Im Dialog mit den Dingen: Perspektiven und Potentiale ästhetischer Bildung 9783839463178

Das Interesse an den Dingen, die uns im Alltag umgeben und begleiten, ist seit dem Material Turn in den Geisteswissensch

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Im Dialog mit den Dingen: Perspektiven und Potentiale ästhetischer Bildung
 9783839463178

Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
Interdisziplinäre Perspektiven auf Dinge in der ästhetischen Bildung
Künstlerische Abschlussarbeit: Unendlicher Spaß
Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung
Gegenwärtig, aber ungenau
Von unsichtbaren Seiten der Dinge
»Lernen, mit dem Körper Dinge zu sagen«
Dingbezogene Assoziations- und Erfahrungsräume
Künstlerische Abschlussarbeit: #Licht #Schatten
»Ich fand, das sah auch schon sehr wie ein Segel aus.«
Die Suche nach dem Klang der Dinge
Einer Spinne den Weg bahnen
Schläft ein Lied in allen Dingen…
Collagen
Nicht mit rechten Dingen…: Irritationen und Variationen
Fremd-Körper
Da muss man doch weiterdenken – über Nahe-Gelegtes, Texte und liminale Wirklichkeitszustände
Performatives Summen
Postdigitale Umgangsweisen mit Musik: Aspekte musikalischer Materialität am Beispiel von »The Star-Spangled Banner«
Verlassene Dinge und verwaiste Orte
Künstlerische Abschlussarbeit: Das Herrenhaus
Suchen – Finden – Eintauchen – Erkennen
Das Schweigen der Dinge
Grüße zum Schluss
Autorinnen und Autoren

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Heike Thienenkamp, Johannes Voit (Hg.) Im Dialog mit den Dingen

Einzelveröffentlichungen Kulturwissenschaften

Festschrift für Petra Kathke

Heike Thienenkamp (Dr.) ist an der Universität Bielefeld als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Kunst des Faches Kunst- und Musikpädagogik tätig. Ein Fokus ihres Forschungs- und Lehrinteresses liegt im Bereich der ästhetischen Bildung sowie auf der Beschäftigung mit den Beziehungen zwischen Naturwissenschaften und Kunst. Johannes Voit (Prof. Dr.) ist Professor für Musikpädagogik an der Universität Bielefeld. Zuvor war er als Musiker, Musikvermittler (unter anderem für die Kölner Philharmonie) und Juniorprofessor für Musikvermittlung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Vermittlungsprojekte an der Schnittstelle von Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Gruppenkompositionsprozesse im Musikunterricht.

Heike Thienenkamp, Johannes Voit (Hg.)

Im Dialog mit den Dingen Perspektiven und Potentiale ästhetischer Bildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einer Collage von Rolf Fässer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6317-4 PDF-ISBN 978-3-8394-6317-8 https://doi.org/10.14361/9783839463178 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung Heike Thienenkamp und Johannes Voit .............................................. 9

Interdisziplinäre Perspektiven auf Dinge in der ästhetischen Bildung Künstlerische Abschlussarbeit: Unendlicher Spaß Knut Kittler ......................................................................... 17

Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung Constanze Rora ..................................................................... 19

Gegenwärtig, aber ungenau Lutz Schäfer und Katrin Höhne ..................................................... 35

Von unsichtbaren Seiten der Dinge Vorderseiten & Rückseiten – Überlegungen mit ein wenig Kunstpädagogik Manfred Blohm ..................................................................... 49

»Lernen, mit dem Körper Dinge zu sagen« Künstlerisch-ästhetische Forschung mit dem Körper: Ein Gespräch mit Gregor Zöllig Uta Czyrnick-Leber................................................................. 63

Dingbezogene Assoziations- und Erfahrungsräume Künstlerische Abschlussarbeit: #Licht #Schatten Sina Schwarma .................................................................... 83

»Ich fand, das sah auch schon sehr wie ein Segel aus.« Qualitative Studie zu malerischen Ausdeutungen selbstkonstruierter Objekte im Kunstunterricht Carolin Ehring...................................................................... 85

Die Suche nach dem Klang der Dinge Strategien der Verklanglichung von Assoziationen in Kompositionsprozessen von Schüler*innen Lukas Janczik .................................................................... 109

Einer Spinne den Weg bahnen Essay Christina Griebel .................................................................. 129

Schläft ein Lied in allen Dingen… Collagen Rolf Fässer........................................................................ 143

Nicht mit rechten Dingen…: Irritationen und Variationen Fremd-Körper Andrea Schrottenloher ............................................................ 149

Da muss man doch weiterdenken – über Nahe-Gelegtes, Texte und liminale Wirklichkeitszustände Ein Intermezzo in einem Buch Notburga Karl ...................................................................... 151

Performatives Summen Gedanken zur Videoperformance The dance of the receptors (art video 2021) des Künstlers BBB Johannes Deimling Marie-Luise Lange ................................................................ 169

Postdigitale Umgangsweisen mit Musik: Aspekte musikalischer Materialität am Beispiel von »The Star-Spangled Banner« Grundannahmen zur Materialität von Musik Markus Büring und Andreas Heye .................................................. 185

Verlassene Dinge und verwaiste Orte Künstlerische Abschlussarbeit: Das Herrenhaus Marlon Roth ....................................................................... 207

Suchen – Finden – Eintauchen – Erkennen Gedanken zu künstlerischem Arbeiten als Forschungspraxis Heike Thienenkamp ............................................................... 209

Das Schweigen der Dinge Vom ästhetischen Bildungspotential verlassener Orte Johannes Voit..................................................................... 225

Grüße zum Schluss Sabine Falkenhagen ............................................................... 245

Autorinnen und Autoren..................................................... 247

Einleitung Heike Thienenkamp und Johannes Voit

Den uns tagtäglich umgebenden sicht- und berührbaren Dingen, seien es »von Menschen geschaffene Sachen, sprich Artefakte« oder »naturgegebene Dinge« (Hahn, Eggert & Samida 2014: 2), sind »vielfältige wirk- und eigenmächtige, zu vielfältigen sozialen Interaktionen fähige Qualitäten« (Pöpper 2015: 28) zu eigen. Sie sind »ein wesentlicher Teil unserer Existenz und damit zugleich ein Indikator dessen, was wir sind« (Hahn, Eggert & Samida 2014: 1). Der erkenntnistheoretische Wert von Dingen wurde insbesondere durch die Phänomenologie hervorgehoben: Husserls Postulat »Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen« (Husserl 2009: 10) ist Ausdruck seiner Überzeugung, dass die sinnliche Anschauung der sich uns zeigenden Dinge Ursprung der »logischen Begriffe als geltende Denkeinheiten« (ebd.) sein müssten. Nicht nur im Alltag, sondern auch in der Kunst sind die Dinge zu Hause. In der Bildenden Kunst haben sie zunächst den Status von Motiv und Werkzeug. So ist die Herstellung eines Gemäldes ohne Malutensilien ebenso wenig denkbar wie seine Präsentation ohne die für die Hängung nötigen Gerätschaften. Darüber hinaus sind die Dinge seit jeher als Bildmotiv in mehr oder weniger naturalistischen Darstellungen präsent. Im 20. Jahrhundert schließlich beanspruchen sie in Form von ›Readymades‹, ›Assemblagen‹ und ›Objets trouvés‹ selbst den Status von Kunstwerken. Auch mit Blick auf den Kunstunterricht wurde die zentrale Bedeutung von Dingen mit ihrer jeweils eigenen Materialität für das künstlerische Gestalten wiederholt betont (Kathke 2001; Kämpf-Jansen 2012; Blohm 2015). Das Spektrum der künstlerischen und didaktischen Möglichkeiten, die sich ausgehend von bestimmten Materialgruppen entwickeln lassen, hat Petra Kathke in ihrer zum Standardwerk avancierten Publikation Sinn und Eigensinn des Materials (2001) systematisch entfaltet. Auch für den Musikunterricht wurde der anregende Charakter von Dingen beschrieben, so hebt etwa Voit (2021) das Potential von Alltagsgegenständen

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Heike Thienenkamp und Johannes Voit

als Klangerzeuger in Prozessen des Musik-Erfindens mit Schüler*innen hervor. Um die Jahrtausendwende lässt sich eine Steigerung des Interesses an materiellen Kulturen in den Geisteswissenschaften konstatieren, die bisweilen als Material Turn bezeichnet wurde (Scholz 2019: 19). Im Zuge dessen erhielt auch die empirische Unterrichtsforschung in den letzten Jahren neue Impulse durch verschiedene Ansätze in der Soziologie (Praxeologie, Akteur-NetzwerkTheorie), die die »›Materialität‹ sozialer Praktiken« (Reckwitz 2003: 282) und die Rolle von Dingen als wirk- und handlungsmächtige ›Aktanten‹ in Interaktionsprozessen (Latour 2005) betonen. Inzwischen liegen erste empirische Erkenntnisse zu den vielfältigen Funktionen, die Dinge in künstlerischen Gestaltungsprozessen im Kunst- und Musikunterricht erfüllen können, vor (Heil 2015; Kranefeld, Mause & Duve 2019). Die Befunde demonstrieren die Breite und Relevanz dieses faszinierenden Forschungsfelds und führen gleichzeitig die noch zu bearbeitenden Desiderata vor Augen. Insbesondere angesichts der »dynamische[n] Vermischung von Menschen und Dingen« (Hörning 2017: 70), die sich im digitalen Kontext beobachten lässt, kommt einer Erforschung der Rolle der Dinge (nicht nur) für den Kunst- und Musikunterricht wachsende Bedeutung zu (vgl. Sachsse 2020: 74). Die vorliegende Festschrift versammelt Beiträge wichtiger Weggefährt*innen von Petra Kathke, die das eingangs umrissene und von Petra Kathke mitgeprägte Themenfeld aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Entsprechend der interdisziplinären Tradition des Fachbereichs Kunstund Musikpädagogik an der Universität Bielefeld, wo Kathke von 2011 bis 2022 lehrte, entstammen die Verfasser*innen unterschiedlichen Disziplinen (Kunst-, Musik- und Sportpädagogik) und epistemologischen Traditionen. Ergänzt werden die wissenschaftlichen Beiträge durch künstlerische Arbeiten von Rolf Fässer sowie von Studierenden und den Sekretärinnen des Fachbereichs. Weit mehr als schmückendes Beiwerk treten die Kunstwerke in einen Dialog mit den wissenschaftlichen Beiträgen und werden verschiedentlich zum Gegenstand der Reflexion.

Zu den Beiträgen Das erste Kapitel ist interdisziplinären Perspektiven auf Dinge in der ästhetischen Bildung gewidmet. Dem Kapitel vorangestellt sind Impressionen der interaktiven Rauminstallation Unendlicher Spaß des Studierenden Knut Kitt-

Einleitung

ler, die in einer Kombination aus Objekten, Fotografie und Videoinstallation die Distanz zwischen Mediennutzer*innen und Medium ironisch hinterfragt. Constanze Rora stellt in ihrem Beitrag die Frage nach der Bedeutung von Dingen und Klangobjekten für die Musik und zieht aus ihren Überlegungen Konsequenzen für die musikalisch-ästhetische Erziehung. Lutz Schäfer und Katrin Höhne arbeiten ausgehend von grundlegenden Überlegungen zur Dimension des Materials in der künstlerischen Praxis das spezifische Potential ästhetischer Umgangsweisen mit Material für künstlerische Bildungsprozesse heraus. Manfred Blohm richtet in seinem Beitrag den Blick auf die Attribute uns umgebender Dinge, die sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehen, da sie beispielsweise im Schatten liegen oder sich auf Rückseiten befinden. Er überträgt seine Überlegungen hierzu auf die Frage, welche Aspekte von Kunstpädagogik – kaum beachtet – im Schatten liegen und es wert sind, einer erneuten Betrachtung unterzogen zu werden. Uta Czyrnik-Leber stellt aus der Perspektive der Sportpädagogik Ansätze künstlerisch-ästhetischer Forschung mit dem Körper vor und entwickelt im Gespräch mit dem Tänzer und Choreografen Gregor Zöllig Möglichkeiten, das kunstpädagogische Konzept der ästhetischen Forschung für die Tanzvermittlung nutzbar zu machen. Das zweite Kapitel lenkt den Blick auf Dinge als Assoziations- und Erfahrungsräume. Es beginnt mit Eindrücken von der künstlerischen Abschlussarbeit #Licht #Schatten von Sina Schwarma, die von Assoziationen zu einer am Straßenrand gefundenen Platine inspiriert wurde. Die Studentin fand in dem Schattenriss der Platine den Ausgangspunkt für ihren Kurzfilm. In diesem entwickelt sie aus dem tiefen Schwarz heraus in einem Wechsel aus Kohlezeichnung, Auswischen des Gezeichneten und Überzeichnen eine rückwärts laufende, dichte Narration, die sich aus dem Schwarz aufbaut, sich verändert und wieder im Schwarz verschwindet.1 Carolin Ehring hat eine qualitative Studie zu Schnittstellen zwischen zwei- und dreidimensionalen Ausdrucksformen von Kindern einer fünften Klasse durchgeführt, die ein dreidimensionales Objekt aus Gesammeltem bauen und ihre Ausdeutungen der entstandenen Form malerisch zum Ausdruck bringen.

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Vgl. https ://www.youtube.com/watch?v=AnEzaT7BejQ [18.02.2022].

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Heike Thienenkamp und Johannes Voit

Lukas Janczik stellt Forschungsergebnisse zu Kompositionsprozessen im Musikunterricht vor, in denen er Strategien von Schüler*innen rekonstruiert, die ausgehend von dem Topos Kälte dingbezogene Assoziationen entwickelt und verklanglicht haben. In ihrem Essay zeichnet Christina Griebel nach, wie sich für sie, inspiriert von Petra Kathkes Lehrkonzeptionen, eine Veränderung in der Wahrnehmung von Material und im Umgang mit ihm in kunstpädagogischen Situationen ergeben hat. Schläft ein Lied in allen Dingen…: Unter dieser Überschrift finden sich Rolf Fässers künstlerische Variationen und spielerische Transformationen von Dingen in Form von Collagen aus malerischen, zeichnerischen und schriftlichen Elementen. Andrea Schrottenlohers Spiel mit den Dingen, die Petra Kathkes Alltag an der Universität Bielefeld begleiteten und die Irritation, die durch deren auf eine Architektur verweisenden Schatten entsteht, leiten das Kapitel Nicht mit rechten Dingen…: Irritationen und Variationen bildlich ein. Notburga Karl diskutiert, ausgehend von einem Fehler im System, dem Fehldruck einer Seite aus einem Band von Petra Kathkes Sinn und Eigensinn des Materials, ihren durch Kathke geprägten Paradigmenwechsel in Bezug auf ihre eigene kunstdidaktische Position. Marie-Luise Lange folgt Johannes Deimling durch seine Videoperformance The dance of the receptors und zeichnet das zu Tage tretende Verhältnis zwischen dem Körper des Künstlers und den Dingen, mit denen er agiert, nach. Markus Büring und Andreas Heye unterziehen in ihrem Beitrag ein Youtube-Video der amerikanischen Nationalhymne einer materialästhetischen Analyse, das aufgrund der irritierenden Interpretation breite mediale Aufmerksamkeit erhielt und als digitales Artefakt wiederholt Ausgangspunkt für – teils satirische – künstlerische Bearbeitungen wurde. Das letzte Kapitel ist den an verwaisten Orten zurückgelassenen und im Verschwinden begriffenen Dingen gewidmet. Dem Kapitel vorangestellt ist eine Arbeit des Studenten Marlon Roth, der das verlassene Herrenhaus Gut Oheimb zum Gegenstand einer künstlerischen Forschung machte. Heike Thienenkamp stellt, ausgehend von der Arbeit Roths, Überlegungen zu künstlerischem Arbeiten als Forschungspraxis an. Dabei arbeitet sie das

Einleitung

spezifische Potential künstlerischer Forschung für den Kunstunterricht sowie den akademischen Kontext heraus. Johannes Voit nimmt die Stille, die sich exemplarisch in Roths Dokumentation des verlassenen Herrenhauses zeigt, als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. Nach systematischen Überlegungen zu Stille als Eigenschaft von Dingen und als Zeitobjekt gibt er Einblicke in künstlerische Strategien ausgewählter Komponist*innen und Klangkünstler*innen, ehe er Möglichkeiten für die Initiierung künstlerischer Prozesse mit Jugendlichen aufzeigt. Den Schlusspunkt setzt Sabine Falkenhagen mit einer Collage aus E-MailFragmenten, die Petra Kathkes ganz eigene Art der wertschätzenden Kommunikation mit dem Sekretariat des Faches Kunst- und Musikpädagogik in den vergangenen elf Jahren spiegeln.

Literatur Blohm, Manfred (2015): Störende Beziehungen. Ästhetische Experimente mit Alltagsdingen, in: Christine Heil (Hg.), Kreative Störfälle. (Un-)gewöhnlicher Dingumgang in ästhetischen Bildungsprozessen, Hannover: fabrico, S. 73-84. Hahn, Hans Peter; Eggert, Manfred K.H. und Samida, Stefanie (2014): Einleitung: Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Stefanie Samida, Manfred K.H. Eggert und Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 1-12. Heil, Christine (Hg.) (2015): Kreative Störfälle. (Un-)gewöhnlicher Dingumgang in ästhetischen Bildungsprozessen, Hannover: fabrico. Hörning, Karl Heinz (2017): Wissen in digitalen Zeiten, in: Heidrun Allert, Michael Asmussen und Christoph Richter (Hg.), Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse, Bielefeld: transcript, S. 69-86. Husserl, Edmund (2009): Logische Untersuchungen, Bd. 2, Hamburg: Felix Meiner. Kämpf-Jansen, Helga (2012): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, 3. Auflage, Marburg: Tectum. Kathke, Petra (2001): Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte – Anregungen – Aktionen (2 Bde.), Neuwied: Luchterhand.

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Heike Thienenkamp und Johannes Voit

Kranefeld, Ulrike; Mause, Anna-Lisa und Duve, Jan (2019): Zur Materialität von Prozessen des Musik-Erfindens: Interaktionsanalytische Zugänge zur Wandelbarkeit der Dinge, in: Verena Weidner und Christian Rolle (Hg.), Praxen und Diskurse aus Sicht musikpädagogischer Forschung, Münster & New York: Waxmann, S. 35-50. Latour, Bruno (2005): Reassembling the social. An introduction to Actor-NetworkTheory, Oxford: Oxford Univ. Press. Pöpper, Thomas (2015): Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen. Ein designwissenschaftlicher Versuch über Aquamanile, Retiküle und Savonnettes (sowie »iPhones«), in: Thomas Pöpper (Hg.), Dinge im Kontext. Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin & Boston: De Gruyter, S. 15-54. Reckwitz, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, Zeitschrift für Soziologie 32 (4), S. 282301. Sachsse, Malte (2020): Musik-Erfinden im Zeichen des Kreativitätsdispositivs. Grundzüge einer sozialkritischen Lesart aktueller Begründungsdiskurse, in: Ulrike Kranefeld und Johannes Voit (Hg.), Musikunterricht im Modus des Musik-Erfindens. Fallanalytische Perspektiven, Münster: Waxmann, S. 11-42. Scholz, Jana (2019): Die Präsenz der Dinge. Anthropomorphe Artefakte in Kunst, Mode und Literatur, Bielefeld: transcript. Voit, Johannes (2021): Alles klingt! Improvisieren und komponieren mit Alltagsgegenständen, in: Heiner Gembris, Sebastian Herbst, Jonas Menze und Thomas Krettenauer (Hg.), Lebenslanges Lernen in der Musikpädagogik: Theorie & Praxis, Münster: LIT, S. 281-298.

Interdisziplinäre Perspektiven auf Dinge in der ästhetischen Bildung

Künstlerische Abschlussarbeit: Unendlicher Spaß Knut Kittler

Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung Constanze Rora

Dinge, Materialien, Artefakte – wie lässt sich materielle Dinglichkeit in Bezug auf ästhetische Bildung im Bereich der Musik thematisieren? Spielen Dinge in der Musik überhaupt eine Rolle? Musik hat ein eigenes Verhältnis zur Materialität, wie es schon Ernst Kurth in seinen musikpsychologischen Untersuchungen fasste: »Nirgends in der Welt schweift jene eigentümliche Wesenheit umher, die uns als Ton vertraut ist.« (Kurth 1990: 1) Das Material der Musik, so legt das Zitat nahe, ist nicht von dieser Welt, zumindest steht es zu der Alltagswelt in einem distanzierten Verhältnis. Zum Ton wird der Ton der Musik nicht durch seine physischen Eigenschaften, sondern durch seine Beziehung zu anderen Tönen. Diese Eigenschaft teilt er mit der Farbe in der Malerei, wie bereits Goethe bemerkt: »Beide sind allgemeine elementare Wirkungen, nach allgemeinen Gesetzen des Drängens und Zusammenstrebens, des Auf- und Abschwankens, des Hin- und Wiederwägens wirkend.« (La Motte-Haber 1990: 64) – Zugleich sind Ton und Musik unterschiedlich, indem sie »für verschiedene Sinne« (ebd.) wirken. Überlegungen zur Materialität von Musik setzen hier an, wenn sie nach wiederkehrenden, historisch verfolgbaren Motiven und Konstellationen des Zusammenklangs fragen. Dass Musik kein dinghafter Gegenstand ist, wird von musikpädagogischer Seite im Zusammenhang mit der Frage hervorgehoben, was und wie eigentlich im Fach Musik gelehrt und gelernt werden soll. Folgen wir Hermann J. Kaiser, geht es beim Musiklernen darum, das ästhetische Objekt zu vergegenwärtigen, d.h. zu lernen, Musik nachzuvollziehen. Das musikalischästhetische Objekt erweist sich dabei als nicht dinglich, sondern als prozesshaft und performativ. Dementsprechend vollzieht sich musikalisches Lernen und Lehren in Formen musikalischer Praxis (vgl. Kaiser 1989). Doch auch die musikalische Praxis ereignet sich inmitten der Dingwelt. Nicht zuletzt sind die Musikinstrumente und Klangerzeuger, derer sich in musikalischen Prak-

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tiken bedient wird, dinglicher Natur. Welche Bedeutung haben diese Dinge und der Umgang mit ihnen im Zusammenhang mit musikalischer Erfahrung und Bildung? Dieser Frage soll hier nachgegangen werden, indem Klang einerseits als ein spezifisches In-Erscheinen-Treten von Dingen bzw. der dinghaften Umwelt sowie andererseits als immaterielles Klangobjekt thematisiert wird. Hierzu bedarf es zunächst einer Erläuterung, was eigentlich mit dem In-Erscheinung-Treten von Dingen gemeint ist. Des Weiteren ist die Auffassung von Klang als Erscheinungsform von Dingen zu entfalten und zu erläutern, inwiefern Klänge als Klangobjekte mit dingunabhängigen Eigenleben aufgefasst werden können. Und schließlich soll darüber reflektiert werden, welcher Nutzen und welche Konsequenzen aus diesen Unterscheidungen für die ästhetische Erziehung in Musik entstehen.

Dinge treten in Erscheinung Im Mittelpunkt unseres Verhältnisses zu den Dingen steht unsere Bezugnahme auf sie. »Es scheint selbstverständlich bei dem, worauf man sich beziehen kann und was sich in diesem Bezug zeigt, vor allem an Dinge zu denken.« (Figal 2015: 90) Dinge sind uns unmittelbar anschaulich gegeben und dennoch wissen wir, dass sie für uns anders in Erscheinung treten können als für jemand anderes. Ist der Sessel im Hotelzimmer ein klobiges unhandliches Möbelstück, das sich kaum verrücken lässt, oder ist es ein zum Verweilen und Lesen einladender Ruhepol des Raumes? Eigenschaften und Charaktere der Dinge treten in unserer jeweiligen Bezugnahme auf sie hervor; die Dinge erscheinen für uns in bestimmter Weise. Dass sie anderen Menschen und in anderen Situationen anders erscheinen, verdeutlicht ihr Hinausgehen über ihre jeweilige Erscheinung: Sie sind nicht deckungsgleich mit dieser. Husserl macht auf die dreigliedrige Konstellation zwischen Erscheinung, Erscheinendem und dem Lebewesen, für das ein Etwas in Erscheinung tritt, aufmerksam (vgl. ebd. 2015: 90). Bei solcherart Rede von Erscheinung ist es hilfreich, nicht alle Konnotationen des Wortes mitzudenken. Der Sessel im Hotelzimmer ist kein Gespenst – wie etwa der verstorbene Mathematikprofessor, der dem Protagonisten in Heines Harzreise nachts erscheint und der während seines Beweises, dass es keine Gespenster geben kann, beiläufig eine Handvoll Würmer aus der Tasche zieht. Erscheinen und Erscheinung im phänomenologischen Sinn, um den es im Folgenden geht, meint demgegenüber, wie sich etwas für uns gibt, wie es von uns über die Sinne vergegenwärtigt

Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung

wird. Ein für unsere Wahrnehmung in Erscheinung tretendes Ding ist nicht nur von einer Geistererscheinung, sondern auch von einer Fata Morgana zu unterscheiden. Damit ist auch die Konnotation des Wortes Ding i. S. v. Angelegenheit ausgegrenzt. Wenn wir von schwierigen Dingen sprechen, die gelernt werden müssen, oder uns über den Stand der Dinge erkundigen, ist von einem metaphorischen Gebrauch des Wortes auszugehen, der hier nicht gemeint ist. Auch von dem Erscheinen in der Kunst, dem schönen Schein, unterscheidet sich das hier gemeinte Erscheinen der Dinge: Denn das Erscheinen der Kunst ist aus dem Alltag herausgehoben und irritiert; als »ästhetischer Schein« steht das Erscheinen der Kunst »in einem durchschauten Widerspruch zum tatsächlichen Sosein von Gegenständen« (Seel 2000: 106). Alltägliche Dinge sind demgegenüber das, was sie sind; allerdings sind sie das, was sie sind, nur in unserer Bezugnahme auf sie. Was aber ist die Spezifik von Dingen als Wahrnehmungsgegenständen, d.h. was tritt zutage, wenn man sie nicht ausgehend von ihrem alltäglichen Gebrauch beschreiben möchte, sondern ausgehend von ihrer sinnlichen Präsenz. Wie sind Dinge für unsere Wahrnehmung als Dinge gegenwärtig – z.B. im Unterschied zu Stoffen wie Wasser, fraktalen Gebilden wie Marmeladenklecksen oder auch Geräuschen wie das Summen von Mücken – d.h. im Unterschied zu Nicht-Dingen? Jens Soentgen, der in seinen phänomenologischen Beschreibungen diesen Fragen nachgeht, findet eine Reihe von Merkmalen, die Dinge, so wie sie unserer sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind, auszeichnen. Im Unterschied zu vielen Nicht-Dingen haben Dinge klar gegliederte Umgrenzungen, »ein Ding erscheint in Seiten« (Soentgen 1997: 46). Die Seiten verdecken einander und sie stehen in einem festen Zusammenhang, der sich darin äußert, dass sie regelhaft aufeinander folgen: Wenn ich um das Ding herumgehe oder es in der Hand drehe, verschwinden die Seiten, die ursprünglich erschienen waren, andere tauchen auf – bis schließlich die ursprünglichen wieder erscheinen. […] Es ist wohl wirklich so, daß eine Serie von Seiten, deren Abfolge keine Regel erkennen läßt, auch nicht als Ding erkannt wird: ein magisches Objekt, dessen Seiten nach Belieben »Bäumchen wechsel dich« spielen, ist kein Ding. (Ebd.: 49) Nicht zuletzt sind es »Ruhe und Ständigkeit« (ebd.), die Dinge auszeichnen. Mit dem Erscheinen eines Dinges ist somit die Erwartung verbunden, dass außer der Seite, die für den Wahrnehmenden erscheint, weitere Seiten vorhanden sind. Somit ist es mit keiner Seite identisch, sondern erst alle Seiten zusammen machen es aus. Mit dieser »Seitenhaftigkeit« (ebd.: 47) hängt

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zusammen, dass Dinge täuschen können, wie an einem roten Apfel, der auf der Rückseite wurmstichig ist, sinnfällig wird. Weil sich Dinge »von sich aus nur partiell und niemals total« (ebd.: 48) geben, wir sie also nie von allen ihren Seiten zugleich wahrnehmen können, sind sie »von ihrer Struktur her in der Lage, uns zu täuschen«: »Dinge haben etwas Hintergründiges« (ebd.). Positiv ausgedrückt lässt sich festhalten: Dinge besitzen eine Unabhängigkeit von unserer Wahrnehmung. Auch die dem Wahrnehmenden abgewandte, unsichtbare Seite gehört zu einem Ding dazu. Um diese Besonderheit wissen wir und rechnen damit, dass ein Ding für unser Gegenüber anders erscheint. Die Vorderseite des Stuhls sieht anders aus als seine Rückseite. Ich weiß das und in diesem Wissen ist enthalten, dass ich davon ausgehe, dass mein Gegenüber, der auf der anderen Seite des Stuhls steht, eine andere Ansicht von diesem hat. Klänge besitzen diese »Hintergründigkeit« nicht. Zwar können wir uns über die Ursache eines Klangs täuschen – »(v)ielleicht glauben wir das Wimmern eines Tieres zu hören, [sic!] und tatsächlich war es nur das Zischen eines Wasserkessels« (ebd.: 47) – doch wenn diese Täuschung behoben ist, zeigt sich der Klang als ganzer. Allerdings ist, wie die phänomenologische Betrachtung von Klängen Daniel Schmickings zeigt, auch die Einheit von Klängen in der Erscheinung problematisch. Zwar haben Klänge keine Seiten, die einander verdecken und die Überraschungen bereithalten können, von denen der erste Blick nichts weiß. Doch sind selbst Einzelklänge selten elementar in dem Sinne, dass sie nicht doch perzeptiv in Phasen untergliedert werden können. In der Tat spielt bei der Untergliederung auch Können, d.h. ein unterschiedliches Maß an auditiver Differenzierungsfähigkeit, eine Rolle: Viele Menschen hören einfache Klänge, wo andere bereits eine Komplexion feststellen. So hört ein trainierter Phonetiker oder Sprachlehrer den glottalen Verschlusslöselaut, wenn dieser der vokalen Materie i einer Silbe wie [o:] vorangeht. Musiker, Klavierstimmer, Orgelbauer etc. hören Obertöne, wo ein Laie nur »einen Ton« hört. (Schmicking 2003: 255) Die subtile Unterteilung, die der ungeübte Hörer an einem Klang nicht hört, stellt nicht in gleicher Weise einen Hort der Überraschung dar, wie die wurmstichige Rückseite des Apfels. Sie wird auch nicht nach einer Regel aufgedeckt wie die nacheinander betrachteten Seiten eines Dinges. Klänge haben in dieser Hinsicht eine geringere Eigenständigkeit gegenüber dem Hörer; sie sind weniger hintergründig, weil sie im Vorgang des Hörens aufzugehen scheinen. Erst eine Belehrung durch andere – durch die Geübten, die den Glottis-

Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung

schlag hören – oder durch eigene, auf Differenzierung gerichtete spezialisierte Übung, lässt das vorher Nicht-Wahrgenommene in Erscheinung treten.

Klang als eine Art und Weise, wie Dinge in Erscheinung treten Dinge werden in ihrer Räumlichkeit über den Sehsinn erfasst. »Vorderseite, Rückseite, Unterseite und Oberseite eines Dinges sind räumliche Seiten«, Geräusche hingegen bilden »akustische Erscheinungen« (Soentgen 1997: 46) und können gemeinsam mit anderen Erscheinungen, z.B. der Schwere oder des Geruchs, als modale Seiten von Dinge gelten. Die akustische Erscheinungsweise von Dingen hängt mit ihren Neigungen und Eignungen zusammen (vgl. ebd.: 56ff.). Als Neigung eines Dings gilt seine Bereitschaft zu Veränderung – z.B. haben Feuerschalen aus Metall die Neigung zu rosten. Die Neigung von Dingen hängt nicht zuletzt mit ihrem Material zusammen. Aber auch durch ihre Form entwickeln Dinge Neigungen: Beispielsweise haben Murmeln die Neigung wegzurollen. Gegenstände mit einem elektroakustischen Innenleben wie Smartphones haben die Neigung, unerwartet Klänge von sich zu geben. Wenn auch die meisten Dinge keine Neigung haben, von sich aus akustisch in Erscheinung zu treten, so unterscheiden sie sich doch in ihrer Eignung dazu: Topfdeckel eignen sich z.B. eher zur Klangerzeugung als Wolldecken. Neben ihren mit dem Sehsinn erfassbaren räumlichen Eigenschaften, die grundlegend für ihre Dinghaftigkeit sind, bieten Dinge auch Anhaltspunkte für andere Sinne. Umgekehrt können auditive Wahrnehmungen auf Dinge verweisen. Mit der Frage nach der Verbindung zwischen den Dingen und der auditiven Wahrnehmung, genauer: mit der Frage, wie die materielle Umwelt klanglich in Erscheinung tritt, beschäftigte sich der Komponist und Klangforscher Murray Schafer. Seine Forschungen können als Ausgangspunkt für das Forschungsfeld der aktuellen Soundstudies gelten und der Begriff der Soundscape hat durch ihn eine entscheidende Prägung erfahren (vgl. Hannoschöck 2009: 38; Breitsameter 2010: 15). Das Konzept Soundscape ist eine Hörgestalt, die in einer bestimmten Wahrnehmungshaltung gründet: in der auditiven Aneignung der Gesamtheit aller Schallereignisse eines Orts, Raums oder einer Landschaft, rundum und vollständig, bis auf den leisesten Laut. Eine Soundscape ist also die akustische Hülle, die den Menschen umgibt. (Breitsamer 2010: 15)

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Murray Schafers Forschungen befassen sich mit Fragen nach der klanglichen Umwelt des Menschen. Die in dieser Perspektive interessierenden Klänge sind nicht in musikalischer oder kompositorischer Absicht erfunden bzw. absichtsvoll erzeugt, sondern es handelt sich um Klänge, die in kulturellen und natürlichen Räumen vorkommen und von Hörenden vorgefunden werden. In seinem Konzept macht Schafer dabei auf die Produktivität aber auch auf die Ausweichbewegungen des Hörens selbst aufmerksam – weil sich die Menschen über die Jahrhunderte der Natur entfremden, gedeiht die Musik in den Konzertsälen; weil die industrialisierte Umwelt die Hörumwelten verlärmt, verschließen Menschen ihre Ohren gegenüber ihren alltäglichen Klangumwelten. Das Hören von Soundscapes hat historische Dimensionen, wie leicht ersichtlich ist, wenn man sich die über Jahrhunderte tradierten künstlerischen Bezugnahmen auf Wind, Vogelgesang u.ä. vergegenwärtigt. Murray Schafer gliedert die Ordnung der Dinge in frühe Soundscapes, die von den Klängen der Natur (Meer, Wind, Vulkan), den Lauten des Lebens (Vogelgesang, Insekten), des Landlebens (Weide, Jagd, Posthorn), der Städte und Großstädte (Uhrglocken, Schmiedhämmern, Kutschen) bestimmt waren und stellt ihnen die postindustriellen, von Maschinengeräuschen dominierten Soundscapes gegenüber. Während die frühen Soundscapes noch auf Einzelklänge hin durchhörbar waren, entsteht mit der industriellen Revolution »eine übermächtige Anhäufung von Lauten« (Schafer 2010: 136), die nicht mehr durchhörbar ist. In seinen Beschreibungen bzw. Sammlungen stehen die Klänge von Dingen neben denen von Lebewesen und von Naturereignissen. Die Untersuchungen Schafers zeigen, dass die Soundscapes mit der Lebensweise von Menschen in einem direkten Zusammenhang stehen. Hieraus entsteht für ihn die Hoffnung, man könne über die Verbesserung der Klänge zur Verbesserung der Welt beitragen. In seiner Betrachtungsweise drückt sich die Auffassung einer engen Beziehung zwischen der materiellen Wirklichkeit und ihren Klängen aus. Es sind Dinge, deren Gebrauch und Bearbeitung Klänge erzeugen. Schafer will bei der Beobachtung von Soundscapes im Sinne einer Akustischen Ökologie nicht stehenbleiben, sondern entwirft Perspektiven für ein Akustikdesign: Damit verständlich wird, was ich mit Akustikdesign meine, stelle man sich die Soundscape der Welt als eine große Komposition vor, die sich rings um uns herum ständig darbietet. Welche ihrer Laute wollen wir erhalten, fördern, vervielfältigen? (Ebd.: 336)

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Für die Ausbildung in Akustikdesign fordert Schafer eine Annäherung an Umweltklänge, die mimetisch genannt werden kann. Plastisch wird dies an dem von ihm gegebenen Beispiel eines australischen Komponisten, der aus Begeisterung über die Schönheit der Natur nurmehr Grillenklänge aufzeichnen und im Konzertsaal abspielen will. Schafer kritisiert jedoch, dass er über das Leben der Grillen und die Funktion ihres Gesangs nicht ausreichend geforscht habe: Ich sagte ihm: Ein Komponist schulde es den Grillen, über sie Bescheid zu wissen. Ein Handwerker wisse alles über sein Material. An diesem Punkt müsse der Komponist zum Biologen, Physiologen, ja sogar selbst zur Grille werden. Der ernsthafte Akustikdesigner muss die Umwelt, die er verändern möchte, durch und durch verstehen. (ebd.: 337f.) Das Verstehen von Soundscapes als materielle, gestaltbare Umwelt des Menschen ist nur ausgehend von dem menschlichen Maß möglich; ihre Beurteilung erfolgt durch Bezugsetzung »zu den von uns selbst erlebten und erzeugten Klängen« (ebd.: 338). Für ihr Verständnis und ihre Beurteilung bilden das menschliche Ohr und die menschliche Stimme die Orientierungspunkte. Schafer macht damit die eigene Wahrnehmung und Erfahrung zum Ausgangs- und zum Zielpunkt der Auseinandersetzung mit der akustischen Umwelt. Dies lässt sich auch an den von ihm an anderer Stelle vorgeschlagenen Hörübungen ablesen, die schon im Titel als »Übungen zum Hören und Klänge Machen« angekündigt werden (Schafer 2002). Die enge Verbindung von Hören und Machen, von rezeptiven und produktiven Zugängen könnte Anlass zu dem Missverständnis geben, es gehe um eine subjektive Vereinnahmung. Das ist damit nicht gemeint, vielmehr (durchaus in Übereinstimmung mit dem hermeneutischen Verstehensbegriff) verlangt Schafer eine die eigene Perspektivität reflektierende Annäherung an akustische Phänomene: Es geht ihm nicht um eine Messung der Klänge im physikalischen Sinne, sondern um die Vergegenwärtigung ihrer Erscheinung für den Wahrnehmenden. Es geht ihm aber auch nicht um eine Annäherung im Sinne ästhetischen Empfindens; sein Blick wendet sich nicht auf das »was sich angesichts des Ästhetischen in und an einem Menschen ereignet« (Liessmann 2009: 20), sondern auf die Gegenstandsseite. Sinnliche Präzision ist an vielen Stellen Gegenstand seiner Hörübungen – z.B. wenn er verlangt, sich das Geräusch eines an die Wand geworfenen Papierknäuels zunächst vorzustellen und diese Vorstellung dann mit dem tatsächlichen Vorgang zu vergleichen (Schafer 2002: 53).

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Klänge als dingunabhängige Klangobjekte So eng die Verbindung zwischen Umwelt und Klang im Sinne seiner ökologischen Ausrichtung bei Schafer gezogen wird und so direkt er in seiner Sammlung von Soundscapes auf Klangerzeuger und -erzeugung rekurriert (s.o.), so deutlich interessiert er sich zugleich für die Beschaffenheit der Klänge selbst. Über die Laute des Bauernhofs schreibt er: Ich erinnere mich an meine Jugend: Das erste, was mir in den Sinn kommt, ist das Stampfen von Butter. Während eine Pumpe eine halbe Stunde lang im Butterfass arbeitete, entstand eine fast unmerkliche Verwandlungen von Ton und Textur, die geschlagene Sahne wurde zu Butter. […] Es gibt noch andere Geräusche: das allgegenwärtige Gänsegeschnatter oder das Über-denBoden-Schleifen und Zuschlagen der Tür mit dem Fliegendraht, im Winter das heftige Stampfen von Stiefeln in der Diele oder das Kreischen von Schlittenkufen auf den zugeschneiten Landstraßen. In der Stille der Winternacht konnte man bei großer Kälte ein plötzliches Knacken hören, wenn ein Nagel aus einem Brett sprang. Und dann gab es noch die tiefen, lang gezogenen Töne, die immer wieder aus dem Kamin kamen, wenn die Nachtwinde sich in ihm fingen. (Schafer 2010: 99) Die Freude an der Klanggestalt ist hier noch verbunden mit der Zuordnung zu der Klangquelle. An anderer Stelle verweist er auf die Forschungen eines Kollegen aus dem World Sound Project, Howard Broomfield, der die These vertrat, dass Eisenbahngeräusche bei der Entwicklung des Jazz einen wichtigen Einflussfaktor darstellten. Während Broomfield auf die Bluenotes verwies, die »im Aufjaulen der alten Dampfpfeifen zu hören seien« (Schafer 2010: 200), weist Schafer auf »die Ähnlichkeit zwischen dem Schienenklappern und dem Schlagzeuggeräusch in Jazz und Rock« (ebd.) hin, wobei ihn besonders der mit unterschiedlichen Positionen der Radgestelle variierende Rhythmus beim Überfahren der Schwellen interessiert (s. Abb.1). Der Transformationsprozess, den die Eisenbahngeräusche hin zum musikalisch-rhythmischen Element durchlaufen haben, findet sein Pendant in Übungen, bei denen Schafer die Nachahmung von Klängen mit der Stimme vorschlägt. Dass Geräusche sich von den verursachenden Dingen lösen können und mit der Übersetzung in Stimme und Laute eine Transformation erfahren, lässt sie verfügbar werden für Gestaltungsprozesse. Klänge, die sich von ihrem Ursprung lösen in der Weise, dass sie nicht mehr mit dem Klangerzeuger identifiziert werden können, sondern als transportable unabhängige

Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung

Abb. 1: Rhythmusverschiebungen durch unterschiedliche Positionen der Radgestelle bei Eisenbahnwaggons

Quelle: Schafer 2010: 200

Klangobjekte in Erscheinung treten, sind nicht mehr modale Eigenschaften eines Dinges, sondern haben nunmehr Eigenständigkeit. In dieser Eigenständigkeit können sie als präsentatives Zeichen (vgl. Laner 2018) für das Geräusch, auf das sie sich nachahmend beziehen, stehen oder aber neue klangliche Konstellationen eingehen. Der Transformationsprozess bringt dann das vormalige Umweltgeräusch in die Nähe von musikalischem Material. Denn auch musikalisches Material ist ganz so immateriell nicht, wie es das Eingangszitat von Ernst Kurth nahelegt. Obwohl es auf den ersten Blick so scheint, als spielten materielle Dinge für den Zusammenhang musikalischer Erfahrung keine Rolle, treten bei näherer Betrachtung Klangerzeuger und Musikinstrument als Dinge hervor, die eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung musikalischen Materials bilden. Musikinstrumente sind über ihre Bauweise und ihre symbolische Bedeutung als kulturhistorische Dokumente lesbar. In ihnen sedimentieren sich musikkulturelle Räume und Entwicklungen, wie in Musikinstrumentenmuseen eindrucksvoll zu sehen ist. Instrumente bilden das Klanggewand, in dem Musik erscheint – worin sich nicht zuletzt das Interesse der Aufführungspraxis in der Alten Musik an historischen Instrumenten manifestiert. Die Frage, wie Musik zu einer anderen Zeit geklungen haben mag, und das Bemühen, historische Musik so wie sie einmal gemeint war, erklingen zu lassen, ist eine musikalisch-künstlerische Bezugnahme auf das Musikinstrument. Sie steht neben einer anderen Bezugnahme auf den Instrumentenbau: Zu allen Zeiten haben sich Komponis-

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ten für neue Klangmöglichkeiten interessiert; dafür wie Instrumente in ihren Möglichkeiten erweitert werden können oder auch dafür, welche bislang noch unerhörten klanglichen Möglichkeiten durch die Verwendung unkonventioneller Instrumente entfaltet werden können. Das Interesse Beethovens an der Modernisierung des Klaviers, Debussys Faszination von dem Instrumentarium des Gamelanorchesters oder auch Varèses Auftragskomposition Density 21,5 für die neue Platinflöte des Flötisten Georges Barrère können hier als exemplarische Beispiele gelten. Bezogen auf Letztgenanntes arbeitet Thomas Strässle die enge Verbindung der kompositorischen Anlage des Werkes mit der besonderen Materialität des aufführenden Instrumentes – auf die der Titel des Stückes anspielt – heraus, die von dem Komponisten erkundet und zur Erscheinung gebracht wird: Die Spezifik des Platinklangs zeigt sich in jeder Lage und Dynamik. Die intervallisch, artikulatorisch und dynamisch höchst kontrastive, mitunter exzessive, agogisch aber äußerst statische Partitur von Varèse zielt auf die Auslotung dieses Spektrums. (Strässle 2004: 86) Angesichts der engen Beziehung zwischen Musikinstrumenten und Komposition bzw. Interpretation erweist sich eine mögliche Auffassung des Instruments als Reservoir von noch ungeformtem, rohem Material für die Komposition als irrtümlich. Denn weder der Instrumentenklang noch die dem Instrument eigenen Skalen und Tonabstände sind neutral; vielmehr sind sie musikhistorisch determiniert. »Das rohe Material seiner kompositorischen Bearbeitung gegenüberzustellen, ist prinzipiell falsch«, betont Johannes Kreidler (2009: 24) und verweist auf die Luhmannsche Unterscheidung zwischen Medium und Form, derzufolge jedes Medium geformt sei und umgekehrt jede Form auf höherer Ebene wiederum zum Medium werde: »Das Medium Luft wird zu Tönen geformt, diese Töne sind gleicherweise Medium für die ›Form‹ der Tonleiter, diese Tonleiter ist erneut Medium der ›Form‹ Melodie und so weiter« (ebd.). Musikinstrumente sind Dinge, mit denen Töne und Klänge geformt werden; instrumental erzeugte Töne und Klänge liegen nicht vor wie materielle Stoffe, etwa Sand oder Wasser. Das zeigt sich auch darin, dass einem Instrument Klänge entlockt werden können, die außerhalb der spieltechnischen Tradition liegen – etwa wenn auf den Korpus des Cellos geklopft wird oder die Klappengeräusche der Flöte anstelle eines lufterzeugten Tons erklingen. Instrumentale Klänge sind deshalb in vergleichbarer Weise musikalisches Material wie Zitate aus anderen Werken oder eine Zuspielung von Umweltgeräuschen; es sind geformte Gebilde, die ungeachtet ihrer Material-

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funktion objekthaften Charakter haben. Die Ambivalenz zwischen Materialund Objektstatus drückt sich auch in dem Interesse zeitgenössischer Komponisten an einem Zuwachs an neuen Klängen aus, die von Kreidler in einem Atemzug als Elemente und als Kreationen bezeichnet werden: Der Klang ist, genau besehen, bisher nicht abgegrast. So wie gelegentlich noch ein neues chemisches Element im Periodensystem der Elemente entdeckt wird, überraschen Komponisten immer wieder mit neuen Kreationen, denen um so größerer ›Seltenheitswert‹ zukommt. (Kreidler 2009: 30)

Fragen und Konsequenzen aus diesen Unterscheidungen für die musikalisch-ästhetische Erziehung Nachdem Ende der 1960er Jahre aus einem Impuls gegen eine rückwärtsgewandte musische Bildung heraus von Hartmut v. Hentig die »Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung« gefordert wurde (Schneider 1988: 201), scheint heute die Stellung der sinnlichen Wahrnehmung in der Musikpädagogik unbestimmt. »Ästhetische Bildung stellt […] ein fächerübergreifendes Prinzip dar, das ästhetische Erfahrungen in der Wahrnehmung von Natur und verschiedensten Artefakten – seien es Alltagsgegenstände, Produkte populärer Kultur o.a. – einschließt« formuliert Christan Rolle 1999 in seiner immer noch maßgeblichen Arbeit zur musikalischästhetischen Bildung (Rolle 1999: 7). Weniger die Wahrnehmung scheint hier begründungsbedürftig als die ästhetische Erfahrung, die als eigentlicher Zielund Kernpunkt ästhetischer Bildung gilt. In ähnlicher Ausrichtung erläutern Dietrich et al. in ihrer »Einführung in die ästhetische Bildung« den Begriff der Ästhetik: »Ästhetik« kommt vom griechischen »aisthesis«, was so viel wie »sinnliche Wahrnehmung« bedeutet. […] Das Adjektiv »ästhetisch« bezeichnet die Art der Wahrnehmung eines Gegenstandes (der Kunst oder Natur); es dient aber auch zur Charakterisierung von Gegenständen selbst. Entsprechend wird unter »ästhetisch« nicht die alltägliche Wahrnehmung verstanden, die wir mit unseren fünf Sinnen machen. Von ästhetischer Wahrnehmung, ästhetischer Erfahrung oder auch ästhetischer Erkenntnis spricht man vielmehr in besonderen Zusammenhängen. (Dietrich et al. 2012: 16)

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Bemerkenswert ist hier die dezidierte Distanznahme zur alltäglichen Wahrnehmung mit den fünf Sinnen. Die ästhetische Perspektive drückt sich hingegen in einem über die Sinneswahrnehmung hinausgehenden Mehr aus, das in einem thematischen Werden des Wahrgenommen für das eigene Erleben liegt. Ästhetische Wahrnehmung und ästhetische Erfahrungen betreffen uns mehr und geben uns mehr zu fühlen und zu denken als alltägliche Wahrnehmungen und Erfahrungen. In dieser Weise der Abgrenzung vom Alltag stellt es auch Iris Laner in ihrer Einführung dar: »Ästhetische Erfahrungen sind Erfahrungen, die sich durch eine besondere Betonung der sinnlichen Wahrnehmung auszeichnen.« (Laner 2018: 27) In dieser »besonderen Betonung« heben sie sich ab von sinnlichen Wahrnehmungen, »die nicht als ästhetische Erfahrungen ausgewiesen sind« (ebd.). Als gemeinsamer Nenner der zitierten Aussagen lässt sich festhalten, dass eine alltägliche Form der Sinneswahrnehmung von einer ästhetischen Sphäre des Wahrnehmens und Erfahrens abgehoben wird. In der besonderen Betonung der Sinnes- und Erkenntnistätigkeit hebt sich die ästhetische Wahrnehmung von der alltäglichen ab. Im ästhetischen Hören geht es weniger um ein Identifizieren des Gehörten als um ein Verweilen bei der Klanggestalt des Gehörten (vgl. Rora 2012). Ästhetische Erziehung zielt darauf, ein solches Hören, das die eigene Empfindungs- und Umdeutungsfähigkeit aktiviert, zu kultivieren. Dagegen stellt Schafer die Verbindung zwischen Klang und klangerzeugenden Dingen in den Vordergrund. Auch in seinen Übungen geht es immer wieder um eine Auseinandersetzung, Befragung und Erforschung der Klangumwelt – und weder um das Hören noch um das Komponieren von Musik. Es fällt daher schwer, das Attribut ästhetisch in seinen von den Autorinnen der ästhetischen Erziehung entfalteten Konnotationen vor das bei ihm geforderte Hören zu setzen; zwar regen seine vielfältigen Übungen zum Verweilen bei der Klanggestalt an, aber das Empfinden der Klänge scheint deutlich weniger wichtig zu sein als deren objektive Beschaffenheit. Insbesondere gelingt es nicht, seine Übungen in das Schema der vier Dimensionen Fingerfertigkeit, Alphabetisierung, Selbstaufmerksamkeit, Sprache einzuordnen, in die Dietrich et al. das Anliegen ästhetischer Erziehung anschaulich gliedern (vgl. Dietrich et.al. 2012: 26ff.). Ich brachte in eine Klasse einmal ein japanisches Klangspiel aus Bambushölzern mit und forderte die Schüler auf, mit ihren Stimmen möglichst nahe an diesen Klang heranzukommen. Wir hörten uns das Original genau an und übten dann seine Imitation. Wir hörten wieder das Klangspiel und ver-

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suchten es noch einmal – so lange, bis wir alle Parameter dieses ziemlich eigenartigen Klangs erfasst hatten. Sie können das mit anderen Klangquellen versuchen; Wecker, Spielzeug zum Aufziehen, Kehrbesen, Kinderrassel usw. Das Wichtigste: Hören Sie sich genau ein, bleiben Sie dran und machen Sie immer wieder neue Versuche, bis Sie so nah wie möglich an den Originalklang herankommen. (Schafer 2002: 79) Die Aufgabe, ein Geräusch so lange nachzubilden, bis die Nachahmung möglichst nahe an das Original herankommt, entspricht – in den Dimensionen Dietrichs et al. gesprochen – weder dem Anliegen einer »Zuwendung zu ästhetischen Materialien« (Dietrich et al. 2012: 28) zur Steigerung der eigenen musikalischen Ausdrucksfähigkeit, noch dient es der Aneignung von »Kenntnisse(n) über ästhetische Symbolbestände« (ebd.) oder der Unterstützung von Gänsehaut-Erlebnissen. Es sensibilisiert aber für die Klanggestalt und es wendet die Methode des vokalen Nachmachens aus dem musikalischen Bereich auf einen nichtmusikalischen Gegenstand an. Damit kommt die Grenze zwischen der ästhetischen und der alltäglichen Wirklichkeit in den Blick und mit dieser auch das eigene Spiel der rezeptiven und produktiven Wahrnehmung. Ausgehend von den modalen Eigenschaften von Dingen wird der eigene Handlungsspielraum thematisch. So wie uns Dinge in ihrer Hintergründigkeit nötigen, uns mit unseren Handlungen auf sie einzustellen, Schemata zu modifizieren und uns dadurch die Freiheit des Handelns erfahren lassen, macht die Schwierigkeit, vorgefundene Geräusche in die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu integrieren, auf das Spektrum lautlicher Ausdrucksformen allererst aufmerksam. Vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der ganzen Welt des Hörbaren tritt die Möglichkeit musikalischer Gestaltung von Klängen in ihrer Spezifik deutlich hervor. Der Philosoph Günter Figal geht davon aus, dass die Unabhängigkeit der Dinge, ihre über unsere Zuschreibungen hinausgehende Freiheit, dem menschlichen Wollen einen Widerstand bietet. Dieser Widerstand der Dinge provoziert und ermöglicht menschliches Wollen als »Nichtnachlassen des durch Absicht bestimmten Handelns« (Figal 2018: 198). In vergleichbarer Dialektik bietet die Begegnung mit freien, unabhängigen Klangobjekten außerhalb musikalischer Zusammenhänge Gelegenheit, über die Entstehung von musikalischer Klanglichkeit nachzudenken und musikalischen Gestaltungsimpulsen nachzugehen.

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Literatur Breitsameter, Sabine (2010): Hörgestalt und Denkfigur – Zur Geschichte und Perspektive von R. Murray Schafers ›Die Ordnung der Klänge‹. Ein einführender Essay, in: Sabine Breitsameter (Hg.), R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz: Schott, S. 7-28. Dietrich, Cornelie; Krinninger, Dominik und Schubert, Volker (2012): Einführung in die Ästhetische Bildung, Weinheim: Beltz Juventa. Figal, Günter (2015): Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen: Mohr Siebeck. Figal, Günter (2018): Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck. Hannoschöck, Elena (2009): Soundscapes und Lärm. Zur kulturellen Wahrnehmung und Deutung von Klängen, in: VOKUS, Heft 2, 19/2009, S. 37-51. Kaiser, Hermann J. (1989): Zur Konstitution des ästhetischen Objekts. Annäherungen an einen musikbezogenen Erkenntnis-/Lernbegriff, in: Christa Nauck-Börner (Hg.), Musikpädagogik zwischen Traditionen und Medienzukunft, Laaber: Laaber-Verlag, S. 13-36. Kreidler, Johannes (2009): Zum ›Materialstand‹ der Gegenwartsmusik, in: Musik & Ästhetik 2009/52, S. 24-37. Kurth, Ernst (1990): Musikpsychologie, 2. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1931, Hildesheim u.a.: Georg Olms Verlag. La Motte-Haber, Helga de (1990): Musik und Bildende Kunst, Laaber: LaaberVerlag. Laner, Iris (2018): Ästhetische Bildung. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag. Liessmann, Konrad Paul (2009): Ästhetische Empfindungen. Eine Einführung, Wien: facultas. Rolle, Christian (1999): Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse, Kassel: Gustav Bosse. Rora, Constanze (2012): Ästhetisches Hören. Theoretische und didaktische Dimensionen auditiver Wahrnehmung in der Ästhetischen Bildung, in: Carolin Roeder (Hg.), Blechtrommeln – Kinder- und Jugendliteratur & Musik, (=Zeitschrift kjl&m 12.extra), München: kopaed, S. 46-58. Schafer, R. Murray (2002): Anstiftung zum Hören. Hundert Übungen zum Hören und Klänge Machen, Aarau: HBS Nepomuk. Schafer, R. Murray (2010): Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens (1977), hg. und übersetzt von Sabine Breitsameter, Mainz: Schott.

Dinge, Klang, Klangobjekte in der musikalisch-ästhetischen Erziehung

Schmicking, Daniel (2003): Hören und Klang. Empirisch phänomenologische Untersuchungen, Würzburg: Königshausen & Neumann. Schneider, Gerhard (1988): Zur Theorie der Ästhetischen Erziehung in der Grundschule, in: Gerhard Schneider (Hg.), Ästhetische Erziehung in der Grundschule. Argumente für ein fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip, Weinheim: Beltz, S. 201-222. Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens, Wien: Carl Hanser. Soentgen, Jens (1997): Das Unscheinbare. Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden, Berlin: Akademie Verlag. Strässle, Thomas (2004): Materialklang: Klangmaterial. Überlegungen zu einer musikwissenschaftlichen Materialforschung am Beispiel von Edgard Varèses ›Density 21.5‹, in: Musik & Ästhetik, 2004/32, S. 82-90.

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Meist erscheint uns die Welt so alltäglich, dass wir uns ihre Beschaffenheit und die zugrundeliegenden Bedeutungen nicht bewusstmachen. Dabei bewegen wir uns nahezu ausschließlich in einer vom Menschen gestalteten Umwelt, die offensichtlich auf ihn zurückwirkt, denn Räume und Dinge verlangen spezifische Verhaltensweisen. Diese in ihren Funktionen lesen zu können, ist notwendige Voraussetzung, um sich in der Welt orientieren und in ihr handeln zu können. Dabei prägt unsere Gesellschaft noch immer ein Verständnis einer objektiven Welt, die es rational zu durchdringen gilt. Entsprechend prägt die Fähigkeit, auf Basis logischer Operationen Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen, um diese zu kategorisieren und explizit zu benennen, unser Bildungssystem bis heute maßgeblich.

Künstlerische Wahrnehmung Demgegenüber steht die Offenheit der Kunst, die im Sinne Kants und der klassischen deutschen Ästhetik so verstanden wird, dass ihr das sinnlich Wahrgenommene ohne jeden praktischen Zweck der Aufmerksamkeit wert ist. Kant nennt diese Haltung »interesseloses Wohlgefallen« (Kant 2015: 962f.) und zielt darauf, dass ästhetisch Erfahrende kein auf praktische Verwertbarkeit gerichtetes Interesse am Wahrgenommenen haben. Das Fehlen eines funktionalen Bezugsrahmens kennzeichnet eine Offenheit, die es Rezipierenden unmöglich macht, eindeutige Sinnzuordnungen zu treffen. Vieldeutigkeit ist ein Wesensmerkmal der Kunst und stellt ein zentrales Kriterium des künstlerischen Gelingens dar.

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Ausstellungstitel von Richard Artschwager, Gagosian Gallery, 2002.

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Die Sonderform der Künste jenseits des Expliziten zeigt sich beim Vergleich verbaler Ausdrucksfähigkeit und bildnerischer Artikulationen. Beim kindlichen Spracherwerb ist das von der Umgebung vermittelte Maß nicht irgendeine Sprache, sondern die Sprache. Sie ist keine Erfindung des Kindes, sondern eine normative Größe, welche die interpersonale Kommunikation ermöglicht. Durch ihr Beherrschen kann das Kind gegenüber Anderen Gefühle oder Wünsche äußern, kann Andere verstehen oder informieren. So wird die Verbalsprache zu einer Grundlage der Kommunikationsfähigkeit. Wenngleich auch verbalsprachliche Äußerungen mitnichten immer eindeutig sind, ist die Orientierung beim Lernen von Wörtern und ihrer Kombinationsmöglichkeiten eine Norm, mittels derer sprachliche Repräsentationen logischer Inhalte gelesen werden können. Bildnerische Artikulationen sind hingegen nicht nur Zeichen rationaler Operationen, sondern auch Ausdruck sinnlicher Operationen, motorischer Handlungen und emotionaler Dispositionen. Die weitgehende Absenz von Regelhaftigkeit bietet ein spezifisches Potenzial. Während Verbalsprache eher als Abstraktionsleistung verstanden werden kann, durch die die unendliche Wirklichkeit in Kategorien erfasst und somit reduziert wird, ist ein Bild als Konkretion eine Erweiterung der Welt. In ihm zeigt sich eine nie endlich zu durchschauende Komplexität des menschlichen Schaffens. Wenn auch nicht explizit erfasst werden kann, was ein Bild sagt, ist unumstritten, dass es etwas sagt. Die Bildende Kunst ist ganz wesentlich durch ihren Mitteilungscharakter gekennzeichnet. Die gedanklichen Bewegungen, die sich zwischen dem Betrachter und dem Objekt vollziehen, können als Kommunikation bezeichnet werden. Die Sprache der Künste ist eine ohne bzw. mit eingeschränktem grammatikalischen Boden. Dass sie nicht an die Normen des Buchstabierens und Kombinierens von Satzbausteinen gebunden ist, öffnet auf der produktiven Ebene der ästhetischen Erfahrung einen großen Spielraum und erschwert zugleich auf der rezeptiven Ebene das Verstehen. Reinold Schmücker spricht in diesem Zusammenhang von einem »diskontinuierlichen Kommunikationsprozess«, da Kunstwerke kommunikative Zeichen »in einem ganz bestimmten Sinn« (Schmücker 1998: 283) sind: Sie repräsentieren nicht, sondern teilen etwas Bestimmtes in der eigentümlichen Weise mit, dass der, dem die Mitteilung gilt, weil er das Werk ästhetisch erfährt, lediglich mitgeteilt bekommt, dass ihm eine bestimmte Mittei-

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lung gilt, ohne dass er deren Inhalt definitiv zu bestimmen vermöchte. Eben darin, scheint mir, liegt das Wesen der Kunst. (Ebd.) Über den Inhalt des Werks kann mit Bestimmtheit nur in Erfahrung gebracht werden, dass es ihn gibt. Dem Betrachter kommt deshalb eine ganz besondere Rolle zu: Weil etwas von der oben angesprochenen Differenz zwischen imaginärem Werk und Betrachter bestehen bleibt, werden Rezipierende in Prozessen ästhetischen Erfahrens von einer inneren Suchbewegung nicht nur ergriffen, sondern bleiben darin gefangen. Die Spannung zwischen sinnlicher Erfahrung auf der einen und Sinnsuche auf der anderen Seite ist bezeichnend für solche Prozesse. Betrachtende übernehmen eine vervollständigende Rolle und sind für die Konstitution des Kunstwerks mitverantwortlich. Sie haben eine aktive und keine passive Rolle. Hier schließt sich die Frage nach den Bedingungen einer gelungenen Kommunikationsbeziehung, die nicht im Chaos verfällt oder beliebig wird, an, die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Wollen der Produzierenden und der Antwort der Rezipierenden. Wichtig bei diesem Gespräch ist, dass Ausgangs- und Zielpunkt das betrachtete Werk ist, weil die Interpretationsbemühungen sonst wahllos wären. Da nie die einzige, richtige Bedeutung des Werks herausgelesen werden kann, gilt es, die Verschiedenheiten der Bedeutungen zu thematisieren, was zur Relativierung und Vertiefung des Verständnisses der eigenen und anderer Positionen führen kann. »›Verstehen‹ heißt […] ›bedeutungsgerecht kommunizieren‹ und nicht: das vom Sprecher Gemeinte erfassen.« (Schmidt 1996: 140)

Künstlerische Praxis Bedeutungen zu konstruieren heißt nicht nur, die äußere Welt ästhetisch wahrzunehmen, d.h. zu untersuchen, aufzunehmen und zu verstehen – Bedeutung konstruieren heißt auch zu gestalten. Menschen lernen nicht nur, die Wirklichkeit zu lesen, sie entwickeln auch das Bewusstsein, dass sie etwas zu sagen haben. Auch im Gestaltungsprozess spielt der Aspekt der Freiheit eine Rolle und ermöglicht erst nicht determinierte Prozeduren. Bildnerische Artikulationen sind immer Ausdruck subjektiv empfundener Wirklichkeit. Diese Auffassung zeigt sich schon in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft aus dem Jahr 1781. Darin widerlegte er die bis dahin übliche Vorstellung der Wahrnehmung, wonach die äußeren Gegenstände an sich

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gegeben sind und vom Menschen auch als solche erkannt werden können. In Wirklichkeit aber sei es umgekehrt: Die Erkenntnis richtet sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände nach der Form der Erkenntnis. Die Dinge erscheinen nicht von selbst, sondern ihre Erscheinung wird erst vom erkennenden Subjekt produziert, weshalb Hans-Georg Gadamer auch von der »Subjektivierung der Ästhetik durch Kant« sprach (vgl. Jung 1995: 68f.). Nach diesem Verständnis lässt sich das Ästhetische eines Gegenstands eben nicht durch seine objektive Verfassung bestimmen, sondern nur durch die Aktivitäten, die ein Subjekt in Bezug auf den Gegenstand ausübt – der Modus der ästhetischen Erfahrung ist der eines subjektiven Verhaltens. Die Vorstellung, dass die menschliche Wahrnehmung dabei wie eine camera obscura funktioniert und die Augen Bilder erzeugen, welche das Gehirn anschließend kognitiv verarbeitet, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Die Ergebnisse der jüngeren Gehirnforschung weisen darauf, dass die menschliche Wahrnehmung in ihrer Struktur kein Strahl ist, der auf ein Ding geworfen wird, sondern ein aktiver Prozess, der alle Sinne – wie auch Verstand und Vernunft – umfasst. Die Hirnforschung konnte darüber hinaus die Ansicht, einzelne Teile des Gehirns seien für bestimmte Wahrnehmungsvorgänge zuständig, modifizieren und hervorheben, dass sich das Gehirn eher als Gefüge von neuronalen Netzen erweist. Wenn man bedenkt, dass mehr Nervenfasern Erregungsströme vom Gehirn zum Auge leiten als in umgekehrter Richtung, so wird die These verständlich, dass Wahrnehmen kein passiver, gleichsam abbildender Vorgang ist, sondern vielmehr eine Strukturierungsleistung des Gehirns ist. (Bering 2004: 65) An diesem komplexen Vorgang sind neben den optisch vermittelten Reizen auch die bereits gebildeten Netze der Wahrnehmenden beteiligt. Der Neurowissenschaftler Olaf Breidbach betont, dass im Gehirn stets Repräsentationen vorliegen, die sich aus früheren Erfahrungen gebildet haben. »Die Idee einer Repräsentation, in der das Konzept der Abbildung in etwas abstrakterer Form aufgenommen wurde, besagt demgegenüber, dass sich die Außenwelt im Subjekt vergegenwärtigt.« (Breidbach 2000: 3) Aus den dabei entstandenen Ordnungsmustern und -kategorien erhalten die von außen kommenden Reize eine Struktur. Das bedeutet, dass die Erfahrungen und das vorhandene Wissen, aber auch die Träume und Phantasien der wahrnehmenden Subjekte entscheidend zum Produkt des Wahrnehmungsvorgangs beitragen. Es ist nicht nur von Bedeutung, was diese sehen,

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sondern auch und vor allem, was sie damit verbinden. »Welt ist Außenwelt nach Maßgabe der Innenwelt.« (Breidbach 2000: 22) Der Bereich des Wahrnehmens und Empfindens als die subjektive Seite des individuellen Erlebens führt zu Gestaltungen, die sichtbar werden. Das Erfassen solcher Momente in Bildern trägt etwas zur Klärung der Welt bei, weil etwas vom Verhältnis zur Welt zum Ausdruck kommt. Die Schwierigkeit, menschliche Schöpfungen als solche lesen zu können, liegt auch in der unendlichen Reproduzierbarkeit vieler Produkte, deren Erscheinungsform durch die Perfektion von Form und Oberfläche gekennzeichnet ist, die keinerlei menschliche Spuren des Schaffensprozesses mehr aufweist. Die industrielle Massenproduktion überflutet unser Dasein mit Produkten und degradiert den Menschen mitunter auf seine Rolle als Konsumenten. Das »Hervorbringen von Welt als seinem eigenen Werk« (Jauß 1997: 82) auf Basis ästhetischer Erfahrungen begründet ein Bildungsverständnis, das sich in besonderer Weise an künstlerischem Denken und Handeln orientiert. Diese persönliche Dimension kennzeichnet das besondere Potenzial künstlerischen Schaffens und kommt in besonderer Weise zum Ausdruck, wenn den Handlungen keine von Dritten gestellten Aufgaben zugrunde liegen, die erfüllt werden, sondern wenn das zum Thema wird, was innerlich bewegt. Dann haben bildnerische Artikulationen eine persönliche Relevanz. Für Thomas Lehnerer ist gerade ein zentrales Merkmal eines künstlerischen Bildes, dass sich Künstler:innen ihr (»ureigenes«) Problem schaffen – das Kriterium, das Lehnerer zufolge den entscheidenden Unterschied zu anderen Bildern ausmacht (vgl. Lehnerer 1994: 29). Von diesem Problem führt aber kein linearer Weg zum Bild im Sinne eines Doppelschritts von einem Thema zu seiner Bearbeitung. Durch die Entäußerungen in Material durch Technik kommen zwei weitere Dimensionen hinzu. Die drei Dimensionen sind derart unterschiedlich, dass die Dimension Thema im Innern konstruiert werden muss, während sich die Dimensionen Technik und Material entäußern. Durch die Form sind alle drei miteinander verbunden. Das vollständige Phänomen der künstlerischen Produktion umfasst die drei integrativen Momente Inhalt, Technik und Material, wobei sie im Schaffensprozess nicht hierarchisch zu verstehen sind, sondern als ein Zusammenhang von selbstständigen Funktionen: Sie treten in ein Wechselverhältnis, bei dem es keinen idealtypischen Weg gibt. Die Auseinandersetzung mit einem Thema kann zu technischen Folgerungen führen, wie sich im Prozess der materiellen Auseinandersetzung Inhalte offenbaren können. In diesem frei-

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en Spiel liegt die besondere Qualität des künstlerischen Schaffens: erst in der (durch die) Formfindung weiß ich, was ich machen (sagen) will.

Kunstpädagogische Konflikte Dieses Zusammenspiel der drei Dimensionen des Schaffensprozesses hat auch Konsequenzen für Unterricht und Lehre und führt in kunstpädagogischen Situationen zu einem grundlegenden Konflikt: Ein Problem zu schaffen, ist in den meisten Fällen die Aufgabe der Kunstpädagog:innen. Wenngleich durch das Schaffen eines Bezugsrahmens das Feld der freien Künste verlassen wird, bleiben die Bedingungen des sinnlichen Erlebens in individuellen Auseinandersetzungsprozessen, die zu materiellen Entäußerungen führen, bestehen. Der Anspruch, subjektive Bewegungen durch äußere Rahmungen ins Spiel zu bringen, ist die anspruchsvollste kunstpädagogische Aufgabe. Wenn Lehrpersonen den Rahmen gestalten, mündet das in der Regel auch in dem Formulieren einer Aufgabe für Studierende oder Schüler:innen. Diese Aufgabe muss die Dimensionen Problem, Technik und Material festlegen, wenngleich Festlegung auch meinen kann, Dimensionen offen zu lassen. Alle drei Dimensionen erfordern spezifische Zugänge. Thematische Einstiege können einen hohen Reiz haben, doch entsteht dabei zwischen Aufgabe und den beiden anderen Dimensionen eine (mindestens) zeitliche Lücke, die überbrückt oder untertunnelt werden muss. Material und Technik als Handlungsimpuls zu wählen, bietet sichtbare Bedingungen, die für Lehrende und Lernende zunächst greifbarer sind als thematische Setzungen. Dies gilt besonders für technische Dimensionen im Gestaltungsprozess: Die Technik des Holzschnitts kann sowohl bzgl. der Bedingungen des Schnitz- wie des Druckvorgangs erläutert und anschaulich demonstriert werden. Petra Kathke stellt in ihrem prägenden Standardwerk Sinn und Eigensinn des Materials das Material in den Mittelpunkt und an den Anfang des Gestaltungsprozesses (vgl. Kathke 2019: 18ff.). Es ist präzise in seiner Erscheinung, aber offen in seiner Handhabung. Wenngleich es fassbar ist, sind materielle Auseinandersetzungen als Ausgangspunkt wenig eindeutig. Möglichkeiten und Grenzen des Materials auszuloten und sich selbst in Beziehung zu setzen, ist eine Vorgehensweise, die klar auszusprechen ist, aber im Unterschied zur Technik nicht nur einen Weg zulässt.

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Dimension Material Language matters. Discours matters. Culture matters. There is an important sense in which the only thing that doesn’t seem to matter anymore is matter. (Barad 2017: 7) Dieser Satz bezieht sich nicht auf eine ergebnisorientierte Kunstpädagogik, sondern stammt von der Physikerin Karen Barad, die sich gegen den einseitigen Anthropozentrismus der Wissenschaften wendet. Dem Material schreibt sie – wie Kathke – Eigensinn und Eigenmacht zu. Als Konsequenz dieser Einsicht folgt die Anerkennung der eigenen Grenzen, die Aufgabe von Kontrolle und planvollem Zugriff. Auf die Herausforderung, Unverfügbarkeit nicht nur als Realität, sondern als Potenzial anzunehmen, antwortet Kathke im kunstpädagogischen Kontext. Statt den Eigensinn des Materials zu brechen, dient dessen Möglichkeitsfeld zur bildsamen Erkundung. Dieser Ansatz legt einen resonanten Umgang mit der Wirklichkeit nahe (vgl. Rosa 2016). Dem Eigensinn des Materials steht dann der Eigensinn des Subjekts gegenüber. Das vieldeutige Verständnis des Wortes Sinn als Wahrnehmungsorgan, als zugeordnete Bedeutung und wertvolle Bedeutsamkeit, führt zu sinnreichen Verwicklungen. Auf den Menschen bezogen erweist sich die Frage nach Sinn und Eigensinn in und außerhalb des künstlerischen Rahmens als hoch sensibel – sie ist dem Unfassbaren auf die ein oder andere Weise brisant nah. An der Grenze der Ungewissheit öffnen sich Möglichkeiten des transformativen Potenzials ästhetischer Praxis (Laner 2018: 196). Singularität und Eigensinn werden im künstlerischen Handeln dann zur Möglichkeit, eigenen und fremden Sinnen nachzugehen. Leitfrage ist dabei, ob die Auseinandersetzung mit Material nicht nur die Wahrnehmung stimuliert und zum ästhetischen Handeln verlockt, sondern darüber hinaus verborgene, singuläre Bedeutsamkeiten im Menschen hervorholt, möglicherweise etwas Eigentliches, das sich im gestalteten Material spiegelt und das Potenzial hat, den Menschen zu verändern. Um dem nachzugehen, werden die Aspekte des Unverfügbaren, der Selbstverständigung, der Kommunikation, der Improvisation und der Performativität betrachtet und in einen künstlerischen und kunstpädagogischen Zusammenhang gestellt.

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Unverfügbarkeit Kinder nutzen die gestalterische Begegnung mit Material, um sich selbst zu orientieren und ihre Präsenz in der Welt zu erkunden. Dass dabei Lücken bleiben und Unvorhersehbares mitschwingt, unterwandert diese Selbstbildungswege nicht. Wer im Verstehen jenseits von Sprache geübt ist, kann das Risiko des Unbekannten wie auch die Unbedingtheit des Engagements steigern. Die Malerin Anna Bjerger beschreibt diese Lust am offenen künstlerischen Prozess folgendermaßen: I can’t try and put any intellectual thoughts into what I am trying to do because that would totally kill it. Because that’s what makes it worth doing in a way – because I want to know what’s happening as well. It’s exciting and if I knew what I wanted from the painting and if I knew how to do it, it would be pointless. (Bjerger 2016) Im ästhetischen Umgang entfaltet das Material eine Präsenz, die nicht vollständig einholbar ist, es eröffnet Räume, die nicht gedacht, jedoch bearbeitet werden können. In der bildsamen, gestalterischen Auseinandersetzung ist der Mensch nicht nur mit der Unverfügbarkeit der Welt (in Form des Materials), sondern auch mit sich selbst konfrontiert. An der Grenze des Bekannten beginnt die Bildung. Diese handelnd-dialogische Befragung des Materials verwandelt – so Kathke – auch den Menschen.

Selbstverständigung In einer freien Gestaltungssituation werden neue Materialien, Werkzeuge und Techniken von Kindern so lange aufmerksam und mit allen Sinnen erkundet, bis feststeht, welche Qualitäten für ein mögliches Vorhaben relevant sein könnten. Kathke zeigt, dass auch Jugendliche und Erwachsene zu einem entsprechend offenen Erkunden verlockt werden können. Materialeigenschaften und Handhabungen werden studiert, als sinnlich angenehm oder unangenehm empfunden und für ein Gestaltungsvorhaben als mehr oder weniger geeignet bewertet. Ein bestimmtes Vorgehen kann sinnlich reizvoll sein, den Gestaltungsprozess jedoch nicht in der erwarteten Form weiterbringen; eine andere kann mühsam, auch unangenehm sein, jedoch das Werk in der gewünschten Richtung formen. Es beginnt ein verhandelnder Dialog der Selbstverständigung zwischen Sinnlichkeit und Sinn.

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Ästhetische Erfahrungen sind in dem Sinne wert, als solche gemacht zu werden, als sie uns mit uns selbst konfrontieren […]. Es geht darum, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen […]. Die ästhetische Erfahrung hat ihren konkreten Wert, der darin besteht, dass in ihr Selbstverständigung zustande kommt. (Bertram 2009: 45) Spricht Georg Bertram auch von Verständigungsprozessen vor Kunstwerken, so fordert vergleichbar das sich formende Material den gestaltenden Menschen zu einem klärenden Selbstgespräch heraus, in dessen Verlauf er sich selbstreflexiv positioniert. Ein aus der Ästhetik des Materials heraus entwickeltes Werk kann formal zufriedenstellend gelöst, auch offen und vielschichtig lesbar sein, jedoch möglicherweise kaum den Eigensinn des gestaltenden Menschen transportieren. Wenn sich dieser nicht nur auf das Material, sondern seine eigenen Sinne einlässt, können sich neue Formen des Ausdrucks zeigen. Klaus Mollenhauer formuliert das so: Für Ereignisse des Produzierens, für das eigene ästhetische Hervorbringen, muß man eine […] Wirkungs-Kette denken, etwa so: Ich bin mit dem Material konfrontiert (beispielsweise einem weißen Blatt Papier, Farbe, Klebstoff, Stifte, Pinsel) – es entsteht (oder es entsteht nicht) eine Wollens- oder Willensrichtung – diese Richtung, dieser Antrieb, dieses Begehren soll eine Kontur bekommen, damit ich mit Hilfe des Materials tätig werden kann – diese »Frage« (es ist eine Frage im Selbstgespräch) bringt meine Einbildungskräfte in Bewegung – die Imaginationen meiner Einbildungskraft treten nun in Interaktion, nicht mit irgendeinem Begriff, sondern mit dem Material; meine Imaginationen versuchen, über das Material zu verfügen, aber das Material setzt dem Widerstände entgegen oder lenkt es in eine materialgerechte Richtung – wiederum tritt das Spiel ein zwischen Sinnlichkeit/ Einbildungskraft und Form/Begriff – bin ich also nach diesem Spiel noch derselbe, der ich zuvor war? (Aissen-Crewett 2000: 169) In einer entsprechenden Auseinandersetzung entwickelt der gestaltende Mensch ein Verständnis von sich selbst und profitiert von dem Vorgehen, unabhängig davon, ob daraus ein Werk hervorgeht, das andere Menschen anspricht. Er verwandelt das Material und das Material verwandelt ihn.

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Kommunikation Ein engagierter Gestaltungsprozess entspricht einem unmittelbaren und erkenntnisreichen Gespräch mit dem Gestaltungsmaterial. Das im Entstehen begriffene Werk ist das Medium zwischen Subjekt und Material. Dieser Dialog wird von vielen Faktoren mitbestimmt. Im Menschen wirken seine körperlichen Voraussetzungen, seine Wahrnehmung, seine mental-strukturellen Anlagen, seine aktuelle Verfassung sowie seine Biographie, seine momentanen Themen und Interessen. Von außen wirken andere Menschen, der Raum, darin vorhandene Gegenstände und Bilder, die Werkzeuge mit der jeweiligen Handhabung, sowie das begonnene Werk. Die endlos erweiterbare Auflistung veranschaulicht die Singularität und Komplexität jeder künstlerischen Gestaltungssituation. Im Gespräch zwischen Material und Subjekt findet eine Art zirkuläre Bewegung statt: Die Empfindungen und Gedanken des Subjektes werden in das Material eingeschrieben, das Material wiederum bringt bei der Physikalität der Bearbeitung und in der sich dabei gleichzeitig wandelnden Erscheinung neue Empfindungen und Gedanken hervor. Was genau in einem Gestaltungsdialog verhandelt wird, entzieht sich nicht nur dem Verständnis Außenstehender, auch der Gestaltende selbst hat zu diesen Phänomenen nur begrenzt Zugriff. So ist die entscheidende, weil bildend-transformative, kommunikative Dimension vielleicht weniger die mit anderen Menschen über das Werk als die mit sich selbst während der Herstellung. In einer besonders intensiven Gestaltungssituation spricht »etwas im Menschen« mit »etwas in der Welt«. In diesem Moment, den Mihály Csíkszentmihályi als Flow bezeichnet, befindet sich der Mensch in einem Zustand höchster Bildsamkeit (Csíkszentmihályi 2014: 487).

Improvisation In der Musik-, Tanz- und Theaterausbildung werden Improvisationstechniken gerne eingesetzt, um Aufmerksamkeit, Präsenz und Konzentration zu festigen sowie Spontaneität, Flexibilität und Experimentierfreude zu trainieren. Intensitäten der Lebendigkeit, Authentizität und Innovation werden unweigerlich erzeugt (Matzke 2010: 164). In Situationen unvorhergesehenen Handelns fokussiert der Mensch seine Aufmerksamkeit auf das ihm unmittelbar zur Verfügung Stehende: Material, Wahrnehmung, Erfahrungen, Erinnerungen. Im gleichzeitigen Wahrneh-

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men, Entscheiden und Handeln ergeben sich spontan Lösungswege. Die alle Sinne absorbierende Konzentration auf das Agieren lässt keinen Raum für ein selbst auferlegtes, wertendes Urteil. So treten unbekannte, ungenutzte, möglicherweise verdeckte Potenziale unweigerlich hervor. Klaus Mollenhauer beschreibt, wie erst aufgrund der Präsenz des Materials eine Wollens- und Willensrichtung entsteht. Die eigenen Imaginationskräfte werden angeregt, die dann im Dialog mit dem Material fruchtbar werden. Man könnte sagen, dass sich in der Improvisation der selbstbestimmte, wenn auch unbewusst handelnde Mensch nicht nur in einer Art agency, sondern auch der produktiven urgency befindet. In der Dringlichkeit des Unvorhergesehenen bringt der Mensch sich selbst hervor, er bildet sich zu sich selbst hin, verwirklicht sich.

Performance In der Kunst wird unter Performance eine inszenierte Live-Aktion verstanden, die darauf abzielt, nicht nur im Publikum, sondern auch in den Künstler:innen selbst Veränderungsprozesse anzustoßen (Lehmann 2011: 246). Werden der ästhetischen Praxis Züge des Performativen zugesprochen, können die darin verborgenen Dimensionen der Leiblichkeit, Freiwilligkeit und Selbstreflexivität hervorgehoben werden. Die eigene Leiblichkeit kann im gestalterischen Umgang mit Material nicht übergangen werden, mit ihrer Anerkennung gehen Singularität und Unverfügbarkeit einher. Sie kann als eigensinnige, Raum einnehmende Präsenz gegenüber dem Material verstanden werden. Im Spielen – und Ringen – mit Sinnen und Sinn, Fühlen und Wollen wird diese Leiblichkeit in den Gestaltungsprozess eingeschrieben. Malte Brinkmann bezeichnet Leiberfahrungen als konstitutiv, produktiv und ambivalent (Brinkmann 2019: 2). Die Gestaltungssituation in ihrer Performativität zu verstehen, heißt, den theatralen Doppelcharakter zwischen Realität und Fiktion aufrecht zu halten. Aufgrund der Freiwilligkeit ästhetischer Praxis kann dieser gegenüber selbstbestimmt eine Haltung und Handhabung gefunden werden: ernst oder spielerisch, impulsiv oder planvoll distanziert. Diese Offenheit ermöglicht es, sich frei in dem Geflecht zwischen den eigenen Gegebenheiten und denen des Materials zu verorten. Der Aufführungscharakter des Gestaltens wie auch die Sichtbarkeit der eigenen Handlungsschritte fordern zur Selbstreflexivität heraus. »Ich bin

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irgendwie neidisch auf mich selbst«, stellt ein Kind nach Beendung eines großen Werkes stolz und zugleich irritiert fest. Ungläubig bestaunt es die Überschreitung seiner eigenen Grenzen, sein Selbstbild verschiebt sich. Vor den Anwesenden performt es seine Selbstbezüglichkeit als Selbstdistanzierung. Gestaltend werden Handlungs- und Denkweisen hervor- und zu Bewusstsein gebracht. Sind sie präsent, kann sich der Mensch zu ihnen in ein Verhältnis setzen, sie ablehnen oder annehmen, ausbauen und modifizieren.

Bildungsprozesse Zentral für die Überlegungen zur Entfaltung des eigensinnigen Subjekts ist die Frage nach Bildung. Bildung weist auf eine Transformation, die sich im künstlerischen Handeln zugleich willentlich als auch unvorhersehbar ereignet. Diese ästhetisch ausgelösten Veränderungsprozesse sind nicht gradlinig, sie weisen in viele Richtungen: Der Mensch bildet sich aktiv und wird gebildet, er wandelt sich zu sich hin und von sich weg, nähert sich der Welt an und distanziert sich von ihr, bewegt sich in den Kontext einer Gesellschaft hinein und aus ihm hinaus. Ästhetische Bildung ist dann etwas, das sich für das Individuum selbst und sein Umfeld als fremd darstellen kann (Thompson und Weiss 2008: 7; Meyer-Drawe 2008: 202). Gerade diese eigensinnigen, widerständigen, verunsichernden Überschreitungen können als bedeutsame Formen der Selbstrealisierung verstanden werden (Reder 2004: 92). Gestaltungsprozesse als kommunikative Auseinandersetzungen mit dem Eigensinn des Materials sowie des Selbst wahrzunehmen, bedeutet, sich auf unbekannte Erfahrungen einzulassen. Der Mensch ist dann selbstreflexiv performender und zugleich planlos improvisierender Produzent eines unbekannten Selbst: Bildung widerfährt ihm.

Literatur Aissen-Crewett, Meike (2000): Ästhetisch-aisthetische Erziehung. Zur Grundlegung einer Pädagogik der Künste und der Sinne, Potsdam: Universitätsverlag. Barad, Karen (2017): Agentieller Realismus, Berlin: Suhrkamp. Bering, Kunibert (2004): Kunstdidaktik, Oberhausen: Athena.

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Bertram, Georg W. (2009): Kunst – Eine philosophische Einführung, Stuttgart: Reclam. Bjerger, Anne (2016): It’s all about Process, Louisiana: Louisiana Museum of Modern Art, [online] https://channel.louisiana.dk/video/anna-bjerger-its -all-about-process [30.11.2021]. Bormann, Hans-Friedrich; Brandstetter, Gabriele und Matzke, Annemarie (Hg.) (2010): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript. Breidbach, Olaf (2000): Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt, Wien und New York: Springer. Brinkmann, Malte (2019): Verkörperungen. (Post-)Phänomenologische Untersuchungen zwischen erziehungswissenschaftlicher Theorie und leiblichen Praxen in pädagogischen Feldern, Berlin und Heidelberg: Springer. Csíkszentmihályi, Mihály (2014): Flow und Kreativität – Wie Sie ihre Grenzen überwinden und das Unmögliche schaffen können, Stuttgart: Klett-Cotta. Jauß, Hans Robert (1997²): Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt: Suhrkamp. Jung, Werner (1995): Von der Mimesis zur Simulation. Eine Einführung in die Geschichte der Ästhetik, Hamburg: Junius. Kant, Immanuel (2015): Die drei Kritiken, Köln: Anaconda. Kathke, Petra (2019): Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte, Impulse, Aktionen, Weimar: Verlag das netz. Laner, Iris (2018): Ästhetische Bildung zur Einführung, Hamburg: Junius. Lehmann, Hans-Thiess (2011): Postdramatisches Theater, 5. Aufl., Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Lehnerer, Thomas (1994): Methode der Kunst, Würzburg: Könighausen und Neumann. Matzke, Annemarie (2010): Der unmögliche Schauspieler. Theater Improvisieren, in: Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke (Hg.), Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript, S. 161-182. Meyer-Drawe, Käte (2008): Diskurse des Lernens, München: Wilhelm Fink. Reder, Judith (2004): Bildung als Selbstverwirklichung. Zur Rehabilitierung eines postmodernen Bildungsbegriffs, Würzburg: Ergon. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp.

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Schmidt, Siegfried J. (1996): Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Frankfurt a.M.: Verlag Medien und Kultur. Schmücker, Reinhold (1998): Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München: Klostermann. Thompson, Christiane und Weiss, Gabriele (Hg.) (2008): Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie, Bielefeld: transcript.

Von unsichtbaren Seiten der Dinge Vorderseiten & Rückseiten – Überlegungen mit ein wenig Kunstpädagogik Manfred Blohm

Es hat meines Erachtens durchaus etwas sehr Beruhigendes, sich in der Welt orientieren zu können, ohne dass man alle Details der uns umgebenen Räume und Dinge ständig ins Bewusstsein rücken muss. Manche Dinge und Räume hat man sich in dem Sinne angeeignet, dass man einen vertrauten, oft unbewussten Umgang mit ihnen hat, ohne ständig überprüfen zu müssen, ob alles so ist, wie es tags zuvor war. Man kann sich in der Regel mit seinem Körper problemlos im vertrauten Raum orientieren und in Bezug zu den alltäglichen Gegenständen treten. Ein simples Beispiel: Wir wissen, dass die Treppenstufen im Haus immer eine bestimmte – meist eine genormte – Höhe haben und wir betreten mit einer gewohnten Selbstverständlichkeit die Treppe. Wäre eine Stufe plötzlich wenige Millimeter höher oder tiefer, würden wir vermutlich stolpern. Ein Nachteil dieses Beruhigenden liegt möglicherweise darin, dass wir in vielen Bereichen der uns umgebenen Welt der Dinge quasi anästhesiert bzw. »anästhetisiert« (Welsch) sind. Und wir werden sehen: Das Beruhigende hat zwar manchmal lange, aber nicht ewig lange Bestand. Aber: Wir sind vielem gegenüber durch Aneignung und Einverleiben empfindungslos geworden. »Anästhetik« meint jenen Zustand, wo die Elementarbedingungen des Ästhetischen – die Empfindungsfähigkeit – aufgehoben ist. (Welsch 2003: 12) In dem folgenden Text werde ich fünf verschiedene Fäden aufgreifen, die zwar gewissermaßen aus unterschiedlichen Materialien bestehen, die aber dennoch miteinander beim Lesen verflochten werden können.

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Schatten und Unsichtbarkeit In dem von Petra Kathke 2019 herausgegebenen Buch Vom Schatten aus … Denkund Handlungsräume in Kunst und Kunstpädagogik geht es um das, was Schatten wirft und das, was im Schatten liegt. Das wahrzunehmen, was im Schatten liegt, erfordert ein genaues Hinsehen und zuallererst eine Verschiebung der Wahrnehmung vom Sichtbaren hin zum tendenziell eher schwer Wahrnehmbaren. Wahrnehmen ist insofern ein interessanter Begriff, weil er seine ursprüngliche Bedeutung in sich trägt. Wer wahrnimmt, nimmt etwas für wahr, weil es ihm die Sinne so zeigen, dass er oder sie vermeintlich Gewissheit hat. Die Schatten der Dinge erschweren das wahrzunehmen, was im nur indirekt Beleuchteten, also im Schatten liegt. »Darüber hinaus bietet die reduzierte Sichtbarkeit verschatteter Bereiche Raum für Geheimnisvolles, kann als Rückzugsort oder Versteck dienen, um etwas zu verbergen.« (Kathke 2019: 16f.) Viele Aspekte der uns umgebenden Dinge und Gegenstände liegen im Schatten, sie entziehen sich tendenziell der (visuellen) Wahrnehmung, weil sie zeitweise nur spärlich beleuchtet sind und sich so der Aufmerksamkeit und dem Wahrnehmungsfokus entziehen. Immerhin haben diese Aspekte der materiellen Welt die Chance, ins Licht gerückt zu werden und so aus ihrem Schattendasein befreit zu werden. Dies gilt auch im übertragenen Sinne: Es gibt all das, was auf der Ebene unseres Denkens zumindest zeitweise eher unbeachtet ist, jene Denkformen beispielsweise, die sich im Abseits unserer Denkgewohnheiten, also quasi im Denkschatten aufhalten und die wir manchmal übersehen, wenn wir unsere Gedanken (auch die wissenschaftlichen) entwickeln. Dieses Abseits unserer Denkgewohnheiten hat prinzipiell die Chance, aus dem Vorbewussten ins Bewusstsein geholt zu werden. Jenseits des Schattens gibt es aber noch gewissermaßen unsichtbare Orte, an denen sich Dinge oder Aspekte von Dingen befinden, sich verändern, altern, sich entfalten oder ein Eigenleben führen: Es sind die Rückseiten aller Dinge, die sich der Wahrnehmung manchmal für lange Zeit oder vollkommen entziehen. Dies gilt nicht so sehr für einen Stuhl im Raum, um den wir herumgehen und den wir im Alltag zuweilen verrücken. Vielmehr ist von den Dingen des Wohnens die Rede, die sich an den Rändern oder in den Ecken des jeweiligen Raumes befinden und die eher selten überhaupt bewegt werden. Die Rückseiten dieser Dinge befinden sich dort, wo wir fast nie hinschauen und nicht hin fühlen, weil wir sie nicht für wahr nehmen. So können zuwei-

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len Orte in Räumen entstehen, die ein Eigenleben führen im Schatten dessen, was beleuchtet und damit sichtbar wird.

Predictive mind Wenn man eine Wohnung einrichtet, dann rückt man meist die großen sperrigen Teile, wie Schränke oder Kommoden, oft auch Sofas und TV-Geräte oder Waschmaschinen, mit ihren Rückseiten an eine der Wände. Auf diese Weise werden die Rückseiten der Dinge ebenso unsichtbar wie die Unterseiten und manchmal die Oberseiten, wenn sie zu hoch sind, um auf sie zu schauen. So entstehen die im Alltag unsichtbaren Seiten der uns umgebenen Dinge. Vieles meiner eigenen Wohnung, in der ich gerade sitze und schreibe, nehme ich also gar nicht wahr, was durchaus entlastend ist. Allerdings: Je nachdem, wieviel Zwischenraum zwischen einem Möbelstück und der Wand dahinter verbleibt, entstehen Räume, die sich in je eigener Langsamkeit im Laufe der Zeit verändern. Es entstehen Spinnenweben, Staub sammelt sich, oder Dinge fallen zwischen die Wand und das Möbelstück und verschwinden zuweilen für viele Jahre oder gar Jahrzehnte.

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Entsprechend sind diese Gegenstände des Wohnens von vornherein unter diesen Aspekten gefertigt. Es gibt die Seiten, die besonders schön oder aufwändig gestaltet sind, weil sie dafür gemacht wurden, betrachtet zu werden. Und es gibt die nicht so aufwändig gestalteten Rückseiten, von denen man ausgeht, dass sie nur beim Einzug, Auszug oder zuweilen beim Umräumen der Zimmer gesehen werden. Neben dieser realen Unsichtbarkeit von den Rückseiten der Dinge in der Wohnung gibt es noch einen weiteren Aspekt, der dazu führt, dass diese Dinge insgesamt für die Bewohner nach und nach aus der bewussten Wahrnehmung verschwinden. Dies hat etwas damit zu tun, was unter dem Begriff predictive mind diskutiert wird. Damit verbunden ist die Annahme, dass »Bewusstsein nur dann [entsteht], wenn die Prognosen unseres Gehirns versagen« (Ayan: 2021 o.S.). Wir betreten die uns vertrauten Räume unserer Wohnung und halten uns in ihnen, bezogen auf die Wahrnehmung der Gegenstände, im Wesentlichen unbewusst auf. Dies bedeutet, dass unser Gehirn beim Betreten die Vorhersage trifft, dass die Möbelstücke so da sind wie immer. Wir wenden also keine Bewusstseinsenergie auf, um dies jedes Mal zu überprüfen. Der Schrank steht dort an der Wand, wo er schon seit Jahren steht, sagt unser Gehirn beim Betreten des Wohnzimmers voraus und wir müssen nicht jedes Mal beim Betreten des Wohnzimmers überprüfen, ob das wirklich der Fall ist. Selten würde einem Schrank so viel Aufmerksamkeit im Alltag geschenkt werden, wie wenn er umgefallen im Raum liegen würde. Dem südafrikanischen Hirnforscher und Neuropsychoanalytiker Mark Solms zufolge entsteht Bewusstsein lediglich dann, wenn die Vorhersagen des Gehirns fehlerhaft sind. Es handelt sich dabei um nichts anderes als jenen Zustand der Überraschung, der sich einstellt, wenn die impliziten Prognosen des Gehirns ins Leere laufen. Und unsere grauen Zellen tun alles, um solche Fehler zu vermeiden. Anders als Freud postulierte, strebe unser Geist nicht nach immer mehr Bewusstsein, sondern versuche im Gegenteil, es zu verhindern. »Am liebsten wäre es dem Gehirn, wenn gar nichts Unerwartetes passiert. Totale Gleichförmigkeit ist dem Überleben viel dienlicher als das Energie und Zeit raubende Bewusstsein«, erklärt Solms. (Ayan 2021: o. S.) Einen solchen Gedanken mögen Kunstpädagog:innen vermutlich eher nicht. Geht es ihnen doch vornehmlich darum, die Wahrnehmung zu schulen oder – wie Gert-Peter Zaake es einmal ausdrückte – die Wahrnehmung zu verrücken. Mit Wahrnehmungsschulung ist nicht gemeint, im Kunstunterricht das Bekannte, Erwartbare und die Gleichförmigkeit zu schulen und zu unter-

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stützen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Kunstunterricht soll Kindern und Jugendlichen die visuelle Welt auf neue Art ins Bewusstsein rücken. So entstehen neue Erfahrungen, und Lernprozesse werden in Gang gesetzt. Wenn Mark Solms, wie gerade zitiert, davon schreibt, dass es unserem Gehirn am liebsten wäre, wenn nichts Unerwartetes passiert, so wird deutlich, wogegen Kunstpädagog:innen anzukämpfen haben. Oftmals –nebenbei bemerkt – auch gegen sich selbst und das Phlegma ihres eigenen Gehirns, nicht nur gegen das Phlegma des Bewusstseins ihrer jeweiligen Schüler:innen. Nun unterscheiden sich Kunstunterricht und Alltag grundsätzlich darin, dass Ersterer Bewusstsein und Bewusstwerden durch das Neue und Irritierende erschaffen (sollte). Man könnte die These formulieren, dass schlechter Kunstunterricht genau jenen Zustand befördert, in dem möglichst wenig Irritation entsteht und in dem die Prognosen unserer Gehirne möglichst wenig versagen, also sozusagen langweiliger und eher belangloser Kunstunterricht.

Exkurs in die Kunstpädagogik Ein kurzer Exkurs, der Überlegungen zu den Dingen in Wohnräumen auf die Dinge in den Räumen des Denkens und Reflektierens der Kunstpädagogik überträgt: Zu den Dingen und Unterrichtsgegenständen der Kunstpädagogik gehören u.a. die Beschäftigung mit Bildern und Objekten, seit einigen Jahren zudem mit digitalen Bilderwelten. Zu diesen Dingen zähle ich auch die kunstpädagogischen Schlagworte wie Kreativität, Kooperationsfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, Curriculum etc. Kreativität ist so ein großes schweres Möbelstück in der Kunstpädagogik, das alle schön und repräsentativ finden, aber seit Langem hat kaum jemand hinter die Rück-, Unter- und Oberwände des Begriffes geschaut. Das Gleiche gilt für den Begriff der ästhetischen Qualität, den ich bei der Recherche im Lehrplan Kunst des Hessischen Kultusministeriums fand. Auf S. 13 ist er als Kriterium für die Auswahl von Kunstwerken platziert. Es heißt dort u.a. »Kriterien für die Auswahl der Kunstwerke sind ästhetische Qualität, …« (Hessisches Kultusministerium 2010: 13). Wer definiert diese ästhetische Qualität und welchem Wandel unterliegt dieser Begriff? Wie unterscheidet sich die Vorstellung von ästhetischer Qualität zwischen Jugendlichen und Lehrpersonen? Kreativität und ästhetische Qualität passen in alle kunstpädagogischen Denkräume. Diese Möbelstücke können mühelos in jeden Raum kunstpäd-

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agogischen Denkens platziert werden, aber niemand schaut, wozu sie tatsächlich nutzen können, wie sie sich verändern und was an diesen Begriffen allmählich unsichtbar wird. Sie passen in die Kunstpädagogik, haben aber, wenn überhaupt, nur einen fragwürdigen Nutzen. Sie sind zuweilen Schränke, in denen eher etwas eingeschlossen als aufbewahrt ist. Kreativität könnte beispielsweise auch darin bestehen, sich dem Unterrichtsgeschehen geschickt zu entziehen oder den Unterricht zu sabotieren. Kreativität ist kein Wert an sich, sondern nur in der Bezugnahme auf einen bestimmten Unterrichtsinhalt und bei der Lösung beispielsweise eines bildnerischen Problems. Wenn ich erneut das Bild der weitestgehend unsichtbar bleibenden Rückseite der Möbel aufrufe, so stellt sich die Frage, was die weitestgehend unsichtbaren Rückseiten, Unterseiten und Oberseiten der Dinge in den kunstpädagogischen (Denk-)Räumen wohl zeigen könnten? Wie viel macht der Aspekt des predictive mind seitens der an Schulen oder Hochschulen kunstpädagogisch Tätigen aus? Gibt es so etwas wie Prognosen der Gehirne der Kunstpädagog:innen über die Dinge des Faches, die es gar nicht nötig erscheinen lassen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln oder die im Alltag einfach unsichtbar werden? Welche Dinge befinden sich in den kunstpädagogischen Räumen, die entweder unbewusst bleiben, weil sie allzu bekannt und vertraut erscheinen oder weil Aspekte von ihnen unsichtbar bleiben wie die Rückseiten meines Schrankes? Und welche Biotope entwickeln sich dort im Verlaufe der Zeit wie die Spinnenweben hinter meinem Schrank? Welche kunstpädagogischen Aspekte fallen gewissermaßen hinten runter, sammeln sich dort an, werden vergessen und verstauben allmählich oder schon seit langer Zeit? Ein interessantes Gegenargument gegen die Beschäftigung mit diesen Dingen der Kunstpädagogik liefert der Quantenphysiker Carlo Rovelli. Er schreibt: »Wir verstehen die Welt, wenn wir Veränderungen, nicht Dinge untersuchen.« (Rovelli 2018: 87) Es wäre also interessant, die Veränderungen der kunstpädagogischen Welt zu betrachten und dabei die Aufmerksamkeit auf das nicht so ohne weiteres Sichtbare zu lenken. Man könnte beispielsweise eines der schwereren (symbolischen) Möbelstücke, also z.B. Kreativität im kunstpädagogischen Raum probeweise – symbolisch gesprochen – umwerfen oder es zumindest von der Wand abrücken und schauen, was dahinter passiert ist in all den Jahren. Das gilt auch für einen Begriff wie ästhetische Qualität. Kunstpädagogische Stühle und Tische (wiederum symbolisch gesprochen) verrückt man ja leichter hin und wieder als die schweren Schränke der Kunst-

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pädagogik. Solche Stühle und Sessel sind vielleicht die Fachanforderungen für die Klassenstufen. Da kann man unter dem Aspekt von Veränderungen leicht sehen, wie unterschiedlich schnell bzw. langsam sich die Welt des Faches Kunst verändert. In dem oben schon bemühten gültigen Lehrplan für das Fach Kunst für das Gymnasium in Hessen ist auf Seite 18 unter Unterrichtsinhalte/ Aufgaben u.a. von der ästhetischen Gestaltung von CD-Hüllen die Rede. Welche Rolle spielen aktuell noch CD-Hüllen für heutige Kinder und Jugendliche? Ob die (Denk-)Räume der Kunstpädagogik überhaupt noch zeitgemäß sind oder ob sie nicht in ganz neuen (Denk-)Gebäuden platziert werden müssten, wäre ein hier zu weit führendes Thema. Eigentlich gilt es seit Langem, jedes schwere kunstpädagogische Möbelstück von der Wand zu rücken und zu schauen, ob man dort durch die neu entstandenen Blickperspektiven etwas Überraschendes, bisher Übersehenes wahrnehmen kann.

Die Rückseiten der Bilder In einer Kunstausstellung in Flensburg waren die Bilder so gehängt, dass sie quasi im Wege hingen. Sie hingen nicht an den Wänden, sondern mitten im Raum! Die Betrachter:innen gingen an ihnen entlang, aber auch um sie herum. So gerieten plötzlich die Rückseiten der Bilder in den Blick. Wie die Möbel in den Wohnungen haben Bilder jeweils eine Rückseite, die man in Ausstellungen meist nicht sieht. Das Interessante an den Rückseiten der Bilder ist, dass man, wenn man um sie herumgehen kann, nun plötzlich eben diese Rückseiten sieht. Und nicht mehr das Gemalte, denn es befindet sich nun auf der anderen Seite. Zu sehen sind die Keilrahmen, die Leinwände von hinten und dort, wo sie umgeschlagen und an die Rahmen getackert worden sind. Ebenso wurden die schmalen Rahmen von hinten sichtbar. Die Wahrnehmung wurde so weg vom Bild und dem dort Dargestellten hin zur Materialität des Bildes gelenkt. Interessant ist daran, dass man einen Selbstversuch machen kann: Was war auf den Bildern zu sehen, auf die ich aus Anlass der Ausstellungseröffnung zunächst zuging, um sie dann zu umrunden? Vorweg muss gesagt werden, dass eine Ausstellungseröffnung ein social event ist, das heißt, es treffen sich viele Menschen, man trinkt meist etwas und unterhält sich. Und dann gibt es da die Kunstwerke, die den Anlass boten, dorthin zu gehen. Eine solche Eröffnung einer Ausstellung ist aber keinesfalls ein sonderlich geeigneter Zeitpunkt, um sich intensiv auf die dort

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gezeigten Bilder zu konzentrieren. Ich vermute, dass anders als in Konzerten, in denen man sich auf die Musik konzentrieren muss, bei Ausstellungseröffnungen der ästhetische Genuss der Kunst oft in den Hintergrund gerät zugunsten des Selbstgenusses der Ausstellungsbesucher:innen. Eine solche Bildhängung mitten im Raum, wie in dieser Ausstellung, beinhaltet bei einem Ausstellungseröffnungsevent tendenziell eigentlich eher einen Störfaktor, denn weder kann man eine zuweilen nötige Distanz zu den Bildern aufbauen, noch kann man tendenziell so etwas wie eine konzentrierte Beziehung zu einzelnen Bildern aufbauen. Aber: Diese Hängung trug dazu bei, Aspekte unseres Wahrnehmungshabitus anlässlich von Ausstellungseröffnungsbesuchen zu entlarven. Nach etwa einer halben Stunde meines Aufenthaltes in der Ausstellung hatte ich alle Bilder im Vorübergehen betrachtet, mal konzentrierter, mal un-

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konzentrierter. Die Aufmerksamkeit wurde nicht zuletzt beeinflusst durch den Smalltalk, der durchaus gewollter Teil einer solchen Ausstellungseröffnung ist. Ich glaube, ich habe noch nie eine Ausstellungseröffnung besucht, in der nur geschwiegen wurde. Ich startete, wie oben angekündigt, einen Versuch: Ich ging um das Bild, das in meiner unmittelbaren Nähe hing, herum und fragte mich, was auf dem Bild, dessen Rückseite ich betrachtete, zu sehen war. Interessanterweise erinnerte ich keine Details des Bildes, allenfalls eine vage Stimmung, die das Bild transportierte. Die Bilder der Ausstellung hatten sowohl gegenständliche Elemente als auch abstrakte. Ich war jedoch völlig irritiert, dass ich überhaupt nicht sagen konnte, was wie auf dem Bild dargestellt war, ich erinnerte vielleicht am ehesten die Farben. Womöglich war hier ein Effekt zu beobachten, der eine gewisse Verwandtschaft zum oben genannten Begriff des predictive mind hatte. Dass Kunst auf der anderen Seite des Bildes zu sehen war, davon ging mein Gehirn aus. Es hatte ja auch beim Betreten und Begehen der Ausstellung festgestellt, dass es sich um Kunst handelte. Offensichtlich war hier ein anderer Wahrnehmungskontext anlässlich der Vernissage leitend, der mich vieles wahrnehmen ließ, und zwar vieles zeitgleich: das Gebäude, den Raum, die unterschiedlichen Menschen, die Gespräche, die Atmosphäre, die Bewegungen im Raum und eben auch die Bilder. Ich wollte überprüfen, ob etwas mit meiner Wahrnehmungsfähigkeit nicht stimmte und bat nacheinander zwei Ausstellungsbesucher:innen mit mir dieses Experiment zu wiederholen. Tatsächlich war wieder derselbe Effekt zu beobachten: die Befragten konnten das Bild, dessen Rückseite sie nur noch sehen konnten, überhaupt nicht beschreiben. Sie waren ebenso erstaunt wie ich und hatten keinerlei Erklärung für dieses Phänomen, zumal sie die Künstlerin und ihre Werke schätzten. Schon Lucio Fontanas künstlerische Arbeiten thematisierten das Verhältnis von Bild und Raum ungewöhnlich und neu, indem er die Leinwände durchstieß oder in sie hineinritzte. Selbstverständlich steht dahinter ein ganz anderes künstlerisches Konzept ebenso wie eine andere Ausstellungskonzeption. Dennoch wurde in dieser von mir besuchten Ausstellung durch die Hängung, ebenso wie in den Werken Fontanas, das Verhältnis von Raum und Bild thematisiert. Irene Schütze schreibt: 1949 fing Fontana damit an, Löcher in Leinwände zu stoßen. Diese Werke, die den traditionellen Gattungsbegriff durch ihren Status zwischen Tafelbild und Objekt überwinden, tragen alle den Titel Concetto spaziale. Anfänglich

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verstärkte Fontana seine Leinwände, indem er sie mit weißem Papier oder mit weißem Karton auf den Vorderseiten bespannte. Die Löcher, die er mit einem Stemmeisen in die Bildflächen stieß, traten so noch plastischer hervor. In den frühen Concetti spaziali sind die Löcher in Kreisflächen arrangiert, sie sind in konzentrischen Ringen angeordnet oder sie erscheinen reihenweise untereinander gesetzt. Diese Formationen erinnern an Sternenbilder oder an Szenarien aus dem Weltall. (Schütze 2013: o. S.) Fontana thematisierte immer wieder den Raum hinter den Bildern oder er konzipierte, wie Schütze es formulierte, »den realen Raum mit der Bildfläche zu vereinen« (2013: o. S.). Bezogen auf mein Experiment in dieser Ausstellungseröffnung rückt ein weiterer Aspekt in den Vordergrund: Wir haben zwar auch bei den berühmtesten Gemälden der Welt das Gefühl, dass wir wissen, was auf den Gemälden abgebildet ist. Dieses Gefühl zu wissen, was zu sehen ist, mag zwar individuell unterschiedlich sein, es ist jedoch in erster Linie von Bildatmosphären geprägt. Man hat zwar beispielsweise eine ungefähre Vorstellung von der Wirkung und der Atmosphäre des Bildes der Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Diese ungefähre Vorstellung mag mit dem Gesichtsausdruck der dargestellten Person verbunden sein, besonders aber auch durch die Beleuchtung der Szene. Diese Vorstellung ist aber meist unschärfer als man denkt. Was befindet sich beispielsweise direkt neben der von den Betrachter:innen aus dargestellten rechten Schulter der dargestellten Frau? Offensichtlich nehmen wir nur so viel wahr, wie es nötig ist, um etwas wiederzuerkennen.

Plädoyer für nomadischen Umgang mit den Dingen – Ein Gedankenspiel Die uns umgebende Dingwelt entzieht sich im Laufe der Zeit nach und nach unserer bewussten Wahrnehmung sehr viel stärker als man denken mag. Oder anders ausgedrückt: Wir vergessen vieles, was nicht ständig wieder ins Bewusstsein gerückt wird. Oder noch anders ausgedrückt: Unsere Erinnerungen sind Ereignisse, die in bestimmten Momenten hervorgeholt werden. Und in diesen Momenten verweben sie sich mit dem, was gerade ist, mit dem Raum, in dem wir erinnern, mit den Aktionen des Tages, mit den Menschen, mit denen wir gerade zu tun haben. Erinnerungen sind verbunden mit Leer-

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stellen, die wir beim Erinnern zuweilen einfach leer lassen – manchmal ohne es zu bemerken. Wir haben ein Gefühl für die uns umgebende Dingwelt mit scheinbar sicheren Koordinaten. Unser Gehirn reduziert unsere bewusste Wahrnehmung allerdings auf das Notwendige, damit wir uns in dieser alltäglichen Dingwelt, gerade auch der in unserer Wohnumgebung, angemessen bewegen und in ihr handeln können. Auch unser implizites Gedächtnis (vgl. Monyer und Gessmann 2015: 188f) ermöglicht es uns in aller Regel, uns sicher durch die uns umgebende Welt zu gelangen. Solch ein Leben ist meist relativ gefahrlos und bequem. Eine Zeitlang zumindest! Allerdings – ja, das ist eine Wertung – ist es dann auch ziemlich langweilig. Denn alles hat ein Ende, und sei es durch Krankheit, Naturkatastrophen oder wie es viele Menschen auf diesem Planeten betrifft, durch Kriege, Flucht und Vertreibung. Die uns umgebenden Dinge sind ständigen Veränderungen unterworfen, langsamen, manchmal bezogen auf unsere Lebensspanne sehr langsamen oder schnelleren. Spätestens wenn wir umziehen, verändern sich in der neuen Wohnung die Koordinaten und die Beziehungen der Dinge zueinander. Der Quantenphysiker Carlo Rovelli konstatiert, dass die Welt nicht in Konzepten von »etwas, das ist [Hervorhebung des Verfassers]« (Rovelli, 2018: 87) fassbar ist. »Offenbar verstehen wir deutlich mehr von ihr, wenn wir sie mit Blick auf Beziehungen zwischen Ereignissen begreifen.« (Ebd.) Und er schlägt vor: »Dagegen können wir die Welt als ein Geflecht aus Ereignissen begreifen, aus einfacheren Geschehnissen und komplexeren, die sich auf einfachere zurückführen lassen.« (2018: 86) Wie wäre es, unsere vier Wände und das, was sich darin befindet, als ein Geflecht von Ereignissen zu begreifen? Und weitergedacht: Was wäre, wenn wir probeweise eine Kultur entwickeln würden, die Dinge immer mal so zu verschieben, dass wir selbst zumindest einigen meist unsichtbaren Rückseiten Aufmerksamkeit schenken würden? Oder wir würden dies nur zu bestimmten Anlässen machen, zum Beispiel zum Geburtstag oder an bestimmten Feiertagen. Wenn der Leser oder die Leserin diesem Gedanken kurz folgen mag und ihn nicht gleich als absurde Spinnerei abtut, dann möchte ich kurz darüber nachdenken, was das für die Dinge, die uns gehören und uns umgeben, bedeuten würde. Eine kurze Zwischenbemerkung: In der klassischen chinesischen Malerei gibt es Rollenbilder, die die meiste Zeit zusammengerollt in einer Truhe lie-

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gen und nur zu bestimmten Anlässen hervorgeholt werden, oder nur dann, wenn man sie betrachten will. In unserer westlichen Kultur wäre es schwer vorstellbar, dass Bilder nur zu bestimmten Anlässen, und dann ganz bewusst, aufgehängt werden. Zunächst würde ein temporäres Verschieben bedeuten, dass wir möglichst keine oder wenige große und sperrige Dinge in unserer Wohnung zulassen. Wir würden insofern nomadisch denken, als wir uns möglichst leicht transportable Dinge anschaffen würden. Und indem wir Praxen entwickeln, genussvoll regelmäßig oder zu bestimmten Anlässen die Anstrengung auf uns zu nehmen, die Dinge in unserem Wohnumfeld zu verrücken, würden wir nach und nach erfahren, dass die Welt, selbst die in unseren vier Wänden, ständigem Wandel unterworfen ist und von den Beziehungen der Dinge zueinander und zu unseren Positionen im Raum abhängt. Wir würden uns dann als aktive Akteure im Geflecht dieser Ereignisse erleben und würden diesen Wandel sehr konkret wahrnehmen und auch genießen können. Vermutlich würden wir allmählich zunehmend neugierig auf das werden, was wir bislang noch nicht wahrgenommen hatten, nicht zuletzt auch die Rückseiten der Dinge. Und vielleicht würden wir Lust bekommen, diese Rückseiten anders als üblich zu gestalten. Solche nomadischen Praxen könnten unser Denken und unsere Konzeptionen von unseren Leben verändern und ein Stück weit mehr fluide werden lassen. Es könnte – nebenbei bemerkt – auch unsere Vorstellungen von (kunst-)pädagogischem Denken beeinflussen und in ständige Bewegung bringen. Zugegeben, das Ganze könnte durchaus anstrengend werden! Aber wer sagt denn, dass Anstrengung nicht etwas Lustvolles und Positives sein kann?

Literatur Ayan, Steve: Der Autopilot im Kopf, [online] https://www.spektrum.de/new s/wie-entsteht-bewusstsein/1589146?itm_source=PLISTA&itm_medium= RECAD [31.07.2021]. Hessisches Kultusministerium (2010): Lehrplan Kunst, Gymnasialer Bildungsgang. Kathke, Petra (2019): Prolog, in: Petra Kathke (Hg.): Vom Schatten aus … Denkund Handlungsräume in Kunst und Kunstpädagogik, Hannover: fabrico verlag, S. 11-31.

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Monyer, Hanna und Gessmann, Martin (2015): Das geniale Gedächtnis, München: Albrecht Knaus. Rovelli, Carlo (2018): Die Ordnung der Zeit, Hamburg: Reinbek. Schütze, Irene (2013): Immaginazione: zum Verhältnis von Kunstwerk und Vorstellungskraft bei Lucio Fontana, Piero Manzoni und Gianni Caravaggio, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb, [online] http://zkmb.de /immaginazione-zum-verhaeltnis-von-kunstwerk-und-vorstellungskraft -bei-lucio-fontana-piero-manzoni-und-gianni-caravaggio/ [21.09.2021]. Welsch, Wolfgang (2003): Ästhetisches Denken, 6. Auflage, Stuttgart: Reclam.

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»Lernen, mit dem Körper Dinge zu sagen« Künstlerisch-ästhetische Forschung mit dem Körper: Ein Gespräch mit Gregor Zöllig 1 Uta Czyrnick-Leber

Einleitung Ein Student beschäftigt sich in seiner künstlerischen Prüfung im Fachbereich Kunstpädagogik an der Universität Bielefeld mit dem Buch Unendlicher Spaß von David Foster Wallace aus dem Jahr 1996. Der Zukunftsroman handelt von dem Konsumenten eines gleichnamigen Filmes, der ihn so sehr in seinen Bann zieht, dass er sich nicht mehr trennen kann und schließlich an seinem Konsum stirbt. Der Student nutzt den Film als Metapher für den omnipräsenten Medienkonsum. In seiner Installation sind vier verschiedene Fotos von einzelnen Personen (die Familie des Studenten sowie ein Kommilitone) zu sehen, deren Körper jeweils eine unübliche Haltung auf oder neben einem Stuhl einnehmen (siehe Abb.1-4). In seiner Kurzbeschreibung markiert der Student sie als »Fotos von Opfern des Films«. Verborgen bleibt den Rezipient*innen, wie, warum und durch wen die Entscheidung für diese eine bestimmte Pose getroffen wurde. Zur Beantwortung dieser Fragen öffnet sich den Betrachter*innen ein weiter Interpretationsspielraum.

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Gregor Zöllig leitete von 1997-2005 das Tanztheater der Städtischen Bühnen Osnabrück und von 2005-2015 das Tanztheater der Städtischen Bühnen Bielefeld. Seit 2015 ist er Chefchoreograf am Staatstheater Braunschweig. Darüber hinaus gründete er die Laientanzprojekte Zeitsprung in Bielefeld und Schrittmacher in Braunschweig.

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Abb. 1-4: Künstlerische Abschlussarbeit Knut Kittler

So könnten wir einerseits annehmen, dass der Student die Körper der Personen quasi als Objekte in ihren Posen drapiert und organisiert hat. Womöglich hat er zunächst den Raum vermessen, die greifbaren Körper mehrmals verschoben, ihre Körperhaltungen korrigiert und sie anschließend aus unterschiedlichen Perspektiven abgelichtet. Mit dieser Vorgehensweise nähmen wir eine Perspektive auf den Körper ein, in der dieser ein »beherrschbarer, dekonstruierbarer und neu oder anders wieder herstellbarer Gegenstand [sei]« (Abraham 2016: 23). Was aber, so könnten wir ebenso annehmen, wenn die Personen über ihre Lage im Raum und ihre Haltungen selbst entschieden haben? Wenn der Student ihnen einen längeren zeitlichen Rahmen zugestanden hätte, innerhalb dessen sie verschiedene Positionen ausprobiert und auf ihre thematische Passung hin ausgetestet sowie den Stuhl mit oder entgegen routinisierter Praktiken gehandhabt hätten? Mit einer solchen Annahme ginge eine Betrachtung vom Körper als Subjekt einher und würde »die Seite des seienden, spürenden und gemäß einer Eigenlogik agierenden und reagie-

»Lernen, mit dem Körper Dinge zu sagen«

renden Körpers« (Abraham 2016: 23) betonen.2 So verstanden ist der Körper dann ein Ort, »an und in dem […] Denken, Fühlen, Handeln und Wahrnehmen entsteht und von dem es ausgeht« (Hartmann 2016: 173, Fußnote). Diese Perspektive öffnet uns zugleich noch eine dritte, weiterführende Annahme: Unser Student könnte die Personen dazu auffordern, ihre Körper in ihrer eingenommenen Haltung bewusst wahrzunehmen. Mögliche Fragen könnten den Wahrnehmungsprozess begleiten: Mit welchen Körperteilen berührst du den Boden, mit welchen den Stuhl? Wohin richtet sich dein Blick, wohin deine offene und deine geschlossene Körperseite? Ist dir diese Haltung vertraut? Wann hast du dich in deinem Leben schon einmal als Opfer gefühlt? Welche körperliche Haltung kennzeichnet dieses Gefühl? Entspricht deine derzeitige Position diesem erlebten Gefühl? Was sind körperliche Kennzeichen einer Opferhaltung? Welche körperlichen Erfahrungen machen die anderen drei Personen? Was verbinden diese mit einer Opferhaltung? Dieser (angeleitete) Wahrnehmungsprozess kann ein spezifisches Wissen bei den Akteur*innen sowohl offenlegen als auch hervorbringen, für dessen Generierung Anke Abraham (2016: 31) zentrale Elemente voraussetzt, die hier verkürzt dargestellt werden: •



• •

Die Chance der Verlangsamung, des Innehaltens, des Zur-Ruhe-Kommens und des Sich-Öffnens für leiblich-sinnlich-affektive Erfahrungen im Modus des Ästhetischen; die leiblich-sinnlich-affektive Auseinandersetzung mit Gegenständen und Orten, die ästhetisch und künstlerisch erlebt und gestaltet werden können; die Hinwendung zur eigenen Person und zu biographischen Erfahrungen; die wechselseitige Wahrnehmung des ästhetischen Erlebens und biographischer Erfahrungen der Teilnehmenden untereinander.

Das durch diesen Wahrnehmungsprozess ins Bewusstsein gehobene und gewonnene Wissen ist ein an den Körper gebundenes Wissen und wird daher als ein gefühltes, verkörpertes oder auch implizites Wissen bezeichnet, als ein embodied oder tacit knowledge (vgl. u.a. Hoogenboom 2007). Während sich in

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Eine solche Betrachtungsweise setzt mit Plessner (1975) voraus, dass der Mensch einen Körper hat, gleichzeitig jedoch auch sein Körper ist. Für die Unterscheidung zwischen Körper-Sein und Körper-Haben hat sich der Begriff des Leibes oder auch des KörperLeibes durchgesetzt.

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unserer ersten Annahme der Student vorrangig des Wissens über den Körper bedient, indem er beispielsweise dessen anatomische Grenzen bei der Einnahme bestimmter Haltungen berücksichtigt, geht es in der zweiten und dritten Annahme mehr um das Wissen des Körpers selbst (vgl. Berger und Schmidt 2009: 83). Die Wahrnehmung, die dieses Wissen generiert, und die auch künstlerische Erfahrung genannt werden kann (vgl. Klein 2015), macht zunächst jede Person für sich. Sie ist dementsprechend subjektiv und kann in Form eines Tagebuchs oder eines Portfolios festgehalten werden. Die künstlerische Erfahrung kann jedoch in einem zweiten Schritt auf verbaler oder non-verbaler Ebene geteilt und intersubjektiv werden. Ein verbaler, in der Regel sehr persönlicher, Austausch über spezifische, individuelle Körper- und Bewegungserfahrungen kann zu einer distanzierten und reflektierten Haltung der beteiligten Personen führen. Da Akteur*innen in der Regel auf die ihnen vertrauten Bewegungen zurückgreifen, können diese ritualisierten, inkorporierten und dadurch naturalisierten (Bewegungs-)Muster durch einen verbalen Austausch reflexiv verarbeitet werden. Durch die künstlerische Erfahrung gelangen die im Körper gespeicherten Gefühle, Emotionen und kulturellen Gewohnheiten zunächst ins Bewusstsein der agierenden Person und lassen »die einverleibte soziale Ordnung spürbar« werden (Klinge et al. 2020: 471). Auf diesem Weg wird eine »routinemäßige Zuschreibung von Bedeutung zu Gegenständen, zu Personen« irritiert (Reckwitz 2003: 292). Durch eine derartige Offenlegung besteht weiterführend die Möglichkeit, in einem verbalen Austausch inkorporierte soziale Strukturen zu reflektieren (vgl. Chwialkowska 2020). Ein non-verbaler Austausch von Körperwissen, der der Intersubjektivität besonders zuträglich ist, kann über kinästhetische Kommunikation geschehen, »die im Kern auf dem motorischen System und dessen Einfühlens in physische, mentale und emotionale Zustände anderer Menschen basiert« (Quinten 2016: 40)3 . Quinten (vgl. 2016: 42) differenziert zwischen der visuell-, taktil-,

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Grundlage für diese Form der Kommunikation ist der kinästhetische Sinn, der »sich auf alle Sehnen, Muskeln, Bänder, Gelenke, Organe, Drüsen und Gefäße [verteilt]. Er gibt dem Menschen durch Rückkoppelung ein Gefühl für sich selbst.« (Sieben 2007: 144) »Diese innere, nicht-visuelle Wahrnehmung vermittelt uns Informationen über die räumliche Gestalt, das Ausmaß, den Ablauf und die Geschwindigkeit einer Bewegung sowie über die aufgewendete Kraft und den entstehenden Druck.« (Berger und Schmidt 2009: 69).

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auditiv- und motorisch-kinästhetischen Form der Kommunikation: Das Sehen, Fühlen, Hören und Nachahmen von Bewegungen ruft wiederum Reaktionen der Zuschauenden, Zuhörenden4 , Fühlenden5 , und Mittänzer*innen hervor. Quinten (2016: 40) sieht insbesondere im Tanz als »kinästhetischer Kunstform« Möglichkeiten, implizites Wissen zu teilen und intersubjektiv zu vermitteln. Im Tanz zeigt sich dieses Wissen durch die sich bewegenden Körper dynamisch (vgl. Brandstetter 2007: 40). (Professionelle) Tänzer*innen haben ein reichhaltiges Bewegungsrepertoire zur Verfügung, das sich im prozeduralen Gedächtnis verankert hat und abrufbar ist. Dieses wird darüber hinaus durch das Beobachten anderer Tänzer*innen durch »eine kinästhetisch analoge Form der Wahrnehmung« (Berger und Schmidt 2009: 77) angereichert. Die Aneignung impliziten Wissens kann durch künstlerische Erfahrungen zweifellos geschehen. Welcher Stellenwert kommt diesem nicht-kognitiven Wissen jedoch im wissenschaftlichen Kontext zu? Entspricht dessen Generierung durch künstlerische Verfahren einem Forschungsprozess?

Künstlerisches Forschen Künstlerische Forschung, oder auch künstlerisch-basierte Forschung, bzw. Art Research oder art-based Research hat sich seit den 2000er-Jahren als ein interdisziplinäres Feld etabliert (vgl. u.a. Caduff 2014). Sie findet »im Kontext der Kunst statt« (Borgdorff 2007: 79) und ist zunächst dem Bedürfnis von Künstler*innen entsprungen, »mehr über die eigene Praxis zu erfahren und ihre Erkenntnisse anderen zur Verfügung zu stellen« (Hoogenboom 2007: 84). Gleichzeitig hat sich die Künstlerische Forschung durch die zunehmende Einrichtung von Kunsthochschulen u.a. mit dem Ziel institutionalisiert, die beiden unterschiedlichen Wissenskulturen zusammen zu führen.6 Ungeachtet der Diskussion, ob Künstlerische Forschung auch wissenschaftliche Forschung ist 4 5 6

Über die Möglichkeiten, Tanz auditiv erfahrbar zu machen, siehe Bläsing (2020). Über die Möglichkeit, Tanz durch Berührung spürbar zu machen, siehe Chwialkowska (2020) und Bläsing (2020). Mit Stamer (2007: 66) kann noch ein weiterer Forschungsraum aufgedeckt werden, den er im Körper selbst ausfindig macht, nämlich »ein im Körper der Forscher situierter Denkraum«. Und er fügt hinzu, dass dieser erst dann »zu einem Denkraum [wird], wenn dieser gemeinsam von mehreren Menschen in der beständigen Umformulierung von Fragen gestellt wird« (Stamer 2007: 66).

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oder zumindest sein kann (vgl. Klein 2015: 49)7 , ist ihr verbindendes Element das Streben nach Erkenntnis (vgl. Stamer 2007; Klein 2010). Für die Künstlerische Forschung wird angenommen, dass sich die Erkenntnismöglichkeiten dabei im künstlerischen Tun selbst vollziehen, indem den Beteiligten ein Reflexionsraum jenseits rationaler Praktiken zur Verfügung gestellt wird (vgl. Klein 2010; Abraham 2016 Hardt 2016; Hartmann 2016; Chwialkowska 2020). Gleichwohl wird die Arbeit in der Regel durch eine Frage geleitet, die die Wahrnehmung und das künstlerische Tun der Akteur*innen beeinflusst, wenn nicht sogar lenkt (vgl. Stamer 2007: 62). Oder, wie es Lilja (2016: 66) ausdrückt: Seeing the world with the eye of an artist means watching, listening and using your knowledge and intuition to relate to the present without taking anything for granted. It also means questioning, rethinking and broadering your vision. Mit Blick auf die Choreographische Forschung wird dann der Tanz selber zu einem Gegenstand, der befragt wird und »dessen überkommende [sic!] Ausdrucksformen nicht weiter selbstverständlich« sind (Servos 2008: 22). Choreographisches Arbeiten setzt eine »forschende Neugier« voraus (Schrödter 2016: 223) und wird im Tanztheater oder im zeitgenössischen Tanz häufig durch Fragen an die Tänzer*innen eingeleitet, zu denen sie über eigene Bewegungsrecherche in Improvisationsphasen nach Antworten suchen. Die gefundenen Antworten werden gesammelt, geordnet, aussortiert, künstlerisch arrangiert und die einzelnen Fragmente mittels der durch Pina Bausch bekannten Montagetechnik zusammengeführt. Für Kleinschmidt ist dabei beispielsweise erst durch die Abstraktion einer Emotion die Grundlage für Forschung gelegt: […], dass Emotionen erst durch ein abstrahierendes Vorgehen im Kontext von Research legitim werden. Für die Bewegungsqualitäten verwenden die Tänzer nicht Begriffe wie Angst oder Freude, die Emotionen bezeichnen, sondern damit verbundene Aktionen wie z.B. [sic!] retreat (zurückziehen) für Angst. Ziel ist es, sich immer wieder daran zu erinnern, eine ›abstrahierte Form von Angst‹ zu kreieren und nicht Angst oder Wut darzustellen. (2016: 106)

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Zur Diskussion, ob Kunst auch wissenschaftliche Forschung ist, siehe u.a. Klein (2015).

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Kleinschmidt beschreibt das Kennzeichen eines choreographischen Forschungsprozesses konkret entlang des choreographischen Prinzips abstract/concrete: Ein Schluchzen wird erst – recht naturalistisch – im Oberkörper angesetzt und dann auf einen Arm verlagert. Wo anfangs noch ein Wiedererkennen von Schluchzen entstehen kann, das durch die Vorstellung, dass hier Innerlichkeit ausgedrückt werden könnte, auf den Zuschauer wirkt, soll spätestens mit der Verschiebung auf den Arm deutlich gemacht werden, dass es um die abstrakte Intensität der Bewegung geht. (Kleinschmidt 2016: 105) Eine so verstandene Vermittlungsarbeit kann insofern als »Ort der Forschung« (Hardt 2016) angesehen werden, als dass sie durch eine individuelle Bewegungsrecherche Züge einer autoethnographischen Feldforschung innerhalb einer qualitativen Sozialforschung aufweist.

Das Konzept der Ästhetischen Forschung Mit der Ästhetischen Forschung hat Helga Kämpf-Jansen (2021) ein didaktisches Konzept vorgelegt, das sowohl für die künstlerische Praxis an der Hochschule (u.a. Peez 2015; Kathke 2019) als auch für den Kunstunterricht an Schulen (u.a. Kreutz 2019) tragfähig scheint. Wenig rezipiert ist bislang eine mögliche Adaption für andere künstlerische Fächer oder interdisziplinäre Veranstaltungen (vgl. Janczik und Czyrnick-Leber 2022). Gleichwohl bietet es sich gerade auch durch die unterschiedlichen Herangehensweisen und die Verbindung ästhetischer Bereiche für weitere künstlerische Disziplinen an. KämpfJansen (2021) gliedert ihr Konzept in fünf Bausteine8 , die im Folgenden skizziert werden:

Die Ausgangssituationen Wie schon für einen künstlerischen Forschungsprozess herausgestellt, kann sich der Ausgangspunkt auch für einen ästhetischen Forschungsprozess zum einen zwar sehr offen gegenüber Menschen, Dingen, der Natur oder auch einem Gefühl gestalten, benötigt jedoch von den Forscher*innen grundsätzlich 8

Kämpf-Jansen (2006) stellt darüber hinaus 15 Thesen auf, die hier nicht explizit aufgeführt werden.

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ein individuelles – auch längerfristiges – Interesse. »Insofern ist ästhetische Forschung immer subjektbezogen, wird selbst verantwortet und eigenständig organisiert.« (Kämpf-Jansen 2021: 11)

Orientierung an Alltagserfahrungen Einen zweiten Baustein sieht Kämpf-Jansen darin, sich alltäglichen Dingen mit einer hinterfragenden Neugier zuzuwenden, die zu neuen Verhaltensweisen mit Gegenständen und der Bewusstwerdung routinierter Handlungen führt. Durch den entdeckenden Umgang mit persönlich bedeutsamen Gegenständen kann ein Sammeln, ein Aussortieren und ein Neuordnen von Dingen initiiert werden (vgl. Kämpf-Jansen 2021: 12).

Künstlerische Strategien und Kunstkonzepte im Bereich aktueller Kunst Um das oben beschriebene Neuentdecken und Neuordnen produktiv weiter zu gestalten, verweist Kämpf-Jansen auf die Bedeutung des Rezipierens aktueller künstlerischer Werke und Strategien. Durch die Aneignung vielfältiger ästhetischer Möglichkeiten kann die eigene künstlerische Arbeit angereichert werden, ohne andere Konzeptionen unreflektiert zu übernehmen (vgl. Kämpf-Jansen 2021: 12f).

Die wissenschaftlichen Methoden Helga Kämpf-Jansen setzt den von ihr vorgeschlagenen ästhetischen Forschungsprozess insofern mit einem wissenschaftlichen Forschungsprozess gleich, da es auch in diesem um ein »Befragen […] und Recherchieren« geht, weiterhin um das Analysieren, Kategorisieren, Dokumentieren, Archivieren, Konservieren, Präsentieren und Kommentieren [sowie] […] um das Einordnen, Vergleichen, in Beziehung setzen [sic!] sowohl von Gegebenheiten und Erfahrungen der Alltagswelt als auch den Erfahrungen von Kunst, ihren Kontexten und den gegebenen Theorien (Kämpf-Jansen 2021: 13).

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Selbstreflexion und Ich-Erfahrung Neben einer durch Neugier geprägten künstlerischen Vorgehensweise und der Anwendung wissenschaftlicher Methoden in Form des Recherchierens führt die sich anschließende Selbstreflexion zu einem »Ausloten eigener Zugänge und Positionierungen« (Kämpf-Jansen 2021: 13). Im Rahmen ästhetischer Forschung sind die einzelnen [sic!] immer auch Grenzerfahrungen ausgesetzt, die ihre Erfahrungsräume erweitern, Gratwanderungen abverlangen und ›Selbst-Versuche‹ einschließen. (KämpfJansen 2021: 13) Zusammenfassend hält Kämpf-Jansen fest, dass Ästhetische Forschung durch vielfältige Handlungsweisen sowie offene und individuelle Entscheidungsprozesse den Akteur*innen zu neuen Erkenntnissen verhelfen kann. Mit ihrem Konzept führt sie die »Bereiche der Alltagserfahrung, der Kunst und der Wissenschaft« zusammen (Kämpf-Jansen 2021: 14). Diesen ist gemein, dass sie ihr Interesse aus Dingen, Situationen, Gefühlen und Fragen generieren, womit sich die Ästhetische Forschung geschmeidig in die Künstlerische Forschung integrieren lässt. So formuliert Julian Klein (2010: 27) mögliche gemeinsame Erkenntnisinteressen von Kunst und Forschung: Wer sind wir? Wie wollen wir leben? Was bedeuten die Dinge? Was ist wirklich? Was können wir wissen? Wann existiert etwas? Was ist Zeit? Was hat Schuld? Was ist Intelligenz? Wo ist Sinn? Könnte es auch anders sein? Mit dem folgenden Experteninterview wird die Frage aufgeworfen, inwieweit das Konzept der Ästhetischen Forschung auch für den (künstlerischen) Tanz adaptiert werden könnte. Die Wiedergabe des Gesprächs ist somit als Anregung für weitere (forschende) Denkanstöße zu verstehen.

Uta Czyrnick-Leber im Gespräch mit Gregor Zöllig (19.08.2021, Kunstcafé Bielefeld) UCL: Lieber Gregor, ich möchte mit Dir gerne über das Konzept der Ästhetischen Forschung sprechen. Dabei handelt es sich um ein Konzept aus der Kunstdidaktik, das von Helga Kämpf-Jansen entwickelt wurde. Bislang wurde es so gut wie nicht für den Tanz adaptiert, obwohl – so wie ich Deine Arbeit kennengelernt habe – es durchaus übertragbar zu sein scheint. Die Frage ist, ob dieses Konzept nicht schon im Zeitgenössischen Tanz oder im Tanz-

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theater zumindest ansatzweise umgesetzt wird, ohne dies explizit zu machen. In dem Konzept der Ästhetischen Forschung geht es darum, künstlerische Verfahren und wissenschaftliches Denken miteinander zu verknüpfen, d.h. vorwissenschaftliche Erfahrungen, die wir als Menschen machen, mit wissenschaftlichem Denken zu vereinen und uns damit einen neuen Zugang zur Welt zu schaffen. Helga Kämpf-Jansen hat 15 Thesen aufgestellt. Eine davon lautet, dass es bei Ästhetischer Forschung auch immer darum geht, eine Frage zu haben. Dies entspricht in der Regel auch geisteswissenschaftlichem Denken. Wie gehst Du vor, wenn Du mit Deinem Ensemble arbeitest? Stellst Du Fragen? GZ: Das kann ich zu 100 % bejahen. Fragen sind unheimlich wichtig. Vielleicht noch wichtiger als die Antworten. Mit einer Frage kann ein Stück oder ein Thema beginnen und enden. Der Prozess kann durch eine Frage angeschoben werden, um unterschiedliche Perspektiven, die für diesen Prozess wichtig sind, einzunehmen. Dadurch werden immer wieder auch weitere Fragen in den Mittelpunkt gerückt. Fragen sind wichtig, um ein Thema zu begreifen und zu durchdringen, um zu verstehen, um was es im Kern geht. Es gibt so viele Elemente, die für eine Choreographie wichtig sind. Vielleicht ist es zum einen das Fragen selber, zum anderen auch das Hinterfragen, welche Elemente man wirklich braucht. Inhaltlich sind Fragen wichtig, um mögliche Antworten oder Perspektiven zu definieren, die stimmig sind und überzeugen. UCL: Eine andere These besagt: Alles kann Anlass für eine Ästhetische Forschung sein: Eine Idee, ein Phänomen, ein künstlerisches Werk, eine Musik, eine Bewegung. Wo setzt Du an? Was sind für Dich Anlässe oder Gegenstände, mit denen Du choreographische Ideen entwickelst? GZ: Auch dieser These würde ich zustimmen. Ich bin sehr vorsichtig, wie ich einen kreativen Raum für ein Stück vorbereite und gestalte, denn alles kann einen Einfluss haben. Am Anfang steht eine Frage oder eine Idee. Und dann gibt es einen großen Sammelprozess. Und dieser Sammelprozess kann alles enthalten: von Bild über Text, ein Gespräch, ein Gedicht, einen Gegenstand, ein Kostüm, einen Film, eine Musik, eine Lichtidee. Hinzu kommen eigene Erfahrungen der Tänzerinnen und Tänzer, die szenische Ideen und Impros zum Thema generieren. Eigentlich sind da vorerst keine Grenzen gesetzt. Dann geht es im Prozess aber auch wieder darum, sich für bestimmte Dinge

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zu entscheiden. Also, dass man sich an Grenzen und auch Limits abarbeitet, was wiederum Kreativität möglich macht. Der Prozess ist so, dass am Anfang alles möglich scheint, aber aus dieser Fülle heraus muss man sich irgendwann fokussieren. Und man muss sich limitieren. Am Schluss ist mein Bedürfnis immer, mich zu reduzieren. UCL: Das entspricht dem genannten Konzept und größtenteils auch einem methodischen Vorgehen in der Wissenschaft. Zunächst einmal sehr viel über ein Thema zu sammeln, so wie Du es gerade beschrieben hast. Und in einem zweiten Schritt geht es dann darum, zu ordnen und zu kategorisieren. Und wissenschaftlich gesehen wäre dann der dritte Schritt, zu analysieren und zu vergleichen. Im künstlerischen Bereich ist dieses zum einen ein Vergleichen mit anderen Kunstwerken, aber auch mit sich selbst. Wie kann ich etwas durch eine Hinwendung zu mir selbst analysieren? GZ: Mein Bestreben ist es, für ein Thema einen eigenen Ausdruck zu finden. Durch einen persönlichen Zugang die Tänzer dazu zu bewegen, ihre eigenen Bewegungsformen und szenischen Ideen zu einem Thema zu finden. Und ich sage bewusst Formen und Szenen. Es geht darum, einen bestimmten Bewegungsablauf zu fixieren, nachdem man ihn vorher gesucht und untersucht hat. Beispielsweise war die Frage »Durch welches Gefühl, welche Ahnung, welche Situation nimmst du deinen Körper extrem wahr?« Ausgangspunkt für Improvisationen. Eine Tänzerin schlug sich selber eine ganze Zeitlang überall auf den Körper. Die Schläge und Klatscher wurden immer intensiver bis eine Stille eintrat. Aus dieser Stille entwickelte die Tanzkünstlerin ihr Bewegungsvokabular für eine extreme Körperwahrnehmung. Ein Tänzer schüttete sich eine große Menge Eiswasser über den Kopf und kreierte eine Ausgangssituation für seine Recherche. Im Generierungsprozess für eigene Bewegungen erinnere ich mich an ein bestimmtes Gefühl. Durch ein bestimmtes Tool oder eine bestimmte Wahrnehmungsaufgabe generiere ich kleine Momente und Fragmente. Es sind kleine Kostbarkeiten, die wir so sammeln. Nicht unerheblich für den kreativen Prozess ist, dass wir uns die Impros gegenseitig zeigen. Diese Impros werden alle durch Filmaufnahmen dokumentiert. So kann es sein, dass wir über die Probenprozessdauer bis zu 500 Ideen sammeln. Nachdem ich diese den Tänzer*innen zugeordnet habe, wähle ich die eindringlichsten, aussagekräftigsten und für mich überzeugendsten Impros aus.

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Aber es ist auch sehr interessant, wenn man mit mehreren Tänzerinnen und Tänzern eine Choreographie erarbeitet, dass man erst einmal die Bewegungsfindung definiert (Eukinetik) und dann die Bewegung im Raum (Choreutik) gestaltet. Dass man in den Raum hineingeht und damit unterschiedliche choreographische Bilder baut. Und dann kann ich mich als Choreograph entscheiden, diese Formen zu formalisieren, indem ich choreographische Strukturen erfinde, die Bewegung auch synchron tanzen lasse oder in einem Kanon verdichte. Wenn ich diese persönlichen Bewegungen andere Tänzerinnen und Tänzer nachlernen lasse, forsche ich über eine bestimmte Bewegungswirkung. Denn es gibt Bewegungen, die sind eher für Soli gedacht und es gibt Bewegungen, die wirken in der Gruppe sehr intensiv und dynamisch. Und manche Bewegungen wirken in der Gruppe nicht dynamisch. Und natürlich ist es immer auch eine Frage von Energie. Die Energie und die energetische Arbeit mit der Form bestimmen, was der Ausdruck in der Bewegung bedeutet. Man muss über einen langen Suchprozess genau definieren, welchen Ursprung und welche Dynamik eine Bewegung hat und welche Form eine Bewegung haben soll, um sie wiederholbar zu machen. Und so ordnet sich am Ende eine choreographische Sequenz, die ein Baustein des Tanzabends sein kann. UCL: Du arbeitest mit Tanzprofis. Für die Tänzerinnen und Tänzer aus Deinem Ensemble ist eine Improvisations- oder Bewegungsaufgabe eine Aufforderung, der sie gerne nachgehen. Wenn man aber mit Laien arbeitet – und Du hast ja sehr viel Erfahrung auch im Bereich von Community-Dance-Projekten – dann kann ich zumindest für meine Arbeit feststellen, dass Improvisationsaufgaben, die mit dem Körper bearbeitet und mit Bewegungen vollzogen werden sollen, häufig zu Hemmungen führen. Dass gerade Improvisationsaufgaben leichter mit professionellen Tänzern und Tänzerinnen durchgeführt werden können, weil diese ein großes Bewegungsrepertoire haben. Arbeitest Du in den Community-Dance-Projekten auch mit Improvisationsaufgaben oder Bewegungsaufgaben? GZ: Ja, und ich glaube, dass für Profis wie für Laien die Grundlage für Improvisationen ein sicherer und geschützter Raum ist, der Vertrauen zulässt. Ich denke mir, dass wir zwar selbstsicher im Leben stehen können, auch wenn wir keine professionellen Tänzer sind, aber dass man doch auf einmal sehr große Hemmungen haben kann, sich voreinander oder miteinander in einer Gruppe zu bewegen. Je mehr es uns gelingt, in der Arbeit mit Laien den äuße-

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ren Blick zu verlieren, also den Blick nur noch auf sich selber zu fokussieren, umso mehr kann man das Vertrauen in sich selber und in seinen Körper finden. Dann gelingt uns das Sich-selber-Loslassen und Sich-Trauen, die eigene Sprache zuzulassen. Ich denke, jeder hat eine sehr eigene Körpersprache. Es bedeutet, einen Prozess zuzulassen, den Körper reden zu lassen und auf ihn zu hören. Und wenn man diesen Dialog ganz lange nicht zugelassen hat, dann ist er verkümmert. Man muss wieder lernen, mit dem Körper auch Dinge zu sagen und dem Körper zu vertrauen. Und ich glaube, es ist nicht so sehr die Frage, können Laien improvisieren – ja klar können Laien improvisieren. Aber zuerst geht es darum, das Vertrauen in sich und den Körper herzustellen. UCL: Ein Ziel der Ästhetischen Forschung ist es auch, über die Fragestellung, das Thema und den Gestaltungsprozess, einen Bezug zu sich selbst herzustellen. Was hat das mit meinem Leben, meiner Biographie zu tun? GZ: Da würde ich mitgehen. Mit der künstlerischen Arbeit berühren wir oder durchdringen wir sehr viele Seiten in uns, die uns vielleicht nicht bekannt sind, die uns stören oder die hässlich sind, die wir aber zulassen müssen. Und das ist nicht einfach. Diese Transparenz müssen wir haben und zulassen. Weil darin die stärksten Ideen, Momente und Bewegungen liegen. Ich schöpfe aus mir selber. Aus meinem Erfahrungsreichtum. Da kann ich meine Herkunft, Erziehung und was mich ausmacht nicht außen vorlassen. Und ich denke, das ist die Kunst, die Choreographen-Kunst: etwas zu finden, das so existentiell ist, dass es einen anderen berührt. Und dass man damit wieder eine Art Auseinandersetzung beginnen kann, mit sich und dem Publikum. UCL: Was denkst Du, wozu brauchen wir Ästhetische Forschung? Warum sollten wir uns immer wieder neue Fragen stellen, warum sollten wir neugierig sein? GZ: Also, ich möchte nicht in einem Dumpf [sic!] leben. (Lacht). Mir ist es wichtig, dass ich mich mit ästhetisch schönen Dingen umgebe, die mir gefallen und die für mich eine Geschichte haben. Mir ist eine gepflegte Lebensform wichtig, weil sie mich beeinflusst. Mir ist es wichtig zu überlegen, wie ich leben will und warum ich leben will. Und ich glaube, das sind die wichtigen Werte- und Sinnfragen, um eine Lebensqualität zu erreichen. Kultur ist existentiell wichtig für unser Leben. […]. Es gibt de facto auch nichts ohne Ästhetik. Das ist auch das, was wir uns nicht begreiflich machen. Jeder Gedanke, jede Idee ist Ästhetik. […]

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UCL: In dem Kanon der Künste, den Du gerade angesprochen hast – also Musik, Architektur, Literatur – Wo siehst Du den Tanz? GZ: Also für mich an erster Stelle. (Lacht). Und ich glaube, ohne Bewegung läuft nichts im Leben, kommt man auch nicht weiter, bleibt man stehen. (Lacht). Und hier würde ich gerne einen Dada-Spruch zitieren: Es geht, es geht, es geht, es geht, es geht, … Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen, es steht. (Lacht). UCL: Was würdest Du Kulturvermittler*innen, Lehrerinnen und Lehrern empfehlen, wie sie Menschen wieder ihrem Körper und ihren Bewegungen nahebringen können? Dass sie mehr auf ihre Sinne achten, achtsamer mit ihren Bewegungen umgehen oder auch bewusst mit ihnen arbeiten. […] Vielen jungen Menschen scheint es sehr schwer zu fallen, einen Ausdruck über ihren Körper zu finden und sich über ihn mitzuteilen. Stellst Du dies auch in Deinen Community-Projekten fest? Was würdest Du Vermittler*innen an die Hand geben oder raten, wie sie Menschen wieder näher zu ihrem Körper oder zu einem Bewusstsein über ihren Körper führen können? GZ: Ich würde sagen: Vermittelt Eure Leidenschaft zur Kultur. Vermittelt Eure Liebe dazu. Aber ich glaube, wir leben gerade in einer Gesellschaft, die immer körperfeindlicher wird. Weil das Digitale das Körperliche nicht gerade befördert. Und ich habe das Gefühl, wir werden immer mehr zu Körperlegasthenikern. Und wenn wir das Sinnliche nicht wieder mehr erleben, also mit den Sinnen leben oder mit dem Körper leben, dann fehlt uns meines Erachtens eine ganz schöne Qualität, die super Spaß macht. Vielleicht sollten wir uns einfach mehr in die Arme nehmen und diese Berührung zulassen. […] Tanzen ist ein Lebensgefühl. Tanzen ist etwas, das man tun muss oder tun soll, damit man gut leben kann. Tanzen tut man aus Freude, weil man ein Fest feiern will oder weil man einfach Bock hat und einander zeigen will, dass man sich liebt. Man tanzt, wenn dich der Blues ergreift und man sich einfach auspowern muss. Es gibt viele Gründe, warum Tanz und Bewegung sinnvoll, notwendig und existentiell wichtig sind. Und das muss man zulassen. Und da führt kein Weg vorbei. Und wenn man sich auf eine Tanzfläche oder eine andere Bühne des Lebens stellt, muss man ein wenig mutig sein. Und dieses bisschen Mut muss jeder selber aufbringen. Aber das muss man immer im Leben.

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Dingbezogene Assoziations- und Erfahrungsräume

Künstlerische Abschlussarbeit: #Licht #Schatten Sina Schwarma

»Ich fand, das sah auch schon sehr wie ein Segel aus.« Qualitative Studie zu malerischen Ausdeutungen selbstkonstruierter Objekte im Kunstunterricht Carolin Ehring

Einleitung und Fragestellung Material und Materialität sind ein wichtiges Themenfeld kunstpädagogischen Handelns, mit dem Petra Kathke sich in Lehre, Forschung und in der Kunstpraxis mit Kindern wiederholt intensiv auseinandergesetzt hat. In zahlreichen Veröffentlichungen arbeitete Kathke das aktivierende Potenzial verschiedener Materialgruppen für künstlerisches Lernen heraus (u.a. Kathke 2019 und 2021b), setzte sich mit dem ästhetischen Dialog zwischen Kind und Material auseinander (u.a. Ehring und Kathke 2021) und betonte die Bedeutung von Materialerfahrung für die kindliche Welterschließung (u.a. Kathke 2005). In ihrem Aufsatz Mit den Augen den Händen folgen, die dem Verstand vorauseilen … – Haptisch visuelle Erfahrungen und raumbezogenes Gestalten (Kathke 2014) thematisiert sie den Zusammenhang zwischen Materialerfahrungen, initiierten haptischen Handlungen und der dadurch angeregten Imagination. Ein besonderes Potenzial für den Grundschulunterricht sieht Kathke hierbei an Schnittstellen zwischen zwei- und dreidimensionalen Darstellungsweisen, beispielsweise in Form von Übersetzungen selbstkonstruierter Objekte in malerische Arbeiten: Indem sie [die Kinder, Anm. d. Verf.] malerische Lösungen und thematische Interpretationen für das finden, was sie zuvor gebaut haben, deuten sie es in eigensinniger Weise und erfahren in der Zusammenschau die Mehrdimensionalität und Bezüglichkeit des Geschaffenen. (Kathke 2014: 92)

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Der vorliegende Beitrag widmet sich genau diesem Übergang von selbstgebauten dreidimensionalen Objekten zu zweidimensionalen malerischen Arbeiten. So werden Teilaspekte eines Unterrichtsvorhabens mit 5.Klässler*innen eines Bielefelder Gymnasiums ausgewertet, in dem die Kinder im Kunstunterricht Objekte aus selbstgesammelten Hölzern und Gipsbinden bauten und diese anschließend malerisch ausdeuteten.1 Durch exemplarische Analysen der entstandenen Schüler*innenarbeiten wird untersucht, welche spezifischen Objekteigenschaften die Kinder in ihren Bildern malerisch aufgreifen. Anhand der Auswertung von Leitfaden-Interviews mit neun Schüler*innen wird darüber hinaus rekonstruiert, welche weiteren Einflüsse und Einstellungen bei der malerischen Ausdeutung eine Rolle spielen.

Forschungsstand Die vorliegende Studie lässt sich dem Bereich Kinderzeichnungsforschung zuordnen, der einen großen Stellenwert im Feld kunstpädagogischer Forschung einnimmt.2 Zu zeichnerischen und malerischen Gestaltungsprozessen von Heranwachsenden finden sich zahlreiche Studien (u.a. Scholter 2017; Ströter-Bender und Wiegelmann-Bals 2017; Wachter 2018). Forschungen zum plastischen und räumlichen Gestalten von Kindern und Jugendlichen liegen zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen vor u.a. von Stefan Becker (2003) zur Entwicklung des plastischen Gestaltens von Kindern und Jugendlichen, von Oliver M. Reuter (2007) zum Einfluss von Material auf das Experimentierverhalten von Kindern und von Nicole Berner (2013) zum Umgang von Grundschulkindern mit spezifischen plastischen Materialien. Kaum erforscht wurden bislang jedoch explizit Schnittstellen zwei- und dreidimensionaler Ausdrucksformen von Kindern. Hier liegen vor allem Be1

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Das Unterrichtsvorhaben wurde von der Autorin nach einer Unterrichtsidee von Heike Thienenkamp (Thienenkamp 2021) durchgeführt. Die Doppelrolle der Autorin als Lehrerin und Forscherin wird im Kapitel Doppelrolle Lehrerin/Forscherin reflektiert. Der Begriff Kinderzeichnung beschränkt sich nicht auf zeichnerische Produkte, sondern schließt »[…] alle möglichen Ausdrucksformen des bildnerisch-ästhetischen Verhaltens ein […]« (Kirchner et al. 2010: 9). Neben zweidimensionalen Ausdrucksformen werden in der Kinderzeichnungsforschung somit auch jegliche Formen dreidimensionalen Gestaltens, aber auch performative, digitale, akustische und sprachliche Ausdrucksformen von Kindern und Jugendlichen aufgegriffen.

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richte aus der Unterrichtspraxis vor, wie etwa Björn Fölls Beitrag in der Zeitschrift Kunst + Unterricht: Nach einem Museumsbesuch fertigen Schüler*innen plastische Skizzen zu den Figuren von Max Ernsts Gemälde Geburt der Komödie (1947) an. Föll verweist in diesem Zusammenhang auf die »mehrdeutige dreidimensionalen Erweiterung« des zweidimensionalen Bezugswerks (Föll 2020: 24). In einem weiteren Schritt inszenieren die Schüler*innen ihre Plastiken fotografisch. Die Fotos dienen als Ausgangspunkt für eine zeichnerische bzw. malerische Umsetzung, so dass in dem Unterrichtsprojekt ein mehrfacher Medienwechsel stattfindet. Zwar weist Föll darauf hin, dass am Ende Schüler*innenarbeiten entstanden sind, die »sich sehr ergiebig mit dem Ausgangswerk vergleichen lassen, ohne dass sich zu wenig Gestaltungsfreiraum ergeben und andererseits beliebige Offenheit geherrscht hätte« (Föll 2020: 25). Allerdings fehlen hier Reflexionen, welche Rückschlüsse Schüler*innen aus diesen Vergleichen ziehen können und inwieweit sich daraus ein kunstpädagogischer Mehrwert ableiten lässt. Theoretische Anknüpfungspunkte für die vorliegende Studie bietet Hermann Hinkels Handlungsmodell zur Analyse von Kinderzeichnungen (2000): In seinem Modell berücksichtigt Hinkel gleichermaßen das Objekt (d.h. in seinem Fall die Kinderzeichnung) und das Kind, welches u.a. durch sein Alter, seinen individuellen Entwicklungsstand, Anregungen durch Familie/Schule/ Vorbilder/andere Zeichnungen sowie durch die allgemeine gesellschaftliche und soziale Situation beeinflusst werde (vgl. Hinkel 2000: 62). Hinkels theoretisch entwickeltes Modell zeigt somit verschiedene mögliche Einflussfaktoren auf ästhetische Gestaltungsprozesse auf, deren Rekonstruktion für den vorliegenden Beitrag von Bedeutung ist. Auch in der Einzelfallstudie zu Indikatoren zeichnerischer Kompetenzen von Monika Miller (2010) werden mögliche Einflussfaktoren auf zeichnerische Prozesse thematisiert. Miller stellt die These auf, dass Zeichenprozesse u.a. von motorischen und intellektuellen Fähigkeiten beeinflusst, sowie von emotionalen Aspekten, individuellen Erfahrungen und Interessen geleitet würden (vgl. Miller 2010: 74).3 Obgleich sich Millers Überlegungen auf den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Vorstellungsbildung und Bildmotiv

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Weitere der von Miller genannten Aspekte wie etwa der »Grad der Intensität der Beschäftigung« (Miller 2010: 74) erscheinen für die Fragestellung der vorliegenden Studie nicht von Bedeutung.

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beim gegenständlichen Zeichnen4 beziehen, ist zu untersuchen, inwieweit sich ähnliche Einflussfaktoren beim malerischen Ausdeuten selbstkonstruierter Objekte in der vorliegenden Studie rekonstruieren lassen.

Unterrichtskontext und methodisches Vorgehen Beschreibung des Unterrichtskontextes Der vorliegenden Studie liegen zwei Doppelstunden zugrunde, die von der Verfasserin mit 29 Schüler*innen einer 5. Klasse an einem Bielefelder Gymnasium im Rahmen des Kunstunterrichts durchgeführt wurden. In der ersten Doppelstunde konstruierten die Kinder in Kleingruppen Objekte aus Hölzern und Gipsbinden, in der zweiten Doppelstunde deuteten sie die angefertigten Stock-Objekte malerisch individuell aus. Erste Doppelstunde: Konstruktion von Stock-Objekten in Gruppenarbeit: Der Kunstunterricht beginnt mit einem gemeinsamen Gang zu einer Wiese auf dem Schulgelände, auf der diese Stunde stattfindet. Nachdem die Kinder sich in 2er- bzw. 3er-Gruppen zusammengesetzt und ihre mitgebrachten Hölzer5 vor sich ausgebreitet haben, fordert die Lehrerin sie dazu auf, aus den Stöcken ein Objekt zu bauen, das stabil stehen kann und interessant aussieht. Zur Verbindung der Stöcke steht jeder Gruppe eine Rolle Gipsbinden zur Verfügung, deren Handhabung exemplarisch demonstriert wird. Darüber hinaus verfügt jede Gruppe über eine Schere zum Zerschneiden und einen kleinen Eimer mit Wasser zum Eintauchen der Gipsbinden. Ein weiterer Eimer, der mit Sand gefüllt ist, kann genutzt werden, um das Objekt während des Bauprozesses zu fixieren. Bis auf wenige Ausnahmen arbeiten die Kinder konzentriert an ihren Objekten, tauschen sich über das weitere Vorgehen aus und lösen gemeinsam auftretende Probleme, z.B. wenn einzelne Hölzer verrutschen oder abfallen. Das Ende der Bauphase wird dadurch erreicht, dass entweder die mitgebrachten Hölzer oder die zur Verfügung

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In dem entsprechenden Fallbeispiel untersucht Miller mittels Videographie den Zeichenprozess eines zehnjährigen Mädchens, das ein vor ihr aufgebautes Stillleben aus Obst und Küchengeräten zeichnet. Zur Vorbereitung hatte die Kunstlehrerin die Kinder darum gebeten, zur nächsten Kunststunde ungefähr fünf Stöcke zu sammeln und mitzubringen, die nicht länger als ein Unterarm und nicht dicker als ein Handgelenk sein sollten.

»Ich fand, das sah auch schon sehr wie ein Segel aus.«

stehenden Gipsrollen aufgebraucht sind. Teilweise tauschen die Gruppen aber auch untereinander Materialien aus. Zweite Doppelstunde: Individuelle malerische Ausdeutung der Stock-Objekte: Zu Beginn der nächsten Doppelstunde transportieren die Schüler*innen ihre Objekte in den Kunstraum. Sie werden von der Lehrerin aufgefordert, ihre Objekte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten: »Was könnten die Objekte darstellen? Erinnern die Formen an irgendetwas? Male ein Bild, auf dem du dein Objekt ausdeutest. Du darfst dein Bild beliebig gestalten und auch zusätzliche Bildelemente ergänzen.« Einige Kinder hatten bereits während des Bauprozesses Assoziationen zu ihrem Objekt, die sie sofort zu Bildideen anregen. Andere Kinder tauschen sich zunächst mit ihren Nachbar*innen aus, beginnen damit, ihnen passend erscheinende »Stockfarben« anzumischen oder die Form ihrer Objekte mit einem Bleistift vorzuzeichnen. Nach Fertigstellung der malerischen Ausdeutungen verfassen alle Schüler*innen kurze Reflexionstexte, in denen sie ihren Arbeitsprozess beim Bauen der dreidimensionalen Stockobjekte reflektieren und beschreiben, was sie auf ihrem Bild dargestellt haben.

Datenerhebung und -auswertung Auf Grundlage der Reflexionstexte und der entstandenen Bilder wählt die Verfasserin zehn Kinder (sechs Mädchen und vier Jungen) aus, deren Antworten einerseits die Mehrheit der Lerngruppe repräsentieren, gleichzeitig aber auch eine maximale Kontrastierung innerhalb der Bilder der Klasse aufweisen (z.B. in Hinblick auf den Darstellungsmodus). Von den ausgewählten Kindern möchten sich sechs Mädchen und drei Jungen zu ihren Arbeiten interviewen lassen. Die Interviews werden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in leeren Räumen neben dem Klassenzimmer der Kinder durchgeführt und dauern zwischen sieben und neun Minuten. Zu Beginn des Interviews sucht jedes Kind aus einer Fotoauswahl die Abbildung seines selbstgestalteten Stockobjekts heraus, das im ersten Teil des Interviews im Zentrum steht. Im zweiten Teil des Interviews legt der Interviewer6 jedem Kind sein selbstgestaltetes Bild vor, so dass im Gesprächsverlauf darauf Bezug genommen werden kann. Die Interviews werden mit einem Audioaufnahmegerät festgehalten, von der

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Die Interviews wurden von einem Studenten geführt.

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Verfasserin wörtlich transkribiert7 und mittels einer QDA-Software codiert und ausgewertet. Die Auswertung erfolgt nach dem Prinzip der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz. In einer initiierenden Textarbeit werden die Transkriptionen sorgfältig gelesen, wichtig erscheinende Textpassagen markiert und Anmerkungen in Form von Memos festgehalten (vgl. Kuckartz 2018: 101). Im nächsten Schritt findet eine grobe Codierung des Materials entlang induktiv entwickelter Hauptkategorien statt. In weiteren Durchgängen werden die Kategorien am Material ausdifferenziert sowie zusätzliche Kategorien direkt am Material generiert. Die Ergebnisse aus diesen beiden Schritten werden in einem Kodierleitfaden zusammengefasst: Jede Kategorie definiert sich nach thematischen Kriterien und wird durch Ankerbeispiele im Text exemplarisch belegt. Eine Überprüfung des Kodierleitfadens erfolgt im Rahmen eines Seminars zum Thema Ästhetische Ausdrucksformen in der Kindheit an der Europa-Universität Flensburg: Kunstpädagogikstudierende im Masterstudium erproben ihn am Material und diskutieren die thematischen Hauptkategorien sowie die ausdifferenzierten Unterkategorien. In einem erneuten Durchgang durch das Material lassen sich die ausdifferenzierten Kategorien den entsprechenden Textstellen zuordnen. In fallbezogenen thematischen Summaries werden die Aussagen der Schüler*innen zusammengefasst. Die Summaries dienen sowohl der Komprimierung und Abstrahierung als auch der besseren Gegenüberstellung der einzelnen Fälle. Durch die Auswertung der Interviews lässt sich rekonstruieren, wovon die Kinder sich aus ihrer Sicht bei der malerischen Ausdeutung ihrer Objekte beeinflussen ließen. In ihren verbalen Reflexionen nehmen die Schüler*innen subjektive Schwerpunktsetzungen vor, wobei sie implizites Wissen insbesondere in Hinblick auf gestalterische Entscheidungen nicht verbalisieren. So lässt sich nur durch eine vergleichende Analyse von Objekt und Bild feststellen, inwieweit die Kinder spezifische Eigenschaften ihrer selbstgebauten Stockobjekte malerisch aufgreifen. Die Auswertung der zwei- und dreidimensionalen Schüler*innenarbeiten erfolgt in Anlehnung an das Handlungsmodell zur Analyse von Kinderzeichnungen von Hermann Hinkel (2000). Hinkels konzeptionell entworfenes Modell bezieht sich auf Analyseverfahren aus der Kunstwissenschaft. Es lässt sich sowohl auf sogenannte freie Kinderzeichnungen als auch auf aufgabengebunde7

Die Transkription erfolgt nach den von Antje Langer zusammengestellten Transkriptionsregeln (Langer 2010: 523).

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ne Kinderzeichnungen anwenden. Zwar hat Hinkel sein Modell ursprünglich zur Analyse von Zeichnungen entworfen, in leicht modifizierter Weise ist es jedoch auf die Analyse malerischer und plastischer Gestaltungen übertragbar. Aus Gründen des Umfangs wurden für diesen Beitrag die gestalterischen Arbeiten von drei interviewten Kindern exemplarisch ausgewählt: Nana, Janna und Milo.8 Die Auswahl begründet sich damit, dass die malerischen Ausdeutungen dieser drei Proband*innen innerhalb des vorliegenden Datenmaterials eine maximale Kontrastierung der eingesetzten malerischen Gestaltungsmittel aufweisen.

Doppelrolle Lehrerin/Forscherin In der empirischen Unterrichtsforschung gibt es zahlreiche Beispiele, in denen Forschende gleichzeitig die Funktion der Unterrichtenden übernehmen und somit eine Doppelrolle einnehmen, die es kritisch zu reflektieren und diskutieren gilt (u.a. Lähnemann 2007; Cordes 2018; Malmberg 2020). In der Literatur werden dazu zahlreiche positive Aspekte genannt, wie z.B. der unkomplizierte Feldzugang, genaue Kenntnisse über strukturelle Voraussetzungen und die Möglichkeit einer direkten Rückführung der Forschungsergebnisse in den eigenen Unterricht. Gleichzeitig stellen sich einige Autor*innen die Frage, wie im Rahmen der Doppelrolle die wissenschaftlich notwendige Objektivität gewährleistet werden kann (vgl. Lähnemann 2007: 407f.). Darüber hinaus können Verzerrungen eintreten, wenn beispielsweise die Schüler*innen irritiert von der veränderten Lehrer*innenrolle sind und sich anders als gewöhnlich verhalten (vgl. Cordes 2018: 180). Damit die Kinder in dem vorliegenden Beispiel nach Möglichkeit kein vermeintlich erwünschtes Verhalten zeigen, informiert die Verfasserin ihre Schüler*innen erst nach Ausfüllen der Reflexionsbögen über ihre Forschungsabsicht. Sie weist darauf hin, dass die Teilnahme an den Interviews freiwillig9 erfolgt, eine Teilnahme sich weder positiv noch negativ auf die Kunstnote der Schüler*innen auswirkt und alle erhobenen Daten anonymisiert werden. Während der beiden Doppelstunden gibt die Autorin zwar jeweils zu Beginn einen gestalterischen Impuls und stellt das zur Verfügung stehende Material vor (siehe Beschreibung des Unterrichtskontextes), hält sich ansonsten aber 8 9

Die Namen der teilnehmenden Kinder wurden durch andere Namen ersetzt. Die Interviews werden erst nach Zustimmung der Erziehungsberechtigten durchgeführt, die schriftlich über das Forschungsvorhaben informiert werden.

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im Hintergrund und übernimmt in erster Linie organisatorische Funktionen, indem sie zum Beispiel Acrylfarben auf den Mischpaletten der Kinder nachfüllt und den Bauprozess der Kinder fotografisch dokumentiert. Sie versucht somit, inhaltliche Schüler*innen-Lehrer*innen-Interaktionen zu minimieren und das ästhetische Verhalten der Schüler*innen möglichst wenig zu beeinflussen.10 Eine Herausforderung stellt die Durchführung der Interviews dar: Das bei Interviews mit Kindern ohnehin vorhandene hierarchische Gefälle zwischen Kindern und Erwachsenen (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010: 115) könnte durch die institutionalisierte Hierarchisierung von Lehrer*innen als bewertende Personen und Schüler*innen als bewertete Personen ggf. zusätzlich zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. So wäre es möglich, dass Schüler*innen in der Hoffnung auf eine positive Bewertung durch die Lehrkraft Antworten geben würden, von denen sie ausgingen, dass sie von ihnen erwartet würden. Auch ein besonders positives bzw. besonders negatives Schüler*innen-Lehrerin-Verhältnis könnte die Antworten der Kinder beeinflussen. Obwohl es in Interviewsituationen nahezu unmöglich ist, Verzerrungen komplett auszuschließen, wird immerhin der befürchtete Lehrer*innenSchüler*innen-Effekt in der vorliegenden Studie dadurch zu umgehen versucht, dass die Interviews von einem zum Zeitpunkt der Durchführung an der Schule anwesenden Praxissemesterstudenten auf Grundlage eines von der Autorin verfassten Leitfadens durchgeführt werden. Ein weiterer Vorteil ist, dass der Student, dem Interviewsituationen vertraut sind, nicht an der Durchführung des Unterrichts beteiligt ist, so dass die Kinder sich in ihren Ausführungen nicht auf gemeinsam vorhandenes Wissen beziehen können. Im Auswertungsprozess wird eine möglichst große Objektivität durch das stark geleitete Vorgehen bei der Analyse, den Austausch mit anderen Kunstpädagog*innen sowie durch das Erproben und Diskutieren des Kodierleitfadens mit Studierenden im Rahmen einer Interpretationswerkstatt angestrebt.

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Die erhobenen Daten sind dennoch stets im Kontext des dargestellten Unterrichtssettings einzuordnen.

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Ergebnisse Das vorliegende Unterrichtssetting ist so angelegt, dass Kinder malerisch auf ihre selbstkonstruierten Stockobjekte, d.h. auf zuvor nicht existente visuelle Motive reagieren. Da die Kinder somit nicht auf bekannte Schemata und Lösungskonzepte zurückgreifen können, ist von besonderem Interesse, welche spezifischen Objekteigenschaften die Kinder in ihrer malerischen Ausdeutung aufgreifen. Dieses lässt sich durch eine vergleichende Analyse von Objekt und Malerei rekonstruieren, wie es im Folgenden anhand von drei Fallbeispielen geschieht (vgl. Kapitel Malerisches Aufgreifen spezifischer Objekteigenschaften). Für die Rekonstruktion von Inhalten und Einflüssen, die außerhalb der gestalterischen Arbeiten liegen, werden anschließend die Ergebnisse aus der Auswertung der neun Leitfaden-Interviews zusammengefasst (vgl. Kapitel Rekonstruktion innerer Vorgänge durch Leitfadeninterviews). Hierbei lassen sich »innere Vorgänge« (Peez 2013: 681) aus subjektiver Perspektive der Schüler*innen rekonstruieren.

Malerisches Aufgreifen spezifischer Objekteigenschaften Farbe und Form in Nanas Segelboot Das Objekt, das Nana gemeinsam mit zwei Mitschülerinnen gestaltet hat, ist ca. 95cm hoch. Es besteht aus in der Natur aufgesammelten, überwiegend gerade gewachsenen Hölzern, die mit Gipsbinden verbunden wurden. Das Objekt lässt sich in drei Segmente gliedern: Einen Ständer (ein breiter Ast, der leicht schräg im Sandeimer verankert wurde), eine geometrische Form (fünf Holzstücke, die gemeinsam den geschlossenen Umriss einer gedachten viereckigen Fläche inklusive einer Querstrebe bilden) sowie vier Stützen (Holzstücke am Boden zur Stabilisierung des Objekts). Das Objekt wirkt flächig, da die meisten Hölzer in einer vertikalen Ebene angeordnet wurden. Lediglich die sich paarweise gegenüberstehenden Stützen sind im 45-Grad-Winkel zur vertikalen Ebene angeordnet. Für die Betrachter*innen ergeben sich dadurch zwei mögliche Hauptansichten. Bei der Gestaltung der Oberfläche fällt auf, dass die Mädchen den Gips nicht nur an den Verbindungsstellen eingesetzt, sondern darüber hinaus großflächig über die Stöcke verteilt haben. Eine Ausnahme bilden die Stützen, die größtenteils in ihrem natürlichen Zustand belassen wurden. Ihre malerische Ausdeutung gestaltet Nana mit Acrylfarben auf einem Zeichenblock im Format DIN A2. Den Proportionen ihres Objekts folgend

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Abb. 1: Stockobjekt und malerische Ausdeutung von Nana

entscheidet die Schülerin sich für ein Hochformat, auf dem sie ihr Objekt formatfüllend positioniert. Auf den ersten Blick erinnert die Malerei an ein klassisches Standlinienbild, das innerhalb der zeichnerischen Entwicklung von Kindern von der Kinderzeichnungsforschung der Schemaphase zugeordnet wird, in der Kinder Sinnzeichen erfinden (vgl. Philipps 2011: 98). So weist das Bild eine klare Bildstruktur auf, die in die Bereiche Boden (in diesem Fall einer leicht gekrümmten rosafarbenen Fläche mit gelben Punkten), Luft (hier wurde das Stockobjekt auf der weißgelassenen Bildfläche positioniert) und Himmel (ein blauer Streifen an der oberen Blattkante) unterteilt ist. Durch Kontextwissen aus dem Interview ist bekannt, dass Nana ihr Stockobjekt als Segelboot ausgedeutet hat, so dass die getupfte Bodenfläche vermutlich den Rumpf ihres Schiffs darstellen soll. Im Vergleich von Objekt und Malerei fällt auf, dass Nana im Wesentlichen zwei Objekteigenschaften bei der malerischen Ausdeutung aufgreift: die Form- und die Farbgebung. So bemüht Nana sich sichtbar, die charakteristische Form ihres selbstgebauten Objekts möglichst genau wiederzugeben: In verschiedenen Brauntönen hält sie die Position der Stöcke von Ständer

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und geometrischer Form malerisch fest, begradigt dabei allerdings die Stockkrümmung auf der linken Seite, was verwunderlich ist, da insbesondere diese Krümmung typisch für ein vom Wind aufgeblähtes Segel sein könnte. In der Mitte des Segels ergänzt Nana eine parallele Linie zur Querverbindung, so dass der Eindruck einer Strickleiter entsteht, welche thematisch gut zum Sujet Segelboot passt. Eine Gegenüberstellung von Objekt und Bild zeigt, dass Nana die Stützen ihres Objekts im Bild weglässt. Hier ist zu vermuten, dass die Stützen für die Schülerin nur eine dienende Funktion haben und nicht als Teil des Objekts wahrgenommen werden. In Hinblick auf die Farbgebung fällt auf, dass Nana nicht die fleckigen, durch Gipsreste verursachten Weißtöne ihres Objekts aufgreift, sondern den natürlichen braunen Farbton der Hölzer zu Beginn des Bauprozesses wählt. In Anlehnung an die Schemaphase in der Entwicklung der Kinderzeichnung könnte dies so interpretiert werden, dass die Schülerin Braun als Merkmalfarbe einsetzt, d.h. als charakteristische Farbe für den Gegenstand Baumstamm wählt (vgl. Philipps 2011: 92f.). In dem Bild sticht die große gelbe Fläche hervor, die laut Nanas Erklärung ein Segel darstellen soll. Das eingetrübte Gelb ist fleckig aufgetragen, die Pinselspuren sind deutlich zu erkennen. Ein besonderer Umgang mit Farbe zeigt sich auch am Schiffsrumpf, an dem Nana die bräunlich getrübte gelbe Farbe, die sie bereits beim Segel verwendet hat, auf die rosafarbene Fläche tupft. Im Interview gibt die Schülerin an, dass sie das gemacht habe, um ein Muster zu erzeugen. Ein Blick auf das Bild ihrer Sitznachbarin Conny legt allerdings noch eine andere Vermutung nahe: So könnte Nana durch den Bildhintergrund der Weihnachtsmütze auf Connys Bild beeinflusst worden sein, der aus gleichmäßig gesetzten großen Tupfen in unterschiedlichen Farben besteht.

Jannas Bemühen um Wirklichkeitsnähe zum Objekt Gemeinsam mit einer Mitschülerin hat Janna ihr Objekt aus selbstgesammelten Hölzern und Gipsbinden konstruiert. Auf den ersten Blick wirkt das Objekt wie eine verzweigte Astgabel, die sich in ähnlicher Form auch in der Natur vorfinden ließe: Von einem breiten Hauptast teilen sich zwei schmalere Nebenäste, die sich jeweils noch einmal verzweigen. Ähnlich wie beim Objekt von Nana fällt auch bei diesem Objekt auf, dass Janna die Stöcke überwiegend in einer vertikalen Ebene angeordnet hat und es lediglich eine Überschneidung gibt. Der weiße Gips befindet sich vor allem an den Übergängen

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Abb. 2: Stockobjekt und malerische Ausdeutung von Janna

der miteinander verbundenen Äste, während die Stockenden überwiegend im dunklen Braunton ihrer natürlichen Rindenfarbe verbleiben. Auch Janna wählt für ihre malerische Ausdeutung ein Hochformat, auf dem sie ihr Stockobjekt formatfüllend positioniert. Obwohl die Schülerin im Interview angibt, dass sie und ihre Partnerin zu ihrem Stockobjekt die Assoziation eines Geweihs hatten, entscheiden sich beide Mädchen dafür, auf ihren Bildern lediglich das Stockobjekt darzustellen, ohne zusätzliche Bildelemente zu ergänzen. Mit dieser Entscheidung stellen sie eine Ausnahme innerhalb der Klassengemeinschaft dar. In Hinblick auf ihren malerischen Entwicklungsstand lässt sich feststellen, dass die beiden Mädchen die Schemaphase überwunden haben, da sie Wirklichkeitsnähe zum Objekt als Maßstab nehmen. Form und Verlauf der Hölzer auf Jannas Bild weisen dementsprechend einen hohen Grad der Übereinstimmung mit dem dreidimensionalen Vorbild auf. Dass es dem Mädchen wichtig gewesen zu sein scheint, das Objekt malerisch möglichst naturalistisch wiederzugeben, wird durch die folgende Aussage belegt: […] ich finde eigentlich, dass es sehr schön aussieht und auch dem Original sehr ähnlich sieht. Die Ähnlichkeit zum Original versucht Janna dadurch herzustellen, dass sie sich

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nicht nur an der Form orientiert, sondern darüber hinaus den Eindruck von Plastizität durch das Anmischen verschiedener Brauntöne sowie deren Einsatz als Erscheinungsfarbe zu erzeugen versucht. Interessanterweise weicht Janna aber (wie zuvor auch schon Nana mit ihrem Segelboot) bei der Farbgebung ebenfalls von der dreidimensionalen Vorlage ab: So wählt sie ausschließlich Brauntöne in unterschiedlichen Farbabstufungen und vernachlässigt den Weißton des Gipses auf den Hölzern. Darüber hinaus fällt auf, dass die Schülerin ihren Bildhintergrund mit violetten, blauen und grauen Farbsprenkeln gestaltet. Hier könnte Janna sich am Bild ihrer Nachbarin Kira orientiert haben: Angeregt durch einen Unfall, bei dem verschmutztes Pinselwasser auf Kiras Bild gespritzt ist, beschließt Kira, ihren Bildhintergrund durch Farbtupfen zu strukturieren. Obwohl Janna keinen solchen Unfall hatte, greift sie diese Gestaltungsidee in ihrem Bild auf.

Milos Charakter aus dem Computerspiel Minecraft Abb. 3: Stockobjekt und malerische Ausdeutung von Milo

Das Objekt von Milo und seinen beiden Mitschülern wurde aus Gipsbinden und überwiegend gerade gewachsenen selbstgesammelten Hölzern konstruiert. Drei miteinander verbundene Holzstücke bilden eine Art senkrech-

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ten Mast, an dem insgesamt drei Stöcke waagerecht mit einigem Abstand zueinander angebracht sind. Die Stockmitten der waagerechten Hölzer liegen auf Masthöhe, so dass sich eine symmetrische Struktur erkennen lässt. Auch dieses Objekt wurde überwiegend zweidimensional auf einer vertikalen Ebene angelegt. Eine Ausnahme bilden zwei Hölzer auf Höhe des mittleren, waagerecht angebrachten Stocks, die nahezu im rechten Winkel positioniert wurden, wodurch sich die Form eines Kreuzes ergibt. Die malerische Ausdeutung seines Objekts gestaltet Milo im Hochformat. Das auf dem Bild deutlich identifizierbare Stockobjekt hat er durch zusätzliche Bildelemente ergänzt: Von der oberen Bildkante aus scheinen zwei rote Hände oder Klauen nach dem Objekt zu greifen. Auf der rechten Bildseite befinden sich drei Figuren: Auf dem Boden steht eine Blume neben einer Figur mit menschenähnlichen Proportionen, auf Höhe der Mittelwaagerechten scheint ein insektenartiges Wesen vom rechten Rand in das Bild hineinzufliegen. Vom gemalten Stockobjekt gehen strahlenförmig gesetzte, symmetrisch angeordnete kurze Striche in Gelb- und Orangetönen aus, die Milo im Interview als »Dimension« bezeichnet. Aus Sicht der Kinderzeichnungsforschung handelt es sich hierbei um Richtungsstriche, durch die die Strahlen sichtbar gemacht werden, die Milos Objekt auszusenden scheint (vgl. Philipps 2011: 72f.). Das gemalte Stockobjekt scheint in einem dunklen Gefäß zu stecken, das an die Sandeimer erinnert, mit der die konstruierten Stockobjekte in der Unterrichtseinheit fixiert wurden. Entwicklungspsychologisch gesehen ließe sich hier anthropomorphes Denken vermuten, da Milo den Gegenstand mit einem Gesicht, einem Hörnerpaar sowie Haaren oder Armen versieht. Durch Milos Aussagen im Interview ist allerdings bekannt, dass es sich bei diesem Bildelement um einen von ihm selbstgebauten Charakter aus dem Computerspiel Minecraft handeln soll, das auf sein Stockobjekt aufpasst: Ich habe so ’nen eigenen Charakter dahingebaut. Das hier sollte sozusagen ein Wächter von dem sein. Bildkompositorisch fällt auf, dass es in dem Bild viele symmetrisch angeordnete Elemente gibt; so werden beispielsweise die Blätter der Blume in gleicher Anzahl und auf gleicher Höhe links und rechts vom Stängel angesetzt. Milo überträgt hierbei die deutlich erkennbare Symmetrie seines Stockobjekts auf sein Bild und arbeitet sie malerisch weiter aus. Interessanterweise positioniert Milo sein formatfüllendes Objekt nicht in der Bildmitte, sondern versetzt es leicht nach links. Diese Entscheidung ist wahrscheinlich inhaltlich zu begründen, da Milo Platz für die drei zusätzlichen Figuren benötigt.

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Beim Farbgebrauch übernimmt Milo zwar den Braunton des Mastes bei der Darstellung des Stockobjekts, entscheidet sich ansonsten allerdings für andere Farben: Das Weiß der Gipsbinden wird durch verschiedene Rot- bzw. Brauntöne ersetzt, die waagerechten Stöcke sind grün, blau bzw. hellbraun gehalten. Insgesamt dominieren in dem Bild Töne aus der warmen Farbpalette. In seinem Bild setzt Milo Farben weniger in der Funktion von Merkmalfarben, sondern vielmehr als Mittel der formalen und inhaltlichen Flächenund Gegenstandsunterscheidung ein, so dass sich die einzelnen Bildbestandteile deutlich voneinander absetzen.

Rekonstruktion innerer Vorgänge durch Leitfadeninterviews Während sich die Analyse der Schüler*innenarbeiten aus Platzgründen auf drei Fallbeispiele konzentriert hat, fließen in dieses Teilkapitel die Ergebnisse aus allen neun Leitfadeninterviews ein. In den Interviews reflektierten die Kinder verbal nicht nur ihren Arbeitsprozess und ihre Produkte, sondern erläuterten auch, was sie sich beim Handeln vorgestellt haben und wodurch sie in ihren gestalterischen Entscheidungen beeinflusst wurden. Als Ergebnis der Analyse konnten insgesamt sechs verschiedene Haupteinflüsse im Interviewmaterial rekonstruiert werden, die im Folgenden nacheinander dargestellt werden. In der Regel ist jedes Kind durch seine Aussagen in zwei bis drei Kategorien vertreten. Die Aussagen eines Jungen konnten sogar fünf verschiedenen Kategorien zugeordnet werden.

Orientierung am Objekt Unter dieser Kategorie werden alle Äußerungen zusammengefasst, in denen Kinder sich auf spezifische Eigenschaften des malerisch ausgedeuteten Stockobjekts beziehen. Dieses betrifft sowohl die Farbe: […] den habe ich aber in den Stockfarben gemacht (Ella) als auch die Form der Objekte. Einige Kinder beziehen darüber hinaus die spezifische Raumsituation und die Lichtverhältnisse ein, die sie in ihrer malerischen Ausdeutung aufgreifen: […] damit man halt auch sieht, wo der Schatten liegt, halt wo es auch dunkler ist (Kira). Besonders auffällig ist die Aussage eines Mädchens, das dem Interviewer ihr gemaltes Bild erläutert, indem sie den Bauprozess ihres dreidimensionalen Objekts reflektiert: Also hier sind Stöcker drauf zu sehen. Hier ist das Stativ, das haben wir in Sand gelegt und danach haben wir angefangen, diese Stöcker dranzumachen. Und diese Stöcker und hier sieht man jetzt schließlich ein Geweih und wir finden das eigentlich sehr schön, wie wir das gemacht haben (Janna). Um nachvollziehen zu können, ob

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Janna beim Malen die Reihenfolge des Bauprozesses aufgegriffen hat, hätte der Malprozess videografisch festgehalten und ausgewertet werden müssen.

Bezug zu eigenen Erfahrungen und Kenntnissen Einige Kindern greifen in ihren malerischen Ausdeutungen spontane bildliche Assoziationen zu ihren Objekten auf, die auf eigene Erfahrungen und Kenntnisse zurückzuführen sind. Dementsprechend werden dieser Kategorie Aussagen zugeordnet, in denen die Schüler*innen beispielsweise eine konkrete Situation aus dem heimischen Umfeld vor Augen haben: Weil das hat mich erinnert, weil wir zu Hause auch gerade sehr viele Vögel immer rumfliegen haben (Flo). Anders als bei Flo, der sich auf eine aktuelle Situation bezieht, verweist Ella auf ein allgemeines Naturphänomen, dem sie schon häufiger begegnet zu sein scheint: Ich habe das so umgesetzt, weil wenn mal abends die Sonne halt so mit dem Himmel lila ist […]. Neben Assoziationen zu erlebten Situationen werden dieser Kategorie aber auch Bezüge zu Allgemeinwissen (z.B. über Singvögel oder die charakteristische Frisur von Elvis Presley) bzw. zu Kenntnissen aus dem Unterrichtskontext zugeordnet: Wir hatten in Musik schon einmal so was über einen Künstler, der so ganz viele Bilder so getupft hat […] (Flo). Und schließlich umfasst diese Kategorie mediale Einflüsse, wie etwa bei Milo, dessen Aussagen über seine malerische Ausdeutung sich größtenteils auf das sogenannte Sandbox-Computerspiel11 Minecraft beziehen: Wie diese komische Pflanze, die ist aus Minecraft. Das war so ’ne Blume oder so.

Imagination innerer Bilder Während in der vorausgegangenen Kategorie Bezüge zu erlebten Situationen bzw. vorhandenem Wissen zusammengefasst wurden, stehen in dieser Kategorie Aussagen zu imaginierten inneren Bildern im Mittelpunkt. Diese Vorstellungsbilder sind zum Teil sehr phantasievoll und können sowohl einen imaginierten Ort als auch eine konkrete imaginierte Situation betreffen, in der sich das ausgedeutete Stockobjekt befindet. So schildert Leo, der sein Stockobjekt als Singvogel ausgedeutet hat, welche Situation er in seinem Bild darstellt: Das hier sind die Haare, die wehen wegen dem Wind. Das hier sind die Ohren und die Töne, die der Vögel aufnimmt und hier hat der Vogel sich ein Mikrofon in

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Myriam Gelder kennzeichnet Sandbox-Spiele als »Spiele, die kein bestimmtes Spielziel haben und den Spielern die größtmöglichen Freiheiten einräumen« (Gelder 2015: 259). Im Spiel Minecraft können Spieler*innen im sogenannten Kreativmodus nach Belieben aus virtuellen Klötzchen Bauwerke bauen und somit die Minecraft-Welt mitgestalten.

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seinem Mund geschnappt und zwitschert seine Töne somit lauter und teilt die der Welt mit.

Persönlicher Geschmack Dieser Kategorie zugeordnete Aussagen beinhalten persönliche Vorlieben und Gefallensurteile der Kinder, die zum Teil unbegründet bleiben. Einige Schüler*innen argumentieren aber auch differenzierter, indem sie beispielsweise ein ästhetisches Urteil bildkompositorisch begründen: Ich fand es einfach schön und sonst sieht es so ein bisschen leer aus (Conny). Darüber hinaus lassen einige Aussagen auf Vorlieben für bestimmte bildliche Motive bzw. auf generelle ästhetische Vorlieben schließen, die in die malerischen Gestaltungen einfließen: Und dann wollte ich das bisschen so auch mit meinen Lieblingsfarben machen (Ella).

Zufall In den Interviews berichten einzelne Kinder davon, dass sie flexibel auf einen unvorhergesehenen Zwischenfall reagiert und ihn in ihren Gestaltungsprozess integriert haben. Den ungewöhnlich gemusterten Hintergrund in ihrem Bild erläutert ein Mädchen beispielsweise so: Gekommen bin ich erst darauf, weil wir hatten einen kleinen Unfall, da ist halt Wasser draufgekommen und wir haben es dann so verwischt und da dachte ich mir so: Warum mache ich das halt nicht gleich im Hintergrund (Kira). Aber auch an anderen Stellen scheint der Zufall eine Rolle gespielt zu haben. Auf Nachfragen des Interviewers, warum sie sich bei der malerischen Darstellung ihres dreidimensionalen Objekts für eine bestimmte Seite entschieden haben, klingt bei einigen Kindern eine gewisse Beliebigkeit heraus: Also wir hatten das reingeholt in den Kunstraum und dann stand das vor dem Fenster und dann habe ich das einfach so abgemalt. Also wie man das von vorne ansieht (Nana). Der letzte Satz lässt allerdings einen gewissen Interpretationsspielraum zu. So könnte Nana sich auf der einen Seite auf ihre eigene Raumposition in Anhängigkeit zu dem Objekt beziehen, in diesem Fall aus einer vermuteten frontalen Ansicht, die sie zufälligerweise eingenommen hat. Auf der anderen Seite könnte die Aussage aber auch bedeuten, dass es für Nana bei dem dreidimensionalen Objekt ein deutliches vorne, d.h. eine Hauptansicht gibt und ihre dargestellte Ansicht nicht zufällig ist.

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Einfluss der Partner*innen Während das Bauen der Stockobjekte in Kleingruppen (2-3 Personen) stattfand, erfolgte die malerische Ausdeutung in Einzelarbeit. Dennoch weisen einige Aussagen dieser Kategorie auf den Einfluss der Partner*innen bzw. den eigenen Einfluss auf die Partner*innen hin. In einem Fall spricht ein Junge davon, dass seine Idee von seinem Freund nachgemalt wurde. Für einige Kinder scheint es selbstverständlich zu sein, dass alle Gruppenmitglieder dieselbe malerische Ausdeutung vornehmen, die zuvor gemeinsam in der Gruppe ausgehandelt wurde: Aber danach haben wir uns an unsere Ideen vorher zurückgewandet und danach haben wir doch ein Geweih gemacht (Janna). Andere Aussagen lassen jedoch darauf schließen, dass in einigen Gruppe unterschiedliche Sichtweisen zugelassen wurden: Also bei mir ist es so, wie eine Weihnachtsmütze geworden. Und bei den anderen in meiner Gruppe halt was anderes (Conny).

Diskussion und weiterführende Überlegungen Auf Grundlage der Analyse der gestalterischen Arbeiten und der Auswertung der Leitfadeninterviews konnte in der vorliegenden Studie festgestellt werden, dass die Kinder in ihren malerischen Ausdeutungen insbesondere die Farb- und Formgebung ihrer Objekte aufgegriffen haben. Neben dem Einbeziehen dieser spezifischen Objekteigenschaften wurden die malerischen Gestaltungen der Kinder aber auch durch zusätzliche Faktoren beeinflusst. Diese konnten sowohl die eigene Person betreffen, indem zum Beispiel an eigene Erfahrungen, Kenntnisse und persönliche Vorlieben angeknüpft oder die individuelle Imagination innerer Bilder einbezogen wurde. Aber auch äußere Faktoren spielten eine Rolle, beispielsweise der Zufall, der Einfluss durch andere Kinder oder mediale Vorbilder. Andere kunstpädagogische Studien zum Zeichnen im Kunstunterricht weisen zum Teil ähnliche Ergebnisse auf. So wurde beispielsweise der Einfluss medialer und sozialer Vorbilder (vgl. Glaser-Henzer et al. 2012: 106), die Bedeutung altersspezifischer Darstellungsmöglichkeiten von Kindern (vgl. Uhlig 2010: 28) sowie der Bezug zu individuellen Erfahrungen und Interessen (vgl. Miller 2010: 74) festgestellt. Abschließend werden deshalb zwei Phänomene diskutiert, an denen sich das Spezifische der vorliegenden Studie zeigt: Der Mehrwert ausdeutender transformativer Prozesse für den Kunstunterricht sowie das didaktische Potenzial, das in gestalterischen Ausdeutungen eigener ästhetischer Praxis liegt.

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Ausdeutende transformative Prozesse im Kunstunterricht Im vorliegenden Unterrichtsbeispiel findet ein Prozess der Umformung statt: Bestimmte Merkmale eines Ausgangsobjekts sowie ggf. dadurch hervorgerufene Assoziationen sind Grundlage malerischer Ausdeutungen. Nach Ursula Brandstätter kann hierbei von »transmedialen Transformationen« (Brandstätter 2013: 90) gesprochen werden, da bewusst eine Mediengrenze vom dreidimensionalen Objekt zum zweidimensionalen Bild überschritten wird. Während im Vorfeld der Studie angenommen wurde, dass dieser Medienwechsel im vorgegebenen Unterrichtssetting eine Herausforderung darstellen könnte, zeigt sich im Rahmen der Auswertung der Interviews und der Schüler*innenarbeiten, dass die Mehrheit der Kinder damit offenbar keine Schwierigkeit hat. Noch dazu scheint in kaum einer der Gruppen über die charakteristischste Hauptansicht oder den geeignetsten Betrachter*innenstandpunkt diskutiert worden zu sein. Gleichzeitig lässt sich aus der folgenden Aussage von Leo ablesen, dass es zwar durchaus eine bewusste Entscheidung zur Hauptansicht gegeben hat, die Kriterien dafür von ihm jedoch nicht offengelegt werden: Also wir hatten einfach mal geguckt, wie es am besten aussieht und dann hatten wir uns dafür entschieden, dass das die Vorderseite ist, also so, wie wir es gemalt haben (Leo). Auf den ersten Blick mag erstaunen, dass die malerische Darstellung von Dreidimensionalität von den Kindern nicht als Problem verbalisiert wird. Die Analysen der Schüler*innenarbeiten offenbarten jedoch, dass die meisten Kinder bei der Konstruktion ihrer Objekte überwiegend linear vorgegangen sind und sie frontal ausgerichtet haben. Besonders deutlich zeigt sich dies im Vorgehen von zwei Mädchen: Während des Bauprozesses legen sie ihre Hölzer auf dem Boden zu grafischen Umrisslinien eines imaginierten Gegenstands aus und verbinden sie mit den Gipsbinden. Ihre lineare Plastik weist somit eine klare Frontansicht auf, die sich malerisch leicht erfassen lässt. Hier wäre es interessant, das vorliegende Unterrichtssetting noch einmal mit einem veränderten Impuls durchzuführen, beispielsweise indem die Kinder aufgefordert würden, ein Objekt aus Stöcken zu konstruieren, das aus vielen verschiedenen Richtungen interessant aussieht. Es ist anzunehmen, dass die malerische Transformation eines solchen Objekts für die Kinder eine größere Herausforderung darstellen würde. Anders als im Vorfeld vermutet, scheint die Materialbeschaffenheit der sehr unterschiedlichen Werkstoffe Holz und Gips bei der malerischen Transformation für die meisten Kinder kaum eine Rolle gespielt zu haben. Zwar las-

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sen sich während der Konstruktionsphase insbesondere mit dem verformbaren Material Gips intensive Auseinandersetzungen beobachten, die von mehreren Kindern in den Interviews reflektiert werden, z.B.: […] bisschen komisch und ein bisschen so glibberig (Carla). Keines der Kinder greift diese ästhetische Erfahrung jedoch visuell in seinem Bild auf, ganz im Gegenteil: Die an den Objekten deutlich erkennbaren eingegipsten Übergangsstellen werden in den meisten Bildern ausgelassen bzw. ihrer Umgebung angepasst. Es lässt sich deshalb vermuten, dass die Kinder den Gips im vorliegenden Unterrichtssetting weniger als eigenständiges Material, sondern vielmehr als Verbindungsmedium begreifen, mittels dem sie die Hölzer an der gewünschten Stelle positionieren. Die deutlichsten Analogien zwischen Objekten und Bildern zeigen sich in Hinblick auf die Formgebung und den Farbeinsatz. So versuchen alle Schüler*innen, den Verlauf der Hölzer in den Objekten malerisch möglichst genau zu erfassen und die meisten Kinder greifen hierbei die Brauntöne der verbauten Stöcke auf. Festzuhalten ist, dass alle Schüler*innen ähnliche Merkmale ihrer Stockobjekte herausgefiltert und in ihrem Transformationsprozess aufgegriffen haben, während andere Merkmale vernachlässigt wurden. Hier wäre zu überprüfen, ob der Einsatz anderer Materialien zu ähnlichen Ergebnissen führen würde. Für kunstdidaktische Lern- und Lehrszenarien stellt sich abschließend die Frage, zu welchen Einsichten und Kompetenzen die Kinder durch ihre transformativen Handlungen gelangen. Nach Ursula Brandstätter regen ästhetische Transformationsprozesse eine besondere Form der Erkenntnis an: Sie bleibt in der Wahrnehmung verankert, beruht auf analogem, vergleichenden [sic!] Denken, verknüpft kategorial verschiedene Phänomene über den Mechanismus der metaphorischen Bezugnahme, lässt Freiräume für verschiedene Interpretationen und reflektiert sich selbst, indem sie immer wieder auf ihre eigenen Bedingungen zurück verweist. (Brandstätter 2013: 126) Anhand der Schüler*innenarbeiten lassen sich zwar individuelle Interpretationen sowie ein analoges, vergleichendes Denken ablesen. Inwiefern Kinder derartige Erkenntnisformen aber bewusst wahrnehmen und reflektieren, müsste in Folgestudien untersucht werden. Hierbei wäre vor allem von Interesse, welche Formen gestalterischen Denkens durch die transmedialen Transformationen angeregt werden und inwiefern sich dieses vom Denken in anderen Prozessen künstlerischen Gestaltens unterscheidet.

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Gestalterisches Ausdeuten eigener ästhetischer Praxis Anders als in Studien, in denen es um die zeichnerische Darstellung vorgegebener Gegenstände geht (z.B. Miller 2010), ist in dem vorliegenden Unterrichtsbeispiel von besonderer Bedeutung, dass die Kinder ein selbstkonstruiertes Objekt malerisch ausdeuten. Dadurch, dass die Kinder eigenständig etwas geschaffen haben, das vorher in dieser Art noch nicht existiert hat, können sie bei der malerischen Ausdeutung auf keine bekannten Schemata oder gewohnten malerischen Verhaltensmuster zurückgreifen. Als Folge davon zeigt sich in der Analyse der Bilder, dass einige Kinder ihr malerisches Ausdrucksrepertoire erkennbar erweitert und für sie untypische Bildlösungen entwickelt haben.12 In den Interviews reflektieren einige Kinder den besonderen Stellenwert des Selberbauens und -malens. Während beispielsweise Nana anmerkt, dass es leichter und auch »ein bisschen cooler« sei, etwas »Selbstgemachtes« zu malen, gibt Ella an, dass sie sich durch die Ausdeutung wie eine »Künstlerin« gefühlt habe: Du hast was gebaut und dann malst du es ab, damit [du] es irgendwie in eine Galerie oder so stellen kannst (Ella). Für weiterführende Studien ergeben sich daraus Anknüpfungspunkte, inwieweit es einen Unterschied macht, ob eigene oder fremde Gestaltungen transformiert werden. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob Schüler*innen durch Transformationen ihrer Objekte eine Aufwertung der eigenen gestalterischen Arbeit empfinden.13 Das im Rahmen der Studie erhobene reflexive Potenzial gestalterischer Ausdeutungen lässt sich auf andere Situationen des Kunstunterrichts übertragen. Indem die Kinder ihren eigenen Objekten durch die malerische Transformation zum Teil eine neue Bedeutung geben, die auf das Objekt zurückprojiziert wird, nehmen sie einen veränderten Blickwinkel ein. Dieses flexible Einlassen auf neue Wahrnehmungssituationen, das Einbeziehen individueller Erfahrungen und Assoziationen sowie das Einnehmen unterschiedlicher

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Diese Aussage bezieht sich auf die sonstigen gestalterischen Arbeiten dieser Kinder im Kunstunterricht, welche in der vorliegenden Untersuchung aus Platzgründen nicht einbezogen werden können, die für weiterführende Forschungen jedoch von Interesse wären. Ähnliche Beobachtungen (allerdings in Hinblick auf Transformationen anderer Personen zur eigenen gestalterischen Arbeit) konnte die Autorin bereits im Rahmen verschiedener interdisziplinärer Transformationsprojekte mit Schüler*innen an weiterführenden Schulen (u.a. Ehring 2020) machen.

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Perspektiven sind Aspekte, die es in einem zeitgemäßen Kunstunterricht herauszufordern und zu unterstützen gilt.

Literatur Becker, Stefan (2003): Plastisches Gestalten von Kindern und Jugendlichen. Entwicklungsprozesse im Formen und Modellieren, Donauwörth: Auer. Berner, Nicole (2013): Bildnerische Kreativität im Grundschulalter. Plastische Schülerarbeiten empirisch betrachtet, München: kopaed. Brandstätter, Ursula (2013): Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Cordes, Tobias (2018): Fallstudien zur Transformation von Irritationen und Krisen im lernbiographischen Kontext des naturwissenschaftlichen Unterrichts (Dissertation), [online] https://ediss.sub.uni-hamburg.de/bitstr eam/ediss/8062/1/Dissertation.pdf [21.10.2021]. Ehring, Carolin (2020): Ästhetische Transformationen. Ein jahrgangsstufenübergreifendes schulisches Kulturprojekt, in: Kunst + Unterricht, Im Fokus: Hybridunterricht, Beilage Nr. 447/448, S. 12-15. Ehring, Carolin und Kathke, Petra (2021): Anspruch Differenz. Potenziale des Kunstunterrichts für inklusionssensibles Lehren und Lernen, in: Michael Braksiek, Bernd Gröben, Kinga Golus, Peter Schildhauer und Lilian Streblow (Hg.): Schulische Inklusion als Phänomen – Phänomene schulischer Inklusion. Fachdidaktische Spezifika und Eigenlogiken schulischer Inklusion, Wiesbaden: Springer VS, S. 43-79. Föll, Björn (2020): Etwas aus dem Museum mitnehmen! Spannende Kunstvermittlung durch mehrfache Dimensionswechsel, in: Kunst + Unterricht, Nr. 447/448, S. 22-27. Gelder, Myriam (2015): Kinderspiel aus der Perspektive der Kinder – Eine explorative Annäherung an die Lebenswelten von Kindern, Münster: LIT Verlag. Glaser-Henzer, Edith; Diehl, Ludwig; Diehl Ott, Luitgard und Peez, Georg (2012): Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen. Empirische Untersuchungen zur Ermittlung räumlich-visueller Kompetenzen im Kunstunterricht, München: kopaed. Hinkel, Hermann (2000): Analysemodell zur Interpretation von Kinder- und Jugendzeichnungen, in: Kunst + Unterricht, Nr. 246/247, S. 62-65.

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Kathke, Petra (2005): »Material« – Implementationsbrief für den Rahmenlehrplan Bildende Kunst in der Grundschule, in: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) (Hg.): Implementationsbrief für den Rahmenlehrplan Bildende Kunst in der Grundschule. Kathke, Petra (2014): Mit den Augen den Händen folgen, die dem Verstand vorauseilen … Haptisch-visuelle Erfahrungen und raumbezogenes Gestalten, in: Kunst + Unterricht, Nr. 381/382, S. 88-92. Kathke, Petra (2019): Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte – Impulse – Aktionen, akt. Neuaufl., Weimar: verlag das netz. Kathke, Petra (2021): Materialheft, in: Grundschule Kunst, Nr. 82, S. 1-25. Kirchner, Constanze; Kirschenmann, Johannes und Miller, Monika (2010): Forschungsstand und Forschungsperspektiven zur Kinder- und Jugendzeichnung, in: Constanze Kirchner, Johannes Kirschenmann und Monika Miller (Hg.): Kinderzeichnung und jugendkultureller Ausdruck. Forschungsstand – Forschungsperspektiven, München: kopaed, S. 9-16. Kuckartz, Udo (2018): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, 4. Aufl., Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Lähnemann, Christiane (2007): Freiarbeit aus SchülerInnensicht (Dissertation), [online] https://sundoc.bibliothek.uni-halle.de/diss-online/07/07H0 52/prom.pdf, [21.10.2021]. Langer, Antje (2010): Transkribieren – Grundlagen und Regeln, in: Barbara Friebertshäuser, Antje Langer und Annedore Prengel (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, München: Juventa, S. 515-526. Malmberg, Isolde (2020): Die Blackbox ausleuchten. Potenziale von DesignBased Research für Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerprofessionalisierung, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 38. Jahrgang, Heft 1/2020, S. 79-93. Miller, Monika (2010): Indikatoren zeichnerischer Kompetenzen – Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Vorstellungsbildung und Bildmotiv, in: Constanze Kirchner, Johannes Kirschenmann und Monika Miller (Hg.): Kinderzeichnung und jugendkultureller Ausdruck. Forschungsstand – Forschungsperspektiven, München: kopaed, S. 73-86. Peez, Georg (2013): Schaubilder zur Analyse bildnerischer Praxis von Kindern und Jugendlichen – Ein Überblick, in: Frank Schulz und Ines Seumel (Hg.): U20 – Kindheit, Jugend, Bildsprache, München: kopaed, S. 667-682. Philipps, Knut (2011): Warum das Huhn vier Beine hat. Das Geheimnis der kindlichen Bildsprache, 3. Aufl., Darmstadt: Toeche-Mittler Verlag.

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Przyborski, Aglaja und Wohlrab-Sahr, Monika (2010): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, 3. Aufl., München: Oldenbourg. Reuter, Oliver M. (2007): Experimentieren. Ästhetisches Verhalten von Grundschulkindern, München: kopaed. Scholter, Christoph-Maria (2017): Die Kinderzeichnung im Kontext von Spielund Medienwelten der 1980er-Jahre. Historische Jungenzeichnungen zum Themenfeld »Masters of the Universe«, Baden-Baden: Tectum. Ströter-Bender, Jutta und Wiegelmann-Bals, Annette (Hg.) (2017): Historische und aktuelle Kinderzeichnungen. Eine Forschungswerkstatt, BadenBaden: Tectum. Thienenkamp, Heike (2021): Ein dreibeiniger Krieger zieht sein Schwert. Konstruktionen aus Stöcken und Gips, in: Grundschule Kunst, Nr. 85, S. 13-15. Uhlig, Bettina (2010): Die eigene Bildsprache entdecken, entwickeln, differenzieren – zur Förderung bildsprachlicher Kompetenz im Kunstunterricht, in: Constanze Kirchner, Johannes Kirschenmann und Monika Miller (Hg.): Kinderzeichnung und jugendkultureller Ausdruck. Forschungsstand – Forschungsperspektiven, München: kopaed, S. 17-32. Wachter, Steffen (2018): Malerei zu Beginn des Jugendalters. Kreative Aspekte des Problemlöseverhaltens beim bildnerischen Gestalten im Kunstunterricht, München: kopaed.

Die Suche nach dem Klang der Dinge Strategien der Verklanglichung von Assoziationen in Kompositionsprozessen von Schüler*innen Lukas Janczik

Shira Lee Katz stellte in ihrer Untersuchung zu Kompositionsprozessen von professionellen Komponist*innen Neuer Musik fest, dass sich die Inspirationen für Kompositionen und die daraus resultierenden kompositorischen Vorgangsweisen in drei Arten gliedern lassen: Within-Domain-Processes – also durch musikalisches Material inspirierte, Beyond-Domain-Processes – durch außermusikalisches Material inspirierte und Hybrid-Processes, in denen beides einfloss. Bei der Analyse der Beyond-Domain-Prozesse stellte sich heraus, dass etwas außermusikalisches, wie beispielsweise ein Gedicht, ein Bauwerk, eine Erfahrung etc. durch das Bilden von Assoziationen in das elementare musikalische Material der Kompositionen übersetzt wird (vgl. Katz und Gardner 2011). Folglich stellen Assoziationen in diesen Kompositionsprozessen ein Bindeglied zwischen der Inspirationsquelle und dem musikalischen Material dar. Auch in kompositionsdidaktischen Handreichungen werden Assoziationen als Teil des Prozesses bedacht. So empfiehlt beispielsweise Johannes Voit (2018: 3) im Zuge seiner Überlegungen zu Komponieren zu Bildern »die Auswahl eines Bildes, das möglichst vielfältige Assoziationen zulässt«, um »ausgehend von subjektiven Deutungen des Bildes […] über selbst gewählte Transformationsstrategien […] zu unterschiedlichen Eigenkompositionen« (ebd.: 2-3) zu gelangen. Wie die Prozesse der Übersetzung von subjektiven Assoziationen zu musikalischem Material bei Schüler*innen ablaufen, stellt allerdings noch ein Desiderat dar. Dementsprechend wird im Rahmen eines Forschungsprojektes dieser Frage nachgegangen. Im vorliegenden Beitrag wird ein Teil des Forschungsvorhabens, der sich mit dinghaften Assoziationen be-

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schäftigt, in den Blick genommen. Dabei interessiert besonders die Frage, wie diese durch die Schüler*innen verklanglicht1 werden. Im Zuge dessen wird zunächst der Gegenstand der Assoziationen mit besonderem Fokus auf den Dingen in den Assoziationen behandelt. Anschließend werden die Forschungsfrage und das methodische Design näher skizziert. Ferner werden erste Ergebnisse der Untersuchung – bezogen auf den Schwerpunkt des Beitrags – geschildert. Resultierend aus der Diskussion der Ergebnisse erfolgen didaktische Überlegungen, wie Schüler*innen bei der Umsetzung ihrer Assoziationen in Musik – fokussiert auf die Dinge in den Assoziationen – unterstützt werden können.

Dinge in Assoziationen Als Assoziationen werden Verbindungen zwischen Vorstellungen bzw. Gedanken bezeichnet, welche sich darin zeigen, »dass das Auftreten des einen das Bewusstwerden des anderen (mit ihm Assoziierten) nach sich zieht oder wenigstens begünstigt« (Engelkamp 2013: 202). Über die Ursache bzw. die Stärke einer assoziativen Verbindung gibt es verschiedene, aus der Philosophie sowie der Assoziationspsychologie entspringende, Theorien. Aristoteles sah die Verbindung von Gedanken abhängig von der Nähe von Raum und Zeit, der Ähnlichkeit sowie dem Kontrast der Inhalte. Nach Locke ist neben einer »raumzeitlichen Nähe« auch eine »›natürliche‹ Korrespondenz der Vorstellungen« (Locke zit.n. Strube 1984: 3) eine Ursache für Assoziationen. Auch für David Hume stellt die Ähnlichkeit der Vorstellungen und die Kontiguität in Zeit oder Raum Qualitäten des Entstehens von Assoziationen dar (vgl. Strube 1984). Er ergänzte diese jedoch noch um den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Beispielsweise assoziiere ich eine Verletzung mit Schmerz, da ich erfahre habe, dass jene Ursache diese Wirkung hervorruft. Thomas Brown erweiterte die von Aristoteles aufgestellten Bedingungen – welche er als primäre Assoziationsgesetze betitelte – durch sekundäre Assoziationsgesetze:

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Der Begriff des Verklanglichens wird in diesem Beitrag in Anlehnung an Krämer (2007) verwendet, der damit ein Umsetzen von Außermusikalischem in Musik bezeichnet. Dabei kann sich sowohl strukturell, konzeptionell, als auch durch einzelne Klänge auf die Vorlage bezogen werden.

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1. Die Dauer des ursprünglichen Eindrucks, 2. seine Lebhaftigkeit[/Intensität], 3. die Häufigkeit seiner Wiederholung, 4. seine Frische[/Unmittelbarkeit], 5. das Fehlen konkurrierender Eindrücke [/d.h. ausschließliche, unvermischte assoziative Verbindungen haben eine große Assoziationsstärke], 6. konstitutionelle Unterschiede [/Anlage] der Eindrucksempfänger, 7. deren jeweilige Gemütslage, 8. deren körperlichen Zustand und 9. deren Lebensgewohnheiten. (Brown zit. n. Hofstätter 1957: 24) Dass und vor allem wie ich Assoziationen spinne, ist also abhängig von meiner Person, meinen Erlebnissen und wie ich diese wahrnehme. Die Zusammenschlüsse von Erfahrungen dienen hierfür als eine »Form eines Wissensvorrats«, der als »Bezugsschema für jeden weiteren Schritt […] [der] Weltauslegung dient« (Schütz und Luckmann 2003: 33). Auf das daraus resultierende Konstrukt beziehen wir alle unsere »Erfahrungen in der Lebenswelt« (ebd.: 33), so dass sich dieses dadurch immer weiter verändert und neu verknüpft wird. Der Kontakt zu Dingen scheint dabei für uns eine besondere Relevanz zu haben (vgl. Kathke 2007): Bei jedem Kontakt »erwächst Erkenntnis und eine Vertrautheit mit den vielseitigen Erscheinungsformen der Materie« (ebd.: 196). Dies beeinflusst nach Petra Kathke unser »Denken stärker […] als es uns im Allgemeinen bewusst ist« (ebd.). Kathke fokussiert hierbei das Erfahren der Dinge durch ihre Materialität: »Beim Spüren unterschiedlicher Materialeigenschaften spürt der Mensch zugleich sich selbst« (ebd.). In diesem Zusammenhang argumentiert sie in der Tradition von Merleau-Ponty: »In gleichem Maße wie ich Dinge empfinde, empfinde ich mich selbst.« (1974: 245) Er verweist hiermit auf den Zusammenhang der Dinge mit dem Leib2 und führt darüber hinaus an, dass das Ding erst durch die Verbindung zum Leib sich ergründet. Dies geschieht aber nicht nur durch die sensorische oder visuelle 2

Merleau-Ponty sieht den Menschen durch seine Leiblichkeit ausgezeichnet und sich dadurch von anderen Dingen unterscheiden: Der Leib ist »nicht einfach ein Gegenstand unter all den anderen Gegenständen« (Merleau-Ponty, 1974: 276), sondern stellt ein System dar, welches Wahrnehmung und Bewegung verbindet und somit das »Vehikel des Zur-Welt-seins« (ebd.: 106) bildet. Durch den Leib bleibe ich »immer am Rand meiner Wahrnehmung« (ebd.: 115) und kann die Welt nur durch diese Perspektive wahrnehmen.

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Wahrnehmung, sondern durch die »Verschmelzung [der Sinne] zu einer einzigen Erfahrung« (ebd.: 263), wodurch eine »intersensorische Welt« (ebd.: 263) konstituiert wird. Das heißt, Dinge sind in unseren Assoziationen nicht nur auf das Visuelle oder das Haptische beschränkt, sondern können auch durch beispielsweise Geruch oder Klang erfahren werden bzw. stehen dadurch in Verbindung zu uns, weil wir sie auf diese Weise wahrgenommen haben. Neben dem Bezug zum Leib steht das Ding auch in Abhängigkeit zum Raum: »Raumwahrnehmung und Dingwahrnehmung, Räumlichkeit des Dinges und Dingsein des Dinges [sind] nicht zwei voneinander verschiedene Probleme« (ebd.: 178). Dies bedeutet, dass zum Beispiel ein Stuhl je nach Perspektive bzw. »Blick-, […] Tast- [und] […] Bewegungsfeld« (ebd.: 237) und wie er im Verhältnis zum Raum steht, schon durch die Wahrnehmung ein »völlig anderes Ding sei« (ebd.). Zusammenfassend erscheinen Dinge nie isoliert, sondern deren Wahrnehmung ist abhängig von der Perspektive, welche die intersensorische Wahrnehmung im Raum beinhaltet, sowie den Vorerfahrungen. Durch die verschiedenen Aspekte ergeben sich differente Anknüpfungspunkte für eine Vertonung von den Dingen in den Assoziationen. Wie diese von Schüler*innen vollzogen wird, soll im Folgenden thematisiert werden.

Fragestellung und methodisches Design In diesem Beitrag soll, wie oben schon herausgestellt, ein Teil der übergeordneten Fragestellung – wie Schüler*innen zu ihren individuellen Assoziationen komponieren – bearbeitet werden: Die Übertragung von Dingen als Teil von Assoziationen in Klänge bzw. die Bezugnahme der Klänge auf assoziierte Dinge. Als Grundlage hierzu dient eine Untersuchung, die im Zusammenhang mit der Unterrichtsreihe Komponieren zum Thema Kälte in einer achten Klasse einer Gesamtschule durchgeführt wurde. Der Topos wurde gewählt, da dieser eine Varianz an Zugängen bietet (vgl. Schneider, 1995) und somit vielfältige Assoziationen verspricht. Ziel der Reihe war es, eine Einzelkompo-

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sition3 mit Hilfe der App Pocket Composer 4 (vgl. Flad und Freymann 2019) zu erstellen. Begleitend zum Kompositionsprozess wurden die 24 Schüler*innen5 angehalten, individuelle Skizzenbücher zu führen, um ihren Prozess zu dokumentieren bzw. zu reflektieren. Diese wurden nachfolgend als Grundlage für leitfadengestützte Interviews genutzt. In diesen sogenannten PortfolioStimulated Recall-Interviews (vgl. Janczik und Voit 2020) dienten die Skizzenbücher den Schüler*innen nach Gass und Mackey (2017) als »Erinnerungshilfe und [zur] Gliederung des Berichts« (Janczik und Voit 2020: 130), wodurch das »(zeitversetzte bzw. nachträgliche) Sprechen über mentale Prozesse« (Finkbeiner und Schluer 2018: 28) unterstützt wurde. Vor der eigentlichen kompositorischen Arbeit erhielten die Schüler*innen eine Einführung über zwei Doppelstunden, in denen sie für ihre auditive Wahrnehmung sensibilisiert wurden, Möglichkeiten der Dokumentation von Klängen erarbeiteten und die App kennen lernten. Als Starthilfe für den Kompositionsprozess dienten den Schüler*innen daraufhin von ihnen individuell angelegte Ideensammlungen bzw. Assoziationscluster zum Thema Kälte, bei deren Erstellung das Ziel der Reihe – eine eigene Komposition – den Schüler*innen schon bekannt war. Die Cluster sollten ihnen die Möglichkeit geben, individuelle Bezüge zu dem Topos herzustellen, zu visualisieren und diese dann als Grundlage für ihre Komposition zu nutzen6 . Die Arbeit an dem Kompositionsprodukt war für drei Wochen à zwei Unterrichtsstunden angelegt7 und wurde durch folgende Aufgabenstellung initiiert:

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Bei der Auswahl des Klangmaterials waren den Schüler*innen keine Grenzen gesetzt. Sie konnten somit zum Beispiel sowohl auf Alltags- als auch Instrumentalklänge zurückgreifen. Mit Hilfe der App Pocket Composer können Nutzer*innen mit dem Tablet oder Smartphone Klänge aufnehmen, diese bearbeiten und miteinander kombinieren. Durch die freie Oberfläche ohne festgeschriebene Taktfolgen – wie bei den meisten DAWs – sind die angestrebten Kompositionen zumeist im Stile von Klangcollagen gehalten. 21 Schüler*innen haben der Datenschutzerklärung zugestimmt und konnten somit an der anschließenden Erhebung teilnehmen. Die konkrete Aufgabenstellung hierzu lautete: »Legt eine Ideensammlung in eurem Skizzenbuch an, das heißt: Schreibt oder malt, was ihr mit dem Thema Kälte verbindet. Das können Stichworte, kurze Sätze, Farben, Zeichnungen, Fotos, Zeitungsausschnitten, Elfchen und anderes sein. Dies wird eure Grundlage für eure Komposition.« Neben der Arbeit in der Schule wurden die Schüler*innen angeregt, ihren Kompositionsprozess auch zu Hause fortzuführen, da sie so auf ein größeres Klangrepertoire zurückgreifen konnten.

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Nehmt mit der App Pocket Composer Töne auf, die zu eurer Komposition zum Thema Kälte passen. Eure Komposition kann sich auf einen oder mehrere Aspekte eurer Ideensammlung beziehen. Vielleicht fallen euch aber während eurer Arbeit an der Komposition auch noch weitere Aspekte ein. Diese kannst du natürlich einbeziehen. Im Rahmen der Auswertung wurden sowohl die Interviews als auch die Skizzenbücher zur Strukturierung inhaltsanalytisch in Anlehnung an Kuckartz (2018) codiert. In diesem Zusammenhang wurden anhand der Forschungsfrage deduktive Hauptkategorien bestimmt, welche sowohl induktiv erweitert als auch in Subkategorien ausdifferenziert wurden. Da es sich bei den Ausführungen der Schüler*innen in den Interviews um nähere Erläuterungen hinsichtlich der Skizzenbücher handelt, wurden in der Analyse die beiden Datencorpora zum näheren Verständnis im Wechselspiel miteinander in Beziehung gesetzt. Aspekte, die zur Beantwortung der Forschungsfrage relevant erschienen, allerdings nicht in Beziehung zu dem anderen Datenkorpus gebracht werden konnten, wurden additiv zur Anreicherung des Erkenntnisgewinns – im Sinne einer Triangulation von Datensorten (vgl. Flick 2011) herangezogen. Nonverbale Elemente wie bildliche bzw. grafische Darstellungen in den Skizzenbüchern wurden sprachlich transkribiert, indem das Dargestellte benannt wurde. Darüber hinaus wurden gestalterische Auffälligkeiten, wie beispielsweise abrupte Farbwechsel, als Indizien für eventuelle zeitliche Abfolgen festgehalten. Als dritter Datenkorpus zur Erschließung der Verklanglichung von Assoziationen lagen die Kompositionsprodukte vor. Auch auf diese wurde im Interview Bezug genommen, indem die Schüler*innen nach dem Abspielen gefragt wurden, was sie darstellen wollten. Folglich wurden die Kompositionsprodukte zum Nachvollzug der Schüleräußerungen und der Ausführungen im Skizzenbuch hinsichtlich der konkreten Umsetzung von Assoziationen in musikalisches Material herangezogen. Bei der Fallauswahl wurde sich an der Strategie des theoretical samplings von Glaser und Strauss (vgl. Kelle und Kluge 2010) orientiert. Da die zentrale Erhebung durch die Portfolio-Stimulated Recall-Interviews erfolgte und im Zuge dessen empfohlen wird, die Interviews in einem geringen zeitlichen Abstand zum thematisierten Zeitraum durchzuführen (z.B. Schneider-Binkl 2018), wurden zuerst einmal alle Schüler*innen der Klasse im Anschluss an die Unterrichtsreihe interviewt. Die Selektion der anzufertigenden und danach auszuwertenden Transkripte erfolgte nachfolgend unter Berücksichti-

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gung »entweder relevante[r] Unterschiede oder große[r] Ähnlichkeiten« (Kelle und Kluge 2010: 48) im dargestellten kompositorischen Vorgehen. Da die Forschungsfrage auf einen prozesshaften Forschungsgegenstand abzielt, wurden die Segmente, welche unter die deduktiv bestimmte Hauptkategorie Assoziationsarten fielen, im Rahmen der Auswertung als eine Art Startpunkt für die Nachverfolgung im skizzierten Kompositionsprozess bis zur möglichen Vertonung genutzt. So werden auch im Folgenden zuerst die assoziierten Dinge, welche induktiv als Subkategorie herausgearbeitet wurden, an sich thematisiert, um auf Grundlage dessen nachvollziehen zu können, wie diese – hinsichtlich des Anliegens in diesem Beitrag – vertont wurden.

Arten der Verklanglichung von assoziierten Dingen Als assoziierte Dinge wurden die Darstellungen sowohl im Interview als auch in den Skizzenbüchern codiert, welche einen Gegenstand behandeln, der eine tastbare Materie aufweist und ohne Zutun keine (sichtbare) Bewegung ausführen kann8 . Beispiele dafür waren Kleidungsstücke, Geschenke, Eiswürfel, Christbaumschmuck etc. Bei der Betrachtung der danach codierten Segmente fällt auf, dass die Formen der Schilderungen im Zusammenhang mit den Dingen verschieden sind. Folglich ergeben sich Subkategorien in Bezug auf die induktive Hauptkategorie Kontexte der Assoziationen. In wenigen Fällen werden die Dinge nur singulär bezeichnet. Dabei nennen die Schüler*innen die Dinge als Teil ihrer Assoziationen ohne einen bestimmten Kausalzusammenhang bzw. ohne eine Einbindung in weitere Assoziationen oder Assoziationsketten: das sind … Handschuhe (S16; 449 ). In der Regel sind die Dinge innerhalb der Darstellungen jedoch in einen Kontext eingebunden. Hierbei konnten drei Arten der Einbindung identifiziert werden:

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Einen Grenzfall stellen dabei Bäume und Pflanzen dar, die zu der Kategorie der Dinge in den Assoziationen zugeordnet wurden, wohlwissend, dass es sich hierbei um Lebewesen handelt. Die Einordnung schien nichtsdestotrotz sinnhaft, da diese die Spezifika unbewegt und tastbare Materie der Kategorie aufweisen. 32 Die Verweise beinhalten immer den/die entsprechende/n Schüler*in und den Absatz im Transkript bzw. die Seitenzahl im Skizzenbuch, wobei explizit erwähnt wird, wenn es sich um Segmente aus dem Skizzenbuch handelt.

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Zusammenhängend mit einer performativen Praktik Die Dinge werden im Zusammenhang mit der damit (in der Regel) ausgeführten Handlung geschildert: B: ich hab mir hier gedacht, dass man hier die Jacken zumacht (S15; 8) Die Schilderungen vollziehen sich hierbei in der »man-Form« im Sinne »man macht das so«. Persönliche Bezugnahmen finden in den analysierten Fällen in der Regel weniger statt. Zudem sind die Handlungen meist nicht an eine konkrete Situation gebunden, sondern stehen nur in Verbindung zu den Dingen.

Teil von Assoziationsketten Die Assoziationsketten werden offengelegt, sodass die Dinge in eine Reihung von Ideen eingebunden sind: Da denkt man an Winter direkt am meisten; dann Schnee, da kommen halt direkt so manche Sachen in den Kopf. Weihnachtsbaum habe ich gedacht. Dann habe ich gedacht was ist z.B. ein Weihnachtsbaum dann kam ich z.B. auf eine Glocke. (S18; 6) Bei dieser Form der Darstellung wird allerdings nicht immer deutlich, auf welcher Grundlage sich die Assoziationsketten bilden.

Einbindung in situative Darstellung Die Dinge sind Teil einer dargestellten biografischen Situation bzw. Szenerie: da sind wir manchmal so paar irgendwie so- hatte ich so Angst auf einmal so- weil ich dann zum Beispiel die Bäume nicht mehr gehört hab- nur den Wind. und dann ha/ähm hatte ich halt immer so Angst, dass da irgendwer auf einmal hinter mir ist und ich das nicht mitkriege oder so. (S6; 75) Im Gegensatz zu den Darstellungen über die performativen Praktiken sind diese Schilderungen in der Ich-Form gehalten. Die Schüler*innen machen hierbei einen persönlichen Bezug deutlich, der teilweise emotional beladen ist. Daneben kennzeichnend ist eine örtliche Festlegung der Szenerie und eine zeitliche Abfolge. Die Dinge stehen im Zuge dessen in der Regel nicht im Mittelpunkt, sondern sind Teil des Ganzen.

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Die vorangegangenen Einordnungen können jedoch nicht als starre Kategorien von Assoziationen gesehen werden, da diese nur die Darstellungsweisen unterscheiden. Es ist nicht ausgeschlossen – ja sogar naheliegend –, dass beispielsweise die singulär geschilderten Assoziationen auch Teil von z.B. einer Assoziationskette und/oder einer gedanklichen Szenerie sein können. Bei der Nachverfolgung der Assoziationen fällt auf, dass die untersuchten Schüler*innen es als problematisch empfinden, dass die meisten assoziierten Dinge aus sich selbst keine interne Klanglichkeit hervorbringen. Somit ist eine direkte Übertragung des Klangs im Sinne des Wunsches nach einer Reproduktion eines alltäglichen Klangs, welcher im Material häufig rekonstruiert werden konnte – die Töne waren halt voll gut fand ich … die haben sich halt direkt danach angehört (S15; 90, 92) – nicht möglich. Dementsprechend waren die Schüler*innen gezwungen, andere Strategien zu verfolgen, um diese assoziierten Dinge zu verklanglichen. So lassen sich bei der Nachverfolgung der von den assoziierten Dingen ausgehenden Verklanglichungen verschiedene Arten der Verklanglichung feststellen:

Verklanglichung durch das Material In seltenen Fällen wurde von den untersuchten Schüler*innen der Fokus der Klanggestaltung auf den Klang des Materials des Dings gelegt. So versuchte S1 einen Tannenbaum klanglich zu repräsentieren, indem sie den Klang, der bei ihren Berührungen mit einer Pflanze entstand, mit dem Handy aufnahm. Ähnlich verfuhr S17, der für die Darstellung von Eis Eiswürfel aneinandergeschlagen hat: ja hier zum Beispiel so klopfen. ((spielt Ton ab)) Sowas halt. Das waren dann halt so Eiswürfel, die man dann so zusammen kombiniert hat (S17; 74). Diese Vorgehensweisen stellen aber, wie bereits erwähnt, nur Ausnahmen im Material dar. In der Regel nutzen die Schüler*innen die oben geschilderten Kontexte der Assoziationen für eine klangliche Anknüpfung und durchsuchten diese nach Klängen.

Verklanglichung der performativen Praktik Durch die Verknüpfung der Dinge mit einer assoziierten performativen Praktik können die Schüler*innen auf den Klang der Handlung zurückgreifen, der für den kompositorischen Prozess übernommen werden kann. Die oben angesprochene Jacke (vgl. 1. Zusammenhängend mit einer performativen Prak-

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tik) wird durch die Verbindung mit der performativen Praktik des Zumachens mit dem Klang eines auf und zu gehenden Reißverschlusses vertont. Ein weiteres oft vorkommendes Beispiel für diese Erweiterung des Kontextes ist die Assoziation von Weihnachtsgeschenken, die durch das Aus- bzw. Einpacken vertont wird. Bei der Vertonung streben die Schüler*innen den originalen Klang der Handlung an. Falls dieser nicht verfügbar bzw. so umsetzbar ist, bedienen sie sich alternativer Materialien, die dem Klang nahekommen oder greifen auf digitale Medien wie zum Beispiel auf den Ton von YouTube-Videos zurück, um den realen Klang der Handlung aufzunehmen: Geschenke einpacken habe ich auch von YouTube genommen, weil ich nichts zum Einpacken hatte.« (Skizzenbuch S1; S. 11) Teilweise wurden von den Schüler*innen zwar auch Handlungen assoziiert, die keinen so offensichtlichen Klang hervorbringen, diese wurden dann aber weder direkt verklanglicht noch für eine Verklanglichung weiterverfolgt: Hände werden halt kalt im Winter und dann zieht man halt die Handschuhe an und das konnte ich halt nicht in Ton umwandeln und deswegen habe ich das nicht aufgenommen. (S11; 69)

Assoziationsketten zum Klang Einen Einblick in das Bilden von Assoziationsketten vom Ding bis zum Klang geben die näheren Ausführungen von S18 bezüglich des assoziierten Weihnachtsbaums (vgl. 2. Teil von Assoziationsketten): aber man hat einfach so Bilder im Kopf wie z.B. wenn man an Weihnachten denkt, dann sieht man den Weihnachtsbaum. Dann hat man direkt so Schmuck am Weihnachtsbaum hängen. (S18; 12) Der Klang wird durch die Verbindung mit dem konkret vor Augen stehenden Weihnachtsbaum mit der daran befindlichen Glocke assoziiert und somit durch einen Glockenklang repräsentiert: Ja von mir hatte ich eins letztes Jahr Weihnachten. Da hatten wir den Weihnachtsbaum mit einer Kirchenglocke dran. Und da habe ich mich dran erinnert und dann habe ich meine Mutter gefragt zu Hause: Haben wir vielleicht die Glocken zu Hause, die wir für Weihnachten hatten? Ja und die hatten wir dann und dann habe ich das aufgenommen. (S18; 14) Es wird deutlich, dass der Kontext des assoziierten Dings mehrmals spezifiziert wird. Das Ding Weihnachtsbaum kann S18 offensichtlich nicht ohne weiteres vertonen, sodass er den Weihnachtsschmuck assoziiert, welchen er

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mit der konkreten Glocke verbindet. Betrachtet man die Beschreibungen von S18 näher, so kann zudem ein Wechsel zwischen der unpersönlichen manund der Ich-Form festgestellt werden. S18 stellt seine Assoziation erst einmal als allgemeingültig dar, um nachfolgend diese durch eine persönliche Bezugnahme zu spezifizieren. Hierdurch werden die Wechsel zwischen den Kontexten noch einmal betont.

Klänge in situativen Assoziationen Wie oben angesprochen, sind Dinge auch häufig Teil von assoziierten Szenerien. Der oben genannte Auszug von S6 (vgl. Kapitel Einbindung in situative Darstellung) ist Teil einer detaillierten Beschreibung über eine von S6 konkret erfahrenen Situation, die er mit dem Oberthema Kälte verbindet. Auch hier sucht S6 unter anderem für die Verklanglichung der Situation nach Klängen aus der Situation, an die er sich erinnert – wie auch das Rascheln der Blätter: da hab ich so Geräusche äh so so Blätt/nasse Blätter von den Bäumen so- wenn das Wasser da runterkommt- so Geräusche gemacht- so dran gewackelt oder- ähm auch so auf einem Gebüsch so ein so leicht getreten so- dass es dann so ja dieses Geräusch dann so gab- (S 6; 73) […] Bäumengeräusche so nehmen- also wackeln und so. Dieses Knistern so hab ich oft versucht nachzustellen. (S6; 79) In diesem Beispiel klingen die Dinge aufgrund des situativen Kontextes bzw. der Begebenheiten, wie zum Beispiel: Der Regen prasselt auf die Blätter bzw. der Wind bringt die Blätter zum Rascheln. Dadurch, dass S6 seine Assoziation nicht nur auf einzelne Dinge beschränkt, sondern auf einen situativen Kontext ausdehnt, erweitert er den Möglichkeitsraum auf der Suche nach Klang. Das Ding steht hierbei nicht wie bei den vorangegangenen Beispielen im Mittelpunkt der Assoziation und somit der darauf bezogenen Klanggestaltung, sondern ist Teil eines Ganzen und repräsentiert demnach in Verbindung mit anderen Klängen die Situation. Da die assoziierte Situation in der Vergangenheit liegt und die Klangerzeuger (die Bäume; der Wind) von damals in dieser Form nicht vorliegen, erfolgt die Klangaufnahme nicht wie bei der Glocke (S18) direkt, sondern als Nachstellung, was sich beim Streben nach der nah an der Wirklichkeit orientierten Klanggestaltung als Herausforderung erweist: dann habe ich das versucht- und das hat halt nicht so geklappt und dann hab ich mir gedacht, dann mache ich eher Sachen die passen – die dazu dann besser klingen halt […] womit man das halt identischer machen kann. (S6; 161-163)

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Diskussion der Ergebnisse Das Ding steht in den Assoziationen der Schüler*innen, wie in den Ausführungen von Merleau-Ponty (1974), nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit Kontexten, wie beispielsweise der (auditiven) Wahrnehmung von Dingen in einer Situation (der Bezug von Leib und Ding). Die assoziierten Kontexte entstehen entweder auf Grundlage von allgemeingültigen Annahmen bzw. kulturell tradierter Bilder (man) oder aufgrund direkter Erfahrungen (ich). Diese Kontexte beziehen die Schüler*innen auf der Suche nach Klang mit ein, da das Ding an sich ihnen selten ein (für sie) adäquates Klangpotential bietet. Begründet scheint dies darin, dass sie eine reale Klanggestaltung des alltäglichen Klangs anstreben, also wie der Klang in ihrer Wirklichkeit vorkommt. Die Schüler*innen verfolgten demnach nach Brandstätter (2014) das Ziel einer buchstäblichen Repräsentation: Der Klang des Dings soll den Klang des Dings abbilden. Es ist allerdings nicht klar, was die Ursache für dieses Streben ist. Dass der didaktische Kontext – also z.B. die vorherigen Stunden bzw. die Aufgabenstellung – das Handeln bzw. die Strategien der Schüler*innen beeinflusst hat, erscheint zuerst einmal naheliegend. Bezüglich der Aufgabenstellung (vgl. Fragestellung und methodisches Design) wäre hierbei beispielsweise die Interpretation des Verbs »passen« näher zu untersuchen. Im Sinne: Was verstehen die Schüler*innen unter »Tönen, die zu eurer Komposition zum Thema Kälte passen«? Des Weiteren gilt es bezüglich der Absicht der Schüler*innen nach realer Klanggestaltung die App näher in den Blick zu nehmen. Diese besticht zuerst einmal durch ihre offene Oberfläche, die zum Sammeln von Klängen einlädt. Durch das einfache Prinzip der direkten Aufnahme und das Befüllen der Klangboxen, die frei verschiebbar sind und keinen rhythmischen Strukturen unterliegen, ist die App auch für spontane Klangaufnahmen geeignet. Demnach ist die Aufnahme von Alltagsgeräuschen naheliegend. Dies animierte vielleicht zu einer direkten Aufnahme assoziierter Klänge, erklärt allerdings das Handeln der Schüler*innen nicht vollends. Denn auch wenn eine direkte Aufnahme nicht möglich war, versuchten sie trotzdem einen assoziierten Klang mithilfe anderer Klangerzeuger realitätsgetreu nachzustellen. Auch die Vorbereitung auf den Kompositionsprozess gilt es bezüglich der Ergebnisse zu reflektieren. Es ist denkbar, dass die in der Einführung angestrebte Sensibilisierung der auditiven Wahrnehmung die Schüler*innen zu einer Fokussierung von Alltagsgeräuschen als Repräsentation für die Dinge geführt hat. Zudem könnte der Wunsch nach Nachvollziehbarkeit sowohl für die Schüler*innen selbst als auch für die Zu-

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hörer*innen – das heißt unter anderem auch die Lehrkraft – Ursache für die Intention der realen Klanggestaltung sein. Die angestrebte Transparenz konnte im Material als eine Kategorie bestimmt werden und könnte somit das Handeln beeinflusst haben. In diesem Sinne beabsichtigten die Schüler*innen, dass ihre Klänge ihren Assoziationen zuzuordnen sind und dass nachvollzogen werden kann, warum sie diesen Klang mit dem Thema Kälte verbinden. Des Weiteren könnte auch der schulische Rahmen inklusive Zeitvorgaben und Produktorientierung eine Erklärung sein, warum Schüler*innen alltägliche Klänge umsetzen wollten. Durch den Rahmen unterlagen sie ggf. einem gewissen Druck und eine Problemlösung durch die Umsetzung der alltäglichen Klänge schien unter diesen Umständen am praktikabelsten. Es ergeben sich also mehrere Hypothesen hinsichtlich der Ursache für das Bestreben der Schüler*innen nach einer mimetischen Klanggestaltung, denen an anderer Stelle nachgegangen werden soll. In diesem Beitrag gilt es zuerst einmal, einen Ausblick für den didaktischen Umgang mit solchen Kompositionsprozessen zu wagen. Im Rahmen der Untersuchung konnte herausgearbeitet werden, dass die Schüler*innen die assoziierten Kontexte bis zum Finden der Klänge erweitern, verändern und spezifizieren: Wenn der Klang fehlt, werden assoziierte Dinge mit Handlungen versehen, Assoziationsketten weitergesponnen oder in Szenerien nach Klängen gesucht. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob dies auch die Kontexte sind, die die Schüler*innen aufgrund ihres Bezugs umsetzen wollen oder ob diese nur im Zusammenhang mit einer gewissen Pragmatik genutzt werden, da sie diese umsetzen können. Anders gesagt: Geht mit dem Wunsch nach einer buchstäblichen (Re-)Produktion der Klänge eine Veränderung der angestrebten Bezugnahmen einher? Die in den Interviews häufig getätigte Aussage Ich wusste nicht, wie ich das darstellen sollte zeigt, dass der oder die Schüler*in keine Idee für die Verklanglichung der Assoziation hat. Verknüpft man dies mit der Erkenntnis, dass die Schüler*innen primär die Strategie verfolgten, Klänge realitätsgetreu zu reproduzieren, ergeben sich im didaktischen Umgang zwei Möglichkeiten, die teilweise miteinander einhergehen. Zum einen müssten den Schüler*innen weitere Strategien für die Darstellung von nicht klingenden Dingen an die Hand gegeben werden. Zum anderen könnte ein Lösen von dem Wunsch nach einer buchstäblichen Repräsentation durch Klang den Möglichkeitsraum erweitern.

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Erweiterung der Strategien zur klanglichen Repräsentation von assoziierten Dingen Im Folgenden sollen didaktische Überlegungen angestellt werden, wie der Möglichkeitsraum der Schüler*innen bei der klanglichen Repräsentation der assoziierten Dinge erweitert werden kann. Naheliegend erscheint es, mit den Überlegungen an den Dingen selbst anzusetzen. Wie zuvor herausgestellt, sind nach Kathke (2007) die Dinge über ihr Material erfahrbar. Das Material nutzbar für die klangliche Repräsentation zu machen, stellt eine Möglichkeit dar, die Dinge in Klang zu übertragen. Obwohl die Dinge über ihr Material ein vielfältiges Klangpotenzial innehaben (vgl. Voit 2021), spielt diese Art der Repräsentation in den geschilderten Kompositionsprozessen der Schüler*innen nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Kapitel Verklanglichung durch das Material), da sie zumeist nur auf die buchstäbliche Repräsentation durch Klänge zurückgreifen. Die wesentlich größere Klangvielfalt der Dinge im Rahmen einer Vorübung zuerst einmal zu explorieren und das klangliche Potential zu entdecken, könnte den Schüler*innen allerdings zu weiteren Umsetzungsmöglichkeiten verhelfen (vgl. Voit 2021). In diesem Sinne könnten die Schüler*innen vor dem Kompositionsprozess erst einmal drei Dinge im Klassenraum suchen und deren Klangpotential erkunden. Zur Schärfung des »Bewusstseins für die spezifischen Eigenschaften der einzelnen Klangerzeuger und der von ihnen produzierten Töne und Geräusche« (ebd.: 290) empfiehlt Voit eine Kategorisierung der Klänge und eine nachfolgende, durch die Schüler*innen eigenständig erstellte, grafische Notation von drei präferierten Klängen, die »die Besonderheiten des jeweiligen Klangs besonders gut veranschaulicht« (ebd.: 291). Leitend könnte hierbei die Frage: »Wie klingt das?« sein, um Klangeigenschaften für sprachliche und grafische Anknüpfungspunkte zu thematisieren. Zudem wird durch die Überlegungen im Sinne Das klingt wie… schon eine Brücke zu den Bezugnahmen durch Musik geschlagen. Die in der Vorübung gemachten Erfahrungen können dann im Kompositionsprozess für die assoziierten Dinge adaptiert werden. Aufgrund der weitgehend genutzten buchstäblichen Repräsentation könnte neben der Exploration des Klangpotentials der Dinge auch eine Sensibilisierung bezüglich metaphorischer Repräsentationen (vgl. Brandstätter 2014) gewinnbringend für das Repertoire der Schüler*innen sein. Die Schüler*innen haben hierdurch die Möglichkeit Bilder, die sie im Kopf haben – also auf das Visuelle fokussiert – oder auch Gefühle oder Gerüche etc., die sie

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mit den Dingen verbinden, in Klang zu übertragen. Hierbei gilt es zunächst, bestimmte Merkmale auszuwählen, die die Grundlage der »Ähnlichkeitsbeziehungen« (ebd.: 235) zwischen assoziiertem Ding und Klang bilden. »Da die ausgewählten Merkmale jedoch nicht unmittelbar in das andere Medium übersetzt werden können, müssen die buchstäblichen Merkmale in metaphorische Merkmale umgewandelt werden.« (ebd.) Beispielsweise werden die Kerzen auf einem Tannenbaum mit einer friedvollen Stimmung assoziiert, sodass in der Übertragung hieraus ein ruhiger, harmonischer Klang resultiert. Diese Bezugnahmen sind aber nicht interpersonell zu sehen, sondern gehen mit einer subjektiven »sinn- und geltungskritischen Reflexion« (Oberschmidt 2018: 496) einher. So kann ein*e andere*r Schüler*in mit den Kerzen nicht eine gewisse Harmonie, sondern beispielsweise auch eine Art Bedrohung empfinden, die er*sie so in Klang umsetzt. Das klangerzeugende Material an sich ist hierbei – im Gegensatz zu der vorhin beschriebenen Exploration – sekundär zu betrachten, da die Analogie nicht (nur) durch das Material geschaffen wird. Der Fokus liegt auf der Ähnlichkeitsbeziehung von Klang und metaphorischem Merkmal. Allerdings nutzen Schüler*innen die geschilderte Strategie der metaphorischen Übertragung wie beispielsweise die Verklanglichung einer Stimmung meist nicht automatisch, sondern sie müssen explizit darauf vorbereitet bzw. hingewiesen werden: »Metaphern drängen sich auf – sie kommen aber nur, wenn sie nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht werden.« (Oberschmidt 2018: 500) Metaphern werden in den Ausführungen Jürgen Oberschmidts als »ein Werkzeug der musikalischen Analyse« (2018: 504) gebraucht: »Sie […] [sind] nicht wahrheitspflichtig, aber tauglich, um sich mit dieser kategorialen Formung des Wahrgenommenen von ›außen‹ an den Gegenstand anzunähern.« (ebd.: 504) Durch die konkrete Anbindung der Metaphern an Musik erlangen die Schüler*innen ein Verständnis für die Musik an sich, aber auch für mögliche Bezugnahmen der Musik auf außermusikalische Kontexte. Hinsichtlich der Sensibilisierung für metaphorische Übertragungen erscheint daher eine rezeptive Vorübung mit der bewussten Fokussierung von Metaphern sinnvoll. Die Sprache soll hierbei eine Reflexionsfunktion einnehmen: »Das Ziel besteht darin, einen wechselseitigen Austausch zwischen begrifflichen und begriffslosen Prozessen anzuregen.« (Brandstätter 2014: 241) Dies bedeutet konkret, bestimmte Merkmale in der Musik und deren (subjektiv) auswirkende Metaphorik zu verbalisieren, zu thematisieren und in einer Bezugnahme der beiden Bereiche aufeinander zu reflektieren – im Sinne eines Das erinnert mich an… Das assoziiere ich mit…, weil…. Durch die me-

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taphorische Repräsentation sind Schüler*innen bei der musikalischen Übertragung assoziierter Dinge nicht auf eine buchstäbliche Repräsentation angewiesen, sondern können »Merkmale im übertragenden Sinn aufeinander verweisen lassen« (ebd.). Dadurch wird ihnen einerseits eine weitere Möglichkeit der Übertragung aufgezeigt, andererseits erfahren sie Vorbilder, die sich von einer buchstäblichen Klanggestaltung lösen. Des Weiteren können konkrete Angebote in der Klangproduktion gemacht werden. So kann den Schüler*innen ein Einblick in die Möglichkeiten bei der klanglichen Umsetzung von Abstraktem wie beispielsweise Stimmungen oder Gefühlen gegeben werden. Konkret könnte dabei thematisiert werden: Wie kann ich diese Stimmung mit Klängen erzeugen? Auf diese Weise kann das Repertoire der Schüler*innen erweitert bzw. eine Grundlage geschaffen werden, um auch abstraktere Assoziationen zu verklanglichen.

Fazit In dem vorangegangenen Beitrag wurde die Verklanglichung von assoziierten Dingen in Kompositionsprozessen von Schüler*innen untersucht. Das zentrale Phänomen bildet hierbei die Variabilität der Assoziationen: Die Assoziationen werden so weit verändert, erweitert und spezifiziert, bis die Schüler*innen in irgendeiner Form auf einen Klang buchstäblich zurückgreifen können, da diese sonst keine Ideen für die Umsetzung haben. Am Ende des Beitrags wurden deshalb didaktische Überlegungen angestellt, wie das Repertoire der Schüler*innen zur Umsetzung ihrer Assoziationen erweitert werden kann. Hinsichtlich der assoziierten Dinge werden hierbei zuerst einmal die Exploration von Dingen als Klangerzeuger und die metaphorische Übertragung thematisiert. Fraglich in diesem Zusammenhang erscheint die lenkende Funktion der angedachten Vorübungen. So ist eine reine Adaption der erfahrenen Umsetzungsstrategien seitens der Schüler*innen denkbar – könnte somit aber auch zu einer Fokussierung von Assoziationen, die in diesem Sinne repräsentiert werden, führen. Demnach unterläge die von den Schüler*innen entwickelte Komposition dann nicht primär den eigenen Vorstellungen, sondern einem Pragmatismus bei der Umsetzung von Strategien. Eine adäquate Einführung von Strategien muss folglich erprobt und reflektiert werden, sodass Schüler*innen »selbst Musik mit eigenem Sinn hervorbringen können und nicht nur Vorgeformtem begegnen, das es anzunehmen gilt« (Schneider 1995: 28).

Die Suche nach dem Klang der Dinge

Im Rahmen des übergreifenden Forschungsanliegens werden neben den assoziierten Dingen weitere Assoziationen der Schüler*innen und deren Übertragung in Klänge untersucht. Besonders der Umgang mit abstrakten Assoziationen, wie beispielsweise Gefühlen, könnte spannende Erkenntnisse bieten, da hierbei eine metaphorische Repräsentation oder auch eine Verschiebung der Kontexte, wie oben geschildert, nötig erscheint. Neben der Übertragung der Klänge stellen die kompositorischen Strategien, das heißt Strategien für die Kombination von Klängen, einen weiteren Schwerpunkt des Forschungsanliegens dar. Diese gilt es noch systematisch – besonders in Bezug auf deren Verbindung zu den Assoziationen – zu untersuchen und zu kategorisieren.

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Voit (Hg.), Musikunterricht im Modus des Musik-Erfindens. Fallanalytische Perspektiven, Münster: Waxmann, S. 127-151. Kathke, Petra (2007): Sinn und Eigensinn des Materials: Projekte, Impulse, Aktionen, Berlin u.a.: Cornelsen. Katz, Shira Lee und Gardner, Howard (2011): Musical materials or metaphorical models? A psychological investigation of what inspires composer, in: David Hargreaves, Dorothy Miell und Raymond MacDonald (Hg.), Musical Imaginations: Multidisciplinary perspectives on creativity, performance and perception, Oxford: Oxford University Press, S. 107-123. Kelle, Udo und Kluge, Susann (2010): Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Springer. Krämer, Oliver (2007): Verklanglichen, in: Norbert Heukäufer (Hg.), MusikMethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen, S. 240248. Kuckartz, Udo (2018): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, 4. Aufl., Weinheim u.a.: Beltz. Merleau-Ponty, Maurice (1974): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter. Oberschmidt, Jürgen (2018): »Ein bewegliches Heer von Metaphern«. Betrachtungen zum metaphorischen Sprechen im Musikunterricht im Anschluss an Nietzsches erkenntnistheoretischer Skepsis, in: Johannes Kirschenmann, Christoph Richter und Kaspar H. Spinner (Hg.), Reden über Kunst, München: kopaed, S. 491-506. Schneider, Ernst Klaus (1995): Kein Schnee von gestern. Heinz Holligers »Schnee« aus Beiseit (1990/1991) in einem an der Grunderfahrung Kälte orientierten Unterricht, in: Musik und Bildung 5/95, S. 26-31. Schneider-Binkl, Sabine (2018): Video-Stimulated Recall Interviews als methodischer Ansatz für die qualitative Unterrichtsforschung im Fach Musik, in: Beiträge empirischer Musikpädagogik 9/2018, S. 1-20 [online] https:// www.b-em.info/index.php/ojs/article/view/150/305 [01.12.21]. Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas (2003): Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UTB. Strube, Gerhard (1984): Assoziation: der Prozeß des Erinnerns und die Struktur des Gedächtnisses, Berlin u.a.: Springer. Voit, Johannes (2018): Komponieren zu Bildern. Kompositionspädagogische Überlegungen zu Bildender Kunst als Auslöser für Gruppenkompositionsprozesse, in: Christian Rolle, Michael Dartsch, Matthias Schlothfeldt,

Die Suche nach dem Klang der Dinge

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Einer Spinne den Weg bahnen Essay Christina Griebel

Abb. 1: Ahorn

Der Boden ist mit Laub gepolstert, flächendeckend, haufenweise, gelbes, grünes, braunes, trockenes, feuchtes, duftendes, raschelndes. Ahorn, Eiche, Buche, Birke – Engelstrompete. Hier wurde ganze Arbeit geleistet. Wir müssen diesen Raum wieder in Ordnung bringen, nachher. Jetzt ist jetzt. Ich schließe meine Augen…

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»Von einer helfenden Hand an meinem Arm werde ich durch die Türe geführt. Vorsichtig setze ich Fuß um Fuß in den Raum, wo mich schon der Geruch nach nassen Blättern empfängt. Der hügelige Untergrund ist weich und gibt nach, wenn man darauf tritt. Ich denke an einen Herbstspaziergang, bei dem die farbigen Blätter bunte Tupfen ins Landschaftsbild malen und man den Geruch von frischer, kalter Luft und dem nassen Laub in der Nase hat. Ich setze mich langsam in den Schneidersitz. Unter mir liegt ein nasses Blatt, das sich nun kalt und unangenehm anfühlt, daher ziehe ich es hervor und lege es vor mich. Allmählich beginne ich, vor mir einen großen Haufen Blätter aufzuschaufeln und nehme einzelne heraus, um sie genau abzutasten. Ich reiße ein Blatt in kleine Stücke und lausche dem Geräusch, das dabei entsteht. Ein kleines Ratsch, das schnell sein oder in die Länge gezogen werden kann. Ich reiße die Blätter entlang bestimmter Linien, die sich an den Blattadern orientieren. Diese sind stabiler, beim Reißen schwerer zu überwinden und somit bestimmt das Blatt eigensinnig die Richtung.« Hier krabbelt eine winzige Spinne auf dem hellen Estrich. Mit beiden Händen schiebe ich Blätter zur Seite, damit sie nicht gleich wieder verschwindet. Sie rennt zum Rand der Lichtung. Somit ist geklärt, was zu tun ist. Ich mache ihr den Weg frei. Dort, wo sie hinläuft, schiebe ich die Blätter zur Seite, damit ich sie im Auge behalten kann. Und sie läuft emsig, ich krabble hinterher. »Auch einige Äste sind zu ertasten. Ich knicke sie mit längeren Abständen dazwischen, sodass ein lautes Geräusch im Raum und anschließend eine Pause entsteht. In den Pausen lausche ich den Geräuschen der Gruppe, denn es erstreckt sich ein regelrechtes Konzert von Knick- Knack- und Raschelgeräuschen. Dann setze ich wieder ein lautes Knack und der Raum antwortet. Der Gedanke, ob ich die Augen weiterhin geschlossen halten soll oder sie wieder öffnen kann schießt mir durch den Kopf. Ich warte noch etwas…« Dieses Ich ist ein Arbeitsbegriff für zwei Augen und alle weiteren Sinnesorgane sowie einen daran geknüpften Geist; nicht allzu persönlich zu nehmen. Weiß auf schwarz lesen wir mit anderen Augen. Die Spinne und ich, wir bahnen einen sich windenden Pfad kreuz und quer durch die Laubfläche. Wer eilt hier wem voraus? Ich ihr, weil ich größer bin, mein Vorteil ist der Überblick. Sie mir, weil ich nicht wissen kann, wohin sie sich wenden wird. Ich ihr, weil ich will, dass sie im Licht bleibt. Sie

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mir, weil sie die Dunkelheit sucht. Oder, falls es ihr nicht um Licht oder um Dunkelheit geht, eine vertraute Struktur, aus der sie herausgefallen ist. »In einer der Performances wird ein Käfer verfolgt und sehr genau beobachtet«, schreibt die Dokumentarin Svenja Jordan, deren Wahrnehmungen den Auftakt eingefangen haben. Mit geschlossenen Augen. Es ist ihr wichtig, hierfür ihre Buchstaben weiß auf schwarz zu setzen. Schwarz auf weiß beschreibt sie das spätere Geschehen: »Der Blick der Performerin bleibt auf das kleine, schnelle Krabbeltier fokussiert, während sie ihm folgt und ihm mit wischenden und schiebenden Bewegungen den Weg durchs Laub frei räumt. So bewegen sich Mensch und Käfer zusammen durch den Raum und hinterlassen eine Spur durchs Laub hinter sich. Der Käfer profitiert vom freien Weg, versucht aber vermutlich gegensätzlich zu arbeiten und sich im Schutz der Blätter zu verstecken.« Was weiß ich über die Beweggründe der Käfer und der Spinnen. Was auch immer ich darüber in Worte fasse, ist eine Anmaßung: das menschliche Maß, nicht das ihre. Schon Jakob von Uexküll hat versucht, das Vorgehen einer Zecke aus der Sicht der ihr zur Verfügung stehenden Sinnesleistungen darzustellen. Den Weg auf seinen Wartturm findet das augenlose Tier mithilfe eines allgemeinen Lichtsinns der Haut. Die Annäherung der Beute wird dem blinden und tauben Wegelagerer durch seinen Geruchssinn offenbar. Der Duft der Buttersäure […] wirkt auf die Zecke als Signal, um ihren Wachtposten zu verlassen und sich herabzustürzen. Fällt sie dabei auf etwas Warmes, was ihr ein feiner Temperatursinn verrät – dann hat sie ihre Beute, den Warmblüter erreicht und braucht nur noch mit Hilfe ihres Tastsinns eine möglichst haarfreie Stelle zu finden, um sich bis über den Kopf in das Hautgewebe ihrer Beute einzubohren. (Uexküll 1956: 24.) Mit Uexküll wird das einfache Wort Beweggründe fassbar: Ein Signal trifft auf einen dafür empfänglichen Sinn und nötigt den damit ausgestatteten Organismus zur Bewegung. Die Zecke riecht Schweiß, lässt sich fallen und frisst sich voll. Im Moment bewegt mich eine Spinne und ich mache ihr den Weg frei. Dabei werden wir beobachtet. Unsere Bahn trifft immer wieder auf die Pfade und Territorien anderer Anwesender. In solchen Fällen mogle ich und schiebe die Spinne ein bisschen nach links oder rechts oder versuche auf andere Weise, ihr den Weg zu versperren, damit unsere Schneise niemandem

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schadet und nichts zerstört, was vorübergehend anderen gehört, weil sie es gemacht oder gehortet haben. »Dabei sind die Regeln, nach denen wir uns bewegen, klar: Man darf nur die freien, noch nicht bewusst so gelegten Blätter in ihrer Form und Position im Raum verändern. Denn ein Blatt in einer Arbeit ›gehört‹ jetzt der Person, die es genau so positioniert hat. Ohne die unausgesprochenen Regeln der Gruppe würde das Materialexperiment möglicherweise in Chaos ausufern.« Und die Performerin, nein, ich gehöre nicht zu den Menschen, die andere dazu nötigen, ihre Augen zu schließen oder sich im Laub oder Schlamm zu wälzen oder ihren nackten oder angezogenen Körper mit oder ohne Requisiten zu einem bewegten Bild für andere Augen zu machen. Jede Performance ist ein Übergriff auf Zeiten und Räume Anderer. Übergriffe auf freiwillig Anwesende im Kontext Kunst mögen vertretbar sein; Übergriffe in Abhängigkeitsverhältnissen (und dazu gehört der Kontext Lehre) sind es nicht. Aber heute und in den kommenden vierzehn Wochen schreiben Studierende das Drehbuch unseres Seminars. Was sie für vertretbar halten, entscheiden sie selbst, und ob sie mitmachen wollen, was andere erdacht haben, entscheiden sie wiederum selbst. Die Regieanweisung für heute lautete »entwickeln Sie aus dem vorliegenden Material eine einminütige Performance. Sie haben fünfzehn Minuten Zeit.« Ich spiele mit und sehe zu, allen anderen und mir selbst, wie alle. Aus drei Begriffen, vielmehr, aus dem, was sie in ihrem Zusammenspiel bedeuten, entwickeln Studierende die Folgen unserer Serie: Raum, Körper, Material. Jede und jeder hat sich zu Beginn für ein Material entschieden, zu dem eine besondere Affinität besteht; häufig aus den Schwerpunkten der eigenen künstlerischen Arbeit heraus. Dieses Material wird allen Teilnehmer*innen an einem jeweils dafür geeigneten Ort in einem Szenario zur Verfügung gestellt, das die Hände danach greifen lässt. Eines Abends frieren wir in einem nahe gelegenen Wäldchen und bohren unsere Hände tief in die Taschen… Was an offenkundigen Auslösern fehlt, wird durch kleine Handlungsanweisungen ergänzt. Darüber hinaus haben die jeweiligen Drehbuchautor*innen (der Begriff playwright trifft es besser) die Verantwortung für die Zeit aller übernommen – keine Minute lässt sich zurückdrehen, für niemanden, und alle Anwesenden haben Zeit investiert; ein Gewahrsein dafür sollte zum Arbeitsethos jeder Person gehören, die glaubt, andere oder deren Kinder belehren zu müssen: Diese neunzig Minuten sollen einen Rhythmus,

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einen Spannungsbogen und einige Ergebnisse und Erkenntnisse spürbar werden lassen. Jede Seminarsitzung (nur selten sitzen wir) wird reihum von einer Teilnehmer*in in Bild und Text dokumentiert, um zunächst der jeweiligen Initiator*in eine Rückmeldung zu geben und danach allen Teilhaber*innen ein Stück Erinnerung, die sich später in eigene Praxis verwandeln lassen kann. Das Seminar hat ein Buch als Patin, Mentorin, Begleiterin: Sinn und Eigensinn des Materials (Kathke 2001). Die wenigsten haben es vorher gelesen; fast alle aber suchen hinterher danach und wollen es nun nicht mehr missen. Es steht im Apparat bereit, neben einer Auswahl aktueller Publikationen zu den Diskursen der drei durch den Titel angetippten turns: material turn, spacial turn, performative turn. Petra Kathkes Buch begleitet mich seit seinem ersten Erscheinen durch die Lehrpraxis, gleichwohl ich am Anfang skeptisch war. Es schien mir zu – praktisch? Rückblickend erkenne ich mich als Teil einer ziemlich theorieverliebten Generation. Seminare sah ich als lebendige Orte der Kreuzung neuer Begriffe und Diskurse mit virulenten gesellschaftlichen Fragen und der flexiblen Methodik der Kunstpädadogik. Im Grunde hat sich an diesen Eckpunkten nichts geändert, doch der Ausgangspunkt ist gewandert: von der Theorie (bios theoretikos, das betrachtende Leben) hin zu den Handelnden, die ein Herkommen (oft aus brennenden gesellschaftlichen Hintergründen) und einen Weg eingeschlagen haben. Unsere Wege kreuzen sich in einem kunstpädagogischen Studium, hier und jetzt. Mit der Praxis, das lehrten mich die Studierenden, setzt die Reflexion ganz von selbst sein, weil dem Pakt eines Lehrlernszenarios ein Wunsch nach Erkenntniszuwachs eigen ist. Wird er nicht von vornherein an einen herangetragen, fragt man selbst danach, spätestens hinterher und bisweilen, um eine ausgebliebene Wunscherfüllung zu kompensieren. Eine Sensibilisierung für diesen Wunsch mit geschickten Mitteln zu befördern, ist wiederum mein Part. Den Moment zwischen vorher und hinterher gilt es abzupassen; für diesen Augenblick liegt die Dozentin auf der Lauer, markiert ihn notfalls, damit er nicht ungenutzt verstreicht, und öffnet den Raum für Reflexionen und Diskurse. Die bewusste propositionale Askese, der Verzicht auf Vor-schläge und Vor-träge, wird zum Beispiel durch ein sprechendes Material ermöglicht. Sprechend? Wer spricht hier wirklich? In der Diskussion steht neuerdings das Kommunikationsnetz des Waldes, in dem es nicht nur rauscht, sondern Bäume auch ›Gespräche‹ miteinander führen. Pflanzen leben mit Pilzen in vielgestaltiger Symbiose. Der deut-

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sche Pflanzenphysiologe Albert Bernhard Frank entdeckte sie schon im 19. Jahrhundert und er prägte den Begriff der ›Mykorrhiza‹ für die Lebensgemeinschaft aus Pilzmyzel und Baumwurzeln: ein raffiniertes unterirdisches System nicht nur des Stoff-, sondern auch des Informationsaustausches. Eine Analogie drängt sich geradezu auf. So stiften zum Beispiel Pilzfäden im Waldboden eine Art von LAN (Local Area Network). Sie verknüpfen Bäume und Sträucher miteinander. Was liegt näher, als hier von einer natürlichen Vorform des Internets zu sprechen – von einem ›Wood Wide Web‹? (Kaeser 2020: o.S.) Abb. 2: Pilze

Das wood wide web ist eine beliebte Wissenschaftsmetapher der Gegenwart, die sich rasant über alle Netze verbreitet hat und nach den Körpern greift, die vor den Bildschirmen sitzen oder darauf herumfingern. Wir können es offenbar nicht lassen, zu vermenschlichen, was wir vorfinden. Also sprechen wir selbst. Der Wald hält den Mund. Übertragungen anderer Kommunikationsstrukturen auf unsere eigenen lassen sich ebenso wenig vermeiden wie die Monologe und Dialoge, die wir im Kopf führen, sobald sich auch nur die kleinste Anregung dafür bietet. Auf diese Weise funktioniert unser Verstehen und im besseren Fall hilft uns das, einen jeweils neuen, anderen Blickwinkel einzunehmen:

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Metaphern […] erschließen unserem Blick oft überraschend neue Phänomenbereiche – der Poesie nicht unähnlich. Und in dieser Hinsicht haben sie eine kreative, heuristische Funktion. Eine Metapher kann im Erwarteten das Unerwartete sichtbar machen, die forschende Neugier auf nicht gestellte Fragen lenken – sie kann ein Phänomen buchstäblich ›designen‹, klar hervortreten lassen. Wenn wir früher vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen haben, so sehen wir jetzt dank dem Wood Wide Web auf einmal das Kommunikationsnetz Wald. (Kaeser 2020: o.S.) Abb. 3: Buchen

Ein anderes Vorgehen entdecke ich bei Petra Kathke. Sie sieht das Große im Kleinen, das Ganze im Detail und überträgt das eine auf das andere, ohne zu vermenschlichen: Äste und Zweige sind wie Bäume im kleinen Format. Sie bewahren in den an- und abschwellenden Formen ihrer Austriebe und in der teils glatten, teils rissigen, am Blattansatz knotenartig verdickten Rinde alle Spuren einer gewachsenen Bewegung. Jeder aufstrebende und sich ausbreitende Ast findet seinen Ursprung und Halt im Stamm des Baumes, der in sich alle Kraft versammelt, um Blätter und Gezweig in den lichten Raum, die Wurzeln dagegen ins dunkle Erdreich zu treiben (Kathke 2001: 62),

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lese ich und bei jedem Wiederlesen berühren die achtsame Melodie ihres Sprachflusses und die Sorgfalt ihrer Ausführungen. Berührt, aber vorsichtig war ich bei der Erstlektüre, wie gesagt, ich turnte damals mit den turns; der Wald stand nicht ganz oben auf der Trefferliste. Mittlerweile ist er global in einem weit bedrohlicheren Zustand als zum Ende des letzten Jahrtausends, als sein Sterben noch ein vielbenutztes Wort war. Das in seinem Großen und Ganzen ernsthaft Gefährdete kehrt im Kleinen zurück, manifestiert sich in individuellen Praxen und erlebnispädagogischen Trends: Von Japan ausgehend wird das Waldbaden kultiviert oder gar verordnet, kein Dorf mehr ohne Waldkindergarten, kein stadtnaher Wald, in dem nicht erwachsene Menschen Hütten und Schlupflöcher bauen; der Handchirurg riet mir, der Terpene wegen in den Wald zu gehen, um die Wundheilung nach einer Operation zu beschleunigen und längst liegt der Wald und alles, was mit ihm und in ihm kommuniziert, ganz vorne auf den Tischen, an die man greift, wenn man – egal, was man dort vorhatte – eine Buchhandlung betritt. Und es vergeht kaum noch eine Seminarsitzung, in der nicht irgendwann eine Studentin, ein Student aufsteht, ein kleines Tier hinausträgt, das auf einem Hosenbein krabbelte, und beglückt lächelnd wieder Platz nimmt.

Abb. 4: Ein Auge

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Ich habe die Spinne aus den Augen verloren, weil ich sehen wollte, was die anderen machen. Eine Studentin legt ein Feld aus gelben Blättern, eine andere näht möglichst farbverschiedene zusammen, eine zieht ein grünes Ungetüm aus Ahornblättern mit einem langen roten Schwanz an einer Schnur hinter sich her, eine stopft Blätter in den Kängurubeutel ihres hoodies und einer scharrt kreisrunde Lichtungen ins Laubfeld, die er sofort wieder verwischt, wenn jemand hinschaut. Die Spinne ist weg. Ich finde einen Käfer und folge ihm. Ich mache ihm den Weg frei und achte weiterhin darauf, nichts zu berühren, zu zerstören, was im Gestaltwandel des Laubfelds jemand anderem zuzuordnen wäre. Rückblickend sehe ich, dass jemand wiederum mir gefolgt sein muss und in die breite, freie Bahn eine zierliche Mittelspur aus bunten Blättern gelegt hat. Doch mit dem fokussierten Blick, der von einer anderen als solche bezeichneten Performerin ist, ist im Verlauf dieser Bahnung etwas passiert. Dieses leicht egozentrische Glücksgefühl, ausgelöst durch eine Findung, eine Fokussierung und eine Handlung, die nur in sich selbst einen Sinn zu haben schien, war mehr und mehr einer Durchlässigkeit für das Gesamtgeschehen, für die sich manifestierende Erkenntnis, Teil eines Ganzen zu sein, gewichen. Was zunehmend dazu führte, den eingeschlagenen Weg als (im Wortsinn) brachial zu empfinden. Und ihn nur fortzusetzen, um der Seminarsitzung ein Ergebnis beizusteuern – damit sie als geglückt und gelungen empfunden werde. Zum Glück gelingt auch das Aufräumen. In den Worten Svenja Jordans: »Eine Möglichkeit wäre, den Raum rückzubauen. Also die verschiedenen Blattarten voneinander zu trennen und wieder auf ihre geordneten Haufen legen und wie bei einer materialgerechten Mülltrennung wieder in ihre vorgesehenen Säcke zu packen. Die Gruppe bekommt sieben Minuten, in denen jeder nach der eigenen Idee aufräumen kann. Das passiert schnell und dynamisch. Es bilden sich Teams, bei denen einer die Tüte hält und ein anderer die Blätter hineinschaufelt. Die ›Blätterkette‹ wird eher systematisch Blatt für Blatt eingesammelt. Einige arbeiten eher meditativ daran, die Blätter zusammenzufegen, andere werfen noch ein bisschen mit dem Laub um sich. Aber alle in die richtige Richtung, entweder zur Mitte oder auf den nächsten Blätterhaufen, um es schnell einpacken zu können. Keiner arbeitet gegen das unangezweifelte Ziel, möglichst schnell alle Blätter wieder los zu werden. Aus den Tüten werden die

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Blätter durchs Fenster ins Dunkel schweben gelassen, sodass sie wieder in ihre natürliche Umgebung auf den Boden, draußen auf die Wiese fallen.«

Allmählich spüre ich ein Intervall zwischen dem feinen Signal, das von einem Material ausgeht, mit allen Sinnen aufgenommen werden kann und eine Wirkung im Zusammenspiel meiner Sinne entfalten kann, die zur Ursache von passierenden Handlungen werden kann, und der (noch präverbalen) Semantik (der vielbemühten Sprache des Materials), die wir in die Beschaffenheit eines Materials hineingeben und die uns – mal im Bündnis mit den Eigenschaften dieses Materials, mal dagegen angehend – zur aktiven Formgebung (ver)leitet: Einem Klang folgen, der durch den Kon-takt mit dem Material ausgelöst wurde, oder Taktgeber sein (wollen) und das Material zum Instrument machen. Räumlich ist es ein Sehen, ohne zu kategorisieren, und zeitlich ist es der Moment davor: Bevor wir etwas tun, worin wir routiniert sind. Rückblickend sehe ich in der Praxis Petra Kathkes einen subtilen Auslöser dieser Erkenntnis, die sich ihren Weg in die unterschiedlichsten Lehrsituationen unseres Fachs bahnt. Anderer Ort (Universität der Künste Berlin), andere Zeit (2011), ähnliches Setting: auf ihren Spuren. Petra Kathke war mein Gast und leitete eine Seminarsitzung. Zuerst gab sie dem Raum selbst eine neue Gestalt durch die Liebe und Sorgfalt, mit der sie ihr Material auslegte; kein überbordendes Sinnesangebot, sondern einfach weißen Stoff in allen nur denkbaren und erhältlichen Formen, feinsäuberlich in morphologisch geordneten Feldern ausgelegt. Später ging ein feines Baumwolltuch von Hand zu Hand, danach fand in jedes Paar Hände ein eigenes Tuch. Die Hände folgten, so machte es Petra vor, diesem Tuch, nicht umgekehrt, was wir fassten, fasste uns an; was, wenn wir einmal nachgeben und nicht führen? Niemand schlug einen Knoten in sein Tuch, keines wurde in Streifen gerissen, kein Säckchen, keine Knollenpuppe wurde gebastelt, die Tücher bewegten Hände, das war alles. Das Material war für die Anwesenden von einer instrumentalisierten Sache zum Gestalt- und Taktgeber (pacemaker) geworden. Inzwischen (ich turne für heute ein letztes Mal mit den turns) mehren sich weltweit die bestvernetzten Stimmen, die einer Ontologie der aktiven Dinge (Morton 2013), den handels- und migrationsbestimmenden Wegen und Umwegen der Pilze (Lowenhaupt Tsing 2018) und der Unruhe »unserer Kritter« und aller anderen Arten (Haraway 2018) den Vorzug vor unserer eigenen geben – oder durch wortreiche Ausführungen indirekt das Gegenteil beweisen. Was mir von der Lektüre indes bleibt, ist der in jeder Praxis neu ansetzende

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Versuch, darin etwas bescheidener und etwas durchlässiger zu werden und etwas oder jemanden, ein nicht-Ich, als Beweggrund für daraus resultierendes Handeln auszumachen.

Abb. 5: Wolle(n)

Zurück zur Natur, ein paar Wochen später. Es riecht nach Wollfett und Schafsmist. Svenja Jordan hat, inspiriert durch die Intensitäten des Laubexperiments, nicht nur wie meist ihren Hund Tiva mitgebracht, sondern auch die frisch geschorenen Vliese der elterlichen Schafherde. Sie muss nicht dazu auffordern: Die Wolle wandert in Hände, wird berochen, betastet, zerzupft, gezwirbelt, doch natürlich möchten alle mehr über die Schafherde wissen, Rasse, Ort, Bedürfnisse, Pflege, Svenjas Beziehung zu alldem und haben die Schafe Namen? Wie ist es mit dem Schlachten, wer wird Lisa, Trudy und Charles auf dem Teller haben? Im Geiste sehe ich einen Wollhaufen im spärlichen Licht vieler Jahrhunderte, rundherum Frauen und Kinder, Spindeln und Spinnräder und alles, was damit und dazu gesponnen und ersonnen wird. Allmählich kehrt Ruhe ein. Ich ziehe mich mit einem Vlies zurück und will es ordentlich auslegen. Ordentlich? Ordentlich heißt achtsam und richtig herum, Außenseite oben, Innenseite unten, doch was ist innen, was außen, wo ist der Schwanz, wo der Hals, was alles gehört zu den Beinansätzen? Das Vlies ist vielfach in sich verdreht und hat meinen Händen gesagt, was zu tun ist. Mehr als sich in knapp zwei Stunden bewältigen ließe. Natürlich passiert bei

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anderen Anderes. Wolle wird nach Farbe sortiert, hell umhüllt dunkel, Verfilztes wird in eine Rastafrisur eingeflochten, ein Kollektivgespinst an der Decke aufgehängt, es wuchert durch den Raum. Doch in unterschiedlicher Ausprägung fallen im Verlauf der Seminarwochen, wie in jener der einzelnen Erzählfolgen, zwei Tendenzen der Verschiebung im Umgang mit dem Material auf: weg von der Verwendung des Materials zur Umsetzung einer Idee hin zum Erspüren seines Eigensinns und weg von der einsamen Beschäftigung mit einer Sache hin zum gemeinsamen Handeln.

Literatur Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chtuluzän, Frankfurt/New York: Campus. Kaeser, Eduard (2020): Vom Wood Wide Web zum World Wide Web: was die Kommunikation von Pflanzen und Tieren mit dem Internet zu tun hat, [online] https://www.nzz.ch/wissenschaft/naturgeschichte-des-in ternet-wood-wide-web-zum-world-wide-net-ld.1583641#back-register [30.09.2021]. Kathke, Petra (2001): Sinn und Eigensinn des Materials, 2 Bd., Weinheim: Beltz. Lowenhaupt Tsing, Anna (2018): Der Pilz am Ende der Welt, Berlin: Matthes und Seitz. Morton, Timothy (2013): Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End of the World, Minnesota: University Press. Uexküll, Jakob von (1956): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Bedeutungslehre, Hamburg: Rowohlt.

Schläft ein Lied in allen Dingen…

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Nicht mit rechten Dingen…: Irritationen und Variationen

Fremd-Körper Andrea Schrottenloher

Da muss man doch weiterdenken – über Nahe-Gelegtes, Texte und liminale Wirklichkeitszustände Ein Intermezzo in einem Buch Notburga Karl

»Ästhetisches Denken lebt von aufmerkender Wahrnehmung.«»Das, was ästhetisches Erleben auszeichnet, ist die Verknüpfung von erfahrener Wirklichkeit mit persönlicher Sinngebung.«Material mit offenen Einschreibungen: »geistige und physische Beweglichkeit« (200)

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Im Nachdenken zu diesem Beitrag begegnete mir blätternd der glückliche Zufall (vgl. Abb. 1), ein Verschnitt im Band 1 zu »Sinn und Eigensinn des Materials« von Petra Kathke (Kathke 2001: 103. Die alleinigen Seitenangaben der Zitate beziehen sich entsprechend immer auf diesen Band). Diesen Fehler in der Produktionskette kannte ich wohl, er hatte mich immer stumm begleitet, aber nun wird er wichtig: hier ereignete sich etwas Unvorhergesehenes auf den Seiten, nein auf Blatt 101 und 102 des Buches. Was eine eigene Ereignislogik in sich trägt und zur Anekdote werden könnte, bleibt wohl ein unlösbares Rätsel: Was ist da nur geschehen, dass sich sowas ereignen konnte? War die Seite noch zu feucht vom Druck und ein Blatt klebte am anderen? Oder hielt sie die elektrische Aufladung aneinander? Vielleicht war einfach ein Windstoß im Spiel, der im Druckraum durch den Stapel gefahren ist. Oder ist jemand gestolpert, sodass sich nicht allein diese eine Ecke umknickte (aber was geschah dann mit den anderen)? Oder hat jemand gar einen Papierbogen aus Versehen falsch angefasst, zu sehr gedreht, weil plötzlich eine Wespe in den Raum flog und gleichzeitig ein Telefon klingelte? Dass die Buchseite vor ihrem eigenen feurigen Inhalt zusammenzuckte – es ist der Beginn zum Kapitel über Feuer, Ruß und Asche –, bleibt dagegen reine Phantasie; jedoch das Grenzüberschreitende des Buches steht fest. Dieses konkrete material-mediale Intermezzo lässt sich gut ins Spiel bringen, um daran die wesentlichen Orientierungen zu diskutieren, die mich an Petra Kathkes Didaktik so nachhaltig überzeugen und die damit meinen eigenen Paradigmenwechsel in der Kunst der Didaktik markieren. Ich hatte als Kollegin das Glück, den in jenem Band artikulierten Theorierahmen in Praxis übersetzt zu erfahren; er veränderte meine Bildungsbiografie nachhaltig. Es waren unscheinbare Zwischenbemerkungen (»…da muss man doch weiterdenken«), spontan geteilte Beobachtungen, aber auch die opulenten Handapparate mit aktuellen Fragestellungen – geistig herausfordernde Nahrung, die Petra Kathkes nach-denkliche wie inspirierende Didaktik für mich einschlägig werden ließen, ja sogar animierend für eigene und institutionelle Grenzüberschreitungen. Dabei waren es vor allem die Kooperationsseminare, in denen Gedanken gemeinsam vorausentworfen und in material settings gebracht wurden. Indem die gewonnenen Erkenntnisse aus den Bezugswissenschaften hier konsequent mit kunstpädagogischer Praxis verknüpft wurden, blieb ich nicht länger den Nachbildern und verinnerlichten Erfahrungen aus eigener Schul- und Ausbildungszeit ausgeliefert, die ich immer mehr verlernte. Ich lernte stattdessen eine ernsthafte wie spielerische Form der Involvierung durch sinnlich-dichte Settings schätzen, die mich bereits im Vorfeld der Wor-

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te auffordern, um angeschaut und angefasst, erkundet zu werden. Was ist da noch zu entdecken, neu und anders ins Bewusstsein zu holen, warum nicht über meinen Schatten springen? Diese neugierige, selbstkritische Haltung erweist sich als besonders ergiebig, indem es zugleich ein dialogisches Nachdenken und hermeneutisches Nachfragen ermöglicht, mit und ohne Worte, durchaus mit dem Potential utopischen Überschusses. Eine solche involvierende Didaktik kann transgressiv wirken, weil hier Handlungshorizonte zu Sinnhorizonten werden. Hier wird das Vertrauen auf Kunst zur Denkform, intersubjektiv, kollaborativ. So herausgefordert brachte mich Petra Kathkes Anstoß schließlich dazu, das Potential von und die eigenen Erfahrungen mit Kunst selbstbewusst für die Entwicklung einer eigenen Kunstdidaktik zu nutzen – nicht als Gegenstand, über den, sondern als mentalen Raum, in und mit dem gesprochen, nachgedacht, ausgesetzt oder etwas gemeinsam sinnlich erfahren werden kann. So konnte ich Didaktik und deren Potential als Kunst des Zeigens und Aufscheinen-Lassens völlig neu entdecken. Durch aktuelle Theoriehintergründe, etwa zur Responsivität der Erfahrung (Sabisch et al.), zu Aspektwechseln als Medium ästhetischer Erfahrung (Lüthy) oder zur [medialen] Transformationsleistung als ästhetischer Erkenntnisarbeit (Brandstätter, Koller), erhärtet sich dieses heureka im Nachgang immer wieder. Deswegen möchte ich für diesen Kurzbeitrag im Folgenden drei Orientierungen in Theorie wie Praxis diskutieren, die meinen Paradigmenwechsel wesentlich beförderten: (1) ein verändertes Wahrnehmen aufgrund einer phänomenologisch-anthropologischen Grundierung, die aber zugleich die wahrnehmenden Subjekte als situierte ernst nimmt, (2) die Transformationsformen verschiedener ästhetischer Zugangsweisen zur Welt als Erkenntnisgewinnung und Sinnstiftung, und schließlich (3) der Bezug zu aktueller wie vergangener Kunst als nachhaltige Ressource und Methode, der immer wieder Orientierung für Didaktik schafft. Mit diesem Beitrag versuche ich keine neue theoretische Fixierung, sondern möchte den fundamentalen Paradigmenwechsel, den Petra Kathke bei mir bewirkte, reflektieren und (möglichst anschaulich zwischen Bild und Text) charakterisieren, weil ich davon ausgehe, dass es anderen ähnlich geht. Dabei werde ich, Selles Rat folgend, die »zur reflektierenden Produktion eigener Animationseinfälle anregende[n] Praxisbeispiele« (Selle 2001: 9) in die Praxis meines Aufzeigens einbauen, indem ich sie auf jene ereignishafte Buchseite als Anschauungsbeispiel übertrage. Daran soll gezeigt werden, wie mit ein wenig anderen Orientierungen so eine Didaktik für eigene Herangehensweisen immer wieder situationsspezifisch und sinnstiftend entwickelt

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werden kann. Es ist ein didaktisch induktives, kritisches Vorgehen, das den Anspruch hat, ihrem Gegenstand, der Kunst und ihren Subjekten, gerecht zu werden, indem es sich auf konkrete Situationen einlässt: Hier wird der mentale Raum über ein blätterbares Buch eröffnet.

»Den Blick für das natürliche So-Sein des Materiellen zu öffnen und ihn nicht mit vorgefassten Meinungen zu verengen, bleibt eine pädagogische Herausforderung.« (204)

»Perfekte Vorgaben blockieren den Antrieb für den betrachtenden Geist, weiterzudenken, umzuformen oder umzudeuten«. (203)

Phänomenalität, Aufforderungscharakter von Material, Responsivität Allein etwa von Linearem, von Linearität statt von Zeichnung oder Seitenkante zu sprechen, rückt den Fokus auf die Erscheinungsweise dinglicher Wirklichkeit und Welt, und in welcher Weise wir uns ihr gegenüber »anverwandeln« können – zum Beispiel mit Hilfe des Zeichnens, Schneidens oder Fotografierens. Zeichnen als Praxis ist in diesem phänomenologischen Sinne weniger als konventionalisierte Kulturtechnik, sondern als eine von vielen möglichen ereignishaften Formen im Umgang mit Welt zu sehen, die sich eben in eine Zeichnung im Sinne eines werdenden Produkts einschreiben, in jeweils anderer Materialität und Medialität: emotional nachspürend, neutral abklärend, kognitiv bestimmend, mimetisch ausrichtend, lustvoll graphierend, kommentierend und vieles mehr. Eine Linie ist dabei nicht nur eine Kontur, die eine Form einschließt und ihr dadurch eine kognitiv erfassbare Bezeichnung gibt, sondern zuallererst die Spur einer Bewegung. Selbst eine Kontur muss freilich nicht hermetisch abschließend, sondern kann offen und dynamisierend sein. So eine Bewegung erfährt im Übrigen auch der Blick beim Abfahren einer Formgrenze oder beim Herausstellen einer sensomotorisch ansprechenden Oberflächenbeschaffenheit. So kann diese Bewegung durchaus die Funktion einer Kontur zur Beschreibung einer Form übernehmen – sie muss dies aber nicht. Sie kann ebenso aus sich heraus bestehen, das Bild in ein Oben oder Unten gliedern, sich aus dem Schwung einer Bewegung weiter verselbständigen und dabei allein ihre eigene Dynamik bezeugen.

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Das schließt Imaginationen ein, die sich nachträglich als Deutung in ein Linienensemble hineinsehen lassen. Linearität zu sehen kann auch im vorliegenden Fall den alltäglichen Blick verschieben, wenn nicht mal mit zeichnerischen Mitteln wie Graphit o.Ä. gearbeitet wurde; allein die Dicke einer gerade geschnittenen Buchseite kann als gespannte, widerständig sich behauptende Linie erfasst werden. Auch in sie hat sich die Spur einer Bewegung eingeschrieben, selbst wenn das Schneiden von einer Maschine stammt; und auch diese Schnittkante bildet zugleich eine Kontur im Sinne abbildhafter Darstellungslogiken, wenn der Blick auf das aufgeschlagene Buch dieses vom Hintergrund absetzt. Gerissen wäre diese Linie weicher, unregelmäßiger, wenn die sichtbar werdende Faserung zusätzlich einen optisch ausfransenden Übergang schafft. Zugleich rückt das Reißen materiale Eigenschaften des Papieres immer mehr in den Vordergrund, während der ursprüngliche, konventionelle Kontext des Buches, gelesen zu werden, zurücktritt. Der Umweg über die Linearität führt auf das Stück Papier als dessen Grund und Voraussetzung zurück: es ist nicht länger nur als Träger von Text wahrnehmbar; phänomenale Kategorien wie Linearität oder Materialität können ein aufmerksames Wahrnehmen begründen. Was sich da linear ereignet, kann noch mehr sein: etwa die Knickung der Seite, deren kleine Erhöhung einen fein zeichnenden Schatten abwirft, oder die tatsächlich wieder abgedruckten linearen Verläufe der Aschespur aus der Abbildung der Seite zu Feuer, Ruß und Asche, die sich medial und in anderer Maßstäblichkeit fortsetzen, genauso wie die übrig gebliebenen Schnittmarken. Die Buchseite kann also durch eine verschobene Perspektive durchaus als Zeichnung wahrgenommen werden, obwohl ein Zeichnen im klassischen Sinne nicht stattfand. Die Phänomenalität der wahrnehmbaren Welt anzuerkennen bedeutet hier, Linearität als solche visuell und haptisch zu erfassen, ohne etwas Gestaltförmiges darin lesen bzw. decodieren zu müssen (vgl. Mersch). Ein solches erarbeitetes Wahrnehmen lässt sich strukturell immer mehr verdichten und auf neue Gelegenheiten übertragen, die in der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit aufscheinen – und seien sie noch so naheliegend, wenn auch nicht immer so widerständig und selten wie eine verschnittene Buchseite. Spuren gibt es allgemein nicht nur mit, sondern auch im Material selbst, wie es sich auch innerhalb des Buchs zeigt: Während die Spuren im Material selbst beim industriell gefertigten Druckpapier als einzelne Fasern mit bloßem Auge kaum mehr rekonstruierbar sind, es sei denn, man manipuliert es durch einen kleinen Riss, hinterlässt die minimale Reliefstruktur der Knickung deutlichere Spuren: Eingebettet zwischen 200 anderen Seiten ergeben

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sich leichte Abstufungen an den Blättern davor und danach; ebenfalls ist ein schmaler, glatterer Streifen durch die Abnutzung bemerkbar, die die willkürliche Faltung auslöst. Die gesamte Situation des Zuschnittes gibt etwas vom Herstellungsprozess preis.

»Die ›Sprache‹ dieser Spuren hängt von den Materialeigenschaften wie von den Bedingungen der Umgebung ab, in die das Objekt gerät. Menschliche Manipulationen sind dabei nur eine Kraft neben anderen möglichen Einwirkungen.« (199) Dinge werden dadurch zum ›Ausdruck dieser Situationen‹. (vgl. 199)

Sich der Suche nach Spuren zu widmen, wie sie ins Material eingegangen sind, eignet sich deswegen besonders gut, um die Affirmationskette des bereits Gewussten und Bekannten in ungewohnter Weise zu unterbrechen. So wird aus einem bekannten Buch ein unbekanntes Setting, das Überraschungen bereithält – selbst für mich, die das Buch eigentlich schon lange »kennt«. Dabei helfen ungewöhnliche Anblicke – und ein die eigene Suche unterstützendes Schreiben: denn um das medial-materiale Intermezzo in seinen Qualitätseigenschaften, in seiner Phänomenalität wahrzunehmen, braucht es einerseits involvierende Situationen, die den Blick anziehen, andererseits aber dezente Hinweise in überlegter Wortwahl, die den Blick schärfen und lenken. Der hier implizierte Paradigmenwechsel von der Instruktion zur Involvierung (vgl. Kathke: 2016) beruht auf bildungsphilosophischen Grundannahmen, die den Künsten entgegenkommen. Er liegt wesentlich in einer Konzeptualisierung des Sehens und Wahrnehmens als anthropologisches Grundproblem und setzt bei einer alternativen Wahrnehmungsleistung an, wobei sich diese immer wieder am Gegenüber vergewissern muss. Um als Kunstdidaktikerin Studierende oder SchülerInnen solch involvierenden Situationen auszusetzen und sie material-medial über Text und Bild zu situieren, komme ich nicht umhin, selbst entsprechend Teil der Situation zu werden, das eigene Begehren sichtbar werden zu lassen. Andere an eigenen (durchaus auch riskanten und nicht immer gelingenden) Experimenten und Annäherungen, an ungewöhnlichen Entdeckungen oder Enttäuschungen teilhaben zu lassen, wirkt insofern besonders anstiftend und motivierend, da es ihnen ein vergleichbares Scheitern und Gelingen nicht nur zugesteht, sondern sogar voraussetzt (Pazzini). Der Umgang damit ist entscheidend. Es macht daher Sinn, der eigenen subjektiven Neugier zu vertrauen und vorgeblich Bekanntes mit-

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tels phänomenologischer Differenzierung als Einzelbeispiel wieder konkret und dadurch widerständig und anders begreifbar werden zu lassen (Sternfeld). Die damit verbundene notwendige Frage nach der Haltung haben Wetzel und Lenk bereits in den kunstpädagogischen Diskurs eingebracht (Wetzel). Mein Rückgriff auf den Terminus der Orientierungen macht stattdessen die eigenen kunstdidaktischen Handlungsentscheidungen rekonstruier- und diskutierbar. Der Terminus stammt aus Praxistheorien der Soziologie und lässt sich gut mit den aktuellen Diskursen zu nonverbalen Wissensformen verbinden. Im besten Falle ersetzt die bewusste Orientierung an einer echten, forschenden Neugier extrinsische Motivation. So ein Vorgehen macht Subjekte souverän und ihrer selbst bewusst. Dadurch wächst auch die Verantwortung für die eigene Praxis. Etwas Lineares kann neben einer Blattkante auch als Drahtgebilde, Wollknäuel oder Kondensstreifen am Himmel erkannt werden – Wahrnehmung ist insofern in analogen Denkprozessen strukturiert (vgl. Brandstätter 2013). Diese Analogien eröffnen Übergangsmomente, die über Formalästhetisches hinausgehen. Die Bewegungen, die in Linien eingegangen sind, per Auge und Hand, erweisen sich als Spur und Ausdruck einer materiell-medialen Involvierung – einer Praxis, die aufgegriffen werden kann. Jede Bewegung, mit der ich zeichnerisch oder hantierend ein Ding erfassen will, bringt mich nicht nur diesem Ding äußerlich näher, sondern macht auch mein eigenes emotives Verwickelt-Sein mit diesem dinglichen Gegenüber sichtbar, in einem mit responsiven Erfahrungsmomenten angereicherten Dialog (Karl). Der Aspekt der Linearität, der fließend in den Aspekt von Bewegung und von dort zu innerer Aufregung wechseln kann, wird so zur Schnittstelle für ästhetische Transformationen, die Anschlusshandlungen provozieren. Damit einher gehen erhellende Erfahrungen von Aspektwechseln, etwa vom Modus des Lesens zum bildhaften Modus des Schriftbildes als gleichmäßigen Grauwert (vgl. Abb. 2) die als Erkenntnisweise fungieren können (vgl. Lüthy). Sie richten den Blick auf die Notwendigkeit des Transformierens als Grenzpraktik, deren längerfristige Wirkung darin besteht, immer neu um diese Grenze zum Beispiel zwischen Explizitem und Implizitem ringen zu müssen. Medial-materielles Transformieren eigener Erfahrung im Bereich des Ästhetischen erhöht vor diesem Hintergrund die bildenden Anteile, die etwa durch besonders (ggf. irritierend) vorbereitete Situationen ausgelöst werden können, weil in ihnen bereits solche Übergangsmomente angelegt wurden. Aber auch Zufälle triggern ästhetische Anschlusshandlungen. Diese Settings sind bei Kathke alles andere als harmlos und umso eindrücklicher, wenn sie etwa das Zersplittern

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von Glas ins Zentrum rückt, oder den Boden als Handlungs- und Aktionsgrund nutzen lässt: Denn erst der Boden, der sich einer schwungvollen Bewegung querstellt, macht im Wegspritzen von Farbe oder im Zersplittern einer Flasche die Energie dieser einwirkenden Kraft und materiellen Eigendynamik sichtbar. »Die ›Sprache‹ dieser Spuren hängt von den Materialeigenschaften wie von den Bedingungen der Umgebung ab, in die das Objekt gerät. Menschliche Manipulationen sind dabei nur eine Kraft neben anderen möglichen Einwirkungen.« (199) Dinge werden dadurch zum ›Ausdruck dieser Situationen‹. (vgl. 199)

Transformation als notwendige Praxis ästhetischer Reflexion und Hermeneutik Nicht nur in Phänomenen zu denken, sondern sie auch entsprechend immer wieder zum Vorschein zu bringen und zu transformieren, bedeutet für alle diejenigen, die wiederum Dritte und sich selbst dabei involvieren müssen, entsprechend mehrperspektivisch zu agieren, um antworten zu können. Es geht hier um Transferleistungen: Nah ran zu gehen, Ausschnitte auszuwählen, Perspektiven zu wechseln, die Lichtsituation zu nutzen sind geläufige Praktiken, um mit Differenziertheit und Informationsdichte zu überraschen und etwas Bekanntes wieder dem staunenden Blick anheim zu geben. Den Boden als Mitspieler neu zu erfinden ist schon ungewöhnlicher. Für diese so bildungsrelevanten Transferleistungen können Naturmaterialien oder gebrauchte Dinge mit sichtbaren Abnutzungsspuren immer wieder unerschöpfliche Impulse liefern. Experimentelle Verfahren und Hilfsinstrumente fokussieren einzelne Aspekte (etwa Form, Material, Dingkontext oder Wahrnehmungsqualitäten); mediale Übersetzungen tragen dazu bei, analoges Denken zu fördern. Das zu Beginn aufgespürte Potential des Verschnitts z.B. gelang mir nur in Form experimentellen Hantierens (vgl. Abb. 2). Die Gedanken folgen den Händen und umgekehrt: Das Zusammenspiel von Entwickeln und Umsetzen geschieht im vorgeführten Beispiel zugleich: Die Seite wird immer wieder frontal gedreht, um besser in den Blick genommen zu werden, die Finger verfangen sich im spitzigen Blattfortsatz und testen dessen Biegsamkeit, das Weiß isoliert sich als Fläche vor dem Hintergrund. Es entstehen parallel dazu eigene mentale Räume, die über das Erfassen

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einer bestimmten Phänomenalität hinausgehen, da die Situation und ihre Auffaltungen viel zu unvorhersehbar sind. Sich selbst auf diese Prozesse so einzulassen ist voraussetzend; es wäre ein Trugschluss, diese zeitintensive Didaktik kognitiv abkürzen oder über programmatische Erzählungen darüber verfügbar machen zu wollen (auch wenn diese Verfügbarkeitsillusionen sehr professionalisiert auftreten). Die Bildideen (etwa eines Vogelwesens oder eines halben Schmetterlings), die meine Wahrnehmung zu überlagern beginnen, halte ich bewusst zurück, indem ich neue Zugänge erprobe: Sie würden das sinnliche Wahrnehmungsfeld lediglich einschränken (z.B. auf Vogelhaftes oder Nichtvogelhaftes), wo es doch erst noch viel zu hinterfragen, zu erfahren und herauszufinden gilt. Stattdessen versuche ich immer wieder, und geradezu buchstäblich, mit dem zu arbeiten, was sich zeigt.

»Material sollte sinnliche Fülle und Widerstand bieten und durch seine Qualitäten und strukturellen Eigenschaften zur Interaktion anregen. […] Besonders Zustände von Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit fordern kreative Lösungen heraus. Dazu gehören Erscheinungsbilder, die noch keine gesetzmäßige Strukturbildung verraten, die aufgrund mangelnder Klassifizierungsmöglichkeiten offen für Ausdeutungen und Veränderungen sind, wie etwa Zufallsgebilde. Mit ihrer meist irregulären, amorphen und variationsreichen Gestalt eröffnen natürliche Materialien ein breites Spektrum sinnlicher Erfahrung.« (203)

Derartige Untersuchungen, die hier nur exemplarisch angeschnitten werden können, sind nicht zuletzt durch das Bedürfnis vorgeformt, Entdeckungen medial zu transformieren und für andere sprachlich wie bildlich sichtbar zu machen. Jedes ausgewählte Foto, das eine markante Situation fixiert, bringt dabei immer auch einen neuen Aspekt ins Spiel und hält den Untersuchungsverlauf in Gang. Die Dicke der Buchseite als Linie gelangt beispielsweise erst mithilfe einer ungewöhnlichen Kameraansicht ins Bewusstsein (Abb. 2). Zugleich füllt sich der Rest des Bildes mit zusätzlichen Informationen, die mich gestalterisch herausfordern, da ich sie nicht einfach weglassen kann wie bei einer Zeichnung: ich dränge sie also zurück, etwa durch ein neutral schwarzes oder weißes Stück Papier, durch den fragmentierenden Ausschnitt oder durch die Einstellung der Brennweite der Kamera. Oder ich lasse zusätzliche Kontexte zu, die sich erst im Akt der Postproduktion zeigen, etwa wie das Schneidegerät mit Maßangaben als bewusste Rahmung der Abbildung selbst (Abb. 3 und 4). All dies ereignet sich zwischen zufälliger und bewusster

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Manipulation. Involviert in die Situation kann ich längst nicht mehr unterscheiden, ob das händische Spiel zu meinem Interesse an Kontur führte oder ob umgekehrt das Aufscheinen der Linie in steiler Draufsicht es war, was das Hin- und Herbewegen zwischen Daumen und Fingern auslöste. Der Zufall arbeitet mir dabei zu, aber auch sämtliche bisherige Erfahrung im Bereich des Ästhetischen, etwa unterschiedliche Aspekte aus einer Situation herauszuholen bzw. herausholen zu wollen, die meine Neugier erweckt. Denn gehe ich einer gesehenen Linearität, die ich bereits zweidimensional fixierte, mithilfe eines Drahtgebildes, einer Zeichnung, einer Farbskizze, oder wie hier mit einer Variation von Knickungen oder fortgesetzten Schnitten weiter auf den Grund (vgl. Abb. 3), erschließt sich zum Beispiel der Aspekt der Räumlichkeit anders. So rückübersetzt in eine dreidimensionale Wirklichkeit wird diese Inversion in einen repräsentationskritischen Dialog über zweidimensionale Verflachung gebracht.

»Das Handhaben der Dinge steht im Vordergrund und ist für Kinder um vieles wichtiger als ein vorgedachtes Endprodukt.« (200f.) »Vorgefertigtes, exakt ausdifferenziertes und eindeutig bezeichnetes Material fordert dagegen kaum kreative Handhabungen heraus und geht mit einem Verlust an intensiver Anschauung einher.« (203) Eine responsive Praxis ermöglicht damit eine transformierende Blickverschiebung, etwa aus funktionalen Zusammenhängen in ästhetische. Diese

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ist bereits subjektivierend, noch bevor sie ins Bewusstsein geraten kann, denn zugunsten einer interessanten Ansichtigkeit arbeiten meine Hände dem Anblicken zu, ich unterwerfe mich dem fotografierbaren Ausschnitt, ich rücke, drehe, manipuliere das Papier, schneller oder langsamer mit Bedacht, weil sich nicht zuletzt im Display des Handys immer neue Aspekte auf diese Situation abzeichnen, die noch deutlicher festgehalten werden wollen.

Diese verschiedenen Handhabungen gilt es zu sehen und anzustoßen. Nicht das perfekt Durchgestaltete, klar umrissene und in sich Geschlossene weckt die Imagination, sondern eher einfache, unfertige, fragmentarische und deshalb mehrfach ausdeutbare Dinge. (204f.)

Ich kann mich dabei einerseits auf die Handlungsformen fokussieren, als Methode meiner Erkenntnissuche, andererseits aber genauso auf das Fixieren eines Ergebnisses, um das Entdeckte für mich und andere möglichst überzeugend darzustellen. Folgte ich weiter dem Aufforderungscharakter von Papier, könnte ich drittens über materielle Hilfsmittel weitere Eigenschaften gezielter ins Bewusstsein holen: Die Transparenz des glatt gestrichenen Papiers mit ein wenig Fett, die feine Faserung oder die Dicke durch sorgfältiges Einreißen. Ein bewusstes Knüllen oder Knittern wiederum offenbart die Stabilität und Festigkeit je nach Grammatur und Glättung, wobei damit das Papier sogar sehr weich werden kann. Ob gefettet oder geknittert, ob scharf oder unscharf fokussiert, hell oder dunkel inszeniert: indem ich das Wie der Wahrnehmungssituation manipuliere, verändere ich längst das Was, also den Wahrnehmungsgegenstand selbst. Hier transformiert sich nicht nur etwas auf Seiten des materiellen Mitspielers, sondern auch in bzw. mit mir als Subjekt der Situation. Indem sich mein Blick in gesteigerter Differenziertheit und Feinabstimmung auf mein Gegenüber einstellt, verändert sich etwas im Wesen dessen, wie ich mich allgemein gegenüber einer ungewöhnlichen Seite eines Buches als Teil der Wirklichkeit verhalte, zu der ich gehöre: Ich beginne über mich und die Relativität meiner Wirklichkeit, deren Historizität und kulturgeschichtlichen Kontexte nachzudenken. Als Zugang zur Welt hält so eine Wahrnehmungssituation Potentiale bereit, die meine Figur des Selbst- und Weltverhältnisses im Kern insgesamt verändern. Wenn Koller Bildung »als ein[en] Prozess der Erfahrung« beschreibt, »aus dem ein Subjekt verändert hervorgeht«, dann schließt er damit ein, dass dieser »Veränderungsvorgang nicht nur das Denken, sondern

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das gesamte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selber betrifft.« (Koller 2018: 9) Ich lerne also nicht nur, auf das medial-materielle Intermezzo mehrperspektivisch und »kreativ« zu reagieren, sondern ich erfahre womöglich Bildung, wenn ich erkenne, wie mir der vergröberte SchwarzWeiß-Ausdruck meiner Fotoexperimente als wesentlich und substanziell erscheint, und warum ich ihn gegenüber einem Farbausdruck vorziehe. Und ich erkenne mich darin in meinen Neigungen wieder, weil ich in meinem Fall den Zugang zur Welt aus einer bildhauerisch-phänomenologisch geprägten Schwere entwickle, im Unterschied etwa zu befreundeten Malern. Dabei kommen noch ganz allgemeine Umgangsformen zum Vorschein, denn ich hätte zum Beispiel längst die fehlerhafte Buchseite beschönigen können: Ich schneide das Anhängsel einfach weg, passe die zu große Papierfläche orthogonal auf das Buchformat an und versuche dadurch, wieder annähernd Normalität herzustellen. Ich unterließ es aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt, weil mich das Besondere und Unästhetische der Seite nachhaltig reizt. Meine »Figuren des Selbst- und Weltverhältnisses« haben sich womöglich geändert. In Bezug auf die notwendigen Professionalisierungsprozesse in der Kunstpädagogik zeigt dies eine entscheidende Orientierung. Denn so ein mich selbst involvierendes Einrichten von Situationen mit transformatorischem Potential ist nicht nur für andere, sondern eben auch für mich selbst immer wieder inspirierend und bildend. Und es hält meine kunstpädagogische Praxis lebendig.

Kunst als nachhaltige Ressource und Inspiration bzw. Referenz Neben der eigenen praktischen Involvierung in die Materie, die in der Kunstpädagogik sehr gut gelingt, stellt die professionelle Kunstlandschaft nach wie vor einen zentralen Kristallisationspunkt dar. KünstlerInnen sind ExpertInnen beim Transformieren einer wahrgenommenen Erfahrungsqualität in eine andere, sie sind sehr geübt in analogen Erkenntnisprozessen jenseits begriffslogischer Zurichtung und können Anregung sein. Entsprechend viele Beispiele finden sich in Kathkes Textarbeit, wie sich Kunst als nachhaltige Ressource und Inspiration bzw. Referenz eignet. Das eigene imaginäre Kunstwissen wächst immer weiter. So etwa löste in meinem Fall Lore Berts Knüllen von Seidenpapier die Idee für meine abschließende Transformation aus. Anlässlich der Ausstellung PAPIER hatten wir sie vom Kunstverein Bamberg 2021 zu einem Beitrag eingeladen. Auch andere Arbeiten haben Spuren in meinen an-

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fänglichen Erkundungen hinterlassen, die ich auch mit Studierenden erprobt hatte: die fein zeichnenden Schattenwürfe und Papierabdrücke von Simon Schubert oder das Falten von windschnittigen Fluggeräten anlässlich Klara Hobzas Relikten aus The New Millenium Paper Airplane Contest oder das Schneiden als Zeichnen bei Lucio Fontana oder wieder anders bei Dorthe Goeden. Ich verweile beim Knüllen als meinem Abschlussbeispiel, um auch hier wieder die Perspektive zu wenden: Markiert das Knüllen von Papier dies eigentlich als Abwertung, ist es nicht nur ein verwerfender Zugriff, sondern auch ein sinnlicher, lustvoller Vorgang. Er kann für viele interessante Anschlusshandlungen genommen werden, etwa um einer Fläche eine unerwartete Räumlichkeit und damit mehr Präsenz zu geben (vgl. Abb. 5); dass dies ein akustisches Volumen erzeugt und gar zum Musizieren eingesetzt werden kann, konnte man sehr eindrucksvoll in einem Konzert mit Papiergeräuschen erfahren, das Stefan Roszak als Teil des Vermittlungsprogramms erarbeitete. Ein wachsendes Bild- und Praxiswissen aus der Kunst unterfüttert also die Frage, wie derartige Settings besonders dicht werden, wie Impulse und materiell-mediale Übergänge wortwörtlich aussehen könnten. Für eine solche Didaktik, die auf bildende Transformationsleistungen angewiesen ist – auf ganz konkret gegebene Situationen, wie sie sich inhaltlich und dinglich präsentieren und entsprechend Raum und Zeit in Anspruch nehmen wie ein Papierkonzert lohnt ebenfalls die Orientierung an den Ansprüchen der Kunst. Deren bewusstes und differenziertes Umgehen mit der Situationsspezifik ihrer Rezeption halte ich für didaktische Settings sehr förderlich, selbst wenn vorhandene Räume das zunächst unmöglich erscheinen lassen: eine didaktische site specificy. Kunstwerke bieten nicht nur einen anregenden Erfahrungsschatz (Bätschmann), sondern sind innerhalb dieser Didaktik sich selbst Argument: sie zeigen auf, wie bildungsrelevante Sinnhorizonte auch in zugelassener Ambivalenz und reflektierter Paradoxie erreicht werden können. Auch wenn deren Strategien schwer auf eigene Fragen übertragbar scheinen, wirkt der imaginäre Raum der Kunst gegen didaktische Reduzierung, die schnell und allzu oft zu einer sinnentleerten Verkürzung verkommen kann. Diese Didaktik »fokussiert nicht den Nachvollzug vorgedachter Sinnstrukturen oder die Übernahme fremd bestimmter Regeln und Gesetzmäßigkeiten« (Kathke 2008: 1). Aber in der hier im Nachgang zu Kathke vorgestellten Didaktik – mein exemplarischer Verschnitt oder sinnlicher Nachhall – ist die grundsätzliche Involvierung mit Fragen einer Kunst entscheidend, die ins Kritische und Offene gerichtet sind, die einem Zustand von Liminalität

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nahekommt. Darin sind Einladungen, sinnliche Verführungen, kognitive Anlässe zur Veränderung eigener Figuren von Selbst- und Weltverhältnissen enthalten. Kunst ist weder Produkt noch Fach, sondern vor allem eine Weise zu denken und sich mit der Welt immer neu zu verknüpfen. Sie taucht daher ganz konkret in alltäglichen Kontexten auf – nicht zuletzt, wenn Verschnitte, Ausschnitte und Verworfenes aus Welt, anders zurückblicken, zur Schwelle für flexible Räume und Relationierungen werden.

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Literatur Siglenverzeichnis Beispiel: (200): (Kathke 2001: 200)

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Da muss man doch weiterdenken…

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Aufnahme des Verschnitts aus Kathke »Sinn und Eigensinn des Materials« Abbildung 2: phänomenorientierte Untersuchungsreihen des Verschnitts Abbildung 3: und 4: medialer und repräsentationskritischer Umgang mit dem Verschnitt Abbildung 5: geknüllte Liminalität Alle Abbildungen stammen von der Autorin; ihr gehören die Bildrechte. Zur Ausstellung PAPIER vgl. https://www.kunstverein-bamberg.de/ausstellungen/au sstellungen-2021/papier/ (Zugriff am 16.02.2022)

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Performatives Summen1 Gedanken zur Videoperformance The dance of the receptors (art video 2021) des Künstlers BBB Johannes Deimling Marie-Luise Lange Be prepared for surprises. – Freeman Dyson

Die Magie der Irritation Abb. 1

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Die Performance The dance oft he receptors, (art video, 2021) kann auf der Homepage des Künstlers unter https://www.bbbjohannesdeimling.de angesehen werden (25.01.2022).

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Weiß vor weiß vor weiß – weiße Händen halten zwei kleine, runde, dickwandige Glaskörper vor die Augen eines gebleichten Gesichts. Sekundenlang trifft mich ein scharfer Blick aus winzigen, offenen Äuglein. Ich bin irritiert. Ist das eine Linse, welche die Augen der Hintergrundfigur verkleinert spiegelt? Oder ist das ein Collagekörper mit aufgeklebten Augäpfeln? Die Pupillen, mikroskopisch klein, zaubern einen künstlich-stechenden Blick. Eine unerträgliche Weile lang werde ich angeschaut und beobachtet und dadurch in Unruhe versetzt. Ich starre wie gebannt auf das Videobild. Und siehe – da wurde geblinzelt. Ich habe das durch die Linsen bemerkt. Ist das wirklich so? Gehören diese kleinen stechenden Augen tatsächlich dem Akteur hinter den beiden Linsen? Also kein Collagefake? Diese Anfangsinszenierung des Videos The dance oft the receptors erfordert bedingungslose Konzentration und überrascht. Sie verlangt ein wirkliches Wahr-nehmen statt eines beiläufigen Schauens, ein wirkliches Hin-hören, statt eines bloßen Zuhörens, ein sinnliches Ernst-nehmen der präsentierten Bilder und Töne im Sinne Joseph Beuys’, der immer auf die (mythische) Botschaft von Materialien und Objekten setzte. Nach anderthalbjähriger Pandemiezeit, geprägt von Onlinemeetings und Digitalkonferenzen, überfällt mich die volle Abstrusität dieses Bildes. Ich werde nicht mehr nur angesehen, sondern durch Scheiben gefiltert, glashart distanziert angestarrt. Während ich das Video anschaue, wird mir klar, durch wie viele Glasoberflächen ich vom Liveperformer getrennt bin. Seine durch die Linsen blickenden Augen werden von einer Videokamera aufgenommen und ich kann diese Szene wiederum nur vor einem Screen, also vor einer Scheibe sitzend, anschauen. Die Unwirklichkeit des pandemischen, mehrfach gefilterten Abstands bekommt augenblicklich ein Antlitz. Was für ein starkes, surreales und groteskes Tableau, das der Schöpfer und Protagonist des Videos, der Performancekünstler Johannes Deimling, als agiertes Bild bezeichnen würde. Und wenngleich sich die inhaltliche Deutung keinesfalls fixieren lässt, ist das Anfangsbild der Videoperformance dennoch scharfsinnig und treffend. Es mobilisiert unsere individuelle Phantasie ebenso wie unseren kulturellen Spürsinn und ist alles andere als eine Illustration der augenblicklichen gesellschaftlichen Lage. Ich möchte in diesem Text das Lied, das in den vertonten Bildtableaus der 11-minütigen Videoperformance The dance of the receptors des Performancekünstlers Johannes Deimling schlummert, hörbar und seine multisinnliche, im Zusammenspiel von Körper und Materialien entfaltete Potentialität für ei-

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ne mögliche Übertragbarkeit auf künstlerische Rezeption und Produktion an Schulen und Hochschulen reflektierbar machen.

Abstandsspiele Das Kunstvideo Deimlings arbeitet mit ganz unterschiedlichen Materialien – dominant sind der bewegte und Dinge bewegende Körper sowie die wenigen Alltagsobjekte, die zahlenmäßig reduziert, dafür aber farbig akzentuiert eingesetzt werden. Der außergewöhnliche Sound unterstreicht mit seinen manchmal schwer zuordenbaren Tönen die absurde Atmosphäre des Videos. Die Videosequenzen komponieren Körper und Dinge als bewegtes Stillleben. Die einzelnen Bilder leben von ihren klar gewählten Ausschnitten, dem völlig in weiß gehaltenen, zurückgenommenen Künstlerkörper sowie den sparsam gesetzten farbigen Akzenten. Jedes Bild ist visuell und akustisch deutlich erfassbar komponiert. Alle gestalterischen Mittel zusammen – der Körper, die ausgewählten Objekte, die gesetzten Farben und Töne sowie die Bewegung all dessen im Bild – ergeben eine vielsinnige, Impulse setzende Motivik. Sie generieren eine perfekt zugespitzte Konzentration performativer Ästhetik, deren Wirkung aus ihrer klugen transdisziplinären Verknüpfung erwächst.

Abb. 2 und Abb. 3

Steigen wir noch ein wenig tiefer in die agierten Bilder der Videoperformance ein. Nach dem überraschenden, Konzentration erfordernden AugenBlick des Anfangs folgt ein Bild der Distanz. Farbig bemalte, an das typische Yves Klein Blue erinnernde Hände wackeln im Bildvordergrund hin und her. Zeigen mal nach rechts und mal nach links. Der Oberkörper des total in Weiß gekleideten und weiß geschminkten Performers bleibt verschwommen im Hintergrund. Nur die zuckenden blauen Hände bewegen sich, be-

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gleitet von einsam machenden Blopgeräuschen, rhythmisch im Vordergrund. So vertraut uns die Gesten des Grüßens mit den Händen auch sein mögen, hier imaginiert man wohl eher automatisiertes, abwehrendes, distanziertes Winken. Einerseits scheint ein farbiger Gruß aus dem blauen Himmel des Künstlers Yves Klein auf uns herabzufallen, der uns ins Staunen versetzt und künstlerische Erinnerungen zaubert. Andererseits wird man unwillkürlich an die in letzter Zeit so tragisch berühmt gewordenen, blauen Handschuhe der Pfleger*innen im Covid-19-Alltag erinnert. Hier bahnt sich bereits an, was uns in Deimlings Bildtableaus immer wieder begegnen wird – feinsinnige Poesie, die auf Alltagserinnerung trifft.

Im Visier Abb. 4

Ein Zeitschlag tickt leise als Sound im Hintergrund. Eine grüne Kaffeetasse wandert in gemächlichem Tempo innerhalb eines goldenen Bilderrahmens hin und her. Betont langsam geht sie ihre Wege bis zu den begrenzenden Rändern und wieder zurück. Begleitet von einem schauenden Auge aus Papier. Hin und her. Hin und her. Diese Szene erinnert unwillkürlich an Man Rays Arbeit Indestructible Object/Object to Be Destroyed aus dem Jahre 1923, in welchem der Künstler ein Papierauge auf den Taktzeiger eines Metronoms geklebt hatte. In jenem Objekt steht das Auge für ein Symbol der verrinnenden Zeit und für den Blick aus Augen, die kein Gegenüber finden. Auch Deimlings Bild sug-

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geriert das tropfend stille und quälend langsame Verrinnen von Zeit in einem eingeschränkten Raum, dem Innenraum des Bilderrahmens. Sein Papierauge ist relativ groß und schaut unverwandt aus dem Bilderrahmen heraus. Es schaut uns an. Es lässt uns nicht los. Es will wahrgenommen werden. Mit Blick auf die Kunstgeschichte generiert der Künstler hier ein Setting, das eine Perspektive auf den begrenzten Lebens- und Arbeitsraum menschlicher, zugespitzt künstlerischer Entfaltungskraft wirft. Diese Inszenierung lässt sich sowohl als inneres Gefangensein wie auch als konzentriertes Anwachsen von kreativem Handlungspotential lesen.

Ohrenbetäubende Stille im lautlosen Lärm Man kann die Videoperformance The dance of the receptors als ein Art Video genießen und wird dabei Freude an der Schönheit der Bilder und Töne empfinden. In der Situation, in der diese Arbeit entstanden ist – während der Pandemie – können diese Videobilder jedoch keinesfalls losgelöst vom gesellschaftlichen und kulturellen Kontext betrachtet werden. Die im Ausnahmezustand des Lockdowns lebenden Künstler*innen und Kulturschaffenden, denen ihre natürlichen Bühnen-, Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten weitgehend genommen wurden, bangten nicht nur um ihre künstlerische Daseinsberechtigung sondern auch um ihre soziale Existenz.

Abb. 5, Abb. 6, Abb.7

Was könnte das Dilemma zwischen räumlich-sozialer Begrenzung, Eingesperrtsein, existenzieller Notsituation und der niemals zum Erliegen kommenden, eigendynamischen Kraft künstlerischer Phantasie besser vergegenwärtigen als Deimlings Bildszenarien, die sich wie stille Schreie entfalten. Der erhobene orangene Zeigefinger, das unangenehm quietschende Kratzen der Gabel auf einem Teller, das geräuschlose Drehen von fröhlich-bunten Federsträußen, die an turbulente Zeiten erinnern, unterbrochen vom lautlosen

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Abb. 8, Abb. 9, Abb.10

Abb. 11, Abb.12, Abb.13

Öffnen des Künstlermundes, das nicht von der Stelle kommende, wilde Zappeln der weißgefärbten Performerbeine, das laut scheppernde Schlagen eines Hammers an den über den Kopf gestülpten Blumentopf oder das wilde Stochern in wunderschönen gelben Federn auf einem ansonsten leeren Teller. Was könnte eindrücklicher sein als das Bild des Künstlers, in welchem er in einen braunen Schuh beißt? Symbolisiert doch ein Schuh eigentlich neugieriges nach draußen Laufen und Welt erkunden. Deimlings Schuh endet jedoch in seinem Mund, ja im Kopf des Künstlers, welcher nun mit dem ehemaligen Wanderrelikt allein bleibt. Was für eine Metapher für die Verlassenheit der Künstler*innen in dieser Zeit, deren Inspiration aus den abgelagerten Erlebnisspuren eines ehemaligen Lebens im Außen und der poetischen Energie ihres Inneren geboren werden muss. In einer Videosequenz hält sich der Künstler mit seiner linken Hand einen grün bemalten, an den Enden mit roten Früchten bestückten Zweig, in dessen kleiner Astgabel eine Brotscheibe steckt, vor sein Gesicht. Die oxydgrüne Bemalung des Zweiges wirkt künstlich und von Menschenhand bearbeitet. Die rechte Hand umkrampft einen Schlüssel, der, langsam bewegt, Kreise zieht. Die Kunstfigur Deimling tritt hinter den im Vordergrund inszenierten Materialien zurück. Ihre Augen sind unsichtbar. Auf diese Weise verbleiben nur noch wir als Sehende und Beobachtende eines absurden Objekttheaters. Und während wir die einfache Schönheit des Bildes genießen, versucht unser Geist

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semantische Zusammenhänge zu ergründen. Stehen Zweige und Früchte für Natur, ist die Brotscheibe ein Verweis auf die existenzielle, natürliche Basis unseres Lebens. Denn aus der Natur heraus gewinnen wir die Lebens-mittel, die unsere Existenz sichern. Sie zu zerstören, wäre suizidal. Dem Zugangsfähigkeiten zugesprochenen, wandernden Schlüssel scheint ein Geheimnis innezuwohnen, das er streng vor uns verbirgt. Von ihm ist keine Öffnung zu einem imaginären Raum, der Wahrheiten und Gewissheiten beherbergt, zu erwarten. Die deutlich erkennbaren Dinge und Materialien schaffen einen performativen Raum, in dem sie selbst zu handelnden Aktanten (vgl. Latour, S. 93f.) werden. Ihr Zusammentreffen bedient sich nicht nur bestehender kultureller Codes, sondern verschiebt und erweitert diese im Sinne eines Kontingenz-Entfaltungsspiels (vgl. Lüber 2013: 325). Hier treffen sich »Interaktions-, Transfer- und Interferenzmodi verschiedener Materialien bzw. Materialitäten«, die sich durchdringen und zu einem neuen »Sprachmaterial« generieren (ebd.: 325f.).

Vom visuellen Leiden Wir haben bereits gesehen, dass Deimling wenig braucht, um eine Atmosphäre sinnlich zu konstituieren.

Abb.14, Abb.15

Einen Schlüssel, einen Granatapfel und zwei Hände. Im Video nähert sich der Schlüssel, von anderen Bildsequenzen unterbrochen, ganz langsam dem Granatapfel. Allmählich versucht der Künstler mit dem Schlüssel, zunächst sehr vorsichtig, doch dann zunehmend kraftvoller in den Apfel einzudringen. Doch dieser lässt sich nicht so leicht erobern und leistet Widerstand.

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Letztendlich nimmt der Performer Schlüssel und Apfel betont kräftig in seine Hände und drückt den Schlüssel energisch in die Frucht, um ihn dort schließlich zu drehen. Mit jeder Drehung dringt der Schlüssel tiefer in das Fleisch des Granatapfels ein und verursacht ein zunehmendes Tropfen und allmähliches Herausfließen des roten Fruchtsaftes. Das ist ein außergewöhnlich poetischer, doch beim Zuschauen Schmerzen erzeugender Akt. Denn – trotz des besonnenen Tuns des Akteurs – wohnen wir doch einem gewaltsamen Prozess bei, an dessen Ende die schöne gesunde Frucht ihres Lebenssaftes, man könnte auch meinen, ihres Blutes, beraubt wird. Der Schlüssel ist ein Jahrhunderte altes, religiöses und kulturgeschichtliches Symbol. Er bietet ein vielfältiges sinnbildliches Feld hinsichtlich des Nachdenkens über unsere innere und äußere Sicherheit, weil er dem Zugang zu geheimnisvollen Orten dient und in vielen Kulturen als Schlüssel zur Weisheit und zu unserem Herzen verehrt wird. Der bekannteste biblische Schlüsselträger, Petrus, erhielt den Schlüssel von Jesus als Zugang zum Reich des Himmels. In Träumen und in Märchen besitzen Schlüssel oft magische Kräfte und verkörpern die Reise in unser Inneres. Schlüssel zu besitzen, bedeutet Macht zu haben, um über etwas verfügen oder in jemandes Besitz eindringen zu können. In vielen Kulturen steht der Schlüssel aber auch für den Phallus, der in das Schloss, die Vagina, eindringt. Granatäpfel allegorisieren Leben und Fruchtbarkeit, weshalb sie im alten Griechenland Demeter, Aphrodite und Hera geweiht waren. Darüber hinaus stellt der Granatapfel aufgrund seines leuchtend roten Fruchtfleisches auch ein Sinnbild für die Liebe, für das Blut und damit zugleich für Leben und Tod dar. Und »bei den Phöniziern stand der G. [Granatapfel] in enger Beziehung zur Sonne und bedeutete Leben, Macht und Wiedererneuerung.« (Becker o.J.: 106/107) Doch je mehr wir uns auch mit der Referenz auf kulturelle Codes bemühen, das Bild des im Granatapfel drehenden Schlüssels hermeneutisch erschließen zu wollen, desto deutlicher müssen wir erkennen, dass jede fixierende Deutung des Bildes im Verstehensprozess abgleitet. Deimlings Bilder, so klar und präzise ihre Ding- und Handlungsmotivik auch scheinen mögen, entziehen sich auf magische Weise festlegender Interpretationen. Selbst das Verständnis für die Symbolik der Gegenstände bildet nur eine allzu wacklige Brücke hin zu einem Wert, der das sichtbar gemachte Sinnliche in seiner Mehrdeutigkeit um vieles übersteigt. Kaum scheinen wir verstanden zu haben, machen die nächstfolgenden Bilder innerhalb der Videoperformances neue, das Logische durchbrechende, surreale Angebote, welche die scheinbar deutbaren, streng choreografierten Bilder wieder in Frage stellen. All die-

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sen Überlegungen zum Trotz entwickeln Deimlings performative Bilderfolgen dennoch in sich stimmige, sinnlich-kommunikative Narrationen.

Aufstand der Dinge Bleiben wir beim Video The dance of the receptors und verfolgen wir die immer im Bereich des Poetischen angesiedelten Auf- und Ausbrüche des Künstlers. Abb. 16, Abb. 17, Abb. 18

In einem Bild folgt einem erhobenen orangenen Zeigefinger ein deutlich hörbarer, an Beuys’ Gebell zur Immatrikulationsfeier 1967 an der Kunstakademie Düsseldorf erinnernder Ö-Laut aus dem Mund des Künstlers, welcher erst endet, als dem Künstler die Luft ausgeht. Einige Bildsequenzen später wird dieser orangene Zeigefinger zur mahnenden Maultrommel am Mund des mit geschlossenen Augen stehenden Künstlers, aus dessen Öffnung nunmehr brabbelnde, orange tropfende Gluckertöne kommen. Diese in die stille Einsamkeit gesandten Töne bedauern wissend, kein Gehör zu finden. Ganz anders, lauter und länger, trumpft der Künstler Sekunden später mit vielen leeren, seinen Kopf scheppernd umkreisenden Blechbüchsen auf. Und den Ausbruchsversuch aus einem gefesselten Zustand feiern die an Zweigen angebundenen, ruhiggestellten Beine des Akteurs, indem sie das störrische Holz durch allmähliches Beugen der Knie langsam brechen. Das laute Knacken der Zweige unterstützt die Tragik der Situation, in welcher der Akteur danach trachtet, sich aus dem verurteilten Stillstand zu befreien. Ein Bild voller Widerstand, getränkt in Kraft und Schmerz.

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Zwischen Absurdität und zwiespältiger Ironie Plötzlich drängt sich zwischen die anderen, ruhigeren surrealen Performanceszenerien ein ziemlich bewegtes Bild.

Abb. 19, Abb. 20

Der Performer, dessen Arme vogelgleich nach hinten gehalten werden, »hackt« mit einem langen roten Schnabel ruckartig um sich. Nach rechts, nach links und in die Bildmitte. Er wiederholt diese Bewegung mehrmals, immer und immer wieder, bis diese Geste in ihrem intensiven Rhythmus geschäftig, fordernd, bissig, zugleich aber auch vergeblich wirkt. Dieses Motiv verkörpert in seiner lautlos pochenden Heftigkeit den inneren Ausdruck eines bohrend-fragenden, verzweifelt suchenden Wesens. Aus einer anderen Perspektive kann das Bild aber auch so gelesen werden, als stelle es ein äußeres Gegenüber dar, das in seiner, durch die ständige Wiederholung völlig sinnentleerten Hackerei, nichtssagend vor sich hin tickt. Das sich tierhafte Fragmente, wie den Schnabel eines Storches, ausborgende Kunstwesen verbindet in seiner körperlichen Stellvertreterfunktion den Anthropozänikus mit einer Erscheinung aus der Fauna. Diese Art Mischwesen ist eines der sich in verschiedenen Performances von Deimling wiederholenden Bilder, welches die Verbindung von Mensch und Tier zu einem dritten, geheimnisvollen Wesen assoziieren lässt.

Grüße aus dem Ahnenreich Kurz vor Ende des Dancer-Videos erscheint der Performer mit verhülltem Kopf, über dem grün bemalte Hände in der Luft eine unsichtbare Materie zu formen scheinen. Während der Künstler durch das weiße, ihn überdecken-

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Abb. 21

de Tuch gesichtslos bleibt, präsentieren sich seine vorsichtig mit der Leere spielenden Hände in tänzerischer Weise. Dieses Motiv erinnert nicht nur an eine kinetische Plastik, sondern agiert als eine sinnbildliche Anspielung auf den geheimnisvollen Übergang zwischen Bild, Skulptur und bewegter Aktion. Bei längerer Betrachtung könnte man es gar als Referenz auf den zur Plastik werdenden Beuys’schen Gedanken lesen. Der verschleierte Künstler jedenfalls entpuppt sich als Verwandter der berühmten Liebenden im gleichnamigen Gemälde des Surrealisten René Magritte. In einem seiner letzten Tableaus hält der Künstler ein drehendes Fahrradrad in seinen Händen. Auch wenn das Bildsetting wie viele andere davor auf das Notwendigste reduziert ist, scheint der Verweis auf die selbstreferenzielle Alltagsästhetik eines Marcel Duchamp unübersehbar zu sein. Der Verweis auf Duchamps kinetisches Readymade »Fahrrad-Rad« aus dem Jahr 1913 forciert das Nachdenken über die sinnbildlich ins Leere laufende Fortbewegung des Rades. Ja – da dreht sich etwas. Doch setzt sich dadurch auch etwas in Gang? Gibt es eine Entwicklung oder eine Veränderung? Oder ist dieser Gedanke zu fortschrittsgläubig und wir sollten uns in unserer Interpretation eher an das halten, was Duchamp selbst zu seinem Kunstobjekt äußerte: »To see that wheel turning, was very soothing, very comforting … I enjoyed looking at it, just as I enjoy looking at the flames dancing in a fireplace.« (Duchamp, zitiert nach MoMA 2021: o.S.)

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Abb. 22, Abb. 23

Abb. 24, Abb. 25

Auch wenn das sich drehende Rad auf das Vergehen von Zeit verweist, legt die Darstellung die Perspektive auf Duchamps Vorstellung frei, den Weg zu Dingen und Ideen aufzuzeigen, die über das pure alltägliche Leben hinausweisen. Denn das Bild des schwingenden Rades transformiert sich am Ende des Videos The dance of the receptors zu einer traumhaften Metapher. Während das kreisende Rad langsam durchsichtiger wird und schließlich verschwindet, tritt die Kunstfigur des Akteurs, zunächst vom Rad gerahmt, farbig immer kräftiger werdend aus einem unsichtbaren Hintergrund ins Bild. Bedächtig zieht der Protagonist einen Violinbogen über den Kopf, die geschlossenen Augen und schließlich über das ganze Gesicht. Beständig und scheinbar endlos bearbeitet er seinen ganz in sich gekehrt wirkenden Kopf, als spiele er auf einem Instrument. Durch die farbige Komposition des orange gefärbten Mundes und die im Stile des Action Paintings auf dem Kopf verteilte blaue Farbe erinnert das Haupt des Künstlers an eine Art skulpturales Gemälde. Die hoch konzentrierte, selbstvergessene Geste des stillen Bogenstreichens über den Kopf lässt das ganz auf sich allein gestellte, isolierte Künstlersubjekt imaginieren, dessen Ideen sich fernab irdischer Geschäftigkeit im Spiel

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der Gedanken im Kopf formen. Dieses Abschlussbild manifestiert sich als eine poetische Verkörperung des schöpferisch tätigen Menschen an sich. Unterstützt durch das rhythmische Tickern und die metallisch klingenden, an Kirchenglocken erinnernden Töne im Hintergrund, vermeint man die totale Verinnerlichung des Künstlers in dieser einzigartigen Situation, in welcher Kunst entsteht, zu spüren.

Hymnischer Kanon der ästhetischen Reduktion Anhand des Videos The dance of the receptors konnten wir beobachten, dass Johannes Deimling mit exakten, Zufälle ausschließenden Bildkompositionen und mit wenigen, bewusst ausgewählten Objekten und Tönen arbeitet. Die Haltung seines Körpers ist jederzeit gespannt und hoch konzentriert, seine Bewegungen folgen einem konzeptuellen Duktus. Die Bildsprache ist einfach, die einzelnen Bilder und Töne sind markant, gut sicht- und hörbar. Jede Handlung, jede Bewegung, jede Veränderung der Objekte ist deutlich erkennbar. Und dennoch geben die künstlerischen Bildfindungen und deren montageartigen Verknüpfungen Rätsel auf. Die mit unzweifelhafter Klarheit und demonstrativer Frische entworfenen Bildtableaus beinhalten nicht nur groteske Momente, sondern wirken in ihrer Abfolge absurd. Doch welche Empfindungen und hybriden Gedankenmixturen die künstlerischen Bildwelten auch in uns entfachen, ihre Perspektive ist immer eine sinnliche und ihr ästhetisches Level ein hohes. Selbst Narrationen des Verhängnisvollen, Fatalen und Schmerzhaften verlieren nie an kultivierter Stilhaftigkeit und empfindsamer Schönheit. Egal ob es der äußerst kunstvoll ausgewählte Hintergrundsound oder die erlesenen Farben und Objekte sind, der ästhetische Gesamttenor der performativen Environments des Künstlers spricht allzeit eine stimmige, klug abgewogene, poetische, ja fast erhabene Sprache. Die Person des Künstlers tritt in dem beschriebenen Video zugunsten der weißen Kunstfigur in den Hintergrund. Insofern handelt Deimling ähnlich wie der Aktionist Joseph Beuys, der einmal sagte »In diesem Konzert der Gegenstände spreche nicht ich, sondern die Dinge haben ihre eigene innere Sprache. Das zu erfassen, kann man niemandem abnehmen.« (Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau o.J.). Das Vokabular dieser Sprache wiederum lädt jede*n Betrachter*in unabhängig vom Bildungsstand zum staunend machenden Wahrnehmen und phantasievollen Imaginieren ein. Denn jedes Wesen, ob alt oder jung, das Augen zum Sehen und Ohren zum Hö-

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ren hat, kann den performativen Bildtableaus des Künstlers uneingeschränkt folgen.

Verschleierte Codes Markante Titel akzentuieren den künstlerischen Findungsprozess des Performers. So verhält es sich auch mit dem Video The dance of the receptors, dessen Titel auf den ersten Blick durchsichtig zu sein scheint. Der Rezeptor wird als das »Ende einer Nervenfaser oder spezialisierte[n] Zelle, die Reize aufnehmen und in Erregungen umwandeln kann« (Oxford Languages o.J.) definiert. Dass diese Zellen in unserer, von Lockdowns geprägten Zeit hochsensibel auf jeden äußeren Reiz reagieren, scheint logisch. Dass sie tanzen, entspringt der Phantasie des Künstlers. Schaut man jedoch in Fachlexika nach, fällt die Definition differenzierter aus: Unter einem Rezeptor versteht man in der Biochemie molekulare Zellstrukturen, an die sich ein bestimmtes Signalmolekül oder ein Mikroorganismus binden können. In der Sinnesphysiologie bezeichnet der Begriff eine auf spezifische Reize reagierende Sinneszelle innerhalb eines Organs oder Organsystems. (DocCheck Medical Services o.J.) Beim Weiterlesen erfährt man Rezeptoren können darüber hinaus […] dem Transport von Stoffen in die Zelle […] dienen. Ferner werden sie von Mikroorganismen, vor allem von Viren genutzt, um an eine passende Wirtszelle anzudocken und in sie einzudringen. […] Rezeptoren sind eine wichtige Zielstruktur für viele Arzneistoffe. (Ebd.) Die differenziertere Definition führt uns zur gewitzten Doppeldeutigkeit des ehemals als eindeutig erachteten Titels. Wenn Rezeptoren Stoffe in Zellen transportieren können und vor allem Viren das nutzen, um in Wirtszellen einzudringen, haben wir einerseits einen direkten Verweis auf das gefürchtete Coronavirus, andererseits aber auch einen Hinweis auf die Arznei- und Impfstoffe, mit denen gesunde Menschen geschützt und infizierte Personen geheilt werden können. Wir begreifen, dass der Künstler für den Titel eine intensive Begriffsrecherche durchgeführt haben muss. Wenn wir die Rezeptordefinition weiter verfolgen und erfahren, dass Re-

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zeptormoleküle die »Bezeichnung für Proteine [sind], die mit in der Regel für sie spezifischen Substanzen (Ligand; primäre Boten [Hervorhebung im Original]) nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip interagieren und durch diese Interaktion bestimmte Folgereaktionen initiieren« (Spektrum Akademischer Verlag o.J.: o. S.), können wir sogar Rückschlüsse auf bestimmte Themen in der Videoperformance wie beispielsweise das häufig auftauchende Schlüsselmotiv ziehen. Mit diesem biochemischen Wissen erweitert sich das Schlüssel-Granatapfelmotiv um eine neue Deutungsvariante. Denn der Schlüssel dringt so gewaltsam in das Fruchtgehäuse ein, dass er das Fleisch zerquetscht, den Saft aus der »Gastzelle« presst und dadurch die ehemals gesunde Frucht zerstört. Was für ein starkes Bild für einen widersprüchlichen und schmerzhaften, uns an die gegenwärtige Situation erinnernden Prozess.

Vom performativen Spiel zum chorischen Gesang der Artefakte In Deimlings Kunstvideo spielt der Protagonist keine individuell-subjektive Figur, sondern tritt als neutraler Kunstkörper auf, der unbelebte Materialien zum Klingen bringt. Im Gegensatz zur Live-Performance, wo gerade das lebendige, situative, leibliche In-der-Welt-Sein des Akteurs den performativen Akt individuell und transformativ gestaltet, verflüchtigt sich Deimlings Körper im Dancer-Video zu einem, das einzelne Bild stärkenden, dienenden Material. Die weiße Zurückgenommenheit seiner Person vor weißem Bildhintergrund gewährt den im Spiel verwendeten, meist starkfarbigen Artefakten eine akzentuierte Sonderposition. Die Auswahl der Materialien und Handlungsgesten erfolgte nach visuellen und akustischen, ganz bestimmt aber auch nach symbolischen Motiven. Blechbüchsen scheppern, Räder drehen sich, zerstörte Früchte tropfen, ein erhobener Zeigefinder gemahnt, ein Violinbogen erinnert an betörendes Geigenspiel. Die Bildsettings aus gezielt vorgetragenen Gesten und bewegten Artefakten generieren verschlüsselte Bildkontexte. Kunstkörper und Alltagsdinge vereinen sich in einem chorischen Gesang. Und während uns ihre Sinnlichkeit überrascht und anrührt, erscheint uns ihr Sinn weiterhin rätselhaft und unverfügbar.   Bilder in diesem Artikel aus der Videoperformance The dance of the receptors von BBB Johannes Deimling, 2021; Fotos: Monika Deimling, 2021; copyright Deimling 2021.

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Postdigitale Umgangsweisen mit Musik: Aspekte musikalischer Materialität am Beispiel von »The Star-Spangled Banner« Grundannahmen zur Materialität von Musik Markus Büring und Andreas Heye

In ihren künstlerischen Werkstätten konzipierte und inszenierte Petra Kathke vielfältige Erprobungen und Reflexionen materialästhetischer Zugänge zur Kunst. Auch für das Kontextualisieren von Musik können diese Zugänge zu neuen Erkenntnissen führen. Unter der Annahme, dass alles Klingende zum musikalischen Material werden kann, sollen in dem vorliegenden Beitrag Spielräume materialästhetischer Analyse- und Interpretationszugänge an einem konkreten Musikbeispiel und seinen Bearbeitungen dargestellt werden. Dabei soll reflektiert werden, auf welche Weise der materialästhetische Zugang ein Schlüssel für die Analyse und Interpretation von Musik sein kann, die Musik unter Berücksichtigung der Situationen und Kontexte in den Blick nimmt. Das heißt, dass rein musikbezogene Analysen vor allem auf musiktheoretische Dimensionen – also melodische, rhythmische oder harmonische Aspekte des Materials – abzielen. Materialästhetische Analysen hingegen können darüber hinaus Kontexte erschließen, die ästhetische, psychologische und soziologische Aspekte von Musik deutlich machen. Dafür sollen folgende Grundannahmen getroffen werden: a) Zum musikalischen Material kann alles werden, was ästhetisch erfahrbar ist. b) Musikalische Materialität ist gekennzeichnet von einem Wechselspiel zwischen dem Aufforderungscharakter (»potentia«) und den sich zeigenden Eigenschaften im Umgang mit dem Material. So macht die musikästhetische Umgangsweise der Bearbeitung von Musik im Beson-

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deren das »Sich-Zeigende« bzw. das »Erscheinende« (Mersch, zit. nach Kathke 2017: 26) erfahrbar. c) Im Moment des ästhetischen Umgangs mit Musik werden dem Material Funktionen als Dimensionen von Materialität hinzugefügt (u.a. als Ausdrucksgeste). d) Für die Rekonstruktion von Materialität ist es notwendig, dass Musik zumindest kurzfristig konserviert werden kann. Das Bild des Speichers ist dabei hilfreich: Entweder kann Musik in der Livesituation durch das Arbeitsgedächtnis des Menschen kurzfristig gespeichert und dabei analysiert werden oder sie muss extern z.B. durch analoge oder digitale Aufzeichnung zum Dokument werden. Für diesen Beitrag könnte daher die Hypothese lauten: Das Erfahrbare des Materials wird nicht mehr allein im Umgang damit entdeckt (und erfahrbar gemacht), sondern die Erfahrbarkeit liegt in der Materialität der Musik selbst begründet. Das wird insbesondere bei Musikwerken deutlich, die als Begriffspaar Original und Bearbeitung(en) aufeinander bezogen sind. Weil mit dem Materialitätsbegriff komplexere Eigenschaften des Materials z.B. im Hinblick auf dessen ästhetische Funktion gedeutet werden sollen, sind Impulsfragen zur Untersuchung musikalischer Materialität sinnvoll. Dazu gehören Fragen wie: • • •

Welche Facetten musikalischer Materialität gibt es? Was bietet das Ausgangsmaterial des Originals an? Was ist an ihm erfahrbar? Was können Musikerinnen und Musiker am Material ästhetisch erfahrbar machen? Und greifen sie sich bestimmte Aspekte von Materialität heraus?

Theoretische Annahmen zur Entwicklung einer materialästhetischen Analyse von Musik In ihrem Beitrag »Materialität inszenieren« greift Kathke (2017) eine Position von Heibach und Rohde (2015) auf mit den Worten, dass es sich bei Materialität um ein komplexes wissenschaftliches Narrativ [handelt], das materielle und dingorientierte Aspekte in der Beschreibung von Kultur und Gesellschaft

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[…] in den Vordergrund rückt […] und Dinge als Akteure von Netzwerken kultureller Prozesse versteht (Heibach und Rohde 2015: 14). Für materialästhetische Analysen von Musik ist diese Sichtweise hilfreich, weil das Material als musikalisch Erscheinendes und als performative Handlung mit der Aufführungssituation verknüpft werden kann. Mit diesem material turn »im Sinne der Untersuchung von spezifischen Prozessen der Weltkonstituierung und -aneignung« (ebd.) können so auch flüchtige Zeitmomente musikalischer Gestaltung mit dem Begriff der Materialität erfasst werden, wobei das Material nicht gegenständlich sein muss. Denn es verberge sich »im Begriff des Materials nicht nur ein Ausgangsstoff, sondern immer auch ein Produkt künstlerischer Modellierung und Inszenierung« (Kathke 2017: 23). Von dem Primat der Form befreit, könne nun das Material in der Kunst »als autonome ästhetische Kategorie künstlerischer Arbeit« (Kathke 2017: 24) gelten. Abb. 1: Modell der Musikverarbeitung (»reciprocal-feedback model of music processing«)

Modifizierte Darstellung nach Hargreaves, North und Tarrant 2016: 305; in: Lehmann und Kopiez 2018: 185

Im Moment des Entstehens wird Materialität von Musik ästhetisch wahrnehmbar und kann wiederum zum Ausgangspunkt autonomer Verarbeitungsmodi werden. Dazu gehört es u.a., auf Musik musikalisch zu reagieren bzw. Musik zu bearbeiten (vgl. den Begriff »Musicking« bei Small 1998, der die sozialen und performativen Aspekte des Musizierens betont). Aspekte mu-

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sikalischer Materialität werden durch unterschiedliche Umgangsweisen mit Musik ästhetisch erfahrbar (vgl. das Wahrnehmungsmodell von Hargreaves et al., Abb. 1). Für Rezipierende bedeutet es, dass in einer spezifischen Hörsituation (z.B. live im Saal oder in einer medial vermittelten Nachhörsituation auf YouTube) verschiedene Aspekte von Materialität1 wahrgenommen und verarbeitet werden können, auch wenn die erklingende Erscheinungsform der Musik akustisch gleich ist. Mit den theoretischen Vorarbeiten bei Mersch und Adorno zum Aufforderungswert (»potentia«) des Materials ist eine weitere theoretische Rahmung dafür geschaffen, dass das Material selbst grundsätzlich bearbeitet werden kann und sich gleichsam nach seiner Formung »sehne« (Kathke 2017: 25): Indem es [das Materielle, MB/AH] zum manipulierenden Umgang herausfordert, trägt es zur Ausbildung eines geistigen Anschauungsraumes wie zum Einprägen und Vergewissern individueller Welt- und Selbstwahrnehmung im Kontext ästhetischen Lernens bei (ebd.). Für den Kunstunterricht stellt Kathke fest, dass »[k]unstpädagogisches Denken vom Material aus […] zum Inszenieren von Materialität« führe und »die Schwelle zur Medialität« (ebd.) überschreite. Damit diese kunstästhetische Position in materialästhetische Analysen und Interpretationen theoretisch überführt werden kann, muss angenommen werden, dass musikalische Materialität im Moment der Klangerzeugung entsteht und dass sie ein Ergebnis eines musikalisch-performativen Aktes darstellt. Original und Bearbeitung wären dann zwei Inszenierungsvorgänge unterschiedlicher Umgangsweisen mit Musik. Durch die Umgangsweisen mit Musik werden Aspekte musikalischer Materialität erfahrbar, wie zum Beispiel ihr gestischer Charakter oder ihre klanglichen Dimensionen. Aus diesem Grund soll eine nur gedankliche Repräsentation von Musik (vgl. den Begriff der Audiation bei Gordon 2012) bzw. die Fähigkeit des Denkens in Musik für die folgenden Überlegungen des Erfahrens von Materialität zunächst außer Acht gelassen werden.

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In Bezug auf die Musikrezeption gehen wir davon aus, dass musikalische Materialität persuasiven Charakter hat. Dieser wird vom Rezipienten wahrgenommen, adaptiert oder umgedeutet. Auf diese Weise kann Musik individuell wahrgenommen werden. Dabei verdichten sich Materialität, Vorwissen, Erfahrungen und situativer emotionaler Zustand.

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Eine materialästhetische Analyse von Musik setzt voraus, dass das musikalische Ereignis grundsätzlich konserviert werden kann und somit referenzierbar ist. Nur durch die Referenzierbarkeit können materialästhetische Prozesse beim Entstehen und Bearbeiten von Musik rekonstruiert werden. Zum Ausgangsmaterial der materialästhetischen Analyse und Interpretation werden im Folgenden eine A-cappella-Interpretation der amerikanischen Hymne The Star-Spangled Banner durch eine Gesangssolistin sowie die musikalischen Bearbeitungen dieser Version. Die Bearbeitungen können als quasi öffentliche ästhetische Reaktionen auf der Plattform YouTube nachvollzogen werden. Die Autoren dieses Beitrags empfehlen, den Text sowie die verlinkten Medien parallel zu rezipieren.

Original und Bearbeitungen aus materialästhetischer Perspektive analysiert Nachdem die neunzehnjährige Studentin Sailor Sabol am 25. Februar 2021 in Orlando/Florida den letzten Ton der amerikanischen Nationalhymne a cappella vorgetragen hat, applaudiert das Publikum im Saal des Hyatt Regency Hotels. Die alljährliche Konferenz (Conservative Political Action Conference, CPAC) der Dachorganisation konservativer Gruppierungen (American Conservative Union) ist damit eröffnet. Namhafte Redner u.a. der gerade abgewählte Ex-Präsident Donald Trump, werden erwartet, um an vier Konferenztagen über politische Strategien zu beraten. Wenn die Darbietung der Hymne einwandfrei gelaufen wäre, wäre Sabols Auftritt nicht einmal einer Nachricht wert gewesen: eine A-cappella-Version der Hymne The Star-Spangled Banner, wie man sie häufig zu offiziellen Anlässen in Amerika hört, und eine Laiensängerin, die aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der republikanischen Studierendengruppe für den musikalischen Auftakt dieser Konferenz gesorgt hat. Eine große Ehre für die junge Künstlerin, aber auch eine große Aufgabe, die Hymne als Solistin musikalisch zu gestalten. Nur wenige Interpretationen dieser Hymne haben überhaupt die musikalische oder performative Qualität, um in Erinnerung zu bleiben. Zu ihnen gehört sicherlich Whitney Houstons soulige Version beim Super Bowl 1991 in Tampa mit dem Arrangement von John Clayton, während sich Amerika im Zweiten Golfkrieg befand; oder vielleicht auch die im Vergleich zu Sabols Auftritt gerade einmal vier Wochen alte Version Lady Gagas in Washington zur Amtseinführung des neuen Präsidenten Joe Biden im Januar 2021 – eine

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mit rhythmischen und harmonischen Finessen verfeinerte Neuinterpretation ihres Music Directors Michael Bearden (vgl. Neely 2021). Das amerikanische Publikum liebt es, wenn sich Interpretinnen oder Interpreten die Hymne zu eigen machen, und es lässt sich gerne von individuellen Varianten der Hymne überraschen, solange der Charakter der Hymne nicht zu sehr von Showelementen überlagert wird. Dass Sabols Version nur wenige Tage später virale Resonanzen im Internet erhalten hat und der Video-Mitschnitt ihres Auftritts bei YouTube in den ersten acht Monaten über eine Million Mal aufgerufen worden ist, liegt zum einen an ihrer musikalisch unglücklichen Performance, zum anderen liegt es an der medialen Beachtung der Konferenz selbst, weil sie einen der ersten Auftritte des nach seinem Amtsverlust abgetauchten Donald Trump markiert. QR-Codes 1 (links): Hymne W. Houston (1991) QR-C odes 2 (rechts): Hymne L. Gaga (2021)

Aspekte von Materialität in der A-cappella-Version Da nur die eingeladenen Gäste das musikalische Ereignis live erlebt haben dürften, lohnt es sich, beim Lesen dieses Beitrags einer inszenierten Erstbegegnung mit Sabols Interpretation auf YouTube (Sabol 2021a) zu folgen. QR-Code 3: Hymne S. Sabol (2021)

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Ließe man das Audiosignal ausgeschaltet, nähmen Zuschauende eine junge Frau in etwas schüchterner Körperhaltung aber mit patriotisch-emotionaler Mimik wahr. Die stummen Videobilder ließen erahnen, dass sich Sabol interpretatorische Freiheiten bei der Gestaltung der Hymne nimmt, indem sie z.B. das Wort »free« bei der Textpassage »land of the free« sehr stark dehnt. Nach Beendigung der Hymne tritt sie unter Beifall von der Bühne ab. Erst nach erneuter Wiedergabe, diesmal mit Ton, kann auch musikalischen Laien nicht gänzlich verborgen bleiben, dass Sabol Schwierigkeiten mit absoluten Tonhöhen hat (Sabol 2021b). Obwohl sie die Ausgangstonart für ihre Stimme gut getroffen hat – eine der vielen musikalischen Hürden (vgl. Ain’t No Other Fan 2021) der amerikanischen Nationalhymne –, wird im weiteren Verlauf deutlich, dass sie innerhalb des Stückes einzelne Töne nicht genau trifft. Aber weil sie die Anschlusstöne an die neue Melodielinie anpasst, stellt sich die Musikwahrnehmung der Zuhörenden auf neue Tonarten ein. Das Gehirn korrigiert sozusagen zugleich den melodischen und harmonischen Kontext, es hört sich die Passage zurecht. Da weder Sabol noch Zuschauerinnen und Zuschauer im Saal irritiert wirken, scheint die Melodie des Star-Spangled Banner immer noch korrekt zu klingen. Andere nehmen spätestens nach der Rezeption der Videoaufzeichnung wahr, dass die Hymne musikalisch verhunzt (butchered) und entstellt (star-mangled banner) worden sei. Böse Zungen schreiben sogar verschwörerisch, diese Version stünde in the key of Q(Anon): The key of Q flat minor is a tough key. Even in the original German. (nelliebly auf YouTube am 28.02.21)   Oh my … quite the star-mangled-banner this. To be fair they do the same when they render the constitution, democracy, voting … mangle it, and make it very white. (Simon campbell [@thewiltonweigh] auf Twitter am 28.02.21)   I consider myself somewhat of a connoisseur of bad national anthem performances. This one has it all: inexplicable key changes, devastatingly flat notes, dogshit rhythm, strained holds, and confusion between »or« and »o’er«. Whose niece is this? (isaac [@sleazy_slav] auf Twitter am 27.02.21) Nach der ersten Welle von Kommentaren erreicht dieses Ereignis seinen Höhepunkt medialer Beachtung, als Musikerinnen und Musiker unterschiedlicher Provenienz Sabols Version der Hymne zum Ausgangsmaterial eigener Bearbeitungen nehmen. Allen Bearbeitungen gemeinsam ist ein kollektives Bewusstsein, dass sie die Interpretation der Hymne als unfertig, roh, man-

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gelhaft oder inkorrekt ansehen. Eine Art Wunde im Beuysschen Sinne, der einmal empfohlen haben soll, lieber das Messer statt die Wunde zu verbinden. Die auf diese Weise entstandenen Bearbeitungen explorieren musikästhetische Lösungsmöglichkeiten, um die Verwundung der Hymne scheinbar zu kaschieren. Letztlich werden jedoch die handwerklichen Mängel durch die Bearbeitungen noch deutlicher erfahrbar. Und es kann den Arrangierenden nicht abgesprochen werden, dass sie damit auch ein Publikum unterhalten wollen. Um im Bild zu bleiben, verbinden sie nachträglich die Wunde anstatt das Messer, welches die Wunde angerichtet hat. Aber was spielt sich hier ab und warum entstehen diese Werke in so kurzer Zeit? Hier bietet sich ein materialästhetischer Ansatz zur Analyse und Interpretation an. Bevor die ästhetischen Absichten einiger exemplarisch ausgewählter Bearbeitungen des Ausgangsmaterials rekonstruiert werden können, soll das Material im Kontext der Aufführungssituation, der intendierten Wirkung und der unterschiedlichen Rezeptionssituationen live/medial analysiert werden.

Bug or Feature? – Versuch einer Rekonstruktion der Aufführungssituation Beim Versuch einer Rekonstruktion der Aufführungssituation stellen sich den Zuhörenden hypothetische Fragen: Hat die Sängerin evtl. grundlegende Defizite bei der Tonhöhenvorstellung (H1)? Oder hat sie Defizite beim Singen spezifischer Intervalle (H2)? Oder hat sie temporäre Einschränkungen bei der Wahrnehmung und kann in der Livesituation selbst nicht wahrnehmen, dass sie Intervalle nicht korrekt singt (H3)? Die Hypothese H1 kann aufgrund des vorliegenden Materials nicht zweifelsfrei untersucht werden. Dazu müsste Vergleichsmaterial beschafft werden, was in diesem Fall wohl nicht zu erlangen wäre. In einer Videonachricht (Sabol 2021b) weist die Sängerin selbst auf Defizite bei der Tonhöhenvorstellung hin. Hypothese H2 kann schnell verworfen werden nach einer musiktheoretischen Analyse der Intervallstruktur. Denn es zeigt sich, dass die Sängerin unsystematische Fehler macht, die nicht auf das Singen spezifischer Intervalle zurückgeführt werden können. Dies spräche allerdings wiederum für die Hypothese H1. Darüber hinaus müsste eine eingehendere musikpsychologische Analyse im Sinne der Hypothese H3 klären, wie stark der psychische Stress der

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Sängerin zum Auftrittszeitpunkt gewesen sein mag, der evtl. zu flacher Atmung, Steigerung der Herzfrequenz und hohem Blutdruck geführt hätte, was die Tonhöhenkontrolle beim Singen einschränkt. Musikerinnen und Musiker arbeiten lange an der Kontrolle von solchen Auftrittsängsten, die sich negativ auf die künstlerische Leistung auswirken können (Möller und Castringius 2005; Spahn 2011). So hätte man der Sängerin gewünscht, dass sie bereits positivere Erfahrungen auf weniger öffentlichen Bühnen hätte machen können. Bei der Analyse des Videomaterials wird deutlich, dass Sabols Tonhöhenschwankungen in der a cappella vorgetragenen Version ohne Referenztöne einer Instrumentalbegleitung von der Live-Zuhörerschaft durchaus toleriert werden. Es fehlen sichtbare Zeichen von Abwertung oder Intoleranz, wie z.B. Zwischenrufe während der Präsentation. Vielleicht haben diejenigen, die in der Situation Abweichungen wahrgenommen haben, sich auch aus sozialer Erwünschtheit zurückgehalten, und wollten aus Respekt vor der Hymne nicht auffällig werden. Hätte Sabol ihre Version zuhause und nicht in der Öffentlichkeit der Konferenz und vor der medialen Öffentlichkeit einer fachkundigen Internetgemeinschaft gesungen, wäre die Situation weniger gravierend gewesen. Musikpädagoginnen und -pädagogen hätten ein Repertoire an Möglichkeiten – z.B. gestütztes Singen mit einem Referenzton/-instrument – zur Verbesserung der Intonationssicherheit bereitstellen können und ihr geraten, sich noch einige Zeit zum Üben zu geben. Diese soziale Kontrolle hat Sabol gefehlt. Sie hätte die junge Sängerin vor einigen zum Teil gehässigen Kommentaren im Internet bewahren können. Kleine Abweichungen bei der Melodieführung passieren Musizierenden ständig, wenn sie über keine ausgebildete Tonhöhenkontrolle oder eine Vorstellung der harmonischen und melodischen Progression verfügen (vgl. Korman 2021). Die Intonation eines Liedes darf auch bis zu einem gewissen Grad schwanken, um nicht maschinenhaft gerade zu wirken. Allerdings werden die Abweichungen gravierender, wenn die Melodie der überaus bekannten Hymne nur noch in der Kontur wiedererkannt werden kann (z.B. hier bei der Passage »our flag was still there«). Und da sich die Melodie im musikalischen Material wie ein Webfaden verhält, wirken sich die Ungenauigkeiten erheblich auf das Gesamtbild aus. In diesem Fall sind das die rhythmische Struktur und die harmonische Einbettung, die für die Gesamtwirkung des Musikstücks entscheidend sind. In der Aufzeichnung ist gleichfalls zu erkennen, dass das Publikum an den zu erwartenden musikalischen Höhepunkten der Hymne positiv reagiert und am Ende Applaus spendet. Es nimmt die Performance audio-visuell wahr

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und nicht rein auditiv. Das Gefallensurteil eines Publikums in Bezug auf die musikalische Darbietung verbessert sich im Ausmaß einer Schulnote, wenn die Darbietung audio-visuell anstatt rein auditiv rezipiert wurde (Platz und Kopiez 2012). Auch auf der Ebene der Persuasion kann Sabols Performance punkten: Nach dem Modell der Emotionsinduktion (Scherer und Zentner 2001) macht das Publikum im Konferenzsaal emotionale Erfahrungen durch die Interpretation, weil ihnen die Struktur des Musikstücks klar bekannt ist und sie bereits Erfahrungen mit anderen Interpretationen gemacht haben. Mit diesen Vorerfahrungen verfügt das Publikum über eine gewisse musikalische Expertise, um Erwartungen an bestimmte musikalische Phänomene, wie musikalische Steigerungen oder Höhepunkte, zu haben. Es ist davon auszugehen, dass das ausgewählte Tagungspublikum zu dem Zeitpunkt motiviert und in der Stimmung ist, das Musikstück emotional verarbeiten zu wollen. Daher kann die angestrebte Wirkung der musikalischen Interpretation, also die Ausdrucksintentionen des Interpreten bzw. der Interpretin, überhaupt erzielt werden. Musikhörende richten ihre Aufmerksamkeit in solchen Hörsituationen besonders auf die Emotionen von Interpretinnen und Interpreten (Kreutz et al. 2008), u.a. bei Körperhaltung oder Mimik, und schließen dann auf den emotionalen Gehalt der Interpretation. Das Kongresspublikum als geschlossene Hörgemeinschaft – republikanisch gesinnte Kongressteilnehmende beim Miterleben der Nationalhymne – wäre also in der Live-Situation toleranter gegenüber Abweichungen, solange der (patriotische) Ausdruckscharakter des Liedes nicht beschädigt würde. Diese Gratwanderung ist Sabol offenbar gelungen, denn sie hat es geschafft, dieses »merkwürdige« und »unhandliche« Lied, das »viel zu textlastig und wortgewaltig, schwulstig und kantig« ist und sich »schlecht singen« lässt (Wolff und Drost 2021), vom Ausdruck her überzeugend über die Bühne zu bringen. Und das Live-Publikum hat die kleine Störung der Darbietung (bug) toleriert.

Aspekte von Materialität in den Bearbeitungen Die Diskrepanz zwischen emotionaler Wirkungsabsicht und tatsächlicher musikalischer Präzision ruft jedoch innerhalb weniger Tage eine Internetgemeinschaft auf den Plan. (Und man mag mutmaßen, dass es eine Gemeinschaft von Menschen ist, die nicht zum selben politischen Lager gehören.) Der Community gelingt es, aus dem Material einer unsauber gesungenen Melodie vielfältige Korrekturen zu präsentieren. Sie verhalten sich

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wie Anwälte in Bezug auf eine korrekte Aufführungspraxis der Hymne auf der Grundlage eines kollektiven Einverständnisses über eine musikalisch richtige Version und nutzen sie im Sinne einer satirischen Auseinandersetzung. Welche Anforderungen gibt es bezüglich einer musikalisch korrekten Version der Hymne? Hier spielt der Faktor Enkulturation eine entscheidende Rolle. Denn gerade am Beispiel einer Nationalhymne gibt es im Laufe des Lebens wiederkehrende Begegnungen mit dem Musikstück, die sich zu Erfahrungen verdichten. Als musikalisch korrekt kann implizit vorausgesetzt werden, dass die Originalmelodie wiedererkennbar sein muss. Gleichzeitig mit der Melodie werden ihr Rhythmus und die harmonische Einbettung der Melodie in der Begleitung wahrgenommen. Also müssen die Melodietöne mit den Erwartungen an eine rhythmische und harmonische Struktur übereinstimmen, um als korrekt wahrgenommen zu werden. Indem das Publikum eine solistisch vorgetragene A-cappella-Version ohne Begleitung hört, generiert die individuelle Musikwahrnehmung diese rhythmischen und harmonischen Strukturen aus der Erinnerung an bekannte Versionen hinzu. Auf diese Weise korrigiert das Gehirn eine wahrgenommene Abweichung (bug) aufgrund der Annahme einer musikalischen Sinnkonstruktion (feature). Individuelle Wahrnehmungsmechanismen sind also in der Lage, diese latenten Strukturen anzupassen, weil es sinnvoller erscheint. Indem sich eine hinzugefügte Begleitung der inkorrekten Tonhöhe anpasst und so die Wahrnehmung einer intakten Hymneninterpretation suggeriert, spielt die Community mit diesen Wahrnehmungs- und Manipulationsmechanismen der menschlichen Musikverarbeitung. Dazu gehören u.a. Stimmführungstechniken im Begleitsatz, die auf Leitton-Strebewirkungen abzielen und auf diese Weise die lineare Wahrnehmung des Menschen in Bezug auf Musik täuschen. Diese so genannten Reharmonisationen verführen dazu, dass Menschen temporär vergessen, in welcher Tonalität die Musik begonnen hat und in welcher Tonalität sie gerade ist. Menschen mit Chor- oder Ensembleerfahrung hören jedoch die Abweichung bei der erwarteten Harmonieprogression. Dadurch entlarvt sich der Verschleierungsmechanismus selbst, was Teil der Inszenierung dieser Materialität ist. Weil die musikalischen Bearbeitungen des Materials selbst ästhetisch auf hohem Niveau sind und sie unterschiedliche Aspekte von Materialität erfahrbar machen können, sollen sie im Folgenden eingehender vorgestellt werden. Sie werden aus Gründen des Umfangs in diesem Beitrag in vier Beispielklassen gruppiert, wobei die kurz gehaltenen Analysen Hauptaspekte der jeweiligen Bearbeitung sowie deren Wirkungsabsicht(en) aufzeigen.

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Bearbeitungen BSP 1: die tontechnisch reparierte (fixed) Fassung von David Tyo (28.02.2021) QR-Code 4: Bearbeitung Tyo (2021)

Tyo repariert die Tonhöhenschwankungen durch Resampling-Techniken und fügt eine synthetisierte Orchesterbegleitung hinzu. Indem er das optimierte Audiomaterial dem Originalvideo der Konferenz unterlegt, werden die rhythmischen Abweichungen des Originals nicht vollständig korrigiert, sondern im Timing dem Video angepasst. Sie werden als interpretatorische Freiheiten eher toleriert als in Kombination mit den Tonhöhenschwankungen. Vor dem Hintergrund vieler Fake-Videos wirkt diese Version glatt und gerade. Obwohl das Publikum vermutlich so eine handwerklich nahezu makellose Version während der Live-Performance erwartet hätte, büßt sie doch den Charme des Unfertigen, des Live-Moments ein. Im Vergleich zum Original wirkt sie sauber, aber eben auch musikalisch clean. Tyo bearbeitet das Material im Sinne eines Restaurators, der Beschädigungen kunstvoll kaschiert, damit das Originalwerk wieder strahlen kann.

Bearbeitungen BSP 2: die Klavierfassungen (28.02.–03.03.2021) Zu den ersten musikalisch-künstlerischen Reaktionen gehören die Bearbeitungen für Sologesang im Original und einer angepassten Klavierbegleitung (Bell, Carter, Chilton, Ethridge, SamTheBeardGuy, TheFamousUncle). Diese Reharmonisationen versuchen, die gesungenen Melodietöne in ein sinnvolles harmonisches Gerüst einzubetten, sodass der Eindruck von musikalischer Geschlossenheit bei gleichzeitiger harmonischer Anreicherung entsteht. Dazu spielen die Bearbeitenden jeweils zum Originalbild mit Originalton. Die Finessen der Klavierbegleitungen liegen in der kreativen Beugung des klassischen Tonsatzes (u.a. die Rachmaninov-Fassung), um musikalischen Sinn zu

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schaffen. Musikerinnen und Musikern geben diese Arrangements durch ihre harmonisch reichere Klangfärbung Einblicke in die künstlerischen Grenzbereiche der Reharmonisation. Allen gemeinsam ist die ästhetische Idee, die objektiv fehlerhafte Originalversion durch harmonische Einbettung zu glätten. Allerdings restaurieren sie das Material nicht, sondern lassen es als solches bestehen. Durch die Hinzufügung einer Begleitung im Sinne des fehlenden Referenztons für die korrekte Intonation wird das beschädigte Material von außen abgestützt. Aus künstlerischer Perspektive sind Analogien zu Strategien des Architekten David Chipperfield bei der Restauration des Neuen Museums in Berlin möglich, der ebenfalls die historischen Beschädigungen des Bauwerks in die Restaurationsarbeit integriert hat. In diesem Sinne fällt auch dem performativen Element der Bearbeitenden zum Videomitschnitt eine besondere Bedeutung zu, denn an deren Mimik oder deren Bewegungen zur Musik ist auch für musikalische Laien erkennbar, wo rhythmische Schwachstellen im Original zu finden sind oder wo der von Sabol gewünschte emotionale Ausdruck durch die Bearbeitenden konterkariert oder bewusst übertrieben wird. Aus der superioren Rolle der nachträglich Musizierenden ohne den Leistungsdruck eines Live-Auftritts stellen sie sich mit ihren akribisch vorbereiteten musikalisch-künstlerischen Bearbeitungen des Ausgangsmaterials besser dar, als es Sabol in der Live-Situation möglich war. QR-Code 5 (links): Bearbeitung Bell (2021) QR-Code 6 (Mitte): Bearbeitung Carter (2021) QR-Code 7 (rechts): Bearbeitung Chilton (2021)

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QR-Code 8 (links): Bearbeitung Ethridge(2021) QR-Code 9 (Mitte): Bearbeitung SamTheBeardGuy (2021) QR-Code 10 (rechts): Bearbeitung TheFamousUncle (2021)

Bearbeitungen BSP 3: die Cellofassung (03.03.2021) Ab dem 03.03.2021 werden elaboriertere Fassungen bei YouTube veröffentlicht. Dazu gehört u.a. dieses Arrangement für Celloquartett, wobei der Komponist Jeremy Tai die Videooptik eines Corona-Homevideo-Zusammenschnitts wählt und dabei alle Stimmen selbst einspielt. Wie auch schon bei einigen Klavierfassungen zu sehen, fügt Tai seinen Cellosatz als Cue-Noten passend zur gehörten Musik ein. Damit gibt er für musikkundige Hörerinnen und Hörer neben der akustischen auch eine visuelle Referenz für die Tonart-Varianzen im Original. Die Cellofassung gibt dem von Sabol a cappella vorgetragenen StarSpangled Banner seinen hymnischen Charakter zurück. Gerade aus deutscher Sicht lassen sich Parallelen zum so genannten Kaiserquartett op. 76 (Nr. 3) von Joseph Haydn ziehen. Eingebettet in einen ruhigen klassischen Quartettsatz gelingt es Tai, Sabols Schwächen zu kaschieren. Der Satz bewirkt auch, dass der zum Teil martialische Liedtext in seiner Wirkung weicher und nachdenklicher wird.

QR-Code 11: Bearbeitung Tai (2021)

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Bearbeitungen BSP 4: die Fassung für a cappella Quartett (03.03.2021) Diese Fassung ist ein Paradebeispiel für eine perfekt produzierte Parodie. Das Arrangement des Kanadiers François Pothier Bouchard ist so harmoniereich und erfrischend, dass Sabols »mäandernder« (Kommentar unter dem YouTube-Video) Gesang sanft durch das kanadische Vokal-Quartett QW4RTZ eingebettet wird. Diese Produktion setzt Maßstäbe in Bezug auf Arrangement, musikalische Interpretation, Performance, Medialität und Show. Es verwundert nicht, dass nach dieser Fassung das Einstellen weiterer Videos auf YouTube abebbt.

QR-Code 12: Bearbeitung QW4RTZ (2021)

Zusammenfassung und Kontextualisierung der Ergebnisse popular culture [is, MB/AH] the art of making do with what the system provides (John Fiske, zit. in Müller 1993: 63). Was ist an diesen quasi popkulturellen Bearbeitungen über musikalische Materialität erfahrbar? Zunächst einmal kann festgestellt werden, dass sich bei allen Bearbeitungen typische popkulturelle Elemente zeigen, die ihren Ausdruck in subversiver Mediennutzung finden. Das lässt die Hypothese zu, dass der Spaß der Bearbeitenden als Kombination aus musikalischen und performativen Elementen sich nur vordergründig gegen eine als unzulänglich empfundene Hymneninterpretation wendet. Es ist vermutlich ein Widerstand mit ästhetischen Mitteln, der sich musikalisch subversiv aber medial wirksam gegen konservatives republikanisches Denken und das System Trump richtet. Sabols Interpretation wird zum Anlass subversiven Aufbegehrens gegenüber einer als unzulänglich erlebten Politik, die sich nun am Material des Hymnengesangs manifestiert. Mit Fiskes kulturwissenschaftlichen Überlegungen

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lässt sich am Prozess der musikalischen Reaktionen zeigen, dass sich hier medial eine Art Kulturkampf abspielt: I want to theorize popular pleasure as occuring at that interface between the powerbearing apparatuses and the intransigent social experiences of the subordinated groups. […] There is a double pleasure here, the pleasure of socially pertinent meanings [of, MB/AH] the subordinate, as opposed to the dominant, meanings of subordination and powerlessness, and the pleasure of being involved, being productive, in the making of these meanings. (John Fiske, zit. in Müller 1993: 63) In den Kommentaren zu den eingestellten Videos setzt sich der Kampf fort. Er findet seinen Nährboden in der Sehnsucht des Volkes (the people, vgl. ebd.) nach Involviertheit. Im kreativen Spaß steckt der Keim des Widerstands. Tyos Version der digitalen Fehlerkorrektur kann unter dieser Perspektive verstanden werden als eine Art uplifting, eine Schönheitskorrektur, wie sie aus der Welt der Werbung oder visuellen Fakes bei der Bildbearbeitung bekannt ist. Tyo erzeugt nachträglich eine geschönte Version der Hymne, wie sie der Öffentlichkeit präsentiert werden könnte. Und die mediale Präsentation suggeriert einen im Nachhinein musikalisch perfekten Auftritt. Wer Mitleid mit der Sängerin gehabt hat, wird mit Tyos Version erleichtert sein. Alle anderen Bearbeitungen nutzen das Ausgangsmaterial nur noch als eingebettete Referenz. Ihre Kunst besteht in der Gleichzeitigkeit aus Involviertheit und Distanzierung. Während sie scheinbar das Material glätten und korrigieren, machen sie sich zum Teil des Systems Trump, in dem Fakes und Fake News hoffähig und kultiviert wurden und bewahren die Hymne vor ungewolltem Schaden. Indem sich die Bearbeitenden im Moment des Eingriffs in das Material filmen, offenbaren sie allerdings gleichzeitig die Mechanismen dieser Fakes und sich selbst als Teil der Inszenierung. Diese Doppeldeutigkeit kann jedoch nur ästhetisch wahrgenommen werden durch den interpretierenden Abgleich von musikalischer und performativer Ebene. Weil die Akteurinnen und Akteure aber ihre wahren Absichten verschleiern, bleibt ihre Kunst mehrdeutig.

Fazit Durch die kunstästhetische Perspektive auf die Materialität des Klanges zusammen mit der kulturwissenschaftlichen Perspektive auf soziale Aktions-

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und Reaktionsprozesse entstehen für die Analyse von Musik neue Impulse. Dieser Beitrag wagt den Versuch, Aspekte musikalischer Materialität auf das Erscheinende, »auf sich zeigende Eigen-Arten« zu beziehen, und »von all dem, ›was sich von dort her erst ereignet‹, was am Material wirksam wird, was geschieht« (Mersch, zit. nach Kathke 2017: 26) aufzuzeigen. In dem ästhetischen Prozess der Bearbeitung des Ausgangsmaterials erstaunen der souveräne und kreative Einsatz digitaler Medien sowie die Inszenierungen innerhalb des Mediums YouTube. Auf beeindruckende Art und Weise wird an den Bearbeitungsbeispielen deutlich, wie musikalische und technische Expertise verschmelzen und für die eigene Inszenierung professionell und spielerisch genutzt werden. Auch wenn in diesem Beitrag die Entstehung von Materialität und die Umgangsweisen situativ und medial voneinander entkoppelt sind, bleibt als Forschungsdesiderat die Erprobung eines materialästhetischen Zugangs innerhalb eines wahrlich dialogischen Geschehens (Kathke 2017: 25), das sich in der Live-Situation künstlerisch-musikalischer Gestaltung vollziehen kann.

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Verlassene Dinge und verwaiste Orte

Künstlerische Abschlussarbeit: Das Herrenhaus Marlon Roth

Suchen – Finden – Eintauchen – Erkennen Gedanken zu künstlerischem Arbeiten als Forschungspraxis Heike Thienenkamp Eine Kunst als Forschung spielt der wissenschaftlichen Forschung ihre Antworten als Fragen zurück! – Dombois 2006

An einer Ausstellungswand im Flur des Faches Kunst- und Musikpädagogik der Universität Bielefeld findet sich ein Sammelsurium von Dingen, Fotografien, geschriebenen und gesprochenen Erinnerungsfragmenten von Menschen in Form von Postkarten und Audioaufnahmen, die den Raum akustisch füllen (vgl. S. 205). Geblümte und ornamental gemusterte Tapetenfetzen hängen neben gerahmten und ungerahmten Fotografien und Texten. Ein grelloranger Rettungskragen zum Schutz vor Ertrinken ist an der Wand angebracht, in räumlicher Nähe zu einem alten Holzfenster. Dieses ist ohne Scheibe, aber mit einem hölzernen Lattengitter versehen. Das Auge verweilt an der Verpackung eines Spielzeuggewehres, gleitet zum benachbarten Verbandskasten mit stark verbeultem Deckel und abgeblättertem Lack, zu einem kleinen Plastikauto und zu gerahmten Porträtfotos von vier Personen sowie zu alten Schwarzweißaufnahmen von Menschen und immer wieder demselben Haus. Es lässt sich erahnen, dass dieses Haus die gemeinsame Klammer ist, die all die diversen Artefakte, Fotografien und Schriftzeugnisse zusammenhält. Zu der Vielzahl von materiellen Dingen kommen die Tonaufnahmen, die aus fünf Lautsprechern auf schlanken weißen Sockeln tönen, welche die große Wandfläche gliedern. Aus jeder Box dringt eine andere Stimme, so leise, dass sich die Worte nur in unmittelbarer Nähe verstehen lassen und gleichzeitig so laut, dass ein Stimmenteppich über der Installation liegt.

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Der vielfältigen, wenn auch rhythmisierten Struktur dieser Wand steht die sehr klare Gliederung der gegenüberliegenden, kleineren Wandfläche entgegen. Dort sind sechs Schwarzweiß-Fotografien in zwei Reihen übereinander angebracht. Sie zeigen unbewohnte Innenräume, im Zerfall begriffen. Zentrales Element aller sechs Bilder sind Fenster, bzw. in einem Fall ein Treppenaufgang. Starke Hell-Dunkel-Kontraste tragen zu einer düsteren Raumatmosphäre bei, in die schlaglichtartig Helligkeit dringt. Abblätternde und abgerissene Tapeten, Schutt und Dreck verleihen den Räumen den Charakter von Vernachlässigung und Zerfall. Der Blick des Fotografen zeigt diese Räume in einer morbiden Schönheit und Verlassenheit. Die Rauminstallation bildet die künstlerische Abschlussarbeit des Studenten Marlon Roth im Bachelorstudium. Sie spiegelt seine intensive Auseinandersetzung mit dem verlassenen Herrenhaus in seinem Heimatort, Gut Oheimb. Das ganz eigene Interesse von Marlon Roth, seine Neugier auf und seine Faszination für die Hintergründe und Geschichten rund um das alte, langsam verfallende Herrenhaus und seinen verwilderten Garten im Zentrum des Dorfes, rücken das besagte Haus und seine Geschichte in den Fokus und machen es zum Ausgangspunkt einer intensiven künstlerischen Forschung. Kennzeichnend hierfür ist das leitende subjektive Interesse an einem Sachverhalt, einem Thema oder Objekt: In diesem Fall stand das Gutshaus als Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit fest, noch bevor eine Forschungsfrage, ein künstlerisches Medium oder die genauere thematische Ausrichtung sich herausgebildet hatten. Marlon Roth schreibt in seinem Werkstattbuch, sein Vorgehen bei der Entwicklung seiner Abschlussarbeit sei von seiner Intuition geleitet gewesen. Er begann mit einer vorsichtigen Erkundung des Hauses von außen und geriet immer weiter in den Sog seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Haus und seiner Geschichte, indem er den Besitzer kontaktierte und sich eine Erlaubnis zum Betreten erteilen ließ, mit dem Archivar im Stadtarchiv recherchierte und per Aufruf in der Presse und in sozialen Medien Zeitzeuginnen und Zeitzeugen fand, die bereit waren, ihre Erinnerungen und Relikte aus ihrer Verbindung zu dem Haus mit ihm zu teilen. Doch nur deren Berichte und Archivmaterial einzubeziehen, kam nicht in Frage. Es brauchte auch das körperliche Erkunden des Hauses, das Begehen der realen Räume und das Festhalten von Spuren, die sich dort finden ließen. Das Sammeln von Dingen, von schriftlichen und bildlichen Zeugnissen ging einher mit der fotografischen Auseinandersetzung mit den leeren Räumen des Herrenhauses. Verbindendes Element der vielgestaltigen Sammlung ist das Interesse an der Geschichte der Menschen, die mit diesem

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Haus verknüpft sind und waren. In und an dem, was sie und die Dinge über das Haus erzählen, entstand ein Porträt des Gebäudes und seiner Geschichte(n). In dem langen Prozess der Auseinandersetzung war die Richtung, in die sich die künstlerische Arbeit entwickelte, im Fluss, änderte sich je nachdem, worauf Marlon Roth stieß und wie die gefundenen Objekte oder Geschichtsfragmente neue Perspektiven eröffneten und er seine Handlungsweise diesen anpasste. Dieser Prozess wirkte somit in beide Richtungen: Die Objekte beeinflussten das Subjekt und umgekehrt. Betrachterinnen und Betrachter nehmen die Gesamtinstallation multisensuell wahr. Der Klangteppich der verschiedenen Stimmen begleitet sie, während sie sich umherstreifend dorthin bewegen, wo das Auge hängen bleibt. Objekte wie der Rettungskragen oder der alte, metallene Erste-HilfeKasten wollen berührt werden. Der Blick findet Ankerpunkte wie das Fenster oder große, farbige Tapetenfetzen, zu denen er immer wieder zurückwandert, wenn er über die multiplen Bild- und Textfragmente gleitet. Die Installation fordert dazu auf, sich zu bewegen um sie zu erfassen. Um die Texte zu lesen, die Audioaufnahmen zu verstehen und die kleinformatigen Fotos genau anzusehen, ist es notwendig, nah heranzutreten. Für einen Überblick über die diversen Elemente der Installation müssen Betrachterinnen und Betrachter zurücktreten und sich nach links und rechts wenden, um die große Wand in Gänze und die gegenüberliegende Wand mit den Fotografien zu erfassen. Aufgrund der Nutzung von einander gegenüberliegenden Wänden, die nicht mehr als drei Meter auseinander liegen, betreten Rezipientinnen und Rezipienten die Installation gleichsam wie man auch ein Haus betritt und werden direkt in das Arrangement hineingezogen. Indem sie dabei auswählen, welche Aspekte der Gesamtkonstellation sie genauer fokussieren und indem sie jeweils subjektive Bedeutungen konstruieren, ist ihr Erkenntnisprozess in Bezug auf Gut Oheimb ein singulärer, ebenso wie bei Marlon Roth. Er hat den Erkenntnisprozess der Rezipierenden zwar initiiert, kann dessen Verlauf aber nicht weiter beeinflussen. Elke Bippus beschreibt diesen Vorgang so: Das Kunstwerk kreiert einen Raum, der ein spezifisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt herstellt und lässt darin eine ästhetische Erfahrung möglich werden, in der nicht die übliche Asymmetrie zwischen wissendem Forscher und Anwender zum Zuge kommt, sondern ein ›Kommunikationsangebot‹ gemacht wird. (Bippus 2009: 12)

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Für Roth als »Forscher« entstanden in der Kommunikation mit den vorgefundenen Dingen ständig neue Perspektiven auf seinen Untersuchungsgegenstand, und immer neue Erkenntnisse traten zu Tage, auf die er wiederum reagierte. Dieser Vorgang weist alle Charakteristika einer ästhetischen Forschung im Sinne von Helga Kämpf-Jansen auf.

Ästhetische Forschung und Künstlerische Feldforschung Kämpf-Jansen hat diese kunstpädagogische Methode im Jahr 2000 konturiert und erstmals veröffentlicht. Sie nennt als Ausgangspunkt für ein ästhetisches Forschungsprojekt das subjektive Interesse der Forschenden, die aus diesem Interesse heraus eine Frage entwickeln, die zuerst einmal nur sie persönlich interessiert. Die ästhetische Forschung ist »in hohem Maße individuell bestimmt und verantwortet« (Kämpf-Jansen 2012: 22). Die Subjektbezogenheit hinsichtlich Fragestellung, Wahl der Methode, Präsentation und Möglichkeit zur Veröffentlichung der Ergebnisse ist es nach Andreas Brenne dann auch vorrangig, was die ästhetische Forschung von der wissenschaftlichen Forschung unterscheidet (Brenne 2006: 196). Ästhetische Forschung zeichnet sich im Weiteren neben der Subjektbezogenheit durch drei verschiedene Bereiche aus, die miteinander verknüpft das Wesen dieser Methode bestimmen und in unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen in jedem Ästhetischen Forschungsvorhaben enthalten sind. Zunächst ist dies der Bereich der vorwissenschaftlichen und an Alltagserfahrungen anknüpfenden Verfahren. Er setzt sich zusammen aus der alltäglichen Erfahrung, von der ausgehend ein neugieriger, fragender Umgang den Blick auf alltägliche Dinge eröffnet. Weiterhin gehört dazu ein handelnder Umgang mit den fokussierten Phänomenen und Dingen, der das Sammeln, Ordnen, Arrangieren und Präsentieren von Gefundenem und Erdachtem umfasst. Alltägliche Handlungen wie schneiden, kleben, zusammensetzen und die Planung und Organisation von Abläufen sind weitere Aspekte von Alltagserfahrung (vgl. Kämpf-Jansen 2012: 20). Der Bereich der Kunst setzt die intensive Rezeption aktueller künstlerischer Positionen, Strategien und Verfahren voraus, um zu einer Kenntnis von zeitgenössischen künstlerischen Konzepten zu gelangen und sie als Orientierungspunkt zu nutzen. Kämpf-Jansen betont dabei, dass es in der künstlerischen Praxis in keiner Weise um einen unkritischen Nachvollzug gehe,

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sondern um die Auswahl aus umfangreichen ästhetischen Möglichkeiten, um deren Variation und Modifikation (ebd.: 21).

Abb. 1: Doppelseite aus dem Werkstattbuch von Marlon Roth

Quelle: Privatarchiv Roth

Wissenschaftliche Methoden sind der dritte Bereich, der zentral für das Konzept der Ästhetischen Forschung ist. Immer besteht ein Bezug zur Kunstwissenschaft und -geschichte, indem Bezüge zwischen der eigenen künstlerischen Praxis und bestehenden Kunstwerken und künstlerischen Theorien hergestellt werden. Darüber hinaus kommen beispielsweise nicht direkt kunstbezogene wissenschaftliche Vorgehensweisen wie das Befragen, Recherchieren, Analysieren und Kategorisieren zur Anwendung, die aus Bezugswissenschaften wie der Soziologie, den Geschichtswissenschaften, den Naturwissenschaften und weiteren Wissenschaftsdisziplinen und -theorien entlehnt sind (Kämpf-Jansen 2000: 100f.). So hat Roth im Kontext seiner künstlerischen Arbeit Leitfadeninterviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen geführt, im Archiv nach historischen Quellen zur Geschichte des Herrenhauses gesucht, Relikte aus dem Haus gesammelt und kategorisiert, womit er sich sozialwissenschaftlicher, ethnologischer und archäologischer Methoden bedient. Die Auseinandersetzung mit der angewandten Methodik, über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von künstlerischem und

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wissenschaftlichem Handeln sind Teil des Reflexionsprozesses in jedem Projekt ästhetischer Forschung (ebd.: 100). Das Medium für Reflexionsprozesse in Wort und Bild ist das Tagebuch oder Werkstattbuch, in dem der Forschungsprozess begleitet, dokumentiert und reflektiert wird. Es ist Medium und Ausdruck des subjektiven Zugangs der forschenden Person und das Instrument, das den vierten Bereich, das Subjektbezogene, abbildet. Ästhetische Forschung, wie Kämpf-Jansen sie gedacht hat (KämpfJansen: 2000), und Künstlerische Feldforschung, wie Lili Fischer sie in den 1970er Jahren entwickelte (Hirsch 2008: 40), sind zwei Methoden, die im kunstpädagogischen Kontext einflussreich sind und bewusst künstlerische Praxis und wissenschaftliches Vorgehen verknüpfen. Die Ästhetische Forschung im Sinne von Kämpf-Jansen kann als eine Form der künstlerischen Forschung im kunstpädagogischen Kontext verstanden werden. Sie ist vor dem Hintergrund von Überlegungen zur stärkeren Subjektorientierung in kunstpädagogischen Prozessen und von theoretischen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen entstanden, die nicht nur rein kognitive Prozesse als Erkenntnisinstrument begreifen, sondern der ästhetischen Welterfahrung eigenes Erkenntnispotenzial zuschreiben. Joachim Penzel nennt als theoretische Basis für Helga Kämpf-Jansens Überlegungen Texte von Martin Seel (1985), Wolfgang Welsch (1998), Daniel Goleman (1997) und Howard Gardner (1999) (vgl. Penzel, 2015: 1f.). Ein anderer Ausgangspunkt für Kämpf-Jansen sind die Entwicklungen in der Kunst seit den 1960er-Jahren, in denen Künstlerinnen und Künstler den Prozess des künstlerischen Arbeitens in das Zentrum stellen und das eigentliche, sich materiell manifestierende Werk in den Hintergrund tritt. So sieht Helga Kämpf-Jansen beispielsweise in der Kunst der Spurensicherung »vielfältige Analogien zu wissenschaftlichen Arbeiten, Forschungsvorhaben, z.B. in Bereichen der Ethnologie und Archäologie« (Kämpf-Jansen, 2000, S. 67). Die von Fischer in den 1970er Jahren entwickelte Methode der künstlerischen Feldforschung weist diese Analogien ebenfalls auf, indem Fischer in ihren künstlerischen Projekten umfassende Materialsammlungen zu natur-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Aspekten einer Thematik mit ihrer künstlerischen Auseinandersetzung dazu verbindet. Ein Feld wird hier aus wissenschaftlicher Sicht erschlossen und gleichzeitig künstlerisch bearbeitet und kommentiert. Die Kombination aus beidem spiegelt sich in einer abschließenden Präsentation und vermittelt Rezipierenden einen Einblick in den subjektiven Zugriff der Künstlerin auf das Feld (vgl. Brenne 2006: 197f. und Fischer 2002). Künstlerische Feldforschung wird – wie die

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ästhetische Forschung – sowohl als kunstpädagogisches Vorgehen mit Bezug auf ästhetische Bildung diskutiert, genutzt und weiterentwickelt, als auch als künstlerische Strategie verstanden. Die beiden Methoden innewohnende Verknüpfung von rationalen wie ästhetischen Zugriffen führt nach Andreas Brenne zu einem »mehr an Erkenntnis« (Brenne 2006: 198), zu mehr, als eine rein kognitive oder rein ästhetische Sichtweise auf ein Ding oder einen Inhalt mit sich bringen kann. Die hier beschriebenen Ansätze von KämpfJansen und Fischer, vor deren Hintergrund auch die intensive künstlerische Auseinandersetzung von Marlon Roth mit Gut Oheimb entstanden ist, sind in den größeren Kontext künstlerischer Forschung einzuordnen. Von diesem konkreten Beispiel aus soll über das Wesen künstlerischer Forschung allgemein nachgedacht werden. Was charakterisiert diese und wie eindeutig ist sie begrifflich überhaupt definiert? Welchen Erkenntnisgewinn bringt diese Form der Forschung für die Forschenden wie auch für die Rezipierenden mit sich? Was teilt sich mit, wenn der Zugang zum Erforschten ein rein subjektiver ist, fern vom Anspruch (natur-)wissenschaftlicher Forschung auf Objektivität und Wiederholbarkeit?

Künstlerische Forschung In den letzten beiden Jahrzehnten ist eine rege Diskussion um künstlerische Forschung als eigene epistemische Praxis entstanden und um die Frage, inwieweit ihre Erkenntnisse auf einer Ebene mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu sehen sind. Das Ringen um die Legitimation, aber auch zunächst um eine Definition des Forschungsbegriffs in der Kunst, kennzeichnet den hier skizzierten Diskurs um künstlerische Forschung (vgl. Vorkoeper 2009). Der Terminus der Künstlerischen Forschung ist alles andere als eindeutig definiert und wird unterschiedlich verwendet, wie Martin Tröndle (2011: xv) schreibt: Kunstforschung, künstlerische Forschung oder kunstbasierte Forschung sind derzeit populäre Begriffe – spekuliert werden darf jedoch, was mit ihnen gemeint sei. Verfolgt man die internationale Diskussion zu art research, artistic research, art based research, research through/with/about arts, sensual and embodied knowledge etc., so lassen sich eine ganze Reihe von Konzepten ausmachen.

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Forschendes Vorgehen an sich im Sinne von Andreas Brenne kann als »besonderen Zugang zur Welt, ein allgemein menschliches Bestreben, sich selbst und die Welt in ihren komplexen Zusammenhängen zu untersuchen, um eine fortschreitende Erkenntnis zu erzeugen« beschrieben werden (Brenne 2008: 6). Auch ohne mit dem Forschungsbegriff belegt zu sein, zeichnet sich echtes künstlerisches Handeln durch Neugier und die Erforschung von Dingen und Welt, sowie eine Ausweitung von Perspektiven und Grenzen mit künstlerischen Mitteln aus. Dies verdeutlicht auch Tröndle in dem Versuch, den Begriff der künstlerischen Forschung zu konturieren: Künstlerische Forschung wäre das, was Künstler seit jeher tun, um durch Recherche und Experiment die Grenzen ihrer Disziplin zu verschieben; gleich, ob es sich um neue Notationsweisen, Materialbehandlungen oder Sinnaufladungen handelt. Künstlerische Forschung bezeichnet somit den Prozess oder ein Merkmal, die Meisterwerke auszeichnen, nämlich exemplarisch neue Wege in der Produktion oder Rezeption von Kunst erprobt zu haben. (Tröndle 2011: xvi) Henk Borgdorff (2007: 14) unterscheidet künstlerische Praxis an sich von künstlerischer Forschung, indem er schreibt, künstlerische Praxis könne als künstlerische Forschung gelten, wenn ihre bewusste Absicht sei, Wissen mittels künstlerischer Praxis zu erweitern. Sie beginne mit einer Forschungsfrage, die im Forschungs- und im Kunstkontext relevant ist, und versucht sich ihr auf experimentelle und hermeneutische Weise mit künstlerischen Mitteln zu nähern. Der künstlerische Prozess und das entstehende Werk verkörpern dabei das generierte Wissen. Ein kennzeichnender Faktor für künstlerische Forschung sei dabei, dass der Forschungsprozess die Ergebnisse dokumentiere und der Forschungscommunity wie auch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werde. In diesem Versuch, »künstlerische Forschung vornehmlich an wissenschaftlichen Standards und einem anwendungsorientierten Forschen auszurichten« (Bippus 2009: 9), sieht Bippus allerdings die Gefahr, dass das spezifisch Künstlerische in den Hintergrund gerät.

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Distinktion zwischen wissenschaftlicher Forschung und künstlerischer Forschung Hier stellt sich die Frage der Distinktion von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung. Das Bestreben nach fortschreitender Erkenntnis und das Gehen neuer Wege charakterisiert jede Art von Forschung und gilt für wissenschaftliches Forschen ebenso wie für künstlerisches Forschen. Das Erkenntnisinteresse verbindet somit beide, doch unterscheidet sie die Art des Forschungsprozesses und der Erkenntnis grundlegend. Der Prozess der künstlerischen Forschung wie auch der Rezeption der dabei entstandenen Werke ist ein sinnlicher, in dem das (forschende) Subjekt keine Distanz zum Objekt einnimmt, sondern im Gegenteil involviert ist und die Differenz zwischen Forschenden und Erforschtem, Theorie und Praxis, Modus und Substanz sich auflöst (vgl. Borgdorff 2007: 5 und Klein 2010: 25). Klein bezeichnet dieses Wissen als »sinnlich und körperlich, [als] ›embodied knowledge‹, […][als] gefühltes Wissen« (ebd.). Während wissenschaftliches Forschen objektiv gültiges Wissen generieren möchte, bildet »künstlerisches Forschen [kein] […] allgemeines, abrufbares und intersubjektiv verifizierbares Wissen, sondern Räume für das Denken« (Bippus 2009: 12). Sie verlangt also von den Betrachterinnen und Betrachtern mitzudenken und mitzuempfinden, sich auf den Erkenntnisprozess aktiv einzulassen und eigene Gedanken zu entwickeln, die sich von Subjekt zu Subjekt unterscheiden. Die so gewonnene Erkenntnis lässt sich demnach nicht verallgemeinern oder direkt auf andere Sachverhalte und Personen übertragen – dazu müsste zunächst der Versuch der Verbalisierung derselben unternommen werden, denn »Erfahrungen lassen sich naturgemäß nicht delegieren und erst in zweiter Ordnung intersubjektiv verhandeln« (Klein 2010: 25). Klein schreibt, mit Bezug auf Mersch und Ott 2007, Bippus 2010 und andere, dass dies »ein wesentlicher Grund für die Auffassung vom singulären Charakter des künstlerischen Wissens« (2010: 25) sei. Wolfgang Krohn sieht allerdings gerade in der Singularität, die künstlerischforschend entstandenen Erkenntnissen zugesprochen wird, keinen Vorteil, sondern bezeichnet es als fragwürdig »den Begriff der ›künstlerischen Forschung‹ so exklusiv zu formulieren, dass diese ihren Wert nur noch in der Selbstmanifestation ihres Prozesses besitzt, und jeder kognitive Ertrag, der darüber hinausgeht, als ›unkünstlerisch‹ abgewiesen würde«. (Krohn 2011: 10) Er zieht Parallelen zwischen künstlerischer Forschung und den qualitativen Methoden der Sozialforschung, die im Ergebnis zwar ebenfalls keine Verallgemeinerungen erlaubten, aber dennoch »die Fähigkeit zur Wahrnehmung

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von Unterschieden zwischen verwandten Fällen [schule]« (2011 :11, vgl. auch Borgdorff 2007: 15). Auch Methoden wie die Fallforschung wurden lange in ihrer Gültigkeit als wissenschaftliche Verfahren angezweifelt und diskutiert.

Künstlerische Forschung im akademischen Kontext Die Diskussion in Bezug auf den Status künstlerischer Forschung gewinnt an Intensität, wenn jene nicht nur als eine Form künstlerischer Praxis verstanden wird, sondern den Anspruch erhebt, im akademischen Kontext der wissenschaftlichen Forschung gleichgestellt zu sein (vgl. Wissenschaftsrat 2021: 53f.). Klein (2010: 25) meint, »dass Künstler ›forschen‹, scheint mit einem szientistischen Weltbild noch leichter vereinbar zu sein, als dass es konsequenterweise Produkte ihrer Arbeit geben muss, die zur ›Forschung‹ zählen.« Tatsache ist, dass sich in den letzten Jahren verschiedenste, auch institutionelle Akteure mit Erfolg um die Anerkennung künstlerischer Forschung als epistemische Praxis neben der wissenschaftlichen Forschung bemühten (vgl. Wissenschaftsrat 2021: 53). Seit 2010 existiert beispielsweise als internationale Plattform für die Veröffentlichung künstlerischer Forschungsprojekte aus allen Disziplinen das von der Society for Artistic Research (SAR) veröffentlichte Onlinejournal JAR (Journal for Artistic Research) mit Sitz in Amsterdam, in Deutschland seit 2016 das Onlinejournal w/k – Zwischen Wissenschaft und Kunst, herausgegeben von Peter Tepe (Bödeker 2019). In der Schweiz koordiniert das SARN (Swiss Artistic Research Network) seit 2011 die Verbindung künstlerischer Forschung an den sieben Schweizer Hochschulen mit Instituten, in denen künstlerische Forschung erfolgt, wie auch mit einzelnen Künstlerinnen und Künstlern, die im Kontext künstlerischer Forschung arbeiten und forschen (s. Homepage des SARN). Auch in Deutschland etabliert sich die künstlerische Forschung an den Hochschulen. 2018 wurde in Berlin die Gesellschaft für künstlerische Forschung in Deutschland (gkfd) gegründet und bezeichnet sich als »Ort des Austauschs über die spezifischen Formen und Verfahren der künstlerischen Forschung sowie der Reflexion auf die zunehmende Bedeutung von Kunst für das Wissen in der Gesellschaft« (Gesellschaft für künstlerische Forschung in Deutschland o.J.: o.S.). In seinem Papier Empfehlungen zur postgraduellen Qualifikationsphase an Musik- und Kunsthochschulen aus dem Jahr 2021 diskutiert der Wissenschaftsrat das Für und Wider eines neuen akademischen Grades in der postgradualen Phase, der die hybride Stellung zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem

Suchen – Finden – Eintauchen – Erkennen

Forschen abbildet, und erwägt die Einführung des Dr. artis oder Ph.D in Arts (vgl. Wissenschaftsrat 2021: 91-95).

Weitere Aussichten Vor dem Hintergrund dieser dynamischen Entwicklung bleibt der Blick auf die Konturierung und weitere Entwicklung künstlerischer Forschung sowie ihr Heraustreten aus dem reinen Kunstkontext spannend. Sehen auch einige Autorinnen und Autoren in der Etablierung von künstlerischer Forschung im universitären Kontext die Gefahr einer Institutionalisierung und Nutzbarmachung für den angewandten Bereich (Bippus 2009: 10), so lässt sich doch in einer Verknüpfung von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung ein multiperspektivistischerer Blick auf Forschungsgegenstände wie auch auf wissenschaftliche Methodik erhoffen, denn künstlerische Arbeit bewirkt nach Thomas Lehnerer (1994: 152), »dass Menschen, Kulturformen und Institutionen mit unvorhersehbarem Neuen, Fremden, mit Differenz konfrontiert werden«. Dabei erfolgt in Prozessen künstlerischer Forschung keine Angleichung an wissenschaftliche Verfahren oder Methoden, sondern ein dritter Weg, zwischen Kunst und Wissenschaft, wie Florian Dombois (2006) formuliert: Das bedeutet, dass in einer »Kunst als Forschung« nicht wissenschaftliche Artikel, sondern Bilder, Kompositionen, Theaterstücke oder Filme etc. als Forschungsergebnisse und Träger des Wissens rangieren. Von dieser medialen Öffnung darf man sich […] eine Verbreiterung des Erkennbaren versprechen; zum sprachlich Fassbaren treten andere Formen der Darstellung und das Medium wird selbst zum Bedeutungsträger. Das offene System der Erkenntnis der abendländischen Wissenschaften erhält also durch die »Kunst als Forschung« eine neue Dimension. Statt das zu Verallgemeinernde und zu Systematisierende anzustreben, liegt ihr Fokus also auf dem Besonderen, statt auf dem Eindeutigen auf der Mehrdeutigkeit. In dem Sinne kann wissenschaftliche Forschung von künstlerischer Forschung im Sinne einer Perspektiverweiterung profitieren: Anstatt um das analytische Bestreben der Disjunktion, der Zerteilung und Auflösung wie der Statuierung von Differenzen, die die Phänomene klassifizierbar und bestimmbar machen, geht es der Kunst um Konjunktionen, um das gleichermaßen trennende wie verbindende »Und«, das auf provisorische

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Synthesen zielt und noch das Unwahrscheinliche vereint, sowie um situative Interventionen, die die im Spiel befindlichen Elemente herausfordern und buchstäblich gegen den Strich bürsten. (Mersch 2009: 38) Von diesem theoretischen Exkurs zur künstlerischen Forschung als epistemische Praxis soll abschließend der Blick zurück auf die Arbeit und Vorgehensweise von Marlon Roth gelenkt werden. Die Vereinigung von Unwahrscheinlichem und die provisorischen Synthesen, die Mersch als Charakteristika des Künstlerischen nennt, finden sich auch in dem Nebeneinander des orangen, abgenutzten Rettungskragen, der einen deutlichen Kellergeruch ausströmt, Tapetenresten, erzählten Geschichten und einem Spielzeugauto. Die von Roth ausgewählten Dinge, Texte und Bilder fügen sich zu einem multisensuellen Geflecht aus architektonischen, historischen, sozialen und subjektbezogenen Aspekten von Gut Oheimb. Anhand der Dinge und ihrer Abnutzungsspuren, der Bild- und Textzeugnisse, konstruieren die Rezipientinnen und Rezipienten ein jeweils eigenes Bild von dem Haus und seiner Geschichte und erleben so – wie der Forscher selbst – eine Art von subjektivem Erkenntnisgewinn. Nach Bippus entspricht dieser Prozess einer künstlerischen Forschung, denn er »aktiviert die Betrachter und Betrachterinnen, fordert deren Neugierde heraus und provoziert sie zu einem Forschen im Sinn eines Erkundens, Nachspürens und Ermittelns.« (Bippus 2009: 16) Diese Art des Forschens läuft der Autorin nach auf kein Ergebnis hinaus, sondern »bietet sich selbst als ein Instrument dar, mit dem man sich eine Aktivität des Erforschens aneignet« (ebd.). Die Unbestimmtheit, Subjektivität und Uneindeutigkeit des Wissens, das diese Forschung generiert, disqualifiziert sie für viele in unserem szientistisch geprägten Weltbild als valide, wissenschaftliche Forschungspraxis. Dennoch war für Marlon Roth die skizzierte ästhetisch-forschende Auseinandersetzung mit Gut Oheimb unbestreitbar mit einem intensiven und nachhaltig prägenden Erkenntnisprozess verbunden, der für sein späteres kunstpädagogisches Handeln produktiv werden kann. So sieht Kämpf-Jansen das Potenzial künstlerischer Forschung im kunstpädagogischen Bereich unter anderem darin, dass sich [e]rst wenn alles Gelebte und Erfahrene psychisch wie auch leiblich-körperlich spürbar durch einen hindurch gegangen ist, […] von einer pädagogischen Kompetenz sprechen [lässt]. Dann ist es möglich, auf Grund eigener Erfahrungen anderen ähnliche Erfahrungsräume zu öffnen, damit auch sie für sich die Vielfalt der Dinge und Sachverhalte wie die vielfältigen Weisen des Erlebens und Handelns begreifen. (Kämpf-Jansen 2012: 262)

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Die Auffassung Kämpf-Jansens spiegelt auch Charakteristika von Petra Kathkes kunstpädagogischer Lehre, wie z.B. die Überzeugung von der Bedeutung vielfältiger Erfahrungsräume als Grundlage für die Entwicklung einer kunstpädagogisch und künstlerisch denkenden Persönlichkeit. Intensive Phasen ästhetischer Erfahrung sieht Kathke ebenfalls als bedeutsam zur Ausbildung eines »kritischen und schöpferischen Verhältnisses zur Welt« (Kathke 2007: 228) und als einen »unverzichtbaren Baustein in einem erweiterten Bildungskonzept« (ebd.), das nicht allein auf kognitive Erkenntnis ausgerichtet ist. Die Bedeutung künstlerischen Lernens und das Potenzial künstlerischer Forschung als Erkenntnisinstrument im Kontext von Schule und Hochschule wird von ihr auch theoretisch diskutiert (vgl. Busch und Kathke 2017, Kathke 2019, Kathke 2020). Als räumliche Versinnbildlichung und Verkörperung ihrer Auffassung von kunstpädagogischer Lehre kann die Kunstwerkstatt gesehen werden, die sie an der Universität Bielefeld aufgebaut hat und die für Studierende (und Schülerinnen und Schüler) zu einem sinnlich anregenden Ort der Begegnung mit Artefakten, wissenschaftlichen Texten, des Austausches und von künstlerischem wie kunstpädagogischem Handeln geworden ist.

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Das Schweigen der Dinge Vom ästhetischen Bildungspotential verlassener Orte Johannes Voit

Verlassene Orte, oft auch als Lost Places bezeichnet, üben aufgrund ihrer ganz besonderen Atmosphäre eine große Faszination aus. Zahlreiche professionelle und Amateur-Fotograf*innen haben sich – durchaus in der Tradition der Romantik, die Ruinen als Bildsymbol für Todessehnsucht und die Vergänglichkeit irdischer Werte schätzte – der Dokumentation von im Verfall begriffenen Gebäuden verschrieben und eine beachtliche Reihe äußerst erfolgreicher Bildbände und Fotokalender veröffentlicht. Auf Instagram finden sich unter dem Hashtag #lostplaces inzwischen mehr als 3 Millionen Einträge, unter #verlasseneorte immerhin 707.000. Auch Regisseur*innen haben sich immer wieder für verlassene Orte interessiert, nicht selten liefern diese die geheimnisvolle Kulisse für atmosphärisch dichte Horrorfilme, etwa der verlassene Jahrmarkt in Carnival of Souls (USA 1962, R.: Herk Harvey), der düstere Landsitz »Hill House« in The Haunting (USA/UK 1963, R.: Robert Wise) oder das in die Jahre gekommene Luxushotel in The Shining (UK/USA 1980, R.: Stanley Kubrick). Die eigentümliche Atmosphäre dieser Orte erklärt sich wohl auch dadurch, dass sie zwar verlassen, aber keineswegs leer sind. So lassen in der Regel zahlreiche zurückgelassene Gegenstände auf die Geschichte der Gebäude und ihrer ehemaligen Bewohner*innen schließen, während andere Spuren wie Graffiti an den Wänden oder Hinterlassenschaften von Wildtieren auf Eindringlinge verweisen, die sich zwischenzeitlich der Räume bemächtigt haben. Die Szenerie stellt die Betrachter*innen vor viele Fragen: Welchem Zweck dienten die Räume früher und wer hat sich in ihnen aufgehalten? Warum haben die Bewohner*innen den Ort verlassen? Warum haben sie die noch vorhandenen Dinge zurückgelassen, während sie andere mitnahmen? Ein wesentlicher Teil der besonderen Atmosphäre solcher Orte liegt auch in ihrer spezifischen Klanglichkeit begründet. So ist es gerade die frappie-

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rende Stille, die den Besucher*innen verlassener Orte unmissverständlich vor Ohren führt, dass dieser Ort nicht mehr belebt ist, dass die hier zurückgelassenen Dinge nicht mehr benutzt werden. Es ist daher keine neutrale Stille, sondern eine – je nach Situation – melancholische, trügerische, furchteinflößende, morbide oder surreale Stille, die jedes Geräusch umso deutlicher hervortreten lässt. So sind es in The Haunting, in dem der Regisseur komplett auf visuelle Schockeffekte verzichtet, gerade die unerklärlichen, plötzlich auftretenden Geräusche, die den Gruseleffekt bewirken. Doch jenseits vordergründiger Gruseleffekte lassen sich in der Stille verlassener Orte Klangwelten entdecken, die sich erst beim genauen Hinhören offenbaren: die Geräusche, die der morsche Boden unter den Füßen des Eindringlings macht, die Klänge der Natur, die durch das verfallende Gemäuer nach innen dringen, oder die Geschichten der zurückgelassenen Dinge und ihrer ehemaligen Besitzer*innen, die darauf warten, wieder erzählt zu werden. Im folgenden Beitrag werden zunächst phänomenologische Überlegungen zur Stille im Allgemeinen und im Besonderen in musikalischen Zusammenhängen angestellt, ehe das eigentümliche Phänomen der Stille an verlassenen Orten diskutiert wird. Abschließend werden Möglichkeiten aufgezeigt, ästhetische Bildungsprozesse mit Jugendlichen zu initiieren, in denen das Klangpotential verlassener Orte und der dort zurückgelassenen Dinge zum Ausgangspunkt eigener musikalisch-künstlerischer Gestaltungsprozesse wird.

Stille als materia secunda1 Absolute Stille ist unter den auf der Erde herrschenden atmosphärischen Bedingungen nicht möglich. Sobald die Klänge, die wir üblicherweise in unserem Alltag hören, verstummen, enthüllen sich andere unserer Wahrnehmung. So berichtet der US-amerikanische Komponist John Cage nach seinem Besuch einer ›anechoic chamber‹: »I heard two sounds, one high and one low. When I described them to the engineer in charge, he informed me that the high one was my nervous system in operation, the low one my blood in circulation.« (Cage 2010: 8) Es wird deutlich, dass es sich bei Stille nicht um die vollständige Abwesenheit von Klängen handelt, sondern um einen akustischen 1

Im folgenden Kapitel werden einige Ergebnisse einer andernorts publizierten ontologischen Studie (Voit 2022) vorgestellt.

Das Schweigen der Dinge

Zustand, den wir als still erleben, weil Klänge, die im Hier und Jetzt erwartbar wären, fehlen und dadurch ggf. Klänge wahrnehmbar sind, die üblicherweise von anderen Klängen verdeckt werden. Stille scheint zudem eine Eigenschaft zu sein, die wir einem bestimmten Objekt oder einem Ort zuschreiben, das bzw. den wir üblicherweise mit Klängen verbinden, das bzw. der in diesem Moment aber keine Klänge emittiert. Ähnlich wie »der Geigenton […] nicht nur gehört«, sondern »auch als Ton der Geige aufgefaßt« (Husserl 1991: 66) wird, nehmen wir die Stille als spezifische Qualität bestimmter Objekte wahr, die zwar nicht als »materialisierende«, aber doch als »anhängende Bestimmtheit […]« (ebd.: 67) gewissermaßen eine »materia secunda« (ebd.: 67) ausmacht. Wenn der Wanderer in Wilhelm Müllers Textvorlage zu Schuberts Winterreise (1827) fragt: »Der du so lustig rauschtest, Du heller, wilder Fluß, Wie still bist du geworden«, nimmt er die Stille des Flusses wahr, den er in seiner Erinnerung mit Klängen lustigen Rauschens verbindet, die nun allerdings aufgrund der winterlichen Eisdecke nicht zu hören sind. Selbst die Aussage in Theodor Storms Gedicht Abseits (1847) »Es ist so still«, die zunächst eine absolute Stille zu beschreiben scheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine relative, denn später heißt es: »Die Vögel schwirren aus dem Kraut – Die Luft ist voller Lerchenlaut.« Die Laute der Lerche scheinen das Gefühl der Stille also nicht zu stören, sondern – im Gegenteil – die Stille erst zum Erscheinen zu bringen. Dies korrespondiert mit unserer Alltagserfahrung, in der gerade Naturgeräusche, die üblicherweise von den Klängen des Alltags (insbesondere im urbanen Umfeld) überlagert sind, das Gefühl von Stille erzeugen, indem sie sich zeigen und damit auf die Abwesenheit der (lauteren) Klänge verweisen, von denen sie üblicherweise überdeckt werden. So vermochte Cage die von seinem Blutkreislauf erzeugten Geräusche nur wahrzunehmen, weil die Klänge, die sonst unser Ohr im Alltag in Beschlag nehmen, im schalltoten Raum plötzlich weggefallen sind. Die unerträgliche und bedrückende Stille am Beginn von Ingmar Bergmanns Film Das Schweigen (S 1963) wird durch das Ticken einer Uhr (im Vorspann) und das monotone Surren des Zuges (in der Anfangsszene im Abteil) nicht übertönt, sondern tritt – im Gegenteil – noch deutlicher hervor. Auch in der Musik haben wir es mit einer relativen Stille zu tun: So richtet sich ein Pausenzeichen im Notentext – ebenso wie die Spielanweisung tacet – an einen oder mehrere Spieler*innen, die im jeweiligen Moment nicht zu spielen haben. Es gehört zu den Grundregeln der Instrumentierung, dass während eines leisen Geigen-Solos laute Orchesterinstrumente wie Blechblä-

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ser eher schweigen, damit die zarten Klänge zum Erscheinen gebracht werden. Die Klangerzeuger, die in diesem Moment Pause haben, hören deswegen freilich nicht auf, Klangerzeuger zu sein; sie befinden sich in diesem Moment lediglich im ereignishaften Modus des Nicht-Klingens. Das Vermögen zu erklingen ist ihnen zu eigen, auch wenn es temporär nicht zur Vollendung kommt; denn »was als vermögend bezeichnet wird, das hat gleicherweise das Vermögen zu dem Entgegengesetzten« (Aristoteles 2009: 131) – in unserem Fall: zum Nicht-Klingen. Bei den Klangeigenschaften handelt es sich, um Bayreuthers ontologische Unterscheidung aufzugreifen, somit nicht um pauschale, das Objekt als Ganzes betreffende Eigenschaften, sondern um partikulare Eigenschaften, die sich lediglich auf einzelne Aspekte des Objekts beziehen und nur in bestimmten Momenten in Erscheinung treten (vgl. Bayreuther 2019: 21ff.). Als Beispiel nennt er ein Motorrad des Typs BMW R75/5, dessen mal knatternder und mal blubbernder Klang zwar als charakteristisch für das Motorrad wahrgenommen wird, der aber auch nicht erforderlich ist, um es als solches zu konstituieren. So wird der Klang nur dann wahrnehmbar, wenn sich das Motorrad im Modus des Fahrens befindet. Steht es stattdessen in der Garage, hört es keineswegs auf ein Motorrad zu sein, auch wenn der charakteristische Klang nicht in Erscheinung tritt (vgl. Bayreuther 2019: 21ff.). Dies gilt auch für Musikinstrumente – obwohl sie eigens zum Zweck der Klangerzeugung konstruiert und gebaut wurden –, da auch hier ihr Klingen oder Nicht-Klingen vom jeweiligen Modus abhängt, also von der Frage, ob das Instrument im jeweiligen Moment gespielt wird oder ob es schweigt, etwa weil es in der Reparatur ist, weil ein Pausenzeichen im Notentext einen Moment der Stille vorschreibt oder weil sein*e Besitzer*in gerade einer anderen Beschäftigung nachgeht. Da wir Musikinstrumente und andere Klangerzeuger (wie die erwähnte BMW) aber mit ihren jeweils charakteristischen Klängen, die wir aus der Erfahrung kennen, assoziieren, ist ihr Klangpotential für uns auch dann präsent, wenn sie gerade nicht erklingen. Diesen Effekt hat sich der bildende Künstler Joseph Beuys in einigen seiner Plastiken, die Geisenberger deswegen auch als »Hörplastiken‹« (Geisenberger 1999: 29) bezeichnet, zunutze gemacht: So wird ein Konzertflügel in seiner Aktion Infiltration-Homogen (1966) durch das Überziehen einer Filzhaut unspielbar – und damit zum Schweigen gebracht (siehe Abb. 1): »Der Flügel ist stumm, aber gleichzeitig speichert er ein Klangdepot, das man durch genaues Hinhören sieht, durch aufmerksames Sehen hört« (Geisenberger 1999: 37).

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Abb. 1: Beuys: Infiltration-Homogen

Quelle: Schneede 1994: 116

Die Skulptur schließt gewissermaßen den Modus des Nicht-Klingens durch den Verweis auf das Klangpotential des Flügels ein und schafft so einen Zustand der wahrnehmbaren Stille.2 Indem Beuys den Flügel als »Inbegriff repräsentativer bürgerlicher Kultur […] von seinen denaturierten Aufgaben symbolisch entbunden« hat, hat er ihn »im gleichen Moment für neue Möglichkeiten präpariert, die in seinem ›Klangdepot‹ angelegt sind und die aktiviert gehören« (Schneede 1994: 113).

Stille als Zeitobjekt Will man die jeweils spezifische akustische Erscheinung der oben beschriebenen Momente der Stille fassen, hilft es, zum Zwecke der Analyse von der Stille als Eigenschaft von Objekten abzusehen und sie, den Überlegungen Husserls

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Im zweiten Teil der Performance schrieb Beuys den folgenden Text auf eine Schultafel: »IN DAS ZIMMER DES CONTERGANKINDES EINGEDRUNGEN HILFT IHM MUSIK DER VERGANGENHEIT???????« (zit. n. Schneede 1994: 112) und machte damit auf die Sprachlosigkeit bürgerlicher Kultur angesichts des Schicksals tausender Kinder aufmerksam, die schwere körperliche Behinderungen erlitten, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft das Medikament Contergan eingenommen hatten.

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zum Zeitbewusstsein folgend, als »Zeitobjekte« zu betrachten, »die nicht nur Einheiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich enthalten« (Husserl 2013: 25) und »die sich über eine Dauer erstrecken, sie in kontinuierlicher Gleichheit (wie unveränderte Dinge) oder ständig wechselnd (z.B. dingliche Vorgänge, Bewegung, Veränderung und dgl.) erfüllen« (Husserl 2013: 24). Ähnlich wie uns ein räumliches Objekt »inmitten einer bestimmten anschaulichen Dingumgebung« (Husserl 1991: 80) »vor Augen steht« (ebd.), so erscheint uns ein Zeitobjekt stets eingebettet in andere Objekte, schließlich ist »das wahrgenommene ›Etwas‹ immer inmitten von etwas anderem, es ist immer Teil eines ›Feldes‹« (Merleau-Ponty 1966: 22). Im Falle der Stille nun hebt sich das Zeitobjekt insofern aus unserem Bewusstseinsstrom heraus, als es entweder leiser ist als die Zeitobjekte davor und danach, oder die Klänge vermissen lässt, die wir (an diesem Ort bzw. in Gegenwart bestimmter Objekte) üblicherweise erwarten würden. Das Soundscape des Waldes erscheint nur dem Städter während seines Sonntagsausflugs als still, da er das ständige Rauschen des Verkehrs gewohnt ist und seine Sinne nicht für die vielfältigen Klänge der Natur sensibilisiert sind. Die Pause zwischen zwei Sätzen einer Symphonie erscheint der Konzertgängerin trotz des Tuschelns, Räusperns, Hustens und Raschelns von Bonbon-Papieren um sie herum aufgrund der Unterbrechung des musikalischen Geschehens, die dieses Zeitobjekt konstituiert, als Stille. Dass Momente der Stille in Form von Pausen seit jeher Bestandteil von Musik sind, ist offensichtlich, ermöglichen sie doch das Atemholen und stellen so – insbesondere im Falle der Vokalmusik – eine physiologische Notwendigkeit dar. Doch erst die Einführung quantifizierter Stille in Form von Pausenzeichen in der musikalischen Notation des 13. Jahrhunderts ermöglichte den bewussten kompositorischen Umgang und die vielfältigen künstlerischen Verwendungen von Stille in der westlichen Kunstmusik (vgl. Hornby 2007: 141). Seither setzen Komponist*innen Pausen für eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen ein. Dabei machen sie sich etwa deren strukturierende Wirkung zu eigen, mit der sie – wie ein Komma oder Punkt in der geschriebenen Sprache – musikalische Phrasen voneinander trennen (grammatikalische Funktion). Darüber hinaus hat Athanasius Kircher bereits 1650 auf die rhetorischen Qualitäten der Pause hingewiesen, die etwa als Suspiratio »Affekte des stöhnenden und seufzenden Geistes ausdrücken« (zit.n. Krones 2018: 67) oder durch das plötzliche Abbrechen einer musikalischen Phrase in Form einer »Repentina abruptio« auf das Verstummen oder den Tod ver-

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weisen kann (vgl. Krones 2018: 67). Doch auch andere metaphorische Deutungen sind in der Musikgeschichte zu finden, so nennt Krones etwa »Seufzen und Trauern«, »innere Unruhe oder Erschrecken«, »›positive Seufzer-Pausen« oder auch »Atemlosigkeit durch Anstrengung« (ebd.: 71ff.). Einen Höhepunkt im Umgang mit Stille erreichten Komponist*innen des 20. und 21. Jahrhunderts, die Stille nicht nur im Sinne einer Pause als kurze Unterbrechung des musikalischen Verlaufs, sondern als gleichberechtigtes kompositorisches Material neben Tönen und Geräuschen einsetzten. Martin Zenck meint gar, einen »Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille« auszumachen, der dazu führe, dass Musik seit dem späten neunzehnten Jahrhundert »nicht mehr vom Klang aus und auf den Klang hin entworfen, sondern von der Abwesenheit des Klangs, vom Schweigen, von der Stille, von den sogenannten ›Silences‹ in ihren verschiedenen Daseinsformen« (Zenck 1994: 16) aus gedacht werde. Am konsequentesten hat wohl John Cage diesen Paradigmenwechsel vollzogen, der Stille selbst zur Musik erklärte: In seiner berühmten Komposition 4’33” (1952), geschrieben »for any instrument or combination of instruments«, erklingt bekanntlich kein einziger von Musiker*innen absichtlich erzeugter Ton. Und doch gestaltet Cage die Art und Weise, wie diese Stille als musikalisches Zeitobjekt wahrgenommen wird, sehr bewusst. Zum einen unterteilt er das Werk in drei Sätze und wählt damit eine klassische Form, die auf die musikalische Tradition verweist und das Werk klar strukturiert, auch wenn die »Pausen« zwischen den Sätzen freilich akustisch nicht wahrnehmbar sind. Zum anderen verweisen die Instrumente mit ihrem jeweiligen Klangpotential und der Konzertsaal selbst auf einen musikalischen Kontext, wie Voegelin betont: In the concert hall Cage’s 4'33" is musical silence, and as such any sound heard is practised in relation to the expectations and conventions of musical performance and musical listening. (Voegelin 2010: 81) Indem Cage mit den Mitteln, die ihm als Komponist zur Verfügung stehen, Stille als ein Zeitobjekt durch Festlegung der Dauer und des Rahmens definiert, macht er sie der musikalischen Wahrnehmung zugänglich und stellt sie gleichzeitig in einen historisch und kulturell aufgeladenen Kontext. Was sich allerdings im konkreten Moment der Aufführung dem Publikum zeigt, ist weitgehend unbestimmt. So ist es denkbar, dass Hörer*innen, insbesondere wenn sie das Werk noch nicht kennen, auf den Einsatz des auf der Bühne sichtbaren Klaviers warten und dessen Klang aufgrund seines aus früheren Hörerfahrungen bekannten Klangpotentials bereits präsent haben. Es ist

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ebenso denkbar, dass sie – aus einer enttäuschten Erwartungshaltung heraus – ihrer Verärgerung lautstark Ausdruck verleihen. Es ist auch möglich, dass sie die Stille als Gelegenheit für Meditation und Kontemplation nutzen. So oder so wird das, was sie wahrnehmen, keine absolute Stille sein. Obwohl Konzerthäuser wohl zweifelsohne zu den stillsten Orten im urbanen Raum zählen, sind Geräusche wie das Rascheln der Kleidung, das Brummen der Saaltechnik, gelegentliches Husten oder Räuspern und vielleicht auch gesprochene Sprache, Klatschen etc. stets hörbar. Diese akustischen Ereignisse, die sonst ausgeblendet oder als Störungen der musikalischen Aufführung wahrgenommen werden, rücken hier plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil ihnen die Stille im Sinne eines Nicht-Klingens der Instrumente den Raum dafür öffnet. Und bei jeder Aufführung des Stücks wird die akustische Erscheinung eine völlig andere sein. Somit ist Cages Komposition auch ein Beispiel für die Einbeziehung des Zufalls in den kompositorischen Prozess, mit dem er zeitlebens experimentiert hat. Stille meint hier also nicht das Fehlen von Klängen, sondern das Fehlen von kompositorisch festgelegten Klängen, das die Ohren öffnet für die Geräusche, die immer schon da waren und die uns tagtäglich unbemerkt umgeben.

Die Stille verlassener Orte Auch bei der Stille, die sich auf den Fotografien verlassener Orte, wie jenen von Marlon Roth (siehe S. 207), vermittelt, handelt es sich nicht notwendigerweise um eine absolute Stille. So ist es für die Betrachter*innen, die sich nicht weiter mit dem Kunstprojekt beschäftigt haben und die das von Roth fotografisch dokumentierte Gut Oheimb nicht von eigenen Besuchen kennen, keineswegs ersichtlich, ob sich das ehemalige Herrenhaus in großer Abgeschiedenheit oder aber in der Nähe einer vielbefahrenen Straße oder vielleicht sogar in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens befindet. Tatsächlich gibt es in der Regel auch an verlassenen Orten allerhand zu hören, insbesondere wenn Fenster, Türen und Dach morsch werden und den Innenraum des Gebäudes nicht mehr vor den von außen eindringenden Klängen von Natur und Zivilisation abschirmen können. Wie unterschiedlich die ›Stille‹ verlassener Orte klingen kann, lässt sich an den Soundscapes nachvollziehen, die der Komponist und Medienkünstler Gisle Martens Meyer im Rahmen seines Projekts Sonotopia gesammelt hat (vgl. Meyer 2021).

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Wie still es im Inneren des hier fotografisch dokumentierten Guts Oheimb tatsächlich ist, lässt sich also beim Betrachten der Fotografien nicht mit Bestimmtheit sagen. Trotzdem strahlen die Bilder eine große Ruhe aus. Das liegt daran, dass sich sowohl das Haus als auch die darin befindlichen Dinge augenscheinlich in einem Zustand befinden, der darauf schließen lässt, dass der Ort schon lange nicht mehr bewohnt wird, dass schon lange niemand die knarzenden Treppenstufen emporgeschritten ist, die quietschenden Fensterläden geöffnet oder krachend die Tür ins Schloss hat fallen lassen. Die auf dem Foto sichtbaren, zurückgelassenen Dinge befinden sich im Modus des Nicht-Klingens, oder anders ausgedrückt: Die wahrgenommene Stille scheint den auf der Fotografie dargestellten Objekten als Bestimmtheit anzuhängen. Es ist die Stille der Dinge und des sie umgebenden Raumes, die sich durch die Fotografie vermittelt. Trotzdem fällt es uns leicht, Geräusche zu assoziieren, da den sichtbaren Dingen ein jeweils spezifisches Klangpotential zu eigen ist: So haben wir die Erfahrung gemacht, dass alte Holztreppen knarzen und dass verwitterte Fensterläden, deren Scharniere lange nicht geölt wurden, quietschen. Es wird einerseits deutlich, dass das Klangpotential eng mit der Materialität der Dinge verknüpft ist und andererseits, dass sich die besondere Qualität der Stille gerade aus diesem spezifischen Klangpotential der Dinge speist. So vermag sich die eigentümliche stille Atmosphäre gerade deswegen einzustellen, weil das Vermögen der Treppe zu knarzen und der Fensterläden zu quietschen augenscheinlich nicht zur Vollendung kommt. Auch wenn derzeit ungewiss ist, ob das dem Verfall geweihte Gut Oheimb je wieder restauriert und durch die Klänge von lachenden, streitenden, lärmenden und musizierenden Bewohner*innen zum Leben erweckt wird, so steht außer Frage, dass es in seiner mehr als 300-jährigen wechselhaften Geschichte lebhaftere Tage gesehen hat. So diente das Herrenhaus unter anderem als Wohnhaus, Lazarett, Privatklinik, Mütterkurheim, Seniorenheim und Asylbewerberheim. Wer sich auf Spurensuche in den alten Gemäuern begibt, entdeckt auf Schritt und Tritt Dinge, die auf die frühere Verwendung des Gebäudes schließen lassen. Dabei wird jedoch auch deutlich, welche Dinge verschwunden, welche Spuren verwischt und welche Erinnerungen verschüttet sind. Erst die Gespräche mit Zeitzeug*innen und die Recherche im Archiv können die Geschichten des Herrenhauses und seiner Bewohner*innen wieder zum Leben erwecken. Roth hat einige dieser Spuren im Rahmen seiner künstlerischen Forschungsarbeit Das Herrenhaus aufgedeckt und sicht- und hörbar werden lassen (vgl. S. 207).

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Eine solche ästhetische Spurensuche an verlassenen Orten, wie sie hier der junge Künstler vollzogen hat, bietet auch für Kinder und Jugendliche ein reichhaltiges Potential für ästhetische Bildungsprozesse, ob im Kunst- oder Musikunterricht oder in fächerübergreifenden künstlerischen Projekten. Insbesondere die unterschiedlichen Fundstücke mit ihrer jeweils eigenen Materialität und ihren Gebrauchsspuren können dabei zum Ausgangspunkt für Erkundungsprozesse und gestalterische Vorhaben werden, wie Petra Kathke in ihrer wegweisenden Publikation Sinn und Eigensinn des Materials (2019) anschaulich aufgezeigt hat. Im Folgenden soll dieses Potential speziell für musikalische Gestaltungsaufgaben ausgelotet werden. Dabei werden zunächst jeweils Werke ausgewählter Komponist*innen und Klangkünstler*innen vorgestellt, ehe konkrete Anregungen für das musikalische Gestalten mit Laien entwickelt werden. Aufgrund der Komplexität der Projektideen und des damit einhergehenden technischen Aufwands richten sich die Vorschläge eher an Schüler*innen der Sekundarstufe I oder II bzw. an jugendliche oder erwachsene Projektteilnehmer*innen in außerschulischen Kontexten der Kulturvermittlung.

Strategie 1: Klänge sammeln und ordnen Das kunstpädagogische Potential des Sammelns wurde vielfach betont (vgl. Kathke 2019; Heyl und Schäfer 2016). So handelt es sich beim Sammeln einerseits um eine vielseitige künstlerische Praxis (vgl. Arbeiten von Mark Dion, Nikolaus Lang, Martin Parr, Raffael Rheinsberg u.a.), die auch für Menschen ohne künstlerische Ausbildung anschlussfähig ist. Andererseits stellt das Bedürfnis zu sammeln, das bereits Kinder verspüren, eine anthropologische Konstante dar: »Nahezu jedes Kind sammelt.« (Heyl und Schäfer 2016: 8) Auch wenn die in einer Sammlung jeweils getroffene Auswahl für Außenstehende oft rätselhaft bleibt, so ist sie doch Ausdruck der »bewusste[n] Zuwendung zu einem Ausschnitt der Welt der Dinge« (ebd.: 9) durch die sammelnde Person. Für sie ist jedes einzelne Objekt bedeutsam, denn die Fundstücke »repräsentieren ein Stück Erfahrung und sichern das Erlebte. Zugleich ruft jeder Fund das Bild des Fundorts ins Gedächtnis zurück. Fundort und Fundstück bleiben für den Finder aufeinander bezogen.« (Kathke 2019: 196) Beim Sammeln von Klängen handelt es sich um eine pädagogisch weit weniger verbreitete Praxis. Dies mag daran liegen, dass sie einen etwas größeren technischen Aufwand erfordert, auch wenn dieser heute dank tragbarer Audiorekorder und Smartphones auch für Laien beherrschbar geworden ist.

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Für Komponist*innen elektronischer Musik und insbesondere Vertreter*innen der Musique concrète, Acoustic Ecology und des Field Recordings stellt das Aufnehmen und Sammeln von Klängen einen zentralen Teil ihrer Arbeit dar. Auch hier bleiben Fundstück und Fundort aufeinander bezogen, was sich Außenstehenden nicht immer ohne zusätzliche Informationen vermittelt: Die Soundscapes des italienischen Klangkünstlers David Monacchi etwa erscheinen uns beim flüchtigen Hören als idyllische Naturaufnahmen und erweisen sich erst in der eingehenden Beschäftigung als akribische Dokumentation der mit der Vernichtung des Regenwalds einhergehenden Reduzierung der Biodiversität. Indem Monacchi in seinem Projekt Fragments of Extinction (seit 2002) das Verstummen vieler Tierarten hörbar macht, sensibilisiert er die Hörer*innen für diese ökologische Katastrophe: The ongoing ecocide is silencing forever the marvelous choirs of natural sound, the ›eco-symphonies‹ we have not even heard or recorded. (Monacchi o.J.: o. S.) Auch für Sammlungen von Klängen ist das Ordnen unerlässlich, um einen Überblick über die ständig wachsende Zahl an Tonaufnahmen zu behalten. In der Regel sind dafür vorab gebildete, allgemeingültige Kategorien wenig brauchbar. Stattdessen müssen sie während des Sortierens induktiv gebildet und mit Anwachsen der Sammlung immer wieder überprüft, korrigiert und erweitert werden. Ein interessantes Kategoriensystem stammt von dem italienischen futuristischen Maler und Komponisten Luigi Russolo: Inspiriert von den Geräuschwelten der modernen Großstadt konstruierte er um die Wende zum 20. Jahrhundert Geräuscherzeuger (»Intonarumori«), um seine Vorstellungen einer bruitistischen Geräuschmusik zu realisieren. Da die herkömmlichen Instrumentenfamilien in seiner Konzeption eines »futuristischen Orchesters« keinen Platz mehr hatten, unterschied er sechs neue »Familien der Geräusche« (Russolo 2005: 15), um dessen Klangpotential zu kategorisieren: 1)  Brummen Donnern Krachen Prasseln Plumpsen Grollen 2)  Pfeifen Zischen Schnauben 3)  Flüstern Murmeln Brotteln Surren Gurgeln 4)  Kreischen leichtes Knarren Knacken Rascheln Summen Knistern Knattern Scharren 5)  Geräusche, die durch Anschlagen von Metallen, Hölzern, Häuten, Steinen, Keramik etc. erhalten werden.

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6)  Stimmen von Tieren und Menschen: Schreien, Schrillen, Seufzen, Brüllen, Heulen, Lachen, Röcheln, Schluchzen. (Ebd.)

Anregungen für die Praxis Mit einem mobilen Audiorekorder oder Smartphone können die Teilnehmer*innen an verlassenen Orten auf Klangsuche gehen. Dabei versuchen sie möglichst unterschiedliche Klänge im Gebäude und in dessen direkter Umgebung aufzuzeichnen. Wichtig ist dabei, auf eine gute Klangqualität zu achten, d.h. das Aufnahmegerät muss optimal ausgesteuert und möglichst nah an die Klangquelle gebracht werden; draußen ist evtl. ein Windschutz nötig. Zudem muss der richtige Zeitpunkt abgepasst werden, in dem der Klang nicht von anderen Geräuschen überlagert wird. In einem Notizbuch werden direkt nach Erstellen der Aufnahme wichtige Informationen in Form von Feldnotizen festgehalten: Wann und wo wurde der Klang gefunden? Wie war die Wirkung des Klanges vor Ort? Wer oder was hat ihn erzeugt? Ist er immer hörbar oder nur unter bestimmten Umständen? Tritt er im Verbund mit anderen Klängen auf? etc. Anschließend legen die Teilnehmer*innen ein persönliches Klangarchiv auf ihrem Rechner oder Tablet an. Dabei ist auf eine eindeutige Benennung der Dateien zu achten, die auch später noch ein gezieltes Auffinden und Zuordnen zu den Feldnotizen ermöglicht. Das Ordnersystem sollte die jeweils unterschiedlichen Arten von aufgenommenen Klängen widerspiegeln: Welche Kategorien bieten sich an, um die aufgenommenen Klänge zu ordnen?

Strategie 2: Soundscapes (re-)konstruieren Die Atmosphäre eines verlassenen Ortes hängt wesentlich mit den dort wahrnehmbaren Geräuschen zusammen. Es kann daher eine reizvolle Aufgabe sein, die spezifische Atmosphäre mit den vor Ort aufgenommenen Klängen in einer anderen Umgebung nachzubilden. Dabei muss es nicht darum gehen, die akustischen Gegebenheiten möglichst detailgetreu wiederzugeben. Interessanter ist es, die individuelle Wirkung, die der Ort auf den*die jeweilige*n Besucher*in ganz persönlich ausgeübt hat, zu rekonstruieren und ggf. mit musikalischen Mitteln noch zu steigern. Eine ähnliche Relokalisation eines Soundscapes hat etwa der US-amerikanische Klangkünstler Bill Fontana in seiner Installation Entfernte Züge (1984) vorgenommen, die er in den Ruinen des ehemaligen Anhalter Bahnhofs in Berlin realisierte. Das leere Areal hinter der Fassade, auf dem sich einst die

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Bahnhofshalle erhob, hatte für den Künstler eine große akustische Suggestionskraft, so beschrieb er es als »strangely quiet, as if haunted by the sounds of trains and people« (Fontana o. J.: o. S.). Um dieses eigentümliche akustische Potential des Ortes auch für Passant*innen sinnlich erfahrbar werden zu lassen, nahm Fontana das Soundscape des Kölner Hauptbahnhofs auf und transferierte es mittels einer achtkanaligen Soundinstallation in die Ruinen des Anhalter Bahnhofs. Die geschäftigen Geräusche – ein- und ausfahrende Züge, Ansagen, Signale, Schritte von Passagieren – zwischen den Überresten des zerstörten Bahnhofs weckten wohl insbesondere bei älteren Berliner*innen Erinnerungen an das alte Bahnhofsgebäude mitsamt seiner bewegten Geschichte. Dennoch intendierte Fontana keine historische Aufarbeitung der Bahnhofsgeschichte; die Klänge, die er dort abspielte, waren schließlich so nie im Anhalter Bahnhof erklungen. Stattdessen entschied er sich für die Geräuschkulisse eines modernen Bahnhofs, die er in Berlin reproduzierte. Mehr als über eine historische Distanz wurden die Klänge also über eine geographische hinweg transportiert: Von einer westdeutschen Metropole in die Lebenswirklichkeit des geteilten Berlin. Der Ort selbst wurde dabei mit einer zweiten akustischen Realitätsebene überlagert und trat mit ihr in eine spannungsvolle Wechselwirkung.

Anregungen für die Praxis Die Teilnehmer*innen versuchen sich die besondere Atmosphäre des verlassenen Ortes, den sie besucht haben, ins Gedächtnis zu rufen: Was ist ihnen aufgefallen? Welche Klänge sind ihnen in Erinnerung geblieben? Gab es in dem Gebäude verschiedene akustische Zonen, in denen es jeweils anders geklungen hat? Wie haben sie die Gesamtwirkung des Ortes wahrgenommen (hell und freundlich, unheimlich und bedrückend, still und verwunschen etc.)? Anschließend suchen sie in ihrem persönlichen Klangarchiv nach Klängen, mit denen sie diese charakteristische Atmosphäre am besten wiedergeben können. Dabei klopfen sie die Klänge auch auf ihr kompositorisches Potential ab: Welche (flächigen) Klänge eignen sich gut als atmosphärischer Hintergrund? Welche Klänge können (im Loop wiedergegeben) zu rhythmischen Strukturen kombiniert werden? Welche besonderen Klänge können als akustische Einzelereignisse für sich stehen? Für die Kombination der einzelnen Klänge zu einem Soundscape kann eine Digital Audio Workstation (Audacity, Soundtrap etc.) oder eine App (z.B. Pocket Composer) verwendet werden.

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Dabei gilt es einige grundlegende Fragen zur geplanten Aufführungssituation zu bedenken: In welchen Räumlichkeiten erfolgt die Wiedergabe? Welche Wiedergabegeräte werden genutzt und aus wie vielen Tonspuren soll das Soundscape bestehen? Sitzt das Publikum an einem festen Ort oder kann es sich frei durch den Raum bewegen? Hat das Soundscape eine feste Aufführungsdauer mit klarem Anfang und Ende oder wird es in einer Endlos-Schleife wiedergegeben, so dass das Publikum selbst über die Dauer seines Verweilens entscheiden kann? Auch das Verhältnis von Klang und Stille gilt es zu bedenken: Insbesondere wenn es an dem verlassenen Ort recht still war, genügen vielleicht einige wenige, leise Klänge, um die Atmosphäre wieder zum Leben zu erwecken?

Strategie 3: Verborgenes und Verstummtes zum Klingen bringen Ging es in den ersten beiden vorgestellten künstlerischen Strategien darum, Klänge an verlassenen Orten zu sammeln und andernorts zu reproduzieren, so soll nun eine Möglichkeit vorgestellt werden, in den verlassenen Orten selbst durch das gezielte Hinzufügen von Klängen auf verborgene Aspekte in deren Geschichte oder Architektur hinzuweisen. Diese Strategie, durch das Einbringen von Klängen bzw. Klangerzeugern einen neuen Blick auf öffentlich zugängliche Räume zu provozieren, stellt ein subtiles und doch wirkungsvolles Verfahren der Klangkunst dar. Das deutsche Künstler*innen-Duo Roswitha von den Driesch und Jens-Uwe Dyffort etwa setzt sich in seiner Arbeit mit der Geschichte, Architektur und Akustik sowie der sozialen und urbanen Einbindung bestimmter Orte auseinander und versucht, Passant*innen durch behutsame Eingriffe in den öffentlichen Raum für diese Aspekte zu sensibilisieren. In ihrer Installation Punktierte Allee – Donaueschinger Schlosspark (2009) etwa machen die beiden Künstler*innen mit subtilen Mitteln auf die sich durch Nutzung verändernde Landschaftsarchitektur des Schlossparks aufmerksam: Die Hauptallee des Parks, die ursprünglich als lineare Sichtachse auf das Schloss zulief, wurde im Zuge des Bahnhofsneubaus und der Anbindung der Stadt an das Schienennetz verlegt, so dass sie heute bogenförmig durch den Park führt. Wenngleich der ursprüngliche Verlauf der Allee vielfach durch neu gepflanzte Büsche unterbrochen ist, können aufmerksame Besucher*innen ihn hie und da noch erahnen, da einzelne Wege mitunter unvermutet enden und Baumgruppen auf Wiesen an ehemalige Wegführungen erinnern. Die Klanginstallation von Dyffort und von den Driesch zeichnet die ursprüngliche Allee akustisch nach und richtet so den Blick auf die His-

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torizität des Ortes, die bei genauer Betrachtung noch wahrnehmbar ist. 60 der die ursprüngliche Allee säumenden Bäume haben die Künstler*innen mit schwarzen, knopfgroßen Piezo-Lautsprechern markiert, die, angeregt durch elektrische Impulse, leise Klick-Geräusche emittieren. Diese Klänge heben sich aufgrund ihrer elektronischen Erzeugung deutlich von den natürlichen Umgebungsgeräuschen wie Vogelgezwitscher, Windgeräuschen in den Blättern oder Schritten der Passanten ab, ohne sie zu überdecken, und machen den ehemaligen Verlauf der Allee akustisch nachvollziehbar.3

Anregungen für die Praxis Im Rahmen einer umfassenden künstlerischen Forschung beschäftigen sich die Teilnehmer*innen mit der Architektur und der Geschichte des verlassenen Ortes und gestalten eine Klanginstallation im Raum. Neben einer genauen Untersuchung des Gebäudes können dabei auch Interviews von Zeitzeug*innen und Archivbesuche (Gibt es Zeitungsberichte? Sind Grundrisse oder Architektenpläne erhalten?) hilfreich sein, um möglichst viel über die ehemalige Verwendung des Gebäudes zu erfahren. Anschließend suchen die Teilnehmer*innen im Gebäude nach Spuren, die auf diese Vergangenheit verweisen, sich dem*der flüchtigen Betrachter*in aber nicht ohne Weiteres erschließen. Wie kann die Aufmerksamkeit mit akustischen Mitteln auf diese heute unbedeutend wirkenden Dinge und architektonischen Details gelenkt werden? Wurden die Dinge, als sie noch in Benutzung waren, vielleicht mit einem charakteristischen Klang assoziiert? Äußern sich Zeitzeug*innen über die Bedeutung dieser Gegenstände? Finden sich im Archiv relevante Informationen, die sich akustisch aufbereiten lassen? Wie hat ein und derselbe Ort innerhalb des Gebäudes zu unterschiedlichen Zeiten geklungen? Indem die Teilnehmer*innen dem verlassenen Ort Klänge hinzufügen, die an dessen Geschichte erinnern, erwecken sie die zum Schweigen gebrachten Dinge und verstummten Geschichten wieder zum Leben. Dazu platzieren sie Audiowiedergabegeräte (ideal sind kleine Bluetooth-Lautsprecher oder auch historische Audiotechnik wie Kassettenrekorder oder Diktiergeräte) an den Stellen des Raumes, auf die sie die Aufmerksamkeit der Besucher*innen der Installation richten möchten. Dabei achten sie auch auf den Gesamtklang: Sollen alle Klänge gleichzeitig erklingen oder aufeinander folgen? Sind die einzelnen Wiedergabegeräte voneinander akustisch isoliert oder überlagern 3

Eine genauere Beschreibung dieser und weiterer experimenteller raumbezogener Arbeiten von Klangkünstler*innen findet sich bei Voit (2014).

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sich die Klänge? Gibt es eine bestimmte Reihenfolge, in der die Besucher*innen die unterschiedlichen Klänge wahrnehmen sollen? Eine Alternative stellt die Gestaltung der akustischen Umgebung mithilfe einer Augmented-Reality-App (z.B. Fields – Spatial Sound) dar, die es den Nutzer*innen ermöglicht, Klänge gezielt im Raum zu platzieren. Wenn die Besucher*innen der Installation sich dann mit Smartphones und Kopfhörern durch den Raum bewegen, hören sie die Klänge, sobald sie sich dem Ort nähern, dem diese vorab zugewiesen wurden.

Weiterführende Überlegungen Verlassene Orte sind keineswegs nur in ländlichen oder strukturschwachen Regionen zu finden – hier denken wir insbesondere an verlassene Herrenhäuser, Schlösser oder landwirtschaftliche Nutzgebäude wie Scheunen oder Schuppen –, sondern durchaus auch im urbanen Umfeld, etwa in Form von unbewohnten Mietshäusern, leeren Ladenlokalen, verlassenen Fabrikgebäuden oder Lagerhallen. Obwohl sie uns überall begegnen, fallen sie doch eher selten ins Auge. Sich mit den verlassenen Orten und ihrer Geschichte zu beschäftigen, heißt auch, sich mit der Stadtgeschichte und aktuellen sozialen Phänomenen wie dem Strukturwandel, der Gentrifizierung und der Kapitalisierung des Wohnungsmarkts auseinanderzusetzen: Wie kommt es, dass Mietshäuser in bester Innenstadtlage leer stehen? Warum finden sich keine neuen Betreiber*innen für die seit Jahren geschlossene Eckkneipe? Mit den Mitteln der Kunst können Projektteilnehmer*innen diesen Fragen auf den Grund gehen. Dabei muss die künstlerische Forschung sich keineswegs mit der Aufarbeitung der Geschichte verlassener Orte bescheiden, sondern kann durchaus auch in die Zukunft weisen, indem sie Konzepte für die gemeinwohlorientierte Umnutzung von Gebäuden und Quartieren entwickelt, utopische Architekturentwürfe gestaltet oder Zukunftsvisionen für ein achtsames Miteinander aller Vertreter*innen einer Stadtgesellschaft entwirft: Wie müssen Orte gestaltet sein, damit Menschen sich gerne an ihnen aufhalten? Wie klingt die Stadt der Zukunft? Wie können Anwohner*innen bei der Entscheidung über die Gestaltung öffentlicher Plätze beteiligt werden? Um solche Fragen überhaupt stellen zu können, bedarf es jedoch eines entsprechenden Sensoriums, zu dessen Ausbildung ästhetische Bildungsprozesse, die wiederkehrende Übung in ästhetischer Wahrnehmung und ergebnisoffene Erkundungen von Dingen und Orten ins Zentrum rücken, einen

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wertvollen Beitrag leisten können. Die Schwierigkeit, einen neuen Blick auf scheinbar wertlose Fundstücke (und damit auch die mit ihnen verknüpften Fundorte) zu gewinnen, hat Petra Kathke beschrieben: Auf unscheinbare, alte und unbrauchbare Dinge aufmerksam zu werden und ihre materiellen Eigenschaften als sinnliches Angebot zu würdigen, fällt heute nicht leicht, sind es doch in erster Linie Herstellungszweck, Preis, Funktionstüchtigkeit und das von kurzlebigen Trends abhängige Image, die den Wert eines Gegenstandes für den Einzelnen bestimmen. (Kathke 2019: 180) Auch wenn in diesem Beitrag Vorschläge zum genauen Hin-Hören und Gestalten mit Klängen im Zentrum standen, wird deutlich, dass es um ein Wahrnehmen mit allen Sinnen geht. Der im Untertitel formulierte Anspruch einer ästhetischen Bildung darf daher nicht an den Grenzen einzelner Kunstsparten oder Schulfächer haltmachen, sondern muss als Aufforderung verstanden werden, künstlerisches Gestalten, wo immer sich die Möglichkeit dazu bietet, im Rahmen von fächerübergreifenden Projekten zu realisieren. Dabei stellt es sich immer wieder als besonders fruchtbar heraus, künstlerische Strategien aus einem Bereich in andere Bereiche zu übertragen und als Ausgangspunkt für künstlerische Erkundungs- und Gestaltungsprozesse zu nutzen (vgl. etwa die Überlegungen zum »Mapping« bei Busch und Kathke 2017). Damit (angehende) Lehrkräfte und Kulturvermittler*innen in die Lage versetzt werden, solche Prozesse initiieren und begleiten zu können, ist es freilich unerlässlich, dass sie bereits während ihres Studiums wiederholt Gelegenheit hatten, eigene Erfahrungen mit kunstspartenübergreifenden Gestaltungsprozessen zu sammeln. Der unermüdliche Einsatz Petra Kathkes für eine von den Künsten aus gedachte, interdisziplinäre Ausrichtung der Lehramtsausbildung im Fachbereich Kunst- und Musikpädagogik an der Universität Bielefeld kann daher nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Literatur Aristoteles (2009): Metaphysik, Zweiter Halbband: Bücher VII(Z)–XIV(N), übers. v. Hermann Bonitz, 4. Aufl., Hamburg: Meiner. Bayreuther, Rainer (2019): Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs, Bielefeld: transcript.

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Busch, Thomas und Kathke, Petra (2017): Unterwegs mit Karte, Forscherkoffer und Smartphone – Mapping als musikalisch-künstlerische Methode, in: Musik und Unterricht, 126/2017, S. 42-49. Cage, John (2010): Silence. Lectures and Writings, Middletown (Connecticut): Wesleyan University Press. Cage, John (2012): 4’33”, John Cage centennial edition, Leipzig: Edition Peters. Fontana, Bill (o.J.): The Relocation of Ambient Sound: Urban Sound Sculpture, [online] https://www.resoundings.org/Pages/Urban%20Sound%20Sculpt ure.html [04.01.2022]. Geisenberger, Jürgen (1999): Joseph Beuys und die Musik, Marburg: Tectum. Heyl, Thomas und Schäfer, Lutz (2016): Frühe ästhetische Bildung. Mit Kindern künstlerische Wege entdecken, Berlin und Heidelberg: Springer. Hornby, Emma (2007): Preliminary Thoughts About Silence in Early Western Chant, in: Nicky Losseff und Jenny Doctor (Hg.), Silence, Music, Silent Music, London und New York: Routledge, S. 141-154. Husserl, Edmund (1991): Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Hamburg: Meiner. Husserl, Edmund (2013): Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Hamburg: Meiner. Kathke, Petra (2019): Sinn und Eigensinn des Materials. Projekte, Impulse, Aktionen, Weimar: Verlag das Netz. Krones, Hartmut (2018): »Der Tod könnte ausgedrückt werden durch eine Pause« (L. v. Beethoven). Zur Semantik der Pause in der klassischen Musik, in: Friederike Jekat, Sabine Schlüter und Johanna Sommer-Frenzel (Hg.), Dazwischen – Die Pause in Musik und Psychoanalyse. Jahrbuch für Psychoanalyse und Musik, vol. 2, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 65-81. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter. Meyer, Gisle Martens (2021): Lost Places Ambiences And Post Apocalyptic Soundscapes, [online] https://sonotopia.bandcamp.com/ [05.01.2022]. Monacchi, David (o.J.): Fragments of Extinction, [online] https://www.fragm entsofextinction.org/mission/ [03.01.2022]. Müller, Wilhelm (1824): Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Bd. 2, Dessau: C. G. Ackermann. Russolo, Luigi (2005): Die Kunst der Geräusche, Schott: Mainz. Schneede, Uwe M. (1994): Joseph Beuys – Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern-Ruit: Gerd Hatje. Storm, Theodor (2012): Abseits, in: Peter Goldammer (Hg.), Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden, 4. Aufl., Berlin und Weimar: Aufbau.

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Voegelin, Salomé (2010): Listening to Noise and Silence, London: Continuum. Voit, Johannes (2014): Klingende Raumkunst. Imaginäre, reale und virtuelle Räumlichkeit in der Neuen Musik nach 1950, Dresdner Schriften zur Musik, Bd. 2, Marburg: Tectum. Voit, Johannes (2022): … wie diese Stille klingt … Historische, phänomenologische und didaktische Überlegungen zum Verhältnis von Stille und Neuer Musik, in: Markus Brenk und Bernd Englbrecht (Hg.), Handlung – Gestaltung – Bildung. Festschrift für Ortwin Nimczik, Paderborn: Brill/Wilhelm Fink, S. 240-257. Zenck, Martin (1994): Dal niente – Vom Verlöschen der Musik. Zum Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille in der Musik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, in: MusikTexte, 55/1994, S. 15-21.

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Grüße zum Schluss Sabine Falkenhagen

Sehr gut, vielen Dank! Petra … Voila, lg Petra … … Morgengruß, Petra … Liebe Sabine, Tausend Dank, Petra … Liebe zwei, Ich melde mich gleich noch einmal … Ebenfalls Grüße bis Dienstag, Petra … Liebe Sabine, ich rufe gleich noch einmal durch … sieh da! LG, Petra … Liebe alle. Schönen Abend, Petra … Liebe zwei, ich habe nur wenige Anmerkungen, Liebe Grüße, Petra … dann machen wir das gerne so! Liebe Grüße, Petra … Liebe Sabine, magst Du mir bitte das angehängte Schreiben in mein Briefkopfformat einspeisen? Ich sehe mich schon verzweifeln, weil die Unterschriftsformatierung wieder dahin sein wird … Dank und Gruß, Petra … Liebe zwei, Tausend Dank und Grüße bis dahin, Petra … … bitte weiterleiten. Vielen Dank! Abendgruß, Petra … Liebe zwei, Schönen Donnerstag und lieben Gruß, Petra … … es war gestern, sehe ich gerade, … (das schwindende Zeitgefühl!) Zweiter Gruß, Petra … … Abendgrüße, Petra … … passt beides! LG, Petra … … Genau. Super! Vielen Dank, Petra … … Abendgruß an den fernen Morgen, Petra … … wenns gerade nicht zu dicht ist, liebe Sabine, in diesem Sinn einen guten Endspurt und herzliche Grüße. Soweit grüßt und dankt Petra … … stimmt, liebe Sabine – wieder vergessen: Dank und Grüße, Petra … … liebe zwei. Meine letzte Bitte an Euch wäre, …

Autorinnen und Autoren

Manfred Blohm war von 1995 bis 2020 Professor für Bildende Kunst an der Europa-Universität Flensburg, von 2005 bis 2009 hatte er das Amt des Prorektors inne. Zuvor war er elf Jahre als Lehrer an einer Gesamtschule in Hannover tätig und vier Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Essen beschäftigt. Seine Promotion zum Dr. phil. schloss er 1984 bei Gert Selle ab. Markus Büring ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Musikpädagogik an der Universität Bielefeld. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören: kooperatives Lernen, Entwicklung von Aufgabenkultur sowie der Einsatz digitaler Medien im Musikunterricht. Mit Petra Kathke verbinden ihn eine langjährige Zusammenarbeit und interdisziplinäre Projekte wie das Seminar »Töne im Ton«. Uta Czyrnick-Leber ist seit 2011 Studienrätin im Hochschuldienst an der Universität Bielefeld, Abteilung Sportwissenschaft. Ihre Arbeitsschwerpunkte in der Lehre liegen in der Tanzvermittlung und der Choreographie. Gemeinsam mit Petra Kathke und weiteren Kolleg*innen verantwortet sie das fächerübergreifende Modul »Ästhetische Bildung«. Carolin Ehring ist Kunst- und Musiklehrerin an der Hans-Ehrenberg-Schule in Bielefeld und Herausgeberin der Zeitschrift »Grundschule Kunst«. Sie ist ehemalige Doktorandin von Petra Kathke und hat zum Thema »Schnittstellen von Film und Neuer Musik im produktionsorientierten Kunst- und Musikunterricht« promoviert.

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Sabine Falkenhagen ist seit 1996 im Sekretariat des Studienfachs Kunst- und Musikpädagogik tätig. Ihre Zusammenarbeit mit Petra Kathke in den vergangenen elf Jahren ging auf erfreulich vielfältige Art und Weise über die Sekretariatsarbeit hinaus. Rolf Fässer lebt als freischaffender Künstler in Berlin. Er blickt auf eine umfangreiche Ausstellungstätigkeit zurück und wurde für seine Projekte zu Kunst im öffentlichen Raum mehrfach ausgezeichnet. Stationen seiner künstlerischen Lehre sind die Hochschule der Künste Berlin, die Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd und die Universität Bielefeld. Sein Weg ist mit dem von Petra Kathke eng verflochten. Christina Griebel ist – nach ähnlichen Funktionen an der PH Heidelberg und der UdK Berlin von 2008-2011 – seit 2015 Professorin für Kunstdidaktik und Bildungswissenschaft an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe und hat dort die Studiengänge für Künstlerisches Lehramt und Intermediales Gestalten aufgebaut. Gemeinsam mit Petra Kathke, Constanze Rora und Gundel Mattenklott gibt sie die Zeitschrift Ästhetische Bildung (https://www.zaeb.net) heraus. Andreas Heye ist Dipl.-Musiktherapeut, Musikpsychologe (M.Sc.) und Begabungs-Coach (ECHA). Von 2009-2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Begabungsforschung in der Musik (IBFM) an der Universität Paderborn. Seit Ende 2018 ist er Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Bielefeld und lehrt in den Studiengängen Lehramt Musik sowie Kulturvermittlung. Durch fächerübergreifend angelegte Veranstaltungen besteht eine intensive Zusammenarbeit mit Petra Kathke und den Studierenden aus der Musik- und Kunstpädagogik. Katrin Höhne studierte Lehramt an Gymnasien an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe (Malerei/Grafik) und der Universität Heidelberg (Geschichte). Heute ist sie Doktorandin an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und leitet die freie Kunstschule »Gärtnerei« für Kinder und Erwachsene. Lukas Janczik ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld und arbeitet mit Petra Kathke im dortigen Fachbereich Kunst- und Musikpädagogik. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Untersu-

Autorinnen und Autoren

chung von Sichtweisen von Schüler*innen auf Kompositionsprozesse mithilfe prozessbegleitend geführter Portfolios sowie der (Weiter-)Entwicklung von Portfolioimpulsen zur Begleitung von Gestaltungsprozessen. Notburga Karl arbeitet zur Zeit als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Didaktik der Kunst, Universität Bamberg, mit Forschungsschwerpunkten zur Performanz und Responsivität nonverbaler Wissensformen, zu künstlerischer Kunstvermittlung und zu Methoden derer Beforschung. Sie ist zudem als Künstlerin und Kuratorin aktiv. Ihre Promotion 2019 (zum bildhaften Potential der Performances von Joan Jonas) ist neben vielen weiteren Schnittstellen nur ein Ergebnis der wertvollen Zusammenarbeit mit Petra Kathke, der sie die Faszination für induktive Formen des Zeigens verdankt. Knut Kittler ist seit 2017 Studierender der Kunstpädagogik an der Universität Bielefeld und fast ebenso lange im Fachbereich als Hilfskraft tätig. Mit Petra Kathke ist er über die Teilnahme an Seminaren und die alltägliche Arbeit im Fachbereich hinaus durch die Mitarbeit an Projekten an der Schnittstelle zwischen Schule und Universität verbunden. Besonders inspirierend an Petra Kathke findet er ihre Begeisterung für kindliche Herangehensweisen an künstlerische Arbeitsprozesse und ihre Sorgfalt und Leidenschaft im Umgang mit Material. Marie-Luise Lange lehrte von 2000 bis 2021 an der Technischen Universität Dresden Theorie künstlerischer Gestaltung von der Klassischen Moderne bis zur zeitgenössischen Kunst. Ihr Spezialgebiet ist die Theorie und Praxis von Performance Art. Gemeinsam mit Petra Kathke hat sie sowohl an der UdK Berlin zusammen gearbeitet, als auch im Kontext von Veröffentlichungen und Tagungen immer wieder komplexe und gewinnbringende (Fach-)Gespräche geführt. Constanze Rora, Professorin für Musikpädagogik und -didaktik an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig, promovierte zum Thema Musik und Spiel. Sie war von 1995 bis 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin. Dort traf sie Petra Kathke und bot mit ihr gemeinsame Lehrveranstaltungen für den Studienbereich Musisch-Ästhetische Erziehung an. Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine langjährige bis heute andauernde Zusammenarbeit und Freundschaft,

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die sich in gemeinsamen Tagungen und der gemeinsamen Herausgabe der Zeitschrift Ästhetische Bildung (https.//www.zaeb.net) manifestiert. Marlon Roth ist seit 2017 Student der Kunstpädagogik an der Universität Bielefeld. Seit 2018 ist er in diesem Fachbereich für Petra Kathke als wissenschaftliche Hilfskraft tätig, unterstützt im Rahmen dessen diverse Projekte und erstellt Plakate und Flyer für fachinterne und -übergreifende Veranstaltungen. Petra Kathkes besonders praxisorientierte, auf die kindlichen Bedürfnisse fokussierte Sichtweise auf die kunstpädagogischen Tätigkeiten sowie ihre detailverliebte Durchführung von Fortbildungen und Schülerprojekten inspirieren ihn in besonderem Maße. Lutz Schäfer studierte Lehramt an Grundschulen an der Universität Regensburg und Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Karlsruhe. Er promovierte 2005 an der UdK Berlin. Heute ist er Professor für Kunst und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe und leitet dort unter anderem Kunstwerkstätten für Kinder aus der Grundschule und dem Kindergarten. Andrea Schrottenloher ist seit 2002 Sekretärin im Fach Kunst- und Musikpädagogik und schätzt Petra Kathke als empathische und verständnisvolle Vorgesetzte. Sina Schwarma begann 2014, nach ihrem Studium in Grafik- und Kommunikationsdesign, ein Studium an der Universität Bielefeld für das Lehramt an Grundschulen. Mit dem Studium begann sie ihre Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft für Petra Kathke und arbeitete gemeinsam intensiv mit ihr an der »Kinder-Kunst- und Musikwerkstatt«. Auch nach ihrem Studium verbindet sie das Interesse an dem Einsatz neuer Medien im Kunstunterricht. Heike Thienenkamp arbeitet seit 2003 als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fach Kunst- und Musikpädagogik der Universität Bielefeld. Der interdisziplinäre Blick – sowohl in der Verbindung der Kunst zur Biologie wie auch zur Musik – bildet einen Schwerpunkt in ihrer Lehre und Forschung. Mit Petra Kathke verbinden sie eine langjährige, inspirierende und vertrauensvolle Zusammenarbeit und zahlreiche Projekte an der Schnittstelle Schule/ Hochschule wie die Kulturwandertage und die Kinder-Kunst- und Musikwerkstatt, die Petra Kathke ins Leben rief.

Autorinnen und Autoren

Johannes Voit ist seit 2018 Professor für Musikpädagogik und leitet den Studiengang Kulturvermittlung an der Universität Bielefeld. Mit Petra Kathke verbindet ihn das Interesse an interdisziplinären Strategien in den Künsten sowie in der Vermittlung. Diese fächerübergreifende Ausrichtung manifestiert sich im Profil des Fachbereichs Kunst- und Musikpädagogik, das Petra Kathke maßgeblich geprägt hat.

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Pädagogik Tobias Schmohl, Thorsten Philipp (Hg.)

Handbuch Transdisziplinäre Didaktik August 2021, 472 S., kart., Dispersionsbindung, 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-5565-0

Andreas de Bruin

Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5

Andreas Germershausen, Wilfried Kruse

Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können April 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Pädagogik Andreas de Bruin

Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell Februar 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5

Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)

Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna March 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0

Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)

Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4

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