Recht und Moral 9783787319862, 9783787319879

Zwischen Rechtsverständnissen, nach denen es nur juridische, nicht aber moralische Rechte geben kann, und einem individu

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Recht und Moral
 9783787319862, 9783787319879

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Hans Jörg Sandkühler (Hg.)

Recht und Moral

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1986-2

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2010. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Jörg Sandkühler Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung . . . . . . . . . . .

9

Dietmar von der Pfordten Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik . . . . . . . . . . . . . . .

33

Jean-François Kervégan Gibt es moralische Rechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Georg Mohr Moralische Rechte gibt es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Dagmar Borchers »Nonsense on Stilts«? Warum einige Utilitaristen Bentham widersprechen würden und moralische Rechte für sinnvoll halten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Heiner Bielefeldt Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte . . . . . 105 Georg Lohmann Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Herlinde Pauer-Studer Menschenrechte zwischen Moralisierung und politischer Instrumentalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Sarhan Dhouib Philosophische Wege zu Recht und Ethik. Beispiele aus der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

6 | inhalt

Vorbemerkung

Wie verhalten sich Recht und Moral zueinander? Gibt es ›moralische Rechte‹? Ist es sinnvoll, diesen Begriff zu verwenden oder ist er Ausdruck einer Begriffsverwirrung, gar ein Kategorienfehler? In welchem Sinne und aus welchen Gründen sollten moralische Ansprüche als Rechte verstanden werden? Sind moralische Ansprüche erst dann im strengen Sinne Rechte, wenn ihnen eine Norm des positiven Rechts entspricht? Zwischen institutionalistischen Rechtsverständnissen, denen zufolge es nur juridische, nicht aber moralische Rechte geben kann, und einem individualethischen Ansatz, dem zufolge es moralische Rechte gibt, weil Personen sie haben, gibt es einen lang anhaltenden Streit. Er wird insbesondere hinsichtlich des Status der Menschenrechte ausgefochten. Die positivierten Menschenrechte sind konkrete, immer differenzierter ausgestaltete und einklagbare Normen des Internationalen Rechts, also weit mehr als nur menschenfreundliche Ideale. Mit ihrem Rechtscharakter ist der philosophische Streit über eine wesentliche Frage aber nicht beendet: Sind Menschen- und Grundrechte sowie von ihnen abgeleitete weitere Rechte moralische und juridische Rechte, moralische oder juridische Rechte? Handelt es sich bei juridischen und moralischen Rechten um Alternativen oder stehen sie in einem Ergänzungsverhältnis zueinander? Dies sind Fragen, die die nicht allein in der Philosophie auf der Tagesordnung stehen, sondern die von allgemeiner gesellschaftlicher und politischer Bedeutung sind. Sie sind zentral auch in der Arbeit der UNESCO, in der die Philosophie seit ihrer Gründung im Jahre 1945 eine wichtige Rolle spielt: »Es gibt keine UNESCO ohne Philosophie«. Es war und ist der Kampf gegen Barbarei und Krieg und für universelle Menschenrechte, internationale Gerechtigkeit und Demokratie, der im Rahmen der Vereinten Nationen die Programmatik der UNESCO bestimmt – die Programmatik für eine humane Welt, für eine Welt der Achtung der Menschenwürde. | 7

Die Philosophie und die Wissenschaften sind in die Strategie zur Verwirklichung dieser Ziele eingebunden, und dies heißt in erster Linie: für die Entwicklung und Verwirklichung der Menschenrechte und jener sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen, unter denen Gleichheit, individuelle und kollektive Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden möglich sind. Die inzwischen in vielen Ländern durchgeführten ›UNESCOWelttage der Philosophie‹ sollen einen Beitrag dazu leisten, in der Öffentlichkeit für ein Engagement für diese Ziele zu werben, ohne auf die Kontroverse über offene Fragen zu verzichten. Seit 2004 werden sie von der Deutschen Abteilung ›Menschenrechte und Kulturen‹ des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris) auch in Bremen organisiert. Die Beiträge zu diesem Band sind aus Vorträgen und kontroversen Debatten anlässlich des UNESCO-Welttags der Philosophie hervorgegangen, der 2009 in Bremen unter dem Titel ›Moral und Recht? Recht oder Moral?‹ stattgefunden hat. Zusätzlich wurden die Aufsätze von Herlinde Pauer-Studer, Heiner Bielefeldt und Jean-François Kervégan aufgenommen. Allen, die zu diesem Buch beigetragen haben, gilt mein Dank. Bremen, Juni 2010

Hans Jörg Sandkühler

– Hans Jörg Sandkühler –

Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung

1. Moralische Erwartungen an das Recht Wie verhalten sich Moral und Recht zueinander? Gibt es ›moralische Rechte‹?1 Ist es sinnvoll, diesen Begriff zu verwenden oder ist er Ausdruck einer Begriffsverwirrung, gar ein Kategorienfehler? Können moralische Ansprüche als Rechte verstanden werden? Und ist alles, was nicht positives Recht ist, nicht mehr als moralischer Anspruch? Mit diesen Fragen werde ich mich in sieben Abschnitten auseinandersetzen und zunächst zwei Beispiele zur Illustration des Sachverhalts anführen, dass moralische Ansprüche erst dann im strengen Sinne Rechte sind, wenn ihnen eine Norm des positiven Rechts entspricht. Das erste Beispiel: Eine 39-jährige Französin ist mit ihrem Antrag gescheitert, das eingelagerte Sperma ihres verstorbenen Mannes für eine künstliche Befruchtung zu bekommen. Das Paar hatte sich dazu entschlossen, den Samen des Mannes einfrieren zu lassen, weil er an Krebs litt und offensichtlich war, dass er nach einer Chemotherapie keine Kinder mehr würde zeugen können. Ein Gericht hat die Klage abgewiesen. Die Rechtslage erlaube es nicht, das in einer Samenbank gelagerte Sperma für eine Befruchtung zu verwenden, wenn ›ein Teil des Paares‹ gestorben sei. Die intuitive moralische Einstellung zu diesem Beispiel dürfte sein, dass eine Frau ein moralisches Recht auf ein Kind hat, auch wenn es ihr juridisch nicht als Recht zugesprochen werden kann.2 Im zweiten Beispiel stimmt ein Rechtsanspruch mit bestehenden Rechtsnormen überein. Am 3. November 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGHMR) – nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsmittel und entgegen vorherigen Urteilen italienischer | 9

Gerichte – einer Individualklage gegen die Republik Italien stattgegeben. Der Leitsatz des Urteils lautet, Kruzifixe in Schulen verstießen gegen Art. 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und gegen Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention. Art. 9 betrifft die ›Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit‹: »1 Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. 2 Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.«3 In Art. 2 des Zusatzprotokolls heißt es: »Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.«4 Der Klägerin wurde für erlittenen »moralischen Schaden« eine Entschädigung in Höhe von 5.000 € zugesprochen.5 Der italienische Staat hat umgehend angekündigt, gegen das Urteil des EuGHMR Beschwerde einzulegen,6 nicht aufgrund eines Rechtstitels, sondern im Namen des ›Rechts‹ einer Macht ohne Moral: »Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat im Streit um das Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Machtwort gesprochen. ›Wir behalten das Kruzifix‹, erklärte der Regierungschef […]. Das Urteil sei schliesslich kein ›Zwangsurteil‹, sagte er. Daher würden die Kreuze in italienischen Klassenzimmern hängen bleiben – unabhängig vom Ausgang der Beschwerde seiner Regierung in Straßburg.«7

10 | hans jörg sandkühler

2. Gibt es moralische Rechte? Zwischen institutionalistischen Rechtsverständnissen, denen zufolge es nur juridische, nicht aber moralische Rechte geben kann, und einem individualethischen Ansatz, dem zufolge Personen moralische Rechte haben, gibt es einen lang anhaltenden Streit. Er wird insbesondere hinsichtlich des Status der Menschenrechte8 ausgefochten. Eine Position zugunsten der Annahme moralischer Rechte vertritt z. B. Stefan Gosepath: »Menschenrechte sind eine Untermenge moralischer Rechte.«9 An anderer Stelle spitzt er zu: »Menschenrechte sind […] auf eine besondere Weise moralisch-politische Rechte. Als moralische Rechte gelten Menschenrechte auch unabhängig von ihrer faktischen Anerkennung und Befolgung. Wenn wir sie als moralische Verpflichtung anerkennen, dann gelten sie vor aller positiven Rechtssetzung.«10 Es folgt bei Gosepath allerdings eine angesichts der These der vor-positiven Geltung moralischer Rechte bemerkenswerte Wendung: »Menschenrechte haben […] eine Komponente eingebaut, die uns moralisch verpflichtet, sie auch rechtlich zu konkretisieren und zu institutionalisieren. Moralische Rechte sind ›ungesättigt‹, solange sie nicht kodifiziert und interpretiert sind. […] Die faktische Anerkennung der Menschenrechte als spezielle moralische Rechte, die lebenswichtige Interessen durch effektive Institutionen schützen sollen, basiert – so meine Vermutung – auf einem globalen, minimalen und übergreifenden Konsens unterschiedlicher Moralauffassungen.«11 Auch Ernst Tugendhat hat von ›moralischen Rechten‹ gesprochen und erklärt, er verwende den Begriff des Rechts, »in einem unterbestimmten Sinn«, indem er »ihn einfach als Korrelat des Begriffs der Verpflichtung verstehe. Für alle x und y soll gelten, daß, wenn x eine Verpflichtung gegenüber y hat, dann hat y, wenn es gleichfalls eine Person und nicht identisch mit x ist, ein entsprechendes Recht. […] Jedes Mitglied einer moralischen Gemeinschaft – egal wie unegalitär sie ist, also auch in einer Kastengesellschaft – hat Verpflichtungen gegenüber anderen und auch Rechte.«12 Unter dem Titel ›Die Kontroverse um die Menschenrechte‹ hat Tugendhat aber – nicht anders als Gosepath – deutlich gemacht, worin der Grund der Transformation moralischer Rechte in positives Recht13 Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 11

besteht: »[D]ie Menschenrechte können wie alle Rechte nur verliehene Rechte sein, und dass es sie gibt, hat den Sinn, dass sie zu verleihen Teil einer legitimen staatlichen Ordnung ist, und die These, dass sie universell existieren, kann also nur den Sinn haben, dass jede staatliche Ordnung, die sie nicht enthält, ihren Bürgern nicht verleiht, als nicht legitim anzusehen ist.«14 Im Zusammenhang mit der Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral gibt es also ein zweites Spannungsfeld: die Frage, ob das Recht einer Begründung durch Moral bedarf, »wenn es nicht bloß auf Legalität, sondern auch auf Legitimität Anspruch erheben will«.15 Es ist offensichtlich, dass die Legitimitätsfrage nach den Erfahrungen sowohl des Nationalsozialismus, japanischen Militarismus als auch des Stalinismus vordringlich wurde und verstärkt zu einer an Gerechtigkeit orientierten Prüfung und Begrenzung des positiven Rechts geführt hat. Niemand, auch nicht der konsequenteste Rechtspositivist, kann sich noch zu der legalistischen Aussage ›Gesetz ist Gesetz‹ berechtigt wissen, d. h. zur Behauptung, jegliches Recht sei – weil ›gesetztes Recht‹ – als ›richtiges Recht‹ anzuerkennen. Die ›Rassen‹-Gesetzgebung und andere Gesetze des Nationalsozialismus haben Gustav Radbruch, den bedeutenden Rechtsphilosophen und Rechtspolitiker der Weimarer Republik, 1946 herausgefordert, mit der nach ihm benannten ›Formel‹ die Konsequenzen zu ziehen. In ›Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‹ hat er geschrieben: »Keineswegs ist Recht alles das, ›was dem Volke nützt‹, sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt. […] Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat.«16 Die Frage nach der moralischen Legitimität des Rechts hat Schule gemacht, wie die Einführung des Straftatbestandes ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, das ihm folgende Völkerstrafrecht und Art. 7 (2) der EMRK vom 4. November 1950 zeigen. Im Anschluß 12 | hans jörg sandkühler

an Radbruch ist auch die folgende Formulierung des Bundesverfassungsgerichts zu sehen: »Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann«.17 Einer Antwort auf die Fragen ›Moral und Recht? Recht oder Moral?‹ scheinen wir so näher gekommen zu sein. Sind wir es? Eher nicht. Drei weitere Fragen drängen sich auf: (1) Wenn Gerechtigkeit nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht, dann scheint es sie zu geben, wie es Entitäten gibt. Was aber, wenn der Satz, den Hans Kelsen, der von den Nazis vertriebene demokratische Verfassungsrechtler und Rechtspositivist, in seiner Reinen Rechtslehre (1934, 21960) formuliert hat, zutrifft? »Gäbe es Gerechtigkeit in dem Sinne, in dem man sich auf ihre Existenz zu berufen pflegt, wenn man gewisse Interessen gegen andere durchsetzen will, dann wäre das positive Recht völlig überflüssig und seine Existenz ganz unbegreiflich«.18 Es müsste nichts normiert, nichts gesollt werden, lebten wir bereits im Zeichen von Gleichheit und Gerechtigkeit. In der Welt, in der wir leben, ist das, was gesollt ist, freilich keine offene Frage: Gesollt ist der Schutz der Menschenwürde. Ihre Unantastbarkeit ist ein fundamentaler moralischer Wert, der aus guten Gründen (s. u. 2 und 3) als fundamentaler Rechtssatz positiviert werden musste und in den Menschen- und Grundrechten konkretisiert ist. Die Würdenorm ist als Sollen notwendig, weil die Menschenwürde de facto verletzt wird. (2) Welche Moral soll in pluralistischen Gesellschaften die Legitimität des Rechts begründen? Ist nicht der Befund zutreffend, den Uwe Wesel in Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht beschreibt? »Unsere Begriffe Ethik, Moral und Sittlichkeit […] umschreiben ein Feld innerer Einstellungen, für das sich heute im wesentlichen jeder einzelne selbst verantwortlich fühlt, unabhängig von anderen und von den eher äußerlichen Vorschriften des Rechts oder von Sitten und Gebräuchen.«19 Wie sollte angesichts der Vielfalt konkurrierender Moraleinstellungen, Überzeugungen Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 13

und Wertpräferenzen eine Moral, eine Ethik, den privilegierten Anspruch erheben können, von allen als Grundlage ihres Handelns anerkannt zu werden? Eine atheistisch motivierte Moral? Eine islamische Moral? Eine ›christlich-abendländische‹ Ethik? Wie problematisch derartige Ansprüche sind, zeigen (i) sowohl ›abendländische‹ Kommentatoren des Grundgesetzes als auch (ii) gegenläufige Versuche, eine ›sozialistische Moral‹ in Verfassungsrang zu erheben: (i) Im Grundgesetzkommentar Maunz/ Dürig wurde noch 1994 die These vertreten, Art. 1 (1) GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde) liefere »in der Staatseinrichtung […] den wertausfüllenden Maßstab für alles staatliche Handeln; denn er bestimmt und beschränkt Staatszweck und Staatsaufgabe, und er bestimmt und beschränkt die Legitimität von Staat und Recht aus den Werten personaler Ethik«.20 »Man sollte nicht um die Begriffe für diese Wertfundierung streiten. Man kann auch sagen, daß Art. 1 I das ›Naturrecht neuzeitlicher Prägung‹ rezipiert habe […] Niemals ist es jedoch unjuristisch, wenn man zur Interpretation des von der Verfassung rezipierten, ihr vorausliegenden Rechts spezifisch christliche Lehren verwendet […] Die christliche Naturrechtsauffassung umspannt stets auch die gültige profane Lehre […] Sollte irgendwo das profane Naturrecht zu Abweichungen vom christlichen führen, so ist im Zweifel nichts anderes als die Überprüfung auf historische Abfälschungen nötig, um wieder auf die gemeinsame christliche Wurzel zu stoßen.«21 (ii) Der Bezug auf allgemeine, nicht ideologisch interpretierte juridische Menschenrechte fehlte – mit der einzigen Ausnahme der ungarischen Verfassung – in den Verfassungen der ›realsozialistischen‹ Staaten. In der Verfassung der DDR (1968, in der Fassung vom 7. Oktober 1974) wurde infolge der im Marxismus-Leninismus vertretenen Klassenrechts-Definition allen Rechts in Art. 4 auch das Prinzip der Volkssouveränität umgedeutet: Die Macht geht nicht vom Volke aus. Stattdessen heißt es: »Alle Macht dient dem Wohl des Volkes. Sie sichert sein friedliches Leben, schützt die sozialistische Gesellschaft und gewährleistet die sozialistische Lebensweise der Bürger, freie Entwicklung des Menschen, wahrt seine Würde und garantiert die in der Verfassung verbürgten Rechte.« Eine der Folgen war, dass es in der DDR keine Verwaltungsgerichtsbarkeit 14 | hans jörg sandkühler

gab, in der die Machtausübung von Partei und Staat hätte überprüft werden können. Im Kapitel zu den ›Grundrechte[n] und Grundpflichten der Bürger‹ waren in Art. 19 (3) die Freiheitsrechte an Grundsätze ›sozialistischer Moral‹ gebunden: »Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu entwickeln und sein Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit. Die Beziehungen der Bürger werden durch gegenseitige Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt.« Doch hatten nicht »die strikte Trennung von Recht und Moral und die klare Überordnung des Rechts […] in Europa historisch ihren Ursprung in der Überwindung der religiös-konfessionellen Bürgerkriege durch den religionsneutralen, tendenziell ›säkularen‹ Staat der frühen Neuzeit[?] Was kann noch Inbegriff der wahren Moral oder einer moralisch bindenden Wahrheit sein, wenn auf demselben Territorium unvereinbare Wahrheits- und daraus hergeleitete Rechtsansprüche geltend gemacht werden?«22 (3) Wenn – wie dies in modernen Gesellschaften ganz offensichtlich der Fall ist – moralische Einstellungen individualisiert und pluralisiert sind und das, was Individuen für Moral halten, konkurriert – gemäß welcher Moral sollten dann Handlungen rechtlich zurechenbar sein? Aus welcher Moral sollten Sanktionen begründet werden können? Wenn sich jemand aus politischem Fanatismus und moralischer Überzeugung ›berechtigt‹ sieht, Menschen zu foltern, dann folgt er Normen, die für ihn ›Gesetz‹ sein mögen, »die aber offensichtlich gar nicht zum Bereich dessen gehören, was üblicherweise ›Recht‹ genannt wird«; die private Moral genießt nur dann den Schutz des Rechts, wenn sie es nicht verletzt; die außerrechtliche Inanspruchnahme moralischer ›Berechtigung‹, Unrecht zu tun, führt dazu, dass sich der so Handelnde außerhalb der Rechtskultur stellt; er ist nicht mehr Autor, sondern nur noch Adressat der Rechtsnormen; in schwerwiegenden Fällen gem. Art. 7 (2) EMRK gilt für sein vermeintlich moralisch ›berechtigtes‹ Handeln selbst der »Vertrauensgrundsatz des ›nulla poena [sine lege]-Gebots‹«23 nicht. Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 15

Die eine Moral, die eine ethische Letztbegründung gibt es nicht in der Weise, dass jemand legitimiert wäre, sie einer Gesellschaft zu oktroyieren. Pluralismus ist in modernen Gesellschaften eine Tatsache. Hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Moral ist er auch ein Problem. Das Problem besteht nicht in erster Linie in Konflikten zwischen einander angeblich ›fremden‹ Groß-Kulturen wie Europa, Afrika und Asien. Schwierigkeiten entstehen vielmehr gerade im Inneren der Gesellschaften – zwischen Egoismus und Solidarität, zwischen Freiheit und Ordnung. Der Pluralismus führt zu Relativismus, zu partikulären Ansprüchen auf meine Wahrheit, auf meine Moral; relativiert wird auch die Geltung von Rechtsnormen: mein Rechtsverständnis gegen deines. Der Rechtsrelativismus hat Gründe zum einen in juridischem Nicht-Wissen und in der damit verbundenen Mutmaßung einer Priorität der Moral vor dem Recht sowie zum anderen in Moralen des Individualismus und Egozentrismus. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Er folgt nicht aus Individualisierung: Individualisierung ist Befreiung, das Erreichen der Autonomie der Persönlichkeit – bei Verantwortlichkeit für das individuell im Interesse des Ganzen zu Verantwortende. Wie also soll man das Verhältnis von Recht und Moral bestimmen? Detlev Horster schlägt vor, Moral und Recht so zu unterscheiden: »1. Das Recht verzichtet auf eine rechtliche Gesinnung, weil es sich bei seiner Durchsetzung auf äußeren Zwang verlassen kann. 2. Im Recht gelten Normen und in der Moral Werte. Normen gelten absolut, Werte sind subjektiv geteilte Präferenzen. 3. Gesetze kommen durch Beschluß des Parlaments zustande. 4. Sie gelten ab einem bestimmten Datum. Undenkbar ist, daß moralische Werte zu einem bestimmten Datum in Kraft gesetzt werden könnten. 5. Im Recht gilt ein bis ins einzelne geregelter Vorrang bestimmten Rechts vor anderem. Stehen hingegen moralische Werte gleichrangig nebeneinander, ist die individuelle Entscheidung der Betroffenen gefordert.«24 Ist unter diesen Voraussetzungen die Rede von moralischen Rechten sinnvoll? Es gibt Theoretiker, die die Verwendung des Begriffs verteidigen, so etwa J. Feinberg25 1992 in ›In Defense of Moral Rights: Their Bare Existence‹. Moralische Rechte, so seine These, existieren vor und unabhängig von ihrer Anerkennung in einem Rechtssystem.26 16 | hans jörg sandkühler

Sie sind nicht das Resultat gesetzgeberischen Handelns. Feinberg unterscheidet (i) juridische Rechte, (ii) im Moralkodex einer Gesellschaft anerkannte konventionelle moralische Rechte und (iii) ›wahre‹ moralische Rechte, die entweder nur in der ›wahren Moral‹ oder nur in der ›wahren Moral‹ und der konventionellen Moral oder nur in der ›wahren Moral‹ und im Rechtssystem oder schließlich als wahre moralische, konventionell moralische und juridische Rechte anerkannt sind. Auf bestimmte moralische Rechte wie Selbsttötung oder Religionsausübung haben Menschen Anspruch, selbst wenn sie keine legalen Rechte sind; andere moralische Rechte wie etwa das Frauenwahlrecht können nur aufgrund juridischer Rechte durchgesetzt werden. Schließlich gibt es moralische Rechte, die zwar verrechtlicht, aber – wie etwa der Holocaust zeigt – nicht durchsetzbar sind.27 Feinbergs Fazit: Eine angemessene Definition moralischer Rechte muss zumindest die Bedingung erfüllen, dass sie deren faktischer, von der Anerkennung in einem Regelsystem unabhängiger Existenz gerecht wird. Von einem ›moralischen Recht‹ kann gesprochen werden, wenn es durch die Prinzipien der ›wahren‹ Moral gerechtfertigt ist.28 Ob diese Verteidigung des Konzepts ›moralische Rechte‹ in sich unstimmig ist, weil die zu begründende Existenz solcher Rechte bereits vorausgesetzt ist, muss hier nicht entschieden werden. Aufklärung zum Verhältnis von Recht und Moral leistet sie letztlich nicht. Angesichts von deren tatsächlichem Spannungsverhältnis in modernen pluralistischen Gesellschaften und angesichts des faktischen Relativismus individualisierter Moraleinstellungen bleibt die Frage offen, ob und wenn ja in welcher Weise und in welchem Maße welche Moral eine Rechtsordnung legitimieren kann.

3. Müssen Moral und Recht im Interesse einer allgemein geltenden Rechtsverfassung getrennt werden? Die Rechtstheorie, die am nachdrücklichsten die Forderung nach einer Trennung von Recht und Moral vertreten hat, ist die Reine Rechtslehre Hans Kelsens. Sie stellt sich dem Problem des faktischen Relativismus. Kelsen fordert radikal eine Wert-Indifferenz des Rechtssystems, in dem »kein dem positiven Recht transzendenter Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 17

Wert bejaht« wird.29 Er kämpft gegen die in der Weimarer Republik grassierende Ideologisierung der Rechtswissenschaft und der Justiz und gegen jegliche auf ›absolute Normen‹ gestützte Instrumentalisierung des Rechts zu partikulären Zwecken. Es ist die faktische Relativität der Werte und Normen der Moral,30 die ihn vor dieser Gefahr warnen läßt. Das Recht muss vor Interessen geschützt werden, »die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können, auch wenn sie im besten Glauben, als Ideal einer Religion, Nation oder Klasse auftreten«.31 Die Reine Rechtslehre lehnt es »ab, irgendwelchen politischen Interessen dadurch zu dienen, daß sie ihnen die Ideologien liefert, mittels deren die bestehende gesellschaftliche Ordnung legitimiert oder disqualifiziert wird.«.32 Die Argumentationskette ist folgende: (i) Es gelten in Gesellschaften ganz unterschiedliche, einander widersprechende Moralsysteme; (ii) es gibt deshalb nur relative Moralwerte; (iii) die Forderung, Normen müßten gerecht sein, um als Recht angesehen zu werden, kann nur bedeuten, daß diese Normen etwas enthalten müssen, was allen Gerechtigkeitssystemen gemeinsam ist; (iv) allen gemein ist aber nur, daß sie Normen sind, die ein bestimmtes Verhalten als gesollt setzen; (v) »Dann ist, in diesem relativen Sinne, jedes Recht moralisch, konstituiert jedes Recht einen – relativen – moralischen Wert. Das heißt aber: die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral ist keine Frage nach dem Inhalt des Rechts, sondern eine Frage nach seiner Form«; (vi) wenn das Recht per definitionem moralisch ist, »dann hat es keinen Sinn, unter Voraussetzung eines absoluten Moralwertes die Forderung zu stellen, daß das Recht moralisch sein soll«; (vii) die Schlußfolgerung besteht in der Trennungsthese33 – »Trennung von Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit«: »Die unter Voraussetzung einer relativistischen Wertlehre erhobene Forderung, Recht und Moral und somit Recht und Gerechtigkeit zu trennen, bedeutet […], daß, wenn eine Rechtsordnung als moralisch oder unmoralisch, gerecht oder ungerecht bewertet wird, damit das Verhältnis der Rechtsordnung zu einem von vielen möglichen Moralsystemen und nicht zu ›der‹ Moral ausgedrückt und sohin nur ein relatives, kein absolutes Werturteil gefällt wird«.34 (viii) Fazit: Die Frage, die sich stellt, ist die »nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem ›idealen‹, ›richtigen‹ Recht«.35 18 | hans jörg sandkühler

Im Unterschied zu Kelsen ist sowohl für Gustav Radbruch als auch für Hermann Heller die Gerechtigkeit der Maßstab richtigen Rechts. Für Radbruch ist der Rechtsbegriff ausgerichtet an der Rechtsidee: »Die Idee des Rechts kann […] keine andere sein als die Gerechtigkeit.« Die Rede ist von einer Gerechtigkeit, die nicht »am positiven Recht, sondern an der das positive Recht gemessen wird«.36 Wenn moderne Gesellschaften durch Pluralismus und moralischen Relativismus gekennzeichnet sind, dann gibt Kelsen ein triftige Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Moral für das Recht. Und doch hat seine Variante des Rechtspositivismus eine Achillesferse, weil sie im Unterschied etwa zu H.L.A. Harts gemäßigter Version »a partial overlap between legal and moral obligations«37 nicht einräumt. Die an sich begrüßenswerte strikte Begrenzung der Rechtsordnung auf positiv-rechtliche Normen führt bei Kelsen auch zu fragwürdigen Ergebnissen wie dem, »daß die Ordnung der Sowjetrepublik ganz ebenso als Rechtsordnung begriffen werden soll wie die des faschistischen Italien oder die des demokratisch-kapitalistischen Frankreich«.38 Auch seine Forderung nach Aufhebung der Unterscheidung zwischen Recht und Staat ist problematisch: »Durchschaut man […] die Identität von Staat und Recht, begreift man, daß das Recht, das positive, mit der Gerechtigkeit nicht zu identifizierende Recht, eben dieselbe Zwangsordnung ist, als welche der Staat einer Erkenntnis erscheint, die nicht in anthropomorphen Bildern steckenbleibt, sondern durch den Schleier der Personifikation zu den durch menschliche Akte gesetzten Normen durchdringt, dann ist es schlechthin unmöglich, den Staat durch das Recht zu rechtfertigen.«39 Mit H. Hellers Staatslehre (1934) kann man Kelsen entgegenhalten: »Die Übereinstimmung eines staatlichen Aktes mit dem Gesetz, des Gesetzes mit der positivrechtlichen […] Verfassung kann immer nur Legalität, niemals rechtfertigende Legitimität begründen.«40 Und man kann G. Radbruchs Kritik beipflichten, der Positivismus sei »gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. Er glaubt, die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen zu haben, daß es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen. Aber auf Macht läßt sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen und Gelten gründen.«41 Über LegaMoral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 19

lität können auch autoritäre Regimes und Diktaturen verfügen. Ihre Legitimität aber bemisst sich nicht allein an dem Maßstab, dass sie eine Rechtsordnung haben. In dieser Perspektive hat sich mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt, Recht und Moral müssten sich ergänzen – und ergänzten sich de facto auch.

4. Moral und Recht – ein Ergänzungsverhältnis? »Kann« – fragt Jean-François Kervégan – »eine Rechtsgesellschaft ohne Rekurs auf moralische und politische ›substanzielle‹ Wahrheiten bestehen? Ist ein wertneutraler Positivismus fähig, die rechtliche […] Kohärenz einer pluralen Gesellschaft zu garantieren?«42 Jürgen Habermas gibt in Faktizität und Geltung (41994) eine Antwort, die ›Nein‹ zu lauten scheint. Im Kontext anderer seiner Schriften gelesen, klingt sie allerdings eher nach einem unentschiedenen ›Jein‹: »Dem positiven Recht bleibt, über die Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug zur Moral eingeschrieben. […] Die autonome Moral und das auf Begründung angewiesene positive Recht stehen […] in einem Ergänzungsverhältnis.« Habermas schränkt jedoch sofort ein: »Aber dieser Moralbezug darf uns nicht dazu verleiten, die Moral dem Recht im Sinne einer Normenhierarchie überzuordnen.«43 Im Rahmen seiner »funktionalen Erklärung« des Rechts erläutert er: »Das Recht abstrahiert erstens von der Fähigkeit der Adressaten, ihren Willen aus freien Stücken zu binden, und rechnet mit deren Willkür. Das Recht abstrahiert ferner von der lebensweltlichen Komplexität der jeweils berührten Handlungspläne und beschränkt sich auf das äußere Verhältnis der interaktiven Einwirkung von sozialtypisch bestimmten Aktoren aufeinander. Das Recht abstrahiert schließlich […] von der Art der Motivation und begnügt sich mit dem Effekt der wie immer zustandekommenden Regelkonformität des Handelns.«44 Für Habermas begründen diese Abstraktionen keine Schwäche des Rechts, die durch Moral behoben werden müsste: »Wenn man […] das demokratische Verfahren nicht (wie Hans Kelsen […]) positivistisch versteht, sondern als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität begreift, ent20 | hans jörg sandkühler

steht kein Geltungsdefizit, das durch ›Sittlichkeit‹ ausgefüllt werden müsste.«45 Als Zwischenbilanz bietet sich – bezogen auf das Ergänzungsverhältnis von Recht und Moral – eine Formulierung Peter Stemmers an, für den moralische ›Rechte‹ »soziale Artefakte«46 sind: »Moralische Forderungen stehen […] in einem rechtlichen Kontext, sie setzen ein rechtliches Beziehungsgefüge, eine rechtliche Ordnung voraus. Moralische Forderungen sind berechtigte Forderungen, ihnen liegt ein Recht zugrunde. Und dies bedeutet, dass ihnen ein Verpflichtetsein auf seiten derer, an die sich sich richten, entspricht.«47

5. Gründe für die Transformation moralischer Ansprüche in positives Recht 48 Moralische Ansprüche kann man geltend machen, sich selbst gegenüber und gegenüber Dritten. Aber wie können sie durchgesetzt werden?49 In seiner Theorie der Grundrechte antwortet Robert Alexy: »Als moralische Rechte können Menschenrechte zwar eingefordert werden, und es ist auch möglich, ihre Verletzung moralisch zu verurteilen, derartige Durchsetzungsinstrumente bestehen aber […] ›aus einem sehr ätherischen Material‹. Niemand wäre ›vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher‹. Wenn es ein moralisches, also gegenüber jedem begründbares Recht zum Beispiel auf Leben gibt, dann muß es auch ein gegenüber jedem begründbares Recht darauf geben, daß eine gemeinsame Instanz geschaffen wird, die jenes Recht durchsetzt. Andernfalls wäre die Anerkennung moralischer Rechte keine ernsthafte Anerkennung, was ihrem fundamentalen und vorrangigen Charakter widerspräche. Die zur Durchsetzung der Menschenrechte einzurichtende gemeinsame Instanz ist der Staat. Es gibt also ein Menschenrecht auf den Staat. Durch die Einrichtung eines Staates als Durchsetzungsinstanz werden die moralischen Rechte, die die einzelnen gegeneinander haben, in inhaltsgleiche Rechte des positiven Rechts transformiert. Zusätzlich entstehen als neue Rechte die Rechte der einzelnen gegen den Staat auf Abwehr, Schutz und Verfahren.«50 Auch überstaatliche Einrichtungen können Durchsetzungsinstanzen sein: Beispiele sind die Nürnberger KriegsverbrecherproMoral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 21

zesse oder UN-Kriegsverbrechertribunale. Den Umkehrschluss, dass es im Falle der Nicht-Durchsetzbarkeit auch keine keine Begründbarkeit moralischer Ansprüche gäbe, legt Alexy nicht nahe. Moralische Ansprüche wie das Recht auf Leben bleiben auch dann legitim, wenn sie – wie im Falle z. B. von Völkermord – nicht rechtlich durchsetzbar sind. Der Perspektivenwechsel von individueller Moralität zum Rechtstaat als dem Garanten legitimer moralischer verrechtlichter Ansprüche gründet im Misstrauen sowohl in die Bedeutung als auch in die Durchsetzbarkeit moralischer Ansprüche. Der tiefste Grund und das triftigste Argument für die Notwendigkeit der Transformation moralischer Ansprüche in positives Recht ergeben sich – seit der Anthropologie und politischen Philosophie der Moderne, seit Hobbes, Locke und Kant – aus der fehlenden Sicherheit, dass die Moralität der Menschen eine hinreichende Grundlage für die Achtung von Gleichheit und Freiheit aller sowie friedlichen und gerechten Zusammenlebens ist. Ganz offensichtlich ist das Recht die Form, mit der wir selbst unserer moralischen Willkür Rechnung tragen. Habermas trifft den Kern dieses Problems: »Das Rechtssystem entzieht den Rechtspersonen in ihrer Adressatenrolle die Definitionsmacht für die Kriterien der Beurteilung von Recht und Unrecht. Unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität von Recht und Moral bedeuten das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren, die gerichtlich institutionalisierte Entscheidungspraxis und die professionelle Arbeit einer Rechtsdogmatik, die Regeln präzisiert und Entscheidungen systematisiert, für den Einzelnen eine Entlastung von den kognitiven Bürden der eigenen moralischen Urteilsbildung.«51 Diese These zur Funktion des Rechts bedeutet keine moralische Entlastung der Handelnden, sondern stellt in Rechnung, dass in normativer Perspektive subjektiven moralischen Präferenzen im Rechtsstaat insofern keine ›Definitionsmacht für die Kriterien der Beurteilung von Recht und Unrecht‹ zukommen kann, als de facto eine mit den Menschen- und Grundrechten konforme moralischen Urteilsbildung aller nicht gegeben ist. Es ist deshalb nicht recht einzusehen, warum Habermas dennoch darauf besteht, »das einklagbare positive Recht als funktionale Ergänzung zur Moral aufzufassen«. Angesichts des tatsächlichen Zustands individualisierter moralischer Einstellungen ist 22 | hans jörg sandkühler

zwar die von ihm wiederholt variierte These plausibel, das Recht habe die notwendige Funktion, »die urteilenden und handelnden Personen von den […] Anforderungen einer auf das subjektive Gewissen umgestellten Moral« zu entlasten. Aber seine Schlußfolgerung »Politik und Recht [sollen] mit der Moral – auf einer gemeinsamen nachmetaphysischen Begründungsbasis – doch in Einklang stehen«52, ist so lange problematisch, wie nicht geklärt ist, auf welche Moral sich das Recht beziehen könnte, wenn es zugleich die Funktion der Entlastung von den ›Anforderungen einer auf das subjektive Gewissen umgestellten Moral‹ hat.

6. Verrechtlichung J. Habermas’ Feststellung, das Rechtssystem entziehe ›den Rechtspersonen in ihrer Adressatenrolle die Definitionsmacht für die Kriterien der Beurteilung von Recht und Unrecht‹ betrifft nicht nur das Verhältnis von Moral und Recht, sondern ist auch als eine Bilanz des historischen Prozesses der Verrechtlichung zu verstehen. Durch sie werden in modernen Staaten die Lebensbereiche der Individuen zunehmend durch Gesetze, Verordnungen, Erlasse etc. reguliert. Verrechtlichung war und ist (i) Gegenwehr gegen absolutistische bzw. autoritäre politische Willkür und (ii) eine Reaktion darauf, dass Menschen geneigt sind, sich auch dann subjektiv moralisch ›berechtigt‹ zu fühlen, wenn sie, wie Militärs in nicht erklärten, völkerrechtlich nicht legitimierten und ›Kollateralschäden‹ bei Zivilisten verursachenden Kriegen unter Missachtung des Völkerstrafrechts zu töten befehlen, wenn sie, wie ein deutscher Innenminister, im ›Kampf gegen den Terrorismus‹ ein Luftsicherheitsgesetz planen, das vom Bundesverfassungsgericht als Verletzung der Menschenwürde verworfen wird53, wenn sie, wie ein Frankfurter VizePolizeipräsident, mit Folter drohen zu dürfen glauben und wegen Verleitung Untergebener zu schwerer Nötigung angeklagt werden müssen54 usf. Die Verrechtlichung moralischer Einstellungen muss in der menschenrechtlich legitimierten Demokratie Verrechtsstaatlichung nach sich ziehen. Verrechtlichung spiegelt das Janus-Gesicht der Demokratie: Die Demokratie beschränkt einerseits wie keine andere Herrschaftform Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 23

den Raum des Nicht-Politischen und bezieht das ›private Leben‹ in das ›öffentliche Leben‹ ein,55 andererseits transformiert sie das Politische in die Form des Rechts, das die Personen als Rechtspersonen von moralisch-politischen Entscheidungen entlastet. Verrechtlichung umspinnt das Politische mit einem Kokon, und es entsteht der Eindruck, dass sich das Private unter dem Schutz des Rechts im Windschatten des Politischen, in Ruhe vor politischen Stürmen entfalten kann. Verrechtlichung trägt einerseits realistisch unterstellten moralischen Defiziten und mangelnder Urteilsfähigkeit der in Gesellschaft Handelnden Rechnung; sie zieht andererseits aber auch nach sich, dass politische Entscheidungen auf die rechtliche Ebene verlagert, d. h. nicht politisch entschieden, sondern durch Rechtssetzung und Rechtsinterpretation gelöst werden. Gegen diesen Prozess regt sich zivilgesellschaftlicher Widerstand im Interesse einer effektiven Kontrolle der Institutionen in der Demokratie.56 Ob Verrechtlichung aufgrund der ständig anwachsenden Anzahl von regulierenden und reglementierenden Rechtsnormen zu Fremdheit gegenüber der Rechtskultur, zu Überdruss am Recht, zum Verlust von Rechtsbewusstsein und dazu beiträgt, dass sich Individuen moralisch gegen das Recht ›berechtigt fühlen, kann vermutet, aber hier nicht erörtert werden. Heute ist über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus eine zunehmende Verrechtlichung internationaler Beziehungen und die Verlagerung von Entscheidungen in internationale Schiedsorgane festzustellen. Auf diese Supranationalisierung reagieren einerseits verstärkte Forderungen gesellschaftlicher Akteure nach Beteiligung an der Rechtssetzung; andererseits provoziert sie auch eine Gegenbewegung gegen eine rechtliche Überregulierung, die die politischen Handlungsspielräume öffentlicher und privater Akteure einschränkt, und gegen die tendenzielle Entpolitisierung von Interessenkonflikten.

7. Das Menschenrechte-Recht als allgemeine Moral Was bedeuten die bisherigen Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Moral für die Menschenrechte und deren internationale Verrechtlichung? Man mag es bedauern oder nicht: Weil es die Mo24 | hans jörg sandkühler

ral mit legitimem allgemeinen Geltungsanspruch in pluralistischen Gesellschaften nicht gibt, wenn nicht in Gestalt allgemeinen gleichen Rechts, kommt dem internationalen Menschenrechte-Recht auch innerstaatlich eine immer größere Bedeutung zu. Institutionen der Gesellschaft, des Rechts und des Staates können für alle verbindliche, Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit garantierende Normen nicht aus privaten Moralvorstellungen begründen, die in Konkurrenz existieren und deren allgemeine Akzeptanz gar nicht erwartet werden könnte. Mit einer Formulierung Georg Mohrs: »Nicht diese oder jene Moral, sondern die Idee des Rechts als wechselseitige Anerkennung von Personalität und damit von Sphären der Manifestation von selbstbestimmter Freiheit ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die Begründung von Menschenrechten. Diese sind zu verstehen als grundlegendste Rechte derart, dass nur unter ihrer Voraussetzung überhaupt Menschen als Rechtssubjekte und damit als Menschen betrachtet werden.«57 Menschen sind Rechtssubjekte; sie werden es nicht dadurch, dass ihnen ihre Rechte von Staaten verliehen werden. Die oben erwähnte These E. Tugendhats, dass Menschenrechte ›wie alle Rechte nur verliehene Rechte sein‹ können, ist gewiss gegenüber metaphysisch-naturrechtlichen Rechtsbegründungen berechtigt. Aber wer ›verleiht‹ sie? Wenn Tugendhat dies dem Staat zuschreibt, dann übersieht er, dass (i) ›verliehene Rechte‹ auch entzogen werden können, dass eine solche Prämisse (ii) die Menschenrechte als negative Freiheitsrechte, als Abwehrrechte gegen den Staat, schwächt, und (iii) Menschenrechte so zu Staatsbürgerrechten werden. Als Ausweg zwischen der Skylla des metaphysischen Naturrechts und der Charybdis eines Recht und Moral trennenden ›harten‹ Rechtspositivismus bietet sich ein ›transzendentales‹ Argument im Sinne der Kelsenschen Begründung der ›Grundnorm‹ an, die zwar kein empirisches Korrelat hat, aber als transzendentale Voraussetzung der Begründung der Verfassung und des Rechtssystems gemacht werden muss: Die Menschen gewähren sich die Menschenrechte wechselseitig vorstaatlich, und diese universellen Rechte existieren juxtastaatlich. Das Muster eines solchen Arguments findet sich bei Kant: »Vor aller wirklichen Herrschaft aber und Unterwerfung muß ein Recht der Menschen vorhergehen, nach welchem sie ursprünglich möglich ist.« Bei Kant handelt es sich nicht um ein transzendentales, sondern um ein konMoral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 25

traktualistisches Argument, das ich nicht übernehme: »Dieses kan kein anderes seyn, als daß alle Unterworfen sind allen zusammen genommen: weil nur so eines jeden freyheit mit seiner subiection durchgängig zusammenstimmen kann. Also muß alles Gemeine wesen von einem idealen ursprünglichen Contracte als abgeleitet angesehen werden.«58 Meine bilanzierende These lautet: Normen, die die ›klassischen‹ Ansprüche auf Gleichheit und Freiheit sowie die in der 2. und 3. Generation der Menschenrechte formulierten Ansprüche auf Gerechtigkeit, Partizipation, Solidarität und selbstbestimmte Entwicklung sichern, können nur Rechtsnormen sein. Ich spreche nicht von irgendwelchen Rechtsnormen, sondern vom Normensystem der positivierten Menschenrechte, das Legalität und Legitimität vereint, und von den Grundrechten der Verfassung. Dieses Normensystem verschafft der Demokratie eine Legitimationsbasis, die im ›Majorat‹ – dem Mehrheitsprinzip – allein nicht mehr gegeben ist;59 die Menschen- und Grundrechte sind in ihrer positivierten Form der Maßstab zur Beurteilung der Akzeptabilität von Mehrheitsentscheidungen. Diese Rechtsnormen sind der Spiegel einer universalisierbaren und universalisierten Moral – sie sind ›die‹ Moral, die in der gegenwärtigen Welt den breitest möglichen Konsens auf sich vereinigt. Dieses Recht, das zugleich Moral ist, gilt für alle, weil es gegenüber Ideologien, Weltanschauungen, Religionen und daraus abgeleiteten subjektiven, partikulären Präferenzen neutral ist. In diesem Sinne ist Habermas’ Feststellung zutreffend: »Die Menschenrechte tragen ein Janusgesicht, das gleichzeitig der Moral und dem Recht zugewandt ist.«60 Als Rechtsnormen, in denen Legalität und moralisch begründete Legitimität zusammenfallen, gebieten die Menschenrechte ein bestimmtes Verhalten und dem Verstoß gegen sie sollen Sanktionen folgen. Sie können ein rechtskonformes Verhalten gebieten und auf Akzeptanz rechnen, weil sie insgesamt Konkretisierungen der Norm der Achtung der Menschenwürde61 sind. Menschenwürde ist ein moralischer Wert, der einen Schutzanspruch begründet. Ihre Unantastbarkeit wird aber erst im un-bedingten Rechtssatz ausgesprochen, der eine alle Rechte begründende Funktion hat; er begrenzt nicht nur die staatliche Gewalt, sondern fordert den Staat 26 | hans jörg sandkühler

als Rechts- und Sozialstaat ein, der auch Teilhaberechte und soziale Gewährleistungssrechte garantieren muss. Kein moralischer Anspruch, kein vermeintliches ›moralisches Recht‹, kein juridisches Recht kann gegen die Menschenwürde abgewogen werden. Für das deutsche Verfassungsrecht wegweisend hatte bereits 1956 Günter Dürig die Frage, was den Schutz der Menschenwürde ausmacht, aufgrund der Erfahrungen mit Unrechtssystemen im 20. Jahrhundert mit der kantianischen ,Objektformel‹ ex negativo (vom Eingriff her) beantwortet: »Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.«62 Es verstößt gegen die Menschenwürde, wenn der Mensch einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Die Menschenwürde ist verletzt durch Folter, Sklaverei, Ausrottung bestimmter Gruppen, Geburtenverhinderung oder Verschleppung, Unterwerfung unter unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung, Brandmarkung, Vernichtung so genannten unwerten Lebens oder durch Menschenversuche. In der 42. Ergänzungslieferung (Februar 2003) zum Grundgesetz-Kommentar von Maunz/Dührig hat Matthias Herdegen eine Neukommentierung des ursprünglich von G. Dürig bearbeiteten Art. 1 Abs. 1 GG verfaßt. Für Dürig war die Garantie der Menschenwürde ein »sittlicher Wert«, ein »naturrechtlicher Anker« vor dem positiven Verfassungsrecht, um das Achtungs- und Schutzgebot der Menschenwürde als unantastbar und keinen Abwägungen zugänglich zu begründen. Dem widerspricht Herdegen mit Gründen, die ich teile: »Für die staatsrechtliche Betrachtung sind […] allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich. Wer dies bestreitet, kann nur auf das Hohepriestertum seiner höchstpersönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen. Verfassungsauslegung mit prognostizierbaren Ergebnissen lässt sich so nur in einer religiös und weltanschaulich homogenen Gemeinschaft erreichen – oder mit Intoleranz gegenüber allen, denen der rechte Zugang zu den Gewissheiten einer überpositiven Wertordnung versagt ist.«63 Die Schlußfolgerungen, die Herdegen bezüglich des Status und der Funktion der Menschenwürdenorm zieht, ergeben sich allerdings Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 27

hieraus nicht: »Im Gefüge der grundrechtlichen Wertordnung sichern die Position an der Spitze des Grundrechtsteils, die Erklärung zum ›unantastbaren‹ Rechtsgut, die explizite Schutzpflicht (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) und die grundsätzliche Tabuisierung nach Art. 79 Abs. 3 GG eine herausgehobene Wertigkeit. Dieser besondere Rang ist aber nicht mit absoluter Dominanz gegenüber anderen Grundrechtswerten gleichzusetzen.«64 Als Verfassungsnorm auf gleicher Ebene wird das Menschenwürdeprinzip ohne klar definierte Grenzen für Abwägungen und Angemessenheitsgesichtspunkte geöffnet. Die Menschenrechte und die Grundrechte konkretisieren diesen Rechtssatz in ihrer Einheit: Politische, soziale, ökonomische und kulturelle Rechte sind nicht zur Auswahl im Angebot; sie gelten in ihrem Gesamtzusammenhang. Soll gegen die so verstandenen Rechte nicht verstoßen werden, so müssen sie Element und Maß der unter Bedingungen pluraler Gesellschaften und der Pluralität der Kulturen jeweils lebensweltlich präferierten Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen sein, d. h. der individuellen Moral. Hiervon sind wir noch weit entfernt. Wir werden hiervon noch weit entfernt bleiben, wenn die Menschenrechts- und Moralbildung in unseren Institutionen weiterhin marginalisiert bleibt und solange sich auf der Ebene des Politischen Individuen anmaßen festzulegen, was gut oder böse und was ein ›gerechter Krieg‹ gegen ›das Böse‹ ist. Die zunehmende Re-Moralisierung der Menschenrechte, die u. a. ein Recht auf gewaltsame Prävention rechtfertigen soll, ist verhängnisvoll. »Ein entsprechend weit gefasstes Verständnis von ›Prävention‹«, schreibt Erhard Denninger, »verbunden mit der militärischen Überlegenheit zu ihrer Durchsetzung und verknüpft mit der moralischen Gewissheit, dass die eigene Sache die Sache des Guten ist, lässt das rechtliche Gewaltverbot, lässt überhaupt alle rechtlichen Regeln zur Eindämmung internationaler Gewaltanwendung leer laufen. Ein solcher moralisch abgestützter machtrealistischer Unilateralismus tendiert dazu, die ganze Welt moralisch binär zu codieren, und er entwickelt entsprechend missionarische Züge.«65

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Anmerkungen

Vgl. die Beiträge von J.-F. Kervégan und G. Mohr in diesem Band. Für Kritik und Anregung zu meinen Überlegungen danke ich Gerd Sandkühler. 2 Vergleichbare Urteile sind aus anderen Ländern bekannt. Vgl. z. B. http:// jurist.law.pitt.edu/paperchase/2009/03/new-york-appeals-court-rules-parents.php. 3 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Fassung des Protokolls Nr. 11 samt Zusatzprotokoll und Protokolle Nr. 4, 6, 7, 12 und 13). 4 1. Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl. 1958/210. 5 Affaire Lautsi c. Italie (Requête no 30814/06). http:// cmiskp.echr.coe.int/ tkp197/view.asp?action=html&documentId=857724&portal=hbkm&source= externalbydocnumber&tabl. 6 Der EGMR ist keine Berufungs- oder Revisionsinstanz; er prüft nur die Verletzung der in der EMRK verbürgten Rechte, d. h. ob diese in der Entscheidung einer nationalen Behörde oder eines Gerichts, verkannt worden sind, ihre Geltung keine hinreichende Würdigung erfahren hat oder sie falsch ausgelegt worden sind. 7 NZZ Online, 7. 11. 2009. http://www.nzz.ch/nachrichten/international/ wir_behalten_das_kruzifi x_1.3980255.html. Abruf 8. 11. 2009. 8 Vgl. hierzu ausführlich H.J. Sandkühler, Menschenrechte. In: ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. in 3 Bdn., Bd. 2, Hamburg 2010. 9 S. Gosepath, Zu Begründungen sozialer Menschenrechte. In: ders./ G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1998, S. 149 f. 10 S. Gosepath, Der Sinn der Menschenrechte. In: G. Lohmann/ S. Gosepath/ A. Pollmann/ C. Mahler/ N. Weiß, Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? Studien zu Grund- und Menschenrechten, Heft 11, Potsdam 2005, S. 23. 11 Ebd., S. 24. 12 E. Tugendhat, Moralbegründung und Gerechtigkeit. Vortrag und Kolloquium in Münster 1997, hg. v. M. Willaschek, Münster 1997, S. 5. 13 Vgl. H.J. Sandkühler, Menschenwürde und die Transformation moralischer Rechte in positives Recht. In: ders. (Hg.), Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, Frankfurt/M. et al. 2007. 14 E. Tugendhat, Die Kontroverse um die Menschenrechte. In: ders., Aufsätze 1992 bis 2000, Frankfurt/M. 2001, S. 27. 15 W. Lienemann, Recht und Moral. Unterschiedlich, aber aufeinander bezogen. In: Neue Zürcher Zeitung, Staatspolitisches Forum, Mittwoch, 17.04.2002, Nr. 88, S. 16. 16 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946). In: ders., 1999 [1932], Rechtsphilosophie. Studienausgabe. Hg. v. R. Dreier/ S.L. 1

Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 29

Paulson, Göttingen, S. 215 f. (Hervorh. von mir.) Radbruchs Prinzip hat in Art. 7 der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (in der Fassung des Protokolls Nr. 11 vorn 11. Mai 1994) Eingang gefunden: »Art. 7 Keine Strafe ohne Gesetz. (1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. (2) Dieser Artikel schließt nicht aus, daß jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.« 17 BVerfGE 3, 225 (323). 18 H. Kelsen, H., 1985 [1934], Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1. Aufl. Mit Vorw. zum Neudruck v. S.L. Paulson, Aalen 1985, S. 15. Im folgenden ist die 1. Aufl. der Reinen Rechtslehre (1934, Kelsen 1985) mit (RR I), die 2. Aufl. (1960) mit (RR II) bezeichnet. 19 U. Wesel, Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht, Frankfurt/M. 1993, S. 47. Zur Begriffs- und Problemgeschichte von ›Moral und Recht‹ vgl. auch J.-F. Kervégan, Moral und Recht. In: H.J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. in 3 Bdn., Bd. 2, Hamburg 2010. 20 Th . Maunz/ G. Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, Art. 1–12, Lieferungen 1–31, München 1994, Rdnr. 15. 21 Ebd., FN 2. 22 W. Lienemann, Recht und Moral., a. a.O. 23 K. Seelmann, Rechtsphilosophie, München 1994, S. 38. 24 D. Horster, Recht und Moral: Analogie, Komplementaritäten und Differenzen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 51. Jg. (1997). 25 Vgl. zu Feinberg den Beitrag von J.-F. Kervégan in diesem Band. 26 Vgl. Feinberg, In Defense of Moral Rights: Their Bare Existence. In: ders., Freedom and Fulfillment. Philosophical Essays, Princeton, N.J., 1992, S. 196. 27 Vgl. ebd., 200 f. 28 Vgl. ebd., S. 215 f. 29 H. Kelsen, Reine Rechtslehre. Zweite, vollst. neu bearb. und erw. Aufl . 1960, Nachdruck, Wien 1992 (RR II), S. 204. 30 Ebd., S. 18: Die »von Menschen und nicht von einer übermenschlichen Autorität gesetzten Normen« konstituieren »nur relative Werte«. Vgl. ebd., S. 65 ff.: ›Relativität des Moral-Wertes‹. 31 Kelsen RR I, S. XI. 32 Ebd., S. 17; vgl. S. 36 f. 33 Vgl. H.L.A. Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral. In: ders., Recht und Moral. Drei Aufsätze, Göttingen 1971. 34 Kelsen RR II, S. 66–69. Zum Problem der Gerechtigkeit vgl. RR I, S. 12 ff., 30 | hans jörg sandkühler

RR II, S. 60–71 und H. Kelsen, H., 2000 [1953], Was ist Gerechtigkeit? (1953) Nachw. v. R. Walter, Stuttgart 2000. 35 Ebd., S. 112. 36 Radbruch, Rechtsphilosophie, a. a.O., S. 34 f. Vgl. H. Heller, Staatslehre (1934), in d. Bearb. v. G. Niemeyer, 6, revid. Aufl., Tübingen 1983, S. 246 ff.; zum Problem des Verhältnisses von Recht und Ethik vgl. ebd., S. 218 ff. 37 H.L.A. Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford/New York 1983, S. 55. 38 Kelsen RR I, S. 64. 39 Ebd., S. 319 f. (Hervorh. von mir.) Zur Auseinandersetzung mit Kelsens Identitätsthese vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, a. a.O., S. 170: »Die Identitätslehre hat rein defi nitorisch-analytische Bedeutung, aber keinerlei rechtsphilosophisch-politischen Gehalt.« 40 Heller, Staatslehre, a. a.O., S. 250 f. 41 Radbruch, Rechtsphilosophie, a. a.O., S. 215. 42 Kervégan, Moral und Recht, a. a.O. 43 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 41994, S. 137. Vgl. ders., Recht und Moral (Tanner Lectures 1986). In: Ebd. 44 Ebd., S. 143. 45 J. Habermas/ J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorw. hg. v. F. Schuller, Freiburg/Brsg. 2005, S. 18–20. 46 Vgl. P. Stemmer, Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Untersuchung, Berlin 2000. 47 P. Stemmer, Moralische Rechte als soziale Artefakte. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), S. 73 48 Zur historischen Entwicklung dieser Gründe vgl. H.J. Sandkühler, Menschenwürde und die Transformation moralischer Rechte in positives Recht, a. a.O. 49 Ich spreche hier ausschließlich von solchen moralischen Ansprüchen, deren Verwirklichung – wie bei den Grundrechten – rechtlicher Durchsetzung bedarf, nicht aber z. B. von sog. Naturalobligationen, d. h. Rechten ohne Durchsetzbarkeit. Typische Beispiele sind verjährte Forderungen sowie Spielund Wettschulden. Sie können nicht auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden, bilden aber, wenn sie erfüllt werden, einen Behaltensgrund. 50 R. Alexy, 1998, Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat. In: S. Gosepath/ G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1998, S. 254 f. 51 Habermas, Faktizität und Geltung, a. a.O., S. 147; vgl. S. 110. 52 J. Habermas, Nachwort zur vierten, durchgesehehen und um ein Literaturverzeichnis ergänzten Auflage. In: ders., Faktizität und Geltung, S. 667 f. 53 BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006, Absatz-Nr. (1–156). In den Leitsätzen zum Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 heißt es: »3. Die ErmächtiMoral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung | 31

gung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luft fahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luft fahrzeugs betroffen werden.« 54 Schuldspruch der 27. Großen Strafk ammer des Landgerichts Frankfurt/M. am 20. Dezember 2004. 55 J.-F. Kervégan, Quelques difficultés relatives à la démocratie et aux droits de l’homme. In: La dignité humaine. Perspectives transculturelles. Hg. v. J. Poulain/ H.J. Sandkühler/ Fathi Triki, Frankfurt/M. 2009, S. 186 f. 56 Vgl. P. Rosanvallon, La contre-démocratie : La politique à l’âge de la défiance, Paris 2006. 57 G. Mohr, Sind die Menschenrechte auf ein bestimmtes Menschenbild festgelegt? Plädoyer für eine Umkehr der Beweislast. In: In: H.J. Sandkühler (Hg.), Menschenrechte in die Zukunft denken. 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Baden-Baden 2009, S. 75 f. Vgl. auch den Beitrag von G. Mohr in diesem Band. 58 Kant, Reflexionen. Aus dem Nachlass 1780–1789. In: AA XIX, Reflexion 7974. 59 Vgl. P. Rosanvallon, Demokratische Legitimität: Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe, Hamburg 2010. 60 J. Habermas, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte. In: Brunkhorst, H./ W.R. Köhler/ M. Lutz-Bachmann (Hg.), 1999, Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt/M. 1999, S. 216–219. 61 Vgl. H.J. Sandkühler (Hg.), Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, Frankfurt/M. 2007. 62 G. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art 19 Bs. II des GrundgesetzeS. In: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 81, 1956, S. 127. 63 Herdegen in Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 1 Abs. 1, Rdnr. 17. 64 Ebd., Rdnr. 22. 65 Denninger, E., 2005, Recht, Gewalt und Moral – ihr Verhältnis in nachwestfälischer Zeit. Ein Bericht. In: Kritische Justiz, Heft 4/2005, S. 362 f.

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– Dietmar von der Pfordten –

Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik

Recht, Moral und Ethik sind anders als etwa Pflanzen oder Planeten keine natürlichen, sondern ›soziale Dinge bzw. Tatsachen‹, oder besser, weil etwas weiter und damit auch die idealischen Konstruktionen der Ethik umfassend: ›menschliche Gestaltungen‹ – zumindest sofern man ein mögliches göttliches Recht oder Naturrecht ausklammert. Dieses Charakteristikum einer grundsätzlichen sozialen bzw. menschlichen Gestaltung von Recht, Moral und Ethik hat zwei Folgen, eine ›tatsächliche‹ und eine ›erkenntnisorientierte‹. Die ›tatsächliche‹ Folge besteht darin, dass Recht, Moral und Ethik sich mit menschlichen Lebensformen und Gesellschaften entwickeln, das heißt vor allem differenzieren. Die ›erkenntnisorientierte‹ Folge besteht darin, dass wir Recht, Moral und Ethik anders als rein natürliche Tatsachen nicht verstehen können, ohne die ›Ziele‹ einzusehen, die ihre ›menschlichen Urheber‹ mit ihnen verfolgen. Die Differenzierung von Recht, Moral und Ethik sowie weiterer normativer Phänomene wie Konventionen und technische Normen im Sinne der ersten, tatsächlichen Folge ist ein kontinuierlicher Prozess im Verlauf der Jahrtausende. Aber man kann innerhalb dieses Kontinuums vielleicht ›drei große Wellen oder Stufen‹ unterscheiden. Sie werden im Fortgang des Vortrags skizziert, um eine Antwort auf die hier zu untersuchende konkretere Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit ›moralischer Rechte‹ zu gewinnen: Eine erste ›legitimatorische‹ Welle ergab sich mit dem Auseinandertreten primärer, notwendig faktischer Verpflichtungen und sekundärer, auch idealischer Rechtfertigungen bzw. Legitimationen. Eine zweite ›instrumentelle‹ Welle lag dann in der Differenzierung verschiedener primärer Normordnungen wie Moral, Recht, Konventionen usw. Eine dritte ›zuordnend-individualisierende‹ Welle fixierte schließlich den Legitimationsgrund bzw. die Quelle der Normen in den jeweils begünstigten Individuen. Dies geschah über | 33

die Zuschreibung subjektiver individueller Rechte. Diese drei Wellen werden nun nacheinander dargestellt.

1. Die erste Welle bzw. Stufe der Differenzierung von primärer Verpflichtung (nómos) und sekundärer Rechtfertigung (Ethik) Die erste, gleichsam vertikale legitimatorische Welle des Auseinandertretens von primärer Verpflichtung und sekundärer Rechtfertigung unseres Handelns durch eine normative Ethik lässt sich in der Blütezeit der klassischen griechischen Kultur, also von den Epen Homers des 9. und 8. Jahrhunderts v. Chr., bis hin zu den philosophischen Texten Platons und Aristoteles’ im 4. Jahrhundert v. Chr. lokalisieren. In den homerischen Epen ist der normative Zentralbegriff noch derjenige der ›thémis‹.1 ›Thémis‹ meint ungeschieden sowohl die primäre Verpflichtung bzw. schicksalhafte Fügung als auch die Göttin der Gerechtigkeit und Ordnung als Mitglied des vorolympischen Titanengeschlechts, Tochter des Uranos und der Gaia,2 und damit die sekundäre Rechtfertigung, welche sich aus der Göttlichkeit des Ursprungs der Verpflichtung ergibt. Diese Identität von Verpflichtung und Rechtfertigung wird – das ist wesentlich – nun mit der Begriffsverschiebung vom alten Begriff ›thémis‹ zum neuen Begriff ›nómos‹ getrennt. Der Begriff ›nómos‹ konnte sowohl den Brauch, das Herkommen, die Sitte als auch die alten Gesetze sowie die Willkürmaßnahmen der Obrigkeit und die neuen, von Menschen geschaffenen Gesetze der Polis meinen, wobei allerdings der Hauptakzent eher auf der Verpflichtung als der Bewertung lag.3 Es gibt aber – und dies ist der entscheidende Punkt dieser Begriffsverschiebung von ›thémis‹ zu ›nómos‹ und damit der ersten Differenzierungswelle – im Gegensatz zur thémis keinen Gott ›nómos‹, so dass sich beim ›nómos‹ anders als bei der ›thémis‹ notwendig die Frage nach der ›externen Legitimation‹ der Verpflichtung stellt. Und diese Frage wird insbesondere in den Schriften von Platon und Aristoteles ausgiebig erörtert. Ein Beispiel ist etwa der platonische Dialog Gorgias, in welchem der Sophist Kallikles die Rechtfertigung des ›nómos‹ auf die natürliche Stärke und Konkurrenzfähigkeit stützen will,4 während Platon sie im Guten bzw. später in der Idee des Guten verankert sieht.5 34 | dietmar von der pfordten

Zur Kennzeichnung der Frage nach der externen Rechtfertigung von Verpflichtungen taucht nun auch zum ersten Mal der Begriff der ›Ethik‹ auf. Ethik

nómos Dem Begriff der Ethik liegen zwei griechische Begriffe bzw. Worte zu Grunde, die sich nur im Anlaut unterscheiden: ›éthos‹ (gr. mit kurzem Epsilon), das enger Gewohnheit, Sitte, Brauch, Übung bedeutet, und ›ethos‹ (gr. mit langem Eta), das gewöhnlicher Aufenthaltsort, Wohnsitz, Standort, Heimat, dann aber auch Gewohnheit, Brauch, Sitte und schließlich Charakter, Denkweise, Sinnesart und sittliche Beschaffenheit meint.6 Bei Aristoteles findet sich soweit ersichtlich zum ersten Mal der Ausdruck ›ethische Theorie‹, ›ethikes theorías‹.7 Er spricht des Weiteren von ›ethischen Büchern‹, ›en tois ethikois‹.8 Und in der Magna Moralia, der dritten Schrift zur Ethik, die Aristoteles zugeschrieben wird, deren Autorschaft allerdings umstritten ist, taucht auch der Ausdruck ›ethische Sachen‹, ›ethiké pragmateia‹ auf.9 Aristoteles hat demnach bereits klar zwischen den in der Realität vorkommenden Normen, also in moderner Bezeichnung den tatsächlich bestehenden primären Regelungen, etwa moralischen, rechtlichen, religiösen oder politischen Normen auf der einen Seite, und der sekundären theoretischen Reflexion bzw. Begründung und Kritik dieser tatsächlich bestehenden Normen, eben der Ethik, auf der anderen Seite unterschieden. Aristoteles ist auch der erste, von dem wir mehrere zu verschiedenen, klar abgegrenzten wissenschaftlichen Disziplinen verfasste Schriften haben. Dabei ist im Titel ›theoría‹, ›pragmateía‹ oder ›téchne‹ fortgelassen, so dass die entsprechenden adjektivischen Abkürzungen dann später zur Politik, zur Physik, zur Rhetorik und eben auch der Ethik, nämlich zur Nikomachischen Ethik und Eudemischen Ethik werden konnten, und zwar als Buchtitel wie Disziplinbezeichnungen. Ob die ursprünglichen griechischen Titel in abgekürzter oder gar vollständiger Form jeweils von Aristoteles selbst stammen oder von späteren Schülern des Peripatos bzw. Herausgebern der Schriften Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik | 35

des Aristoteles, wie Andronikos von Rhodos, hinzugefügt wurden, ist ungewiss. Bei Cicero findet sich, soweit ersichtlich, dann zum ersten Mal das lateinische Äquivalent des Wortes ›Ethik‹: ›philosophia de moribus‹, das schließlich zu ›philosophia moralis‹ wurde.10 Der Begriff der ›Ethik‹ bzw. ›Moralphilosophie‹ steht damit seit beinahe zweitausend Jahren für eine reflektierende, in weitergehender Form dann auch wissenschaftliche Beschäftigung mit der Moral und anderen primären Sozialnormen, das heißt für eine theoretische, durchaus aber auch praktisch relevante Analyse, Kritik und Rechtfertigung tatsächlicher sozialer Regelungen. Hunderte von Kommentaren zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles und andere Werke zur Theorie der Moral bzw. des Rechts wurden seitdem als ›Ethik‹ tituliert.11 Der Neuaufbruch der Wissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert brachte es allerdings mit sich, dass viele Autoren wie Hobbes, Locke, Descartes und Leibniz ihren moralphilosophischen Überlegungen nicht mehr den Titel ›Ethik‹ gaben. Dies geschah vermutlich, um zu verdeutlichen, dass sie ganz anders vorgehen wollten, als Aristoteles dies getan hatte. Nur Spinoza hat noch eine Ethica verfasst. Diese enthält jedoch eine umfassende Philosophie der Welt einschließlich einer Metaphysik bzw. Ontologie. Kant nennt seine Bücher zur Moralphilosophie dann nicht mehr ›Ethik‹, sondern Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kritik der praktischen Vernunft und Metaphysik der Sitten. Allerdings beginnt er die erstgenannte Schrift mit folgenden Worten:12 »Die alte griechische Philosophie teilte sich in drei Wissenschaften ab: Die Physik, die Ethik, und die Logik. Diese Einteilung ist der Natur der Sache vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu verbessern, als nur das Prinzip derselben hinzu zu tun, um sich auf solche Art teils ihrer Vollständigkeit zu versichern, teils die notwendigen Unterabteilungen richtig bestimmen zu können.« Auch Fichte spricht nicht mehr von einer ›Ethik‹, sondern von einer ›Sittenlehre‹, und Hegel schreibt ein Buch mit dem Titel Grundlinien der Philosophie des Rechts, das unter anderem die Moral zum Gegenstand hat. Aber im 19. Jahrhundert beginnt in allen Sprachen eine Renaissance des Disziplinen- und Buchtitels ›Ethik‹, die bis heute andauert. Es war offensichtlich zu diesem Zeitpunkt klar, dass man die Theorie der Moral als Gegenstand traktie36 | dietmar von der pfordten

ren konnte, ohne dies zwingend auf die Art und Weise des Aristoteles zu tun. Die bekanntesten deutschsprachigen Ethiken des 20. Jahrhunderts sind Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik von Max Scheler und die Ethik von Nikolai Hartmann, die bekanntesten englischsprachigen Ethiken die Methods of Ethics von Henry Sidgwick und die Principia Ethica von George Edward Moore, wobei letztere inhaltlich eher eine Metaethik und keine normative Ethik mehr darstellt. Auch gegenwärtig erscheinen jedes Jahr dutzende von ›Ethiken‹ in allen Sprachen. So hat etwa Dieter Birnbacher eine Analytische Einführung in die Ethik verfasst.13 Die Kernbedeutung des Begriffs ›Ethik‹ im Sinne einer reflektierenden bzw. dann noch enger wissenschaftlich-theoretischen Behandlung und als ›normative Ethik‹ Kritik bzw. Rechtfertigung der Moral und anderer Sozialnormen, ist also für Philosophen und Ethiker nicht zweifelhaft.

2. Die zweite Welle der Differenzierung zwischen verschiedenen primären Normordnungen, also etwa Recht, Moral, Konventionen usw. Erst in der Spätantike und dann vor allem in der lateinischen Begriffswelt bricht sich dann die bereits erwähnte zweite Differenzierungswelle Bahn. Im Rahmen eines gleichsam horizontalen Differenzierungsprozesses treten vor allem aus dem noch ungeschiedenen Begriff ›nómos‹ die verschiedenen primären Handlungsnormen der Moral, des Rechts, der Religion, der Konvention, sowie Ratschläge des guten Lebens heraus. Dieser Prozess beginnt bereits bei den klassischen Philosophen der griechischen Antike des 4. vorchristlichen Jahrhunderts. Aristoteles unterscheidet etwa in der Nikomachischen Ethik zwischen ›eudaimonía‹, also Glück, gutem Leben, ›areté‹, also Tüchtigkeit, Tugendhaftigkeit, ›héxis‹, also Haltung, Verhalten, Gewöhnung, ›ethos‹, also Gewohnheit, Sitte, Brauch,14 sowie natürlichem Recht/Gerechtem (›dikaíon, tò mèn physikón‹) und gesetzlichem Recht/Gerechtem (›dikaíon, tò dè nomikón‹).15 In der lateinischen Antike entwickelt sich dann eine noch weitergehende und striktere begriffliche Trennung zwischen ›beatitudo‹, also Glück, glücklichem Leben, ›virtus‹, also Tugendhaftigkeit, ›habitus‹, Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik | 37

also Haltung, ›mos‹, also Moral, Sitte, Gewohnheit, Herkommen, ›ius‹, also Recht, und ›religio‹, also religiösem Gefühl, Religiosität, Gottesfurcht, Frömmigkeit.16 Dabei kann ›ius‹ zunächst auch noch überpositives Naturrecht meinen. Die endgültige Abgrenzung des primär normierenden Rechts zur sekundär legitimierenden Ethik vollendet sich im Hinblick auf den Rechtsbegriff als letzte Konsequenz der im ersten Abschnitt bereits erwähnten legitimatorischen Differenzierung erst mit der Zurückdrängung des Naturrechts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Entwicklung des Moralbegriffs bringt eine Verengung auf notwendig auch strikt verpflichtende Normen im Gegensatz zu bloß empfehlenden Klugkeitserwägungen des guten und glücklichen Lebens mit sich. Sie liegt der Sache nach zwar schon Platons Beschreibung der Diskussionen des Sokrates im Hinblick auf die Spannung zwischen einem gerechten und einem glücklichen Leben, etwa in seinem bereits erwähnten Dialog Gorgias zu Grunde.17 Sie bleibt bei Platon aber noch unter dem gemeinsamen Dach der höchsten Idee des Guten.18 Erst von Kant wird sie sie im Zuge seiner Abstreifung der Wolffschen Wohlfahrts- und Vollkommenheitslehre endgültig festgeschrieben. Während Christian Wolff 1720 eines seiner Bücher noch Moral, oder vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit nennt,19 verengt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten den Begriff der Moral (Sitte) auf genuin moralische Pflichten in unserem heutigen limitierteren, kategorischen Sinn im Gegensatz zu bloßen Neigungen sowie Empfehlungen und Zielen des guten Lebens.20 Die Glückseligkeit ist zwar ein notwendiges Klugheitsziel des Menschen, aber wegen ihrer Unbestimmtheit und notwendigen empirischen Konkretisierung im Einzelfall kein Gegenstand des kategorischen Imperativs.21 Wie lässt sich der Begriff der Moral als Ergebnis dieser historischen Entwicklung heute verstehen? ›Moral‹ bzw. ›Sitte‹ ist die tatsächliche, das heißt in Raum und Zeit und damit in einer konkret realisierten Gesellschaft bestehende Gesamtheit von sozialen Normen und Regeln einschließlich ihrer inneren Anerkennung. Diese sozialen Normen und Regeln sind dadurch gekennzeichnet, dass sie 38 | dietmar von der pfordten

– erstens notwendig dem ›Ziel dienen, angesichts wenigstens potentiell widerstreitender Gesichtspunkte, Werte und Belange unseren Charakter sowie unser Handeln und Entscheiden primär‹ und ›unmittelbar zu lenken‹, und zwar – zweitens auch und vor allem durch ›kategorische‹, das heißt konkret zustimmungsunabhängige Verpflichtungen, nicht nur durch bloße Empfehlungen und Gewohnheiten wie die Ratschläge des guten Lebens, sowie Konventionen und Moden, wobei – drittens die Verpflichtungsquellen moralischer bzw. sittlicher Normen nicht nur im Äußeren des Handelnden, etwa in äußeren Verpflichtungen und Durchsetzungsmitteln wie dem Recht, sondern auch im Inneren des Handelnden, wie in einem Gewissen liegen, und – viertens moralische bzw. sittliche Normen ›nicht zur Anleitung einer religiös-kultischen Praxis‹ bestimmt sind, wie die Religionen, die allerdings sehr häufig komplexer sind und als umfassende soziale Phänomene auch moralische Normen enthalten. Die Normen der Moral erheben im Gegensatz zu anderen Typen von Normen und Regeln22 einen gewissen Allgemeinheitsanspruch, der wiederum mit der Vorrangforderung der Moral gegenüber diesen anderen Typen von Normen zusammenhängt. Tatsächlich bestehende Normen der Moral bzw. Sitte sind in vielen Gesellschaften zum Beispiel das Tötungsverbot, das Folterverbot, das Verletzungsverbot, das Lügenverbot, das Verleumdungsverbot, das Hilfsgebot in Notlagen, das Fairnessgebot sowie die Tugenden und damit positiven Bewertungen der Klugheit, Stärke, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft usw. Wie ist dann der Begriff des Rechts im Sinne einer menschlichen Gestaltung zu verstehen? Vier Merkmale erscheinen für das Phänomen bzw. den Begriff Recht notwendig, die zunächst genannt und dann näher erläutert werden. Recht ist danach: – erstens ein ›menschliches Erzeugnis‹, – das zweitens wie die Moral dem ›Ziel der Vermittlung zwischen potentiell oder aktuell widerstreitenden Belangen‹, d. h. Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen (Belangen, Interessen) dient, Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik | 39

– und zwar drittens auch mittels ›kategorischer‹ Verpflichtungen und Ermächtigungen wie bei der Moral, – bei denen viertens anders als bei der Moral die Quelle der handlungsleitenden Verpflichtung und der Schwerpunkt der Verpflichtung und Durchsetzung ›nicht‹ im Verpflichteten oder Ermächtigten selbst liegen, sondern im äußeren und formalen Handeln anderer. Hat man das Ziel einer menschlichen Gestaltung, wie sie das Recht darstellt, gefunden, so erhebt sich die Frage, ob und wie dieses Ziel als ›Zweck‹ mit einzelnen ›Mitteln‹ zu erreichen ist. Im Hinblick auf die entsprechenden potentiell widerstreitenden Belange sind dazu viele Mittel denkbar, etwa soziale Steuerungsmaßnahmen, die kein Recht sind, wie die Herbeiführung eines Gesprächs oder die Verteilung sozialer Transferleistungen. Von derartigen bloß sozialen Maßnahmen der Steuerung unterscheidet sich das Recht dadurch, dass es wie die Moral notwendig auch ›kategorische‹ Verpflichtungen enthält. Das Recht ist nicht nur faktisch wirksam, sondern es ist auch verbindlich. Jede Verpflichtung setzt eine letzte Quelle, das heißt einen Ursprung voraus. Während die Moral diese letzte Quelle auch im ›Inneren‹ des Menschen, in seinem ›Gewissen‹ bzw. nach Kant in seinem Sittengesetz bzw. dem Faktum der Vernunft finden kann, muss die letzte Quelle rechtlicher Verpflichtung immer jenseits des Gewissens in ›äußerem Handeln‹ liegen,23 also etwa in einem Vertrag, einem Richterspruch, einer Gewohnheit, einer richterrechtlichen Praxis, einem Gesetz oder einer Verfassung. Gleiches gilt dann auch für die Durchsetzung. Dabei erfordert die Abgrenzung zu informellen Normen der Politik, dass die Normen des Rechts eine gewisse ›äußere Form‹ wahren. In alten Gerichtsdarstellungen kann man sehen, dass der Richter bei der Urteilsverkündung eine bestimmte Haltung einnimmt, etwa die Beine übereinander schlägt und symbolisch den Stab über den Verurteilten bricht. Im Anschluss an das vierte notwendige Merkmal des Rechts stellt sich die Frage, durch welche ›Formen äußeren Handelns‹ nun die rechtliche Verpflichtung erzeugt werden kann. Die empirische Konkretisierung dieser Formen liegt bereits jenseits dessen, was notwendige Merkmale des Rechts bzw. notwendige Bedingungen des 40 | dietmar von der pfordten

Rechtsbegriffs sind. Hier eröffnet sich das weite Feld der zeitlich, räumlich und kulturell variablen Rechtsschöpfung. Die philosophische Perspektive erreicht folglich an dieser Stelle ihre Grenze und geht in eine dogmatische, historische oder soziologische Perspektive auf das heute oder früher geltende oder das sozial wirksame Recht über. Fasst man die ersten beiden Differenzierungswellen zusammen, so gilt: Die zentrale Unterscheidung ist diejenige zwischen verschiedenen ›tatsächlichen primären sozialen Normen und Regeln unseres allgemeinen Handelns‹ wie Moral (Sitte), Recht, Religion, Konventionen, Moden und Ratschlägen des guten Lebens sowie der ›Ethik‹ als deren sekundärer Rechtfertigung bzw. Kritik. Ethik

Moral Recht Religion Politik Medizin Konvention gutes Leben …

Moral, Recht, Religion, Konventionen und andere derartige Normen und Regeln sind zum einen ›notwendig in Raum und Zeit bestehende soziale Tatsachen‹, die in ihren sprachlichen Manifestationen empirisch wahrnehmbar sind. Sie ›leiten‹ zum anderen unser Handeln ›unmittelbar‹ und ›primär‹. Die Ethik bezieht sich dagegen nicht unmittelbar und primär auf unser allgemeines Handeln, sondern nur ›sekundär‹, nämlich über den Bezug auf diese unmittelbar, primär sowie allgemein handlungsleitenden Normen und Regeln. Die Ethik besteht darüber hinaus auch ›nicht notwendig in Raum und Zeit‹. Sie ist vielmehr ein ›gedankliches Konstrukt‹, ein ›Ideal‹, das sich in verschiedenen tatsächlichen sprachlichen Äußerungen konkretisieren kann, eine tatsächliche und damit bestimmte Konkretisierung aber nicht notwendig voraussetzt. Der sekundäre Bezug der Ethik auf die tatsächlich bestehenden und primär handlungsleitenden Normen und Regeln kann deren Beschreibung und Erklärung umfassen, dient aber – im Rahmen der normativen Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik | 41

Ethik – vor allem der Kritik oder Rechtfertigung dieser Normen und Regeln.

3. Die dritte Welle der Differenzierung zwischen objektivem Recht bzw. objektiven Normen der Moral und subjektiven Rechten Weder die griechische noch die lateinische Antike kannten – so zumindest die wohl vorherrschende Interpretation – subjektive Rechte in einem klar geschiedenen Sinn.24 Sie tauchen als dritter Differenzierungsschritt erst allmählich im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit auf, und zwar beginnend mit den Glossatoren Oberitaliens und dann insbesondere in der Renaissance sowie im modernen Naturrecht des 16, 17. und 18. Jahrhunderts. Dabei kann es kein Zufall sein, dass die Herausbildung subjektiver Rechte mit der zentralen Entwicklung von Recht, Moral und Ethik in diesen Jahrhunderten korrespondiert: der ›Individualisierung‹. Was bedeutet diese Individualisierung? Normative Verpflichtungen werden sowohl in ihrer faktischen Erzeugung als auch in ihrer ethischen Rechtfertigung nicht mehr in Gott oder einer abstrakten natürlichen Weltordnung verankert – paradigmatisch für beides ist Thomas v. Aquins Legeshierarchie25 –, sondern in den ›einzelnen Menschen‹, etwa in Form des Modells des politischen Vertrags bei Hobbes, Locke, Rousseau und Kant. Mit dem Begriff des subjektiven Rechts wird der Ausgangspunkt, die Quelle von Pflichten, einem bestimmten oder zumindest – sofern sie abstrakt sind – bestimmbaren einzelnen Menschen zugeordnet – und neuerdings von manchen darüber hinausgehend sogar höheren Säugetieren wie Menschenaffen.26 Es genügt also etwa nicht mehr, zu statuieren, dass jemand, sei es der Staat oder ein einzelner Privater, nicht töten darf, sondern man fügt hinzu, dass die faktische und legitimatorische Quelle dieses Tötungsverbots in einem subjektiven Recht liegt, und zwar typischerweise im Recht des Betroffenen, nicht getötet zu werden, wobei die Rechtsposition dann später auch variabel gedacht wird, also prinzipiell auch bei einem Dritten, Nichtbetroffenen liegen kann. Die hier vertretene These lautet also, dass die dritte Differenzierungswelle von Normen der Moral, des Rechts und der 42 | dietmar von der pfordten

Ethik in Pflichten und subjektive Rechte subkutan mit einer spezifischen Antwort auf die Frage zusammenhängt, die mit der ersten legitimationsorientierten Differenzierungswelle aufgeworfen wurde, nämlich mit der Frage nach der Rechtfertigung primärer Normen menschlichen Handelns. Kant hat dies mit seiner sehr abstrakten Definition des subjektiven Rechts, als eines »Vermögens, andere zu verpflichten«27 deutlich gemacht. Oder man könnte auch formulieren: ein Recht sei die Möglichkeit, eine Handlung von anderen zu fordern. Das hat aber zur Folge, dass der Begriff der Pflicht bzw. Verpflichtung oder Normativität der grundlegendere ist. Der Begriff des subjektiven Rechts ist nur dann und deshalb notwendig, wenn und weil man die Quelle der Pflichten nicht mehr in Gott, einem abstrakten Naturrecht oder sonstigen kollektiven Prinzipien, etwa dem Prinzip der Vervollkommnung Wolffs oder dem Prinzip der Glücksmaximierung des Utilitarismus, verankern zu können glaubt, sondern zu der Auffassung gelangt, diese Verankerung liege in den einzelnen Individuen. Der Begriff des Rechts dient also der Lokalisierung der Pflichtquelle. Die Frage nach dieser Lokalisierung der Pflichtquelle ist nun aber, wie gesagt, auch schon mit der ersten Differenzierungswelle aufgeworfen und ist ganz unabhängig von der zweiten Differenzierungswelle des Auseinandertretens von Recht, Moral, Konventionen und anderen primären Normen. Sowohl die Quelle des Rechts als auch die Quelle der Moral kann also in einzelnen Individuen gesehen werden, so dass man sowohl im Recht als auch in der Moral, ja sogar in der Ethik subjektive Rechte annehmen kann und muss, vorausgesetzt, man führt die in diesen Normordnungen statuierten Pflichten auf Individuen zurück. Die Realisationsmöglichkeiten der Pflicht bzw. des Rechts sind nur sekundäre und damit beliebig einsetzbare Mittel gegenüber dem zentralen Ziel des Rechts und der Moral, also der Vermittlung der widerstreitenden Interessen in Konflikten.28 Deshalb sind auch verschiedene weiterführende Konstruktionen und Übertragungen des Begriffs des subjektiven Rechts möglich, etwa die folgenden vier: (1) In speziellen Fällen können Rechtsträger und Betroffener wieder auseinander fallen, zum Beispiel bei Verträgen mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik | 43

(2) Statt Individuen können auch Gemeinschaften individualisiert werden, wie es etwa im Recht bei juristischen Personen, zum Beispiel eingetragenen Vereinen, Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung geschehen ist. (3) Und ein Recht kann in einzelnen Fällen sogar von der konkreten Pflicht eines anderen entkoppelt werden. So hat etwa ein Kriegsgefangener sicher ein Recht zu fliehen, ohne dass der Kriegsgegner, welcher ihn gefangen genommen hat, eine Pflicht hätte, ihn freizulassen. Eine solche Entkoppelung von Pflicht und subjektivem Recht ist zum Beispiel auch bei den abstrakten Menschenrechten zu konstatieren. Wir können etwa ein Menschenrecht des A postulieren, nicht gefoltert zu werden, ohne schon unmittelbar angeben zu müssen, wer nun die konkrete Pflicht hat, A nicht zu foltern, etwa ein Staat oder einzelne Private oder parastaatliche Organisationen oder zwischenstaatliche bzw. internationale Einrichtungen usw. (4) Schließlich kann es trotz grundsätzlicher Anerkennung von Rechten durch eine Normordnung innerhalb dieser Normordnung auch Pflichten geben, denen keine Rechte korrespondieren, die also vom Begünstigten der Pflicht oder einem Dritten nicht gegen den Willen des Schuldners durchgesetzt werden können. Man spricht dann in der Rechtsterminologie von unvollkommenen Verbindlichkeiten bzw. Naturalobligationen, zum Beispiel im Fall einer Forderung, die verjährt ist. All dies zeigt, dass subjektive Rechte nichts natürlich bzw. ontologisch Vorgegebenes sind, sondern ein Instrument der Zuordnung von Pflichtquellen. Es mag aufgefallen sein, dass bisher bei der Erklärung des Begriffs des subjektiven Rechts ganz auf den Begriff des ›Anspruchs‹ verzichtet wurde, der hierzu häufig eingesetzt wird, insbesondere auch in der neueren englischsprachigen Literatur als ›claim‹, etwa in dem klassischen Werk von Wesley Newcomb Hohfeld.29 Dies geschah bewusst, weil die Begriffe der Pflicht bzw. Verpflichtung und des subjektiven Rechts die grundlegenderen sind. Der Begriff des ›Anspruchs‹ scheint ähnlich wie der Begriff des subjektiven Rechts die Verpflichtungsquelle in einem Individuum zu lokalisieren. Allerdings geschieht dies eher faktisch und nicht oder zumindest nicht notwendig legitimatorisch wie beim subjektiven Recht. Während man ein subjektives Recht ›hat‹ oder ›nicht hat‹, muss ein Anspruch 44 | dietmar von der pfordten

zumindest nach dem alltagssprachlichen Verständnis faktisch ›erhoben‹ oder ›geltend gemacht werden‹, jemand muss ›ansprechen‹ bzw. ›angesprochen werden‹. Dies gilt allerdings für die juristische Fachterminologie, wohl als Folge der Übersetzung bzw. Übertragung des römisch-rechtlichen actiones-Begriff im 19. Jahrhundert, v. a. durch Windscheid,30 nicht: So sagt man auch, jemand habe einen Schadensersatzanspruch. Da nun aber diese faktische Erhebung nicht notwendig die Legitimation voraussetzt, lässt sich ein Anspruch erheben, ohne dass dieser als begründet angesehen wird, also ein subjektives Recht als tatsächlich bestehend anzunehmen ist. Erst wenn ein Anspruch erhoben wurde, kann festgestellt werden, ob er tatsächlich begründet ist. Umgekehrt kann man ein subjektives Recht haben, ohne faktisch einen Anspruch zu erheben. So haben etwa Babys oder Kleinkinder verschiedene subjektive Rechte, ohne in einem faktischen Sinn Ansprüche zu erheben oder auch nur erheben zu können. Die Begriffe des subjektiven Rechts und des Anspruchs sind also nicht identisch oder auch nur abhängig voneinander, wenn sie auch derselben Verankerung von Pflichten in Individuen dienen. Wie ist nun das Verhältnis von subjektiven Rechten des Rechts zu solchen der Moral? Da Recht und Moral zwei verschiedene faktische und primäre Normordnungen in einer Gesellschaft sind, können in diesen Normenordnungen unterschiedliche subjektive Rechte bestehen. Diese auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen faktischen Normordnungen unterschiedlichen subjektiven Rechte können nun aber natürlich inhaltlich parallel laufen oder auch variieren. Wir können etwa in Deutschland sowohl ein subjektives juridisches als auch ein subjektives moralisches Recht feststellen, nicht getötet zu werden. Anders ist die Lage aber etwa in der Frage von Wahrhaftigkeit und Lüge. Wir haben sicher ein moralisches Recht, nicht belogen zu werden, in den allermeisten Fällen aber, – man mag dies bedauern –, kein juridisches Recht. Ein Verkäufer kann uns etwa zur Motivation unseres Kaufes wahrheitswidrig mitteilen, dass er den Gegenstand ebenfalls nutzt, ohne dass daraus irgendwelche juristischen Folgen erwachsen würden. Nur in sehr speziellen Fällen, etwa der Zusicherung von Eigenschaften des Kaufgegenstands beim Kauf oder der Eidesleistung besteht auch ein juridisches Recht auf Wahrhaftigkeit. Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik | 45

Dabei kann es natürlich wechselseitig faktische Beeinflussungen zwischen moralischen und juridischen Normen und damit auch zwischen moralischen und juridischen Rechten geben. Und die Chance auf Befolgung wird sicher zunehmen, sofern und soweit die Forderungen beider Normordnungen inhaltlich parallel laufen.31 Aber das sind kontingente Tatsachen ohne begriffliche Notwendigkeit. Man kann also etwa nicht sagen, dass moralische Rechte in juridische transformiert werden. Das Recht schafft allenfalls angeregt durch die Moral inhaltlich gleichlaufende juridische Rechte. Menschen- und Grundrechte lassen sich dann auch in doppelter Form verstehen, als juridische und als moralische Rechte, je nachdem ob sie in Rechtsform bestehen oder als moralische Überzeugungen in einer Gesellschaft etabliert sind. Beides kann gleichzeitig der Fall sein oder auch nicht. Neues Recht kann moralische Veränderungen bewirken und umgekehrt. So hat etwa die Einführung rechtlicher Promillegrenzen des Alkoholgenusses im Straßenverkehr auch zu einem moralischen Umdenken im Hinblick auf Trunkenheitsfahrten geführt. Und die gewachsene Moralität in Umweltfragen hat die Bereitschaft zum Erlass schärferer rechtlicher Regelungen gefördert. Man kann also so etwas wie subjektive Rechte der Moral annehmen, sofern man sie als Pflichtquellen und Realisationsformen ansieht und sich bewusst bleibt, dass sie zu subjektiven Rechten des Rechts nicht im Verhältnis einer begrifflichen oder tatsächlichen Notwendigkeit stehen, sondern nur im Verhältnis der zufälligen und damit kulturell wandelbaren wechselseitigen Beeinflussung. Die Untersuchung einer solchen Beeinflussung ist aber Aufgabe der Rechts- und Moralsoziologie, nicht jedoch Aufgabe der Philosophie und Ethik.

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Anmerkungen

W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Zur Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 43. 2 Vgl. etwa die Erwähnung bei Parmenides. In: H. Diels und W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 12. Aufl., Dublin/Zürich 1966, 28 B 1. 3 Hesiod, Theogonie, Stuttgart 1999, Z. 66, S. 9; Heraklit. In: H. Diels und W. Kranz 1966, 22 B 44; Herodot, Historien, 7. Aufl., Zürich 2006, 7. Buch, 104, 4, S. 948; Pindar, Siegeslieder, München 1992, Pythische Oden II, 86, S. 125. 4 Platon, Gorgias, Werke in acht Bänden, hg. von G. Eigler, 5. Aufl ., Darmstadt 2005, 483d1 ff. 5 Platon, Gorgias, 499e9 f.; Politeia, 505a2 ff. 6 Vgl. zu einer Geschichte des Begriffs der Ethik den Artikel ›Ethik‹ von Heinrich Romberg. In: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1972, Bd. 2, Sp. 759 ff. 7 Aristoteles, Analytica Posterior. In: Opera, Berlin 1960–63, 89b 9. 8 Aristoteles, Politik. In: Opera, Berlin 1960–63, 1261a 31. 9 Aristoteles, Magna Moralia. In: Opera, Berlin 1960–63, 1181b 28. 10 M. T. Cicero, De Fato 1, 1, Stuttgart 1977, S. 130. 11 Vgl. nur Thomas v. Aquin, Sententia in Librum Ethicorum, Turin 1949. 12 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1903/11, S. 387. 13 D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2. Aufl ., Berlin 2007. 14 Aristoteles, Nikomachische Ethik, in: Opera, Berlin 1960–63, Glückseligkeit: 1095a 20, 1097a 34 ff., 1099a 30, 1098a 19; Tüchtigkeit: 1102a 6 ff., 1103a 10 f.; Haltung: 1106a 13 ff., 1106b 36; Gewohnheit: 1103a 17. 15 Ebd. 1134b 22 f. 16 Vgl. zu einer Geschichte des Begriffs der Moral den Artikel ›Moral‹ von G. Jüssen. In: J. Ritter und K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1984, Bd. 6, Sp. 149 ff. 17 Platon, Gorgias, 506c 5 ff. 18 Platon, Hippias Major, 297a 1 ff., 303e 11 ff.; Politeia 505a 2 ff. 19 C. Wolff, Moral, oder vernünft ige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, Halle 1720. 20 Kant 1903/11, S. 414 ff. 21 Kant 1903/11, S. 415, 417. 22 Normen sind im Gegensatz zu Regeln nicht nur allgemeine Regelungen, sondern richten sich auch in singulären Situationen an einzelne Personen, sind also ›im Ziel‹ begriffl ich umfangreicher als Regeln. Normen erfordern allerdings eine ›autoritative Normsetzung‹, sind also im Ursprung begriffl ich 1

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weniger umfangreich. Regeln können sich dagegen als bloße Regelhaft igkeiten auch aus Gewohnheiten ohne autoritativen Willensakt entwickeln, sind also im Ursprung begriffl ich umfangreicher. Die jeweiligen Begriffsbedeutungen bilden demnach Schnittmengen. Als explizite Sprechakte sind Normen und Regeln mit Bewertungen nicht identisch, enthalten diese aber regelmäßig. Normen und Regeln umfassen die normlogischen Kategorien der Gebote, Verbote sowie der Indifferenz (Erlaubnisse, Freistellungen). 23 Vgl. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1. Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin 1907, S. 230. 24 Vgl. dazu und zur im Folgenden skizzierten Geschichte des subjektiven Rechts: H. Coing, Zur Geschichte des Begriffs subjektives Recht. In: H. Coing/F. Lawson/K. Grönfors (Hg.), Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, Frankfurt a. M./Berlin 1959, S. 9, ff., 7–23. 25 Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, Heidelberg 1977, I–II, qu. 90 ff. 26 P. Singer und P. Cavalieri, The Great Ape Project: Equality beyond Humanity, New York 1996. 27 Kant 1907 S. 239. 28 Vgl. D. von der Pfordten, Normative Ethik, Berlin 2010, S. 259 ff. 29 W. Hohfeld, Fundamental Legal Concepts, Westport 1978, S. 38. 30 Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, bearbeitet von Theodor Kipp, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1906, Nachdruck Ahlen 1963, § 43, S. 182 ff.; Coing 1959, S. 20. 31 D. von der Pfordten, Rechtsethik, München 2001, S. 79 f.

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– Jean-François Kervégan –

Gibt es moralische Rechte?

»Das Wort Recht, das verzauberndste aller Wörter.« Jeremy Bentham

Die Thematik der Rechte, genauer: der moralischen Rechte (moral rights) beansprucht besondere Aufmerksamkeit in der von einigen zeitgenössischen Rechtsphilosophen gegen den Rechtspositivismus entwickelten Argumentation; der bekannteste unter ihnen ist Ronald Dworkin. Was dem Positivismus – auch in seinen ›vernünftigen‹ Versionen, wie sie z. B. H. L. A. Hart in The concept of law entwickelt hat – anzuerkennen und zu denken misslinge, sei die Existenz fundamentaler und unveräußerlicher Rechte (es handelt sich nicht von Anbeginn um positive Rechte, selbst wenn sie dies auch werden können), die selbst im Verhältnis zum positiven Recht eine begründende Rolle spielen, indem sie ihm seine Prinzipien liefern. Ich werde mich bemühen, die Solidität dieses Arguments zu prüfen und gewisse Schwierigkeiten zu beleuchten, die dem Begriff moralischer Rechte innewohnen. Zweifellos bildet die Frage der Menschenrechte, ihres Ortes und des ihren zuzubilligenden Status, den Hintergrund dieser Debatte. Kann man diesen Rechten einen Platz einräumen, ohne zugleich die schweren metaphysischen Vorannahmen des klassischen Naturrechts zu mobilisieren? Kann man sie, mit anderen Worten, anders denn als ursprüngliche, der Natur der Menschheit inhärente moralische Rechte denken? Zu dieser Frage möchte ich einige Elemente einer Antwort vorschlagen. Auch wenn Dworkin häufiger schlicht und einfach von ›Rechten‹ (rights) spricht als von ›moralischen Rechten‹, lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass dieser Begriff wesentlich ist für ›den allgemeinen Angriff gegen den Positivismus‹, den er zu führen gedenkt.1 Tatsächlich steht für das, was er seine »rights thesis« nennt, die Überzeugung im Mittelpunkt, es sei für die Bürger zu | 49

unterstellen, sie hätten gewisse, durch die Verfassung von moralischen in juridische Rechte transformierte Grundrechte gegen die Regierung.2 Er präzisiert, dass diese moralischen Rechte, die allein Rechte in einem ›starken Sinne‹ sind, andere und höhere Rechte sind als jene, die durch positive Dispositionen vorgesehen sind,3 d. h. meta-positive Prinzipien. Es ist deshalb nicht unzulässig, sie als ›natürliche Rechte‹ anzusehen, auch wenn Dworkin sich meist davor in Acht nimmt, ein von der Metaphysik ererbtes Vokabular zu verwenden: Die Rechte, deren Priorität die rights thesis proklamiert, sind in dem Sinne ›natürlich‹, wie sie nicht einfach das Produkt gesetzgeberischer Aushandlung oder einer bestimmten sozialen Gewohnheit sind, sondern unabhängige Motive zur Beurteilung von Gesetzgebung und Sitte begründen.4 Selbst wenn man es sich versagt, den Ursprung dieser Rechte in gewagter Rekonstruktion in einer menschlichen Natur zu suchen, haben sie doch in Dworkins Rechtsphilosophie die Funktion eines kritischen und normativen Instruments, die in den klassischen naturrechtlichen Theorien die ›Naturrechte‹ hatten. Die rights thesis, die im Grunde die Hypothese fundamentaler und unveräußerlicher Rechte ist, ist die Basis der von Dworkin vorgenommenen Unterscheidung zwischen rules, principles und policies. Im Gegensatz zu den positivistischen Argumenten, die auf den Regeln des geltenden Rechts und auf – vor allem vom Utilitarismus5 entwickelten – teleologische, politische und soziale Ziele geltend machenden Argumenten beruhen, berücksichtigen die Prinzipienargumente ausschließlich die moralischen bzw. politischen Rechte der Individuen: »principles are propositions that describe rights; policies are propositions that describe goals«.6 Es besteht also eine grundlegende Nähe zwischen der rights thesis, den Vorwürfen gegen den Positivismus und Utilitarismus und dem – insbesondere bei der Entscheidung zu hard cases – den Prinzipien eingeräumten Vorrang. Der ganze Ansatz Dworkins zielt auf die Affirmation der Notwendigkeit, für das positive Recht moralische Grundlagen zurückzugewinnen, ohne die es Gefahr liefe, als bloßes Mittel zu bestimmten sozialen Zwecken zu erscheinen; hieraus rühren die wiederholten Formeln, welche die wesentliche Kontinuität zwischen der ›politischen Moralität‹ und dem Recht beschwören: Letztlich handelt es sich darum, eine ›Verschmelzung der juridischen und 50 | jean-françois kervégan

moralischen Fragen‹ zu erreichen.7 Man könnte hier eine Nähe zu den Auffassungen von J. Habermas feststellen, die einer analogen Kritik unterzogen werden können, wie ich sie andernorts formuliert habe.8 Es ist erstaunlich, dass Dworkin nie eine direkte Beweisführung für seine rights thesis versucht, die deshalb eher einem Postulat oder einem Axiom gleicht. Der Grund dürfte darin zu sehen sein, dass ihm diese Basisüberzeugung erforderlich zu sein scheint, um die Gefahren einer positivistischen Konzeption nach dem Muster H. L. A. Harts zu vermeiden. Dworkin zufolge besteht die Schwäche der Position Harts darin, vorzugeben, man könne das Recht auf angemessene Weise erfassen, wenn man auf der Ebene der (primären und sekundären) Regeln verbleibe, ohne jemals – wie Dworkin gerne zugesteht: durchaus strittige – substanzielle moralische Begriffe oder Prinzipien geltend zu machen. Weil die ›Trennung von Recht und Moral‹ ein Kernelement des Positivismus ist,9 scheint die Prinzipienposition moralischer Rechte die wirksamste Weise zu sein, ihm zu begegnen. Ich werde hier die Beziehungen zwischen Recht und Moral nicht allgemein thematisieren; Dworkin ist auf diese Frage in späteren Veröffentlichungen, z. B. in der Einleitung zu Justice in Robes,10 zurückgekommen. Vielmehr soll es um die Natur und den besonderen Status moralischer Rechte gehen – wenn sie denn existieren. Dworkin scheint Folgendes für ausgemacht zu halten: (i) dass derartige Rechte existieren und (ii) dass sie in juridische Rechte transformiert werden können bzw. unter bestimmten Bedingungen transformiert werden müssen: »Citizens are supposed to have certain fundamental rights against the government, certain moral rights made into legal rights by the Constitution«.11 Solche Überlegungen setzen die Wahl bestimmter Optionen in der Moralphilosophie einerseits und andererseits in der Rechtsphilosophie voraus; und diese Optionen, die sich nicht von selbst ergeben, müssen gerechtfertigt werden. Die Hypothese der Existenz ›moralischer Rechte‹ wird nicht in der ganzen Moralphilosophie geteilt. Eine streng deontologische Konzeption wird ihre Existenz leugnen (der Mensch hat keine Rechte, sondern nur Pflichten); oder sie wird sie, wie bei Kant, von ihr systematisch der Existenz vorausgehender und korrelativer Verpflichtungen abhängig machen.12 Man wird z. B. sagen, dass Gibt es moralische Rechte? | 51

das ›Recht der Kinder auf Erziehung‹ nur das Gegenstück zu einer den Eltern und der Kollektivität auferlegten Verpflichtung ist, ihre Erziehung zu sichern. Von moralischen Rechten zu sprechen beinhaltet zumindest eine Revision des traditionellen Rahmens deontologischer Moralphilosophien. Was den Utilitarismus in seiner klassischen Form betrifft (er ist ein ›Utilitarismus der Ziele‹ und kein ›Regelutilitarismus‹), so weist er vehement die ›Absurdität auf Stelzen‹ zurück, welche die Zulassung natürlicher Rechte darstelle; diese sind, schreibt J. Bentham, »Gründe für den Wunsch, Rechte zu etablieren«13, aber gewiss nicht Rechte, denn man kann kein Recht ohne Verpflichtung einfordern. Mit dieser Idee werde ich mich im Folgenden befassen. Die Idee der Transformation ›moralischer Rechte‹ in Rechte, die dem entspricht, was man gelegentlich als ›Positivierung des Naturrechts‹ bezeichnet, wirft – wie Bentham bereits unterstrichen hatte – eine ganze Reihe von Problemen auf. Das Eigentümliche eines juridischen Rechts (wie des Eigentumsrechts) besteht darin, dass es einklagbar ist, d. h. dass für den Fall der Verletzung dieses Rechts Wege zur Einlegung von Rechtsmitteln vorgesehen sind. Demgegenüber ist es offensichtlich, dass eine gewisse Anzahl von Kandidaten für moralische Rechte insofern schwerlich als derartige Rechte angesehen werden kann, als es schwierig ist, die Person oder Instanz zu bestimmen, die zur Wiedergutmachung einer möglichen Verletzung verpflichtet wäre: Man denke etwa an das ›Recht auf Wohnung‹, den man jüngst in Frankreich Verfassungsrang einräumen wollte, oder auch an das von einigen Verfassungen oder Deklarationen von Rechten proklamierte ›Recht auf Arbeit‹.14 Wiederholen wir noch einmal: Solche Fragen beunruhigen Dworkin nicht im Geringsten, ist doch seine Hauptsorge, »die reine Form des Rechts im Inneren des Rechts und über das uns bekannte Recht hinaus«15 zu definieren. Deshalb wende ich mich einer Philosophie zu, der mehr daran liegt, moralische Rechte mit einem theoretischen Fundament und einer spezifischen Bedeutung auszustatten – der Philosophie Joel Feinbergs, mit der ich gleichwohl in einem entscheidenden Punkt nicht übereinstimme. In der Debatte zwischen Positivismus und Neo-Naturrecht, die den Doktrinen-Hintergrund der Diskussion über moralische Rechte bildet, vertritt Feinberg eine moderate und pragmatische Position. 52 | jean-françois kervégan

Auf die Debatte zwischen Lon Fuller und H. L. A. Hart über das ›Nazi-Recht‹16 Bezug nehmend und selbst vom berühmten, 1946 von Gustav Radbruch veröffentlichten Text ›Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‹ angeregt,17 richtet Feinberg die Aufmerksamkeit darauf, dass in praktischer Hinsicht die Differenz zwischen Lon Fullers naturrechtlicher Position (das nationalsozialistische ›Recht‹ ist kein Recht und man musste ihm folglich auch nicht gehorchen) und Harts positivistischer Position (beim nationalsozialistischen Recht hat es sich sehr wohl um Recht gehandelt, aber es gab Gründe in moralischen Imperativen, ihm nicht zu gehorchen) letztlich nicht groß ist – wenn es auch zutrifft, dass die beiden Auffassungen theoretisch inkompatibel sind und bezüglich des Rechts grundlegend verschiedene Konzeptionen zum Ausdruck bringen.18 Feinberg plädiert deshalb für einen Dialog, ja für eine Versöhnung der gegnerischen Positionen. Im Grunde ist es so: Wenn Fuller es unternimmt, die konstitutiven Prinzipien dessen zu formulieren, was er ›the internal morality of the law‹ nennt, bemerkt man, dass diese Prinzipien weit mehr mit dem zu tun haben, was die europäischen Juristen als allgemeine Rechtsprinzipien bezeichnen (Öffentlichkeit, Stabilität, Rückwirkungsverbot, Widerspruchsfreiheit …), als mit den substanziellen ethischen Prinzipien, die den Gehalt einer Moralphilosophie im engeren Sinne ausmachen.19 Muss man gleichwohl von moralischen Rechten sprechen, und – wenn ja – welche Beziehung besteht zwischen moralischen Rechten (moral rights) und juridischen Rechten (legal rights)? Dies ist die Frage, der sich Feinberg auf erhellende Weise in seinem ziemlich alten Aufsatz ›The nature and value of rights‹ widmet. Er entwickelt ein Gedankenexperiment und untersucht, welche wechselseitigen Verpflichtungen in einer imaginären Stadt bestünden, in der kein Individuum Rechte hätte, und sieht sich zu allererst veranlasst zu präzisieren, um was es bei der häufig anerkannten Korrelation zwischen Rechten und Pflichten geht. Eine Korrelation gibt es nur, wenn es sich um im strengen Sinne rechtliche Verpflichtungen handelt: In diesem Falle sind das Recht von A und die Verpflichtung von B ›zwei Seiten eines Geldstücks‹. Auf der anderen Seite gibt es Pflichten in einem weiteren Sinne, die nicht mit Rechten korreliert sind: Ich habe z. B. die (moralische) Pflicht, einen verdienten Angestellten mit einem Bonus zu belohnen, ohne dass er einen rechtlichen Anspruch darGibt es moralische Rechte? | 53

auf hätte (er verdient zweifellos eine Gratifikation, aber dies begründet kein Recht). Hieraus ergibt sich ein wesentliches Merkmal eines Rechts stricto sensu (Feinberg nennt es ›claim-right‹): Es kann mit angemessenen Mitteln (z. B. ein Justizhandeln) in Anspruch genommen werden; es kann eingeklagt werden. Dies trifft auf ein Recht im weiten Sinne (wie im Falle der moralischen Rechte sowie aller Arten von Immunität, Freiheit und Macht) nicht zu: Hier gibt es eine Asymmetrie zwischen Rechten und Pflichten.20 Es besteht also eine wesentliche Verbindung zwischen dem Konzept strikten Rechts (claim-right) und der Idee eines Anspruchs auf dieses Recht. An juridische Rechte denkend – die einzigen meines Erachtens, die genau der Definition Feinbergs entsprechen –, füge ich hinzu: ein einem institutionalisierten Verfahren gemäßer Rechtsanspruch. Es ist nützlich, sich in dieser Hinsicht daran zu erinnern, dass das Römische Recht ein jus dadurch definiert hat, Anlass für eine gerichtliche actio zu sein. Um den (engen oder weiten) Rechtsbegriff und die Beziehung zwischen claiming und right zu präzisieren, unterscheidet Feinberg drei mögliche Bedeutungen des Verbs to claim. Es kann (i) bedeuten, etwas einzufordern, das uns zusteht (making claim to…); (ii) verlangen, dass etwas getan werden oder geschehen soll (claiming that); dies kann der Fall bei einem Dritten sein, der als Beobachter interveniert; (iii) in der Situation sein, etwas einzufordern (having a claim), wie etwa nach dem Angestellten-Beispiel eine Gratifikation. Nur die erste Bedeutung entspricht dem engen Rechtsbegriff (right) – und sie ist darüber hinaus performativ: Ich habe ein Recht, wenn ich auf angemessenen Wegen fordern kann, etwas, das mir zusteht, zu bekommen.21 Mit anderen Worten: Dieser Typus von right entspricht im Allgemeinen einem Anspruch, der begründet sein kann oder auch nicht, aber einem valid claim. Derartige Ansprüche eröffnen immer die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit der Anerkennung eines (moralischen oder juridischen) Rechts; dies bedeutet – es ist durch die historische Erfahrung bestätigt –, dass die Rechte, zumal die moralischen Rechte, sich in positive bzw. statuarische Rechte verwandeln können. Man kann sagen, dass in der Klasse der Ansprüche (claims) allein die Rechte valid claims entsprechen; die anderen drücken bestenfalls Erwartungen oder desiderata aus, die – wie beim Angestellten-Mo54 | jean-françois kervégan

dell – gerechtfertigt oder – wie beim Taxifahrer, der trotz eines unnötigen Umweges ein Trinkgeld beansprucht – nicht gerechtfertigt werden können. Wie soll man also bei den valid claims zwischen – juridischen – Rechten im engeren Sinne und moralischen Rechten unterscheiden? Feinberg schlägt, Bentham folgend, ein sehr einfaches Kriterium vor: Juridische Rechte können gegen ein Individuum oder eine (möglicherweise sehr große) Gruppe von Individuen in Anspruch genommen werden, während dies für moralische Rechte nicht zutrifft: Sie sind »a claim the recognition of which is called for – not (necessarily) by legal rules – but by moral principles«.22 Für Feinberg sind moralische Rechte zwar Rechte, aber keine, gegen die man Einspruch einlegen kann; sie sind keine rights against; ); sie sind auf spezifische Weise von juridischen Rechten unterschieden. Freilich nicht in generischer Hinsicht: die einen wie die anderen sind durchaus valid claims. Feinberg spricht bezüglich moralischer Rechte von manifesto rights und gesteht seine Sympathie für die Verfasser solcher Manifeste (Charten, Deklarationen…) ein. Dank dieser Klarstellungen ist man in der Lage, drei Klassen von Ansprüchen (claims) zu unterscheiden: (i) die einfachen ›Bitten‹, die sich auf Wünsche oder Bedürfnisse beziehen, wie etwa das ›Recht auf Faulheit‹ oder das ›Recht auf Glück‹, und die nichts anderes als das verständliche Sehnen ausdrücken, sich nicht durch Arbeit umzubringen oder glücklich zu sein; (ii) die moralischen Rechte, die geeignet sind, in ›Manifesten‹ bzw. Charten niedergelegt zu werden, und von denen einige zweifellos eines Tages juridische Rechte werden können; ein solches Recht war z. B. in einer noch nicht lange zurückliegenden Epoche das Wahlrecht, und dies ist heute das Recht auf Arbeit und jüngst das Recht auf Wohnung; schließlich (iii) die juridischen Rechte stricto sensu, die gegen bestimmte Personen (ein Individuum, eine Gruppe von Individuen, eine Institution) gemäß einem institutionellen Verfahren eingeklagt werden können. Aber sind moralische Rechte wirklich Rechte? Feinberg meint ›Ja‹: Wie juridische Rechte, aber gemäß anderen Validierungsverfahren, sind sie valid claims; dies nicht der Fall bei einfachen needs: ein Anspruch aufgrund eines Moralprinzips und ein mit einer Rechtsregel begründeter Anspruch unterscheiden sich nicht wesentlich, und deshalb kann man eine Entwicklung bestimmter Rechte mit moralischem Status – prinzipiengestütze Ansprüche – zu einem Gibt es moralische Rechte? | 55

Status juridischer positiver Rechte beobachten, wie z. B., um es zu wiederholen, beim Wahlrecht. In einem Aufsatz aus jüngerer Zeit ist Feinberg übrigens bemüht, den Status dieser moralischen Rechte und ihr Verhältnis zu juridischen Rechten präzise zu bestimmen. Eine der Stärken dieses Textes ist die Zurückweisung der Idee – man findet sie vor allem bei Bentham, der aus diesem Grund den Begriff ›moralisches Recht‹ verwirft –, der zufolge die moralischen Rechte juridische Rechte in Vorbereitung bzw. in Anspruch genommene Rechte sind: Dies ist es, was Feinberg die » ›there ought to be a law‹ theory of moral rights« nennt.23 Es trifft gewiss zu, dass gewisse moralische Rechte so geartet sind, dass sie juridische, in das positive Recht inkorporierte Rechte werden können, so etwa die Gesamtheit oder Teile der Menschenrechte der ersten und zweiten Generation. Doch dieses Merkmal ist nicht erschöpfend; es ist eine emergente Eigenschaft, die ihre Natur nicht verändert. Feinberg hat Recht. Es ist wahr, dass gewisse moralische – oder für moralisch gehaltene – Rechte wie wirkmächtige juridische Normen formuliert worden sind, weil sie in der Gestalt von ›unveräußerlichen und geheiligten Naturrechten des Menschen‹, als ›Zweck aller politischen Institution‹ ausgesprochen worden und nach und nach zu bürgerlichen Rechten geworden sind, wie etwa das Ensemble der Staatsbürgerschaftsrechte. Andererseits ist schwer zu sehen, wie bestimmte, als moralische Rechte auftretende Ansprüche jemals zur Geburtsstätte wirklicher juridischer Rechte werden sollten, und zwar deshalb, weil sie nicht gegen eine identifizierbare Person oder Institution eingeklagt werden könnten; dies ist der Fall beim Recht auf Leben oder beim Recht auf Wohnung, dem man jüngst in Frankreich den Status einer Gesetzesnorm einzuräumen versucht war. Übrigens gibt es noch ein anderes Argument gegen die Auffassung moralischer Rechte als in Kraft gesetzte juridische Rechte. Jeremy Waldron hat es geltend gemacht: Aus dem Satz ›A hat ein moralisches Recht gegenüber B‹ kann man nicht folgern ›A hat ein juridisches Recht auf X‹; »das Recht (the law) muss so beschaffen sein, dass A in den Genuss von X kommt«.24 Wenn es ein Jedermannsrecht auf eine angemessene Wohnung gibt, folgt daraus nicht, dass es ein korrespondierendes juridisches Recht gibt; dies wäre nur der Fall, wenn es Rechtsmittel gäbe, die es im Falle der Rechts56 | jean-françois kervégan

verletzung erlaubten, tatsächlich in den Genuss dieses Rechts zu kommen. Aber es kann bzw. muss möglich sein, dass das geltende Recht die öffentliche Macht dazu verpflichtet, materielle Bedingungen zu schaffen, die allen ein angemessenes Wohnen ermöglichen (Aufnahmezentren, Sozialwohnungen, Requirierung leer stehender Wohnungen …). Das Recht (the law) kann moralische Rechte in Ehren halten, ohne aus ihnen juridische Rechte (legal rights) zu machen. Sobald man allerdings Feinberg zugesteht, dass die moralischen Rechte keine virtuellen juridischen Rechte sind und man auf jegliche – wie er sie nennt – ›optative Theorie‹ der Rechte verzichten muss, hat man die Wahl zwischen zwei Wegen: Entweder findet man für diese Rechte eine andere Rechtfertigung als den ihnen zugeschriebenen Status juridischer Rechte in statu nascendi, oder man kommt – wie Bentham und andere25 – zur Schlussfolgerung, dass die beanspruchten moralischen Rechte keineswegs in einem akzeptablen Sinn des Begriffs Rechte sind. Feinberg wählt den ersten Weg und stützt sich auf Analysen von Leonard W. Sumner, von denen er sich aber am Ende abgrenzt. Sumner ist, nicht ohne gute Gründe, folgender Auffassung: Damit die Idee moralischer Rechte einen Sinn hat, muss eine zumindest indirekte Verbindung zwischen den Kandidaten für diesen Status und dem juridischen System bestehen; jenseits ihrer intrinsischen Rechtfertigung durch moralisches Raisonnement handelt es sich nur um Rechte, wenn sie auf die eine oder andere Weise ihren Ort in einem institutionellen, von Normen geregelten System haben, in dem für Rechte-Kandidaten und deren Status Zuschreibungsmodalitäten vorgesehen sind – z. B., indem eine Verfassung die Implementierung bzw. Modifikation einer Grundrechtecharta vorsieht.26 An diesem Punkt grenzt sich Feinberg von Sumners ab, weil er vermutet, dass dessen Position – auch wenn er selbst sie verwirft – indirekt auf die ›optative Theorie‹ zurückführt. Um moralische Rechte kohärent zu denken, ohne sich gezwungen zu sehen, sie in – wie Bentham sagt – ›some ghostly cosmic system of laws‹ zu gründen, muss man auf die Idee verzichten, derartige Rechte hätten, wie juridische Rechte, eine ›institutionelle Basis‹, sei diese auch ›phantomartig‹.27 Worin also gründen moralische Rechte? Sie haben ihren Grund ganz einfach in ›korrekten moralischen Prinzipien‹, die uns definitiv vom Gibt es moralische Rechte? | 57

›moralischen Gemeinsinn‹ gegeben sind und ›zwingende Gründe‹ hervorbringen, diese Rechte zu proklamieren und anzuerkennen.28 Dies impliziert natürlich eine Wahl mit schwerwiegenden Folgen im Bereich der Moralphilosophie. Ich beschränke mich hier auf den Hinweis, dass diese Wahl nicht von allen geteilt wird und es gute Gründe für ihre Ablehnung gibt – z. B. die von Kant gegen jede ›materielle‹ Ethik formulierten Gründe. In diesem Punkt unterscheide ich mich von Feinberg und nehme eine andere Richtung: Warum sollte es nach allem, was bisher gesagt wurde, moralische Rechte geben? Auf diese Frage scheint es eine evidente Antwort zu geben, die auf das verweist, was die Deutschen ›Rechtspolitik‹ nennen: Der Kampf für die Menschenrechte, die zu weiten Teilen in dem Sinne ›moralische Rechte‹ sind, dass sie keine aufgrund der Unmöglichkeit, ihnen die Merkmale der Einklagbarkeit, Institutionalisierung etc. zuzuschreiben, keine juridischen Rechte werden können, würde eine gutes Stück seiner Wirksamkeit verlieren, wenn er sich nicht gemäß dem Ausdruck Rudolf von Iherings als ›Kampf ums Recht‹ präsentierte. Anders gesagt: Indem sie die Gestalt (eingeforderter) juridischer Rechte angenommen haben, haben die moralischen Rechte eine Anerkennung erfahren können, die ihnen nicht von vorneherein zuteil wurde; war es schließlich nicht Doktrin der katholischen Kirche, dass der Mensch keine Rechte, sondern nur Pflichten habe? Dass freilich eine parajuridische Rhetorik im Kampf um die Anerkennung moralischer Rechte bemüht werden musste, bedeutet keineswegs, dass es eine natürliche oder konzeptuelle Verwandtschaft zwischen moralischen und juridischen Rechten gibt. Man kann sogar einen Schritt wagen und bis zur Behauptung gehen, dass die moralischen Rechte keine Rechte sind, sondern moralische und – nicht zu vergessen – politische Ansprüche, deren Befriedigung nicht notwendigerweise zunächst auf dem Rechtswege erfolgt. Nehmen wir noch einmal das Beispiel des in Frankreich in letzter Zeit aus Anlass bestimmter Auseinandersetzungen viel diskutierten Rechts auf Wohnung. Ich zögere nicht zu sagen, dass das Versprechen der französischen Regierung, das Recht auf Wohnung durch ein Gesetz einklagbar zu machen, es also in den Rang eines juridischen Rechts im vollen Wortsinne zu erheben, nichts als Wortgeklingel ist. Denn wäre das Recht auf Wohnung ein ein58 | jean-françois kervégan

klagbares Recht, würde dies bedeuten, dass jeder Obdachlose, jeder schlecht Wohnende berechtigt wäre, auf dem Gerichtswege die Respektierung seines Rechts einzufordern und die Regierung ihm unter Androhung gerichtlicher Zwangsmaßnahmen eine Wohnung zu verschaffen hätte. Es ist nicht zu übersehen, dass dies tiefreichende soziale und politische Transformationen zur Voraussetzung hätte. Die für das Recht auf Wohnung kämpfenden Assoziationen fordern – weil sie wollen, dass dieses Recht als ein Recht behandelt wird – konsequent ein juridisches Recht; sie verlangen, dass die Ämter zur Requisition von Wohnungen schreiten, die von ihren Eigentümern nicht genutzt werden, um Obdachlose in sie einzuweisen. Es bedarf keines Kommentars, dass eine solche Maßnahme nur um den Preis eines Bruchs mit dem derzeitigen juridischen, politischen und sozialen System möglich wäre, den weder die Regierung noch die parlamentarische Opposition in Kauf nehmen wollen. Unter diesen Bedingungen ist das Recht auf Wohnung zum Scheitern verurteilt; es bleibt, was es ist: ein ›moralisches Recht‹, d. h. ein Anspruch (claim), nicht aber ein Recht. Meine Schlussfolgerung zu diesem Punkt lautet: Aus Gründen vielfacher Ungewissheiten ist ein Verzicht auf die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs ›moralisches Recht‹ vorzuziehen, auch wenn er aus Gründen seiner mobilisierenden Kraft einen hohen rhetorischen Wert bewahren wird oder bewahren muss: Die Achtung eines ›Rechts‹ zu fordern entfaltet offensichtlich eine ganz andere Kraft, als eine ›Bitte‹ oder einen ›Anspruch‹ zu haben. Wenn es besser ist, auf den Begriffs des moralischen Rechts zu verzichten, dann in erster Linie, weil die konzeptuellen Unterschiede zwischen ›moralischen Rechten‹ und juridischen Rechten über deren Ähnlichkeiten obsiegen, selbst wenn die einen und die anderen sich in ihrer je eigenen normativen Ordnung als valid claims darstellen. Jedenfalls handelt es sich nicht um dieselbe normative Ordnung. Juridische und moralische Normativität haben eine ganze Reihe struktureller Unterschiede, auf welche insbesondere die Philosophen des Deutschen Idealismus (Kant, gefolgt von Fichte und Hegel) verdienstvollerweise aufmerksam gemacht haben; ich muss mich hier nicht dazu verbreiten. Insgesamt betone ich, dass in der Rechtsordnung (law) das Recht (right) und in der Moralordnung die Verpflichtung (duty) Vorrang hat. Dies veranlasst im Bereich der Gibt es moralische Rechte? | 59

Rechts- und Moralphilosophie zu einer Wahl, die ich zu erläutern mir hier nicht möglich ist. Gewöhnlich wird die Idee moralischer Rechte mit der Thematik der Menschenrechte illustriert. Ist aus den vorgetragenen Argumenten zu folgern, dass selbst der Ausdruck ›Menschenrechte‹ auf einem vulgären Sophismus beruht und schlicht und einfach ein flatus vocis ist? Ich denke ›Nein‹. Dies zum einen, weil man zwischen dem wissenschaftlichen Wert und der politischen oder rhetorischen Zweckdienlichkeit seiner Verwendung unterscheiden muss; selbst wenn die Thematik verwirrend sein sollte, bleibt doch, dass sie eine entscheidende Rolle im Kampf um Emanzipation der Individuen und Gruppen gespielt hat und weiterhin spielen wird, die sich um den Genuss bestimmter Güter gebracht sehen. ›Nein‹ ferner und vor allem, weil eine andere als jene tatsächlich auf der Idee erster moralischer Rechte beruhende klassische Rechtfertigung der Grundrechte möglich ist. Die Menschenrechte – unter Einschluss jener der ersten Generation, der ›Freiheitsrechte‹ – anders denn als ›moralische Rechte‹ zu denken, ist eine entscheidende Herausforderung, wenn man die gerichtliche Einklagbarkeit dieser Rechte bewahren und sich so ihrer Wirksamkeit vergewissern will. Aus dem Französischen übersetzt von Hans Jörg Sandkühler

Anmerkungen

Dworkin, Taking rights seriously, Cambridge (Mass.) 1978, S. 22. 2 Ebd., S. 190; vgl. auch S. 138, 147, 149, 194, 217, 326. 3 Ronald Dworkin, A matter of principle, Cambridge (Mass.) 1985, S. 13. 4 Dworkin, Taking rights seriously, S. 177. 5 Vgl. den Beitrag von Dagmar Borchers zum Utilitarismus in diesem Band. 6 Dworkin, Taking rights seriously, S. 90. 7 Ebd., S. 197. An anderem Ort spricht er sogar von einer »Verschmelzung von Verfassungsrecht und Moraltheorie« (ebd., S. 149). Dies ist nicht überraschend, wenn es – wie Dworkin denkt – zutreffend ist, dass die (amerikanische) Verfassung in »abstrakten moralischen Prinzipien« gründet und – man vgl. den Untertitel seines Freedom’s law. The moral reading of the american 1

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constitution, Cambridge (Mass.) 1996 – von einem »moralischen Diskurs« – gestützt ist. 8 Vgl. J.-F. Kervégan, Rechtliche und moralische Normativität. Ein ›idealistisches‹ Plädoyer für den Rechtspositivismus, in: Rechtstheorie, 39–1 (2008). 9 Vgl. H. L. A. Hart, Are there any Natural Rights?, in: The Philosophical Review 64–2 (1955), und ders., The Concept of Law, 2d edition with a Postscript, Oxford 1994, S. 167 f. 10 Vgl. R. Dworkin, Justice in Robes, Cambridge (Mass.) 2006, S. 1–35. 11 R. Dworkin, Taking rights seriously, S. 190. 12 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung, AA VI, 241. 13 J. Bentham, L’absurdité montée sur des échasses (1795), in: B. Binoche/ J.P. Cléro (Hg.), Bentham contre le droits de l’homme, Paris 2007, S. 34. 14 Vgl. die Präambel der französischen Verfassung von 1946 (»Jeder hat die Pfl icht zu arbeiten und das Recht, eine Beschäft igung zu erhalten.« und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Art. 23.1 : »Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.«). 15 R. Dworkin, Law’s Empire, Cambridge (Mass.) 1986, S. 407. 16 Vgl. H. L. A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, in: Harvard Law Review, Vol. 71 (1958), und L. Fuller, Positivism and Fidelity to the Law. A Reply to Professor Hart, in: Harvard Law Review 72 (1958). 17 Vgl. G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders., Rechtsphilosophie. Studienausgabe. Hg. v. R. Dreier/ S. L. Paulson, Göttingen 1999. 18 J. Feinberg, Natural Law. The dilemmas of judges who must interpret immoral laws, in: ders., Problems at the roots of the law, Oxford 2003, S. 24–25, 31. 19 Vgl. L. Fuller, The Morality of Law, Yale 1964, S. 33–38, und die Diskussion bei Feinberg, Natural Law, a. a.O., S. 12. 20 J. Feinberg, The nature and value of rights, in: ders., Problems at the roots of the law, a. a.O., S. 352. 21 Ebd., S. 353–354. 22 Ebd., S. 355. 23 J. Feinberg, In defense of moral rights, in: ders., Problems at the roots of the law, a. a.O., S. 43. 24 J. Waldron, Law and disagreement, Oxford 1999, S. 218. 25 Vgl. J. Bentham, L’absurdité montée sur des échasses (1795), in: Binoche/ Cléro, zit., S. 119 f.; R. G. Frey, Interests and rights: the case about animals, Oxford 1980. 26 L. W. Sumner, The moral foundations of rights, Oxford 1987, S. 143–147. 27 J. Feinberg, In defense of moral rights, ders., Problems at the roots of the law, a. a.O., S. 54. 28 Ebd., S. 55. Gibt es moralische Rechte? | 61

– Georg Mohr –

Moralische Rechte gibt es nicht

Gibt es moralische Rechte? Nein – so lautet meine These. Aber worauf genau zielt die Frage? Und was genau besagt die These? Um genauer angeben zu können, worum es bei dieser Frage geht, ist zu klären, was unter moralischen Rechten verstanden wird. Dies wiederum ist nicht bloß eine Frage der Definition, sondern der Verwendung des Begriffs des moralischen Rechts in bestimmten Begründungskontexten. Ich möchte die Frage daher konkreter so fassen: Für welche Zwecke wird der Begriff des moralischen Rechts heute verwendet und wofür meint man, ihn zu benötigen? (1. Abschn.) Wie kommt man auf den Begriff eines moralischen Rechts und was spricht für seine Annahme? (2. Abschn.) Ein paradigmatischer Kontext seiner Verwendung ist die Begründung von Menschenrechten. Ausgehend von einer Analyse der Funktion, die der Begriff des moralischen Rechts im Kontext der Menschenrechtsbegründung spielt (3. Abschn.), kritisiere ich diesen Begriff (4. Abschn.) und skizziere ein Modell der Rechtsbegründung, das ohne die Annahme moralischer Rechte auskommt (5. Abschn.). In den letzten Abschnitten präzisiere ich, was aus der Kritik am Begriff des moralischen Rechts nicht folgt, was positiv von dem mit diesem Begriff Intendierten bewahrt werden kann und inwiefern der Verzicht auf ihn keinen Schaden anrichtet (6. Abschn.), formuliere sodann ein entsprechend korrigiertes Verständnis von Menschenrechten (Abschn. 7) und spitze am Schluss die These noch einmal zu (Abschn. 8).

1. Für welche Zwecke wird der Begriff des moralischen Rechts verwendet? Der Begriff des moralischen Rechts wird in der Regel verwendet zur Formulierung des Anspruchs der Richtigkeit, Gerechtigkeit und Legitimität positiven Rechts. Er dient als eine höherstufige Instanz | 63

der Begründung und Rechtfertigung positiver Rechtsnormen. Insofern ist er typischerweise Element einer nicht-positivistischen Rechtsphilosophie. Naturrechts- und Vernunftrechtstheorien sind dafür klassische Beispiele, auch wenn diese keineswegs alle mit der Annahme moralischer Rechte operieren. Von moralischen Rechten wird vor allem im Kontext der Konzeptualisierung und Begründung von Menschenrechten gesprochen. Menschenrechte sollen vorpositive Rechte sein und ein bestimmtes Geltungsprofil haben. Sie sollen höherstufige Rechte sein, die als Geltungs- und Bewertungsmaßstäbe positiven Rechts fungieren. Kein positives Gesetz, das eine Menschenrechtsverletzung darstellt, kann Rechtsgeltung beanspruchen. Menschenrechte sind insofern negative Geltungsgrenze positiven Rechts.1 Dieser Geltungsanspruch von Menschenrechten wird häufig mit der These in Verbindung gebracht, Menschenrechte seien moralische Rechte. Der Begriff des moralischen Rechts wird zu dem Zweck verwendet, Menschenrechte mit einem höherstufigen und prioritären Geltungsprofil auszustatten. Dagegen werde ich im Folgenden die These vertreten, dass wir für diese Zwecke keinen Begriff von moralischen Rechten benötigen und er diesen Zwecken in einem gewissen Sinne sogar abträglich ist.

2. Wie kommt man auf den Begriff eines moralischen Rechts? Was spricht für einen Begriff moralischer Rechte? Der Begriff des moralischen Rechts ist so häufig in einem bestimmten Segment der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Literatur anzutreffen, dass es gewagt erscheinen könnte, ihn zur Disposition zu stellen. Wie kommt man auf den Begriff eines moralischen Rechts? Der Begriff eines moralischen Rechts scheint sich aus dem Begriff der moralischen Pflicht als dessen Korrelat herzuleiten: (a) Dass ein x eine moralische Pflicht zu p hat, heißt, dass es ein y gibt, das ein moralisches Recht auf p hat. Wenn diese Korrelation zwischen moralischen Pflichten und moralischen Rechten besteht, werden wir, sofern wir keine moralischen 64 | georg mohr

Nihilisten sind und nicht leugnen, dass es moralische Pflichten gibt oder dass zumindest der Begriff der moralischen Pflicht nicht leer oder sinnlos ist, auch den Begriff des moralischen Rechts akzeptieren müssen. So schreibt etwa Ernst Tugendhat, dass er den Begriff des Rechts »einfach als Korrelat des Begriffs der Verpflichtung verstehe«: (b) »Für alle x und y soll gelten, daß, wenn x eine Verpflichtung gegenüber y hat, dann hat y, wenn es gleichfalls eine Person und nicht identisch mit x ist, ein entsprechendes Recht.«2 Tugendhat spricht hier zwar nicht wörtlich von ›moralischer Verpflichtung‹ und ›moralischem Recht‹. Aber da es in dem gesamten Kontext des Zitats um Moral und Ethik geht und Tugendhat im folgenden Satz auch explizit von »moralischer Gemeinschaft« und »moralischem Normensystem« spricht, darf man seine These so verstehen, dass moralische Rechte Korrelate von moralischen Pflichten sind. Stimmt das? Besteht tatsächlich eine solche allgemeine Korrelation? Ob eine im strengen Sinne allgemeine Korrelation besteht, ist zum einen eine Frage der Modallogik bzw. deontischen Logik und wird dort mit Mitteln moderner Formalisierungssysteme diskutiert. Darauf können wir uns hier nicht einlassen. Fragen wir stattdessen: Besteht eine Korrelation insofern, dass wir von moralischen Pflichten nur in Korrelation mit moralischen Rechten sprechen dürfen? Beantworten wir diese Frage, indem wir fragen: Was würde aus einer streng allgemeinen Korrelation folgen? Zum Beispiel würde daraus folgen, dass wir uns zu einem bestimmten Umgang mit der nichtmenschlichen Natur, mit Tieren, Pflanzen, natürlichen Lebensräumen, nur dann moralisch verpflichtet betrachten könnten, wenn wir Tieren, Pflanzen und natürlichen Lebensräumen korrelative Rechte zusprächen. Nach Tugendhats Korrelationsaxiom würde etwa unsere moralische Pflicht, Tiere nicht zu quälen, mit dem moralischen Recht der Tiere, nicht gequält zu werden, korrelieren. Das heißt: Eine Pflicht unsererseits, Tiere nicht zu quälen, bestünde nur insofern, als die Tiere ein moralisches Recht hätten, nicht gequält zu werden. Eine Pflicht unsererseits, Pflanzen zu schützen, bestünde nur insofern, als die Pflanzen ein moralisches Recht hätten, geschützt zu werden. Eine Pflicht unsererseits, natürliche LebensMoralische Rechte gibt es nicht | 65

räume zu erhalten, bestünde nur insofern, als natürliche Lebensräume ein moralisches Recht hätten, erhalten zu werden. Nun sind sicher viele von uns der Auffassung, die Pflicht zu haben, Tiere nicht zu quälen. Es ist aber keineswegs jeder von uns bereit, die Annahme zu machen – die einigen sogar mystisch anmuten wird –, dass Tiere moralische Rechte haben. Noch viel weniger von uns werden, obwohl sie vielleicht eine Pflicht zum Pflanzenschutz akzeptieren, bereit sein, auch Pflanzen moralische Rechte zuzuschreiben. Und es klingt geradezu verrückt zu sagen, natürliche Lebensräume hätten moralische Rechte. Wir unterstellen also – und ich meine, zu Recht – , dass es möglich, sinnvoll und sogar notwendig ist, uns zu einem bestimmten Umgang mit der nichtmenschlichen Natur moralisch verpflichtet sehen zu können, ohne die mystische Annahme machen zu müssen, dass Tiere, Pflanzen und natürliche Lebensräume Subjekte moralischer Rechte sind. Das aber heißt, dass wir aus Gründen philosophischer Solidität, wenn wir uns nämlich Naturmystik ersparen wollen, die streng allgemeine Korrelation ablehnen müssen. Genau betrachtet behauptet Tugendhat auch keine streng allgemeine Korrelation. Er schränkt die Korrelation auf das Verhältnis zwischen Personen ein. Noch einmal das Zitat: (b) »Für alle x und y soll gelten, daß, wenn x eine Verpflichtung gegenüber y hat, dann hat y, wenn es gleichfalls eine Person und nicht identisch mit x ist, ein entsprechendes Recht.« Mit Rücksicht auf diese Einschränkung sollten wir Tugendhats Korrelationsaxiom umformulieren: (c) Für alle x und y, sofern x und y Personen sind, soll gelten, dass, wenn x eine Verpflichtung gegenüber y hat, y ein entsprechendes Recht hat – vorausgesetzt, dass y nicht identisch mit x ist. Aber auch in dieser präziseren Fassung ist die Korrelationsbehauptung nicht überzeugend. Das lässt sich am Beispiel des Lügenverbots zeigen. Alltagssprachlich formuliert besagt das Lügenverbot, dass man die Wahrheit sagen soll. Aber diese Redeweise ist verkürzt. Denn lügen ist nicht identisch damit, die Unwahrheit zu sagen. Wer nicht die Wahrheit sagt, ist nicht notwendigerweise ein Lügner, son66 | georg mohr

dern kann sich auch einfach nur irren. Lügen heißt, wissentlich, willentlich und mit der Absicht der Täuschung die Unwahrheit sagen. Das Gebot kann deshalb nicht lauten: Sage die Wahrheit! Sondern es muss lauten: Sprich wahrhaftig! Und das meint: Sage das, wovon du überzeugt bist, dass es wahr ist.3 Das Lügenverbot kann also auch ›Wahrhaftigkeitsgebot‹ genannt werden. Dass es verboten ist zu lügen, ist äquivalent damit, dass es geboten ist, wahrhaftig zu sprechen. Die Frage lautet jetzt: Muss jemand, der die Auffassung vertritt, dass es eine Pflicht gibt, wahrhaftig zu sprechen, auch der Auffassung sein, dass es ein Recht gibt, nicht belogen zu werden, sowie dass es eine Wahrhaftigkeitspflicht aufgrund eines Rechts auf Wahrheit gibt? Hat eine Person x insofern die Pflicht, nicht zu lügen, als eine Person y das Recht hat, dass man wahrhaftig zu ihr spreche? Anders formuliert: Korreliert die Pflicht, nicht zu lügen, mit dem Recht, nicht belogen zu werden? Dieser Auffassung war tatsächlich Benjamin Constant.4 Er geht davon aus, dass Pflichten Rechten korrespondieren: Wo es kein Recht gibt, gibt es auch keine Pflicht.5 Zu einer Handlung, auf deren Ausführung durch jemand anders niemand ein Recht hat, ist niemand verpflichtet. Eine Person x ist zu einer Handlung h gegenüber einer Person y nur dann verpflichtet, wenn y ein Recht darauf hat, dass andere ihr gegenüber h ausführen. Constant bezieht dieses Prinzip auf die Frage, ob und inwiefern es eine Pflicht gibt, die Wahrheit zu sagen, d. h. nach obiger Präzisierung: wahrhaftig zu sprechen. Nach Constant ist die Wahrhaftigkeitspflicht folgen- und adressatenrelativ. Die Pflicht einer Person x zur Wahrhaftigkeit gegenüber einer Person y ist laut Constant an die Voraussetzung gebunden, dass die Wahrheit niemandem schadet (Folgenrelativität) und dass y nicht die Absicht hat, einem anderen zu schaden (Adressatenrelativität). Eine Person, die eine Wahrheit zur Schädigung anderer verwenden will, verwirkt das Recht auf Wahrhaftigkeit.6 Hat y das Recht auf Wahrhaftigkeit verwirkt, verfällt dadurch auch die Wahrhaftigkeitspflicht von x gegenüber y. Zumindest in Bezug auf diese ›schädliche Wahrheit‹ hat niemand die Pflicht, y die Wahrheit zu sagen (wahrhaftig zu sprechen), weil y aufgrund seiner Schädigungsabsicht das Recht auf Wahrhaftigkeit verwirkt hat. Nach Constant darf man also bestimmte Leute belügen, nämlich diejenigen, die aufgrund des Unwerts ihres eigenen Tuns kein Recht auf wahrhaftiges Sprechen Moralische Rechte gibt es nicht | 67

anderer haben. Constant wörtlich: »Die Wahrheit zu sagen, ist eine Pflicht also nur denjenigen gegenüber, die ein Recht auf Wahrheit haben.«7 Constant vertritt das Korrelationsaxiom: Pflichten gibt es nur als Korrelate von Rechten, die ihrerseits nur unter bestimmten Bedingungen in Anspruch genommen werden können. Man wird Kant zustimmen, wenn er dies in seinem Aufsatz ›Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen‹8 als eine wenig überzeugende Konstruktion kritisiert.9 Denn der Pflichtbegriff scheint, zumindest in dem genannten Fall, durch seine Korrelierung mit dem Rechtsbegriff geradezu seinen Sinn zu verlieren. Stattdessen scheint es doch so zu sein: Es gibt kein Recht, zumal kein verlierbares Recht, auf Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit seitens des Hörers einer Behauptung. Es gibt nur die Pflicht seitens des Sprechers, wahrhaftig zu sprechen. Die Pflicht, nicht zu lügen, kann als moralische Pflicht und auch als Rechtspflicht (juridische Pflicht) verstanden werden. Sie kann beides sein. Der Pflichtbegriff kann ein moralischer und ein juridischer sein. Es gibt moralische Pflichten und es gibt Rechtspflichten. Beim Rechtsbegriff ist das anders. Es gibt juridische Rechte. Es gibt insbesondere juridische ›subjektive Rechte‹. Das sind Befugnisse von Rechtssubjekten aufgrund geltenden objektiven Rechts, also einer Rechtsordnung. Deren gibt es in der rechtswissenschaftlichen Terminologie insbesondere Herrschaftsrechte (z. B. Eigentumsrechte, Urheberrechte), Ansprüche (z. B. auf Nutzung gemieteten Wohnraums) und Gestaltungsrechte (z. B. Vertragsschluss und -kündigung). Aber es gibt keine moralischen Rechte. Fragen wir einige unter denjenigen Autoren, die den Begriff des moralischen Rechts verwenden, nach ihrem Verständnis von diesem Begriff und schauen wir uns an, wie und wofür sie ihn verwenden.

3. Die Verwendung des Begriffs moralischer Rechte in der Menschenrechtsbegründung Eine geeignete Klasse von Rechten, an denen man die Frage, ob es moralische Rechte gibt, gut erörtern kann, sind Menschenrechte. Denn die Rede von moralischen Rechten meint einen Typ von Rechten, die diejenigen Eigenschaften haben sollen, die Menschenrech68 | georg mohr

ten zukommen sollen. Welche Merkmale sollen moralische Rechte nach Auskunft derer aufweisen, die sie für unverzichtbar halten, um zu erläutern, was Menschenrechte sind? Stefan Gosepath schreibt: »M[enschenrechte] sind eine Untermenge moralischer Rechte. M. sind so genannte generelle Rechte, die Menschen qua Menschsein haben, das heißt, ohne notwendig schon in einer bestimmten Beziehung zu anderen Menschen stehen zu müssen, aus denen sich so genannte spezielle Rechte ergeben. Der Status der M. hängt nicht von vorhergegangenen Handlungen (zum Beispiel Versprechen) oder Einwilligungen (Verträgen) oder anderen sozialen Beziehungen (Mitgliedschaft in irgendeiner partikularen Gemeinschaft) ab. M. gelten qua Mitgliedschaft in der Menschengemeinschaft, eine Mitgliedschaft, die keinem Menschen mit guten Gründen verweigert werden kann. Insofern kann man sagen: Ein erstes allgemeines Prinzip oder eine allgemeine Grundlage für die Herleitung und Begründung von spezifischen M. ist das Recht, als Mensch wie alle anderen gleichermaßen respektiert zu werden oder, mit anderen Worten, gleichberechtigtes autonomes Mitglied der weltweiten Menschengemeinschaft zu sein.«10 Den Begriff des moralischen Rechts erläutert Gosepath ansatzweise folgendermaßen: »Als moralische Rechte gelten Menschenrechte auch unabhängig von ihrer faktischen Anerkennung und Befolgung. Wenn wir sie als moralische Verpflichtung anerkennen, dann gelten sie vor aller positiven Rechtssetzung.«11 »Die faktische Anerkennung der Menschenrechte als spezielle moralische Rechte, die lebenswichtige Interessen durch effektive Institutionen schützen sollen, basiert – so meine Vermutung – auf einem globalen, minimalen und übergreifenden Konsens unterschiedlicher Moralauffassungen.«12 Auch Robert Alexy bezeichnet Menschenrechte als moralische Rechte und will damit deren fundamentalen und vorrangigen Charakter kennzeichnen. Moralische Rechte sind nach Alexy solche, die jedem gegenüber begründbar sind und die »ein gegenüber jedem begründbares Recht« implizieren, eine gemeinsame Instanz für deren Durchsetzung zu schaffen: den Staat. »Durch die Einrichtung eines Staates als Durchsetzungsinstanz werden die moralischen Rechte, die die einzelnen gegeneinander haben, in inhaltsgleiche Rechte des positiven Rechts transformiert.«13 Moralische Rechte gibt es nicht | 69

Bei Amartya Sen heißt es: »(1) Human rights can be seen as primarily ethical demands. They are not principally ›legal‹, ›proto-legal‹ or ›ideal-legal‹ commands. Even though human rights can, and often do, inspire legislation, this is a further fact, rather than a constitutive characteristic of human rights. (2) The importance of human rights relates to the significance of the freedoms that form the subject matter of these rights. Both the opportunity aspect and the process aspect of freedoms can figure in human rights. To qualify as the basis of human rights, the freedoms to be defended or advanced must satisfy some ›threshold conditions‹ of (i) special importance and (ii) social influenceability.«14 Sen weist ausdrücklich darauf hin, dass Menschenrechte durch die Unterstellung eines ›moralischen Anspruchs‹ ihren starken Sinn erhalten. »There is something deeply attractive in the idea that every person anywhere in the world, irrespective of citizenship or territorial legislation, has some basic rights, which others should respect. The moral appeal of human rights has been used for a variety of purposes, from resisting torture and arbitrary incarceration to demanding the end of hunger and of medical neglect.«15 Diejenigen Merkmale, die mit dem Begriff des moralischen Rechts erfasst werden sollen, sind demnach: ▷ ▷ ▷ ▷ ▷ ▷ ▷ ▷

vor- oder überpositive Geltung Sicherung lebenswichtiger Interessen durch effektive Institutionen generelle Rechte fundamentale Rechte leistungs-, einwilligungs- und sozialbeziehungsunabhängig Unveräußerbarkeit Universalität Egalität

Diese Liste mag man erweitern oder weiter zusammenfassen wollen. Der wesentliche Punkt ist ersichtlich dieser: Menschenrechte sollen als Rechte mit besonderem Geltungsrang, mit besonders ›intensiver‹ Geltung verstanden werden. Die Tatsache, dass Menschenrechte dies alles sein sollen: vorpositiv, generell, fundamental, universell, etc., soll durch den Begriff des moralischen Rechts markiert werden. Wer von ›moralischen Rechten‹ spricht, meint damit 70 | georg mohr

eine besonders intensive Geltungsqualität der betreffenden Rechte. Sie sollen allgemeiner und bedingungsloser als andere Rechte gelten. Als Markierer der aufgezählten Merkmale erfüllt der Begriff des moralischen Rechts die Funktion eines rhetorischen Geschmacksverstärkers. Nennen wir daher eine Theorie, die den Begriff des moralischen Rechts in diesem Sinne affirmativ verwendet, eine ›Glutamat-Theorie‹. Die Glutamat-Theorie beruht, so meine These, auf unklaren Begriffen von Moral und von Recht, die sie in unzulässiger Weise miteinander verbindet. Ich will dies etwas weiter ausführen.

4. Kritik am Begriff des moralischen Rechts Zwischen Moral und Recht bestehen grundlegende, kategoriale Differenzen, die für die Beantwortung der Frage, ob es moralische Rechte gibt, von Bedeutung sind: 1. Moral ist nicht wesentlich auf soziale Beziehungen angelegt. 2. Moral ist nicht wesentlich Inbegriff von Rechten, sondern von Pflichten. 3. Primärer Adressat von Menschenrechten sind politischrechtlich verfasste Institutionen. Diese wiederum sind keine Adressaten moralischer Pflichten, sondern von Rechtspflichten – nicht nur darum, weil es müßig ist, an Institutionen moralische Appelle zu richten, dafür sind bestenfalls Personen geeignet, sondern vor allem, weil es dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip widerspräche. Der Rechtsbegriff betrifft kategorial nicht das, worum es in der Moral geht. Und Moral ist nicht das, worum es im Recht geht. Die Rede von moralischen Rechten ignoriert diese kategorialen Differenzen zwischen Moral und Recht und begeht damit einen Kategorienfehler. Da der Begriff des moralischen Rechts in der Menschenrechtsliteratur so weit verbreitet ist, weckt eine kritische These wie die, der fragliche Begriff sei verzichtbar, den Verdacht, es könnte durch die Eliminierung des Begriffs der Theoriebildung etwas Wesentliches verloren gehen. Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich daher sofort die Frage, ob die Begründung der Menschenrechte gefährdet ist, wenn wir den Begriff des moralischen Rechts aufgeben. Ich Moralische Rechte gibt es nicht | 71

werde daher ein Modell der Rechtsbegründung skizzieren, das ohne den Rekurs auf moralische Rechte auskommt und diesen auch nicht zur Begründung von Menschenrechten benötigt, um anschließend einige Schlussfolgerungen aus meinen Überlegungen zu ziehen.

5. Eine Theorie der Rechtsbegründung ohne moralische Rechte Ein Begründungsmodell, das Menschenrechte ohne die Annahme moralischer Rechte konzipiert, lässt sich von der Rechtsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes herleiten. Deren Kerngedanke bezogen auf den Menschenrechtsbegriff lautet: Menschenrechte artikulieren die elementarsten Voraussetzungen dessen, was es heißt, dass Menschen handeln und als Handelnde überhaupt Rechte haben. Menschenrechte sind somit Teil einer Rechtsbegründung, die entwickelt wird im Zusammenhang einer Theorie vom Menschen hinsichtlich seiner elementarsten Beziehungen als Mensch zu Menschen. Das im Staat gesicherte Recht ist, um eine bedeutende These Fichtes aufzugreifen, die Sphäre der Institutionalisierung wechselseitiger Anerkennung von Personen.16 Fichte formuliert diesen Grundgedanken etwas ausführlicher wie folgt: »Personen, als solche, sollen absolut frei, und lediglich von ihrem Willen abhängig sein. Personen sollen, so gewiß sie das sind, in gegenseitigem Einflusse stehen, und demnach nicht lediglich von sich selbst abhängig sein. Wie beides beisammen bestehen könne, dieses zu beantworten, ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft: und die ihr zum Grunde liegende Frage ist die: wie ist eine Gemeinschaft freier Wesen, als solcher, möglich?«17 Dieser Grundgedanke enthält zwei Momente: ▷ die Idee der Kompatibilität von gegenseitig einzuräumenden Sphären freier Handlungen, sowie ▷ die Idee fundamentaler Rechte der Person als solcher. Das zweite Moment ist der zentrale Gedanke von Fichtes Theorie des ›Urrechts‹. Unter ›Urrecht‹ versteht Fichte ein Recht, das unmittelbar Bedingung der Möglichkeit des Personseins ist.18 Ein Urrecht ist ein Recht, »das jeder Person, als einer solchen, absolut zukommen soll«.19 Nun bezieht sich das Recht, anders als die Moral, ausschließlich auf das, »was in der Sinnenwelt sich äußert«.20 Daher 72 | georg mohr

sind die Bedingungen der Persönlichkeit genau insofern als Rechte zu denken, als Personen »in der Sinnenwelt erscheinen, und durch andere freie Wesen, als Kräfte in der Sinnenwelt, gestört werden könnten«.21 Die Frage der Gewährleistung personaler Freiheitssphären betrifft die Regelung von Freiheitsäußerungen in der Sinnenwelt, denn nur in der Sinnenwelt kann »die Freiheit durch die Freiheit eingeschränkt werden«.22 In Bezug auf jede Person für sich betrachtet ist das Urrecht das »absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein. (Schlechthin nie Bewirktes.)«23 Wendet man diese These auf die Idee der Menschenrechte an, so lassen sich diese verstehen als von dem Gedanken getragen, dass sich Menschen nur als Menschen begegnen, wenn sie sich als Rechtssubjekte anerkennen. Nicht diese oder jene Moral, sondern die Idee des Rechts als wechselseitige Anerkennung von Personalität und damit von Sphären der Manifestation von selbstbestimmter Freiheit ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die Begründung von Menschenrechten. Diese sind zu verstehen als grundlegende Rechte derart, dass nur unter ihrer Voraussetzung überhaupt Menschen als Rechtssubjekte und damit als Menschen unter Menschen betrachtet werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgende Konzeption von Menschenrechten: 1. Menschenrechte sind nicht als moralische Rechte zu verstehen. 2. Menschenrechte sind Grundnormen (Fundamentalnormen) des Rechts, welche als Legitimitätsbedingungen des positivierten Rechts gelten. 3. Menschenrechte sind damit aber nicht nur und nicht primär als juridische Rechte zu verstehen. Sie stecken den Bereich der primären, als unverletzlich verstandenen Rechtsgüter ab. Sie sagen, welche Rechtsgüter zu schützen die Aufgabe und der normative Sinn von Recht ist. 4. Menschenrechte sind ein Normtyp, der der Differenzierung in Moral und positivem Recht vorgelagert ist. Sie sind fundamental in dem Sinne, dass sie den normativen Orientierungsrahmen dafür abstecken, was es überhaupt heißen soll, eine Kultur menschlichen Zusammenlebens mit den Mitteln des Rechts, d. h. eine ›Rechtskultur‹, zu entwickeln.24 Moralische Rechte gibt es nicht | 73

6. Schlussfolgerungen 6.1 Was aus der Kritik am Begriff des moralischen Rechts nicht folgt Zu bestreiten, dass es moralische Rechte gibt, heißt nicht, die Menge der Rechte, die Menschen haben, zu verringern. Es bedeutet auch nicht, die Verbindlichkeit und Dignität von Rechtsansprüchen in Misskredit zu ziehen, aufzuweichen oder zu unterlaufen. Sondern: einen unklaren und schon dadurch schädlichen Diskurs möglichst kategorial zu differenzieren und von Ambivalenzen zu reinigen. Die These, es gebe keine moralischen Rechte, redet keinem kruden Rechtspositivismus das Wort. Die These besagt nicht, es gebe keine moralischen Maßstäbe, Standards, Prinzipien, die für die Legitimation juridischen Rechts relevant sind. Sie besagt nicht ›Gesetz ist Gesetz‹, wenn dies meinen sollte, positive Gesetze seien der Legitimitätsprüfung entzogen. Die Ablehnung von moralischen Rechten hat nicht zur Konsequenz, dass der normative Rang der Menschenrechte zur Disposition gestellt würde. Insbesondere folgt aus der Kritik am Begriff moralischer Rechte nicht, dass Menschenrechte dann nur noch als verliehene Rechte verstanden werden könnten und es insofern der Willkür staatlicher Machthaber anheim gestellt wäre, ob sie verliehen werden oder nicht. Es ist unproblematisch, Menschenrechte als verliehene Rechte zu verstehen, solange man ihre Verleihung als notwendige Bedingung einer legitimen staatlichen Ordnung und also als nicht ins politische Belieben gestellt versteht.25 Des Weiteren folgt daraus, dass Menschenrechte keine moralischen Rechte sind, ebenso wenig, dass sie nur Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern verliehen werden könnten. Man kann und sollte zwar mit Hannah Arendt Staatsbürgerschaft als primäres Recht verstehen: als ein Recht auf faktisch einklagbare Rechtssubjektivität. Aber die Prämisse, von der auch Arendt ausgeht, nur Staatsbürgerschaft sichere Rechtssubjektivität, ist überzogen und unnötig. Bei Arendt ist diese Prämisse historisch motiviert und verständlich. Aber sie betrifft keinen begrifflichen und fundamentalnormativen Bedingungszusammenhang. Stattdessen sollte man Menschenrechte als Forderung an Verfassungen verstehen, allen Menschen, nicht 74 | georg mohr

nur Staatsbürgerinnen, im Geltungsgebiet einer Rechtsordnung Primärrechte zuzusichern. Und dies sollte nicht nur in (National-) Staaten, sondern in allen rechtlich verfassten Formen politischer Gemeinwesen gelten.

6.2 Was man positiv von einem recht verstandenen Sinn des mit dem Begriff des moralischen Rechts Gemeinten bewahren kann Wer sagt, Menschenrechte seien moralische Rechte, meint eigentlich: Es gibt zwingende Gründe, aus denen (a) es Recht geben soll (!) und (b) bestimmte ›Rechte höherer Ordnung‹ als Bedingung der normativen (legitimatorischen) Qualifizierung des positiven Rechts gesichert sein sollen und somit das Recht nicht bloß das willkürliche Produkt faktischer Positivierungsprozeduren ist. Menschenrechte als ›Rechte höherer Ordnung‹ zu verstehen ist aber etwas anderes als sie als ›moralische Rechte‹ zu verstehen. Anders gesagt: Der Begriff des moralischen Rechts ist, abgesehen von seiner internen Inkonsistenz, gar nicht geeignet, die Idee von einem Recht höherer Ordnung zu konzeptualisieren. Bei letzterem handelt es sich um die Vorstellung, dass es Legitimitätsbedingungen von Recht gibt und diese ihrerseits identifizierbar sein sollen. Sie bilden das normative Profil einer Rechtsordnung. Zu ihnen gehören Forderungen, die unverhandelbare Befugnisgrenzen und Leistungspflichten von gesellschaftlichen Institutionen, die mit öffentlicher Gewalt ausgestattet sind, sichern sollen. Sie sind Ausdruck wichtiger Wertvorstellungen und Ansprüche an ein menschliches Zusammenleben, soweit es durch rechtsförmige Institutionen geregelt werden kann. Man kann dabei von in einem weiten Sinne ›moralischen‹ Anforderungen an das Recht sprechen. Das ist aber nicht dasselbe wie und darf nicht verwechselt werden mit moralischen Rechten von Menschen. Moralisch haben Menschen Pflichten gegen einander und gegen sich selbst. Bei Menschenrechten hingegen geht es um die Verpflichtung von rechtsförmigen Institutionen auf die GewährMoralische Rechte gibt es nicht | 75

leistung bestimmter fundamentaler Rechte (Primärrechte), die den Status von Rechtspersonen konstituieren. Wenn also die Rede von moralischen Rechten auch auf einer Verwechslung beruht und damit der Sache, um die es geht, abträglich ist, markiert sie einen wichtigen Punkt: Nicht alles lässt sich als deontologisch neutrales, nur formales Kompatibilisieren des inhaltlich kontingenten Wollens beliebig heterogener Willenssubjekte konzipieren; nicht jedwedes formal rechtsförmige Produkt beliebiger Prozeduren soll als legitimes Recht gelten und damit der Kritik entzogen sein können. Hinzutreten muss mindestens die Angabe qualifizierter orientierender26 Wertparameter: Freiheit, Personalität, Anerkennung. Menschenrechte sind nicht nur zwangsbewehrte Koordinationsregeln, sondern in die Rechtsform übertragene Artikulationen solcher fundamentaler Wertvorstellungen.27

6.3 Was wäre denn so schlimm, wenn es keine moralischen Rechte gäbe? Ein Hauptbedenken gegen den Verzicht auf das Konstrukt moralischer Rechte lautet: Wenn es keine moralischen Rechte gäbe, wären Menschenrechte doch nur verliehene statt ›natürliche‹ Rechte. Menschenrechte als verliehene zu verstehen, ist aber nicht per se problematisch. Entscheidend, um den normativen Rang der Menschenrechte zu wahren, ist nur, ob die Verleihung ins politische Belieben gestellt ist. Es verhält sich sogar genau umgekehrt zu dem, was das Bedenken unterstellt: Menschenrechte bekommen gerade dadurch einen höheren Verbindlichkeitsgrad, dass sie von der Menschheit als begrenzende und sichernde Grundlage von positivem Recht gesetzt werden. Auch die überpositiven, das selbstgesetzte positive Recht bindenden Maßstäbe sind wiederum selbstgesetzte und selbstverpflichtende Maßstäbe. Menschenrechte sind zu verstehen als Selbstverpflichtung der politisch-rechtlichen Selbstgesetzgebung.28

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7. Korrigiertes Verständnis von Menschenrechten Was tatsächlich aus der skizzierten Kritik am Begriff moralischer Rechte folgt, ist ein gegenüber der ›Glutamat-Theorie‹ korrigiertes Verständnis von Menschenrechten. Recht ist die Beziehung zwischen Rechtssubjekten. Menschenrechte sind die Ausformulierung von Grundbedingungen rechtlich bestimmter Rechtsintersubjektivität. Sie definieren den Status von Rechtssubjekten, indem sie diesen durch basale Rechtsbeziehungen zwischen Rechtssubjekten konturieren. Sie sind keine moralischen Rechte, sondern aus unbedingten moralischen Pflichten resultierende Primärrechte, die als Legitimitäts-Forderungen an Rechtsordnungen gerichtet sind. Sie sind dem Anspruch nach Rechte, die zwingend aus dem Kantischen ›einzigen, ursprünglichen Recht jedes Menschen‹, dem ›Prinzip der angeborenen Freiheit‹ folgen: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.«29 Die Menschheit hat die moralische Pflicht, ein System von Rechten zu etablieren, welches sicherstellt, dass die Adressaten von Pflichten rechtlich zur Erfüllung ihrer Pflichten gezwungen werden können. Dazu sind moralische Rechte nicht imstande, nur juridischen Rechten korrelieren Rechtspflichten, und nur diese sichern die Erfüllung von berechtigten Ansprüchen.

8. Schluss Die Ausgangsfrage lautete: Gibt es moralische Rechte? Ich verneine sie. Ein Beweis, dass es etwas nicht gibt, zumal wenn es sich um etwas Abstraktes, einen (vermeintlichen) Typ von Rechten handelt, kann nur indirekt geführt werden. Zum einen hängt hier viel von Definitionen und Sprachregelungen ab. Diejenigen, die den Begriff des moralischen Rechts verwenden, definieren ihn selbst nicht hinreichend. Dieser Befund passt recht gut zu Benthams Bemerkung, dass die Leute von ihren natürlichen Rechten sprechen, wenn sie sich ohne argumentieren zu müssen durchsetzen wollen.30 Zum anMoralische Rechte gibt es nicht | 77

deren ist die Rede von ›es gibt‹ bei solchen abstrakten Entitäten wie Rechten mehrdeutig und unklar. Die deutlichste Antwort, die aus den angestellten Überlegungen zu folgern ist, lautet: Wir brauchen keine moralischen Rechte. Dieses negative Ergebnis bezieht sich auf die Beobachtung, dass diejenigen, die von moralischen Rechten sprechen, dies in der Regel mit Bezug auf Menschenrechte tun und den Ausdruck ›moralisches Recht‹ dort als Namen für ein Set von geltungsverstärkenden Merkmalen, als ›Geltungsglutamat‹ verwenden. Die Glutamat-Theorie moralischer Rechte aber ist kein überzeugender Anwalt für die Annahme moralischer Rechte. Für den Zweck, den moralische Rechte in der Glutamat-Theorie erfüllen sollen, gibt es etwas Besseres: die auf den anerkennungstheoretischen Personbegriff aufbauende Theorie der Primärrechte. Wenn man moralische Rechte also nicht für Menschenrechte braucht, wofür sollte man sie sonst brauchen? Ich glaube, für nichts. Fazit: Wenn wir (a) von moralischen Rechten keinen klaren Begriff haben und (b) für sie keine Anwendungsbereiche benennen können, für die man sie aus pragmatischen Gründen und mangels besserer Alternativen einsetzen müsste, dann können wir auch gleich sagen: Es gibt sie nicht.31 Anmerkungen

Vgl. R. Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat. In: S. Gosepath/ G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1998, S. 244−264; G. Lohmann, Menschenrechte zwischen Recht und Moral. In: Gosepath/ Lohmann 1998, S. 62–95; S. Gosepath, Zu Begründungen sozialer Menschenrechte. In: Gosepath/ Lohmann 1998, S. 146−187. 2 E. Tugendhat, Moralbegründung und Gerechtigkeit. Hg. v. M. Willaschek, Münster 1997, S. 5. 3 Darin steckt allerdings implizit auch die Aufforderung zur ›veracitativen Sorgfalt‹ beim Sprechen, d. h. zur gewissenhaften Prüfung, ob man ›ernsthaft‹ und mit guten Gründen von der Wahrheit des Gesagten überzeugt ist. 4 B. Constant, Des réactions politiques (1796–97). Paris 1988, chap. VIII: Des principes. Der betreffende Passus ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Kant und das Recht der Lüge. Hg. v. G. Geismann u. H. Oberer, Würzburg 1986, S. 23–25. 1

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»L’idée de devoir est inséparable de celle de droits: un devoir est ce qui, dans un être, correspond aux droits d’un autre. Là où il n’y a pas de droits, il n’y a pas de devoirs.« (ebd.; dt. Geismann/Oberer 1986, S. 24) 6 »Or nul homme n’a droit à la vérité qui nuit à autrui« (ebd.). Es geht dabei nicht um irgend eine Schadensfolge, sondern um den Mörder, der nach dem Aufenthaltsort einer Person in der Absicht, sie zu töten, fragt. 7 »Dire la vérité n’est donc un devoir qu’envers ceux qui ont droit à la vérité.« (ebd.). 8 I. Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797). In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (AA), Berlin 1900 ff., Bd. VIII, S. 425−430. 9 Ob Kants eigene Auffassung, die er in diesem Aufsatz vertritt, insgesamt überzeugend ist, ist eine andere Frage. Und wenn auch Constants Behauptung der Korrelation von Rechten und Pfl ichten fehlgeht, so ist doch seine Beobachtung, dass allgemeine Moralprinzipien (»principes premiers«) durch ›mittlere Prinzipien‹ (»principes intermédiaires«) zu ergänzen sind, die deren Anwendungsbedingungen spezifi zieren, von bleibendem Interesse etwa für die moderne ›angewandte‹ Ethik. 10 Gosepath 1998, a. a.O., S. 149 f. 11 S. Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/M. 2005, S. 23. 12 Ebd., S. 24. 13 Alexy 1998, a. a.O., S. 254. 14 A. Sen, Elements of a Theory of Human Rights. In: Philosophy & Public Affairs 32,4, 2004, S. 315−356, hier: S. 319. 15 Ebd., S. 315. 16 Vgl. dazu G. Mohr, Recht und Staat bei Fichte. In: Handbuch Deutscher Idealismus. Hg. v. H. J. Sandkühler, Stuttgart/Weimar 2005, S. 187−194; ders., Johann Gottlieb Fichte. In: Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. G. Lohmann u. a. Pollmann, Stuttgart/Weimar (im Druck). 17 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796). In: ders., Sämtliche Werke. Hg. v. I. H. Fichte, Berlin 1845, Nachdruck Berlin 1971, Bd. III, § 7, S. 85. 18 Ebd., § 8, S. 94. 19 Ebd., § 10, S. 112f. 20 Ebd., § 4, S. 55. 21 Ebd., § 10, S. 112. 22 Ebd., § 10, S. 113. 23 Ebd. 24 Zur Charakterisierung des normativen Status von Menschenrechten im Kontext einer Theorie der Rechtskultur vgl. G. Mohr, Menschenrechte, demokratische Rechtskultur und Pluralismus. In: M. Plümacher/ V. Schürmann/ S. Freudenberger (Hg.), Herausforderung Pluralismus, Frankfurt/M. 2000, 5

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S. 315–326.; ders., Rechtskultur. In: Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Hg. v. S. Gosepath/ W. Hinsch/ B. Rössler, Berlin 2008, Bd. 2, S. 1074–1078. 25 So zutreffend E. Tugendhat, Die Kontroverse um die Menschenrechte, in: Gosepath/ Lohmann 1998, S. 48−61, hier: 48. Aber daraus, dass eine Auffassung von der Legitimität staatlicher Ordnungen in einem weiteren Sinne mit moralischen Vorstellungen davon, was Menschen sich schulden, verbunden ist, folgt nicht, dass Menschenrechte als moralische Rechte zu verstehen sind. – Zur Debatte über moralische Rechte versus verliehene Rechte vgl. die Darstellung in H. J. Sandkühler, Menschenrechte. In: ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. in 3 Bdn., Bd. 2, Hamburg 2010, und ders., Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung, in diesem Band, S. &&. 26 Zum Orientierungsbegriff vgl. G. Mohr, Brauchen moderne Gesellschaften Orientierung und kann Philosophie sie geben? In: H. J. Sandkühler (Hg.), Philosophie, wozu? Frankfurt/M. 2008, S. 229−252, hier: 241−249. 27 Zur hier anschließenden Frage des Menschenbildes der Menschenrechte vgl. G. Mohr, Sind die Menschenrechte auf ein bestimmtes Menschenbild festgelegt? Plädoyer für eine Umkehr der Beweislast. In: H. J. Sandkühler (Hg.), Menschenrechte in die Zukunft denken. 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Baden-Baden 2009, S. 65−78, und ders., L’homme des droits de l’homme face aux figures de l’humanité. In: J. Poulain u. a. (Hg.), Les figures de l’humanité. Perspectives transculturelles. Frankfurt/M. 2009, S. 19−26. 28 Vgl. Mohr 2000, a. a.O., S. 323. 29 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten. 1. Teil: Rechtslehre (1797). In: AA VI, S. 237. 30 Zit. nach H.L.A. Hart, Utilitarianism and Natural Rights. In: Essays on Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, S. 181–197, hier: S. 186: »Men speak of their natural rights, said Bentham, when they wish to get their way without having to argue for it.« 31 Steffi Schadow danke ich für hilfreiche Verbesserungsvorschläge.

80 | georg mohr

– Dagmar Borchers –

»Nonsense on Stilts«? Warum einige Utilitaristen Bentham widersprechen würden und moralische Rechte für sinnvoll halten1

»Rights dominate most modern understandings of what actions are proper and which institutions are just. Rights structure the form of our governments, the contents of our laws, and the shape of morality as we perceive it. To accept a set of rights is to approve a distribution of freedom and authority, and so to endorse a certain view of what may, must, and must not be done.«2

Diese vergleichsweise emphatische Einstellung gegenüber moralischen Rechten, wie sie hier von Leif Wenat formuliert wird, wird von vielen moralischen Akteuren ebenso geteilt wie von Moraltheoretikern. Ein Standardeinwand gegen den Utilitarismus, der sich in vielen kritischen Darstellungen dieser Moralkonzeption findet, ist der, dass moralische Rechte mit der Kernidee des Utilitarismus nicht zu vereinbaren seien: Ihm ginge es um eine Maximierung des Gesamtwohls; diese Aggregation fände über Individuengrenzen hinweg statt. Entscheidend sei, dass der Gesamtnutzen maximiert wird, nicht, wie er auf die Individuen verteilt wird. Moralische Rechte, die der Maximierung Grenzen auferlegen würden, um Individuen vor Übergriffen zu schützen, seien deshalb nicht vorgesehen. Damit sieht sich der Utilitarismus gleich mit zwei Vorwürfen konfrontiert: Er wolle keine moralischen Rechte zugestehen, weil diese Idee der vorbehaltlosen Nutzenmaximierung widerspräche, und er könne auch keine moralischen Rechte im Rahmen seiner theoretischen Annahmen konzipieren, die Individuen vor negativen Folgen der Nutzenmaximierung schützen würden. Die Geltung moralischer Rechte stünde nämlich immer unter dem Vorbehalt, | 81

dass sie genau dann eingeschränkt oder aufgehoben würden, wenn eine Situation eintritt, in der ein Verstoß gegen sie den Nutzen maximieren würde – dies zu tun sei gewissermaßen moralisch geboten im Utilitarismus. Damit aber würde ihr eigentlicher Zweck ad absurdum geführt – nämlich Individuen zuverlässigen Schutz zu gewähren, unabhängig davon, welche Konsequenzen dies nach sich zieht. Diese Vorwürfe wurden bereits gegen den klassischen Utilitarismus erhoben und sind bis heute nicht verstummt. Während Jeremy Bentham bereit war, diesem vermeintlichen Defizit offensiv zu begegnen und moralische Rechte ohne Rücksicht auf moralische Intuitionen und die vorherrschenden ethischen Ansichten seiner Zeit im Zuge einer massiven Naturrechts-Kritik für überflüssig zu erklären, hatte bereits John Stuart Mill Wege aufgezeigt, wie man den Utilitarismus mit einer Konzeption moralischer Rechte in Einklang bringen könnte, ohne dessen Kerngedanken aufzugeben. Hintergrund dieses und weiterer Versuche von utilitaristischen Moralphilosophen, den Fehdehandschuh aufzugreifen und dabei einen integrativen konzeptionellen Pfad einzuschlagen, war u. a., dass der Utilitarismus, sofern er nicht bereit ist, Individuengrenzen zu wahren und zumindest basale Interessen von Individuen zu schützen, immer wieder in Konflikte mit tief sitzenden moralischen Intuitionen zu geraten droht. Man denke nur an das von Kritikern entwickelte berühmte Gedankenexperiment vom Besucher im Krankenhaus, der – sofern ausschließlich die Maximierung des Gesamtnutzens moralisch geboten ist – eigentlich als Organspender gegen seinen Willen geopfert werden müsste, um seine dafür ideal geeigneten Organe an fünf Patienten zu verteilen, die nur auf diesem Wege gerettet werden können.3 Auch wenn man darüber streiten kann, ob kontrafaktische Szenarien dieser Art wirklich zeigen können, dass ein strikt utilitaristisches Maximierungskonzept eine ständige Kollision mit basalen moralischen Intuitionen nach sich zöge,4 die die Seriosität dieser Konzeption nachhaltig untergraben würde, haben sie doch die Diskussion über den Stellenwert moralischer Rechte im Utilitarismus befeuert. Zwar haben utilitaristische Theoretiker nicht das vordringliche Interesse gehabt, Konflikte ihrer Moraltheorie mit moralischen Intuitionen unbedingt zu vermeiden und bestehende Diskrepanzen zugunsten der Intuitionen aufzu82 | dagmar borchers

lösen; gleichwohl haben Kritiken dieser Art eine grundlegende Schwierigkeit des Utilitarismus aufgezeigt, der sich dessen Vertreter stellen wollten. Im Zuge dieser Debatte um moralische Rechte im Utilitarismus ist eine Vielzahl von Lösungsmöglichkeiten entwickelt worden, die als weiterer Beleg für die von Ulrich Gähde konstatierte Fähigkeit dieses moraltheoretischen Programms gelten kann, »sich wirkungsvoll gegen Angriffe verschiedenster Art zur Wehr zu setzen, ›den Kopf immer wieder aus der Schlinge zu ziehen‹.«5 Gähde erklärt dieses Phänomen damit, dass diese Moralkonzeption analog zu naturwissenschaftlichen Theorien über eine Immunisierungsstrategie verfüge, die darin besteht, Angriffe in peripheren Theorieteilen abzupuffern und den zentralen Kernbereich der Theorie zu schützen: »Der Kern einer deskriptiven Theorie besteht aus einer im allgemeinen geringeren Zahl fundamentaler Aussagen bzw. Grundprinzipien. Dagegen besteht die Hülle aus einer umfangreichen, zudem zeitlich veränderlichen Menge speziellerer Aussagen und Hilfshypothesen. Zentrale und periphere Theorieteile spielen bei der Dynamik deskriptiver Theorien unterschiedliche Rollen. Während der Kern über längere Entwicklungsphasen nahezu unverändert beibehalten und zäh gegen jeden Widerlegungsversuch verteidigt wird, ist die ihn umgebende Hülle ständiger Veränderung unterworfen: Sie wirkt als Schutzgürtel (›protective belt‹), in dem auf den Theoriekern gerichtete Angriffe abgefangen werden können und der dabei selbst laufend modifiziert wird.«6 Dieser Kernbereich enthält Gähde zufolge im Fall der utilitaristischen, normativen Moraltheorie in einer Rekonstruktion Armatya Sens erstens eine konsequentialistische Kernthese, derzufolge Handlungen ausschließlich nach ihren Konsequenzen beurteilt werden; zweitens eine wohlfahrtstheoretische These, derzufolge die Beurteilung des Nutzens von Handlungskonsequenzen ausschließlich nach den Wertmaßstäben der von diesen Konsequenzen betroffenen Individuen erfolgt und drittens eine Summations-Kernthese, derzufolge der individuelle Gesamtnutzen einer Handlung berechnet wird als Summe der von einem bestimmten Individuum ermittelten Nutzenwerte aller Handlungskonsequenzen. »Der kollektive Gesamtnutzen wird erhalten, indem alle individuellen Nutzenwerte interpersonell aufaddiert werden. Moralisch geboten ist eine Handlung genau »Nonsense on Stilts«? | 83

dann, wenn sie den kollektiven Gesamtnutzen stärker (oder zumindest ebenso stark) erhöht, wie jede andere mögliche Handlung.«7 Der Utilitarismus hat auf die Leitfrage dieses Bandes ›Gibt es moralische Rechte?‹ nicht nur negative, sondern auch positive Antworten gegeben und moralische Rechte auf ganz unterschiedliche Weise innerhalb eines utilitaristischen Rahmenkonzepts entwickelt und integriert.8 Man wird sich allerdings fragen können, ob es überhaupt sinnvoll war, sich auf dieses Unternehmen einzulassen: Ein Grund für eine gewisse Skepsis könnte die These sein, die Georg Mohr in diesem Band vorgestellt hat.9 Mohr zufolge gibt es keine moralischen Rechte; wer so spricht, macht sich eines Kategorienfehlers schuldig. Moralische Rechte seien zudem verzichtbar. Der Rechtsbegriff mache ausschließlich im Bereich des positiven Rechts einen Sinn. Stattdessen bedürfe es in der Moral eines starken Verpflichtungsbegriffes, mit dem man die Berücksichtigung der moralischen Freiheiten und Ansprüche von Individuen sichern könne. Wenn diese These richtig wäre, dann hätte sich der Utilitarismus völlig umsonst bemüht, der Forderung nach moralischen Rechten Rechnung zu tragen. Möglicherweise sollte er dies auch dann gar nicht erst versuchen, wenn es nicht gelingt, diesen Angriff auf die utilitaristische Position im Schutzgürtel abzupuffern – moralische Rechte in die Theorie einbauen zu wollen, so die Sorge, könne den harten Kern und damit die inhaltliche Substanz angreifen und die Gesamttheorie fundamental beschädigen. Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass man in Hinblick auf die Frage ›Gibt es moralische Rechte?‹ aus utilitaristischer Perspektive abwägen muss zwischen den positiven Funktionen, die dieser Begriff in der öffentlichen Diskussion moralischer Konflikte sowie innerhalb der Ethik übernehmen könnte und den ›Kosten‹ seiner Implementierung innerhalb eines utilitaristischen Rahmenkonzepts im oben ausgeführten wissenschaftstheoretischen Sinne. Unverzichtbar im strengen Sinne sind sie aber auch aus regelutilitaristischer Perspektive nicht. Moralische Verpflichtungen werden im Kontext dieses Paradigmas selbstverständlich anders motiviert, aber auch hier wäre es denkbar, im Bereich der Moral mit einem starken Verpflichtungsbegriff sowie der Formulierung von ›Grundnormen‹ bzw. moralischen Grundprinzipien im Sinne Mohrs auszukommen und auch die Menschenrechte entsprechend zu interpretieren. So84 | dagmar borchers

fern man allerdings genau angeben kann, was man meint, wenn man von moralischen Rechten spricht (wie sie definiert sind und worauf sie sich gründen), kann es durchaus sinnvoll sein, sich dieser weit verbreiteten moralischen Sprache nicht zu verweigern und damit Akzentuierungen in der moralischen Auseinandersetzung zu ermöglichen, die für die ethische Deliberation wichtig sein könnten.10 Es geht mir hier also nicht darum, zu zeigen, dass der Utilitarismus moralische Rechte anerkennen und rekonstruieren kann, sondern vielmehr um die Frage, ob es aus seiner Perspektive sinnvoll ist, dies zu tun. Das Programm wird folgendermaßen aussehen: Zunächst beginne ich mit einigen Vorbemerkungen zur Frage ›Gibt es moralische Rechte?‹ (Abschnitt 1). Dann möchte ich in Reaktion auf Mohrs Überlegungen der Frage nachgehen, warum sich Utilitaristen überhaupt auf die Rekonstruktion von moralischen Rechten einlassen. Worin sehen sie deren Funktion? Warum braucht man sie ihrer Ansicht nach? (Abschnitt 2) Wie werden moralische Rechte definiert? (Abschnitt 3) Und wie werden sie konzipiert? (Abschnitt 4) Am Beispiel der Diskussion um den Status der Menschenrechte möchte ich schließlich die Frage stellen, ob es aus utilitaristischer Perspektive nicht auch ohne moralische Rechte gehen könnte (Abschnitt 5), um schließlich zu einer Schlusseinschätzung der utilitaristischen. Reaktion zu kommen (Abschnitt 6).

1. Kann man sinnvoll fragen, ob es moralische Rechte ›gibt‹? Die Frage ›Gibt es moralische Rechte?‹ suggeriert, dass man sie mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ beantworten könne. Es klingt zunächst so, als müsse man lediglich einen klaren, unverstellten Blick in die Welt moralischen Denkens und Urteilens werfen, um eine eindeutige Auskunft geben zu können. Aber natürlich steckt dahinter etwas ganz anderes. Selbst wenn man sie verneint – so wie man die Frage ›Gibt es den Weihnachtsmann?‹ als illusionsloser Erwachsener schweren Herzens verneinen würde – ist damit im Grunde nicht nur eine Entscheidung hinsichtlich eines verbreiteten Sprachgebrauchs, den man für sinnvoll oder hält oder ablehnt, verbunden, sondern eine konzeptionelle Entscheidung über den Zuschnitt einer Moraltheorie, »Nonsense on Stilts«? | 85

bzw. über das Verhältnis von Recht und Moral überhaupt und hätte dementsprechend gravierende Implikationen. Damit ist zugleich klar, dass man diese Fragestellung nicht isoliert und unvoreingenommen bearbeiten kann, sondern auch in diesem Fall stets vor dem Hintergrund jener Moraltheorie argumentiert, die man für plausibel hält. Je nach der inneren Struktur der Theorie, ihrer Terminologie und ihres Moralverständnisses werden die einschlägigen Überlegungen so ausfallen, dass sie für die jeweils vertretene Moraltheorie möglichst wenig Schwierigkeiten mit sich bringen, mit ihrer internen Struktur gut vereinbar sind und darüber hinaus auf möglichst kohärente Weise ein überzeugendes Verhältnis der Sphären von Recht und Moral begründen. Die Entscheidung über die angemessene Antwort ist mithin nicht nur eine über einen sinnvollen Sprachgebrauch in der Moral, sondern zugleich immer auch eine konzeptionelle Entscheidung in Hinblick auf den Zuschnitt der ›eigenen‹ Moraltheorie. Das heißt nicht, dass man der Tradition folgen muss, die von der Theorie vermeintlich vorgegeben wird. Die Antwort kann eben auch eine bewusste Entscheidung für eine Reform einer Moralkonzeption sein, eine Anpassungsleistung, die man aus bestimmten Gründen für sinnvoll oder notwendig hält. Man muss sich also mindestens zwei Fragen vorlegen: 1. Ist ein Sprachgebrauch, der moralische Rechte annimmt, sinnvoll? 2. Was bedeutet das für die interne Struktur einer adäquaten Moraltheorie? Betreffen mögliche Umstrukturierungen lediglich die weiche Schale oder wäre der harte Kern betroffen? Kann es sich eine Theorie ›leisten‹, ggf. eine Anpassung vorzunehmen? Wir haben es also mit zwei Seiten einer Medaille zu tun, die untrennbar miteinander verbunden sind. Kern der Überlegungen ist eigentlich die Frage, welche Funktion moralischen Rechten im moralischen Denken; Argumentieren und Handeln zukommt und worauf moralische Rechte eigentlich gründen sollen.

2. Warum moralische Rechte? Utilitaristische Erwägungen Sind moralische Rechte verzichtbar? Georg Mohr hält sie für überflüssig und spitzt diese These folgendermaßen zu: »Wer von ›moralischen Rechten‹ spricht, meint damit eine besonders intensive 86 | dagmar borchers

Geltungsqualität der betreffenden Rechte. Sie sollen allgemeiner und bedingungsloser als andere Rechte gelten. Als Markierer der aufgezählten Merkmale erfüllt der Begriff des moralischen Rechts die Funktion eines rhetorischen Geschmacksverstärkers. Nennen wir daher eine Theorie, die den Begriff des moralischen Rechts in diesem Sinne affirmativ verwendet, eine ›Glutamat-Theorie‹ «.11 Moralische Rechte als begriffliche Leerformeln? Der Rekurs auf sie ein rhetorischer Trick? Die Diskussion von moralischen Rechten Ausgeburt eines Irrglaubens unaufgeklärter Moralphilosophen? Viele Utilitaristen würden Mohr zustimmen. So hat u. a. Peter Singer genau erklärt, warum er als Tierethiker nichts zum Thema Tierrechte beitragen kann und will: »I have little to say about rights because rights are not important to my argument. My argument is based on the principle of equality, which I do have quite a lot to say about. My basic moral position […] is utilitarian. I make very little use of the word ›rights‹ in Animal Liberation, and I could easily have dispensed it altogether. I think that the only right I ever attribute to animals is the ›right‹ to equal consideration of interests, and anything that is expressed by talking of such a right could equally well be expressed by the assertion that animals’ interests ought to be given equal consideration with the like interests of humans. (With the benefit of hindsight, I regret that I did allow the concept of a right to intrude into my work so unnecessarily at this point; it would have been avoided misunderstanding if I had not made this concession to popular moral rhetoric.) To the charge of having embroiled the animal liberation debate in the issue of animals’ rights, then, I plead not guilty.« Dass moralische Rechte obsolet sind und die Glutamat-Theorie zutrifft, ist heute allerdings im Utilitarismus nicht mehr konsensfähig. Im Gegenteil, viele Utilitaristen haben gute Gründe zu meinen, dass die Redeweise von moralischen Rechten spezifische Funktionen hat und ihre eigenen Vorteile mit sich bringt. Grundsätzlich sind Utilitaristen auf der Seite derjenigen zu finden, die moralischen Rechten eine instrumentelle Funktion zusprechen würden: Sie dienen dazu, die Berücksichtigung von bestimmten Interessen durch andere (Personen) zu sichern und den Rechtsinhaber auf diese Weise zu schützen. Allan Gibbard fast diese Idee kurz und bündig zusammen: »We look to rights for protection.«12 »Nonsense on Stilts«? | 87

Moralische Rechte haben nach Ansicht vieler, in Hinblick auf deren Definition durchaus unterschiedlich argumentierender Utilitaristen wie Richard Hare, John Harsanyi, Richard Brandt oder Dieter Birnbacher spezifische Funktionen, die darüber hinausgehen, einer Forderung rhetorisch Nachdruck zu verleihen. Zwar dient die Formulierung von Ansprüchen in Form von moralischen Rechten Dieter Birnbacher zufolge13 auch dazu, starke moralische Gefühle auszudrücken und politische Überzeugungen zuzuspitzen; zentral sei aber die Perspektive, die damit eingenommen werde: Es gehe dabei darum, den Blickwinkel jener in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, die etwas zu gewinnen hätten, von einer bestimmten sozialen Praxis oder einem speziellen institutionellen Design. Wer sich für die moralischen Rechte anderer einsetzt, macht sich zu ihrem Fürsprecher und nimmt die die Rolle eines Anwalts ein. Damit wäre eine zentrale Funktion moralischer Rechte diejenige, eine AdvokatenRolle gewähren zu können. Wenn wir davon sprechen, Tiere hätten ein Recht auf eine artgerechte Haltung oder auf eine Minimierung von Leid im Kontext eines Tierversuches, dann formulieren wir zwar damit auch, dass es eine moralische Verpflichtung gibt, dieses zu berücksichtigen, tun dies aber aus der Perspektive jener, die selbst ihre Interessen nicht aktiv wahrnehmen können und lenken den Blick auf ihre spezielle Situation. Wenn Singer überzeugend begründet, dass wir moralisch verpflichtet sind, unseren Fleischkonsum einzustellen und Tiere nicht für diesen Zweck zu töten, dann könnte man auch sagen, Tiere hätten ein Recht, nicht für den Fleischverzehr getötet zu werden. Es ist gerade in gesellschaftlich-politischen Kontexten leichter, die Sprache der moralischen Rechte zu sprechen, insbesondere, wenn es um Dritte geht, die selbst ihre Interessen nicht wahrnehmen und ihre Position nicht formulieren können (wie Embryonen, Kinder, Tiere, Schwerstkranke und Komatöse, Verstorbene) um einen moralischen Standpunkt deutlich zu machen, als auf Verpflichtungen hinzuweisen. Ein Hinweis durch einen Dritten darauf, dass jemand moralische eine Verpflichtung habe, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, hat die Form eines Appells; die Formulierung in moralischen Rechten hat die Form eines Anspruchs. Einen Anspruch darauf zu haben, dass jemand seiner Pflicht nachkommt, bedeutet eben, ein moralisches Recht zu haben. Wer so spricht, signalisiert Birn88 | dagmar borchers

bacher zufolge, dass er bereit ist, die Durchsetzung dieses Rechts zu verteidigen gegen jeden, der es negieren will, ignoriert oder bestreitet. In diesem Sinne scheint auch John Stuart Mill moralische Rechte zu verstehen: »When we call anything a person’s right, we mean that he has a valid claim on society to protect him in the possession of it, either by the force of law, or by that of education and opinion. If he has what we consider a sufficient claim, on whatever account, to have something guaranteed to him by society, we say that he has a right to it. If we desire to prove that anything does not belong to him by right, we think this done as soon as it is admitted that society ought not to take measures for securing it to him, but should leave him to chance, or to his own exertions. […] To have a right then, is, I conceive, to have something which society ought to defend me in the possession of. If the objector goes on to ask, why it ought? I can give him no other reason than general utility.«14 Dabei kann sich der Verteidiger moralischer Rechte an bestimmte Personen, Personengruppen, Institutionen, eine Gesellschaft, aber auch an die Menschheit insgesamt wenden, um sein Anliegen durchzusetzen. Es kann ihm dabei entweder, so Birnbacher, darum gehen, auf einen Verstoß gegen eine bestehende moralische Norm nachdrücklich aufmerksam zu machen und auf diese Weise eine Kontrollfunktion moralischer Rechte mit einer Selbstkorrektur zu verbinden. Es kann aber auch sein, dass der Hinweis auf ein moralisches Recht eine moralische Vision ausdrückt, einen utopischen Gehalt hat und auf eine Reform bzw. eine Modifikation der bestehenden Moral abzielt. In diesem Sinne dient die Formulierung moralischer Rechte dazu, Moralsysteme, positives Recht oder politische Strukturen zu kritisieren und eine Richtung aufzuzeigen, in die eine Verbesserung angezeigt wäre. Moralische Ansprüche als moralische Rechte zu formulieren, hat Richard B. Brandt zufolge zudem eine wichtige »focusing function«, die darin besteht, unsere Aufmerksamkeit direkt auf das spezifische Gut zu richten, das durch das moralische Recht geschützt bzw. sicher gestellt werden soll: »Consider the right of women to equal treatment. Corresponding to this are a great many duties, the legal of which are gradually spelled out in court and administrative decisions. […] A manifesto of the women’s movement might list »Nonsense on Stilts«? | 89

enumerable duties of men, corporations, or government, in respect of women. But such a list would lack focus. After all there is a target here: that women have an equal opportunity for a good life. This is what all duties aimed at; the duties are are what people must do if women are to have an equally good life. In talking of a right to equal opportunity, we focus attention on the intended good.«15 Damit ist laut Brandt zugleich ersichtlich, warum moralischen Rechten eine stärkere moralische Kraft zukommt, als der Verweis auf die allgemeine Wohlfahrt. De facto hätte der Begriff eines moralischen Rechts einen erheblichen positiven Einfluss auf die Entwicklung einer humaneren Moral und einer humaneren Welt gehabt, denn er motiviere die Menschen, sich für andere einzusetzen, indem er ihnen ermögliche, sich klar vor Augen zu führen, worum es jeweils geht, um welche Güter man kämpft: »[…] if the explication is correct, it encourages the patients of right-infringing actions to feel resentment, to protest, to take a firm stand. To say ›You have a right to this‹ seems to imply that these attitudes/behaviors are justified.«16 John Harsanyi sieht weitere drei Vorteile einer moralischen Sprache, die für die Terminologie moralischer Rechte offen ist, im gesellschaftlich-politischen Kontext, die er als »Effekte« formuliert17: Da ist zum einen der Erwartungseffekt: Die Existenz moralischer Rechte erleichtert es, vernünftige Erwartungen hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens anderer Menschen zu entwickeln, was wiederum das individuelle Sicherheitsgefühl erhöht und es einfacher macht, zukünftiges eigenes Verhalten zu planen. Da ist zum anderen der sog. Anreizeffekt: Die Existenz von Rechten und Verpflichtungen erhöhe den Anreiz, sich in sozial wünschenswerten Aktionen zu engagieren und sich für andere einzusetzen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass man in der Öffentlichkeit von einer ›Tierrechtsbewegung‹ spricht, auch wenn moralphilosophisch klar ist, dass jedem vermeintlichen Tierrecht eine Verpflichtung auf Seiten der Menschen entsprechen müsste, die eigentlich in Hinblick auf eine plausible Begründung der moralphilosophisch springende Punkt ist. Gleiches gilt für die Frauenbewegung oder die Überlegung, Kindern umfangreiche Rechte einzuräumen, die über das hinausgehen, was derzeit im Grundgesetz vorgesehen ist. Und da ist schließlich der Arbeitsteilungseffekt: Harsanyi sieht 90 | dagmar borchers

unser Moralsystem als ein ›Netzwerk von Rechten‹, die ihrerseits soziale Rollen mit unterschiedlichen moralischen Verantwortlichkeiten definieren und damit eine Art ›moralische Arbeitsteilung‹ ermöglichen – mit insgesamt positiven Auswirkungen auf den sozialen Gesamtnutzen. Alle diese Überlegungen in Hinblick auf die positiven Auswirkungen moralischer Rechte in unserem moralischen Denken und Sprechen legen das Fazit nahe, dass diese Terminologie – auch wenn sie, was im nächsten Abschnitt thematisiert werden soll, natürlich immer an den Begriff der Verpflichtung gebunden und von diesem abgeleitet sind – ein gewisses semantisches Eigenleben führt mit durchaus wichtigen sozialen und moralischen Folgen. Die ›Glutamat-Theorie‹ greift zu kurz, weil sie diese Effekte nicht in den Blick nimmt. Allerdings sind diese positiven Effekte selbst noch kein Argument dafür, dass es moralische Rechte ›gibt‹. Aber es zeigt, dass sie für die Moral als soziales Phänomen eine eminent wichtige Rolle spielen. Es ist kein Zufall, dass der Utilitarismus diese Phänomene in Hinblick auf seine eigene interne Struktur sehr ernst nimmt: Der (klassische) Utilitarismus hat sich von Beginn an immer auch als sozialreformerische Bewegung gesehen. Er war Teil der Frauenbewegung (Mill und Taylor, Sidgwick), der Tierrechtsbewegung (Bentham und Singer), der Rechts- und Justizreform (Bentham), der Reform der Arbeitsverhältnisse und Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit (Bentham, Mill, Sidgwick). »Moral ist nicht wesentlich auf soziale Beziehungen angelegt«18 schreibt Georg Mohr und bezeichnet dies als eine jener »grundlegenden kategorialen Differenzen«, die seiner Ansicht nach zwischen Moral und Recht bestehen. Die von mir bisher angestellten Ausführungen legen allerdings den Gedanken nahe, dass utilitaristische Theoretiker vermutlich Schwierigkeiten hätten, diese Prämisse zu unterschreiben. Meines Erachtens besteht in einer konsequentialistischen Tradition in diesem Sinne keine kategoriale Differenz zwischen Recht und Moral. Moral ist wesentlich auf soziale Beziehungen angelegt – sie zu gestalten, zu regeln und zu strukturieren ist Aufgabe der Moral. Moralische Normen haben genau diesen Zweck und müssen sich daran messen lassen, ob und in welcher Weise sie ihn in konkreten Kontexten und unter realen Randbedingungen erfüllen können. Auch damit ist noch kein Präjudiz verbunden, ob »Nonsense on Stilts«? | 91

es moralische Rechte ›gibt‹. Aber diese Grundhaltung mag erklären, warum Utilitaristen geneigt sind, moralische Rechte zu akzeptieren, wenn sich zeigen sollte, dass sie für die moralische Praxis von Bedeutung sind und innerhalb der Sprache der Moral eigene Akzente setzen.

3. Zur Definition von moralischen Rechten im Utilitarismus Wer von moralischen Rechten spricht, muss klären, wie sie sich zu moralischen Verpflichtungen verhalten. Meine These ist, dass die meisten Utilitaristen, die für die ›Existenz‹ moralischer Rechte eintreten, dies in genau dem Sinne tun wie Ernst Tugendhat – indem sie den Begriff des (moralischen) Rechts »einfach als Korrelat des Begriffs der Verpflichtung« verstehen: »Für alle x und y soll gelten, dass, wenn x eine Verpflichtung gegenüber y hat, dann hat y, wenn es gleichfalls eine Person und nicht identisch mit x ist, ein entsprechendes Recht.«19 Utilitaristen würden allerdings zu bedenken geben, dass moralische Rechte eben nicht nur Personen, sondern all jenen Entitäten zukommen, die Interessen haben können – wobei viele von ihnen für eine notwendige Bedingung dafür, Interessen haben zu können, die Möglichkeit des Erlebens halten.20 Nun wendet Mohr gegen dieses Korrelat folgendes ein: »Nach Tugendhats Korrelationsaxiom würde etwa unsere moralische Pflicht, Tiere nicht zu quälen, mit dem moralischen Recht der Tiere, nicht gequält zu werden, korrelieren. Dass heißt, eine Pflicht unsererseits, Tiere nicht zu quälen, bestünde nur insofern, als Tiere ein moralisches Recht hätten, nicht gequält zu werden.«21 Er illustriert diesen Punkt damit, dass einer Verpflichtung, ›wahrhaftig zu sprechen‹ ein Recht korrespondieren müsste, dass wahrhaftig gesprochen wird. Unter Berufung auf Immanuel Kant lehnt er einen solchen Gedanken allerdings ab: Es gäbe kein Recht auf Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit, sondern »nur die Pflicht seitens des Sprechers, wahrhaftig zu sprechen«.22 Der Gedanke, der sich auch bei Benjamin Constant finde, die Verpflichtung entfalle in dem Moment, wo der Hörer seinerseits durch pflichtwidriges Verhalten sein Recht auf Wahrhaftigkeit verliert, sei eigenartig: »Denn 92 | dagmar borchers

der Pflichtbegriff scheint, zumindest in dem genannten Fall, durch seine Korrelierung mit dem Rechtsbegriff geradezu seinen Sinn zu verlieren.«23 Das Bestehen der Verpflichtung hänge eben nicht ab vom Verhalten desjenigen, dem gegenüber die Pflicht besteht, sondern sei unabhängig davon. Man kann sich aber fragen, ob dieses Gegenbeispiel des Lügenverbots tatsächlich so überzeugend ist: Wenn es auf Seiten von x die moralische Verpflichtung gibt, ›wahrhaftig zu sprechen‹, warum besteht dann auf Seiten von y nicht das moralische Recht, dass man wahrhaftig zu ihm spricht? Die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit besteht aber eben nicht, insofern y das entsprechende Recht hat, sondern wird unabhängig davon begründet. Wenn x die Pflicht hat, wahrhaftig zu sprechen, dann hat y ein Recht darauf. Die Begründung der Pflicht besteht nicht darin, dass y ein Recht hat und nicht nur, insofern y ein Recht hat, sondern ist von dieser Implikation unabhängig zu begründen. Und der Gedanke, dass man dieses moralische Recht verwirken kann, wenn man zum Beispiel die Wahrhaftigkeit anderer rücksichtslos zum eigenen Vorteil ausnutzt, scheint mir auch nicht völlig abwegig zu sein. In Bezug auf die Frage, wie sich Verpflichtungen zu Rechten verhalten, finden sich auch bei utilitaristischen Theoretikern unterschiedliche Analysen mit einer großen Bandbreite an Definitionen. Richard Hare unterscheidet in Anlehnung an die komplexe Analyse von Wesley Hohfeld24 drei Arten von Recht: 1. Ich habe ein Recht etwas zu tun, wenn ich keine Pflicht habe, es nicht zu tun. (Bsp.: Ich kann mich in ein Gremium wählen lassen – mein Recht, gewählt zu werden) 2. Ich habe ein Recht etwas zu tun, wenn andere die Pflicht haben, mich nicht daran zu hindern. (Ich kann versuchen, mich in ein Gremium wählen zu lassen. Den Versuch darf niemand verhindern, die tatsächliche Wahl schon.) 3. Ich habe ein Recht, wenn andere die Pflicht haben, mich darin zu unterstützen, dass ich dieses Recht ausüben kann. Hare betont, dass man Verpflichtungen in der Regel gegenüber einer bestimmten Person habe, und dass dies eine Eigenschaft sei, die Verpflichtungen mit Rechten verbinde und zugleich von ›sollen‹ oder ›müssen‹ abgrenze, die nicht in dieser Weise personenbezogen sei. Verpflichtungen lägen in Hinblick auf ihre moralische »Nonsense on Stilts«? | 93

Verbindlichkeit zwischen ›sollen‹ und ›müssen‹ – das bedeutet, dass Verpflichtungen und die aus ihnen resultierenden Rechte ggf. untergeordnet, auf jeden Fall aber in Konfliktfällen gegeneinander abgewogen werden können. In der Definition, die Richard B. Brandt im Kontext einer utilitaristischen Konzeption moralischer Rechte entwickelt hat, finden sich die drei Varianten des Rechtsbegriffs von Hare zumindest in Ansätzen wieder: »What concept of ›a right‹, then, shall we bear in mind for our discussion of utilitarianism and rights? What normative affirmation, not making use of the term ›a right‹ corresponds to the claim we, now, are normally making when we say ›X has a moral right against Z to do, have, or enjoy Y‹, at least when this expression is taken in its most important sense? I suggest the following: ›Some Z – either individual or sovereign body – has a strong moral obligation not overridable by marginal or even substantial but only by extreme demands of welfare, both to refrain from interfering with Xs having or doing or enjoying Y, and to enable X to do, have, or enjoy Y; and it is not wrong for X to feel resentment if he is hurt or deprived because of the failure of Z to discharge that obligation, and for him to be unashamed to protest, and there is some obligation for X to take reasonable steps of protest, calculated to encourage persons to discharge that obligation in this and similar situations.‹ «25 Hervorzuheben ist hier folgendes: Ein moralisches Recht zu haben bedeutet nach Brandt im Kern, »einen legitimen Anspruch zu haben«, dem eine Verpflichtung entspricht, diesen Anspruch nicht zu behindern oder sogar aktiv zu unterstützen bzw. ihm zu entsprechen. Ein moralisches Recht kann mit einer Unterlassungspflicht (Hares Punkte 1 und 2) oder einem Handlungsgebot (Hares Punkt 3) korreliert sein. Der Verpflichtete (›Z‹ bei Brandt) kann eine Person sein, aber auch eine Gesellschaft oder die Menschheit insgesamt. Das bedeutet, dass moralische Rechte entweder Rechte ad personam oder Rechte ad rem sein können. Birnbacher nennt als Beispiel für ein ad personam Recht die Institution des Versprechens; als Beispiel für ein ad rem Recht das Recht auf Arbeit: »It is clear that society at large is the addressee of this right, but it is far from clear how fulfilment of this right is to be secured and who is concretely obligated by it. As such, it is an abstract right without concrete addressee. 94 | dagmar borchers

It appeals to society as a whole to accept certain obligations and to think about devising, constructing and entertaining institutions suited to meet them.«26 Birnbacher ist der Ansicht, dass moralische Rechte sich von juridischen Rechten u. a. darin unterscheiden, dass sie mit universalem Geltungsanspruch auftreten, während letztere relativ sind, d. h. in Hinblick auf eine bestimmte Gesellschaft gelten. Wenn A ein moralisches Recht hat, dann hat es dies unabhängig davon, ob es derzeit de facto in einer Gesellschaft anerkannt oder respektiert wird. »As a move in the moral language game, the ascription of a moral right shares the claim to universal validity built into the very language of morality, however illusory (or hypocritical) this claim may seem on the background of historical and cultural relativity. The other side of the coin is that moral rights are largely ineffectual as long as they are not transformed into legal rights and made part of a system of law that sanctions violations.«27 Das klingt zunächst so, als hätten wir hier einen Widerspruch zu meiner These, dass jedes Recht nur insofern besteht, als es eine Verpflichtung gibt, aus der dieses Recht abgeleitet wird. Solange die Verpflichtung diffus bleibt, kann leicht der Eindruck entstehen, das Recht ginge der Verpflichtung voraus. Meines Erachtens ist dies aber auch im oben genannten Beispiel nicht der Fall. Ob das moralische Recht bestehen sollte, wird aus utilitaristischer Perspektive davon abhängen, ob eine entsprechende Verpflichtung auf Seiten eines wie immer bestimmten moralischen Akteurs den Gesamtnutzen maximiert bzw. sich in ein System moralischer Verpflichtungen und Rechte integrieren lässt, das als solches den Gesamtnutzen maximiert und deshalb rationalerweise von den moralischen Akteuren ohne Ausnahme befolgt werden sollte. In einer utilitaristischen Begründung moralischer Rechte wird es im Kern immer um den Nachweis gehen, dass die damit korrelierten Verpflichtungen und die damit einhergehenden Belastungen für Individuen oder eine Gesellschaft dem Utilitätsprinzip entsprechen und aus dessen Perspektive sinnvollerweise zu gewähren sind. Es ist der gesamtgesellschaftliche Nutzen, der jene moralische Verpflichtungen begründet, die moralische Rechte ermöglichen. Ob man allerdings die inhaltlichen Ideen von der Seite der moralischen Verpflichtung oder von der Seite eines zu gewährenden moralischen »Nonsense on Stilts«? | 95

Rechtes her formuliert, kann ein Utilitarist, der in Hinblick auf den Sprachgebrauch eine liberale Position vertritt, offen lassen. Es ist die Begründung der Verpflichtung, die moralischen Rechte ggf. anzuerkennen (d. h., etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen), auf die es aus moraltheoretischer Perspektive ankommt. Fassen wir kurz zusammen: »Moral ist nicht wesentlich Inbegriff von Rechten, sondern von Pflichten« führt Mohr als zweite kategoriale Differenz von moralischen Recht und juridischem Recht an.28 Utilitaristen würden etwas anders akzentuiert ebenfalls sagen, dass der Begriff der Verpflichtung zentral sei für die Moral. Allerdings spricht das nicht gegen die Zulässigkeit von moralischen Rechten: Wenn es eine moralische Pflicht von x gegenüber y gibt, z zu tun, dann kann man sagen, dass y ein Recht auf z hat. Insofern als Moral Verpflichtungen dieser Art enthält, hat sie auch mit den korrespondierenden moralischen Rechten zu tun. Man kann vielleicht sagen, moralische Rechte seien eine andere ›Weise des Gegebenseins‹ von moralischen Verbindlichkeiten und hätten den Sinn, uns den Blick auf die Seite der von den Pflichten Profitierenden zu ermöglichen. Dies gilt auch dann, wenn man wie Birnbacher konstatiert: »[…] it is easy to imagine a system of morality without rights, but it is impossible to imagine a system of morality or of law without duties. In a world of angels where everyone did what duty enjoins, rights might in fact become redundant.«29

4. Begründung und Status moralischer Rechte »Mittlerweile sollte klar sein, wie unbegründet der übliche Einwand ist […], dass der Utilitarismus keinen Platz für Rechte haben und sie im Dienste des Nutzens vom Tisch fegen kann. Sehr vernünftig, dass man uns sagt, wir sollten Rechte ernst nehmen[…]. Nehmen wir sie so ernst, dass wir fragen, was sie sind und welchen Status sie haben, dann entdecken wir, dass sie in der Tat ein immens wichtiger Teil unseres moralischen Denkens sind – so wichtig, dass in vielen Fällen die Behauptung, sie seien ›Trümpfe‹ […] gerechtfertigt ist –, aber dass dies nicht das mindeste Argument gegen den Utilitaristen abgibt. Denn der Utilitarismus kann ihnen diesen Status besser sichern als intuitionistische Theorien.«30 96 | dagmar borchers

Hare macht die Unterscheidung zwischen juridischen, kodifizierten und moralischem Rechten an ihrer Erkennbarkeit fest – bei moralischen Rechten sei nicht klar, wie sie erkannt (bzw. begründet) werden können. Natürlich kommen für die Begründung von Rechten bzw. Verpflichtungen weder naturrechtliche noch intuitionistische Strategien in Betracht. Ein Utilitarist, der moralische Rechte als solche akzeptiert, wird diese Wege nicht beschreiten. Naturrecht kann eine antimetaphysische Konzeption wie der Utilitarismus nicht als Begründung akzeptieren. Hier hat u. a. Bentham Argumente entwickelt, denen sich wohl die meisten Utilitaristen auch heute noch anschließen würden. Aber auch der Rekurs auf verbreitete Intuitionen ist kein gangbarer Weg. So hat Hare die Moralphilosophin Judith Jarvis Thomson harsch kritisiert, die in ihrem Aufsatz ›A Defense of Abortion‹31 mithilfe eines Gedankenexperiments die Intuitionen der Leser abgefragt hat, um auf dieser Basis eine Argumentation zu entwickeln, die klärt, welche moralischen Rechte Embryonen gegenüber ihrer Mutter haben.32 Intuitionisten wie Thomson wirft Hare vor, keine Methode zur Auswahl und Begründung von Rechten und Prinzipien vorzulegen, sondern lediglich an die Intuitionen derjenigen zu appellieren, von denen man meint, dass sie etwa so denken, wie man selbst und denen daher die eigenen Überlegungen höchst plausibel erscheinen. Damit erreiche man aber lediglich »einen Konsens zwischen denen, die zufällig eine ähnliche Erziehung hatten.«33 Hare verortet moralische Rechte auf der sog. intuitiven Ebene der Alltagsmoral. Um sie zu begründen, müssen wir seines Erachtens auf die kritische Ebene wechseln. Hier ist das entscheidende Kriterium für die Akzeptanz bestimmter moralischer Rechte der sog. ›Akzeptanznutzen‹. Dabei geht es im Kern darum, die Menge derjenigen Rechte bzw. Prinzipien auszuwählen, deren Akzeptanz auf der Alltagsebene in einer bestimmten Gesellschaft »unparteiisch betrachtet das beste für die Interessen der Leute in dieser Gesellschaft ist«34, mithin den größten Nutzen stiften würde. Moralische Rechte sind im Utilitarismus des 20. Jahrhunderts vielfach in Form eines Regelutilitarismus konzipiert worden. Beispiele dafür sind u. a. John Harsanyi und Richard B. Brandt. Harsanyi konstatiert in Bezug auf dessen Vorteile: »The most important »Nonsense on Stilts«? | 97

advantage that rule utilitarianism as an ethical theory has over act utilitarianism lies in its ability to give full recognition to the moral and social importance of individual rights and personal obligations. It is easy to verify that action-by-action maximization of utility, as required by act utilitarianism, would destroy these rights and obligations. In contrast, rule utilitarianism can fully recognize the validity of these rights and obligations, precisely because of its commitment to an overall moral strategy independent of action-by-action social-utility-maximization.«35 Dabei besteht die eigentliche Herausforderung darin, zu zeigen, dass Regelverstöße auch dann nicht erlaubt sind, wenn in einer konkreten Situation ein solcher klar zur Nutzenmaximierung für alle Beteiligten führen würde. Brandt hält zwei Schritte für nötig: »1. We must hold that a person does the right act, or the obligatory act, not by just following his actual moral principles wherever they may lead, but by following the the moral principles the acceptance of which in society would maximize expectable utility. 2. Not compromise, except in extreme circumstances, in order to do what in a particular situation will maximize utility, where so doing conflicts with the utility maximizing code.«36 Hier bewegt sich der Utilitarismus auf einer schwierigen Fahrt zwischen der Scylla einer Rechtebegründung, die moralischen Rechten den ihnen zukommenden Geltungsanspruch sichert, und der Charybdis eines Rigorismus der Rechtebefolgung mit seinerseits aus konsequentialistischer Sicht intuitiv problematischen Resultaten. So konstatiert der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel in Hinblick auf das absolut geltende Folterverbot im liberalen Rechtstaat mit Verweis auf den Menschenwürdeschutz vor dem Hintergrund eines konkreten Entführungsfalles in Deutschland (›Fall Daschner‹): »Die Forderung, auch die Opferung des Lebens eines Unschuldigen, ja sogar die objektive staatliche Beihilfe dazu müssten hingenommen werden, ist – neben allem, was sie sonst noch ist, – jedenfalls noch dies: eine kompromisslos utilitaristische Position. Die Gegenfrage dazu lautet: Warum soll für unseren zivilisatorischen Mindeststandard ggf. ein elfjähriges Kind, dessen Notwehr wir aktiv unterbinden, mit seinem Leben bezahlen müssen? Nirgendwo sonst erlaubt die Verfassung, erlaubt das fundamentale Rechtsprinzip subjektiver Grundrechte ein solches Verrechnen in98 | dagmar borchers

dividuellen Lebens mit dem resultierenden Nutzen für die Gesellschaft, und wäre er noch so groß.«37 Regelutilitaristen wie Harsanyi oder Brandt versuchen zu zeigen, dass es rational ist, als moralischer Akteur moralischen Regeln ausnahmslos zu folgen und moralische Rechte zu achten. Die Grundidee ist dabei, dass die langfristige, gesamtgesellschaftlichen Folgen eines Regelverstoßes bzw. einer Missachtung moralischer Regeln aus einer Nutzenperspektive immer schlechter sein werden als jene kurzfristigen Nutzengewinne, die ein Verstoß im Einzelfall mit sich bringen würde. Ob das auch bedeuten muss, eine ›kompromisslos utilitaristische Position‹ im obigen Sinne einzunehmen oder ob eine utilitaristische Position zum absolut geltenden Folterverbot nicht doch ganz anders aussehen könnte, ist auch innerhalb des Utilitarismus umstritten.38 Auch Rechte, die fundamentale Interessen schützen sollen, gelten nicht absolut, sondern müssen im Konfliktfall Abwägungsprozessen unterzogen werden: »It is true that some definitions of a right are so manifestly incompatible with the normative thesis of utilitarianism that a utilitarian could not admit that there are rights in this sense. For instance, if someone says that to have a right (life, liberty) is for some sort of thing to be secured absolutely, though the heavens fall, and that this is a self-evident truth, then it is pretty clear that a utilitarian will have no place for rights in this sense.«39 Utilitaristen meinen, für diese Art von Abwägungsprozessen besser gerüstet zu sein als viele ihrer Konkurrenten. Im Unterschied zu diesen hätten sie Kriterien und Methoden, mit deren Hilfe man möglichst transparente Vorschläge entwickeln könne. Wie das Zitat von Merkel zeigt, tun sich hier aber schwierige Fragen für Utilitaristen auf: Rechte sollen die Interessen von Individuen schützen. Ihre strikte Einhaltung wird begründet unter Verweis durch den langfristig maximierten Gesamtnutzen. Das wiederum kann zur ›Opferung‹ von Individuen führen. Offensichtlich geraten Utilitaristen hier in eine paradoxe Situation: Um den Schutz von Individuen zu gewährleisten, führen sie Rechte ein, deren strikte Befolgung dann in speziellen Fällen wieder dazu führen kann, dass Individuen ›geopfert‹ werden müssen. Wie sieht eine strikt utilitaristische Position aus? Wie kann man hier konsistent argumentieren? Welche Zugeständnisse sind moralisch statthaft und methodisch auf konsistente »Nonsense on Stilts«? | 99

Weise möglich? Beruhigend ist nur, dass der Utilitarismus nicht die einzige Moraltheorie ist, die im Kontext der Begründung von moralischen Pflichten und Rechten in Schwierigkeiten dieser Art kommt.

5. Geht es auch ohne? Die Kontroverse um die Menschenrechte Georg Mohr schlägt vor, auf den Begriff moralischer Rechte zu verzichten und insbesondere die Menschenrechte nicht als moralische Rechte zu interpretieren, sondern als Leitnormen, die eine moralische Verpflichtung gegenüber rechtsstaatlichen Institutionen mit sich führen, sich an diesen Normen zu orientieren. Ich habe versucht zu zeigen, dass es gute Gründe geben kann, am ›moral rights talk‹ festzuhalten; insbesondere dann, wenn man Moral – im Gegensatz zur Auffassung Mohrs – als soziales Phänomen begreift. Moralische Rechte sind die ›Rückseite‹ einer genau definierten (bzw. zu definierenden) Art von moralischen Verpflichtungen und als solche sowohl semantisch als auch begründungsstrategisch relativ unproblematisch. Einigkeit besteht mit Mohr darin, dass Verpflichtungen den zentralen Gehalt der Moral ausmachen und moralische Rechte abgeleitet, Birnbacher zufolge sogar in einer Welt aus Engeln redundant sind. Salopp formuliert: Utilitaristen müssen nicht von moralischen Rechten reden, könnten es aber. Insofern ist gegen Mohrs Vorschlag in Hinblick auf die Interpretation von Menschenrechten nichts einzuwenden. Utilitaristen könnten sie auch als Leitprinzipien oder als mittlere moralische Prinzipien auffassen, die bindend sind für die Gestaltung positiven Rechts, wenn sich zeigen lässt, dass dieses Set von moralischen Prinzipien oder Normen den Gesamtnutzen maximiert. Ich halte es nicht für aussichtslos, einen solchen Nachweis als Utilitarist zu führen und den moralischen Verpflichtungscharakter der Menschenrechte utilitaristisch zu begründen. Mohr selbst interpretiert die Menschenrechte als »grundlegende Rechte derart, dass nur unter ihrer Voraussetzung überhaupt Menschen als Rechtssubjekte und damit als Menschen betrachtet werden«.40 Gegen diese Auffassung wird man kritisch einwenden können, dass sie schlecht zum tatsächlichen Katalog der Men100 | dagmar borchers

schenrechte passt, der viel mehr fordert als das, was eine solche Minimalbedingung verlangen würde. Diese ›Grundnormen‹ sollen Mohr zufolge Verpflichtungen generieren – warum dann nicht auch moralische Rechte? Anknüpfend an unsere obigen Überlegungen könnte man argumentieren, dass Menschenrechte nirgends auf der Welt vollständig verwirklicht oder umfassend umgesetzt sind – um ihre Beachtung wird überall, in einigen Teilen der Welt jedoch erbittert gekämpft und gestritten. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht vielleicht sinnvoll, die semantische Askese aufzugeben und zuzulassen, dass vermittels einer Redeweise von ›moralischen Rechten‹ die Güter, um die es geht und die Menschen, um die es geht, in den Fokus der Auseinandersetzung zu rücken? Menschenrechte als moralische Rechte zu interpretieren, stärkt ihre politische und soziale Bedeutung und damit ihre ›moral force‹. Auf eine Bereinigung des Sprachgebrauchs zu drängen, könnte gerade im Kontext der Menschenrechtsdiskussion einen hohen Preis erfordern.

6. Fazit Der Utilitarismus kann moralische Rechte innerhalb seines Paradigmas nicht nur rekonstruieren; er bietet auch ein Kriterium für deren Auswahl und für eine rationale Entscheidung im Fall einer Rechtekollision. Neben einer inhaltlich-begrifflichen Präzisierung finden sich interessante Argumente für die Anerkennung moralischer Rechte in einer Moraltheorie. Die Berücksichtigung moralischer Rechte hat insgesamt zu Modifikationen und konzeptionellen Neuentwicklungen innerhalb des utilitaristischen Ansatzes geführt. Hier zeigen sich wissenschaftstheoretische Parallelen zu Gähdes Untersuchungen zum Wandel des Nutzenbegriffs im Utilitarismus. Ist dieser Versuch einer Integration als Auflösungserscheinung oder Schwäche zu deuten? Meiner Ansicht nach nicht. Statt dessen ergibt sich durch den Versuch, moralische Rechte in den Utilitarismus zu integrieren, die Auflösung einer unfruchtbaren und unproduktiven Frontstellung gegenüber anderen Moraltheorien, und es wird eine Entwicklung eingeleitet, die zu einer adäquateren und damit attraktiveren Spielart einer utilitaristischen Moralkonzeption führen könnte. »Nonsense on Stilts«? | 101

Anmerkungen

Ich danke Simon Deichsel herzlich für seine hilfreichen Kommentare und viele anregende Ideen und Gedanken. 2 L. Wenar, Rights. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy, S. 1. 3 Vgl. G. Harman, Das Wesen der Moral. Eine Einführung in die Ethik, 1981, S. 13 f. 4 Vgl. u. a. U. Gähde, Gedankenexperimente in der Ethik. In: W. Gärtner (Hg.), Wirtschaftsethische Perspektiven, Berlin 2000, S. 183–206. 5 U. Gähde, Zum Wandel des Nutzenbegriff s im Utilitarismus. In: U. Gähde / W. Schrader (Hg.), Der klassische Utilitarismus, Berlin 1992, S. 85. 6 Ebd., S. 87. 7 Ebd., S. 89. 8 Vgl. zur umfangreichen Debatte der 1980er Jahre u. a. R. G. Frey, Utility and Rights, Minneapolis 1995. 9 Vgl. G. Mohr, Moralische Rechte gibt es nicht, in diesem Band. Ich danke Georg Mohr herzlich für die interessante Diskussion seines Aufsatzes, der, wie man sieht, für meine Ausführungen von großem Interesse ist und meine Überlegungen stark beeinflusst hat. 10 Vgl. u. a. R. Hare, Moral Thinking: Its Method, Levels and Point, Oxford 1981, dt. Moralisches Denken: Seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, Frankfurt/M. 1992, Kapitel 9. 11 G. Mohr, Moralische Rechte gibt es nicht, in diesem Band, S. 70 f.. 12 A. Gibbard, Utilitarianism and Human Rights. In: Social Philosophy & Policy, Vol.1 Issue 2, 1984, S. 92. 13 D. Birnbacher, What does it mean to have a right? In: Intergenerational Justice Review 9, 2009, S. 128–133. Ich danke Dieter Birnbacher für das Gespräch, das wir über das Thema dieses Bandes geführt haben. 14 J. S. Mill, On Liberty, 1859, S. 54. (Hervorhebung von mir. D. B.) 15 R. B. Brandt, Morality, Utilitarianism, and Rights, Cambridge 1992, S. 193. (Hervorhebung von mir. D. B.) 16 R. B. Brandt, Morality, Utilitarianism, and Rights, S. 193. 17 J. Harsanyi, Rule Utilitarianism, Rights, Obligations And The Theory of Rational Behaviour. In: Theory and Decision 12, 1980, S. 115–133. 18 G. Mohr, Moralische Rechte gibt es nicht, in diesem Band, S. 71. 19 E. Tugendhat, Moralbegründung und Gerechtigkeit. Hg. von M. Willaschek, Münster 1997, S. 5 sowie G. Mohr, Moralische Rechte gibt es nicht, in diesem Band, S. 65. 20 Vgl. u. a. K.-P. Rippe, Ethik im außerhumanen Bereich, Paderborn 2008, S. 166f., wobei Rippe selbst kein Utilitarist ist. Seine Position in diesem Punkt würde aber meines Erachtens auch von vielen Utilitaristen geteilt. 21 G. Mohr, Moralische Rechte gibt es nicht, in diesem Band, S. 65. 1

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Ebd., S. 68. Ebd., S. 68. 24 W. Hohfeld, Fundamental Legal Coneceptions, New Haven 1919. 25 R. B. Brandt, Utilitarianism and Moral Rights. In: Canadian Journal of Philosophy XIV No. 1, 1984, S. 2. 26 D. Birnbacher, What does it mean to have a right?, S. 131. 27 Ebd. 28 G. Mohr, Moralische Rechte gibt es nicht, in diesem Band, S. 71. 29 D. Birnbacher, What does it mean to have a right?, S. 133. 30 R. Hare, Moralisches Denken, S. 218f. 31 J. J. Thomson, A Defense of Abortion. In: Philosophy & Public Affiars 1, 1971. 32 R. Hare, Moralisches Denken, S. 219. 33 Ebd., S. 220. 34 Ebd. 35 J. Harsanyi, Rule Utilitarianism, Rights, Obligations And The Theory of Rational Behaviour, S. 115. 36 R. B. Brandt, Morality, Utilitarianism, and Rights, S. 199. 37 R. Merkel, Folter und Notwehr. In: M. Pawlik/ R. Zaczyk (Hg.), Festsschrift für Günther Jacobs zum 70. Geburtstag, Köln 2007, S. 375–404. 38 Vgl. dazu die Debatte um das Folterverbot im Rechtsstaat und die Position von Rainer Trapp u. a., R. Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung?, Paderborn 2006. W. Lenzen, Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte, Paderborn 2006. P. Nitschke (Hg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat. Eine Verortung, Bochum 2005. 39 R. B. Brandt, Utilitarianism and Moral Rights, S. 2. 40 G. Mohr, Moralische Rechte gibt es nicht., in diesem Band, S. 73. 22 23

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– Heiner Bielefeldt –

Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte 1. Die Menschenwürde als Axiom normativer Verbindlichkeiten überhaupt Dass Menschen Abkommen miteinander eingehen können, die für alle verlässlich gelten sollen; dass sie wechselseitige Versprechungen machen und auf deren Einhaltung pochen; dass sie für sich allein und im Gespräch mit anderen Orientierung suchen und normative Eckpunkte in einer gemeinsamen Verfassungsurkunde festschreiben – dies alles hängt daran, dass die betreffenden Personen sich selbst und einander als Subjekte möglicher Verantwortung ansehen und respektieren. Der so verstandene Achtungsanspruch ist ein Grunddatum normativer Reflexion und Kommunikation überhaupt. Er schwingt als zumeist unausgesprochene Voraussetzung immer mit, wenn Menschen Verbindlichkeiten, gleich welcher Art, miteinander eingehen. Ob sie einen Mietvertrag unterzeichnen, sich gemeinsame Vereinsregeln geben, als Abgeordnete einen Gesetzesentwurf debattieren oder im Gespräch einander Dinge anvertrauen, von denen sie nicht möchten, dass sie weitererzählt werden – sobald normative Erwartungen aneinander ins Spiel kommen, sind diese zumindest implizit von einem Anspruch gegenseitiger Achtung getragen. Es mag sein, dass in vielen Fällen der Respekt gegenüber einer Person mit Skepsis oder mancherlei Vorbehalten durchmischt ist. Achtung ist nicht dasselbe wie Gutgläubigkeit oder Naivität. Deshalb legen wir oft Wert darauf, dass ein Versprechen über den Händedruck hinaus auch schriftlich beglaubigt und durch das Zeugnis Dritter gerichtsfest untermauert wird. Die elementare Achtung ist auch nicht dasselbe wie eine besondere persönliche Wertschätzung oder ein durch Erfahrung bewährtes Vertrauen. Wer einer bestimmten Person jedoch generell abspricht, Trägerin möglicher | 105

Verantwortung zu sein, wird zur normativen Interaktion mit ihr weder in Lage noch bereit sein. Und wer den Achtungsanspruch gegenüber seinen Mitmenschen überhaupt bestreitet, verleugnet damit implizit jede Verbindlichkeit im sozialen Verkehr. Ohne diesen grundlegenden Achtungsanspruch sind Verbindlichkeiten gar nicht denkbar; sie könnten weder entstehen noch aufrechterhalten werden. Was übrig bliebe, wäre lediglich die Erwägung des individuellen oder kollektiven Nutzens, den man sich von der Einhaltung bestimmter (geschriebener oder ungeschriebener) Regeln und Verabredungen verspricht. Im praktischen Leben sind Nutzenkalküle und normative Verbindlichkeiten meist so ineinander verwoben, dass man sie in concreto nicht leicht auseinander halten kann. Dies gilt vor allem für die Rechtsordnung; denn sie ist gerade dadurch definiert, dass das Element der inneren Verbindlichkeit durch die Androhung äußerer Sanktionen im Übertretungsfall ergänzt und stabilisiert wird. Im Interesse der Klarheit ist es aber notwendig, beide Ebenen kategorial zu unterscheiden: Normative Verbindlichkeiten gehen insofern über bloß utilitaristische Kalkulationen hinaus, als ihre bindende Wirkung auch dann noch bestehen bleibt, wenn eine langfristige Nutzenbilanz negativ ausfällt und etwaige Sanktionen nicht verfangen. Verbindlichkeiten werden in der Realität erfahrungsgemäß nicht immer eingelöst; sie können enttäuscht, durchbrochen, ignoriert und in manchen Fällen sogar brutal zur Seite geschoben werden. Dass ihre Verletzung indessen typischerweise einen Vorwurf – den Vorwurf von Unzuverlässigkeit, Treuebruch oder Rechtsbruch – auslöst, zeigt gleichwohl, dass zumindest die Erwartung bindender Wirkung besteht. Dies ist entscheidend. Auch die Missbilligung eines konkreten Verhaltens kann Ausdruck dafür sein, dass man den betreffenden Menschen als Subjekt einer Verantwortung ansieht, der er faktisch gerade nicht gerecht wird. Solche Missbilligung kann sich auch auf das eigene Verhalten richten und Schuldgefühle auslösen. Vorwürfe, Empörung, Schuldgefühle und Gewissensbisse bilden die Kehrseite im Selbstverständnis des Menschen als moralisches Wesen. An diesen ›negativen‹ Gefühlen wird deutlich, dass der auf die Verantwortungssubjektivität zielende Achtungsanspruch nichts mit emphatischer Selbstüberhöhung des Menschen (als Indivi106 | heiner bielefeldt

duum oder Gattung) zu tun hat. Es geht nicht wie bei Pico della Mirandola um die Zelebrierung des schöpferischen Individuums, dessen Würde darin bestehe, sein »eigener, in Ehre frei entscheidender Bildhauer«1 zu werden und sich dadurch im Idealfall zu einem übermenschlichen Wesen zu erheben. Der Achtungsanspruch manifestiert sich nicht primär in den feierlichen Momenten des Lebens, in heroischen Taten, herausragenden Leistungen und offiziellen Deklamationen. Vielmehr prägt er die alltäglichen Lebensbezüge des Menschen, insofern sie von Verbindlichkeiten aller Art durchzogen sind, ohne die stabile menschliche Interaktionen letztlich gar nicht möglich wären. Die Idee der Menschenwürde steht für die Grunderfahrung, dass der Mensch im Innewerden dieses Achtungsanspruchs sich selbst und seine Mitmenschen als Träger möglicher Verantwortung anerkennt. Sie ist das innere Worumwillen der Achtung. Dies macht ihren besonderen Stellenwert für sämtliche Bereiche von Moral und Recht aus. Die Menschenwürde ist deshalb nicht ein konkreter moralischer Wert von derselben Art wie andere Werte, sie ist auch keine Rechtsnorm neben anderen Normen und kein Rechtsgut in Konkurrenz zu anderen Rechtsgütern, sondern hat einen prinzipiell anderen, übergeordneten Status. Der Menschenwürde eignet axiomatische Qualität für den gesamten Kosmos des Normativen.

2. Rückbezug aller Menschenrechte auf die Würde In den Menschenrechten erfährt die Würde des Menschen Anerkennung und institutionelle Rückendeckung, und zwar mit der Intention, den in ihr begründeten Achtungsanspruch eines jeden gegen mögliche Verletzungen durch den Staat oder durch Dritte wirksam zu schützen.2 Die Menschenwürde ist deshalb nicht nur in dem generellen Sinne ›Grund‹ der Menschenrechte, dass sie in allen normativen Verbindlichkeiten – und ergo auch in den verfassungsrechtlich oder völkerrechtlich verbindlich verbürgten Menschenrechten – immer schon zumindest implizit vorausgesetzt werden muss. Vielmehr wird sie in den Menschenrechten zum Gegenstand expliziter Anerkennung. Darin besteht die spezifische Relation zwischen Menschenwürde und Menschenrechten, und dies macht den Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 107

besonderen Rang der Menschenrechte in einer an der Würde aller orientierten Rechtsordnung aus.3 Dass die Menschenwürde Grund der Menschenrechte ist, heißt nicht, dass letztere aus ihr schlichtweg ›abgeleitet‹ werden könnten. Menschenrechte entstehen und gewinnen ihre konkrete Gestalt vielmehr in Antwort auf öffentlich artikulierte Erfahrungen strukturellen Unrechts.4 Beispiele sind die zerstörerischen Auswirkungen militanter religionspolitischer Fraktionsbildungen in der frühen Neuzeit, Zwangsassimilierungen und Massenvertreibungen im Kontext moderner Staatsbildungen, die politische Entrechtung von Gesellschaften durch Omnipotenzanmaßungen des Leviathan, die Verschärfung sozialer Ungleichheiten und Abhängigkeiten im ungebremsten Kapitalismus, die gesellschaftliche Ausgrenzung von kulturellen oder sexuellen Minderheiten, repressive Rollenerwartungen in patriarchalen Familienstrukturen, kolonialistische Ausbeutung und Bevormundung, getragen von rassistischen Ideologien der Ungleichheit, schließlich vor allem der von den Nationalsozialisten ideologisch und technisch systematisch organisierte Genozid an den europäischen Juden, auf den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrer Präambel verweist, wenn dort von »Akten der Barbarei« die Rede ist, »die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen«. Als spezifisch moderne politisch-rechtliche Antworten auf Erfahrungen strukturellen Unrechts bleiben die Menschenrechte historisch offen. Zum einen können durch die technologische Entwicklung neue Bedrohungen menschlicher Freiheit und Gleichheit entstehen, auf die menschenrechtliche Antworten gefunden werden müssen. Zum anderen erweitert sich die Sensibilität für strukturelle Unrechtsverhältnisse durch gesellschaftliche Lernprozesse, oft vorangetrieben durch den Druck sozialer Bewegungen. Dass das Bundesverfassungsgericht sich, wie in der Entscheidung zur Online-Durchsuchung geschehen, um der Freiheit willen mit der »Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme« würde beschäftigen müssen,5 hätte in der Gründungsphase der Bundesrepublik niemand voraussehen können. Die mittlerweile förmlich in Kraft getretene EU-Grundrechtscharta führt im Kontext des Diskriminierungsverbots unter anderem auch die genetische Merkmalsausstattung des Individuums an,6 womit die Charta neuartige 108 | heiner bielefeldt

Diskriminierungsrisiken infolge der wissenschaftlich-technischen Entwicklung in Rechnung stellt. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine Erweiterung des menschenrechtspolitischen Horizonts aufgrund des Drucks sozialer Bewegungen bietet die Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung, die im Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und durch die das menschenrechtliche Gleichheitsprinzip nun ausdrücklich in Richtung des Postulats gesellschaftlicher Barrierefreiheit fortentwickelt. Man könnte weitere Beispiele gerade aus dem Bereich des Diskriminierungsschutzes nennen, in denen sich der Einfluss sozialer Bewegungen und dadurch erreichte gesellschaftliche Lernprozesse niederschlagen. Die augenfälligen Veränderungen, die die Menschenrechte in ihrer heutigen Gestalt nicht nur im Vergleich zu Dokumenten des späten 18. Jahrhunderts, sondern auch schon bei der Gegenüberstellung mit den Standards aus der Gründungsphase der Vereinten Nationen aufweisen, belegen die Entwicklungsoffenheit des Menschenrechtskonzepts in Antwort auf historische Unrechtserfahrungen und deren öffentliche Artikulation. Sowenig Kant und seine Zeitgenossen es für möglich gehalten hätten, dass der in der Menschenwürde begründete Gleichheitsanspruch einmal Anlass für Forderungen nach Heiratsmöglichkeiten für Lesben und Schwule werden würde, so wenig sind wir heute in der Lage, uns im Einzelnen vorzustellen, wie die Menschenrechtsstandards in hundert Jahren aussehen werden. Die philosophische Klärung der Menschenwürde bringt prognostisch nichts ein; sie kann historische Lernprozesse weder ersetzen noch mit einiger Verlässlichkeit antizipieren. Als ein Deduktionsprinzip, von dem her sich die Inhalte der Menschenrechte gleichsam zeitenthoben abschließend entfalten ließen, wäre die Idee der Menschenwürde denn auch gründlich missverstanden. Es geht nicht um Ableitung, sondern um einen kritisch-reflexiven Rückbezug. Von der Menschenwürde her lassen sich die tragenden Prinzipien des Menschenrechtsansatzes – die universalistische Orientierung, die emanzipatorisch-egalitäre Stoßrichtung und der besondere Rang ›unveräußerlicher‹ Rechte – als eine sinnvolle Struktur verstehen, die den Menschenrechtsansatz insgesamt prägt und alle einzelnen menschenrechtlichen Verbürgungen umgreift. Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 109

Ein solcher Rückbezug der Menschenrechte auf strukturbildende Prinzipien und zuletzt auf die Menschenwürde als tragenden Grund ist nicht allein von theoretischem Interesse. Es geht nicht nur darum, auf diese Weise das Gesamt der Menschenrechte besser begreifen und vielleicht auch leichter didaktisch vermitteln zu können. Die Prinzipienreflexion verhilft auch dazu, Kriterien zu generieren, anhand derer sich etwaige neue Rechtsforderungen kritisch auf ihre Tragfähigkeit hin prüfen lassen. Damit aber gewinnt sie unmittelbar praktisch-politische Relevanz. Denn nicht hinter jedem Vorschlag nach einer Erweiterung der Menschenrechte steht ein durchdachtes oder auch nur legitimes Anliegen. Manche Forderungen – etwa nach Aufnahme von Menschenrechten auf eine gesunde Umwelt – sind in der Sache sehr nachvollziehbar, bedürfen aber noch der gründlichen Prüfung daraufhin, ob und wie sie in die inhaltliche und infrastrukturelle Systematik der Menschenrechte integriert werden können, ohne diese durch Überforderung zu schwächen. Bei anderen Vorschlägen ist hingegen offensichtlich, dass sie den Menschenrechtsansatz sprengen würden. Dies gilt etwa im Blick auf Forderungen, die Menschenrechte durch ›Rechte‹ anderer Lebewesen zu ergänzen.7 Schließlich drängt sich manchmal sogar der Verdacht auf, dass bestimmte menschenrechtspolitische Vorstöße in der strategischen Absicht vorgebracht werden, den emanzipatorischen Anspruch der Menschenrechte abzufangen oder jedenfalls zu verwässern. Ein Beispiel dafür sind die im UN-Menschenrechtsrat seit einigen Jahren regelmäßig verabschiedeten Resolutionen, denen zufolge die ›Diffamierung von Religionen‹ im Namen der Menschenrechte verboten werden sollte, was in der Praxis darauf hinauslaufen würde, die Spielräume staatlicher Zensurmaßnahmen gegen religiöse oder politische Dissidenten zu erweitern.8 Auch autoritäre Regime haben mittlerweile gelernt, die Semantik des universalen Rechtsdiskurses zu verwenden. Beständige Wachsamkeit, präzise Analyse und nicht zuletzt menschenrechtssystematische Klarheit sind deshalb geboten. Die historische Entwicklungsoffenheit der Menschenrechte meint deshalb nicht Beliebigkeit. Sowenig sich die Menschenrechte einerseits zu einem zeitlosen gültigen ›Kanon‹ zusammenfügen, sowenig bilden sie anderseits einen bloßen ›Katalog‹, in den auf Zuruf alles aufgenommen werden könnte, was im internationalen Gerech110 | heiner bielefeldt

tigkeitsdiskurs gerade en vogue ist. Die Unmöglichkeit verlässlicher Prognosen über die inhaltliche Ausgestaltung künftiger Menschenrechtsstandards darf folglich nicht als Absage an den Sinn einer zukunftsfähigen Kriteriologie missverstanden werden, die heute vielleicht mehr denn je notwendig geworden ist. Dazu aber erweist sich die Klärung der Menschenwürde als unumgänglich, da ohne Rückbezug auf die Idee der Würde der Anspruch der Menschenrechte nicht angemessen entfaltet werden kann. Die Idee der Menschenwürde umspannt das Ganze der Menschenrechte. Alle Menschenrechte stehen im Horizont der Menschenwürde, und es gibt demnach kein Menschenrecht, dessen ernsthafte Verletzung nicht zugleich eine Kränkung des in der Würde begründeten personalen Achtungsanspruchs bedeutet.9 Als der tragende Grund der Menschenrechte stellt die Würde nicht ihrerseits einen konkreten Rechtsanspruch dar, der parataktisch in das Gefüge der Rechte – als ein Recht neben anderen Rechten – eingeordnet werden könnte. Für ein spezielles Menschenrecht auf Würdeschutz, wie etwa Nida-Rümelin es vertritt, besteht kein Bedarf; denn genau dies ist die Funktion aller Menschenrechte. Nida-Rümelin spricht von einem eigenen »Recht, nicht gedemütigt zu werden«, das er den anderen Menschenrechten ergänzend zur Seite stellen will.10 Was anders soll aber das Folterverbot sein als ein Schutzrecht gegen entwürdigende Praktiken, in denen die Subjektstellung des Menschen brutal negiert wird! Ähnliches ließe sich mutatis mutandis von jedem einzelnen Menschenrecht sagen. Die Religionsfreiheit soll insbesondere religiöse Minderheiten davor bewahren, ihren Glauben verleugnen oder verstecken zu müssen, weil ein solches erzwungenes Versteckspiel letztlich gegen die Würde des Menschen verstößt. Soziale Rechte sollen dem Menschen die Möglichkeiten geben, sich auch im Wirtschafts- und Arbeitsleben gegen die Gefahr einseitiger und damit demütigender Abhängigkeit als eigenständige Subjekte von Menschenwürde zu behaupten. Und die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung verfolgt ausdrücklich das Ziel, Behinderten die Möglichkeit zu geben, ein »Bewusstsein ihrer Würde« zu entwickeln,11 was voraussetzt, dass man ihnen die volle und selbstverständliche Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen eröffnet und dafür angemessene Bedingungen schafft. Ein eigenständiges Menschenrecht auf WürDie Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 111

deschutz neben anderen Menschenrechten wäre bestenfalls redundant. Die Menschenwürde wäre meines Erachtens auch dann zu kurz gefasst, wenn man sie ausschließlich auf bestimmte ›absolute‹ Normen (oder Normbereiche) innerhalb des Menschenrechtsschutzes beziehen wollte. Zweifellos ist der Zusammenhang zur Menschenwürde in besonderer Weise evident bei denjenigen menschenrechtlichen Regelungen, die wie das Folterverbot oder die Ächtung der Sklaverei im Wortsinne ›absolut‹ gelten. Beim Folterverbot etwa schlägt die Unverrechenbarkeit der Menschenwürde gleichsam unmittelbar durch in ein kategorisches Nein, das keinerlei Einschränkungen oder Relativierungen erlaubt, nicht einmal im Notstandsfall. Ähnliches gilt beispielsweise auch für das Verbot der Sklaverei. Wäre es nicht sinnvoll, die Berufung auf die Menschenwürde genau auf solche Konstellationen zu beschränken, in denen der kategorische Anspruch der Würde unmittelbar als Rechtsanspruch, nämlich als absolute Grenze politischen Handelns, zum Tragen kommt? Wäre eine entsprechend zurückhaltende Verwendung des Würdebegriffs nicht der beste Weg, dessen moralische und juristische Durchschlagskraft zu wahren? Eine solche Schlussfolgerung hat viel für sich. Der Preis dafür wäre aber eine Entkopplung zwischen der Menschenwürde und all denjenigen Menschenrechtsnormen, die unter bestimmten Bedingungen eben doch eingeschränkt werden können, und dies gilt für die allermeisten Menschenrechte. Nehmen wir das Beispiel der Meinungsfreiheit. Zwar unterliegt sie im Unterschied zum Folterverbot sowohl nach dem Grundgesetz als auch im Kontext internationaler Menschenrechtskonventionen gewissen Einschränkungsmöglichkeiten. Spätestens in ernsten Fällen der Verweigerung, etwa wenn Menschen der Willkür staatlicher Zensurbehörden ausgesetzt sind oder wenn sie sich infolge von Droh- oder Bespitzelungsmaßnahmen nicht mehr trauen, sich frei öffentlich zu artikulieren, wird indessen deutlich, dass es wenig plausibel ist, die Meinungsfreiheit aus dem Wirkfeld der Menschenwürde auszuklammern. Will man Autorinnen, die ihre Bücher nicht veröffentlichen können, oder Verlegern, die von staatlicher Zensurpolitik gezielt in den Ruin getrieben werden, allen Ernstes sagen, dass die erlittene Bevormundung nichts mit ihrer Menschenwürde zu tun hat? Schon früh 112 | heiner bielefeldt

hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich festgestellt, dass die Meinungsfreiheit »in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit« darstellt.12 Den Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit und Menschenwürde zu zerschneiden hieße daher, ihn über den Bereich dieses konkreten Grund- und Menschenrechts hinaus auch für andere Freiheitsrechte aufzulösen. Die Rückbindung an die unantastbare Menschenwürde auf jene menschenrechtlichen Normen oder Kernbereiche zu reduzieren, die ihrerseits im Wortsinne unantastbar sind, weil sie unter keinen Umständen Gegenstand legitimierbarer Beschränkungen werden können, hätte zwar den Vorzug, dass der Würdebegriff in seinem kategorischen Stellenwert klar gewahrt bleibt. Der dafür zu entrichtende Preis aber wäre eine inhaltliche Marginalisierung des Würdekonzepts. Der fundierende Charakter der Menschenwürde, wie er sowohl UN-Erklärung der Menschenrechte und aus ihr folgenden Konventionen als auch im ersten Artikel des Grundgesetzes Ausdruck findet, käme nicht mehr zum Tragen. Ich möchte deshalb vorschlagen, den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten in zwei Aspekte zu unterteilen: Neben der (engeren) Funktion, kategorische Grenzen politischen Handelns zu setzen, hat der Rekurs auf die Menschenwürde auch die (weitere) Funktion, den gebotenen sorgsamen Umgang mit etwaigen Einschränkungen menschenrechtlicher Verbürgungen zu begründen. Dass nicht jede Einschränkung eines Menschenrechts und nicht jeder Eingriff in menschenrechtlich geschützte Bereiche eine Verletzung des betreffenden Rechts darstellt, hängt genau an dieser – in rechtstaatlichen Prinzipien und Normen weiter ausdifferenzierten – Sorgfalts- und Darlegungspflicht. Es macht unter dem Gesichtspunkt des Respekts vor der Würde des Menschen als Verantwortungssubjekt beispielsweise einen erheblichen Unterschied, ob eine Person über Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung wenigstens im Nachhinein informiert wird, so dass sie sich dagegen eventuell auch gerichtlich zur Wehr setzen kann, oder ob solche Eingriffe ohne jede Informations- und Kontrollmöglichkeit ganz im Verborgenen bleiben und die Menschen ihnen wehrlos ausgesetzt sind. Lästige Personenkontrollen am Flughafen dürften dann vermutlich keine Kränkung darstellen, falls sie dem für jeden einsichtigen Zweck der öffentlichen Sicherheit dienen, anscheinend Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 113

so schonend wie möglich durchgeführt werden und alle gleichermaßen betreffen, also niemanden diskriminieren. Man könnte weitere Beispiele nennen. Grundsätzlich gesagt, manifestiert sich der gebotene Respekt vor der Würde der Menschen eben auch darin, dass man ihnen Zumutungen erklärt, etwaige Einschränkungen der Rechte in präzise kontrollierbaren Grenzen hält, auf Willkür und vor allem Diskriminierungen verzichtet und den Betroffenen die Möglichkeit gibt, sich politisch oder gerichtlich gegen Übergriffe mit Erfolgschancen zu wehren. Über bestimmte per se uneinschränkbare menschenrechtliche Normen beziehungsweise Kernbereiche hinaus umspannt die Menschenwürde auch jene menschenrechtlichen Gewährleistungen, die unter Wahrung bestimmter rechtsstaatlicher Voraussetzung in bestimmtem Maße eingeschränkt werden können. Genau auf die präzise Formulierung und Durchführung der rechtsstaatlichen Kriterien kommt es dabei an. Dass sie sich in ihrer konkreten Gestalt nicht von der Menschenwürde unmittelbar herleiten lassen, versteht sich von selbst. Dass ihre Ausarbeitung und Einhaltung aber hohen Sorgfalts- und Darlegungspflichten unterliegt, weil sich erst daran der praktische Verkehrswert der positivierten Menschenrechte erweist, folgt aber wiederum zuletzt als Postulat aus der Menschenwürde.

3. Die Universalität der Menschenrechte Bei den Menschenrechten handelt es sich, wie schon das Wortverständnis es nahelegt, um grundlegende Rechte, die jedem Menschen schlicht aufgrund seines Menschseins zukommen. Im Unterschied zu solchen Rechtskategorien, die an bestimmte Rollen oder Funktionen in der Gesellschaft anknüpfen – etwa an die Rolle von Mietern oder Vermietern, an die Mitgliedschaft in bestimmten Verbänden und Berufsgruppen oder an den Besitz einer bestimmten Staatsangehörigkeit – sind die Menschenrechte schon mit dem Menschsein des Menschen gegeben, nämlich als Ausdruck des Respekts vor der Menschenwürde. In dieser Bezugnahme auf das allgemeine Menschsein besteht der normative Universalismus der Menschenrechte. Er bezeichnet 114 | heiner bielefeldt

somit die innere Qualität einer Rechtskategorie und nicht (oder jedenfalls nicht in erster Linie) den Aspekt der globalen Verankerung menschenrechtlicher Normen in den einschlägigen Konventionen der Vereinten Nationen. Zu meinen, dass regionale Rechtsinstrumente wie die 1950 vom Europarat verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention ›weniger universalistisch‹ seien als das global ausgerichtete menschenrechtliche Schutzsystem der Vereinten Nationen, wäre absurd; denn auch die Europäische Menschenrechtskonvention mitsamt dem ihr angeschlossenen Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte knüpft, und das ist entscheidend, bei der Gewährleistung der grundlegenden Rechte an das Menschsein des Menschen an. Dasselbe gilt für einzelstaatliche Menschenrechtsverbürgungen, wie sie zum Beispiel im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes enthalten sind. Im Unterschied zu den Staatsbürgerrechten (›Deutschenrechten‹) gelten sie im Jurisdiktionsbereich des Grundgesetzes für jeden Menschen gleichermaßen und sind insofern Ausdruck des normativen Universalismus.13 Die in der Literatur, gerade auch im völkerrechtlichen Schrifttum, häufig zu findende unmittelbare Assoziierung des menschenrechtlichen Universalismus mit den globalen Institutionen des Menschenrechtsschutzes – also mit den Instrumenten, die im Rahmen der Vereinten Nationen entstanden sind – birgt die Gefahr einer kategorialen Verkürzung des Menschenrechtsanspruchs. Dass den Vereinten Nationen eine zentrale Rolle bei der Formulierung und Durchsetzung menschenrechtlicher Standards zukommt, soll natürlich nicht bestritten werden. Eine exklusive Fokussierung auf die Ebene der Vereinten Nationen könnte aber einem Missverständnis Nahrung geben, dem schon Hannah Arendt erlegen war,14 nämlich dass die Menschenrechte nur gleichsam die äußerste, ›abstrakteste‹ Sphäre menschheitsweiter, kosmopolitischer Verbindlichkeiten repräsentieren. Die vorschnelle Assoziierung des menschenrechtlichen Universalismus mit der globalen Ebene führt somit leicht zu einer gewissen Marginalisierung des Konzepts, das man sich auf diese Weise ein Stück weit vom Halse halten kann. Die Universalität der Menschenrechte klingt dann nämlich so, als betreffe dies primär politisch-rechtliche Vorgänge, die weit entfernt in Genf oder New York stattfinden, nicht aber die Politik, die in Berlin, Paris oder Brüssel gemacht wird. Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 115

Es ist deshalb wichtig sich klar zu machen, dass mit dem Universalismus der Menschenrechte zunächst etwas anderes gemeint ist, nämlich die innere Qualität von Rechten, die an das bloße Faktum des Menschseins anknüpfen. Der Gegenbegriff zum Universalismus der Menschenrechte ist, so gesehen, nicht etwa eine regionale oder nationale (im Unterschied zur globalen) Institutionalisierung grundrechtlicher Gewährleistungen. Vielmehr wäre der Gegenbegriff zum menschenrechtlichen Universalismus ein rechtlicher Partikularismus: Sofern grundlegende Rechte von partikularen Bedingungen – Vorleistungen, persönlichen Merkmalen, gesellschaftlichen Statuspositionen usw. – abhängig gemacht würden, wäre ein rechtlicher Partikularismus gleichbedeutend mit Exklusion und Diskriminierung. Im Gegenzug gilt, dass Menschenrechte Ansprüche auf Inklusion und Nicht-Diskriminierung formulieren. Genau darin besteht ihr normativer Universalismus. Der Grund für die Gewährleistung fundamentaler Rechte für alle Menschen liegt in der Würde des Menschen. Die in der Präambel der UN-Erklärung von 1948 formulierte Prämisse, dass »die Anerkennung der inhärenten Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt« bildet, ist so oder ähnlich in die meisten Präambeln der später entstandenen rechtsverbindlichen Konventionen übernommen worden. Unter dem Einfluss der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verweist auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1 auf den normativen Zusammenhang zwischen der Würde und den grundlegenden Rechten des Menschen. Von dort wiederum führt ein direkter Weg zu Artikel 1 der EUGrundrechtscharta (rechtsverbindlich seit Dezember 2009), in dem bekräftigt wird: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.«

4. Freiheit, Gleichheit, Inklusion Wie stellen sich die Menschenrechte inhaltlich dar? Um diese Frage zu klären, hilft der Blick auf Artikel 1 der UN-Erklärung von 1948 und die darin aufgeführten drei Leitbegriffe der Französi116 | heiner bielefeldt

schen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.15 Während die Relevanz der ersten beiden Prinzipien für das Verständnis der Menschenrechte allenthalben anerkannt ist (was gravierende Differenzen in der Interpretation nicht ausschließt), bleibt die Funktion des dritten Prinzips (nicht nur aufgrund der antiquierten, ja ›sexistischen‹ Formulierung) weniger klar. In vielen Erörterungen der Menschenrechte wird es einfach weggelassen. Als Surrogate sind Begriffe wie Solidarität oder Partizipation vorgeschlagen worden. Denkbar wäre aber auch, den in der UN-Behindertenkonvention von 2006 neu profilierten Leitbegriff der Inklusion als zeitgemäßes Interpretament dessen anzusehen, was in der Nachkriegszeit noch ›Brüderlichkeit‹ genannt wurde. (1) Zunächst zum Freiheitsprinzip. Der axiomatische Anspruch, dass der Mensch um seiner Würde willen, um mit Kant zu sprechen, nie ausschließlich als Mittel, sondern immer zugleich auch als Selbstzweck behandelt werden soll, gewinnt konkrete Gestalt und praktisch-institutionelle Rückendeckung in den grundlegenden Rechten auf freie Selbstbestimmung. Diese freiheitliche Orientierung ist für die Menschenrechte insgesamt maßgebend.16 Alle Menschenrechte sind letztlich Freiheitsrechte. Dies gilt nicht nur für die bürgerlichen und politischen Menschenrechte, die oft als die ›klassischen‹ Freiheitsrechte qualifiziert werden, da viele dieser Rechte – Gewissens-, Gedanken- und Religionsfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, freie Berufswahl, freie Anwaltswahl vor Gericht usw. – schon semantisch eine freiheitliche Ausrichtung signalisieren. Auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte erweisen sich bei genauerer Analyse als Freiheitsrechte.17 Das Recht auf Bildung (international im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verbürgt) hat wesentlich die Funktion eines ›EmpowermentRechts‹: Es verbessert die Voraussetzungen dafür, dass Menschen ihr (bürgerlich-politisches) Recht auf Meinungsfreiheit wirksam in Anspruch nehmen können, trägt aber auch in sich selbst einen freiheitlichen Anspruch, der sich nicht zuletzt in den Lerninhalten und -methoden niederschlagen soll. Das Recht auf ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit hat entscheidend die Funktion, einseitigen Abhängigkeiten im Arbeitsleben entgegenzuwirken und damit Optionen selbstbestimmter Lebensführung zu erweitern. Auch das Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 117

Recht auf angemessene Nahrung, das erst in jüngerer Zeit zunehmend internationale Anerkennung gefunden hat, formuliert einen freiheitlichen Anspruch; denn es geht dabei, wie der zuständige UN-Ausschuss betont, nicht einfach um in Kalorien und Proteinen zu bemessende Versorgungsansprüche, sondern immer um die Ermöglichung menschenwürdiger Ernährung unter Beachtung der freien Selbstbestimmung der Betroffenen. Dass die Freiheit gleichsam einen Leitfaden für das Verständnis der Menschenrechte bildet, zeigt sich paradigmatisch in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie enthält ein Zitat jener berühmten ›vier Freiheiten‹, die der amerikanische Präsident Roosevelt erstmals im Januar 1941 proklamiert hatte und die dann zum Motto im Kampf der Alliierten gegen Nationalsozialismus und Tyrannei wurden: »Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not«. Diese vier Freiheiten lassen sich als eine grobe Typologie der verschiedenen einander ergänzenden Arten von Menschenrechten lesen. Während die Redefreiheit für die politischen Freiheitsrechte (zum Beispiel Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das demokratische Wahlrecht) steht, repräsentiert die Glaubensfreiheit die geistigen Freiheitsrechte, in denen der Respekt vor den tragenden Gewissens- und Glaubensüberzeugungen des Menschen Ausdruck findet. Die Freiheit von Furcht lässt sich mit den Justizgrundrechten in Verbindung bringen, die Schutz vor willkürlicher Inhaftierung und Fairness im Gerichtsverfahren garantieren. Mit der Freiheit von Not verweist die Präambel schließlich auf die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, die ebenfalls Freiheitsansprüche darstellen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass mit dieser Typologie sämtliche in der Allgemeinen Erklärung aufgezählten Einzelrechte in den Horizont der Freiheit gestellt werden. Alle konkreten Menschenrechte – von der Religionsfreiheit und der Meinungsfreiheit über die Vereinigungsfreiheit und das politische Wahlrecht bis hin zu den Rechten auf Gesundheit und Bildung – artikulieren demnach Freiheitsansprüche. Ungeachtet der Differenzen in der konkreten Schutzrichtung ergänzen sie einander in der generellen Zielsetzung, eine Freiheitsordnung zu schaffen, die der Würde des Menschen als eines Verantwortungssubjekts gerecht wird. (2) Wie alle Menschenrechte der Ermöglichung von Freiheit die118 | heiner bielefeldt

nen, so gilt analog, dass alle Menschenrechte Gleichheitsrechte sind. Der Gleichheitsanspruch meint im Kontext der Menschenrechte niemals abstrakte Gleichförmigkeit. Vielmehr erschließt sich die menschenrechtlich gedachte Gleichheit nur in der Zusammensicht mit dem Freiheitsanspruch. Sie zielt nicht auf Nivellierung und Homogenisierung, sondern im Gegenteil darauf, dass alle Menschen gleichermaßen die Möglichkeit haben sollen, ihre je ›besonderen‹, eigenen Lebensentwürfe – für sich und in Gemeinschaft mit anderen – in Freiheit zu finden und zu verwirklichen. ›All different, all equal‹ lautet der gleichermaßen knappe wie treffende Slogan einer Kampagne des Europarats.18 Das Gleichheitsprinzip erfährt seine historisch-konkrete Gestalt im Diskriminierungsverbot. Es gehört zum Kernbestand internationaler Menschenrechtsdokumente und nationaler Grundrechtsverbürgungen. »Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen Geburt oder sonstigem Stand«, heißt es beispielsweise in Artikel 2 Absatz 1 der 1948er UN-Erklärung. Die Aufzählung der spezifischen Diskriminierungsverbote, durch die der Gleichheitsanspruch konkret konturiert wird, bildet keine abschließende Liste, sondern ist nur exemplarisch zu verstehen. Sie bleibt offen für weitere gesellschaftliche Lern- und Sensibilisierungsprozesse. Auf weltweiter Ebene ist die Liste der ausdrücklich verbotenen Diskriminierungsmerkmale mittlerweile beispielsweise um das Merkmal der Behinderung ergänzt worden; in Europa kommt auch das Merkmal sexuelle Orientierung hinzu,19 das international allerdings bislang nicht als Bestandteil des Diskriminierungsverbots anerkannt ist. (3) Die menschenrechtlich verbürgte Freiheit betrifft keineswegs nur die Freiheit des isolierten Individuums, sondern durchwirkt auch die gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Bezüge des Menschen – von der Familie, über die Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften bis hin zur Teilnahme am öffentlichen Leben und zur Mitwirkung am demokratischen Diskurs. Die Menschenrechte sind zwar die Rechte jedes einzelnen Menschen, dessen inkommensurable Würde dadurch Anerkennung findet. Sie schützt den Einzelnen vor möglicher Vergewaltigung durch Gemeinschaften und die Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 119

Gesellschaft. Gleichzeitig haben die Menschenrechte immer auch eine gemeinschaftliche Dimension. Wie sie einerseits darauf abzielen, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Institutionen liberalisierend zu prägen und zu verändern, so gilt andererseits, dass Freiheit ohne Unterstützung durch personale Gemeinschaften und gesellschaftliche Strukturen nicht gelebt werden kann. Zunächst einige Beispiele: Die Meinungsfreiheit beschränkt sich nicht auf die individuelle Freiheit zur Meinungsäußerung, sondern sichert genau dadurch zugleich die Möglichkeiten für den demokratischen Diskurs in einem freiheitlichen Gemeinwesen; sie ist gleichsam das Ur-Recht der demokratischen Gesellschaft. Das Recht auf Religionsfreiheit umfasst über die individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit hinaus wesentlich auch die Freiheit zu gemeinschaftlicher Religionsausübung, hat also ebenfalls – wenn auch in anderer Weise – eine kommunitäre Dimension, ohne die der rechtliche Schutz der Religionsausübung nicht viel wert wäre. Dass das Recht auf Schutz von Ehe und Familie von vornherein ein gemeinschaftsbezogenes Recht darstellt, bedarf keiner Erläuterung, wohl aber der Klarstellung, dass im Horizont des Menschenrechtsansatzes nur solche Familienformen Anerkennung beanspruchen können, die der freien Selbstbestimmung der einzelnen Familienmitglieder angemessenen Raum geben. Man könnte die Liste der Beispiele verlängern, woran deutlich wird, dass Menschenrechte keineswegs auf die »Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade« zielen,20 wie Marx gemeint hatte. Dadurch dass jedem einzelnen Menschen seine grundlegenden Rechte garantiert werden, entstehen vielmehr überhaupt erst die Voraussetzungen für freie Gemeinschaftsbildungen: in Gestalt von Parteien, Religionsgemeinschaften, Familien und anderen Lebensgemeinschaften, Gewerkschaften und Wirtschaftsunternehmen, kulturellen Vereinigungen usw. Vor allem die Beschäftigung mit dem Thema ›Behinderung‹ hat in den letzten Jahren darüber hinaus das Bewusstsein dafür noch einmal geschärft, dass gesellschaftliche Unterstützungsleistungen die Voraussetzung dafür bilden, dass Menschen überhaupt selbstbestimmt leben können.21 Diese Einsicht betrifft keineswegs nur Personen mit Behinderungen, sondern alle Menschen. Denn letztlich kann niemand in Isolation und ohne Hilfe anderer frei und selbst120 | heiner bielefeldt

bestimmt leben. Den Geist der UN-Behindertenrechtskonvention könnte man formelhaft zusammenfassen in dem Motto ›unterstützte Autonomie durch gleichberechtigte Inklusion‹, womit die Trias der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – eine aktualisierte Lesart erfährt. Nach der Behindertenrechtskonvention gehören individuelle Autonomie und gesellschaftliche Inklusion unauflöslich zusammen; sie müssen für ein angemessenes Verständnis zusammen gelesen und auch in der praktischen Umsetzung der Konventionsverpflichtungen stets zusammen bedacht werden. Ohne gesellschaftliche Inklusion kann Autonomie praktisch nicht gelebt werden, und ohne Respekt vor der individuellen Autonomie nimmt soziale Inklusion sehr leicht Züge von Bevormundung an. Mit anderen Worten: Erst in der wechselseitigen Verwiesenheit wird klar, dass Autonomie gerade nicht die Autarkie des ganz auf sich gestellten Einzelnen (frei nach Wilhelm Tells Ausspruch: ›der Starke ist am mächtigsten allein‹) meint, sondern auf selbstbestimmtes Leben in sozialen Bezügen zielt; und im Gegenzug wird deutlich, dass soziale Inklusion ihre Qualität gerade dadurch gewinnt, dass sie Raum und Rückhalt für persönliche Lebensgestaltungen bietet. Im Blick auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Unterstützungsleistungen für lebbare Freiheit verliert der Autonomiebegriff den metallenen Klang, der ihm in manchen neolibealen Debattenkontexten anhaftet. Und durch die Klarstellung, dass die Selbstbestimmung der Person nicht nur das generelle Ziel, sondern auch den hic et nunc geltenden Maßstab sinnvoller Unterstützungsmaßnahmen ausmacht, müssen bevormundende Übergriffe, und seien sie auch noch so gut gemeint, zurückgewiesen werden. Indem sie diese Struktur unterstützter Autonomie durch gesellschaftliche Inklusion systematisch beleuchtet, gewinnt die Behindertenrechtskonvention Relevanz für das Verständnis des Menschenrechtsansatzes insgesamt – also weit über den Kreis der unmittelbar von ihr Adressierten hinaus. Nicht der oft beschworene Gegensatz von Individuum versus Gemeinschaft beziehungsweise Gesellschaft macht demnach die Pointe menschenrechtlicher Emanzipation aus. Vielmehr steht die durch menschenrechtliche Individualrechte zu ermöglichende freie Gemeinschaftsbildung in der doppelten Frontstellung gegen autoritäre, bevormundende Kollektivismen einerseits und gegen Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 121

unfreiwilligen sozialen Ausschluss andererseits. Menschenrechtswidrig wären demnach zum Beispiel Familienformen, die auf erzwungener Eheschließung basieren, Religionsgemeinschaften, die abtrünnige Mitglieder mit Gewalt bedrohen, oder Volksdemokratien ohne Pressefreiheit und ohne Rechte der Opposition. Ebenfalls unter Menschenrechtsgesichtspunkten inakzeptabel aber wären eine Wirtschaftspolitik, die die gesellschaftliche Desintegration von Dauerarbeitslosen schulterzuckend hinnähme, oder eine gesellschaftliche Praxis, die Menschen mit Behinderungen vom öffentlichen Leben absondert. Im Horizont der strukturbildenden menschenrechtlichen Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Inklusion erweisen sich die einzelnen Menschenrechtsnormen als Bestandteile eines Gesamtzusammenhangs. Natürlich hat jedes Menschenrecht seine spezifischen Gehalte und Funktionen, durch die es sich von anderen Rechten unterscheidet. Es kommt auch vor, dass menschenrechtliche Normen miteinander kollidieren, so dass das Verhältnis zwischen ihnen immer wieder neu austariert werden muss. Und doch stehen die einzelnen Gewährleistungen nicht nur einfach nebeneinander (unter Umständen auch gegeneinander), sondern ergänzen einander. Sie bilden nicht etwa einen ›Katalog‹, aus denen man sich, wie das bei Katalogen so üblich ist, das heraussuchen kann, was einem gerade passt, und das getrost ignorieren darf, was weniger opportun erscheint. Vielmehr sind die Menschenrechte unteilbar: Bei aller Spezifizität der einzelnen Normen ergänzen sie einander in der Zielsetzung, eine der Menschenwürde angemessene freiheitliche Sozialordnung zu gestalten.22

5. ›Unveräußerliche Rechte‹ – juristisch gesehen Neben der Fundierung des Universalismus und der egalitär-emanzipatorischen Ausrichtung der Menschenrechte hat die Idee der Menschenwürde auch die Funktion, den herausragenden Stellenwert der Menschenrechte zu begründen. Es handelt sich bei ihnen um eine Rechtskategorie ganz besonderer Art. Menschenrechte sind keine beliebigen Rechtstitel, die ein Mensch erwerben oder verlieren könnte, sondern haben den Status ›unveräußerlicher‹ 122 | heiner bielefeldt

Rechte. Diese Figur der ›inalienable rights‹, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie in ihrem Gefolge in Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes angesprochen wird, lässt sich bis in die frühen Menschenrechtsdokumente des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Der Begriff der Unveräußerlichkeit markiert in der Tat, wie Dietmar Willoweit gezeigt hat, den historischen Durchbruch des Menschenrechtsansatzes.23 Auch Kant postuliert, dass es »unverlierbare Rechte« gebe, »die der Mensch nicht aufgeben kann, selbst wenn er auch wollte«,24 weil er sonst seine Würde als Verantwortungssubjekt verleugnen würde. Wie zeigt sich die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte in der institutionellen Ausgestaltung des Menschenrechtsschutzes? Wichtig ist zunächst die Klarstellung, dass die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte in den meisten Fällen nicht uneingeschränkte Geltung meint. Auch menschenrechtliche Verbürgungen stoßen immer wieder an Grenzen: Sie können untereinander kollidieren oder mit anderen hochrangigen Rechtsgütern ins Gehege kommen. Die Meinungsfreiheit kann in Konflikt mit Ansprüchen auf Respekt der persönlichen Ehre geraten; das Verhältnis von Forschungsfreiheit und informationeller Selbstbestimmung birgt Spannungen; und wie die Gleichberechtigung der Geschlechter mit Autonomieforderungen kultureller Minderheiten konsistent zusammen gebracht werden kann, wird seit Jahrzehnten kontrovers erörtert. Ein zentrales Thema im Menschenrechtsdiskurs der letzten Jahre ist die Spannung zwischen menschenrechtlicher Freiheit und sicherheitspolitischen Erfordernissen der Terrorismusbekämpfung. Über solche schwierigen Fragen wird in Parlamenten und Gerichten gestritten und entschieden.25 Die Menschenrechte sind entsprechenden Aushandlungsprozessen also nicht insgesamt enthoben; sie fungieren nicht als Denkblockade oder Tabu, wie manchmal gemutmaßt wird. Ihr herausgehobener Stellenwert zeigt sich vielmehr in einer ganzen Reihe von Sicherungen (gern auch ›Schranken-Schranken‹ genannt), die dafür sorgen sollen, dass die Menschenrechte in ihrer Unveräußerlichkeit gleichwohl gewahrt werden. Damit der gleichermaßen richtige wie triviale Hinweis, dass auch die menschenrechtlich verbürgte Freiheit angesichts der Kontingenz menschlicher Lebensverhältnisse nur eine endliche, begrenzte Freiheit sein kann, nicht zu beliebigen Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 123

Eingriffen oder gar zum faktischen Leerlaufen der Freiheitsrechte führt, bedarf es bestimmter Sicherungen, das heißt klarer Kriterien und Grenzen, innerhalb derer sich etwaige Abwägungen und Einschränkungen bewegen müssen. Für einige Menschenrechtsnormen gilt, dass sie von vornherein keinerlei Einschränkungen beziehungsweise Eingriffe erlauben. Paradigmatisch dafür steht das Folterverbot. Es ist selbst in Krisensituationen allen legitimierbaren Einschränkungen entzogen. Dies hat mit dem spezifischen Charakter der Folter zu tun. Das Besondere der Foltersituation besteht nicht schon darin, dass dem Betroffenen durch Zwangsmittel der eigene Wille ausgeschaltet wird. Hinzu kommt, dass er diese Brechung seines Willens bewusst erlebt und erleben soll. Er darf eben nicht in die Ohnmacht versinken, sondern wird mit derselben Gewalt, die seinen Willen bricht, zugleich bei Bewusstsein gehalten. Auf diese Weise wird er gezwungen, Zeuge seiner eigenen Verdinglichung zu einem manipulierbaren Bündel von Schmerz, Angst und Scham zu sein, um genau daran zu zerbrechen. Dies macht das Perfide der Folter aus. In ihr wird der Achtungsanspruch des Menschen nicht nur verletzt, sondern systematisch, absichtlich und vollständig negiert. Deshalb ist die Folter einer möglichen Rechtfertigung schlechthin unzugänglich. Auch hinsichtlich solcher Menschenrechtsnormen, die nicht insgesamt absolut gelten, gibt es absolut geschützte Kernbereiche. Dies hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in seiner Entscheidung zum Großen Lauschangriff in Erinnerung gebracht. Zum Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung stellt das Gericht fest: »Die Privatwohnung ist als ›letztes Refugium‹ Mittel zur Wahrung der Menschenwürde. Dies verlangt zwar nicht einen absoluten Schutz der Räume der Privatwohnung, wohl aber absoluten Schutz des Verhaltens in diesen Räumen, soweit es sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt.«26 Dort wo Einschränkungen von Menschenrechten prinzipiell möglich sind, bestehen gleichzeitig inhaltliche und institutionelle Sicherungen, die dafür sorgen sollen, dass solche Einschränkungen nicht den Wesensgehalt der jeweiligen Menschenrechte tangieren und dass sie insgesamt in einem vertretbaren Rahmen sowie in ihren Auswirkungen kontrollierbar bleiben.27 So sind in einigen Menschenrechtsnormen die möglichen legitimen Einschränkungen 124 | heiner bielefeldt

beziehungsweise Eingriffe inhaltlich abschließend aufgezählt; auch der Gesetzgeber ist an diese Liste gebunden und kann nicht über sie hinausgehen. Eine weitere Sicherung besteht in dem Erfordernis, dass im Rahmen der möglichen gesetzlichen Einschränkungen von Menschenrechten entsprechende klare Normen durch den Gesetzgeber formuliert werden müssen, damit die Betroffenen sich auf etwaige Eingriffe einstellen und gegebenenfalls auch dagegen vorgehen können. Es darf nicht sein, dass die Administration auf eigene Faust in menschenrechtlich geschützte Bereiche eingreift; vielmehr ist in Fragen möglicher Menschenrechtseinschränkungen der parlamentarische Gesetzgeber gefordert, der öffentlich darüber beraten und entscheiden soll. Gesetzliche Beschränkungen menschenrechtlicher Freiheit müssen außerdem verhältnismäßig sein. Das für den Rechtsstaat zentrale Verhältnismäßigkeitsprinzip verlangt, dass etwaige Einschränkungen bzw. Eingriffe einem wichtigen und legitimen Zweck dienen sowie für die Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen. Das Kriterium der ›Geeignetheit‹ soll bloß symbolische legislative oder administrative Maßnahmen ausschließen, die womöglich lediglich dazu dienen, politische Entschlossenheit zu demonstrieren. Das Kriterium der ›Erforderlichkeit‹ verlangt die beständige Suche nach dem jeweils mildesten Eingriff zur Erreichung eines sicherheitspolitischen Ziels. Eine sicherheitspolitische Maßnahme, deren Zweck plausiblerweise auch durch einen weniger weit reichenden Eingriff erreicht werden könnte, wäre deshalb unverhältnismäßig und illegitim. Und schließlich beinhaltet das Kriterium der ›Angemessenheit‹ (meist ›Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne‹ genannt) die Verpflichtung, dass Eingriffe sowohl hinsichtlich ihrer Tiefe wie hinsichtlich ihrer Streubreite in einem angemessenen Rahmen verbleiben müssen. Anhand seiner drei Subkriterien – Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit – funktioniert das Verhältnismäßigkeitsprinzip als eine Art ›Freiheitsverträglichkeitsprüfung‹; es ist somit keineswegs eine bloß utilitaristische Abwägungsformel. Außerdem zu nennen wären Richtervorbehalte, die eine spezifische institutionelle Schwelle für etwaige Eingriffe darstellen. Schließlich müssen Rechtsmittel zur Verfügung stehen, die es den Betroffenen ermöglichen, sich gegen Eingriffe wirksam zur Wehr zu setzen. Dazu zählen Auskunftsrechte genauso wie die Möglichkeit, den RechtsDie Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 125

weg bis hin zum Bundesverfassungsgericht und darüber hinaus zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beziehungsweise zu Beschwerdegremien der Vereinten Nationen zu beschreiten. Die Würde des Menschen als eines Verantwortungssubjekts findet ihre Anerkennung somit einerseits in der inhaltlichen Substanz menschenrechtlicher Gewährleistungen; sie fundiert andererseits aber auch jene ausdifferenzierten Regelungen, die einen sorgsamen, präzisen, schonenden und rechtsstaatlich kontrollierbaren Umgang mit etwaigen Beschränkungen menschenrechtlicher Freiheit sicherstellen sollen. In einem besonderen Modus der ›Unmittelbarkeit‹ manifestiert sich der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten darüber hinaus schließlich in denjenigen Normen, die wie das Folterverbot jeder Abwägung oder Relativierung kategorisch entzogenen sind; die Unverrechenbarkeit der Menschenwürde schlägt hier direkt in ein kategorisches Verbot durch, dessen strikter Beachtung über die praktische Schutzfunktion für die von Folter und Misshandlung bedrohten Menschen hinaus zugleich eine hohe symbolische Relevanz für das Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaats zukommt.

6. ›Unveräußerliche Rechte‹ – moralisch gesehen Der Begriff der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte lässt sich auch als moralischer Imperativ lesen. Obwohl dem Staat eine spezifische Garantenfunktion für die Menschenrechte zukommt, die nicht durch falsche ›Vergesellschaftung‹ aus dem Blick geraten darf, geht der Anspruch der Menschenrechte doch zugleich über die staatliche Rechtsordnung hinaus. Er betrifft auch die Gesellschaft im Ganzen und letztlich jeden einzelnen Menschen. Am Ende der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte werden denn auch tatsächlich neben dem Staat »jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft« angesprochen, und zwar mit der Aufforderung, »durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung durch die Bevölkerung […] zu gewährleisten«. Der Mensch schuldet es sich selbst 126 | heiner bielefeldt

moralisch, so könnte man sagen, für die unveräußerlichen Menschenrechte – die eigenen Rechte und die der anderen – aktiv einzutreten. Gerade die enge Verknüpfung von Recht und Moral ruft allerdings immer wieder Befürchtungen vor autoritärer Moralisierung auf den Plan. Moralisches Pathos und vor allem die Beschwörung der Menschenwürde, so der Einwand, drohten die in den Menschenrechten gewährleistete Freiheit durch eine Art Moralvorbehalt wieder zurückzunehmen oder zumindest einzuschränken. Am Ende könnten dann womöglich nur noch diejenigen von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen, die sich ihrer zuvor als ›würdig‹ erwiesen hätten. Manche sehen gar die Gefahr einer »Tyrannei der Würde«.28 Diese Befürchtungen lassen sich nicht von der Hand weisen. Kein normatives Konzept ist von vornherein dagegen geschützt, ins Autoritäre abzurutschen. Aus der Mitte einer freiheitlichen Demokratie können populistische Tendenzen erwachsen, innerhalb derer für eine kritische Debatte am Ende dann kein Raum mehr bleibt. Und auch unter dem Banner von Menschenwürde und Menschenrechten kann sich ein moralischer Fundamentalismus entwickeln, der wenig Geduld mit abweichenden politischen Überzeugungen zeigt. Dass menschenrechtliches Engagement in moralisierenden Eifer umschlägt, ist keine ganz exzeptionelle Erfahrung. Genau deshalb ist die relative Eigenstruktur des Rechts so wichtig. Dass die Menschenrechte in positiv-rechtlichen Normen und Institutionen ihre konkrete verbindliche Gestalt gewinnen, dient nicht nur ihrer effizienten Durchsetzung. Die juristische Positivierung hat ganz wesentlich auch den Sinn, dafür zu sorgen, dass der emanzipatorische Gehalt der Menschenrechte nicht in vormundschaftliche Befreiungsideologien entgleitet, wofür es seit der jakobinischen Phase der Französischen Revolution zahlreiche historische Beispiele gibt. Auf ihr institutionell verbrieftes Recht der Meinungsfreiheit können deshalb auch diejenigen bestehen, deren Ansichten aus menschenrechtlicher Sicht wenig sympathisch klingen. Die Religionsfreiheit schützt nicht nur dezidiert liberale theologische Richtungen. Und auch die Versammlungsfreiheit gilt nicht nur für Bewegungen, die sich in Wort und Tat zuvor zu den Menschenrechten bekannt haben. Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 127

Die rechtsinstitutionelle Gestalt der Menschenrechte hat unter anderem die Funktion, ihre freiheitliche Orientierung gegen eine falsche Moralisierung zu schützen, die womöglich sogar im Namen derselben Menschenrechte drohen kann. Deshalb bleiben Recht und Moral notwendig unterschieden. Eine Moral, die keinen Sinn für die Eigenstruktur des Rechts hat, wird sehr schnell übergriffig und damit autoritär, und zwar auch dann, wenn sie ihrem Selbstverständnis nach ›emanzipatorisch‹ ausgerichtet sein sollte. Die Differenz zwischen Recht und Moral meint aber keine Trennung zweier beziehungslos nebeneinander existierender Normbereiche. Ganz im Gegenteil hat die Eigenstruktur des Rechts gewissermaßen selbst einen moralischen Sinn, indem sie dazu verhilft, eine Moral des Respekts vor der Freiheit der Menschen zu entwickeln und zu pflegen. Menschenrechte bedürfen des moralischen Engagements, aber eben eines solchen Engagements, dass die Eigenstruktur des Rechts gleichsam in sich selbst aufgenommen hat. Auf diese Weise kann die Achtung der Menschenwürde in einer Kultur praktischer Wertschätzung gelebter Freiheitsrechte zum Tragen kommen. Die positiv-rechtliche Eigenstruktur der Menschenrechte bedeutet keine Verminderung ihres moralischen Anspruchs, sondern dient dazu, genau diesen Anspruch in seiner Liberalität zu sichern. Deshalb wäre es ein Missverständnis, Moral und Recht voneinander zu entkoppeln und die moralische Fundierung der Menschenrechte in der Menschenwürde auszublenden. Die notwendige Differenzierung zwischen Recht und Moral meint nicht abstrakte Beziehungslosigkeit, sondern ist genau besehen ein Moment ihrer angemessenen Verknüpfung. Nur eine Moral, die den Sinn für die Eigenstruktur rechtlicher Normen und Institutionen wahrt, kann ihre eigene freiheitliche Orientierung auf Dauer durchhalten, und nur ein Rechtsdenken, das für den moralischen Anspruch der Menschenwürde sensibel ist, kann die ›Unveräußerlichkeit‹ der elementaren Freiheitsrechte innerjuristisch konsequent zur Geltung bringen. Die moralische Fundierung der Menschenrechte kommt freilich nicht immer klar zur Sprache. Hinter der auch in menschenrechtlich interessierten Kreisen vielfach zu beobachtenden Abstinenz von einer allzu kompakten ›Werte‹-Rhetorik mag sich oft genug ein unausgesprochenes moralisches Interesse verbergen, nämlich eine hohe 128 | heiner bielefeldt

Wertschätzung der Rechte freier Selbstbestimmung, die man durch moralisierende Zumutungen gefährdet sieht. Wenn dieses ›moralische‹ Interesse – aus der ja keineswegs per se falschen Angst, auch seinerseits als falsche ›Moralisierung‹ aufgefasst zu werden – allerdings überhaupt nicht mehr zu Wort kommt, entstehen typische Missverständnisse und Selbst-Missverständnisse. Es bleibt dann am Ende kein Argument mehr übrig, um denjenigen klar und selbstbewusst zu widersprechen, die die Freiheitsrechte auf die Belanglosigkeiten der »Spaß- und Wohlstandsgesellschaft«29 reduzieren und damit banalisieren. Besonders die Jünger Carl Schmitts bemühen gern das moralische Pathos der Ausnahme gegen die bloße Routine juristischer Regelwerke, um durch eine solche Antithese Freiheitsrechte und rechtsstaatliche Grundsätze in großem Stil zu diskreditieren. In solchem Gestus hat zum Beispiel Otto Depenheuer kürzlich die Figur des »Bürgeropfers« in die Diskussion gebracht.30 Im Kampf des Staates gegen den Terrorismus, so Depenheuer, sollten die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft bereit sein, menschenrechtliche Kollateralschäden – notfalls bis hin zur Preisgabe des Rechts auf Leben – als ›Bürgeropfer‹ zugunsten des Gemeinwesens hinzunehmen. Während der Abbau menschenrechtlicher Garantien auf diese Weise zum verfassungspatriotischen Martyrium moralisch hochstilisiert wird, erscheint der Einsatz für die Wahrung der Menschenrechte zuletzt nur als feige Realitätsverweigerung in Zeiten terroristischer Bedrohung und als eine Haltung des spießigen ›ohne mich‹. Die moralische Diskreditierung der Menschenrechte durch fundamentalistische Ideologen oder rechte Staatstheoretiker und Publizisten bildet die Kehrseite jener skeptischen Zurückhaltung, die sich aus unterschiedlichen Gründen davor scheut, den moralischen Gehalt der Freiheitsrechte klar zu artikulieren. Aus der Sorge, womöglich im Sinne autoritärer Moralisierung missverstanden zu werden, verzichten manchmal selbst Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten darauf, die Sprache der Moral zu verwenden und kaprizieren sich lieber auf die Auslegung der staatlich verbrieften Rechte. Unfreiwillig spielen sie dadurch die Moral-Semantik den Gegnern der Freiheit in die Hände und haben einer moralischen Offensive von rechts oder von Seiten religiöser Fundamentalisten Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte | 129

am Ende dann womöglich lediglich den Verweis auf juristische Dokumente entgegenzusetzen. Die Besinnung auf die moralische Basis der Menschenrechte erweist sich deshalb gerade um der Freiheit willen als unverzichtbar. Es kann dabei natürlich nicht darum gehen, juristische und moralische Fragen schlicht in einen Topf zu werfen. Die Eigenstruktur juristischer Normgestaltungen ist eine liberale Errungenschaft, hinter die man nicht zurückgehen kann. Und dennoch bleibt es wichtig, dass der juristische Menschenrechtsdiskurs sich nicht positivistisch von seinen moralischen Quellen abschnürt, sondern auch in die Sprache der Moral (rück-)übersetzt werden kann. Nur so ist es möglich, die Freiheitsrechte gegen die Verwechslung mit den seichten Interessen einer bloßen ›Spaßgesellschaft‹ zu verteidigen und sie als einen ›unveräußerlichen‹ Anspruch zu begreifen, der gleichermaßen juristische wie moralische Herausforderungen birgt. Auf globaler Ebene wurde das Verhältnis von Recht und Moral übrigens in den Jahren 1997 und 1998 einige Monate lang grundsätzlich debattiert. Auslöser war das Projekt, zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine ›Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten‹ (auf Englisch: ›Universal Declaration of Human Responsibilities‹) von den Vereinten Nationen verabschieden zu lassen.31 Dieses Projekt, hinter dem ein internationales Gremium ehemaliger Staats- und Regierungschefs stand, ist letztlich gescheitert. Aufgrund mancher zweideutiger Formulierungen leistete der Text dem möglichen Missverständnis Vorschub, die Menschenrechtserklärung sei bislang ohne eigentliche moralische Substanz gewesen, die nun erst durch die Pflichtenerklärung gleichsam ergänzend von außen eingefügt werden sollte. Dies hätte autoritären Vorbehalten gegen die Menschenrechte nur neue Nahrung gegeben. Menschenrechtsorganisationen haben das schlussendliche Scheitern der Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten daher begrüßt. Und dies zu Recht: Denn als Konsequenz der ›Anerkennung der innewohnenden Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie‹ erweist sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als ein von vornherein eminent moralisches Projekt, das eine externe Moralzufuhr durch die Pflichtenerklärung niemals nötig hatte.

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Anmerkungen 1

G. Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Zürich 1988,

S. 7. Vgl. H.J. Sandkühler, Menschenwürde und die Transformation moralischer Rechte in positives Recht, in: ders. (Hg.), Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Aspekte, Frankfurt a.M. 2007, S. 57–86, insbes. S. 71 ff. 3 Auf die Differenzierung zwischen verfassungsrechtlich verbürgten ›Grundrechten‹ und den internationalen ›Menschenrechten‹ gehe ich nicht näher ein. Wenn im Folgenden von den Menschenrechten die Rede ist, meine ich generell einen Typus grundlegender Freiheits- und Gleichheitsrechte, der positiv-rechtlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen normiert sein kann: auf der Ebene der nationalen Verfassung, auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union, auf der Ebene regionaler Menschenrechtsverträge (wie etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats) und schließlich auf der globalen Ebene der Vereinten Nationen. Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass eine klare Differenzierung dieser Normebenen für die juristische Analyse der jeweiligen Gewährleistungsinhalte und Durchsetzungsmechanismen unverzichtbar ist. 4 Vgl. J. Schwartländer (Hg.), Menschenrechte. Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, Tübingen 1978. 5 Vgl. BVerfG, 1 BvR 370/07 vom 27. 02. 2008. 6 Vgl. Art. 21 Abs. 1 EU-Grundrechtscharta. 7 Wer Menschenrechte und ›Tierrechte‹ kategorial auf derselben Ebene verortet, schwächt damit den Anspruch der Menschenrechte, ja unterminiert ihn letztlich. Dass es gute Gründe dafür gibt, für einen effi zienten Tierschutz einzutreten, steht auf einem anderen Blatt. 8 Vgl. J. Temperman, Blasphemy, Defamation of Religions and Human Rights Law, in: Netherlands Quaterly of Human Rights, Vol. 26/4 (2008), S. 485–516. 9 Vgl. die analoge Aussage des Bundesverfassungsgerichts zur fundierenden Rolle der Menschenwürde für das Gesamt der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, dass nämlich »sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde« darstellen, BVerfGE, Bd. 93, S. 266. 10 Vgl. J. Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S. 141. 11 Art. 24 der UN-Konvention für die Rechte von Personen mit Behinderungen. 12 BVerfGE, Bd. 7, S. 198 (Hervorhebung im Original). 13 Zum Gesamtkomplex vgl. C. Walter, Menschenwürde im nationalen Recht, Europarecht und Völkerrecht, in: P. Bahr/ H. M. Heinig (Hg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, Tübingen 2006, S. 127–148. 2

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Vgl. H. Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 754–770. 15 Artikel 1 der AEMR lautet: »Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.« 16 Vgl. H. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998. 17 Vgl. M. Krennerich, Soziale Rechte sind Freiheitsrechte! Plädoyer für ein freiheitliches Verständnis wirtschaft licher, sozialer und kultureller Rechte, in: Jahrbuch Menschenrechte 2006, Frankfurt a.M. 2006, S. 57–66. 18 Informationen dazu unter: http:/alldifferent-allequal.info. 19 Vgl. Artikel 21 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta: »Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft , der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.« 20 K. Marx, Zur Judenfrage. Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1970, S. 347– 377, hier S. 354. 21 Vgl. S. Graumann, Assistierte Autonomie. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte. Publications of the Department of Philosophy Utrecht University. Vol LVIII, Utrecht 2009. 22 Der Begriff der Unteilbarkeit der Menschenrechte hat sich auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 durchgesetzt, die in ihrem Abschlussdokument festhält: »All human rights are universal, indivisible, interdependent and interrelated.« World Conference on Human Rights (1993). Vienna Declaration and Programme of Action, Nr. 5, erster Satz. 23 Vgl. D. Willoweit, Die Veräußerung der Freiheit. Über den Unterschied von Rechtsdenken und Menschenrechtsdenken, in: Würde und Recht des Menschen. Festschrift für Johannes Schwartländer, Würzburg 1992, S. 255–268. 24 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Akademie Ausgabe, Bd. VIII, S. 304. 25 Zur Schrankenproblematik vgl. W. Kälin/ J. Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel/ Baden-Baden 2005, S. 104 ff. 26 Urteil des BVerfG: 1 BvR 2378/98–1 BvR 1084/99, Rdnr. 120. 27 Im Einzelnen sind diese Sicherungen unterschiedlich ausgestaltet; dies macht das Thema kompliziert. Die Garantie der Religionsfreiheit im Grundgesetz unterscheidet sich diesbezüglich von der Meinungsfreiheit; und für die Versammlungsfreiheit gelten etwas andere Regeln als für die gewerkschaft liche Koalitionsfreiheit. Hinzu kommt, dass auch die nationalen, regionalen und internationalen Normierungsebenen – Grundgesetz, Europäische Menschenrechtskonvention, globale Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen – diesbezüglich relevante Unterschiede aufweisen. 14

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Vgl. U. Neumann, Die Tyrannei der Würde. Argumentationstheoretische Erwägungen zum Menschenwürdeprinzip, in: Archiv f. Rechts- u. Sozialphilosophie Jg. 1998, S. 153–166. 29 So O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, Paderborn 2007, S. 104. 30 Vgl. ebd., S. 75ff. 31 Vgl. H. Schmidt (Hg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten. Ein Vorschlag, München/ Zürich 1997. 28

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– Georg Lohmann –

Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte 1. Einleitung Die Menschenrechte werden häufig von Moralphilosophen als etwas schlicht Moralisches verstanden. Meistens geht es dann um prinzipielle Begründungsfragen der Menschenrechte, um ihren universellen und egalitären Anspruch oder um ihre kategorische Zuschreibung. So wichtig, richtig und auch notwendig moralphilosophische Überlegungen zur Rechtfertigung dieser Ansprüche der Menschenrechte sind, die Menschenrechte ›gibt‹ es nicht, weil ein Moralphilosoph sie begründet hat, sondern weil sie von einem politischen Gremium in einem Rechtskontext deklariert worden sind. Und umgekehrt sprechen Juristen häufig so von den Menschenrechten, als ob sie einfach durch die juristischen Rechtsdokumente in Geltung gesetzt und in ihrer Bedeutung durch die juristische Auslegung und Rechtsanwendung vollständig erfasst werden können. Moralische Argumente oder moralphilosophische Überlegungen erscheinen da überflüssig und eher störend, weil sie die Routine der Rechtsdogmatik verunklaren oder verdoppeln. Und schließlich sieht die Politik in den Menschenrechten oft nur ein probates Mittel, um bestimmte Interessen durchzusetzen oder ihrer Realsierung zu verhindern. Sie pocht darauf, dass die Menschenrechte Resultat politischer Entscheidungen sind, und dementsprechend von den rationalen oder realistischen Kalkülen und Motiven politischer Entscheidungsfindung abhängig sind und durch sie bestimmbar sind. Alle drei Sichtweisen der Menschenrechte sind einseitig und, jeweils als eine umfassende Betrachtung und Bestimmung der Menschenrechte genommen, falsch. Die Menschenrechte sind ganz offenbar etwas Komplexes, was ich so ausgedrückt habe, dass sie eine moralische, juridische und politische Dimension haben.1 Keine dieser Dimensionen kann auf eine andere reduziert werden, alle | 135

drei sind begrifflich notwendige Dimensionen der Menschenrechte und keine von ihnen kann beanspruchen, den anderen beiden gewissermaßen vorschreiben zu können, wie sie intern funktionieren, d. h. jede dieser Dimensionen hat eine Eigenart, die sie von den anderen unterscheidet und auch gegen die anderen zur Geltung bringt (oder bringen kann). Eine grundsätzliche Theorie über die Verschiedenheit (und auch Angewiesenheit) von Moral, Recht und Politik kann hier nicht versucht werden. Ich werde im Folgenden diese hier postulierte Unterschiedlichkeit als Mehrdimensionalität der Menschenrechte behandeln, und zwar vornehmlich aus der Perspektive der Moralphilosophie. Man könnte Parallelaktionen aus dem Bereich der Rechtswissenschaft oder aus der Domäne der Politikwissenschaft heraus vornehmen; es wäre spannend, sich dann die unterschiedlichen Ergebnisse im weiten Feld der Interdisziplinarität anzuschauen. Zunächst einmal: wie sollte das Verhältnis zwischen Moral, Recht und Politik in Bezug auf die Menschenrechte nicht gedacht oder konzipiert werden? Es gibt eine zu einfache Strategie, in der die Moralphilosophie (oder ihre Vertreterin) nur so tut, als ob sie sich auf die Sphären des Rechts und der Politik einlässt. Nach dieser ›fundamentalistischen‹ Position sind Recht und Politik letztlich ›nichts anders als‹ Moral, d. h. die Menschenrechte sind in Begründung, Bedeutung und Anwendung als moralische Ansprüche ( = ›moralische Rechte‹?) zu bestimmen, die mit Hilfe politischer Entscheidungsprozesse und Gremien in gesatztes Recht innerhalb eines Rechtssystem überführt werden, im wesentlichen aber den moralischen Ansprüchen genügen und entsprechen. Politik ist nur ein Mittel, Recht nur eine Form, mit der und in der die moralischen Menschenrechte, der ›wesentliche Inhalt‹, zur Geltung kommen. Diese Art des Moralfundamentalismus macht es sich freilich zu einfach. Und sie scheitert m.E. schon daran, begrifflich befriedigend zu bestimmen, was sie mit dem Ausdruck ›Recht‹ meint. Ich werde daher zunächst den Begriff des Rechts erläutern und zu erklären versuchen, wie der Übergang von moralischen Verpflichtungen zu den Beziehungen zwischen Rechten und Verpflichtungen zu verstehen ist (2). Dabei ist noch einmal zwischen moralischen und juridischen Rechten zu unterscheiden (3). Ich will dann die Bedeutung von Menschenrechten als schwache moralische Rechte und 136 | georg lohmann

als juridische Rechte in politischen Kontexten unterscheiden und würdigen (4).

2. Wechselseitige Pflichten und der Übergang zu ›Rechte und Pflichten‹ In der gegenwärtigen Ethikdiskussion vertreten einige die These, dass der Rechtsbegriff der grundlegende Moralbegriff sei und der Pflichtbegriff erst an zweiter Stelle rangiere.2 Andere behaupten dagegen im Anschluss an Kant den Vorrang des Pflichtbegriffs.3 J.L. Mackie hat in einem bekannten Aufsatz4 die Frage gestellt, ob die Basis der Moral in Rechten, in Zielen oder in Pflichten zu sehen ist. Er argumentiert hauptsächlich gegen utilitaristische Konzeptionen der Moral, die er als teleologische, auf das Ziel des Gesamtnutzen bezogene Moralkonzeptionen versteht, und zeigt, dass demgegenüber eine auf Rechte basierte Moralkonzeption mit unseren Intuitionen besser übereinstimmt und daher vorzuziehen ist. Nun kann man dem Letzteren zustimmen, ohne die These einer Rechte-basierten, d. h. unmittelbar von Rechten ausgehenden Moralauffassung zu teilen. Mackies Argumentation gegen eine Pflicht-basierte Moralkonzeption erscheint darüber hinaus auch wenig überzeugend, da er Pflichten nur als durch göttliche Befehle5 auferlegte Pflichten versteht, und auf der anderen Seite nicht erklären kann, wie denn das fundamentale Recht, von dem er spricht, zustande kommt oder begründet werden kann. Überhaupt scheint eine strikte Gegenüberstellung und Aufteilung der Moral gemäß diesen drei Leitbegriffen zu simpel; überzeugende Moralkonzeptionen werden von allen drei Gebrauch machen müssen und die Frage wird nur sein, wie verstehen sie den Zusammenhang von Pflichten, Zielen und Rechten und freilich, von welchem dieser Leitbegriffe ist bei der Bestimmung der Moral auszugehen. Ich gehe davon aus, dass wir die moderne Moral zunächst als eine von moralischen Verpflichtungen verstehen können, und dass der Übergang von einer Konzeption moralischer Verpflichtungen zu einer Konzeption von moralischen Rechten und korrespondierenden Pflichten eine Erweiterung und Vertiefung unseres Moralverständnisses beinhaltet. Ein solcher Vorschlag ist keine NeuerfinDimensionen der Menschenrechte | 137

dung der Moral. Was wir in der Moralphilosophie allein leisten können, ist eine Aufklärung unserer moralischen Praxis, die zugleich eine Selbstaufklärung beinhaltet, wie wir uns als Menschen verstehen. Dass den Objekten moralischer Rücksichtnahmen, zu denen wir verpflichtet sind, auch Rechte zugeschrieben werden können, ist nicht einfach nur eine andere Beschreibung des gleichen Sachverhalts, sondern mit einer Reihe von Momenten verbunden, die eine Weiterentwicklung der Moral ausdrücken. Das will ich an einer Reihe von Punkten verdeutlichen. Die Moral, um die es hier gehen kann, muss die universellen, egalitären und kategorischen Ansprüche der Menschenrechte begründen können. Dazu ist eine Moral der universellen Achtung aller in der Lage, andere Moralkonzeptionen scheitern an dieser Aufgabe.6 Ich setze daher diese Auffassung im Folgenden voraus, beginne aber zunächst mit etwas allgemeineren Überlegungen. Nicht alle moralischen Verpflichtungen sind wechselseitig. Nur diejenigen aber können überhaupt wechselseitig sein, bei denen nicht nur das Subjekt, sondern auch das Objekt der moralischen Rücksichtnahme durch die Fähigkeit zur überlegten Selbstbestimmung bestimmt ist. Ist diese Wechselseitigkeit gegeben, so können wir, ohne das damit ein anderer Inhalt der Rücksichtnahmen und Fürsorgen (respect and concern) impliziert ist, den Ausdruck ›Recht‹ einführen. Gemeint ist hier ein subjektives Recht (right), das es freilich nur im Rahmen einer Gemeinschaft von unterschiedlichen Rechtsträgern geben kann, die zusammen so etwas wie ein Rechtsregime oder Rechtssystem (law) bilden. Dass eine Person A ein ›Recht‹ hat, heißt dann zunächst nur soviel wie: A hat einen moralisch begründeten Anspruch, dass eine andere Person B eine korrespondierende Verpflichtung erfüllt. Die Inhalte der wechselseitigen Verpflichtungen von A und B, und dann der Verpflichtung einer Person, weil die andere ein Recht hat, bleiben dabei unverändert. Man könnte aber sagen, die Interpretationsrichtung ändert sich und eine neue Ebene wird angenommen. Ohne den Bezug auf Rechte glaubt B gegenüber A zu x verpflichtet zu sein, weil es eine bestimmte moralische, unparteilich begründete Norm gibt, die beide wechselseitig verpflichtet, x zu tun.7 A und B sind daher Objekte moralischer Verpflichtungen und Subjekte nur insofern, als sie Pflichten befolgen können. Glaubt B aber, dass A ein Recht auf 138 | georg lohmann

x ihr gegenüber hat, so weiß sie sich verpflichtet, a) zunächst weil A ein Recht hat, die entsprechende Pflicht zu fordern, und dann b), weil dieses Recht mit Bezug auf eine bestimmte (gut begründete) Norm innerhalb einer Rechtsgemeinschaft gerechtfertigt ist. Wegen der Wechselseitigkeit ist A daher nicht nur Objekt von moralischen Verpflichtungen, sondern spielt als Träger von Rechten nun eine erweiterte moralische Subjekt-Rolle. Z. B. könnte A sagen, dass sie in einem besonderen Fall auf ihr Recht verzichtet und damit wäre B in diesem Fall von ihrer Verpflichtung entbunden. Gleichwohl folgt aus der puren Wechselseitigkeit von moralischen Verpflichtungen noch nicht automatisch, dass die beteiligten Personen sich als Träger von Rechten ansehen. Dazu bedarf es offenbar einer willentlichen Entscheidung, in dieser wechselseitigen Beziehung das jeweilige Objekt moralischer Verpflichtungen auch als Träger von Rechten anzuerkennen. Rechte wachsen Personen ja nicht zu wie natürliche Eigenschaften und sie werden auch nicht reflexartig geschaffen, weil A und B wechselseitig verpflichtet sind. Sie werden vielmehr von einer bestimmten Autorität gestiftet und verleihen selbst einen bestimmten Machtanspruch, die korrespondierende Pflicht einzufordern. Die Rechte-stiftende Autorität ist in traditionellen Moralkonzeptionen eine ›höhere Gewalt‹ wie z. B. Gott oder eine bestimmte politische Instanz, in der Tradition des neuzeitlichen Naturrechts ›Natur‹ oder eine absolut gesetzte ›Vernunft‹. Wenn diese, letztlich autoritären Entwürfe nicht mehr überzeugen, dann muss die Rechte-stiftende Autorität auf die Menschen, genauer auf ihre moralisch zwar begründbare, aber nicht moralisch geforderte Rechtsgemeinschaft übergehen. Sie erkennen sich selbst wechselseitig als die Autorität an, die den einzelnen als Träger von Rechten setzt und anerkennen dann den jeweils anderen als mit der Macht befugt, als Träger von Rechten sein Recht geltend zu machen, d. h. die korrespondierende Pflicht einzufordern. Freilich, sie müssen das nicht im Sinne eines moralischen ›Müssens‹, sie sind nicht moralisch dazu verpflichtet, sich wechselseitig als Träger von Rechten anzuerkennen, sie könnten auch bei einer rein durch Pflichten bestimmten Moralkonzeption (wie es z. B. Kant macht) bleiben. Der Inhalt ihrer moralischen Rücksichten und Fürsorgen würde sich ja nicht verändern, aber es ändert sich die institutionelle Form, in der nun moralische Rücksichten praktiziert werden. Und dieser ÜberDimensionen der Menschenrechte | 139

gang ist ein volitiver: Sie wollen sich so wechselseitig verstehen und anerkennen, weil sie aus sich selbst heraus diesen Machtanspruch, der mit dem Haben von Rechten einhergeht, beanspruchen wollen können. Eine solche Einführung von Rechten liegt im rationalen Selbstinteresse von A und B, wenn die entsprechenden moralischen Verpflichtungen wechselseitig sind, d. h. wenn sie nicht gegen moralische Gebote verstoßen. In die Stiftung von Rechten geht daher ein volitives Moment ein, das einmal als eine willentliche Entscheidung von A und B zu verstehen ist, sich wechselseitig als Träger von Rechten anzuerkennen und zweitens als willentliche Zustimmung (Anerkennung) gegenüber der Macht, die A und B durch ihre Rechte erhalten. Deshalb meine ich, dass der Übergang von wechselseitigen moralischen Verpflichtungen zu wechselseitig gestifteten und eingeräumten Rechten nur in der modernen universellen Moral ohne Rückgriff auf eine dritte, übergeordnete Autorität plausibel ist. Das wird auch in der Bezeichnung dieser Moral als die der universellen und gleichen Achtung aller deutlich. »Jemanden zu achten heißt (dann, G.L.), ihn als Subjekt moralischer Rechte anerkennen.«8 Die Transformierung wechselseitiger moralischer Verpflichtungen in wechselseitig anerkannte moralische Rechte ist ferner zugleich eine Quelle von Selbstachtung und Selbstwertgefühlen, die der ›rechtlich‹ eingeräumten individuellen Selbstbestimmung jeweils einen besonderen Wert verleihen. Damit wird betont, dass alle Menschen ein gleiches moralisches Recht auf die Ausbildung von Selbstachtung haben, und dass damit der Wert dieser Freiheit für den einzelnen respektiert und geschätzt wird. Freiheitsbewusstsein und das Bewusstsein, Rechte zu haben, entstehen wechselseitig auseinander und verstärken einander. Dass es jede einzelne Person ist, die unter den Bedingungen wechselseitiger moralischer Verpflichtungen und wechselseitiger Anerkennung sich diese Macht, Träger von Rechten zu sein, willentlich zuschreibt, wird seit 1945 im Begriff der Menschenwürde als Antwort auf die barbarischen Gräueltaten der Nazizeit und des massenhaften Elends im Gefolge des 2. Weltkrieges gefasst. Bis dahin war mit dem Begriff der Menschenwürde oder der Würde des Menschen nicht die unmittelbare Trägerschaft von Rechten verbunden. Die Würde achten hieß immer, Pflichten gegen sich oder ge140 | georg lohmann

gen andere zu erfüllen, aber nicht, den anderen in seinen Rechten zu achten.9 Nun werden zur völkerrechtlichen Neukonstituierung staatlicher Herrschaft durch die Vereinten Nationen (1945) und insbesondere seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) die Menschenrechte begrifflich auf eine neue Basis gestellt. Im nun neu gefassten Begriff der Menschenwürde wird eine, wie ich es genannt habe, »rechtsverbürgende Kraft«10 angenommen, die dieses volitive Moment der Anerkennung der Rechtsträgerschaft jedes Menschen zum Ausdruck bringt. Sie bezieht sich einmal auf die moralischen Begründungen, nach denen, aus einer unparteilichen Perspektive geurteilt, keinem Menschen die Menschenrechte abgesprochen werden können, zum anderen auf die (historisch bestimmten) Motive, die die Völkergemeinschaft dazu bewegt haben, dieses neue Bild vom Menschen: qua seiner Menschenwürde Träger von Menschenrechten zu sein, allen legitimen Rechts- und politischen Herrschaftsordnungen zugrunde zu legen. Aus dieser Begründungs- und Motivlage heraus erklärt sich auch, dass die Menschenrechte nun nicht einfach nur postulierte ›moralische Rechte‹ bleiben, sondern in ›juridische Rechte‹ transformiert werden, d. h. Grundrechte in positivierten Staatsverfassungen und geltendes Recht in völkerrechtlichen Pakten werden. Um diesen Unterschied zwischen moralischen und juridischen Rechten soll es im Folgenden gehen.

3. Moralische und juridische Menschenrechte Zunächst einmal unterscheiden sich moralische Rechte von juridischen Rechten durch den Grad und die Art und Weise, mit der die korrespondierenden Pflichten eingefordert werden können. Ein Träger von rein moralischen Rechten kann, wie auch sonst in einer Pflichtenmoral, die Einhaltung von korrespondierenden oder gebotenen Pflichten appellativ einfordern, und im Falle einer Nichtbeachtung oder Nichtbefolgung mit affektiven Sanktionen wie Schuldvorwürfen, Empörung oder moralischer Beschämung reagieren. Zwar begründet er die Einforderung der entsprechenden Pflicht mit dem Geltendmachen seines Rechtes, aber ihm stehen, um seine Rechtsträgermacht auszuspielen, nur die auch sonst moralisch möglichen Dimensionen der Menschenrechte | 141

»internen Sanktionen«11 zur Verfügung. Hinsichtlich ihrer Durchsetzungsmacht sind rein moralische Rechte daher schwache Rechte, die sich bei Nichtbeachtung mit Empörung und Skandalisierung an die Öffentlichkeit einer moralischen Rechtsgemeinschaft wenden können, aber weder ihr Recht bei einer dritten Instanz einklagen können, noch Zwangs- oder Gewaltmittel haben, ihre Beachtung zu erzwingen.12 Juridische Rechte hingegen sind mit der ›Befugnis zu zwingen‹ verbunden, der Rechtträger kann sein Recht bei einem dafür institutionalisierten Richter einklagen, der legitime Zwangsmittel benutzen kann, um den Rechtsanspruch durchzusetzen oder seine Verletzung zu verhindern oder zu bestrafen. Juridische Rechte sind daher in dieser Hinsicht starke Rechte, da sie eingeklagt und mit legitimen Zwangsmitteln innerhalb einer Rechtsgemeinschaft durchgesetzt werden können. Die Menschenrechte sind nun in dem obigen Sinne nicht einfach moralische Rechte, sondern sie sind nur eine Teilklasse von moralischen Rechten. Nicht alle im hier explizierten Sinne moralischen Rechte sind auch Menschenrechte, sondern nur diejenigen, die in einen Katalog von Menschenrechten ausgewählt und aufgenommen sind und die als Menschenrechte öffentlich erklärt worden sind. Menschenrechte, so hatten wir eingangs gesagt, sind immer erklärte Rechte, und nun haben wir eine Bedeutung von ›Erklärung der Menschenrechte‹. Schon auf der Ebene schwacher, rein moralischer Rechte benötigt ein Menschenrecht eine öffentliche Erklärung, um als Menschenrecht bestimmt und anerkannt werden zu können. Dazu bedarf es einer Verständigung und Einigung der moralischen Rechtegemeinschaft, die zusätzlich zu der moralischen Begründetheit nach Kriterien des Gewichts, der Tauglichkeit und der Relevanz entscheidet, welches moralische Recht als Menschenrecht erklärt werden soll. Faktisch und historisch geschieht diese Einigung aber nicht auf der Ebene der rein moralischen Rechte, sondern in den schwachen und starken Öffentlichkeiten13 von politischen Rechtsgemeinschaften. Gleichwohl ist dieser Umstand, der ja ein Entscheidungsmoment schon für das Verständnis der Menschenrechte als rein moralische Rechte zum Ausdruck bringt, wichtig, um die Mehrdimensionalität der Menschenrechte zu verdeutlichen. Keineswegs ist es nämlich so, dass die Moralphilosophie allein, indem sie z. B. einen moralischen Grundbegriff wie Freiheit 142 | georg lohmann

oder Gerechtigkeit expliziert, oder in Zusammenarbeit mit der Anthropologie eine Liste von anthropologischen Grundbedürfnissen oder Fähigkeiten aufzählt, in der Lage wäre, hier eine gültige Wahl vorzunehmen. Was immer in diese Auswahl und Bestimmung des Katalogs der einzelnen Menschenrechte aufgenommen wird, es bedarf der gemeinsamen Erklärung, dass nun das moralische Recht X ein Menschenrecht ist. Dieser Umstand schließt nicht aus, sondern setzt geradezu voraus, dass es auch mögliche moralische Rechte gibt, die noch nicht in den Katalog der Menschenrechte aufgenommen worden sind, die aber aufgenommen werden sollten. Eine notwendige Bedingung für ein Menschenrecht ist, dass es ein moralisches Recht ist. Der Begriff der Menschenrechte orientiert sich aber am positiven, juridischen Rechtsbegriff, und damit werden eine neue Ebene der Begrifflichkeit und ein Perspektivenwechsel erforderlich, die erläuterungsbedürftig sind. Dass die moralischen Personen sich entschließen, ihre schwachen und labilen moralischen Rechte in das Medium des positiven Rechts zu transformieren, erklärt sich aus dem zu erwartenden, verbesserten Schutz ihrer Rechte und aus bestimmten Organisationsleistungen und Vorteilen, die das positive Recht als eine staatliche Institution erbringen kann. Robert Alexy14 hat drei Argumente unterschieden, die die Notwendigkeit der Transformation begründen sollen: einmal die durch positives Recht verbesserten Durchsetzungschancen, wobei die staatliche Instanz zugleich dafür sorgen kann, dass unfaire Vorteile unmoralischen Verhaltens risikoreicher werden und die staatliche Regelung sich damit insgesamt als vorteilhafter erweist als keine staatliche Regelung. Zweitens ergibt sich aus der Abstraktheit der moralisch verstandenen Menschenrechte die Notwendigkeit, die entstehenden Interpretations- und Konkretisierungsprobleme durch rechtliche Verfahren einer geregelten und kontrollierbaren Entscheidungsfindung zu organisieren. Schließlich, drittens, erfordern die positiven Pflichten, die mit den Menschenrechten einhergehen, dass staatliche Organisationen zu ihrer Erfüllung gebildet werden, da die einzelnen schnell durch diese Pflichten überlastet wären. Wenn man von positiven Rechten ausgeht, verändert sich die Bestimmungen des Gegenstandsbereichs. Was nun mit den MenDimensionen der Menschenrechte | 143

schenrechten geschützt wird, d. h. der Gegenstand oder Inhalt der Rechte, wird nicht aus einer moralischen Perspektive bestimmt, sondern wird aus der Perspektive des positiven, gesatzten Rechts bestimmt. Im Anschluss an Kant kann man auf die Abstraktionsund Entlastungsleistungen des positiven Rechts gegenüber der Moral hinweisen, die den Einzelnen in den Weisen rechtlich geregelter sozialer Beziehungen vom Sittlich-sein-müssen freisetzen, und ihm so Spielräume für eine eigenverantwortliche Lebensführung ermöglichen. Das juridische Recht erlaubt nicht nur im äußeren Verkehr rein willkürliche Interessenverfolgungen, sofern sie nur dem Recht gemäß sind, es schützt auch einen privaten Bereich subjektiver Selbstbestimmung, der in seinem Umfang und in seiner Ausgestaltung unbestimmt bleibt und als solcher kulturellen, historischen und sozialen Wandlungsprozessen ausgesetzt ist. Im Kern ist dieser Schutzbereich auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde bezogen und die einzelnen Menschenrechte explizieren diesen Menschenwürdeschutz. Geändert haben sich aber auch der Charakter und die Adressaten der nun als legale Rechte institutionalisierten Menschenrechte. Waren bei einem rein moralischen Verständnis der Menschenrechte die Adressaten der korrespondierenden Pflichten noch alle Menschen als einzelne Personen, so sind nun bei den innerhalb eines staatlichen oder völkerrechtlichen Rechtssystem institutionalisierten Menschenrechten der jeweilige Staat oder, wenn dieser seinen Pflichten nicht nachkommt, alle Staaten verpflichtet.15 Die Menschenrechte sind, ihrer historischen wie begrifflichen Idee nach, in der Tradition der ›subjektiven Rechte‹ zu verstehen, die Rechte auch gegen die staatliche Rechtsgemeinschaft darstellen, die diese Rechte verleiht. Zwischenmenschliche Beziehungen werden durch diese juridische Ausstrahlung der Menschenrechte nur insoweit betroffen, als der Staat im Sinne einer ›mittelbaren Drittwirkung‹ verpflichtet ist, dass die Bürger auch untereinander ihren Verkehr menschenrechtskonform gestalten. Deshalb ist ein Mord zwischen Privatpersonen zwar eine Verletzung eines ›moralischen Rechts‹, und juristisch eine Verletzung des Strafrechts, aber nicht schon eine Menschenrechtsverletzung. Um eine solche handelt es sich z. B. erst, wenn der Staat einen Mord aus rassistischen Gründen nicht verfolgt oder wenn in staatlichem Auftrag gemordet wird. 144 | georg lohmann

Schließlich bedeutet die Positivierung der Menschenrechte in staatlich gesetztes Recht, die sie dadurch zu Grundrechten innerhalb einer Verfassung machen, dass damit zunächst eine Partikularisierung einhergeht, da positives Recht zunächst nur für die Bürger der jeweiligen Rechtsgenossenschaft/Verfassung gilt. Und auch wenn der Rechtsträger allgemein als Mensch bestimmt ist, entsteht eine Spannung zwischen dem universalen Gehalt der Menschenrechte als moralische Rechte und dem partikularen Geltungsbereich staatlicher Grundrechte. Die Positivierung moralisch begründeter Menschenrechte hat daher zunächst eine Partikularisierung ihres Geltungsbereichs zur Folge, und es ergibt sich von daher in der Tat eine moralisch begründete Verpflichtung, diese Partikularisierung durch geeignete, d. h. überstaatliche, zwischenstaatliche oder globale Institutionalisierungen zu kompensieren. Insofern kann man sagen, dass der moralische Gehalt der Menschenrechte, ihr universeller, egalitärer, individueller und kategorischer Charakter, uns moralisch verpflichtet, eine entsprechende Institutionalisierung vorzunehmen. Diese Bedeutung eignet ebenfalls dem Terminus ›Deklaration‹, der die historischen Menschenrechtserklärungen kennzeichnet.16 Es ist die Ankündigung, politisch dafür zu sorgen, dass alle Menschen in staatlichen Rechtssystemen leben können, in denen ihre Menschenrechte als Grundrechte institutionalisiert sind und das Völkerrecht diese normative Bedingung respektiert, schützt und gewährleistet.

4. Zur politische Bedeutung der moralischen und juridischen Auffassung der Menschenrechte Um zu erklären, dass sich im Laufe der Geschichte ein beschränkter und zudem höchst umstrittener Kanon der Menschenrechte herausgebildet hat, reicht eine rein moralische Betrachtung der Bestimmung der Menschenrechte nicht aus. Sie ist nur in der Lage, den Umfang und die Art möglicher Menschenrechte zu bestimmen. Das bezieht sich auch auf diejenigen Menschenrechte, die für die Legitimitätsunterstellung einer staatlichen Rechtsordnung notwendig, aber freilich nicht hinreichend sind. Erst die öffentliche Reflexion historischer Erfahrungen der Bedrohungen der Menschenwürde und der ihr eingeschriebenen Selbstbestimmung und Selbstachtung Dimensionen der Menschenrechte | 145

haben zu der Einsicht führt, diese durch juridische Rechte schützen zu wollen. Diese Einsicht muss zu politisch gemeinsamem Handeln führen, wenn sie verwirklicht werden will. Die Positivierung der Menschenrechte, also ihre Transformierung von als moralische Rechte deklarierten Menschenrechten zu legalen Rechten innerhalb einer Rechtsordnung, ist deshalb nicht einfach nur eine Frage der moralischen Begründung (auch wenn einige Moralphilosophen diesen Eindruck vermitteln). Es ist eine genuin politische Aufgabe, die ein dafür legitimierter politischer Gesetzgeber übernimmt und in Eigenregie gestaltet. Freilich ist der politische Souverän den Anforderungen des Rechts und der Moral ausgesetzt, aber seine Bändigung durch die Menschenrechte ist einerseits rechtlich gesehen nur eine interne Selbstbindung (Verfassung), während anderseits der moralische Gehalt der Menschenrechte intern und extern wirken kann. Hier zeigt sich, dass die Menschenrechte als ›schwache‹ moralische Rechte gleichwohl eine politisch wirkende Stärke entfalten können, weil ihre moralische Begründungskraft nicht von Entscheidungen abhängt, sondern von der Überzeugungskraft guter Argumente. Das will ich im Folgenden etwas konkreter an der Funktion und Rolle der moralischen und rechtlichen Dimension der Menschenrechte, insbesondere an den politischen Teilnahmerechten, verdeutlichen. Alle Deklarationen der Menschenrechte enthalten Bestimmungen, wie die politische Gewalt in den neu geschaffenen Gemeinwesen ausgeübt werden soll. Sie binden die Bildung politischer Entscheidungen an die Beachtung subjektiver, politischer Rechte, die zugleich festlegen, wie der Einzelne an der politischen Meinungsund Willensbildung teilnehmen soll. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen17 (VN) von 1948 sind dies insbesondere: die Rechte auf Staatsbürgerschaft (Art. 15), auf Meinungsfreiheit (Art. 19), auf Vereinigungsfreiheit (Art. 20), das Mitbestimmungsrecht und das gleiche Wahlrecht (Art. 21). Nach T.H. Marshall haben diese Rechte »auf die Teilnahme am Gebrauch politischer Macht«18 sich historisch erst durchsetzen können, nachdem die individuellen Freiheitsrechte »genügend Substanz gewonnen hatten«19 und sie haben sich erst zu Anfang des letzten Jahrhunderts in einigen europäischen Staaten als allgemeine und (für Besitzende und Arme, für Männer und Frauen) 146 | georg lohmann

gleiche Bürgerrechte durchsetzen können, nachdem die Privilegien und Ungleichbehandlungen als öffentlich nicht mehr begründbar erscheinen mussten. In diesen öffentlichen Diskursen machten die entsprechenden Gruppen ihre ›schwachen‹, moralisch verstandenen, aber universell Gültigkeit beanspruchenden Menschenrechte gelten. Auch heute noch werden die politischen Teilnahmerechte keineswegs allen Menschen in der gleichen Weise faktisch gewährt. Aber, und das macht den Unterschied zur Situation zu Beginn des letzten Jahrhunderts, es erscheint nicht mehr möglich, Ungleichbehandlung und Exklusion von politischen Rechten gegenüber den Bürgern und gegenüber einer Weltöffentlichkeit überzeugend zu begründen. Insofern geraten alle Staaten, in denen die politischen Menschenrechte der Bürger nicht beachtet werden, extern und zunehmend auch intern unter Legitimationsdruck der hier rein moralisch verstandenen Menschenrechte. Die Klasse der politischen Menschenrechte ist von vornherein sowohl auf negative wie auf positive Pflichten seitens des Staates bezogen. Sie regeln die politischen Rollen, in denen die Bürger sich bei der Schaffung eines durch Recht kontrollierten Staates anerkennen müssen. In dem Augenblick, wo die Rechtsetzung selbst und die Schaffung der politischen Gewalten nicht mehr von einer von den Bürgern unabhängigen Autorität gestiftet werden, sind es die Bürger selbst und in ihrer Gesamtheit das jeweilige Volk, von denen oder von dem die Regierungsgewalt ausgeht. Wenn also keine externen Autoritäten mehr Anerkennung finden (weil Begründungen mit Bezug auf Tradition, gottgegebene Staatsmacht, wirtschaftliche Opportunität oder kommunistische Ideologie etc. zunehmend erschüttert sind), dann ist es naheliegend, die politische Selbstgesetzgebung so zu regeln, dass alle in gleicher Weise dabei tätig sind. Die AEMR der VN fordert aber nicht unmittelbar und explizit, dass die politische Gewalt demokratisch ausgeübt werden soll, sondern sie fordert nur, dass die einzelnen als gleichgestellte Bürger dabei mitwirken können. Könnte man sich daher eine Beachtung der politischen Menschenrechte denken, ohne dass schon eine demokratische Staatsform etabliert wird oder diese gefordert ist? Die Spannung, die hier entsteht, ist eine zwischen einer rein moralischen Betrachtung und der rechtlich-politischen Umsetzung des moralisch Begründeten. Dimensionen der Menschenrechte | 147

Rein moralisch gesehen scheinen die politischen Menschenrechte auf eine demokratische Willensbildung hinauszulaufen. Aus einer moralischen Perspektive können es nur gleiche Rechte sein, die alle sich wechselseitig bei der Schaffung von Recht und politisch bindende Entscheidungen einräumen. Die moralische Wertschätzung der Selbstbestimmung bezieht sich so auf die Regelung gemeinsamer Selbstbestimmung, man kann auch, mit Habermas hier von politischer oder öffentlicher Autonomie20 sprechen. Dabei kommt dem Recht auf Gewissensfreiheit eine entscheidende Bedeutung zu. Versteht man es nämlich als das gleiche Recht einer jeden Person, zu den öffentlichen Fragen Stellung zu nehmen, so ist es als Recht auf Meinungsfreiheit zugleich die konstitutive Bedingung dafür, dass die öffentliche Selbstgesetzgebung demokratisch gestaltet werden kann. Demokratie wird hier ganz klassisch verstanden als Herrschaft des Volkes durch das Volk für das Volk (Lincoln), wobei die Selbstgesetzgebung als durch gleiche und geheime Wahlen und als durch das Mehrheitsprinzip geregelt verstanden wird. Bei uneingeschränkter Geltung des Rechtes auf Meinungsfreiheit müssen die Meinungen aller gleichberechtigt und unparteilich zur Geltung kommen können. Auf diese Weise ist das für moderne Demokratien konstitutive Mehrheitsprinzip legitimierbar. Denn eine unterlegene Minderheit kann nur annehmen, dass sie eine faire Chance zur Mehrheit behält, wenn sie unterstellen kann, dass sie ihre Meinung auch weiterhin öffentlich zu Gehör bringen kann.21 Klaus Günther22 hat gezeigt, dass sich dieses Recht auf Stellungnahme zunächst in einem umfassenden und fundamentalen Sinne moralisch begründen lässt, nämlich als ein Recht eines jeden auf Teilnahme an kommunikativen Verständigungsprozessen. Als ein solches moralisch begründetes Recht transzendiert es alle sozialen und politischen Institutionen. Es ist gewissermaßen ein Recht aller, bei allem mitzureden und mitzumischen, aber es ist als ein nur moralisch aufgefasstes Recht eben ohne gesicherte Durchsetzungsmacht. Will man dieses moralisch begründete Recht daher faktisch absichern, so muss eine positive Rechtsordnung geschaffen werden. Daraus folgt, dass das Recht auf unbeschränkte Stellungnahme in ein Recht auf politische Teilnahme an einer konkreten Gemeinschaft transformiert werden muss, d. h. aber auch, dass es nur noch partikular oder regional begrenzt gelten kann. Der Preis der 148 | georg lohmann

positiv-rechtlichen Absicherung des unbeschränkten moralischen Rechts ist die Beschränkung auf eine regionale Herrschaftssphäre. So ergeben sich aus den moralisch begründeten, universalen und egalitären Ansprüchen der politischen Teilnahmerechte entweder die Forderung, alle Staaten zu demokratisieren oder aber die Forderung, einen politischen Weltbürgerstatus einzurichten, der allen Menschen in allen Staaten der Welt gleiche politische Mitwirkungsrechte verleiht.23 Es ergibt sich von daher, dass die Stiftung und rechtliche Institutionalisierung von Menschenrechten keineswegs nur ein moralischer Akt, und dass sie auch nicht nur eine notwendige Bedingung eines demokratischen Rechtsstaates ist, sondern ebenso ein politisch-historischer Vorgang ist, der insbesondere eine spezifische Geschichte seit den ersten Deklarationen der Menschenrechte hat und der auch wohl in Zukunft für weitere Bestimmungen und Neuinterpretationen offen ist.

Anmerkungen

Siehe Georg Lohmann, Menschenrechte zwischen Moral und Recht. In: St. Gosepath/ G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1998, 3. Aufl. 2002, S. 62–95. Ich übernehme im Folgenden Teile aus diesem Aufsatz und führe die Überlegungen weiter fort. 2 J.L. Mackie, Can there be a right-based moral Theory? In: ders., Persons and Values, Selected Papers, Vol. II, Oxford 1985, S.105–119. Aus anderen Überlegungen vertritt auch U. Wolf die These einer Priorität des Rechtsbegriffs, siehe U. Wolf, Das Tier in der Moral, Frankfurt/M., 2. Aufl. 2004. 3 Z. B.: O. O’Neill, Tugend und Gerechtigkeit, Berlin 1996; E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, S. 336 ff. 4 Mackie 1985. 5 Op. cit., S. 108. 6 Siehe G. Lohmann, Zu einer relationalen Begründung der Universalisierung der Menschenrechte. In: G. Nooke/ G. Lohmann/ G. Wahlers (Hg.), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg/ Basel/Wien 2008,S. 218–228. 7 G. Lohmann, Unparteilichkeit in der Moral. In: K. Günther/ L. Wingert (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 2001, S. 434–455. 8 Tugendhat 1993, S. 363. 1

Dimensionen der Menschenrechte | 149

Das habe ich ausgeführt in G. Lohmann, ›Menschenwürde‹ – Leerformel oder Neuentwurf der Menschenrechte? In: Ch. Ammer/ V. von Bülow/ M. Heimbucher (Hg.), Herausforderung Menschenwürde. Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, Neukirchen-Vluyn, 2010, S. 101–128. 10 G. Lohmann, Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenrechte. Zum menschenrechtlichen Würdeverständnis nach 1945. In: Zeitschrift für Menschenrechte, H.1/ 2010, Schwalbach/Ts., S. 46–63. 11 Siehe dazu Tugendhat 1993, S. 59 ff. 12 Man kann deshalb auch anzweifeln, ob es sich bei diesen moralischen Rechten denn überhaupt um ›Rechte‹ handelt. Diese Bedenken hoffe ich durch die Unterscheidung zwischen ›schwachen‹ und ›starken‹ Rechten entkräften zu können. Zumindest ist begriffl ich der Unterschied zu legalen Rechten klar. Dass ich die Redeweise von ›schwachen‹ moralischen Rechten für sinnvoll halte, ergibt sich aus ihrer politischen Bedeutung, wenn Menschenrechte gerade nicht als legale Rechte institutionalisiert sind, s. u. 13 Siehe hierzu H. Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt/Main. 2002, S. 184 ff. 14 R. Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat. In: St. Gosepath/ G. Lohmann (Hg.), 1998, S. 254 ff. 15 Siehe auch Ch. Menke/ A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung, Hamburg 2007, S. 25 ff. 16 Siehe zum Begriff Deklaration J. Habermas, Naturrecht und Revolution. In: ders., Theorie und Praxis, 2. Aufl. 1967. 17 Siehe Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948, abgedruckt in: W. Heidelmeyer (Hg.), Die Menschenrechte, Paderborn/ München/ Wien/Zürich 1982, S. 271 ff. 18 Siehe T.H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. In: ders., Bürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt/M. 1992, S. 40. 19 Op. Cit., S. 46. 20 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S. 112 ff. 21 Siehe hierzu G. Lohmann, Liberale Toleranz und Meinungsfreiheit. In: K. P. Fritzsche/ F. Hörnlein (Hg.), Frieden und Demokratie, Festschrift für E. Forndran, Baden Baden 1998, S. 117–127 22 K. Günther, Die Freiheit der Stellungnahme als politisches Grundrecht – Eine Skizze. In: ARSP Beiheft 54; P. Koller/ C. Varga/ O. Weinberger (Hg.), Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik, Stuttgart 1992. 23 Zu beiden Lösungswegen siehe die Aufsätze und die Diskussion von E.-W. Böckenförde, R.Alexy, A. Wellmer und R.Dworkin in: Gosepath/Lohmann 1998. Siehe ferner H. Brunkhorst/ P. Niesen (Hg.), Das Recht der Republik, Frankfurt/M. 1999, darin insbesondere J. Habermas, Zur Legitimation durch Menschenrechte, S. 386 ff.; siehe auch G. Lohmann, Menschenrechte und ›globales Recht‹. In: St. Gosepath/ J.-Ch. Merle (Hg.), Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie, München 2002, S. 52–62. 9

150 | georg lohmann

– Herlinde Pauer-Studer –

Menschenrechte zwischen Moralisierung und politischer Instrumentalisierung Die Philosophie löst keine konkreten politischen Probleme. Gleichwohl ist für das politische Selbstverständnis von Gesellschaften und deren Umgang mit Konflikten entscheidend, wie wir die normativen Grundlagen eines konstruktiven sozialen Zusammenlebens definieren und interpretieren. Dies gilt insbesondere für die Idee der Menschenrechte, die seit der offiziellen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen einen global anerkannten Standard der Rechtmäßigkeit politischen Handelns auf nationaler und transnationaler Ebene bilden. Denn die Auslegung der Menschenrechte, ihre genaue Bedeutung und Reichweite, bestimmt den politischen Alltag: den Umgang mit Minderheiten, die Haltung zu anderen Kulturen, das Verhalten gegenüber Kritikern und Gegnern, die Einmischung und Nicht-Einmischung in die inneren politischen Verhältnisse anderer Staaten. Im folgenden will ich zunächst unterschiedliche theoretische Konzeptionen der Menschenrechte vorstellen und für eine auf dem Kontraktualismus aufbauende Interpretation der Menschenrechte argumentieren. Menschenrechte sind Ausdruck von Übereinkünften zur Regulierung gesellschaftlicher Kooperation. Anschließend versuche ich an einigen Beispielen zu zeigen, dass ein moralischer Minimalismus, den eine auf vernünftige Übereinkommen gerichtete Theorie der Moral voraussetzt, eine gewisse theoretische Barriere gegen die politische Instrumentalisierung der Menschenrechte darstellt. Bestimmte Formen der Berufung auf Menschenrechte sind problematisch. So verfehlt die moralisierende Benützung der Menschenrechte für politische und militärische Interventionen, die aus strategischen und machtpolitischen Gründen ohnehin geplant sind, häufig das Ziel der Befriedung einer Region und sorgt für erhebliche Ambivalenz, was den normativen Status der Menschenrechte betrifft. | 151

1. Interpretationen der Menschenrechte Was sind ›Menschenrechte‹? Sind dies juridische Rechte? Bringen Menschenrechte moralische Ansprüche zum Ausdruck? Sind damit moralische Rechte gemeint? Oder handelt es sich um bloße Symbolformeln, die nicht überschreitbare Grenzen andeuten? Hinsichtlich dieser Fragen lassen sich verschiedene Positionen unterscheiden.1 Die erste Position versteht Menschenrechte als grundlegende moralische Rechte. Menschen kommt qua Menschsein ein besonderer Status zu, sie besitzen Menschenwürde. Dies bedeutet, dass man ihnen mit einer bestimmten Einstellung begegnen soll, einer Haltung der Anerkennung und der Achtung. Achtung drückt sich im Zusprechen von Rechten aus und umfasst auch eine bestimmte Form der Empfindung, ein Gefühl des Respekts für andere. Eine zweite Auffassung versteht unter Menschrechten juridische Rechte (Juridischer Reduktionismus). Demgemäß ist es falsch, das Konzept der Menschenrechte überhaupt moraltheoretisch zu verstehen. Die Rede von moralischen Rechten mute, so die Kritik, paradox an: Wenn etwas ein Recht darstelle, dann verkörpere es per definitonem mehr als lediglich einen moralischen Anspruch. Fazit: Wollen wir Menschenrechte ernst nehmen, dann müssen wir sie als verfassungsmäßig garantierte Grundrechte in einer positiven Rechtsordnung verankern.2 Meist werden zwei Argumente angeführt, warum der Begriff der Menschenrechte im Konzept juridischer Rechte und speziell in jenem der Grundrechte aufgehen sollte. Das erste lautet, dass die Menschenrechte ohne juridische Einbettung wirkungslos sind. Wirksamkeit sei nur gegeben, wenn Menschenrechte mit Sanktionsdrohungen verknüpft werden, was die Integration in Rechtsordnungen voraussetzt. Anders gesagt: Von einem Recht könne nur dann sinnvoll die Rede sein, wenn dessen Anerkennung und der mit ihm verknüpft Anspruch notfalls erzwingbar sind. Das Moment äußeren Zwangs ist aber das definierende Merkmal einer Rechtsordnung. Zwang markiert nach Kant die Trennung von Recht und Moral und kann freiheitsbegründend lediglich durch den Staat ausgeübt werden. Das zweite Argument geht dahin, dass nur die Auslegung der Menschenrechte als juridische Rechte eine inflationäre Berufung 152 | herlinde pauer-studer

auf die Menschenrechte vermeiden helfe. Ohne die Rückbindung an eine Rechtsordnung habe der Begriff der Menschenrechte die Tendenz zur Verselbständigung und decke immer mehr an moralischen Ansprüchen und Forderungen ab, die eigentlich nicht unter ein klar definiertes Verständnis von Rechten subsumiert werden können. Die dritte Position sieht Menschenrechte als moralische Konventionen. Menschenrechte sind das Ergebnis von Übereinkünften, die getroffen werden, um ein friedvolles Zusammenleben zu ermöglichen. Menschenrechte sind Konstruktionen, die im Kontext moralischer Institutionen eine funktionale Roller spielen und aus Gründen allgemeiner Einsichtigkeit anerkannt werden. Als Konventionen sind Menschenrechte Teil einer interessenbasierten Moraltheorie. Aus einem grundlegenden Interesse an Sicherheit und einer gedeihlichen sozialen Existenz werden Übereinkünfte über die Anerkennung und Einhaltung der Menschenrechte getroffen. Die grundlegenden Interessen bilden die motivationale Basis für die Einführung und Wahrung dieser Rechte. Alle wissen, dass willkürliche Verletzungen dieser Konventionen ihrerseits die Verletzungen ihrer eigenen Rechte zur Folge haben und damit das Gesamtsystem schwächen können. In der Geschichte der Moralphilosophie gibt es zwei prominente Versionen eines interessenbasierten Zuganges zur Moral, das Modell von Thomas Hobbes und den Ansatz von David Hume.3 Hobbes’ Überlegungen richten sich bekanntlich auf einen Gesellschaftsvertrag der Bürger, in dem diese einem Souverän die Macht und Autorität zur Sicherung der Regeln friedlicher Koexistenz übertragen. Doch die Grundidee ist auf die Theorie der Moral übertragbar. Bei Hobbes motiviert die Furcht vor den negativen Impulsen der Mitmenschen die Einigung auf den Gesellschaftsvertrag, dessen Einhaltung durch Zwangsgewalt gesichert wird. Dies würde bedeuten, dass die Einigung auf moralische Regeln auch extern motiviert und gesichert sein muss. Für Hume bildet die Moral eine Einrichtung, die im Interesse aller liegt. Die Übereinkunft entsteht durch Einsicht, dass die Einhaltung von Regeln für alle von Vorteil ist. Wie die Moral ist das Recht eine künstliche Tugend, die zum allgemeinen Wohlergehen beiträgt. Die künstlichen Einrichtungen haben auch eine erzieherische Wirkung: Die Institutionenbildung formt neben den VerhalMenschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 153

tensweisen auch die Einstellungen und die Affekte. Die Interessen der Einzelnen bilden die motivationale Grundlage zur Einführung der künstlichen Tugenden. Nach Hume resultiert aber die Anerkennung der moralischen Regeln aus der Einsicht in deren Beitrag zum allgemeinen Wohlergehen. Somit lässt der Ansatz von Hume Raum für die internalistische Bindung an Normen. Ein interessenbezogener Zugang eröffnet meines Erachtens ein plausibles Verständnis von Menschenrechten. Wenn wir Menschenrechte als moralische Konventionen verstehen, die im Interesse aller sind, reduzieren wir nicht deren moralischen Gehalt. Wir verzichten aber auf umstrittene religiöse oder metaphysische Begründungsmodelle, die an eine bestimmte philosophische Hintergrundposition gebunden sind. Die moralische Ebene wird nach minimalen Vorgaben, zum Beispiel den Rahmenbedingungen des menschlichen Wohlergehens, definiert. Da sich ein interessenbezogenes Verständnis der Menschenrechte nicht einer hochfliegenden Moralsemantik bedient, ist diese Interpretation auch weniger anfällig für eine moralische Ikonisierung, die je nach politischem Vorhaben strategisch eingesetzt werden kann. Zweifellos ist die politische Besetzung moralischer Kategorien nie gänzlich vermeidbar. Dennoch vermag eine kluge Bedeutungsfestlegung gewissen Formen der Instrumentalisierung doch Grenzen zu setzen.

2. Die Schwachstellen des juridischen Reduktionismus und Menschenrechte als Konventionen Menschenrechte als juridische Rechte zu lesen scheint mir zu eingeschänkt. Das Konzept der Menschenrechte sollte eine moralische Dimension beinhalten. Für Menschenrechte ist charakteristisch, dass diese nicht zwangsläufig in positiven Rechtsordnungen aufgehen, sondern der positiven Rechtsordnung vorgeordnet sind. Die Menschenrechte sollen ein Korrektiv diverser faktischer Rechtssysteme sein. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 entstand, wie allgemein bekannt, als Reaktion auf die bittere Erfahrung, dass sich in Unrechtsregimen Rechtsordnungen finden, die nicht nur zu krassem Unrecht schweigen, sondern dieses explizit zulassen. 154 | herlinde pauer-studer

Die Menschenrechte-Konvention ist als ein Instrument gedacht, welches über den nationalen Rechtsordnungen steht und das auch dort Kritik erlaubt, wo uns aus nationalstaatlicher Perspektive nichts anderes als eben existierendes positives Recht gegenübersteht. Diese kritische Funktion entfällt, wenn sich der Begriff der Menschenrechte auf juridische Rechte reduziert.4 Deshalb ist es wesentlich, die moralische Dimension der Menschenrechte zu wahren. Vertreter der juridischen Interpretation argumentieren, die Reduktion der Menschenrechte auf Grundrechte stelle die optimale Lösung dar, werde doch damit die größtmögliche rechtsstaatliche Wirksamkeit erzielt. Doch dieses Argument geht an der internationalen Dimension des Menschenrechtestandards und an den realpolitischen Verhältnissen auf globaler Ebene vorbei. Wie ein Blick auf die politische Landschaft lehrt, ist es keineswegs so, dass alle Staaten der internationalen Staatengemeinschaft knapp davor stehen, ihre Rechtsordnungen und politischen Strukturen am Standard der Menschenrechte auszurichten. Selbst wenn dies der Fall wäre, so würde dies keineswegs die Einhaltung der Menschenrechte garantieren – in nicht wenigen Ländern fallen Verfassung und politische Realität auseinander. Die Forderung, die Grundrechte am Parameter der Menschenrechte auszurichten, setzt bereits die Menschenrechte als idealtypischen Standard voraus. Die Menschenrechte bilden einen übernationalen moralischen Maßstab, an dem konkrete Rechtsordnungen, aber auch konkrete politische Verhältnisse auf ihre moralische Qualität zu prüfen sind. Dieses Moment geht verloren, wenn die Menschenrechte nicht einen vom positiven Recht unabhängigen normativen Gehalt haben. Dies bedeutet selbstredend nicht, auf den Anspruch zu verzichten, dass positive Rechtsordnungen so weit wie möglich dem durch die Menschenrechte vorgegebenen Maßstab entsprechen sollten. Wenn Menschenrechte in Grundrechten aufgehen, die an nationale Rechtsordnungen gebunden sind, so ist die damit gegebene Wirksamkeit in Form juridischer Sanktionsmöglichkeit nur auf innerstaatlicher Ebene gegeben. Damit wird aber die globale Dimension der Menschenrechte verfehlt. Diese haben auch die Funktion, in einem Dialog zwischen den Staaten an elementare Richtlinien für politische Ordnungen zu erinnern. Die Wirksamkeit des Begriffs der Menschenrechte auf dieser Ebene kann durch die grundrechtMenschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 155

liche Verankerung in nationalen Rechtsordnungen nicht gesichert werden. Denn der zur Einhaltung der Menschenrechte mahnende Dialog zwischen den Staaten kann nicht durch Sanktionsdrohungen verstärkt werden, deren Gültigkeit sich nur auf den innerstaatlichen Bereich erstrecken. Dem Konzept der Menschenrechte, selbst wenn es nur auf moralischer Ebene gefasst wird, fehlt es nicht an transnationaler Wirksamkeit. Die Einhaltung von Menschenrechten kann vor internationalen Gremien eingeklagt oder mit politischen Sanktionen erzwungen werden. Zugunsten des juridischen Reduktionismus wird oft angeführt, er verhindere eine Inflationierung des Begriffs der Menschenrechte. Was genau bedingt den inflationären Gebrauch der Menschenrechte? Die Ursachen liegen darin, dass alles, was Menschen in der Suche nach einem guten Leben und der Erfüllung ihrer Bedürfnisse bewegt, in ›Rechtsansprüche‹ transformiert wird. Neben den klassischen Freiheitsrechten und sozialen Rechten entsteht so ein Recht auf Zuwendung und Verständnis, ein Recht auf Anteilnahme und Empathie, ein Recht auf Freundschaft, ein Recht auf Liebe, ein Recht auf Glück überhaupt. Wenn alles, was moralisch relevant ist und moralische Beachtung verdient, in die Sprache der Rechte gekleidet wird, so führt dies zu einer Überfrachtung des Rechte-Begriffs. Die Reduktion der Menschenrechte auf juridische Rechte ist aber nicht die einzige Möglichkeit, um der Gefahr eines Aufweichens des Begriffs zu begegnen. Die Festlegung auf einen moralischen Minimalgehalt setzt einer zu weiten Auslegung gleichermaßen Grenzen. Wesentlich problematischer ist die Form der politischen Instrumentalisierung der Menschenrechte. Einer Gesellschaft, in der sich die Berufung auf Werte sehr stark mit politischer Interessendurchsetzung und politischem Kalkül verschränkt, kommen die Kriterien zur Trennung von Recht, Moral und Politik abhanden. Damit droht eine gefährliche Relativierung der Menschenrechte, die eine der wesentlichsten Konventionen des Internationalen Rechts untergräbt. Was hier auf dem Spiel steht, wird klar, wenn man sich den historischen Hintergrund der UN-Menschenrechtserklärung ins Gedächtnis ruft, nämlich die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die verheerenden Wirkungen des Nazi-Regimes. Wesentlich scheint mir, dass die Menschenrechte als Standard der öffentlichen Moral und einer globalen öffentlichen Mo156 | herlinde pauer-studer

ral sehr eng an eine interessenbasierte Moralkonzeption geknüpft sind. Begreift man Menschenrechte als moralische Konventionen, so kann man empathische moralische Konnotationen, die über eine interessenbezogene moralische Basis hinausgehen, ausblenden. Die Respektierung der Menschenrechte verlangt lediglich die Orientierung an der Menschenrechtskonvention: Diese garantiert negative Rechte (Schutz vor körperlicher Verletzung, Schutz vor Freiheitsentzug) und positive Rechte (politische Rechte wie Wahlrecht, das Recht, für politische Ämter zu kandidieren, Meinungsfreiheit, Freiheit der Religionsausübung, einen gewissen Anspruch auf die sozialen und ökonomischen Mittel, diese Grundfreiheit zu leben). Der konventionsbezogene Zugang zu den Menschenrechten hat den Vorteil, dass die moralische Komponente der Mneschenrechte erhalten bleibt, aber eine ausgreifende Moralrhetorik und eine für Moralisierung anfällige Stilisierung vermieden werden.5 In der Praxis bewährt sich, wie ich im folgenden an einigen Problemfelder zeigen will, die Sicht von Menschenrechten als einer moralischen Konvention im Interesse der Betroffenen wesentlich besser als eine rein anerkennungsbezogene Interpretation, bei der die Grenzen zwischen rechtlicher Anerkennung und Anerkennung als einer empathischen Haltung unscharf und fließend sind.

3. Das Problem des Multikulturalismus Die Diskussion um die Menschenrechte ist im öffentlichen Diskurs häufig mit der Frage kultureller Divergenz und kultureller Unterschiede verknüpft. Spannungen ergeben sich hier im Kontext der Debatte um Frauenrechte, nicht zuletzt im Zusammenhang mit kulturellen Praktiken, die von einer anderen Kultur als Verletzung von Frauenrechten gewertet werden. Entlang dieser Konfliktlinie entwickeln sich Kontroversen und Konflikte, die nicht leicht entflechtbar oder gar lösbar sind. Meines Erachtens werden diese Probleme aber noch komplexer, wenn sie vor dem Hintergrund diskutiert werden, dass Menschenrechte Teil einer bestimmten sozialen und politischen Kultur sind. Anders gesagt: Man sollte sich hüten, die Begründung des normativen Status Menschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 157

der Menschenrechte rein aus den Ressourcen der liberalen Demokratietheorie ableiten zu wollen.6 Ein Beispiel soll dies belegen. Die Politikwissenschaftlerin Susan Moller Okin hat durch ihren Essay ›Is Multiculturalism Bad for Women?‹ eine heftige, teils polemische geführte Kontroverse ausgelöst.7 Moller Okin geht es in dem Text um die Frage, ob der Multikulturalismus – die Anerkennung unterschiedlicher Kulturen als gleichwertig – dazu führt, dass Frauen und Frauenrechte in manchen kulturellen und politischen Konstellationen verlieren. Sie bejaht dies. Die Kritik, die sie mit dieser These erntete, war massiv. Ihr wurde westliche Arroganz, Einseitigkeit und schlichte Abwertung kultureller Diversität vorgeworfen. Wie konnte sich dieser Diskurs so zuspitzen? Ein maßgeblicher Grund dafür liegt in den analytischen Voraussetzungen von Okins Stellungnahme. Die Ausgangsthese ihres Essays beruht auf einer bestimmten Definition von Multikulturalismus: Nach Moller Okin bedeutet Multikulturalismus, dass eine jede Kultur intrinsisch gleich wertvoll ist wie jede andere. Diese Definition folgt aus einer direkten Übertragung des Gleichheitspostulats auf die Kategorie ›Kultur‹. Wenn also die Gleichwertigkeit einer anderen Kultur nicht anerkannt wird, dann – so kann man argumentieren – ist ein grundlegendes moralisches Postulat verletzt: nämlich jenes, dass man andere Kulturen oder andere Menschen nicht herabsetzen und geringschätzen darf. Diese Überlegung scheint für sich genommen plausibel. Es scheint mir aber falsch, Diskussionen um potentielle Rechtsverletzungen, etwa Verletzungen der Rechte von Frauen, mit einer Debatte über die Wertigkeit bestimmter Kulturen und der dieser Kultur verbundenen Menschen zu verbinden. Die Fragwürdigkeit einzelner kultureller Gepflogenheiten kann nicht zu einer grundsätzlichen Infragestellung des Werts einer Kultur führen. Insofern empfiehlt sich eine, was die moralischen Voraussetzungen betrifft, bescheidenere Definition von Multikulturalismus: als ein koordiniertes Zusammenleben verschiedener kultureller Traditionen in einer Gesellschaft. Moller Okin hat durch ihre wertakzentuierte Definition von Multikulturalismus die relativ problematische Richtung ihrer Argumentation selbst vorgegeben: Es kommt im Kontext der Frauenrechte und der Behandlung von Frauen zu veritablen Spannungen 158 | herlinde pauer-studer

zwischen westlich-liberalen und traditionsbezogenen Gesellschaften, die in unterschiedlichen normativen Vorstellungen von der Rolle von Frauen verankert sind. Problematisch aber ist es, diese Kontroversen mit einer Debatte über die Wertigkeit diverser Kulturen insgesamt zu vermischen. Die Verletzung von Rechten von Frauen muss für sich genommen, losgelöst von der Hintergrundkultur, diskutiert werden. Kulturen sind keine geschlossenen Gebilde, alle Kulturen sind Transformationen ausgesetzt. Die Bewertung bestimmter Praktiken als negativ oder als positiv, als mögliche Verletzung von Menschenrechten oder als erlaubt und tolerierbar, muss mit Gründen geschehen, die für sich stehen können und die aus der Perspektive unterschiedlicher kultureller Kontexte her einsehbar oder zurückweisbar sind. Die angeführten Gründe dürfen nicht in so starkem Maße Teil einer spezifischen Hintergrundkultur sein, dass aus der Perspektive anderer Kulturen jede Zustimmung a priori unmöglich ist.8 Es führt zu unheilvollen Verwerfungen, wenn die Hintergrundkultur bei der Begründung grundlegendster moralischer Konventionen nicht ausgeblendet wird. Man kann andere Kulturen nach wie vor schätzen, bereichernd und interessant finden, selbst wenn die negative Bewertung bestimmter kultureller Aspekte unumgänglich ist. Punktuelle Ablehnung muss möglich sein. Geht es um ein grundlegendes moralisches Urteil, dann muss sich dieses an einem Standard orientieren, der das Potential hat, ungeachtet verschiedener Hintergrundkonzeptionen geteilte Zustimmung zu finden. Dies ist umso leichter, je basaler die Konventionen sind. Gerade die Menschenrechtserklärung wurde, da sie sich auf elementare normative Vorgaben bezieht, als interkulturell konsensfähig konzipiert.

4. Das Problem der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Genozid Menschenrechtsverletzungen durch diktatorische Regime – wie willkürliche Verhaftungen, Folter, Vertreibungen und Genozid – hinterlassen traumatische Spuren im kollektiven Gedächtnis von Menschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 159

Gesellschaften und in den Individuen. Nach dem Ende solcher Ereignisse wird oft nach einer Bewältigung und Aufarbeitung in Form von Wahrheitskommissionen, Prozessen gegen Diktatoren und Kriegsverbrechertribunalen gesucht. Es kommt hier gleichfalls zu einer Verbindung von Moral und Politik, einer Verschränkung von moralischem Gewicht der Menschenrechte und skandalöser politischer Machtausübung. Die Frage ist wichtig, wie wir moralische Konventionen wie die Menschenrechte an diesen Schnittstellen verorten. Es gibt eine Diskussion um die Ethik von Kriegsverbrecherprozessen und Kommissionen, die moralisierenden Tendenzen ungewollt Raum geben. Wie sehen die politischen und moralischen Rechtfertigungen für die angesprochenen Verfahren der Vertgangenheitsbewältigung aus? Eine bekannte Rechtfertigung für Prozesse gegen Menschenrechtsverletzungen beruft sich auf die politischen und moralischen Ziele, denen diese dienen. Eine solche Position vertritt Mark Osiel, der sich auf Judith Shklar beruft.9 Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse waren gemäß dieser Ansicht ein wesentlicher Schritt, um demokratische Bedingungen im Nachkriegsdeutschland herzustellen.10 Sie waren eine Art Lehrdemonstration der Vermittlung des moralisch Richtigen und Falschen; sie sollten der Bevölkerung auch eine Vorstellung von prozeduraler legaler Fairness nahe bringen und damit einen Beitrag zur Förderung demokratischer politischer Werte leisten. Diese Linie vertritt Shklar. Osiel folgt dieser Argumentation, wenngleich bei ihm etwas Neues dazukommt. Er fordert, dass die einschlägigen Gerichtsprozesse legalistischen Dramen gleichkommen müssen und so effektiv und dramatisch wie möglich die schrecklichen Geschichten über Menschenrechtsverletzungen dokumentieren sollten: Geschichten über Verbrechen, Mord und Grausamkeit. Der Zweck dieser Geschichten ist, an das öffentliche Gewissen zu appellieren, den Menschen ihre eigene politische Geschichte bewusst zu machen und sie auf das hinzuweisen, was falsch gelaufen ist. Diese Inszenierungen sollen dazu führen, dass in einem Prozess der kollektiven Erinnerung und Trauer die Menschen ihre eigene Geschichte kritisch reflektieren, eine neue Form der Identität finden und reformierte politische Grundlagen schaffen. Die Rechtfertigung dafür, Prozesse um Menschenrechtsverletzungen zum Spektakel umzufunktionieren, hängt nach Osiel von der Legitimität 160 | herlinde pauer-studer

der Zwecke und Ziele ab, also der Berechtigung moralischer Lektionen. Mit anderen Worten: Es gibt keine Einwände, solange diese Prozesse die liberale Moral und demokratische Politik fördern. Shklars Position basiert auf einer Widerlegung des ›Legalismus‹ und des Rechtspositivismus, also der Ansicht, dass in der Rechtssphäre positiv gegebenes Recht maßgeblich ist. Shklar weist den Legalismus wegen seiner potentiellen Vereinbarkeit mit totalitaristischen Regimen zurück.11 Recht und Gesetz sind für sie Teil ›historischer Kontinuität‹und tief in Politik und Moral verankert. Doch ein Legalismus, der Menschenrechtsverletzungen zulässt, kann sich nicht auf Legitimität stützen. Es ist eine pervertierte Form des Legalismus. Legitimes Recht ist an bestimmte prozedurale Anforderungen, nicht zuletzt an demokratische Verfahren geknüpft. Shklar stellt jedoch eine Verbindung zwischen Recht und Politik her, die weit über den sehr begrenzten Einfluss der Politik auf das Recht hinausgeht, wie uns dieser in der Form prozeduraler Anforderungen begegnet, die von der demokratischen Theorie inspiriert sind. Das Recht schlechthin ist für Shklar ein Instrument der Politik. Und ihre Interpretation der gerichtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen und von Kriegsverbrecherprozessen zeigt dies deutlich: deren Begründung liegt in den politischen Zwecken, denen sie dienen. Dies ist meines Erachtens eine potentiell verhängnisvolle Sicht. Die Rechtfertigung von Gerichtsverfahren, also auch von Kriegsverbrecherprozessen, liegt im Erreichen der Gerechtigkeit: Es geht um die Verurteilung jener, die Verbrechen begangen haben. Die Rechtfertigung ist schlicht, dass diese Verbrechen falsch sind und gegen elementare moralische Normen und auch internationale Konventionen verstoßen. Der Anlass für Gerichtsprozesse infolge von Menschenrechtsverletzungen sollten nicht politische Ziele, die man damit zu erreichen versucht, sein, denn dies öffnet nur der politischen Instrumentalisierung Tür und Tor. Und die Instrumentalisierung des Rechts, selbst wenn diese einen vorgeblich guten Zweck wie die Stärkung der Demokratie oder die Wiederherstellung der kollektiven Identität einer gespaltenen Gesellschaft verfolgt, kann in einer Gesellschaft, die sich an Werten wie der demokratischen Legitimität orientiert, keine Option sein. So hat der Gerichtshof der Vereinten Nationen Menschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 161

in Den Haag jene Personen zu verurteilen, die in Bosnien und Kroatien Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Die Rechtfertigung für diese Prozesse sind die Verbrechen, die geschehen sind, und nicht, dass diese Prozesse zur Bewältigung von Trauerarbeit oder der Herstellung der Demokratie beitragen. Dies können Nebeneffekte sein, dürfen aber nicht zum Primärmotiv werden. Die Idee ›dramaähnlicher Prozesse‹, die Affekte, Gefühle und Impulse ansprechen, basiert auf einem falschen Bild der Aufgaben von Recht und Moral. Verletzungen von Menschenrechten sind eine sehr ernste Angelegenheit: ihre moralisch-rechtliche Verurteilung sollte frei sein von Moralisierung und Instrumentalisierung.

5. Gerechter Krieg? Seit geraumer Zeit ist eine Remoralisierung der öffentlichen Sphäre zu beobachten, eine Verwischung der Sphären von Recht, Moral und Politik. Ein Aspekt dieser Entwicklung ist die Renaissance der im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg ad acta gelegten Doktrin des ›gerechten Krieges‹. Die Frage stellt sich: Lässt sich ein moralisch positiv besetzter Standard wie Gerechtigkeit mit einem Phänomen wie Krieg verbinden? Kann die Rede vom gerechten Krieg überhaupt einen anderen Stellenwert als den der heuchlerischen Rationalisierung gewinnen? Reduziert sich diese nicht immer auf den Versuch, mit dem wohlkalkulierten Rückgriff auf den hehren Glanz moralischer Ideale fragwürdige Formen der politischen Interessendurchsetzung zu verschleiern? Wie lassen sich die Phänomene von Moral und Krieg so aufeinander beziehen, dass sich im Kontext politischen Handelns nicht jedes einschlägige moralische Argument in eine zynische Version der politischen Strategieverfolgung verkehrt? Instrumentalisierung, insbesondere jene moralischer Kategorien, ist ein gängiges Phänomen der Politik. Doch für sich genommen untergräbt die heuchlerische Berufung auf moralische Standards nicht den über gute und einleuchtende Argumente gesicherten normativen Status grundlegender moralischer Normen. Zweifellos ist es empörend, wenn die unlauteren Motive, die das Geschäft des professionellen Tötens unweigerlich begleiten, mit dem Prestige der 162 | herlinde pauer-studer

Moral verschleiert werden sollen. Doch alle Ansätze zu moralischer Ernsthaftigkeit sind in permanenter Gefahr, im politischen Alltagsgeschäft missbraucht zu werden oder zur moralisierenden Attitüde zu verkommen. Moralisierung ist aber nicht gleichzusetzen mit moralischer Reflexion – sie sind getrennt durch den Abgrund der Verschleierung und Verlogenheit. Instrumentalisierung ist nicht zu verhindern. Dennoch können ihre Respektlosigkeit, Unredlichkeit und Anmaßung aufgedeckt werden, sofern Gesellschaften über das Potential zu angemessenen moralischen Reaktionen verfügen und bereit sind, sich fragen zu lassen, wie sie sich zwischen den Extremen von Zynismus und moralisierendem Eiferertum einordnen. Kein Kriegsgeschehen ist von der Moral ablösbar. Kriegen, wie monströs auch immer, unterliegt die Sprache der Moral. Kriege bedürfen der moralischen, nicht nur der politischen Bewertung und der militärischen Rechtfertigung – auf der Ebene des Schrittes zum Krieg (dem jus ad bellum) und der Wahl der Form und Mittel der Kriegsführung (dem jus in bello). Die Konsequenzen von Entscheidungen zum Kriege und die Art der Kriegsführung an moralischen Standards zu prüfen, ist eine Minimalbedingung ziviler Gesellschaften. Die These, dass viele, wenn nicht fast alle Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen vermeidbar wären, scheint mir keineswegs utopisch. Doch Kriege sind eine Realität, und die moralischen Kosten eines rigorosen Pazifismus könnten unter gewissen politischen Bedingungen zu hoch sein. Der Impuls, die Kategorie des gerechten Krieges wegen der internen Spannung von moralisch positiver und negativer Komponente auf eine simple contradictio in adjecto zu reduzieren, verbaut den Weg zu einer sinnvollen moralischen Perspektive auf das Phänomen des Krieges. Die Frage ist, ob sich in gewissen politischen Konstellationen Gründe für Kriegseinsätze anführen lassen, die sich von einem moralischen Standpunkt vernünftigerweise nicht zurückweisen lassen. Kann dies aber ausreichen, um an der Formel des gerechten Krieges auch unter den Bedingungen eines moralischen Minimalismus festzuhalten, eines Minimalismus, der nicht nur dem demokratischen Pluralismus angemessen scheint, sondern der wohl die einzige ethische Ressource mit einer gewissen Chance auf Zustimmung im globalen Umfeld darstellt? Menschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 163

Bei den Naturrechtstheoretikern der Neuzeit findet sich bereits ein Großteil jener Bedingungen formuliert, die selbst noch im 20. Jahrhundert mit dem Konzept des gerechten Krieges assoziiert werden: 1. Die gerechte Ursache (Selbstverteidigung gegen Aggression, also Verteidigungs- nicht Angriffskrieg, neuerdings gravierende Menschenrechtsverletzungen). 2. Verhältnismäßigkeit der Mittel in Relation zum politische Ziel. 3. Vernünftige Chance auf Erfolg. 4. Der Krieg muss öffentlich erklärt werden (das Erfordernis einer öffentlichen Debatte). 5. Eine legitime Autorität muss den Krieg erklären (Regierung oder Präsident, nicht die Militärs). 6. Der Krieg muss eine letzte Möglichkeit der Politik sein. 7. Ein Krieg ist mit der rechten Absicht zu führen, wobei eine objektive und subjektive Auslegung der ›rechten Absicht‹ unterschieden wird. Die objektive Absicht bezieht sich auf das Gesamtziel einer militärischen Operation, die Absicht im subjektiven Sinne ist die Motivation oder innere Einstellung zu einem Krieg. 8. Die verfahrensbezogene Integrität in der Anwendung der Kriterien. 9. Die Mittel der Kriegsführung dürfen nicht völkerrechtlichen Verträgen und Übereinkommen widersprechen. 10. Die Mittel müssen die Immunität Unschuldiger respektieren.12 Der Übergang zum Völkerrecht, der mit Grotius einsetzt, ersetzt nicht die Relevanz moralischer Prinzipien und Urteile. Nicht wenige Rechtstheoretiker halten den Versuch der Ablösung der Moral durch das Völkerrecht oder – etwas zeitgemäßer – das internationale Recht ohnehin für eine Illusion, da das internationale Recht eigentlich nichts anderes darstelle als moralische Grundsätze und besser als ›internationale Moral‹ bezeichnet werde. Das Völkerrecht, so der Vorbehalt, könne nicht positives Recht im strengen Sinn sein, da dahinter keine zwangsbewehrte Autorität steht. Selbst wenn wir diesen Einwand ignorieren und – mehr der kontinentalen Tradition folgend – das Völkerrecht als positives Recht begreifen, bleibt die Moral in der Frage des gerechten Krieges präsent. Denn völ164 | herlinde pauer-studer

kerrechtliche Bestimmungen zur Legitimität von Kriegen bedürfen der Anwendung und Auslegung, und diese Interpretationsleistung bleibt auf ethisch-moralische Ressourcen angewiesen. Auch in der Frage der Bewertung von Kriegen und Kriegshandlungen scheint eine an Interessen gebundene Minimalmoral angemessen, erlaubt sie doch die konsequentialistische Abwägung von Handlungsoptionen. Viele Theoretiker befürchten, die Frage des geringeren Übels, die Genügsamkeit mit der minimal besseren Option, komme einer moralischen Münzverschlechterung gleich, die gerade in der Dimension des Krieges ein besonderes Problem darstelle. Man begnüge sich guten Gewissens mit dem Minimum. Ich sehe das anders: Im Fall von Kriegen und auch im Fall humanitärer Interventionen13 bedeuten geringfügig bessere Konsequenzen möglicherweise für sehr viele Menschen sehr viel. Und die Konzentration auf die gerade noch erreichbare minimal bessere Situation kann das Risiko reduzieren, dass militärische humanitäre Interventionen infolge hochgesteckter moralischer Ambitionen und mangelnder politischer und strategischer Umsicht im Desaster enden. Die Diskussion um die Doktrin der Doppelwirkung ist ein Beispiel, das zeigt, warum die Abwägung von Konsequenzen, die sich an einem Parameter wie den Menschenrechten im Rahmen einer Minimalmoral orientiert, wichtig ist. Die Doktrin der Doppelwirkung, auf die in der Frage der Rechtfertigung von Kriegshandlungen immer wieder zurückgegriffen wird, kombiniert intentionalistische und konsequentialistische Elemente und besagt, dass lediglich vorhersehbare, aber nicht intendierte Konsequenzen Handlungen nicht illegitim machen. Es bedarf schon erheblicher Robustheit, um die Formel vom vorhersehbaren, aber nicht beabsichtigten Tod, welche die zahlreichen zivilen Opfer eines Angriffs zur moralisch vernachlässigbaren Nebenwirkung erklärt, in den Kanon moralischer Kriterien aufzunehmen. Mit der Doktrin der Doppelwirkung lässt sich sogar die Aussage des amerikanischen Präsidenten Harry Truman rechtfertigen, dass ihn die Entscheidung zum Atombombenabwurf über Hiroshima nicht eine Nacht an Schlaf kostete. Der direkte konsequentialistische Zugriff auf die Folgen scheint mir ehrlicher, da er den Opfern zumindest den minimalen Respekt erweist, im Kalkül moralischer Bewertung überhaupt noch aufzuscheinen. Menschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 165

Das moralische Gewicht der Menschenrechte, selbst im Rahmen einer Minimalmoral. ist unbestritten. Doch Kriegseinsätze kennzeichnet ein reichlich selektiver Umgang mit Menschenrechten, der den Universalismus der Menschenrechte mitunter in eine erhebliche Schieflage bringt. Ungeachtet dessen bildet die Idee unverletzbarer moralischer Ansprüche von Menschen eine Richtschnur erlaubten Handelns. Der bedeutende Stellenwert der Menschenrechte bedingt auch, dass die auf systematische Menschenrechtsverletzungen, insbesondere auf die ethnische Vernichtung reagierende humanitäre Intervention Ende des 20. Jahrhunderts zum Paradigma legitimer Kriegseinsätze wird. Doch genau die in der Rechtfertigung von humanitären Interventionen so präsente Verbindung des Politischen mit dem Moralischen gilt neuerdings als das eigentliche Übel. Statt klar eingestandener politischer Interessenverfolgung konfrontiere uns moralisierende Gewissheitsmetaphysik mit einem nicht unerheblichen Hang zum Sendungsbewußtsein. Moral, so das Verdikt einer Kritikerin, mache Kriege »tendentiell unendlich«.14 Ich halte diese pauschale Polemik gegen die Moral für überzogen. Denn Objekt der Kritik ist – recht besehen – weniger die Moral als die moralisierende Rhetorik oder die zum normativen Absolutismus tendierende Überzeugungsdogmatik. Und wenn die sich als Angriff auf die Moral schlechthin gerierende Kritik selbst nicht bloß dem intellektuellen Spiel der pointierten Provokation zugeordnet werden will, einem Spiel, das nur allzu rasch in der Beliebigkeit endet, dann verhält es sich wohl so, dass sie selbst einem tiefen moralischen Engagement entspringt. Die Parameter des Moralischen sind unentrinnbar: Selbst wenn wir ihr Versagen beklagen oder das angebliche Unheil, das sie bringen, verdammen, so entlässt uns das dahinterstehende Argument nicht aus der Sphäre des Normativen. Individualmoral ist Gesinnungsethik; nicht so die öffentliche Moral. Wenn sich also die Frage der moralischen Zulässigkeit von Kriegen nicht auf gesinnungsethische Kriterien einlässt, dann besteht zumindest a priori weniger Anlass zu vermuten, dass sich jede Berufung auf moralische Grundsätze in einen moralischen Feldzug transformiert, dessen Kehrseite ein verlogenes und öffentlich inszeniertes Bewusstsein moralischer Selbstgerechtigkeit auf seiten der Kriegführenden ist. Solcher Dünkel, vor allem in einer das Le166 | herlinde pauer-studer

ben vieler Menschen unmittelbar berührenden Frage wie der von Kriegseinsätzen, ist schwer erträglich. Doch was, wenn es kontrafaktisch gedacht möglich wäre, würde die Verbannung der Moral bringen? Warum sollten ökonomische und politische Interessensmaximen für sich genommen die akzeptableren Ergebnisse liefern? Misstrauen gegenüber Entscheidungen und Handlungsbegründungen in der öffentlichen Sphäre scheint durchaus angemessen, doch dieses kann sich sinnvollerweise nicht auf Skepsis gegenüber mit moralischen Gründen gestützten Rechtfertigungen beschränken. Die Frage zulässiger militärischer Interventionen ist mittels moralischer Argumente allein sicher nicht zu beantworten, und sie wird so auch nicht entschieden. Es gibt relativ klare völkerrechtliche Regelungen und insbesondere ein von der UN-Charta vorgegebenes Prozedere. Doch selbst die Einhaltung der relevanten Verfahrensbestimmungen kann nicht verhindern, dass eine Entscheidung zu einer humanitären Intervention oder einem Krieg fragwürdig und umstritten bleibt. Verfahrensrechtlichkeit allein kann moralisch motivierter Skepsis nichts entgegensetzen, schon gar nicht, wenn man die Struktur der UNO bedenkt. Gerade die Entscheidungen im Sicherheitsrat zeichnet ein Überhang politischer Machtkalkulation aus, der die Legitimität durch Verfahren-Idee auf eine harte Probe stellt, wenn nicht partiell ad absurdum führt. Die Debatte um die Zulässigkeit von Kriegen und humanitären Interventionen pendelt zwischen Moralität und Legalität. Wenn in bestimmten politischen Konstellationen die Schattenseiten der Moral überhand nehmen, wenn unreflektierte moralische Affekte die Regeln politischer Vernunft und gewohnheitsrechtlicher Praxis ignorieren, dann scheint die Verrechtlichung das Allheilmittel. Und wenn uns die Ebene des Legalen suspekt wird, weil die Anwendung rechtlicher Bestimmungen inakzeptable Ergebnisse nach sich zieht, gewinnt die Moral den Rang des übergeordneten praktischen Standards zurück. Moral wird immer ein kritischer Maßstab der Bewertung von rechtlich defininierten Verfahrensmodalitäten und politischen Entscheidungen bleiben – es kommt darauf an, diesen den Geboten praktischer Klugheit entsprechend einzusetzen. In der Frage der Zulässigkeit von Kriegen darf nur eine minimale Konzeption der Ethik zum Tragen kommen: Ein Standard grundlegender moralischer Rechte und ein Prinzip der FolgenabschätMenschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 167

zung genügen vollauf, wobei das erste Kriterium Vorrang vor dem zweiten hat. Die Priorität von Menschenrechten, die in Kriegseinsätzen ohnehin eine Relativierung erfahren, soll verhindern, dass konsequentialistische Maximierungsstrategien moralische Rechte gänzlich ignorieren. Der in einer übereinkunftsbezogenen Minimalmoral geübte Verzicht auf gesinnungsethische Elemente löst das Problem eines expansiven Moralismus sicher nicht, doch vermag er zumindest für gewisse Beschränkungen zu sorgen. Wie verhält es sich nun mit dem gerechten Krieg? ›Gerecht‹ kann in diesem Kontext nur ›zulässig‹ bedeuten. Zulässig sind Kriege als begrenzte militärische Interventionen dann, wenn sich dafür Gründe anführen lassen, die wir aus moralischer Perspektive nicht ignorieren oder schwerlich zurückweisen können – also Gründe wie die Notwendigkeit der Beendigung von Massakern an der Zivilbevölkerung, die Verhinderung von Vertreibung und Völkermord, sowie das Recht auf Selbstverteidigung im Fall aggressiver Invasion. Kein Krieg kann sich mit Berufung auf einen über die Idee der Zulässigkeit hinausreichenden Begriff des Gerechten in ein Gut oder gar in die moralisch gute Tat verkehren. Selbst zulässige Kriege sind ohne ein bestimmtes Maß an moralischer Schuld nicht zu führen. Diese Negativseite kommt klar zum Tragen, wenn wir einen übereinkunftsbezogenen Begriff der Moral voraussetzen, für den die Einigung auf moralische Konventionen, vorrangig die Menschenrechte, das wesentliche Anliegen ist.

Anmerkungen

Vgl. dazu die Beiträge in St. Gosepath und G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1998. 2 Vgl. R. Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Vefasssungsstaat, in St. Gosepath und G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, S. 244–264. 3 Th . Hobbes, Leviathan: oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt/M. 2000; David Hume, Traktat übe die menschliche Natur, Band II: Zweites Buch: Über die Affekte, Drittes Buch: Über Moral, mit neuer Einführung hg. v. R. Brandt, Hamburg 1978. 4 Das Problem ist nach Meinung einiger Theoretiker nicht in demokrati1

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schen Verfassungsstaaten gegeben, in denen sich Menschenrechte und Grundrechte decken. Doch gerade mit Bezug auf Einwanderungs- und Asylgesetzgebung sind die Menschenrechte auch für liberale Verfassungsstaaten eine unverzichtbare Kontrollinstanz. 5 Selbstredend verlangen soziales Leben und die Beziehungen unter Menschen mehr an moralischen Normen, als das Konzept der grundlegenden Menschenrechte umfasst. Doch diese zusätzlichen Elemente sind Teil der Individualethik, also jener Moral, die sich mit dem moralischen Status der konkreten Beziehungen und Relationen beschäft igen. 6 Dies gilt für den Begründungs- , nicht für den Entstehungskontext. 7 S. Moller Okin, Is Multiculturalism Bad for Women? Ed. by J. Cohen/ M. Howard/ M. Nussbaum, Princeton 1999. 8 Der deutsche Rechtstheoretiker E.-W. Böckenförde warnt vor der These, dass nur Demokratien Menschenrechte zu respektieren und zu schützen vermögen. Auch politische Systeme, die keine Demokratien sind, können eine gewisse Anerkennung der Menschenrechte garantieren. Siehe E.-W. Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte? In: Gosepath/ Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, 233–243. 9 M. Osiel: Mass Atrocity, Collective Memory and the Law, New Brunswick 1997, ch. 6; J.N. Shklar: Legalism, Law, and Political trials, 3rd print, Cambridge, Mass. 1986. 10 Wie Shklar schreibt: »The Nuremberg Trial of the Major War Criminals was justified only by the political values which it achieved.« Shklar, Legalism, Law and Political trials, S. 210. 11 Die ›juridische Kaste‹ bestand, wie Shklar kritisiert, aus Anhängern des Nazi-Regimes, die nur formale Bedenken gegenüber der Art und Weise hatten, wie die Nazis ihre Ideen in der Praxis umsetzten, da die ›legalen‹ Voraussetzungen oft fehlten. 12 Die ersten sechs Regeln fi nden sich bereits bei Grotius formuliert. Zu den Bedingungen des gerechten Krieges siehe J. H. Yoder, When War is Unjust, Appendix V. 13 Der Terminus ›humanitäre Intervention‹ bezieht sich auf militärische Aktionen zum Schutz der basalen Menschenrechte bestimmter Personen und ethnischer Gruppen, wobei das Souveränitätsprinzip jener Staaten, in deren Territorium interveniert wird, vorübergehend außer Kraft gesetzt ist. 14 C. Stephan, Der Krieg um Gut und Böse. In: Kursbuch 136, 1999, S. 35.

Menschenrechte zwischen Moralisierung und Instrumentalisierung | 169

– Sarhan Dhouib –

Philosophische Wege zu Recht und Ethik Beispiele aus der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart Dem Andenken Mohammed Abed Al-Jabris

1. Einleitung Dem Thema ›Recht und Ethik‹ kommt zunehmend Interesse zu, vor allem aus der Sicht der ›interkulturellen Philosophie‹. Es geht hier nicht nur darum, eine Begegnung zwischen den Menschen unterschiedlicher Kulturen zu beschreiben, sondern auch darum, über die Bedingungen der Möglichkeit einer ›Philosophie des Zusammenlebens‹ in einer Welt kultureller Vielfalt nachzudenken. Aus dieser Sicht ist eines der Ziele der interkulturellen Philosophie die Erneuerung der Begrifflichkeit unseres Weltverständnisses. Die Themen der Ethik und des Rechts, der Freiheit und der Demokratie, der Vernunft und der Religion sind im Lichte heutiger Probleme einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Dies ist notwendig, denn unter Verwendung einer stagnierenden Begrifflichkeit und eines nicht an die realen Verhältnisse angepassten Wissens kann man den neuen Raum, in dem wir leben, nicht verstehen – einen Raum lebendiger und globaler Kommunikation.1 Die geisteswissenschaftliche und philosophische Debatte muss sich – sei es in Europa, sei es im arabisch-islamischen Raum – den Herausforderungen unserer Zeit in der Weise stellen, dass sie die kulturellen Lebensverhältnisse und die unterschiedlichen Rechtsund Ethikdiskurse aufmerksam analysiert und daraus einen neuen Universalismus ableitet und begründet. Ein solcher Universalismus sollte die Unterschiede und die Vielfalt ernst nehmen, um das, was ist, als plurale Identität und als Alterität in Toleranz zu begreifen. Die Universalität, die zu vertreten ist, findet ihren Ausdruck in einer nicht-reduktionistischen Weltanschauung und in einer von Ach| 171

tung geleiteten Kommunizierbarkeit der kulturellen Differenzen und der Ausdrucksformen der Menschen, d. h. in einer kreativen Transkulturalität der Werte und in einer für ein Zusammenleben in Würde offenen Rationalität.2 Zur Bezeichnung ›arabisch-islamische Philosophie‹ sei vorab Folgendes erläutert: (1) Man darf diesem Ausdruck keine religiöse Bedeutung zuschreiben. Zwar handelt es sich dabei um eine Philosophie in arabischer Sprache, die im Kontext der islamischen Kultur angesiedelt ist; sie orientiert sich aber an den allgemeinen Grundproblemen der Philosophie.3 (2) Die Behandlung der philosophischen Probleme entwickelt sich im arabisch-islamischen Kulturraum in ständiger Auseinandersetzung mit der europäischen und angelsächsischen Philosophie auf der einen Seite und mit der eigenen philosophischen Tradition, die seit dem 9. Jahrhundert entstanden ist, auf der anderen Seite.4 Probleme wie die des Rechts und der Ethik sind von großer Bedeutung. Vor dem oben skizzierten Hintergrund geht es mir in meinem Beitrag um die Frage des Rechts bzw. der Menschenrechte und ihren Zusammenhang mit einigen Problemen der Ethik im Kontext der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart. Dabei stütze ich mich vor allem auf die Überlegungen des syrischen Philosophen S.J. al-Azm (geb. 1934). Ich werde mich auf fünf Schwerpunkte konzentrieren: 1. auf die Begriffe ›Recht‹ und ›Pflicht‹; 2. auf den Begriff der Kritik in der arabisch-islamischen Philosophie; 3. auf das Verhältnis von Islam und säkularem Humanismus; 4. auf die Frage: Islam versus Menschenrechte? 5. auf die Notwendigkeit des Rechts.

2. Zu den Begriffen Recht und Pflicht Im Unterschied zum Rechtsbegriff (al-haq), der seit der Frühzeit des Islam eine entscheidende Rolle in der islamischen Jurisprudenz (al-fiqh) spielt,5 zählt der Menschenrechtsbegriff in der arabisch-islamischen Kultur zu den jüngeren Konzepten und erscheint frühe172 | sarhan dhouib

sten im 19. Jahrhundert; hierauf haben z. B. M. Arkoun (geb. 1928)6 und M.A. al-Jabri (1935–2010)7 aufmerksam gemacht. Denn erst mit der Entstehung der Moderne im arabisch-islamischen Kulturraum und den damit verbundenen säkularen Denkansätzen wird dem Menschenrechtsbegriff bzw. dem positiven Recht eine zunehmend wichtige Funktion in den Rechtsordnungen und Grundgesetzen vieler arabischer und muslimischer Staaten zugeschrieben. In Anlehnung an Arkouns8 und al-Jabris9 philosophische Terminologie gehört der Menschenrechtsbegriff zum ›Undenkbaren‹ innerhalb des Denksystems der klassischen islamischen Jurisprudenz. Mit dem ›Undenkbaren‹ ist gemeint, was in religiöser oder politischer Hinsicht zu einer bestimmten Zeit zu denken und auszudrücken unmöglich bzw. verboten ist.10 Denn das Denkbare innerhalb des Denksystems der klassischen arabisch-islamischen Kultur war die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Mit dem Durchbruch des positiven Rechts wurde vor allem das zwischenmenschliche Verhältnis und somit der Menschenrechtsdiskurs in den Vordergrund gestellt.11 Daher ist es bei der Behandlung des Menschenrechtsdiskurses im Islam angebracht, zwischen zwei unterschiedlichen Wert- und Rechtssystemen zu unterscheiden, um jenen Anachronismus zu vermeiden. Im ersten Rechtssystem bzw. in der Pflichtenlehre ist die Rede vom Gottesrecht; im zweiten hingegen von Menschenrechten, wobei einige islamische Theoretiker den Versuch unternommen haben, den modernen Menschenrechtsdiskurs historisch und kulturell in der geistigen Tradition des Islam zu verankern.12 Der Rechtsbegriff entspricht im klassischen Arabisch dem Begriff al-haq (pl. hūqūq), der eines der zahlreichen Attribute und einer der Namen ist, die die Muslime Gott zusprechen. In der Aussage ›Allah al-haq‹ meint der Begriff ›al-haq‹ sowohl das Wahre als auch das Recht im Gegensatz zum Falschen. In einem theologischen Sinne, der für die islamische Jurisprudenz relevant ist, bedeutet dies, dass Gott die Quelle und zugleich der Empfänger der Rechte sei.13 Hierauf basiert auch die Formel ›Gottesrecht‹ (haq Allah) und damit vice versa die Lehre der Pflichten (fara’id) der Menschen gegenüber Gott. Es ist diese Auffassung bezüglich des Rechts bzw. der Pflichten, die den unterschiedlichen islamischen Erklärungen für Menschenrechte zur Grunde liegt. So wird z. B. das KorrespondenzPhilosophische Wege zu Recht und Ethik | 173

verhältnis zwischen Recht und Pflicht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam aus dem Jahr 1981 explizit hervorgehoben: »Wir beschränken uns auf die Verwendung des Ausdrucks ›Rechte‹ und gebrauchen nicht gleichzeitig auch den Ausdruck ›Pflichten‹, denn alles das, was für den einen ein ›Recht‹ ist, ist für den anderen eine ›Pflicht‹ […]. Da die Menschenrechte im Islam alle Personen ohne Unterschied ihrer Stellung und Beziehungen umfassen, so ist das, was einerseits ein ›Recht‹ ist, andererseits eine ›Pflicht‹!«14 Im modernen Arabisch bezeichnet der Übergang von ›al-haq‹ zu seinem Plural ›hūqūq‹ die Entsakralisierung des religiös geprägten Rechtsbegriffs und somit die inhaltliche Verschiebung vom Gottesrecht zu den auf den Menschen bezogenen Rechten. Außerdem stellt der Haq-Begriff im zeitgenössischen Arabisch die Übersetzung des französischen Wortes ›droit‹ und des englischen ›right‹ dar und deutet auf eine Rezeption der europäischen Aufklärung hin. Man kann der islamischen bzw. der islamisierten Auffassung der Menschenrechte vorwerfen, dass sie die Rechte mit dem Inhalt der modernen Menschenrechte füllt, obwohl der Begriff eigentlich eine Pflichtenlehre und nicht einen Begriff von menschlichen Rechten ausdrückt. Hieraus erklärt sich, dass die verschiedenen islamischen Menschenrechtserklärungen Pflichten vor Augen haben, wenn sie von Rechten als Menschenrechten sprechen. Dies liegt vermutlich daran, dass die klassische islamische Jurisprudenz über keine hinreichende systematische und umfassende Subjekt-Theorie verfügt, um von einem Rechtssubjekt sprechen zu können.15 Erst mit der arabischen Moderne, die im 19. Jahrhundert entstanden ist, konnte innerhalb des Reformdiskurses der arabischen Intellektuellen, Philosophen und Juristen ein Rechtssubjektbegriff theoretisch entwickelt werden. In diesem kulturellen und philosophischen Zusammenhang hat sich die kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne im arabisch-islamischen Kulturraum entfaltet.16 Daraus sind die Überlegungen von al-Azm und vielen anderen heutigen arabischen Philosophen in diesem Kontext zu betrachten.

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3. Zum Begriff der Kritik in der arabisch-islamischen Philosophie Mit dem Erscheinen der beiden Bücher von al-Azm17 Die Selbstkritik nach der Niederlage (1968)18 und die Kritik des religiösen Denkens (1969)19 vollzog sich eine Wende im arabisch-islamischen Denken der Gegenwart, die durch die Begriffe ›Kritik‹ und ›Selbstkritik‹ charakterisiert ist. Damit tritt al-Azm als Pionier in der Debatte um die ›Selbstkritik‹ und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit der dogmatischen Denkweise auf kultureller, religiöser und politischer Ebene auf. In der Einleitung seiner Schrift Die Selbstkritik nach der Niederlage unterscheidet al-Azm zwei entgegengesetzte Bedeutungen von Kritik: (a) Eine negative, bedeutungsgleich mit »Diffamierung und Aufzählung der unendlichen Makel, Fehler und Unzulänglichkeiten«, sowie (b) eine positive als »genaue Analyse der Herkunft der Schwäche, der Gründe für die Unfähigkeit und der Einflüsse, die dazu führen, Makel und Unzulänglichkeiten sichtbar werden zu lassen«.20 Die konstruktive Bedeutung der Kritik soll, so al-Azm, der arabisch-islamischen Welt nach der Niederlage von 1967 eine Orientierungsmöglichkeit bieten, um eine Erneuerung der gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen herbeizuführen. Sie sei nicht als eine rein geistige Tätigkeit zu bestimmen, sondern als eine auf die historische Realität bezogene Macht des Denkens und Handelns. Damit entwirft al-Azm das Paradigma der Kritik in der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart als Rahmen für neue Denkansätze. Der durch al-Azms Ansatz ausgelöste Prozess prägt das arabischislamische Denken seit dem Ende der 1960er Jahre durch den Begriff der ›Selbstkritik‹. Das Anliegen dieser ›Selbstkritik‹ besteht darin, die ›Krise‹ der arabisch-islamischen Gesellschaften einer schonungslosen Diagnose zu unterziehen. In diesem Kontext ist es bemerkenswert, dass die philosophische Behandlung dieser ›Krise‹ von den arabisch-islamischen Philosophen und Intellektuellen oft unter den Leitbegriffen der ›Kritik‹ und der ›Selbstkritik‹ behandelt wird. In diesem Zusammenhang sind Autoren wie al-Jabri und Arkoun zu nennen, für die die Kritik eine vordringliche intellektuelle und gesellschaftspolitische Aufgabe darstellt, wobei sich die Methode, der Anwendungsbereich und der Zweck ihrer kritischen Auseinandersetzungen deutlich voneinander unterscheiden. Philosophische Wege zu Recht und Ethik | 175

Das Ziel von al-Jabris vierbändiger Untersuchung zur ›Kritik der arabischen Vernunft‹ (1984–2001)21 ist es, eine tiefgreifende und umfassende kritische Auseinandersetzung mit den Erkenntnissystemen der geistigen Tradition des Islam durchzuführen, um die Neubegründung des Rationalismus in der zeitgenössischen arabisch-islamischen Kultur vor dem Hintergrund der ehemaligen ›andalusischen Philosophie‹ zu ermöglichen und einen Grundstein für ein ›Zeitalter der Neuformulierung‹ zu legen.22 Arkoun setzt mit seiner Aufsatzsammlung Pour une critique de la raison islamique32 seine innovative Rekonstruktion der historischen und sozio-kulturellen Bedingungen des islamischen Denkens fort und versucht, die dogmatischen Strukturen der ›Orthodoxie‹ aufzuheben.24 In diesen Kontext der selbstkritischen Auseinandersetzungen gehören ebenfalls al-Azms spätere Überlegungen, wie die zum Verhältnis von ›Islam‹ und ›säkularem Humanismus‹. Sie thematisieren die Frage, ob das säkulare, in Europa entstandene Rechtssystem nicht im Widerspruch zum Islam steht. Allerdings hebt er deutlich hervor, wie unabdingbar es sei, im aktuellen Kontext der arabisch-islamischen Kultur ein Rechtssystem – nach dem Beispiel der Menschenrechte – zu implementieren, d. h. eine Rechtskultur auf der Basis der Erneuerung der arabischen und islamischen Gesellschaften. Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf eine Rede, die al-Azm im Jahre 2004 in Tübingen anlässlich der Verleihung des Dr.-Leopold-Lucas-Preises gehalten hat.25 Seine These zum Thema ›Menschenrechte‹ werde ich im Kontext seiner philosophischen Überlegungen in der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart erläutern und mit Aussagen einiger arabischer Philosophen vergleichen.

4. Islam und säkularer Humanismus Der Ausgangspunkt al-Azms ist die Frage, ob es möglich sei, allgemeingültige Vorstellungen von bestimmten Prinzipien wie z. B. Menschenrechte, Gewissensfreiheit und religiöse Toleranz aus der Tradition des Islam herzuleiten.26 Ist das in der europäischen Auf176 | sarhan dhouib

klärung entstandene System positiver Rechte mit der heutigen islamischen Kultur vereinbar? Solche Fragen verweisen auf die kulturellen und philosophischen Schwierigkeiten, mit denen sich Philosophen und Intellektuelle aus dem arabisch-islamischen Kulturraum beschäftigen. Hier sind neben der Behandlung von al-Azm auch die philosophischen Versuche von Arkoun27 und F. Zakariya28 (geb. 1927) zu erwähnen. Zwar spricht al-Azm in seiner Rede stets von dem Islam, jedoch ohne dessen Verständnis genauer zu erläutern. Ich gehe davon aus, dass seine Erläuterung des erwähnten Problems – das des Verhältnisses von säkularem Humanismus und Islam – zwei unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des Islam unterstellt: Zum einem ist der Islam als Weltreligion und als dynamische Kultur zu deuten, die seit dem 7. Jahrhundert und bis heute eine Weltanschauung vertritt und in der sich eine enorme kulturelle Vielfalt entfaltet hat; zum anderen ist der Islam als politische Ideologie zu interpretieren, die, in sich erstarrt, in einen Fundamentalismus bzw. Islamismus verwandelt wurde.29 Dies geschah erst im 20. Jahrhundert, genauer: im Jahre 1928, und zwar mit der Gründung der politischen Bewegung der Muslimbrüder in Ägypten,30 deren Bewegung als »eine Gegenreaktion in Gestalt einer Gegen-Reformation«31 zu betrachten sei. Der Islamismus – und nicht der Islam – ist eine Reaktion gegen die innovative Denkweise, die von den aufgeklärten arabischen Intellektuellen im 19. Jahrhundert in Anlehnung an die europäische Aufklärung und die rationale arabisch-islamische Tradition eingeführt worden ist: »Und in der Tat ist diese Bewegung vieles in einem: Theologisch-juristische Reformationen, literarisch-intellektuelle Renaissance, rational-wissenschaftliche Aufklärung und politischideologisches aggiornamento.«32 Vor diesem säkularen und rationalistischen Hintergrund setzt sich der ägyptischen Philosoph Zakariya in seinem Buch Das islamische Erwachen auf der Waagschale der Vernunft33 kritisch mit dem Islamismus auseinander. Er stellt die essentialistische These eines authentischen Islam sowie die Besonderheit der islamischen Kultur in Frage und zielt damit auf eine ›Entsakralisierung‹ der islamischen Geschichte. Gegen eine geschlossene Identität argumentierend, plädiert er für eine Neubegründung des Universalismus, Philosophische Wege zu Recht und Ethik | 177

ohne jedoch dabei den Universalitätsanspruch vieler europäischer Philosophen nachzuahmen. Für die Debatte um das Rechtssystem scheint es mir wichtig zu sein, daran zu erinnern, dass die Entstehung der islamistischen Bewegungen mit zwei Ereignissen in der arabisch-islamischen Kultur des 20. Jahrhunderts zusammenhängt, einem sozial-politischen und einem kulturell-philosophischen. Das erste betrifft die von Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1924 angeordnete Abschaffung des muslimischen Kalifats und des damit verbundenen Rechtssystems; das andere hängt eng mit dem Buch von A. Abd ar-Raziq (1888–1966) Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft (1925)34 zusammen. In diesem wichtigen Buch zeigt der ägyptische Gelehrte, dass und warum die Idee des Kalifats und des damit verbundenen Rechtssystems der ›sharia‹ nicht mehr relevant sind. Seine Hauptthese lautet: Das Herrschaftssystem und die religiöse Botschaft sind im Islam längst von einander getrennt; die Institution des Kalifats ist heutzutage überflüssig; der Islam verkündigt die Botschaft Gottes und bietet kein politisches Herrschaftssystem an; er ist eine Religion und kein Staat.35 Aus der historischen, theologischen und philosophischen Argumentation von Abd ar-Raziq geht hervor, dass die Muslime das Rechtssystem der europäischen Aufklärung für sich zu adaptieren haben. Ähnlich wie Zakariya steht al-Azm sowohl in der europäischen Tradition der Aufklärung als auch in der rationalistischen Erneuerungsströmung des arabischen Denkens seit dem 19. Jahrhundert. Für ihn sind die Islamisten die ersten Gegner der beiden Aufklärungstraditionen, denn, so schreibt er, »die religiöse Gegenreaktion verstand sich selbst ihrem Wesen nach, wenn auch nicht formal, als eine Gegenreformation, eine Antirenaissance, Antiaufklärung, Antimoderne, alles zugleich und auf einmal«.36 Ferner umfasst al-Azms Verständnis des Islam sowohl eine ethische als auch juristische Dimension. Damit ist vor allem gemeint, dass der Islam den Gläubigen ein Wertesystem (Ethik) und ein juristisches Normensystem (Jurisprudenz) anbietet, um das Handeln der Menschen zu regeln. Nach al-Azm entsteht die Schwierigkeit erst, wenn man den Islam bzw. den Islamismus mit den Normen des säkularen Humanismus konfrontiert. Er behandelt das Verhältnis von ›muslimischen 178 | sarhan dhouib

Werten‹ und Menschenrechten unter dem Gesichtspunkt ›Islam und säkularer Humanismus‹.37 Zum säkular-humanistischen Paradigma gehören laut al-Azm Bürgerrechte, bürgerliche Freiheiten, Demokratie, Meinungsfreiheit, Zivilgesellschaft, die Trennung von Staat und Religion, also Werte und Normen, die vor allem auf die europäische Aufklärung zurückzuführen sind.38 Obwohl die genannten positiven Rechte im Kontext der europäischen Moderne entstanden sind, wird ihnen zunehmend eine universelle normative Dimension zugeschrieben. Daran, dass diese Normen inzwischen eine universelle Dimension erlangt haben, besteht für al-Azm kein Zweifel. Denn »heute handelt es sich um Vorstellungen und Prinzipien, die für alle Menschen gelten und das normative Paradigma darstellen, wann immer es um Bürger und ihre Rechte, um Menschenwürde, Demokratie, Zivilgesellschaft, Rechenschaftspflicht der Regierung etc. geht«.39 Allerdings ist in diesem Zusammenhang Folgendes anzumerken: Im Vergleich zu den ersten arabischen Liberalen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – wie z. B. S. Shumayyil (1850–1917) und S. Moussa (1887–1958) – betrachten al-Azm, Arkoun und Zakariya – um nur einige Denker zu nennen – die europäische Aufklärung, innerhalb derer das Menschenrechtsparadigma entstanden ist, als ein dynamisches System und als unvollendetes Projekt: Es geht al-Azm also nicht um eine mechanische Übernahme des Menschenrechtsparadigmas und um die blinde Nachahmung der europäischen Aufklärung, sondern um eine produktive Teilhabe am ›säkular-humanistischen Modell‹, innerhalb dessen das Recht als »Allgemeingut«40 zu betrachten sei. Das Rechtssystem sei nicht statisch aufzufassen; vielmehr sei es als ein unvollendetes System zu definieren, das ständig der Verbesserung bedürfe und für Verbesserung offen sei. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Debatte um das Rechtssystem bzw. um die Menschenrechte nicht auf das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Westen, zwischen Europa und dem Nahen Osten, zwischen Orient und Okzident reduzieren. Überall, wo es um den Menschen geht, finden innergesellschaftliche, politische und philosophische Diskussionen über die Menschenrechte statt. Die Entwicklung des säkular-humanistischen Modells »hat sich über Jahrhunderte hingezogen, sie war schmerzhaft, langwierig und voller Unvollkommenheiten. Der Preis war hoch: Kriege, Philosophische Wege zu Recht und Ethik | 179

Revolutionen, große persönliche Opfer und viel menschliches Leid. Gerade darum müssen wir dieses Gut verteidigen, weiterentwickeln und seinen Geltungsbereich ausdehnen, zusammen mit all den anderen menschlichen Gütern, die wir kennen und die uns selbstverständlich geworden sind.«41 Al-Azms humanistische Auffassung, die eher rechtsphilosophisch orientiert ist, stellt nur einen Aspekt der Humanismusdebatte im arabisch-islamischen Kulturraum dar. Im Unterschied zu seiner Auffassung wendet sich Arkoun an die klassische arabisch-islamische Tradition der ›adab‹ – die feine Bildung im Sinne von ›humanitas‹ – und versucht sie im heutigen Kontext zu aktualisieren, um dem Zusammenleben der Menschen eine ethische Dimension zuzuschreiben.42 Somit scheint die Idee des Zusammenlebens der Menschen, wie sie in Anlehnung an Arkoun etwa von F. Triki (geb. 1947)43 und M. Turki (geb. 1945)44 vertreten wird, nicht nur vom Recht und der ständigen Suche nach Verrechtlichung geprägt zu sein, sondern auch von einer Ethik und Ästhetik, von einer ›Poiesis‹ des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen.

5. Islam versus Menschenrechte? Auf die Frage, ob der Islam mit Menschenrechten vereinbar sei, antwortet al-Azm sehr differenziert: Die erste Antwort besteht in einem deutlichen ›Nein‹: »Der Islam als ein geschlossenes System ewiger, zeitlos gültiger Prinzipien ist natürlich mit nichts anderem als mit sich selbst vereinbar. So gesehen muß der Islam jedwedem Säkularismus und Humanismus widerstehen, sie ablehnen und auf den Tod bekämpfen, ebenso wie jede andere Religion, sofern er sie sub specie aeternitatis betrachtet.«45 Mit ›Islam‹ ist hier der politische Islam der Islamisten gemeint, der außerhalb der Geschichte liegt und als utopische Vorstellung anzusehen ist. Diese essentialistische Vorstellung der Islamisten nimmt die Vergangenheit des Islam, vor allem die Erfahrung des Propheten und der ersten rechtsgeleiteten Kalifen als gesellschaftliches und politisches Modell für die Zukunft. Allerdings sind innerhalb der islamistischen Bewegungen verschiedene Auffassungen vom Konzept der Menschenrechte und diverse Auseinan180 | sarhan dhouib

dersetzungen mit den Säkularisierungstendenzen zu unterscheiden, wenngleich sie allesamt in ihrem religiösen Hintergrund gefangen bleiben.46 Die zweite Antwort al-Azms ist ein deutliches ›Ja‹: »Betrachtet man den Islam aber als lebendige, dynamische, sich weiterentwikkelnde Religion, die auf unterschiedlichste Bedingungen und sich rasch veränderte politische Gegebenheiten reagierte, dann erweist er sich als durchaus kompatibel mit den großen politischen Systemen und den verschiedenen Formen gesellschaftlicher und politischer Strukturen, die die Geschichte hervorgebracht hat: Von der Monarchie zur Republik, von der Sklaverei zur Freiheit, vom Stamm zum Reich, vom Stadtstaat alter Prägung zum modernen Nationalstaat.«47 In seiner zweiten Antwort behandelt al-Azm den Islam als lebendige Kultur: Hier geht es vor allem um den historischen Islam, der entwicklungsfähig ist. In diesem Sinne schreibt er: „Um sich unter den veränderten Umständen und widersprüchlichen Bedingungen zu behaupten und zu überleben, ja zu blühen und zu gedeihen, musste der Islam elastisch und anpassungsfähig sein, immer bereit zu neuen Auslegungen, bereit, Positionen neu zu überdenken. Und deshalb komme ich zu dem Schluss, dass es nichts gibt, das den Islam prinzipiell daran hindern könnte, sich mit dem säkularen Humanismus ebenso zu arrangieren wie mit der Demokratie und Moderne.«48 An dieser Stelle stützt sich al-Azm auf historische Beispiele, um die These der Anpassungsfähigkeit des Islam an den säkularen Humanismus bzw. an das Menschenrechtsparadigma zu belegen. Es handelt sich darum, die Dynamik des historischen Islam in den Vordergrund zu rücken. Ich beschränke mich hier darauf, zwei Beispiele zu nennen: Die iranische Revolution49 und die Gemeinschaft der Muslimbrüder in Ägypten.50 Als im Iran 1979 die islamische Revolution stattgefunden hatte und die Ayatollahs an die Macht gekommen waren, führten sie weder ein islamisches Kalifat wieder ein noch errichteten sie ein Imamat. Stattdessen gründeten sie eine Republik mit allem was dazugehört: allgemeinen Wahlen, einer Verfassung, einem Parlament, einem Präsidenten usw. Alle diese Vorstellungen und Institutionen des politischen Lebens haben mit dem Islam hinsichtlich seiner Philosophische Wege zu Recht und Ethik | 181

Geschichte und seines Dogmas nichts zu tun, wohl aber mit der europäischen Moderne.51 Lange Zeit bestanden die Muslimbrüder in Ägypten darauf, den Koran als ihre Verfassung zu betrachten, auf der Notwendigkeit, das muslimische Kalifat wiederzuerrichten und die Gesetze der ›sharia‹ unmittelbar anzuwenden. Im März 2004 verkündete die Partei ein Programm zur Reform von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Darin verwarf sie explizit das Konzept eines theokratischen Staates und einer religiösen Regierung. Die beiden Beispiele zeigen laut al-Azm, dass sogar die Islamisten in einem nationalen und transnationalen Kontext ein Interesse daran haben, ihre ethischen und rechtlichen Normen zu säkularisieren. Daraus zieht er folgende Schlussfolgerung: »Was die muslimische Welt und der Islam allgemein im Augenblick mehr als alles andere brauchen, ist ein einigermaßen freies, demokratisches und säkulares Modell, das sich auf eine muslimische Gesellschaft übertragen lässt.«52 Er fährt fort: »Mit anderen Worten, wir brauchen ein glaubwürdiges, funktionierendes Gegenmodell zu den Schrekken und Deformationen des gescheiterten Taliban-Regimes, das die Amerikaner unlängst in Afghanistan hinterlassen haben.«53 Al-azm konzentriert sich offensichtlich in seiner politischen und philosophischen Argumentation auf den Islam im Allgemeinen und den Islamismus im Besonderen, ohne jedoch auf die Historien der einzelnen arabischen und muslimischen Nationalstaaten einzugehen. Daher übersieht er die unterschiedlichen positiven rechtlichen Entwicklungen in diesen Staaten und die dort bereits vollzogene Transformation des Rechts, die allerdings meist auf einer theoretischen Ebene verbleiben. Zudem erklärt er nicht, warum die säkularen Tendenzen im arabisch-islamischen Kulturraum innerhalb der Nationalstaaten auch dort nicht erfolgreich durchgesetzt wurden, wo es keine politische Aktivität von Islamisten gab.

6. Die Notwendigkeit des Rechts Es besteht für al-Azm kein Zweifel daran, dass der säkulare Humanismus, innerhalb dessen das positive Recht und der Rechtsstaat möglich geworden sind, universelle Geltung beanspruchen können. 182 | sarhan dhouib

Ein solcher Humanismus findet seinen Ausdruck in der europäischen Aufklärung und in der arabischen Renaissance des 19. Jahrhunderts und muss weiter entwickelt werden. Daher ist es möglich bzw. notwendig, den säkularen Humanismus im Kontext der aktuellen arabisch-islamischen Philosophie zu bearbeiten. In diesem Zusammenhang schlägt der tunesischen Philosoph M. A. Halouani (geb. 1947) vor, »den Humanismus-Begriff in einem allgemeinem Sinne [zu verwenden], d. h. im Sinne eines Denkens, das den Menschen als fähig betrachtet, sich allein kraft seiner rationalen Werte frei im Wissen über den Menschen, über die Natur und sogar über das Göttliche zu orientieren, und dies ohne einen notwendigen Bezug auf eine Transzendenz und sozusagen ohne Dogmatismus.«54 Es wäre problematisch, die These von al-Azm in einem eurozentrischen Sinne zu interpretieren. Denn die Möglichkeit der Anwendung des säkularen Humanismus findet ihre Berechtigung nicht nur innerhalb der europäischen, sondern auch der arabischen Geschichte. Relevant wäre es, in diesem Kontext zu zeigen, warum das Rechtsparadigma für al-Azm für die arabischen Gesellschaften »lebensnotwendig«55 ist. Er argumentiert ausgehend vom Bürgerkrieg im Libanon und im Irak. Ich werde hier nur das Beispiel des Irak-Krieges erwähnen, um die Legitimation des säkularen Humanismus bzw. des Rechtsparadigmas zu verdeutlichen. Es geht um eine Annahme, die den Bürgerkrieg im Irak vermeiden und einen Rechtsstaat mit der Teilnahme der Repräsentanten aller Religionen und ethnischen Gruppen des irakischen Volkes (Schiiten, Sunniten, Kurden, Christen, Zoroastrer, Sabeaner, Majus usw.) begründen will. Dies kann für al-Azm nur auf der Basis des positiven Rechts geschehen. Nach al-Azm sind für die Entstehung des säkularen Humanismus sechs Bedingungen entscheidend: (1) Die Muslime müssen sich ein für alle mal von sämtlichen Gesetzen und Regeln der ›sharia‹ verabschieden, die sich auf die ›ahl al-dhima‹, d. h. die geschützten, nicht-islamischen Minderheiten im Lande (vorwiegend Christen und Juden) beziehen;56 (2) die muslimischen Gemeinschaften müssen ein für alle mal die archaischen Strafen des islamischen Strafrechts abschaffen;57 (3) es muss Schluss sein mit der wiederbelebten exklusiven muslimischen Vorstellung, die Welt teile sich in das ›Haus des Islam‹ und das ›Haus des Krieges‹, es stehe das ›Haus Philosophische Wege zu Recht und Ethik | 183

des Glaubens‹ gegen das ›Haus des Unglaubens‹;58 (4) die Schiiten müssen die Idee eines Imamats als Regierungsform aufgeben;59 (5) die Schiiten, die die Mehrheit im Irak bilden, müssen anerkennen, dass Demokratie nicht nur die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, sondern zugleich den Schutz von Minderheiten einschließt;60 (6) die Stellung der Frau in der muslimischen Gesellschaft muß de iure und nicht nur de facto verändert werden.61 Die Argumentation von al-Azm richtet sich gegen die islamistische Vorstellung von Politik und Staat und zielt darauf, einen auf theoretischer Ebene begründeten demokratischen Rechtsstaat in der universellen Perspektive eines säkularen Humanismus zu ermöglichen.

7. Fazit Abschließend möchte ich die folgenden vier Punkte hervorheben: 1. Der Islam ist nicht nur eine Religion im Sinne eines Glaubens an Gott und der damit verbundenen religiösen Rituale. Der Islam umfasst auch religiös motivierte, allgemein begründete Ordnungsvorstellungen, die zum Konfliktstoff werden können, wenn sie politisiert werden. Das ist der Fall beim Islamismus. Somit prallt die islamisierte Vorstellung von Universalismus mit dem säkularen Universalismus zusammen, weil beide Weltanschauungen schwer miteinander in Einklang zu bringen sind, da jede universelle Geltung für sich beanspruchen will.62 2. Al-Azm zählt zu denjenigen arabischen Philosophen, die die Moderne als unvollendetes Projekt auffassen und die Säkularisierung als einen historischen Prozess betrachten. Darüber stimmt z. B. Halouani mit al-Azm überein: »Um es klar zu sagen: Anhand der Behandlung dieser Ideen wird deutlich, dass die Frage der Laizität weder im Westen noch im Osten im Sinne einer kompromisslosen radikalen Laizität […] gestellt wurde.«63 In dieser Perspektive sind die philosophischen Versuche von Arkoun, al-Jabri und vielen anderen Philosophen und Intellektuellen zu verstehen. 3. Die Debatte um die Menschenrechte und die Säkularisierung ist eine innergesellschaftliche Debatte in der arabisch-islamischen Kultur. Um hier nur ein Beispiel zu nennen, möchte ich darauf auf184 | sarhan dhouib

merksam machen, dass, während al-Azm den dogmatischen Islam und damit den Islamismus scharf kritisiert, Halouani die These der radikalen arabischen Linken in Frage stellt: Islamisten und radikale Linke betrachten den Islam als Ausnahme und sprechen beide von der ›islamischen Ausnahme‹.64 4. Bei der interkulturellen Philosophie geht es nicht um einen schöngeistigen Diskurs, sondern um einen Werte- und NormenKonflikt. Dabei steht die Suche nach einem Werte- und NormenKonsens als Grundlage für eine friedliche Koexistenz im Vordergrund.65 Das Rechtsparadigma bietet in diesem Sinne nur eine Möglichkeit an, die es uns gestattet, das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Kulturen zu denken; die ethische und ästhetische Dimension des Zusammenlebens darf nicht außer Acht gelassen werden.

Anmerkungen 1

Vgl. F. Triki, Zur Einführung. In: J. Poulain/ H.J. Sandkühler/ F. Triki (Hg.), Menschheit – Humanität – Menschlichkeit. Transkulturelle Perspektiven, Frankfurt/M. et al. 2009, S. 9. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. etwa U. Rudolph, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2004; M. Turki, Spricht die Philosophie auch arabisch? Reflexionen zur Bestimmung eines interkulturellen Standortes. In: H.-R. Yousefi /I. Braun/H.-J. Scheiden (Hg.), Orthafte Ortlosigkeit der Philosophie. Eine interkulturelle Orientierung, Nordhausen 2007, S. 79–94. 4 Vgl. z. B. M. Fakhry, A History of Islamic Philosophy, New York 1983; S.-H. Nasr/ O. Leaman (eds.), History of Islamic Philosophy, London 2003; Turki 2007, a. a.O. 5 Vgl. M. Rohe, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 2009, S. 21–164. 6 Vgl. M. Arkoun, Der Ursprung der Menschenrechte aus der Sicht des Islam. In: H. Küng/K.-J. Kuschel (Hg.), Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen, München 1993, S. 57 ff. 7 Vgl. M.A. al-Jabri, The concepts of rights and justice in Arab-Islamic texts. In: S.K. Jayyusi (ed.), Human Rights in Arab Thought. A Reader, London/ New York 2009, S. 17 ff. 8 Vgl. M. Arkoun, Penser l’islam aujourd’hui, Algier 1993, S. 7. 9 Vgl. M.A. al-Jabri 2009, a. a.O., S. 18 f.; ders., Democracy, Human Rights and Law in Islamic Thought, London/New York 2009a, S. 209 ff. Philosophische Wege zu Recht und Ethik | 185

Vgl. U. Günther, Mohammed Arkoun. Ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft, Würzburg 2004, S. 265f. 11 Vgl. Al-Jabri 2009, a. a.O., S. 17 f.; ders., 2009a, a. a.O., S. 209 ff.; Arkoun 1993, a. a.O., S. 55–64; ders., Der Islam. Annäherung an eine Religion, Heidelberg 1999, S. 211–219. 12 Vgl. z. B. s. al-Kaylani, Concepts of human rights in Islamic doctrines (Sunnis, Shi´ites, Isma`ilis, Qarmatians, Mu`tazilis, Sufis, Wahhabis). In: Jayyusi 2009, a. a.O., S. 183–228; R. al-Sayyid, The question of human rights in contemporary Islamic thought. In: Jayyusi 2009, a. a.O., S. 253–273. 13 Vgl. Arkoun 1993, a. a.O., S. 55; ders., 1999, a. a.O., S. 210 ff. 14 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn/Berlin 2004, S. 549. 15 Vgl. B. Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München/ Zürich 1994, S. 27f. 16 Zur arabischen Reformbewegung vgl. A. Hourani, Arabic thought in the liberal age, 1798–1939, Cambridge et al. 1995. 17 Vgl. F. Mermier, Sadik Jalal al-Azm ou la pensée en bataille. In: S.J. alAzm, Ces interdits qui nous hantent. Islam, Censure, Orientalisme, Marseille 2008, S. 7–14. 18 Vgl. S.J. al-Azm, An-naqd athati ba cda al-hazima [Die Selbstkritik nach der Niederlage], Beirut 1968. 19 Vgl. S.J. al-Azm, Naqd al-fikr ad-dini [Kritik des religiösen Denkens], Beirut 1969. Zur heft igen Debatte, die al-Azms Kritiken verursacht haben vgl. S. Wild, Gott und Mensch im Libanon. Die Aff äre Sadiq al-cAzm. In: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients, Jg. 1972, Bd. 48, S. 206–253. 20 Al-Azm 1968, a. a.O., S. 7 (Übers. des Vf.). 21 Damit sind die folgenden Schriften gemeint: Takwin al- caql al- carabī [Die Genese der arabischen Vernunft], Beirut et al. 1984; Bunyat al- caql alc arabī [Die Struktur der arabischen Vernunft], Beirut et al. 1986; Al- c aql assiyāsī al-carabī [Die politische arabische Vernunft], Beirut et al. 1990 und Alc aql al-ahlāqī al- c arabī [Die moralische arabische Vernunft], Beirut et al. 2001. 22 Vgl. M.A. Al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, Berlin 2009; S. Dhouib, Zur Kritik der Kultur in der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Jg. 2008, H. 1, S. 60 ff. 23 Vgl. M. Arkoun, Pour une critique de la raison islamique, Paris 1984. 24 Vgl. Günther 2004, a. a.O., S. 194–202. 25 Vgl. Al-Azm, Islam und säkularer Humanismus, Tübingen 2005. 26 Vgl. ebd., S. 11. 27 Vgl. M. Arkoun, Pratique et garanties des droits de l´homme dans le 10

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monde islamique. In: A. Marc (Hg.), Islam et droits de l´homme, Paris 2007, S. 49–56; ders., 1993, 1999. 28 Vgl. F. Zakariya, Laïcité ou islamisme. Les arabes à l´heure du choix, Paris/Kairo 1991. 29 Vgl. S.J. al-Azm, Wider den fundamentalistischen Ungeist. In: M. Lüders (Hg.) Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, München 1992, S. 246–260; S.J. al-Azm, Islamischer Fundamentalismus – Neubewertet. In: Ders., Unbehagene in der Moderne. Aufklärung im Islam, Frankfurt/M. 1993, S. 77 ff. 30 Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Islamismus vgl. z. B. U. Steinbach, Flucht in die Geschichte? Zur Genesis und Wirkung islamistischer Strömungen. In: Lüders 1992, a. a.O., S. 76–93. 31 Al-Azm 2005, a. a.O., S. 25. 32 Ebd., S. 23. 33 Vgl. F. Zakariya, al-Sahwa al-islamiyya fi mizan al- caql [Das islamische Erwachen auf der Waagschale der Vernunft], Kairo 1989. Das erste Kapitel dieser Essaysammlung ist unter dem Titel Säkularisierung – eine historische Notwendigkeit ins Deutsche übersetzt worden (vgl. Lüders 1992, a. a.O., S. 228–241). Eine französische Übersetzung der ersten vier Kapitel derselben Essaysammlung ist im Sammelband Laïcité ou islamisme. Les arabes à l´heure du choix erschienen (vgl. Zakariya 1991, a. a.O., S. 13–98). 34 Vgl. A. Abd ar-Raziq, Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft, Frankfurt/M. et al. 2010. Vgl. A. Meier, Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994, S. 101–114. Diese Arbeit bietet eine kurze Darstellung der Schrift von Abd ar-Raziq und ihrer Einbettung in historische und intellektuelle Kontexte. 35 Vgl. Abd ar-Raziq 2010, a. a.O., Kap. 2. 36 Al-Azm 2005, a. a.O., S. 27. 37 Ebd., S. 11 ff. 38 Vgl., ebd., S. 11. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 13. 41 Ebd., S. 15. 42 Vgl. M. Arkoun, L´humanisme arabe au IVe/Xe siècle: Miskawayh, philosophe et historien, Paris 1970. 43 Vgl. F. Triki, Philosopher le vivre ensemble, Tunis 1998; ders., Raisonnabilité et vivre-ensemble. In: H.J. Sandkühler/ F. Triki (Hg.), Die Aufgabe der Philosophie in der transkulturellen Welt. La tâche de la philosophie dans le monde transculturel, Frankfurt/M. 2002, S. 25–38; ders., Die Gastfreundschaft und die Ästhetik des Zusammenlebens. In: Ch. Wulf/ J. Poulain/ F. Triki (Hg.), Die Künste im Dialog der Kulturen. Europa und seine muslimischen Nachbarn, Berlin 2007, S. 263–272. Philosophische Wege zu Recht und Ethik | 187

Vgl. M. Turki, Humanismus und Interkulturalität. Ansätze zu einer Neubetrachtung des Menschen im Zeitalter der Globalisierung, Leipzig 2010, S. 78– 115. 45 Al-Azm 2005, a. a.O., S. 31. 46 Vgl. H. Bielefeldt, Muslimische Stimmen in der Menschenrechtsdebatte. In: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Menschenrechte im Streit zwischen Kulturpluralismus und Universalität, Frankfurt/M. 2000, S. 89–99; G. Krämer, Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999. 47 Al-Azm 2005, a. a.O., S. 31f. 48 Ebd. 49 Vgl. ebd., S. 35 ff. 50 Vgl. ebd., S. 39 ff. 51 Vgl. ebd., S. 35 f. 52 Ebd., S. 45. 53 Ebd. 54 M.A. Halouani, Laizität, Säkularisierung und Humanismus. In: J. Poulain/ H.J. Sandkühler/ F. Triki (Hg.), Menschheit – Humanität – Menschlichkeit. Transkulturelle Perspektiven, Frankfurt/M. et al. 2009, S. 157. 55 Al-Azm 2005, a. a.O., S. 53. 56 Vgl. ebd., S. 57. 57 Vgl. ebd., S. 59. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd., S. 61. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. Tibi 1994, a. a.O., S. 9. 63 Halouani 2009, a. a.O., S. 164. 64 Vgl. ebd., S. 164f. In diesem Zusammenhang setzt sich Halouani mit dem Buch von H. Redissi L´exception islamique, Paris 2004, auseinander. 65 Vgl. Tibi 1994, a. a.O., S. 21. 44

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Autorinnen und Autoren Heiner Bielefeldt, Studium der Philosophie, kath. Theologie und Geschichte in Bonn und Tübingen. Seit 1991 regelmäßige akademische Lehrtätigkeit in unterschiedlichen Fachbereichen (vor allem Rechtswissenschaften, Philosophie, Pädagogik) an den Universitäten Mannheim, Heidelberg, Toronto, Bielefeld und Bremen. Von 2003 bis 2009 Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Berlin). Seit September 2009 Inhaber des neu gegründeten Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlanngen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Ideengeschichte, politischer Ethik und v.a. Theorie und Praxis der Menschenrechte. Veröffentlichungen u. a.: Philosophie der Menschenrechte (1998), Muslime im säkularen Rechtsstaat (2003), Symbolic Representation in Kant’s Practical Philosophy (2003), Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft (2007). Dagmar Borchers, Studium der Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten München, Hamburg und Bremen. Promotion 2001 an der Universität Bayreuth. 2004–2009 Juniorprof. für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen. Habilitation 2009 an der Universität Bayreuth, seit 2009 Prof. für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Moralphilosophie, Angewandte Ethik, Politische Philosophie und Wissenschaftstheorie. Veröffentlichungen u. a.: Schritt zurück im Zorn? Die Diskussion um die neue Tugendethik in der Analytischen Philosophie (2001); Der ethisch vertretbare Tierversuch. Kriterien und Grenzen (Hg. mit Jörg Luy, 2009). Sarhan Dhouib, Studium der Philosophie an der Universität Sfax (Tunesien), Paris (Sorbonne) und Bremen. 1996–2002 Lehrer und Ausbildungslehrer für Philosophie in Tunesien; 2008–2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Seit Januar 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Arabisch-islamische Philosophie, Interkulturelle Philo| 189

sophie, Menschenrechtsdiskurse, Kant und der Deutsche Idealismus. Veröffentlichungen u. a.: Zur Kritik der Kultur in der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie. Heft 1 (2008), Islam und Philosophie. In: H.J. Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie (2010), Système et identité chez F. W. J. Schelling. 1794–1802 (2010). Jean-François Kervégan, Studium der Philosophie an der Ecole Normale Supérieure de Saint-Cloud und an der Université Paris 1. Agrégation de philosophie (1975). Habilitation (»doctorat d’Etat«) 1990 an der Université Lyon 3. Prof. An der Université de Cergy-Pontoise (1992–1999) und an der Université Paris 1/ Panthéon-Sorbonne (1999–). Seit 2007 »senior fellow« des Institut Universitaire de France (Lehrstuhl für normative Philosophie). Veröffentlichungen u. a.: Hegel, Carl Schmitt. Le politique entre spéculation et positivité (1992, 22005); Hegel (2005); L’effectif et le rationnel (2008). Georg Lohmann, Studium der Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft an den Universitäten in Bochum, Frankfurt, München, Heidelberg und London (LSE); Promotion 1986 an der FU Berlin; seit 1996 Prof. für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg; Mitglied der dortigen »Arbeitsstelle Menschenrechte«. Forschungsschwerpunkte: Moralphilosophie, angewandte Ethik, Sozialphilosophie, politische Philosophie und Kulturphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Philosophie der Menschenrechte (Hg. mit St. Gosepath, 32002); Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, (Hg. mit K. P. Fritzsche, 2000); Demokratische Zivilgesellschaft und Bürgertugenden in Ost und West (2003); Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen (Hg. mit Günter Nooke, Gerhard Wahlers, 2008). Georg Mohr, Studium der Philosophie, ev. Theologie und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Bonn, Genf und Neuchâtel. 1989 Promotion an der Université de Neuchâtel, 1994 Habilitation an der Universität Münster. 1995–1997 Gastprof. für Philosophie und Pädagogik an der Humboldt-Universität Berlin; seit 1997/98 Prof. für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Moralphilosophie/Ethik, Philosophie des Geistes, Musikphilosophie, Immanuel Kant. Veröffentlichungen u. a.: Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant (1991), Kants Grundlegung der kritischen Philosophie (2004), Subjektivität 190 | Autorinnen und Autoren

und Anerkennung (Hg. mit B. Merker u. M. Quante, 2004), German Idealism. An Anthology and Guide (Hg. mit B. O’Connor, 2006). Herlinde Pauer-Studer, Studium der Philosophie an den Universitäten Salzburg und Toronto. Forschungsaufenthalte an der University of California, Irvine, der Harvard University (1997/98 Fellow am E. J. Safra Foundation Center of Ethics) und der New York University. Seit 1997 A.o. Univ.Prof., seit 2010 o. Univ.Prof. an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Ethik und Politische Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: Das Andere der Gerechtigkeit (1996); Autonom Leben (2000); Einführung in die Ethik (2003); Kommentar zu David Hume: Über Moral (2007). Hans Jörg Sandkühler, Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft an den Universitäten Innsbruck, Münster und Paris (Sorbonne). Promotion 1967 in Münster; Habilitation 1971 in Gießen. 1971–1974 Prof. in Gießen; 1974–2005 Prof. für Philosophie in Bremen. Seit 2003 Leiter der Deutschen Abt. ›Menschenrechte und Kulturen‹ des europ. UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris). Forschungsschwerpunkte: Epistemologie und Wissenschaftsphilosophie, Rechts- und Staatstheorie. Veröffentlichungen u. a.: Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen (Hg., 2007), Menschenrechte in die Zukunft denken. 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Hg., 2009), Enzyklopädie Philosophie (Hg., 2. Aufl. in 3 Bdn., 2010). Dietmar von der Pfordten, Studium der Philosophie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft in München, Tübingen und London. 1991 Promotion zum Dr. jur. in München. 1993 Wiss. Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen. 1994 Promotion zum Dr. phil. in München. 1996/97 Gastwissenschaftler an der Harvard University. 1998 Habilitation für Philosophie an der Universität Göttingen. 1999 o. Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Erfurt. 2002 o. Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Göttingen. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Erfurt. Veröffentlichungen u. a.: Deskription, Evaluation, Präskription (1993), Ökologische Ethik (1996), Rechtsethik (2001), Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant (2009), Normative Ethik (2010).

Autorinnen und Autoren | 191

Namenregister Abd ar-Raziq, A. 178 al-Azm, S.J. 172, 175 f., 178 ff. al-Jabri, M.A. 173, 175 f. Alexy, R. 21, 69, 143 Arendt, H. 74, 115 Aristoteles 35, 37 Arkoun, M. 173, 175–177, 179 f. Bentham, J. 52, 56 Birnbacher, D. 88 f., 94–96, 100 Böckenförde E.-W. 169 Brandt, R.B. 89 f., 94, 97–99 Cicero 36 Constant, B. 67 f. Denninger, E. 28 Depenheuer, O. 129 Dürig, G. 27 Dworkin, R. 49–51 Feinberg, J. 16 f., 52–58 Fichte, J.G. 36, 72 Fuller, L. 53 Gähde, U. 83 Gibbard, A. 87 Gosepath, S. 11, 69 Grotius, H. 164 Günther, K. 148 Habermas, J. 20, 22 f., 26, 51 Halouani, M.A. 183–185 Hare, R. 97 Harsanyi, J. 90, 97, 99 Hart, H.L.A. 19, 49, 51, 53 Hartmann, N. 37 Hegel, G.W.F. 36 Heller, H. 19 Herdegen, M. 27 Hobbes, Th. 153 Hohfeld, W. 44, 93 Horster, D. 16

Hume, D. 153 Kant, I. 25, 36, 38, 43, 68, 77, 139, 152 Kelsen, H. 13, 17, 19 Kervégan, J.-F. 20 Lincoln, A. 148 Mackie, J.L. 137 Marshall, T.H. 146 Marx, K. 120 Merkel, R. 98 Mill, J.S. 82, 89 Mohr, G. 25, 84, 86, 91 f., 100 Moller Okin, S. 158 Moore, G.E. 37 Nida-Rümelin, J. 111 Osiel, M. 160 Pico della Mirandola 107 Platon 34, 38 Radbruch, G. 12 f., 19, 53 Scheler, M. 37 Schmitt, C. 129 Sen, A. 70, 83 Shklar, J. 160 f., 169 Sidgwick, H. 37 Singer, P. 87 Spinoza 36 Sumner, L.W. 57 Thomas v. Aquin 42 Thomson, J.J. 97 Triki, F. 180 Tugendhat, E. 11, 65 f., 92 Turki, M. 180 Wenat, L. 81 Wesel, U. 13 Willoweit, D. 123 Wolff, Chr. 38 Zakariya, F. 177–179