachgerechtigkeit des Österreichischen Systems dargetan wird.

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Selbstverwaltung ist jedoch manches korrekturbedürftig und vieles verbesserungsfähig. Damit ist nicht nur auf die Notwendigkeit Bezug genommen, Fehlleistungen abzustellen und entsprechende Konsequenzen aus dem Hervorkommen von Unzukömmlichkeiten zu ziehen. Es geht vor allem auch um eine Verbesserung in der Ausgestaltung der Kammer-Selbstverwaltung, eine Ausgestaltung des Aufsichtsrechts und einen Ausbau der Rechnungshofkontrolle. 77 Aber bleiben wir beim Grundsätzlichen: Die verfassungs- und rechtspolitische Gestaltungsaufgabe, die uns heute gestellt ist, steht vor einer grundlegenden Alternative: die Selbstverwaltung in ihrer strukturellen Eigenart zu belassen und ihre Ausgestaltung zu verbessern oder aber den Schritt zur Auflösung der Selbstverwaltung zu gehen, Interessenvertretung privaten Verbänden zu überlassen und die öffentlichen Aufgaben, die von der Selbstverwaltung bisher besorgt werden, an den Staat zu übertragen. Es stellt sich somit die Grundfrage, ob man - evolutionär- am Prinzip, der Struktur und der Stellung der Selbstverwaltung im Rahmen unserer Verfassung festhält und die Institution in sich zu verbessern sucht oder ob man den Schritt zur Auflösung von Selbstverwaltungseinrichtungen gehen will, einen Schritt freilich, der gleichzeitig ein Schritt zum stärkeren Staat, ein Schritt näher zur Ideologie Rousseaus ist. Anscheinend - so hat es Karl Loewenstein einmal formuliert 78 - muß jede Generation den Kampf zwischen Rousseau und Montesquieu neu austragen: Die Konsequenz - so können wir resümierend festhalten einer Auflösung der beruflichen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung wäre nämlich letztlich eine Abkehr von den Gedanken der Subsidiarität und der Gewaltenteilung und dementsprechend nicht mehr Freiheit, sondern mehr Macht des Staates. Dieser - letztlich radikal-demokratischen -Konsequenz müssen sich alle jene bewußt sein, die sich ans Werk der Reform machen, denn sie tragen die Verantwortung für Entscheidungen von hoher staatspolitischer Dimension.

77 Die konkreten Vorschläge des Autors siehe in dem in FN 1 zitierten Erstabdruck, 112 ff. 78 Loewenstein, Verfassungslehre2 (1969), 472.

INTERESSE UND MORAL AUS NEUER RUSSISCHER SICHT Von Valentin N. Pessenko

I. Das Verständnis des Interesses in der Sowjetära Bei der Analyse dieses Themas muß vor allem berücksichtigt werden, daß in der langen Sowjetperiode allgemein menschliche (gesamtmenschliche) Werte im Grunde verneint wurden. "Wir glauben an die ewige Sittlichkeit nicht", betonte Lenin auf dem 3. Kongreß des Kommunistischen Jugendverbands (1920). Ich darf seine Worte in der Übersetzung, die aus der Ex-DDR stammt, weiter zitieren. "Jede solche Sittlichkeit, die aus einem übernatürlichen, klassenlosen Begriff abgeleitet wird, lehnen wir ab. Wir sagen, daß es ein Betrug ist, daß es ein Schwindel ist, eine Verkleisterung der Hirne der Arbeiter und Bauern im Interesse (von mir hervorgehoben- V. P.) der Gutsbesitzer und Kapitalisten." So betrachtete Lenin einen Zusammenhang von Interesse und Moral. Er anerkannte in seiner Rede, wenn auch auf spezifische Art und Weise, daß es die Kirche war, die gesamtmenschliche sittliche Werte aufbewahrte. "Die ewige Moral wurde von Priestern ausgedacht", sagte Lenin. Und diese Auffassungen waren in der Sowjetzeit nicht einmal zu besprechen. Auf dem XXII. Parteitag der KPdSU (1961), der eine künftige- in den 80er Jahren - klassenlose Gesellschaft proklamierte, wurde ein Versuch unternommen, einen sogenannten Moralkodex des Baumeisters des Kommunismus einzuführen, der ins neue Programm und Statut der Kommunistischen Partei sowie andere Dokumente aufgenommen wurde. Einige Jahre später wurde dieser Moralkodex aus dem Programm und Statut der KPdSU u . ä . ausgeschlossen und überhaupt stillschweigend aufgegeben. Eine esoterische Erklärung der hohen Parteiideologiefunktionäre war: "Das Volk hat den Moralkodex nicht angenommen." In der Tat gab es folgende Gründe dafür. Es war ein Versuch, in der Gesellschaft, wo angeblich ein neues gesellschaftliches Gemeinschaftsverhältnis sich bildete, das auf der Gemeinsamkeit der Interessen und Ziele aller Menschen des (sogenannten) sozialistischen Staates gegründet wäre, einen Moralkodex auf der Basis gesamtmenschlicher sittlicher Werte einzuführen. In Wirklichkeit aber gab es weder solch eine Gesellschaft noch gesamtmenschliche Werte im Moralkodex der Kommunisten. Es wären

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kommunistische Ideologiegrundsätze; die Prinzipien des Klassenkampfes würden auf die internationale Ebene übertragen. Es gäbe keine antagonistischen Klassen in der Sowjetgesellschaft, nur einzelne Menschen wären Träger der bürgerlichen (kapitalistischen) Ideologie und Moral, so lautete die offizielle sowjetische Propaganda jener Zeit. Die Kirche wurde für die letzte Insel der bürgerlichen Ideologie und Moral auf sowjetischem Boden gehalten. Es ginge um einen ideologischen Kampf mit dem zeitgenössischen Kapitalismus und dessen Anhänger im sozialistischen Lager (z. B. Dissidenten) und in der Dritten Welt (Helfershelfer des Imperialismus). Hier könnte es keine Kompromisse geben, im Bereich der Ideologie gäbe es keine Koexistenz. All das entsprach der sowjetischen Auffassung der friedlichen Koexistenz als einer der Klassenkampfformen, als einer contradictio in adiecto. Was die Interessen betraf, sollte das persönliche Interesse, d. h. das Interesse eines Menschen, den sogenannten gesellschaftlichen, gemeinsamen Interessen, d. h. in der Tat den Interessen des Regimes, einer jeweiligen Nomenklatura, untergeordnet werden. Heute wird diese These schon nicht mehr gebraucht.

II. Zur Situation von beute Ehe ich über Interesse und Moral aus neuer russischer Sicht spreche, möchte ich an folgende Worte von Johannes Messner erinnern: "Die Sozialreform besteht in der Erneuerung des Geistes und der Einrichtungen der Gesellschaft mit dem Ziel der Herbeiführung einer vollkommenen Erreichung des Sozialzwecks des Gemeinwohls." Nach Quadragesima anno (Nr. 77) sind dazu hauptsächlich 2 Dinge notwendig: Reform der Institutionen und Reform der Sitten. In Rußland sowie anderen GUS-Staaten (ich spreche aber über Rußland) hat eine Sozialreform schon begonnen. Die Hauptsache aber ist, wie sie vor sich gehen würde. Unsere Gesellschaft bedarf eines humanistischen Gedankenguts sowie auch neuerer sozialer Beziehungen, Strukturen, Institutionen. Heute werden gesamtmenschliche sittliche Werte bei uns anerkannt, aber abstrakt, d. h. nur die Existenz der sittlichen Werte selbst wird nicht mehr geleugnet. Einerseits aber kennt man die gesamtmenschlichen Sittlichkeitsprinzipien nicht genau, man versteht ihre Bedeutung für die Sozialreform noch nicht gut. Andererseits fehlt es uns an den sozialen Bedingungen der Verwirklichung der Moralprinzipien. Wir haben noch keinen richtigen Markt, eher einen orientalischen Basar (Flohmarkt), geschweige denn eine soziale Marktwirtschaft, keinen demokratischen Staat, keine Zivilgesellschaft, kurz, keine sozialen Mechanismen des Interessenausgleichs.

Interesse und Moral aus neuer russischer Sicht

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In letzter Zeit ist bei uns folgende Meinung vertreten, obwohl nicht verbreitet. Da wir noch keine entwickelte Demokratie haben, könnte die Sozialrefonn nicht bloß durch politische und ökonomische Mittel gestaltet werden. III. Die fehlende Gesinnungsreform Die Sozialrefonn beginne erst dann, wenn die moralischen Prinzipien den ersten Platz unter allen anderen einnehmen würden. Nur vom Standpunkt der Moral, des religiösen Selbstbewußtseins aus müssen alle Reformprogramme beurteilt werden. 1 Ich glaube, so soll es unter allen Verhältnissen geschehen. Eine sittliche Beurteilung soll auch unter der entwickelten Demokratie der Verwirklichung von sozialen Programmen vorangehen. Nun muß es um einen Prozeß des sittlichen Wiedererstehens in Rußland gehen. M. E. kann auch die katholische Soziallehre eine wichtige Rolle dabei spielen. Es handelt sich dabei durchaus nicht um irgendeine missionarische Tätigkeit der katholischen Kirche, sondern um einen für die Entwicklung der gesamtmenschlichen sittlichen Werte notwendigen Gedankenaustausch. Auch russische Wissenschaftler können an solch einem Gedanken- und Infonnationsaustausch teilnehmen, zumal eine genaue und rechtzeitige Information über Rußland auch im Westen meiner Meinung nach gebraucht wird. Natürlich sind dabei auch die Folgen einer jahrzehntelangen vulgäratheistischen Erziehung in unserem Lande zu berücksichtigen. Wie aber meine eigene neueste Unterrichtserfahrung zeigt, nehmen die Studenten die Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerne an, das hilft ihnen bei der Analyse der heutigen Verhältnisse in Rußland und besonders einer weiteren Entwicklung der sozialen Prozesse. IV. Der Übergang zur Marktwirtschaft Um alle erwähnten Überlegungen weiter zu aktualisieren, möchte ich manche Charakterzüge der russischen Gegenwart im Rahmen meines Themas skizzieren. Das Hauptproblem besteht darin, daß Rußland zum ersten Mal in seiner sowjetischen und postsowjetischen Geschichte vor der Zukunftswahl steht. Wir haben eine Übergangsperiode vom Sowjetregime zu einer bürgerlichen (im doppelten Sinne) Gesellschaft. Das wird leider nicht immer offen gesagt und geschrieben. Viele, unter ihnen vor allem unser 1 Vgl. Ewgeni Panow. Semski Sobor delajet wybor. (Die Standesvertretung trifft die Wahl), Rossijskaja gaseta (Russische Zeitung), 6. 2.1993, S. 9.

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Präsident B. Jelzin, meinen, es ginge nicht um "Ismen". Auf solche Weise fehlt es uns aber an klaren Vorstellungen über die Tendenzen der Gesellschaftsentwicklung. In der Tat liegt der soziale Hauptunterschied zwischen Interessen verschiedener russischer Schichten darin, daß es Anhänger des alten Regimes und einer aufkommenden kapitalistischen Gesellschaft, natürlich mit mannigfaltigen Schattierungen, gibt. Das liegt letzten Endes auch dem Widerspruch zwischen der Legislative und Exekutive auf der höchsten Ebene zugrunde. Hier muß die Frage beantwortet werden, warum die Massen in Rußland Angst vor dem künftigen Kapitalismus haben. Vor allem, weil sie einen "wilden" Kapitalismus erwarten, der ihre existentiellen Zwecke bedroht. Sie hätten gerne sofort eine postindustrielle Gesellschaft, verstehen aber, daß es unmöglich ist. In der katholischen Soziallehre wird betont, daß in der Dritten Welt "die Regeln des Kapitalismus der Gründerzeit" wie in der "ersten Industrialisierungsphase" herrschen. Mit Berücksichtigung unserer Besonderheiten kann man sagen, daß diese Regeln auch bei uns zu herrschen beginnen. So wird über eine Vermögensschichtung in Rußland viel geschrieben und gesprochen. Es gibt verschiedene Informationen darüber, die praktisch nicht zu überprüfen sind. So meint man z. B., 55% aller Familien lägen unter dem Existenzminimum. Ich glaube, daß der Durchschnittsreallohn um etwa das 2,5fache im Laufe des vorigen Jahres reduziert wurde. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Moment relativ nicht groß, es wird aber prognostiziert, daß ca. 20% aller Betriebe unter der strikten Bedingung der Marktwirtschaft bankrott machen würden. Man muß dabei offen sagen, daß viele Leute bei uns auf eine Marktwirtschaft durch ihr früheres Leben nicht vorbereitet sind. Im Rahmen des sogenannten Kollektivismus waren kein hohes Bildungsniveau, keine guten Fachkenntnisse erforderlich. Ein beliebiges Diplom, auch mit mittelmäßigen Leistungen, insbesondere Hochschuldiplom, genügte an sich. Die wirklich gebildeten, qualifizierten Leute wurden nicht gefördert, im Gegenteil, sie wurden oft vernachlässigt, damit sie sich von Durchschnittsmenschen nicht zusehr unterschieden. Eine Initiative wurde nicht gefördert, sondern oft bestraft, die Leute waren von Staat und Partei in allen Lebensbereichen bevormundet. Jetzt sehen die Leute eine positive Seite darin: der Lebensstandard war nicht hoch, aber vom Staate garantiert. All das förderte eine Lumpenmoral, die immer eine Klassenmoral ernährte, und sie beeinflußten einander. Heute sind die Leute, deren Bildungs- und Berufsniveau, Lern-und Anpassungsfähigkeiten niedrig sind, resigniert, sie versprechen sich keinen guten Platz in der künftigen Gesellschaft. Sie haben keine festen moralischen Orientierungen.

Interesse und Moral aus neuer russischer Sicht

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V. Entstehung einerneuen Unternehmerschicht in einer sozialen Marktwirtschaft Diese Lage ist also dadurch beeinflußt, daß die neue russische Unternehmerschicht heterogen ist. Sie stoßt teilweise sogar auf Haß und Abneigung in der Gesellschaft. Häuser der neuen Farmer werden z. B. von neidischen Nachbarn nicht selten in Brand gesetzt. Die meisten Menschen aber sind zu müde und passiv, um unternehmerisch tätig zu werden. Hier gibt es auch verschiedene Informationen, manche Forscher meinen, daß 90% der heutigen Unternehmer der früheren Nomenklatura angehörten. 2 Ich glaube aber, daß es die entwurzelte Klassenmoral, die jahrzehntelang herrschte, war, welche eine heutige getarnte falsche Antithese hervorrief: "Entweder die sozialistische Gleichmacherei oder eine sozial-darwinistische Variante." In dieser Situation wäre die Idee sozialen Ausgleiches im Zeichen der Solidarität sehr wichtig. Es werden aber solche Unternehmer gebraucht, die zur Verwirklichung dieser sowie anderer sittlicher Ideen geeignet sind. Dazu gehört eine- vorläufig zu geringe!- Unternehmerschicht, die auf einen geregelten, zivilisierten Markt orientiert ist. Das sind vor allem aktive und flexible Leute, die ihre Möglichkeiten unter dem alten Regime nicht realisieren konnten. Es ist bemerkenswert, daß sie sich in der Regel mit der caritativen Tätigkeit beschäftigen. Sie wollen die alte moralische Tradition der russischen Kaufleute vor der Revolution ins Leben zurückrufen, da die Erfüllung moralischer Prinzipien im Interesse der Unternehmer war. Es ist m. E. nur in einem entwickelten System sozialer Beziehungen möglich. Es wurde vor kurzem vorgeschlagen, einen Verein ehrlicher Unternehmer zu gründen. (Hier entsteht aber die Frage: wie sollen dann andere Vereine heißen?) Der erwähnten Unternehmergruppe schließen sich auch Werktätige, Fachleute an, die Mängel des alten Systems erlebt haben und bestrebt sind, effektiv zu arbeiten. Sie werden von gleichgesinnten Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und anderen Intellektuellen unterstützt, die eine entsprechende geistige Atmosphäre in der Gesellschaft schaffen. All diese Leute sind m. E. bereit, den Prinzipien der Solidarität, Subsidiarität, des Gemeinwohls in ihrer Tätigkeit zu folgen. Sie könnte auch sozial Inaktive auf ihre Seite ziehen, die von vielen Reformen schon enttäuscht sind und sich davon überzeugen wollen, daß die neuen Reformen ihren existentiellen Zwecken wirklich entsprechen. Sie würden sich über jede, wenn auch geringe Besserung freuen. Auf diese Weise würden eine neue Moral, eine neue Mentalität gefördert. Hier muß auch betont werden, 2 Vgl. Andrej Bunic. Nomenklatura i technokraty. (Nomenklatura und Technokraten), Literaturnaja gaseta (Literaturzeitung) 3. 2.1993, S. 15.

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daß die neuen Reformer (man könnte sie so bezeichnen), die meistens westlich orientiert sind, wirklich eine Hilfe vom Westen brauchen, die ich jedoch anders als üblich definieren würde. Ich möchte die Notwendigkeit einer Direkthilfe gar nicht leugnen. In viel größerem Maße aber bedarf Rußland der Aufnahme und weiteren Entwicklung eines Systems von wirtschaftlichen, politischen, religiösen, wissenschaftlichen, technischen, kulturellen Beziehungen, die von Anfang an als Elemente eines Systems, wenn auch eines künftigen, geplanten, vorgedachten fungieren müssen. In unserer Gesellschaft werden westliche Kenntnisse und Erfahrungen, insbesondere die katholische Soziallehre, beim Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft, eines demokratischen Staates, ja einer Zivilgesellschaft in dem Umfang und auf dem Niveau gebraucht. Nur so ist es möglich, diese Kenntnisse und Erfahrungen- mit Berücksichtigung unserer Spezifikzu verwirklichen. Das bedeutet nicht, daß Rußland von anderen Staaten, Religionen, Gemeinschaften usw. bevormundet werden soll. Es geht um eine Zusammenarbeit der Weltgemeinschaft, die den Interessen aller Völker und einer neuen internationalen Ethik entsprechen würde.

DIE PROBLEMATIK DES INTERESSES IM JAPANISCHEN DENKEN Von Johannes Kazutoshi Sugano und Yukio Masubuchi Bei der Übersetzung des Begriffs "Interesse" stehen wir zunächst vor dem Problem, daß wir dafür im Japanischen vier verschiedene Begriffe zur Verfügung haben, nämlich: Kyomi, Kanshin, Rigai und Riken, die sich jeweils aus zwei verschiedenen chinesischen Schriftzeichen zusammensetzen. Dabei kann man sagen, daß sowohl Kyorni und Kanshin auf der einen Seite, als auch Rigai und Riken auf der anderen Seite miteinander verwandt sind. Erstere bringen ein subjektives (sinnliches, seelisches oder geistiges) Verhältnis zu einem bestimmten Gegenstand zum Ausdruck, letztere dagegen ein Verhältnis der Kosten-Nutzen-Relation im Bereich der zwischenmenschlichen Konkurrenz. Davon ausgehend können wir sagen, daß es sich im einen Fall um eine Beziehung der Affinität und der Anteilnahme zwischen Subjekt und Objekt handelt, im anderen Fall dagegen um eine Beziehung des Gegensatzes und der Konkurrenz zwischen zwei oder mehreren Subjekten. Ich möchte heute über die Problematik des ersten der beiden genannten Begriffspaare sprechen, dessen Kern die Affinitätsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt ist. Denn dieser spezifisch "östliche" Interesse-Begriff bildet die Grundlage der politischen und ökonomischen Verhaltensweisen im gegenwärtigen Japan. Um zu einem Verständnis dieser beiden Begriffe zu gelangen, ist eine eingehende Auseinandersetzung mit dem japanischen Denken Voraussetzung.

I. Der Wortsinn des japanischen Interesse-Begriffs a) Kyomi. "Ich habe Interesse an etwas" heißt im Japanischen "Watashi wa aru mono ni kyorni ga aru". Das darin vorkommende "Kyomi" setzt sich aus zwei chinesischen Schriftzeichen zusammen, die gemeinsam die Bedeutung dieses Wortes konstituieren. Das Zeichen für "Kyo" bedeutet so etwas wie "sich ergötzen", das Zeichen für "mi" (das auch "aji" ausgesprochen wird) bedeutet "Geschmack". Man kann daher die Bedeutung des Wortes "Kyomi" wörtlich mit "Ergötzen am Geschmack" übersetzen. Im Begriff "Kyomi" steckt daher das Kosten, das Schmecken, d. h. eine wesentlich "sinnliche" Komponente. Gegenstand des Interesses in diesem

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Sinn ist allgemein das sinnliche Streben nach Lust. Und so wie der Geschmack von Mensch zu Mensch verschieden ist, so ist auch die Richtung des Interesses in diesem Sinn vielfältig verschieden. Die Bedeutung des Wortes "Geschmack" bezieht sich dabei für die Japaner nicht nur auf den Geschmackssinn im engeren Sinn, sondern auch auf den Gesichts- und Gehörsinn, ja selbst auf den Geruchssinn. In früheren Zeiten gab es in China und Japan unter dem Hofadel und den Samurais eine Form der noblen Unterhaltung, bei der Räucherstäbchen angezündet und in einer Art Wettbewerb über die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Düfte diskutiert wurde. Man sprach dabei in Zusammenhang mit diesem Spiel nicht vom "Riechen", sondern vom "Schmecken" des Dufts. Auch heutzutage sprechen wir in Bezug auf frische Luft häufig von "schmackhafter" Luft. Wir können also sagen, daß das Interesse im Sinne von "Kyomi" sich wesentlich auf die sinnliche Ebene bezieht und insofern mit Geschmack im weiteren Sinn zu tun hat und daher von subjektiven, nicht rationalen Neigungen bestimmt ist. b) Kanshin. "Ich interessiere mich für etwas" heißt im Japanischen "Watashi wa aru mono ni kanshin ga aru". Das darin vorkommende "Kanshin" setzt sich ebenfalls aus zwei chinesischen Schriftzeichen zusammen, nämlich "Kan" und "Shin". "Kan" bedeutet soviel wie "etwas betreffen, bzw. mit etwas zu tun haben" und "Shin" (das auch "Kokoro" ausgesprochen wird) bedeutet "Herz, Seele, Gesinnung", hat also etwas mit innerer Haltung bzw. innerem Streben zu tun. Die wortwörtliche Übersetzung von "Kanshin" würde daher etwa lauten "Sein inneres Streben auf etwas richten". Das impliziert, daß das betreffende Subjekt eine klare, bewußte Haltung zu dem entsprechenden Objekt des Interesses einnimmt. Im Begriff "Kanshin" ist daher von vornherein eine klare Trennung von Subjekt und Objekt impliziert, und überdies eine gewisse Distanz zwischen beiden, eine Distanz, die das Subjekt durch die Vertiefung des Interesses zu überwinden versucht. Die europäische Naturwissenschaft stellt ein Beispiel für diesen Prozeß der strengen Trennung und der Annäherung dar. Da diese Art der Annäherung jedoch rein vom Verstand geleitet ist, müssen wir sie von unserer "östlichen" Art der Annäherung an den Gegenstand deutlich unterscheiden. Nach der japanischen Auffassung von "Kanshin" als "geistiges Interesse" bleibt die Einheit mit dem Gegenstand prinzipiell bewahrt. "Kanshin" ist im wesentlichen eine innerliche Aktivität, die auf der Identifikation mit dem Wert des betreffenden Gegenstandes beruht. Im Gegensatz zu "Kyomi", das auf sinnlicher Basis beruht, beruht "Kanshin" auf dem Verstand bzw. auf der Vernunft und ihrem Willen zur Einheit. Die Verbindung zum Gegenstand (in seinem bestimmten Gehalt) entsteht bei "Kanshin" also vermittels einer geistigen Aktivität. In seinen Interessen (im Sinne von

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"Kyomi" und "Kanshin") manifestiert sich gewissermaßen, wie ein Mensch sein Leben im positiven Sinn gestaltet, und ob er es versteht, das Leben zu leben. Freilich ist darin auch stets eine historische Dimension zu beachten, und zwar weil das Ziel immer ein besseres menschliches Leben in der Zukunft ist. Und ohne Reflexion über die, bzw. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist es nicht möglich, zu einem erfüllteren Leben in der Zukunft zu gelangen. Man kann daher sagen, daß die Orientierung der Interessen auf der Geschichtlichkeit des Daseins beruht, d. h. die bloße Gegenwart transzendiert. "Interesse" bedeutet mehr als die bloße Richtung auf die Befriedigung der augenblicklichen Bedürfnisse. Ja, man kann geradezu in Analogie zu Heidegger sagen, daß der Mensch "ins Interesse geworfen ist". c) Rigai. Im Gegensatz zu den beiden soeben besprochenen Begriffen "Kyomi" und "Kanshin" hat der Begriff "Rigai" (für Interesse) ganz andere Wurzeln. Er setzt sich aus den beiden chinesischen Schriftzeichen "Ri", das bedeutet "Vorteil", und "Gai", das bedeutet "Nachteil", zusammen. Interesse im Sinne von "Rigai", von Vor- und Nachteil, ist ein Begriff, der sich auf berechnendes Handeln im zwischenmenschlichen Bereich bezieht, und zwar in einem Bereich, der von wirtschaftlichen Prinzipien dominiert ist, und für den im wesentlichen utilitaristische Zwecküberlegungen maßgebend sind. In diesem zwischenmenschlichen Bereich zählen nur objektivmeßbare Kriterien. In diesem Kalkül existiert der Mitmensch oder der Gegenstand immer nur als Mittel zum Zweck (für meinen eigenen Vorteil), und im Verhältnis der Beteiligten zueinander gibt es nur die Alternative: Entweder Übereinstimmung oder Widerspruch der Interessen. Die Entwicklung des modernen Staates auf der Grundlage einer Versachlichung der gesellschaftlichen Beziehungen brachte vielfach eine Umwandlung der lebendigen Interessen in abstrakte, unpersönliche Interessen-Kalküle mit sich. Viele gesellschaftliche Antagonismen entspringen diesem so verstandenen Interesse.

II. Die östliche Naturauffassung als religiöser Hintergrund Es gibt keinen Menschen, der nicht irgendwie Interesse am Prozeß des eigenen Lebens hätte. Der Mensch ist so gesehen das Lebewesen, das von "Interesse" bestimmt ist. Wir wissen, daß das Wort "Interesse" seinem ursprünglich lateinischen Wortsinn nach so etwas wie "Hineingehen in die Essenz" bedeutet, und nur dadurch können wir die interessebestimmte Wesensstruktur des Menschen verstehen. Aber zugleich kann das Wort "Interesse" im Sinne von "inter-est" auch als "Zwischen-Sein" gedeutet werden. Wir haben somit eine doppelte Struktur. Im Sinne des "ZwischenSeins" wurzelt das Interesse in der Beziehung zwischen zwei Seienden,

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z. B. zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mitmensch, Mensch und Gott etc. Daraus entspringen sodann die ethischen Fragen als Probleme der menschlichen Lebensführung. Das "Interesse" im Sinne von "Kanshin ·· hängt daher grundlegend von der geistigen Haltung ab und ist damit ebenfalls beeinflußt von subjektiven Faktoren. Die höchste Form des Interesses würde so gesehen aus einem Geistes- bzw. Gemütszustand hervorgehen, der in der Liebe zum Absoluten ruht. Der entscheidende Punkt, auf den ich hier zu sprechen kommen will, ist aber folgender. Der Begriff des Interesses deutet, wie schon mehrfach hingewiesen, sowohl im Sinne von "Kyomi" und "Kanshin" (irrationales Interesse im engeren Sinn) als auch im Sinne von "Rigai" oder "Riken" (rationales Interesse im engeren Sinn) in irgendeiner Weise auf eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt hin. Damit wollen wir uns nun kurz auseinandersetzen. Dieses Subjekt des Interesses wird nämlich im dualistischen europäischen Denken traditionellerweise unvermittelt mit dem je eigenen "Ich" gleichgesetzt, dem Ich der Person, die über ein bestimmtes Interesse verfügt. Es besteht somit eine klare Trennung zwischen dem Subjekt, dem "Ich", auf der einen Seite und dem Objekt, der äußeren Welt, auf der anderen Seite; wobei das Subjekt derjenige Teil ist, von dem das Interesse ausgeht, und die Achse, um die sich das ganze Verhältnis dreht. Im pluralistischen japanischen Denken stellt sich dieses Verhältnis jedoch anders dar. Das Subjekt ist hier nicht das je eigene "Ich", sondem vielmehr (vermittels) das "Ich als Du", das "Ich", das als "Du" einem anderen Du oder einem Objekt (in einer konkreten Beziehung) gegenübersteht. Es entscheidet daher nicht autonom über seine eigene Haltung und sein eigenes Verhalten, sondem erst aufgrundvon Überlegungen und Mutmaßungen über die Situation, die den anderen mit einbeziehen. Nicht das "Ich" ist konstitutiv bzw. primärer Maßstab für die Beziehung, sondem das "Du". Das ist ein wesentlicher Grund dafür, daß die Japaner nur selten auf ihren eigenen Meinungen bestehen. Wir betrachten es als Tugend der Bescheidenheit, die eigenen Wünsche und Begierden hinter das gemeinsame Wohl zu stellen. Die höchste Manifestation von Interesse besteht daher für die Japaner in Handlungen, die von einer nicht bloß vordergründigen, sondem der "natürlichen Haltung" entspringenden, gleichsam "spontanen" Sorge um den Gegenstand bestimmt sind. Die Rücksicht auf die "natürliche Haltung" spielt überhaupt eine bedeutende Rolle im Denken der Japaner. Das läßt sich auch auf den Interesse-Begriff im Sinne von "Kyomi", "Kanshin" oder "Rigai" anwenden. Es gibt ein japanisches Gedicht (ein Haiku), das lautet "Asagao ni tsurube torarete, moraimizu", was man etwa mit "Der Schöpfeimer beim Brunnen ist abhanden gekommen, ich gehe zum Nachbam um Wasser" übersetzen könnte. Beim Hören dieses Gedichts empfinden wir ein Gefühl der natürlichen Zustimmung zu der, alle Reflexion abstreifenden, unmittelbaren Spontanität seines Inhalts. Auf diese Art und Weise kommen

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wir letztlich zu der Frage nach dem Sinn des als erstrebenswert empfundenen Begriffs des Natürlichen, der westliches und östliches Denken ebenso wie den westlichen und östlichen Interessensbegriff unterscheidet. Ein typisches Beispiel für die hier zugrundeliegende Auffassung von Natur ist meiner Meinung nach im Buddhismus von Shinran zu finden, vor allem in den betreffenden Gedanken über die Erlösung durch die Hilfe Buddhas.

ßl. Die Entwicklung des Interesses zur grenzenlosen Offenheit Sofern das Subjekt den Ausgangspunkt seines Interesses in sich selbst festsetzt, kann sich dieses Interesse nicht aus den engen Grenzen der IchWelt befreien. Ganz egal, ob es dabei um die Interessen von Individuen oder von Gruppen oder Staaten geht, sobald das eigene Interesse zum alleinigen Bezugspunkt wird, kommt es unvermeidlich zu Interessenskonflikten mit den jeweils anderen Personen, Gruppen oder Staaten. Der springende Punkt hierbei ist das Bild des freien Raumes. So sandte uns z. B . der erste japanische Raumfahrer, Herr Mohri, folgende Botschaft aus dem Weltraum: "Es gibt keine Landesgrenzen auf dem Erdball". Daraus können wir einen Weg finden zur Überwindung von egoistischen Interessen und zur Befreiung von dualistischen Denkschemata. In diesen Worten kommt ein Verzicht auf die rein verstandesmäßige Erfassung der Welt und auf enge irdische Interessen zum Ausdruck. Wir können einen solchen Zustand auch als geistiges Vakuum betrachten. Ähnlich wie im biblischen Wort "Selig sind, die armen Geistes sind" (Mt. 5, 3) ist auch hier ein Verzicht auf das Selbst angesprochen. Ich nenne das das Interesse der Interesselosigkeit. Der Zustand der Losgelöstheit des Selbst vom Interesse bedeutet nicht nur die Befreiung von eigennützigen Interessen, sondern positiver gewendet die Verneinung der Zuneigung zu sich selbst. Wir verstehen den Begriff der Selbst-Transzendenz, wie er in der europäischen Philosophie vorkommt, als eine Art von Erlösung im Sinne von Selbst-Vergessenheit. Während die Selbsttranszendenz ein Vorgang ist, der im Ich selbst stattfindet, bedeutet die buddhistische Erlösung die Rückführung des Selbst ins Nichts, die vollständige Selbstaufhebung. Der Mensch kann zu einem uneingeschränkten Interesse für alle Vorgänge gelangen, indem er sich selbst dem Nichts anvertraut. Das Verhältnis zum Nichts stellt daher die höchste Form des Interesses dar. Da das Interesse grundsätzlich die Ausrichtung des Subjekts auf einen Gegenstand bedeutet, können wir nicht umhin, von der Philosophie eine metaphysische Erklärung des Interesses zu fordern. Darin liegt historisch gesehen die Verbindung mit dem Fundament des Gedankens der Erlösung durch Buddhas Hilfe mit der "östlichen" Naturauffassung. Es ist klar, daß

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die meisten Interessen des Menschen auf ihn selbst gerichtet sind. Das ist die zweite Formel des Interesse-Begriffs. Die erste Formel beruht auf der Beziehung des Ichs zum Gegenstand, die zweite auf der Beziehung des Ichs zum Ich-selbst, die dritte auf der Relation des Ichs zum Subjekt-ObjektSchema. Im Rahmen des Descartschen Dualismus kann das Interessse des Ich nicht über das Gehäuse des Ich-selbst hinausgelangen. Dagegen gibt es im "östlichen" Verständnis noch eine vierte Interesse-Formel, nämlich: wenn wir auf unser Interesse verzichten, so erweckt uns der Gegenstand selbst zum Interesse. IV. Die Idee des "von selbst" im japanischen Interesse-Begriff Shinran, der berühmte Gründer der Jodo-Shinshu (der "Wahren Schule des lauteren Landes", einer in Japan weit verbreiteten buddhistischen Sekte) hat seine Gedanken dazu im "Tannisho" niedergelegt. Im dritten Artikel heißt es dort: "Selbst der Gute geht zum lauteren Lande ein, um wievieles leichter der Böse! ... Wer eigenmächtig strebend sich bemüht, Gutes zu tun, dem fehlt der Wille, sich allein auf die Fremdkraft zu verlassen. Das aber entspricht nicht dem Hauptgelübde Amidas. Wer aber sein eigenwilliges Herz bekehrt und sich vertrauensvoll auf die Fremdkraft verläßt, der geht ein zum ,wahren Lande der Vergeltung' ... Gerade der Böse also, der sich auf die Fremdkraft verläßt, ist die eigentliche Ursache der Hingeburt." Dieser Gedanke lehrt uns die Wichtigkeit des Selbstverzichts, denn die Selbstverneinung ist der Weg zur ewigen Selbstverwirklichung und zur Erlangung des höchsten Friedens. Das Interesse für das Absolute von subjektiver Seite ist daher zwecklos, nur das Vernehmen des Anrufs durch das Absolute selbst eröffnet einen Weg. Daraus entwickelt sich im weiteren die "östliche" Naturauffassung, insbesondere die Lehre Shinrans vom "Jinen-Honi". Shinran spricht in bezugauf den allgemeinen Begriff "Natur" von "Jinen". In den chinesischen Schriftzeichen besteht kein Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Begriff für "Natur" im Japanischen, nämlich "Jizen", und "Jinen"; es handelt sich so gesehen nur um verschiedene Aussprachen. Wo liegt dann der Unterschied? Es gibt keinen wesentlichen Unterschied im neuzeitlichen Naturverständnis zwischen Europa und Japan. Die Welt der Natur ist diesem Verständnis nach ein gegenständliches Reich, das dem Menschen gegenübersteht. Aber "Jinen" bedeutet etwas anderes, nämlich eine Bewegung, von selbst so zu werden. Im Unterschied zur Naturauffassung als Gegenstand der Naturwissenschaften liegt das Wesentliche des "Jinen" in der Selbst-Entfaltung. Diese Denkweise stimmt nicht überein mit dem naturwissenschaftlichen Denken, das die Naturgesetze von außen her "objektiv" zu erforschen versucht, und sie fragt auch

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nicht nach einem übernatürlichen Gesetz, das die Natur regiert. Nehmen wir ein Beispiel: Hier ist eine Blume. Wie kommt es, daß diese Blume blüht? Der Biologe wird uns, konfrontiert mit dieser Frage, auf den Entwicklungsprozeß vom Samen bis zum Blütenzustand hinweisen. Aber was ist der Grund, daß sich der Same zur Blume entwickelt? Um eine Antwort zu finden, müssen wir auf den Grund der Bewegung des Werdens zurückgehen. Wir fordern so die letzte Antwort auf unsere Frage von der Blume selbst. Weil der Same seiner eigentlichen Natur nach die gesamte Entwicklung beinhaltet, tritt diese Natur der Blume selbst nach außen hin in Erscheinung. Es ist diese Seinsart des (nicht weiter hinterfragbaren) "von selbst", die den Kern des "Jinen" ausmacht. Ein Zen-buddhistisches Sprichwort sagt: "Willst du das Wesen der Blume erfassen, so frage die Blume." Dies ist eine Metaphysik des "von selbst" und indem wir uns selbst dem Prozeß des "von selbst" überlassen, werden wir von einer grenzenlos offenen Welt umfaßt. Im "östlichen" Denken darf der Mensch keinesfalls aus selbstsüchtigen Interessen frei über die Natur verfügen. V. Schluß Die Möglichkeit der Bewahrung der Umwelt und des Völkerfriedens im Weltmaßstab hängt davon ab, ob der Mensch imstande sein wird, auf egoistische Interessen zu verzichten. Das japanische Denken kann dazu einen Beitrag leisten im Sinne der schon früher erwähnten Tugend der Bescheidenheit, dem Interesse der Interesselosigkeit, die auf der Metaphysik des "von selbst" beruht. Das hat auch Konsequenzen für das Verhältnis zu Gott. Wir können zu Gott beten und uns dem Glauben an seine unendliche Liebe hingeben. Darin ist aber implizit eine bestimmte Ausrichtung enthalten, eine Ausrichtung des Subjekts auf Gott, und damit kommt wieder Interesse ins Spiel. Solange wir mit einer bestimmten Absicht beten, führen wir unser Selbst mit uns, verzichten wir nicht auf unser Selbst. Denn bei aller Hingabe bleibt doch stets die Erwartung einer Antwort Gottes auf mein Gebet lebendig. Aber solange wir unser Selbst nicht hinter uns lassen, können wir den Ruf Gottes nicht vernehmen. Erst wenn es uns gelingt, die Anrufung Gottes im Gebet mit der Metaphysik des "von selbst" zu verbinden, können wir zu einer Transzendierung des Interesses ohne Unterschied von Westen und Osten gelangen. Ich möchte dieses Bestreben als "Hoffnung auf Einheitlichkeit in der Mannigfaltigkeit" charakterisieren.

DIE AUTOREN UND HERAUSGEBER Dr. Laszl6 Boda Prof. für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät der Pazmany Katholischen Universität von Budapest, Titular-Abt von Zebegeny; Anschrift: David Fu. 7. fsz. 3, H-1113 Budapest, Ungarn. MMag. Dr. Ingeborg Gabriel Universitätsassistentin am Institut für Ethik und Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; Anschrift: Schottenring 21, A-1010 Wien, Österreich. DDDr. Alfred Klose a. o. Professor für Gesellschaftspolitik und politische Theorie an der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Humanum; Anschrift: Starkfriedgasse 11, A-1180 Wien, Österreich. Dr. Karl Korinek o. Univ.-Prof. für Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Wirtschaftsuniversität Wien, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, Präsident des Österreichischen Normungsinstituts; Anschrift: Wirtschaftsuniversität Wien, Augasse 2-6, A-1090 Wien, Österreich. Dr. Yukio Masubuchi Univ.-Prof. für Philosophie der Erziehung an der staatlichen TohokuUniversität in Sendai, Japan, Vorstand der Gesellschaft für Philosophie der Erziehung; Anschrift: Kawauchi Aobaku, Sendai-shi, 980 Japan. Dr. Valentin N. Pessenko a. o. Prof. für Philosophie der Geschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostow am Don, Präsident der Albert-SchweitzerGesellschaft in Rostow am Don; Anschrift: Postfach 541, RU-344010 Rostow am Don 10, Rußland. Dr. theol. lic. phil. Anton Rauscher Ordinarius für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg, Direktor der Katholischen

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Die Autoren und Herausgeber

Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Beobachter des Heiligen Stuhls beim "Leitenden Ausschuß des Europarates für Sozialpolitik" in Straßburg; Anschrift: Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre, Universität Augsburg, Universitätsstraße 10, D-86135 Augsburg, BRD. Mag. phil. Dr. phil. Mag. theol. Ferdinand Reisinger Prof. für Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie an der KatholischTheologischen Hochschule Linz; Anschrift: Bethlehemstraße 20, A-4020 Linz, Österreich. Stiftsdechant im Augustiner Chorherrenstift St. Florian, Oberösterreich; Anschrift: Stift, A-4490 St. Florian, Österreich. Pater Dr. Dr. h. c. Johannes Schasching SJ em. Prof. für Christliche Sozialphilosophie in Innsbruck und ehern. Dekan an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, Konsultor des Päpstlichen Rates Iustitia et Pax und Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften; Anschrift: Provinzialat der Jesuiten, Dr. Ignaz Seipel-Platz 1, A-1010 Wien, Österreich. Dr. Wolfgang Schmitz Finanzminister a. D., Präsident a . D. der Oesterreichischen Nationalbank, Lehrbeauftragter für Wirtschaftsethik an der Universität Innsbruck; Anschrift: Gustav-Tschermak-Gasse 3 I 2, A-1180 Wien, Österreich. Dr. Heinrich Schneider em. Prof. für Politikwissenschaft an der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Direktoriums des Instituts für Europäische Politik in Bonn, Stellvertretender Leiter der Delegation des Hl. Stuhls bei der KSZE; Anschrift: Doktorberg 3 I 4, A-2391 Kaltenleutgeben, Österreich. DDr. Kazutoshi Sugano t Univ.-Prof. für Ethik an der St. Marianna (med.) Universität und Vorstandspräsident der Shizuoka-Futaba-Gakuen; Anschrift: 2-3-2-1201 Matsugamine, Utsunomiya-City, 320 Japan. Dr. Erich W. Streißler o. Prof. der Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Wirtschaftsgeschichte an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien; Anschrift: Khevenhüllerstraße 15 A, A-1180 Wien, Österreich.

Die Autoren und Herausgeber

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DDr. Rudolf Weiler Dr. theol. et rer. pol., Prälat, o. Univ.-Prof. für Ethik und Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Präsident der Johannes-Messner-Gesellschaft, 1. Vorsitzender des Universitätszentrums für Friedensforschung; Anschrift: Bauernfeldgasse 9 I 2 I 5, A-1190 Wien, Österreich.