Bildung und Liebe: Interdisziplinäre Perspektiven 9783839443590

What is education if it isn't the question about the human being? Yet what does a concept of education mean that to

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German Pages 412 Year 2018

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Bildung und Liebe: Interdisziplinäre Perspektiven
 9783839443590

Table of contents :
Inhalt
Bildung & Liebe
Kapitel I: Philosophische Annäherungen
Die Liebe und die liebe Bildung
Bildung als Weg gemeinsamen Erkennens
Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie
Nächstenliebe als kommunikativ generierte Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen
Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext
Kapitel II : Bildung ohne Liebe? – Problemanzeigen
Bildung und Liebe – (k)ein Widerspruch(?)
Über den Kältetod in der Empirischen Erziehungswissenschaft
Begehren und Zuschreiben
Bildung exklusive [Liebe]
Kapitel III : Gefährdungen der Liebe und Missbrauch
Liebe als Alibi
Ist Verlass auf die Liebe?
Pädagogische Verantwortung zwischen Eros und Ethos
Viktimisierungssensibilität als Voraussetzung der Verwirklichung einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen
Zwischen Liebe und Verachtung
Kapitel IV: Lieben(d) lernen
Die Ethologie der Kooperation
Aufwachsen in einem Raum von Resonanz
Leid im Bild
»Überall lernt man nur von dem, den man liebt.«
Die bildende (Wirk-)Kraft der Liebe
The Excess of Education, the Praxis of Love
&–Epilog
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Nadja Maria Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.) Bildung und Liebe

Pädagogik

Nadja Maria Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven

Amt der Tiroler Landesregierung/Abteilung Kultur Amt der Vorarlberger Landesregierung/Abteilung Wissenschaft und Weiterbildung Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck Katholisches Bildungswerk Tirol Katholischer Tiroler Lehrerverein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Nadja Maria Köffler & Petra Steinmair-Pösel Korrektorat: Die Herausgeber_innen Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4359-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4359-0 https://doi.org/10.14361/9783839443590 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Bildung & Liebe Ein interdisziplinäres Vorwort von Nadja M. Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer und Peter Stöger | 9

K apitel I: P hilosophische A nnäherungen Die Liebe und die liebe Bildung Eine essayistisch streitschriftliche Summe an Auslassungen Peter Stöger | 23

Bildung als Weg gemeinsamen Erkennens Peter Graf | 43

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie Hans Ernst | 61

Nächstenliebe als kommunikativ generierte Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen Andreas Schiel | 79

Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext Veronika Fischer & Daniel Getzberger | 101

K apitel II: B ildung ohne L iebe ? – P roblemanzeigen Bildung und Liebe – (k)ein Widerspruch (?) Ein Essay über eine unter den gegebenen Umständen paradoxe und schier unmögliche Selbstverständlichkeit Hubert Brenn | 123

Über den Kältetod in der Empirischen Erziehungswissenschaft Oder: Wider die Verdinglichung der Person Sabine Seichter | 141

Begehren und Zuschreiben Phänomene des Lernens und ihre Bedeutung für Bildungsprozesse Johanna Schwarz & Gabriele Rathgeb | 151

Bildung exklusive [Liebe] Ein Essay über Ausklammerungsversuche und kulturhistorische Stilbrüche Thomas Sojer & Nadja M. Köffler | 167

K apitel III: G efährdungen der L iebe und M issbrauch Liebe als Alibi Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Bildungsinstitutionen Peter Mosser | 177

Ist Verlass auf die Liebe? Überlegungen zum Gewaltmissbrauch in katholischen Heimen Walter Schaupp | 203

Pädagogische Verantwortung zwischen Eros und Ethos Von Missbrauchsfällen, Normalisierungsprozessen und einer genuinen Wahrnehmungssensibilität Evi Agostini | 225

Viktimisierungssensibilität als Voraussetzung der Verwirklichung einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen Karin Peter | 241

Zwischen Liebe und Verachtung Die Ambivalenz mimetischen Begehrens und ihre Bedeutung im Bildungskontext Petra Steinmair-Pösel | 263

K apitel IV: L ieben ( d ) lernen Die Ethologie der Kooperation Tit for Tat, Liebe, Geschenk und Gegengeschenk Gregor Kastl | 291

Aufwachsen in einem Raum von Resonanz Ein entwicklungspsychologischer Zugang Helga Kohler-Spiegel | 307

Leid im Bild Medienethische Impulse zur Notwendigkeit ikonografisch her vorgebrachten Mitgefühls im Kontext des Kriegsjournalismus Nadja M. Köffler | 323

»Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« Anmerkungen zur Liebe in pädagogischen Beziehungen Cathrin Reisenauer & Nadine Ulseß-Schurda | 351

Die bildende (Wirk-)Kraft der Liebe Annäherungen an einen Bildungsbegriff im pädagogischen Kontext der Lehrer/innen/bildung Christine Scheuenpflug | 369

The Excess of Education, the Praxis of Love Samuel D. Rocha | 393

&-Epilog Peter Stöger | 401

Autorinnen und Autoren  | 405

Bildung & Liebe Ein interdisziplinäres Vorwort von Nadja M. Köff ler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer und Peter Stöger

Bildung und Liebe liefern ein breites Panorama: von Beziehungen, von Abgründen und Widersprüchen, aber auch von Solidaritäten und Hoffnungen. Die Beiträge laden ein, Bildung und Liebe nüchtern zu sehen. Ob Bildung denn Liebe inkludiere und Liebe die Bildung, daran scheiden sich manche Geister. Was ist der »Umfang«, wenn Bildung und Liebe gleichsam Partitur gelesen werden? Ist ein »Umfang« in Bezug auf ein solches Buch nicht un-umfassbar, ist einen solchen auch nur anzusprechen nicht ärgerlich und müßig? Auf alle Fälle steht ein »Umfassen« dieses Themas außerhalb von Kalkül und Nützlichkeit. Es kommt dem nahe, was manchen Humanwissenschaftlerinnen und Humanwissenschaftlern wenig schmecken will und was von den viel zitierten (und nicht immer respektierten) »einfachen« Menschen »Herzensbildung« genannt wird. Jedenfalls erscheint es uns als Desiderat angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in der Bildungslandschaft. Bildung wie Liebe sind lebens-praktisch. Sie lassen aufleuchten und so stellt sich das Apophainesthai, im Sinne Kierkegaards, als das »Es lässt aufscheinen, wovon die Rede ist« in den Mittelpunkt. Dazu bedarf es der Hoffnungs- wie der Leidensfähigkeit, beide die wohl größten Lernmotoren im Prozess der Menschwerdung. Allemal ist bildend-liebend und liebend-bildend Wertschätzung berührt, wortwörtlich, da es darum geht, welches denn die Werte sind, die wir tatsächlich schätzen und ob das, dem wir Wert zusprechen, auch wirklich bestehend sein kann. Bildung wie Liebe als Wert fragt also, wie sehr und wie tief wir uns von Werten leiten lassen. Diese und andere Versuche von Erkenntnisgewinnung begleiten, dabei an Bricolage, Rhizom und Diffusion nicht vorbeisehend, das Buch. Sie tun es immer in mehr oder weniger großen Spannungsverhältnissen, sind demnach nicht widerspruchsfrei. Damit ist auch schon mitgesagt, dass die Beiträge nicht automatisch die Sichtweise der Herausgeber/innen wiedergeben – auch hier gibt es in manchem durchaus Widerspruch. Das aber ist ein (und nicht der unwichtigste) Part von Bildung und Liebe. Es geht darum, auch andere, widersprüchliche Sichtweisen anzuerkennen und zuzulassen, um gemeinsam auf dem Weg in Richtung einer umfassenderen Sicht zumindest einen kleinen Schritt voranzukommen. Manches erinnert an den urpädagogischen Hebammenberuf der Mutter von Sokrates: Die

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Nadja M. Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer und Peter Stöger

Phänomene Liebe und Bildung sollen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit ans Licht kommen. So geht es darum zwei Begriffe zu befreien. Bildung aus den kapitalistischen Verwertungsindustrien und Liebe aus der Verflüchtigung in Romantizismen. Allemal geht es ein Stück weit um besagte Ernüchterung. Es fehlt ja auch nicht an Stimmen, die die Nüchternheit als den »nutz-losen«, von Gewinn und Spekulation befreiten, Kern von Bildung und Liebe erachten. Im ersten Kapitel Philosophische Annäherungen sind Beiträge gebündelt, die sich in besonderer Weise grund-setzenden und grund-sätzlichen Fragen zu Bildung und Liebe widmen. Es sind Beiträge aus einem philosophischen und anthropologischen Winkel, die auch zahlreiche begriffshistorische Ausflüge erlauben und dabei Dimensionen des Ethischen und Interkulturellen mitberücksichtigen. Einmal mehr wird klar, wie sehr die Bildung und die Liebe, insbesondere in ihrer Verschränkung, mit »Weltbild« verbunden sind. Das Bild von Bildung und das Bild von Liebe berühren auch ein Stück Eigen- und Fremdbild, allemal ein Stück »Die-Welt-Anschauen«. Damit und darin sind in unterschiedlichen Farbtönen, Zugangswegen und Positionierungen, auch in unterschiedlichen Diskurslinien und Folgerungen, die Beiträge von Peter Stöger, Peter Graf, Hans Ernst, Andreas Schiel, Veronika Fischer und Daniel Getzberger zusammengebracht. Peter Stöger eröffnet mit seinem Beitrag Die Liebe und die liebe Bildung – eine essayistisch streitschriftliche Summe an Auslassungen, indem er grundsätzliche Fragen zum Thema Bildung und Liebe stellt. Er schlägt dabei einen Bogen zu philosophischanthropologischen Themen, die Liebe und Bildung zueinander binden. In eben dieser Verbindung erkennt der Autor die Sinnhaftigkeit von Staunen, Dankbarkeit, Ehrfurcht und Nüchternheit als eine Quadriga. Dies beinhaltet eine gesellschaftskritische Betrachtung gegenüber einer Kultur der Gütermehrung und der Vernützlichung von allem und jedem bis hinein in die Kapitalisierung von Bildung und von Liebe. Bildung als »Bankiersprinzip« (Freire), Wissen als verzinsliche Anlage, als »Depot« von Nützlichkeit, ist entropisch, dem negentropischen Gedanken (dem Wachstum zur Liebe: Erich Fromm, Teilhard de Chardin, Igor Caruso) konträr. Dem Tödlichen in Bildung und Liebe stellt Stöger, verbunden mit einigen historischen Exkursen in das alte Griechenland und nach Mexiko (insbesondere zu den Kappadoziern und zu Nezahualcoyotl), Martin Bubers Dialogphilosophie, Thomas von Aquins Liebesbegriff (in der Rezeption bei Helmwart Hierdeis) und die lateinamerikanische Befreiungspädagogik gegenüber. Peter Graf schreibt über Bildung als Weg gemeinsamen Erkennens. Im Nachdenken darüber sieht er das Konzept der Bildung durch wichtige Positionen aus der konstruktivistischen Schule der Kognitionspsychologie, insbesondere bei Maturana, bestätigt. Erkennen kommt, so Graf in dieser Tradition, aus inneren Prozessen der Verarbeitung von Impulsen aus einem Außen. Dabei geschehen kreative Formen der Differenzbearbeitung, zumal das neuronale Netzwerk stetig alle Ebenen des Wahrnehmens fügt und intermittiert. Durch (An-)Sprechen im gemeinschaftlichen Raum erkennen wir mit Graf Bewusstsein, durch Reflexion gestaltet sich ein inneres Selbst. Solcher Art ist für den Autor Bildung, zumal in der unterrichtlichen

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Form, eine Wegbegleitung in einem offenen Procedere. Damit tut sich ein Raum für relationales personalisiertes Lernen auf. Grafs geisteswissenschaftlich orientierte Diskursführung zur Liebe ist daran geknüpft. Er stellt sie erstrangig über Bubers »Ich-Du-Philosophie« her, deren dialogische Programmatik »Der Mensch wird am Du zum Ich« lautet. Hans Ernst stellt seinen Beitrag unter den Titel Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie. Er lädt ein, den Blick auf die Bildung und auf die Liebe phänomenologisch unter dem Gesichtspunkt der ethischen Fragestellung zu schärfen. Ausgehend sieht er Bildung als nie abgeschlossenen, intersubjektiven, mitmenschlichen, plastischen, transitiven wie intransitiven Prozess an Menschen jeweiliger Zeitgestalten. Diese Thematik dekliniert und konjugiert der Autor bezugnehmend auf Scheler, Husserl und Wojtyła. Liebe aber auch Hass steigern oder mindern menschliches Wert(voll)sein. Werte in Liebe formieren aus seiner Sicht auch die Bildung hin zu einem progressiv (selbst-)befreienden Geschehnis. Darin gründet auch der pädagogische Bezug. Freilich fordert eine Werthaltung »Liebe« Konsequenzen, individuell wie kollektiv und institutionell. Ernst verweist hier auch auf Fend, Hattie, Klafki und Aurin. Dabei ist selbstredend ein Blick auf die Selbsterziehung von Lehrerinnen wie Lehrern zu setzen. In Aufriss und Entwicklung der Gedanken ist für den Autor der transzendental-phänomenologische Ansatz zentral. Liebe, Werte, Struktur und Bildung sind mit ihm gleichsam Partitur gelesen und in eine produktive Beziehung gebracht. Andreas Schiels Arbeit steht unter dem Satz Nächstenliebe als kommunikativ generierte Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen, ein Satz, der auch als Titel dient. Wenn Liebe in Bildungsprozessen vollkommen fehlt, dann wird, so Schiel, schlecht gelehrt und gelernt. Der wohl ursprünglichste wissenschaftliche Beleg dieser These kann bei Platon nachgeschlagen werden: Fehlt der (pädagogische) Eros, bleiben wesentliche Lernerfolge aus. Jedoch bedeutet nach Schiel die Hinwendung zum Eros auch stets die Inkaufnahme von Risiken, wie, seiner Ansicht nach, unglückliche Entwicklungen und Kippvarianten zeigen. Etwas anders steht es, so Schiel, mit der bescheidenen Schwester des Eros, der Agape oder Nächstenliebe. Sie lässt sich jedenfalls in ihrem Kern als Akzeptanz und damit als zentrales Ergebnis zwischenmenschlicher Kommunikation deuten. Dabei werde sie nicht nur zur Grundlage gelingender Lernprozesse, sie könne auch zu einem »postkonventionellen« Ersatz für die ordnende und uniformierende Rolle veralteter Normen (Sekundärtugenden) in der Pädagogik erwachsen. Schiels Resümee: Wer im Sinne akzeptierender Liebe auf freundschaftlichem Fuß mit anderen (zu leben) lernt, gewinnt Sicherheit in der Pluralität. Dass die Diskurse um die Liebe von Missverständnissen begleitet sind und dass, in Bildungskontexte gebracht, diese Überlegungen auch begriffsanalytisch besonders genau beleuchtet werden wollen, darauf verweisen Veronika Fischer und Daniel Getzberger mit ihrem Beitrag Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext. Dabei kommt es ihnen im Besonderen darauf an, Betroffenen, z.B. Jugendlichen, ihre Weise über Liebe zu denken und zu sprechen zurück zu geben. Das heißt es geht nach Ansicht der beiden darum, nicht festgefasste und durch Konventionen erstarrte Denk- und Fühlweisen in entfremdender Weise überzustül-

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Nadja M. Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer und Peter Stöger

pen. Analog zu Freinet also: Denen, über die gesprochen wird, die Themenhoheit und Expressionsfreiheit zurückgeben. In sorgsamen Arbeitsschritten stellen die Autorin und der Autor Concept-clouds vor, innerhalb derer »Liebe« rangiert und so manches Mal taxiert wird. Dabei verorten sie in der Liebe nicht zuletzt so etwas wie einen Nachklang auf Religion, etwas Utopisches, das sein Echo auch im Heute finden mag. Es bedarf demnach, so Fischer und Getzberger, bei Jugendlichen einer sensiblen Didaktik eines reflektierten und verantwortungsvollen Zugangs zu der Thematik, der direkt an ihre Lebenswelten und Wertemusterungen (inmitten sich wandelnder Beziehungsformen) ansetzt. Dies bedeutet in schulischen Kontexten auch eine kritische Sicht auf asymmetrische Interaktionsformen. Nur so gelingt es, schülerzentrierte Diskurshoheiten zu errichten. Mit einer solchen didaktischen und sprachphilosophischen Praxis könne »Liebe«, aus dem Formellen von Bildung gelöst, für die Unterrichtsgestaltung »ergebnisoffen« besprochen werden. Im zweiten Kapitel Bildung ohne Liebe? – Problemanzeigen rückt Bildung als Protagonistin dieses Sammelbandes in den Fokus. Als Fremde im eigenen Land möchten vier Beiträge die Bildung in ihrer Heimatdisziplin, den Bildungswissenschaften, auf die Frage der Liebe hin neu prüfen und kritisch durchleuchten. Der unorthodoxe Blick auf den alteingesessenen Begriff erweist sich dabei geradezu als Spiegel seiner eigenen Forschungslandschaft. Die neue Perspektive vermag es, Stellen auszuleuchten, die im Scheinwerferlicht der großen Namen zu oft verschwiegen werden. Es kommt zur Problemanzeige. Zwei Aufsätze, umrahmt von zwei Essays, konturieren dazu jenes Damoklesschwert, das über einer scientia incurvata in se ipsa, einer Bildungswissenschaft, die in ihren Diskursen der Versuchung von Geschichtsvergessenheit folgt, hängt. Gleichzeitig loten sie im Angesicht ihrer Liebestradition Chancen einer Neubesinnung aus. Hubert Brenn, Sabine Seichter, Johanna Schwarz und Gabriele Rathgeb sowie Thomas Sojer und Nadja M. Köffler wählen je unterschiedliche, dennoch in ihrem Anliegen zusammenspielende Zugänge und methodische Strategien. Im Letzten wird dabei klar, dass es nicht der Bildungswissenschaft zukommt, zu konstituieren, was Bildung ist. Es ist die Bildung, die in ihrer fragilen Unbeständigkeit die Bildungswissenschaft beständig herausfordert und belebt, sich immer wieder neu zu finden und ihre eigene Tradition zu hinterfragen oder gegebenenfalls wiederzuentdecken. »Doch wie man liebt, das hat uns keiner beigebracht« – mit dieser Liedzeile konfrontiert Hubert Brenn zu Beginn seines Beitrages und macht damit den Auftakt der Problemanzeigen. Liebe deutet er nicht als theoretischen Begriff, sondern als praktischen Handlungsauftrag. Unter diesem Gesichtspunkt fragt er sich und die Leserinnen und Leser, ob »Herzensbildung«, das Ideal der Romantik (Epoche), heute noch bildungszieltauglich ist. Wenn ja, dann nur konkret, mitten im Leben, lautet die Antwort. Der Ort, den er als Wirklichkeit von Bildung und Liebe festmacht, ist die Schule. Geistigen Auges führt er durch die formale Bildungsinstitution, vom Klassenzimmer zum Schulhof, und schält mit einer Bottom-up-Perspektive die Andockmöglichkeiten mit der Liebe heraus. Wie er mit der Titelgebung Bildung und Liebe – (k)ein Widerspruch (?) – Ein Essay über eine unter den gegebenen Umständen paradoxe und schier unmögliche Selbstverständlichkeit andeutet, lässt sich der Schulalltag nicht im Liebesbegriff auflösen, sondern es kommt zum Spannungsverhältnis, zur Opposition, zum Widerspruch.

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Sabine Seichter unterzieht das bildungswissenschaftliche state of the art einer kritischen Betrachtung und moniert dort ein technologisches und kausalanalytisches Verständnis von Erziehung. Neben der Tilgung der Liebe als erzieherisches Ideal bringe diese Entwicklung eine Verdinglichung der Person mit sich. In ihrem Beitrag Über den Kältetod in der Empirischen Erziehungswissenschaft. Oder: Wider die Verdinglichung der Person fragt die Salzburger Erziehungswissenschaftlerin, inwieweit gesetzte Richtwerte und normierte Bildungsstandards, die zentrale Aufgaben pädagogischen Handelns nicht mehr im Erziehen, sondern im Ermöglichen von Lernen definieren, recht behalten. Einer überzogenen Fokussierung auf vermeintlich objektive Tatsachen, die den Menschen nur mehr als verdinglichtes »Verfügungsobjekt« verstehen, stellt sie eine emotionale Vernunft gegenüber: Gerade die zunehmend auftretende Frage nach der Alterität des Kindes als Person unterstreicht die Aktualität neuer Deutungsmuster der schon passé geglaubten pädagogischen Liebe. Als Gegenstimme zum vorangehenden Beitrag plädieren Johanna Schwarz und Gabriele Rathgeb für den Primat des Lernens und laden ein, das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern im Licht der Liebe zu reflektieren: Lernen und Bildung verstehen sie als Erfahrung. In ihrem Beitrag Begehren und Zuschreiben. Phänomene des Lernens und ihre Bedeutung für Bildungsprozesse argumentieren sie im Rahmen einer Vignettenlektüre, dass eine gute Lernumgebung auf Wissbegierde und einer verantworteten Praxis des Zuschreibens beruht. Beide Phänomene mit ihren Prämissen erweisen sich hier als Facetten der Liebe, wie sie im formalen Bildungskontext fruchtbar auftreten können: denn Begehren nach Wissen ist der Urknall jedes Bildungsprozesses und entzündet sich am Anderen. Lernen zeigt sich folglich als Beziehungsgeschehen. Innerhalb dieses Beziehungsgeschehens nehmen wir etwas als etwas wahr, d.h. wir können nicht anders, als allem (Menschen, Situationen, Beziehungen) gewisse Eigenschaften zuschreiben. Ein wertschätzendes Zuschreiben vermag hier die Lernerfahrung positiv zu stärken, was wiederum zum Zündfunken der Wissbegierde werden kann. Die Reihe der Problemanzeigen beschließen Thomas Sojer und Nadja M. Köffler, indem sie die Schnittstellen des vorliegenden Sammelbandes an ihre ursprünglichen historischen Kontexte rückbinden. Zweierlei wird sichtbar: Die Diskussion über Bildung und Liebe als zwei getrennte Prinzipien ist das Ergebnis von bewussten Ausklammerungsversuchen, die sich innerhalb der Kulturgeschichte wiederholen. Zweitens besitzt der pädagogische Eros durchwegs sehr klare Konturen, die durch ahistorische Stilbrüche als Begründung für Extreme und Missbrauch herangezogen werden. Beides wird in erster Linie auf einer sprachlichen Ebene latent verhandelt, jedoch auf sozialer, ethischer oder praxeologischer Ebene diskutiert. Deshalb zeichnet Bildung exklusive [Liebe] – Ein Essay über Ausklammerungsversuche und kulturhistorische Stilbrüche das Spektrum verschiedener Hoch- und Tiefpunkte durch die Jahrhunderte nach und kulminiert in der Frage, ob die aktuelle Positionierung der Bildungswissenschaften im Lichte der zurückgelegten Entwicklungen ihre Angemessenheit behaupten kann. Das dritte Kapitel Gefährdungen der Liebe und Missbrauch versammelt jene Beiträge des Bandes, welche sich mit den »dunklen« Seiten der Relation Bildung und

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Nadja M. Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer und Peter Stöger

Liebe auseinandersetzen. Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen – vom Psychologen Peter Mosser, über den Moraltheologen Walter Schaupp, die Bildungswissenschaftlerin Evi Agostini und die Religionspädagogin Karin Peter bis zur Sozialethikerin Petra Steinmair-Pösel – sie alle weisen auf verschiedene Gefährdungen und Missverständnisse hin, denen Liebe im Bildungskontext ausgesetzt ist und die ans Licht gebracht werden müssen, soll das ganze Themenfeld in verantwortungsvoller Weise ausgeleuchtet werden. Einen starken Auftakt dieses Abschnitts bildet der Beitrag Liebe als Alibi – Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Bildungsinstitutionen von Peter Mosser. Vor dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen Forschung zum Thema sexuelle Gewalt sowie seiner Arbeit mit Opfern sexuellen Missbrauchs argumentiert der Autor, dass dem katholischen Klosterinternat Ettal ebenso wie der reformpädagogischen Odenwaldschule – als Aushängeschilder zweier dezidiert gegensätzlich konzipierter pädagogischer Ideen – das Potenzial zur Gewalt gegen Minderjährige innewohnt. Die Basis dafür verortet er in einer unzureichenden Reflexion von Machtverhältnissen, sowie in einer gravierenden Form sexueller Unbeholfenheit im katholischen und institutioneller und menschlicher Verwahrlosung im reformpädagogischen Kontext. In beiden Fällen sieht er die Gewalt als Ausdruck instrumenteller Verhältnisse und die Berufung auf Liebe als Alibi. Sein Plädoyer zielt darauf, pädagogische Kulturen zu gestalten, welche frei von jeglicher körperlichen, psychischen und sexualisierten Gewalt sind – denn nur an solch gewaltfreien Orten können Kinder auch Liebe erfahren. In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Walter Schaupp mit dem Titel Ist Verlass auf die Liebe? Überlegungen zum Gewaltmissbrauch in katholischen Heimen. Schaupp, der selbst Mitglied einer österreichischen Missbrauchskommission ist, sieht in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Ordensschulen und -heimen vielfach eine erschreckende Diskrepanz zwischen dem Anspruch und Ideal der jeweiligen Orden und der gelebten Wirklichkeit. Dabei liefert er zunächst eine differenzierte Analyse des Kontexts: von den Gründungsideen der Heime und Internate – oft getragen von einem sozial-karitativen Impuls – über die Ubiquität von Missbrauch in religiösen wie öffentlichen Heimen bis zur Schwierigkeit, in Anbetracht unterschiedlicher Erfahrungen ein angemessenes Urteil zu treffen. Gerade angesichts des karitativen Liebesideals der Ordensgemeinschaften analysiert der Autor, wie es dazu kommen konnte, »dass in religiös geführten Institutionen das Ideal der Liebe sich über Jahrzehnte in sein Gegenteil verkehrte und die bewusste Einübung in eine religiös-christliche Lebensform, die dieses Ideal in den Mittelpunkt rückt, die beteiligten Schwestern und Ordensmänner nicht mehr gegen Missbrauch immunisieren konnte«. Der Beitrag von Evi Agostini Pädagogische Verantwortung zwischen Eros und Ethos: Von Missbrauchsfällen, Normalisierungsprozessen und einer genuinen Wahrnehmungssensibilität rückt nochmals das säkulare Beispiel der Odenwaldschule ins Zentrum der Auseinandersetzung. Hier wurde in mindestens 132 Fällen Missbrauch an Schülerinnen und Schülern begangen, der ehemalige Schulleiter Gerold Becker hatte es aber über lange Zeit gekonnt verstanden, unangenehme Fragen unter Verweis auf den »pädagogischen Eros« zum Schweigen zu bringen. Agostini thematisiert da-

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gegen in ihrem Beitrag Verantwortung im Blick auf pädagogisches Handeln und problematisiert das Konzept der Landerziehungsheime mit deren kontrollierenden und disziplinierenden Strukturelementen, um sich letztlich der Kritik Meyer-Drawes an jenen Positionen anzuschließen, welche die Liebe als grundlegend für erzieherische Verhältnisse erachten. Demgegenüber plädiert sie für die »sensible Wahrnehmung des Anderen im Rahmen pädagogischer Antinomien, wie z.B. zwischen Freiheit und Zwang oder zwischen Distanz und Nähe«. Aus einer etwas anderen Perspektive stellt Karin Peter in ihrem Beitrag Viktimisierungssensibilität als Voraussetzung der Verwirklichung einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen Reflexionen über Liebe im Bildungssystem an. Ins Zentrum rücken zunächst die der Liebe diametral entgegengesetzten Erfahrungen von Viktimisierung und Ausgrenzung. In der mimetischen Theorie René Girards findet Peter einen theoretischen Rahmen, der solche Phänomene nicht für Einzelereignisse, sondern für gruppenkonstituierend hält. Dieser bildet für die Autorin in der Folge den Ausgangspunkt dafür, systemimmanenten Viktimisierungen innerhalb des Bildungswesens insgesamt und solchen innerhalb konkreter Bildungsinstitutionen bzw. konkreter Lerngruppen nachzugehen mit dem Ziel, Anhaltspunkte dafür zu finden, solche möglichst zu vermeiden. Der Beitrag ist ein Plädoyer für einen viktimisierungssensiblen und -vermeidenden Zugang als Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen. Auch der Beitrag Zwischen Liebe und Verachtung. Die Ambivalenz mimetischen Begehrens und ihre Bedeutung im Bildungskontext von Petra Steinmair-Pösel setzt bei der mimetischen Theorie des franko-amerikanischen Kulturanthropologen René Girard an und verweist auf Verbindungslinien zur Spiegelneuronen-Forschung, welche der mimetischen Theorie auf neurobiologischer Ebene »Rückendeckung« gibt. Auf dieser Basis fragt die Autorin, welcher »Mehrwert« an bedenkenswerten Fragestellungen und Einsichten sich aus einer mimetischen Anthropologie für das Verständnis des Themenkomplexes »Bildung und Liebe« ergibt. Vor allem drei Themenbereiche scheinen ihr von großer Relevanz: die Fallstricke mimetischer double binds und deren Vermeidung, das Phänomen Bullying in Schulklassen gedeutet als Sündenbockphänomen sowie die Notwendigkeit von »Herzensbildung« in einer Welt globalisierten mimetischen Begehrens, in der die alten Mechanismen zur Eingrenzung mimetischer Begehrlichkeiten und Konflikte nicht mehr greifen und die sich deshalb selbst zu zerstören droht. Das Kapitel Lieben(d) Lernen versammelt ein breites Spektrum an Beiträgen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen, die sich allesamt die Frage stellen, inwiefern Liebe in den nachfolgend diskutierten Ausdruckformen als Vertrauen, Anerkennung, Mitgefühl oder Empathie erlernt und geschult werden kann. Unter Bezugnahme auf (entwicklungs-)psychologische, humanethologische, philosophische und bildepistemologische Ansätze versuchen Gregor Kastl, Helga KohlerSpiegel, Nadja M. Köffler, Cathrin Reisenauer und Nadine Ulseß-Schurda, sowie Christine Scheuenpflug und Samuel D. Rocha ihre theoretischen Gedanken zum Zusammenwirken von Bildung und Liebe in unterschiedliche Lebens- und Handlungskontexte zu überführen. Anhand der Beiträge wird sich zeigen, dass sowohl die Bildung wie auch die Liebe stets auf ein ›Gegenüber‹ angewiesen sind und

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Nadja M. Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer und Peter Stöger

sich daher erst aus einer dialogischen Beziehungsstruktur heraus entfalten. Handlungspraktische Ansätze und Ratschläge zur Förderung eines konstruktiven Zusammenwirkens beider Qualitäten beispielsweise an Orten formaler Bildung wie der Schule und Hochschule runden eine Vielzahl der Beiträge ab und verdeutlichen, dass Lieben durchaus gelernt werden kann wie auch gelernt sein will. Gregor Kastl beleuchtet in seinem humanethologischen Beitrag Die Ethologie der Kooperation. Tit for Tat, Liebe, Geschenk und Gegengeschenk die Grundprinzipien kooperativer Verhaltensweisen, indem er in seiner Argumentation auf physiologische wie auch psychologische Konzepte wie beispielsweise auf die in der Spieltheorie vorkommende Strategie Tit for Tat oder die bindungsrelevanten Auswirkungen des Hormons Oxytocin Bezug nimmt. Für Kastl unterliegen Handlungen des Gebens und Nehmens immer bestimmten Regeln und Ritualen, die auf Gegenseitigkeit (Reziprozität) beruhen. Anhand von Beispielen menschlichen Zusammenlebens in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten (z.B. Kula-Ring der Trobriand-Inseln, Gefangenendilemma, Autismus) sowie aus der Tier- und Pflanzenwelt (z.B. Symbiosen) beschreibt der Autor die Zusammenhänge und Auswirkungen reziproker und kooperativer Strategien auf das jeweilige Beziehungsbzw. Sozialverhalten, das nach Kastl mit dem Konzept Vertrauen in Zusammenhang gebracht werden kann. In ihrem Beitrag Aufwachsen in einem Raum von Resonanz. Ein entwicklungspsychologischer Zugang diskutiert Helga Kohler-Spiegel die Entwicklung menschlicher Empathiefähigkeit, deren Grundlage bzw. Fundament nach Kohler-Spiegel vor allem in den ersten Lebensjahren gelegt wird. Unter Bezugnahme auf Ergebnisse der Säuglings- und Bindungsforschung beschreibt Kohler-Spiegel die Bedeutung der primären Bezugspersonen für die Affektsozialisation und Affektstimmung eines Kleinkindes. Über einen hergestellten Resonanzraum zwischen Bezugsperson und Kind kann der Autorin zufolge über Gefühlsansteckung Empathie gelernt werden. Zugleich wird nach Kohler-Spiegel in dieser sozialen Abhängigkeit des Menschen von einer Resonanzperson seine Verletzbarkeit sichtbar, die durch falschen Umgang (z.B. Still Face Experiment) letztlich auch zu tiefgreifenden Trauma-Erfahrungen führen kann. Im Hinblick auf die schulische Bildung stellt sich Kohler-Spiegel die Frage, wie Empathie im Sinne der Erhöhung psychischer Widerstandsfähigkeit (Resilienz) positiv genutzt werden kann und formuliert Handlungsvorschläge für Lehrerinnen und Lehrer in der Praxis. Nadja M. Köffler widmet sich in ihrem kultur- bzw. medienpädagogischen Beitrag Leid im Bild. Medienethische Impulse zur Notwendigkeit ikonografisch hervorgebrachten Mitgefühls im Kontext des Kriegsjournalismus der ethischen Diskussion von instrumentalisierten Sehordnungen und -praktiken im Feld des Kriegsjournalismus und deren Auswirkungen auf das menschliche Mitgefühl. Sie spürt der Frage nach, welche selektive und politisch motivierte Bildrhetorik massenmedial in Umlauf gebrachte Kriegsfotografien aus historischer Perspektive beispielsweise im Kontext des embedded journalism vermittelten, welchen Machteinflüssen visuelle Wahrnehmung aktuell unterworfen scheint und wie soziale Empfänglichkeit sowie globale Verantwortungsübernahme über fotografische Bildmedien ausgebildet werden können. Nach Köffler sind im Sinne eines ›Sozialen Er-Blickens‹ vor allem

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das ›Schauen‹ und ›Geschaut-werden‹ neben bildimmanenten Merkmalen essential für die Rezeption von Kriegsfotografien und in weiterer Folge für die Ausbildung eines globalen Zugehörigkeitsempfindens, was sie als wesentlichen Bestandteil interkultureller Bildung ausweist. Cathrin Reisenauer und Nadine Ulseß-Schurda nehmen sich in ihrem Beitrag »Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« Anmerkungen zur Liebe in pädagogischen Beziehungen der Frage an, wie Schule und Unterricht beschaffen sein müssen, damit sich Schülerinnen und Schüler im schulischen Kontext »beloved«, folglich geliebt, wertgeschätzt, anerkannt und respektiert fühlen. Die Autorinnen benennen in diesem Zusammenhang die Relevanz von Anerkennung als einem wesentlichen Bestandteil eines liebevollen Umgangs in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ausgehend von der Darlegung und Diskussion empirischer Ergebnisse einer von ihnen durchgeführten qualitativen Studie zu Anerkennungspraktiken im schulischen Alltag kommen die Autorinnen zum Schluss, dass die Art und Weise, wie jemand adressiert wird, entscheidend für die Wahrnehmung der eigenen sozialen Existenz und Verortung in der Welt sind. Diese Adressierungen beruhen nach Reisenauer und Ulseß-Schurda auf den Praktiken des Wahrnehmens, des Begegnens, des Gegenübertretens, des Ansprechens, des Rückmeldens und des Versagens, welche von Reisenauer und Ulseß-Schurda exemplarisch anhand von Erinnerungsszenen der untersuchten Schülerinnen und Schüler veranschaulicht und erklärt werden. In ihrem Beitrag Die bildende (Wirk-)Kraft der Liebe. Annäherungen an einen Bildungsbegriff im pädagogischen Kontext der Lehrer/innen/bildung befasst sich Christine Scheuenpflug mit der Überlegung, in welcher Weise Bildung und Liebe einander bedingen (können). Den bedeutenden Brückenschlag schafft für Scheuenpflug der Personzentrierte Ansatz von Carl Rogers, bei dem Liebe – so die Autorin – als anthropologische Grundhaltung verstanden wird. Unter Bezugnahme auf Martin Bubers dialogpädagogischen Ansatz weist Scheuenpflug die dialogische Begegnung als Grundvoraussetzung menschlicher Existenz aus, wodurch die soziale Verwiesenheit des Menschen auf Beziehungen im Zuge der Menschwerdung hervorgehoben wird. Ausgehend von einer philosophischen Begriffsbestimmung von Bildung und Liebe und ihrer Zusammenführung erläutert Scheuenpflug sodann, wie der personzentrierte Ansatz bei der Begleitung von Bildungsprozessen für den Bildungsort »Lehrer/innen/bildung« nützlich gemacht werden kann, um die Handlungsqualität und Beziehungsfähigkeit zukünftiger Pädagoginnen und Pädagogen im Hochschulkontext verbessern zu können. Abschließend führt Samuel D. Rocha in die Welt der philosophischen Assertationen. Dies sind besondere Aussagen der Logik, die ohne weitere Ausführungen behaupten, ob etwas der Fall ist oder nicht. Sie erinnern an die Zeit des Aristoteles, als Wahrheit noch in der Erfahrung des Musischen verortet wurde. In seinem Plädoyer The Excess of Education, the Praxis of Love präsentiert er Bildung als überquellendes Phänomen, das sich immer im Überfluss ereignet. Ausgehend von dieser Annahme nähert er sich dem Paradoxon, wie sich der konkrete und oft trockene Schulalltag und die ständig überbordende Bildung gegenseitig bedingen können. Bildung ist so viel mehr, als wir ihr in unserem Leben zuschreiben. Ihrer teilhaftig

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zu werden, gelingt jedoch nur durch eine praxis of love, etwas, das letztlich gar nicht in Worte fassbar ist. Bildung und Liebe bleibt eine Aporie, ihre Untrennbarkeit liegt weniger in scharfen Analysen als in einer »power of the philosophical assertion, its music and its passion«. Ohne die Mitwirkung von vielen Menschen wäre vorliegender Sammelband nicht zu verwirklichen gewesen. Zu danken gilt es zuallererst den Autorinnen und Autoren, die sich in einigen Fällen trotz anfänglicher Skepsis durchgerungen haben, Bildung und Liebe in ihren Beiträgen zum Thema tiefgreifender gedanklicher Auseinandersetzung zu erklären. Durch die Vielfalt ihrer Blickwinkel und Zugänge lassen sie den Sammelband zu einem bunten Potpourri an starken Stimmen werden. Bunt und ein Stück weit der vollkommenen Vereinheitlichung widerstehend sind die Beiträge auch in formaler Hinsicht geblieben. Als Herausgeber/innen haben wir uns Mühe gegeben, die Schreib- und Zitierweisen, die Formen des Genderns und der Kursivsetzungen weitestgehend anzugleichen und damit ein ungestörtes Leseerlebnis zu ermöglichen. Gleichzeitig wollten wir auch die »Handschrift« der Autorinnen und Autoren nicht ganz auslöschen. Wir hoffen, dass wir in dieser Hinsicht einen guten Mittelweg gefunden haben. Dass die Thematisierung von Liebe nicht nur in Bildungskontexten, sondern gerade auch in wissenschaftlichen Gefilden ein Wagnis darstellt – sträubt sie sich doch gegen Verfahren der Verobjektivierung und Systematisierung – zeigt sich paradigmatisch in einer Vielzahl der Beiträge. So geben sich auch hier das Ringen um die richtigen Worte, die Relativierung von vermeintlich angreif baren Positionen sowie warnende Hinweise, wie das Gesagte zu verstehen sei, zu erkennen. Wir bedanken uns daher für die Ehrlichkeit und den Mut der Autorinnen und Autoren, ihre Bedenken und Zweifel zu benennen, wie auch für ihr Plädoyer die »bildendliebenden« und »liebend-bildenden« Anteile der Menschwerdung wahrzunehmen und auch als solche anzuerkennen. Auch wenn das Sprechen und Philosophieren über Liebe wie auch Bildung, wie von den Autorinnen und Autoren mehrmals betont, ein Wagnis darstellt, werden durch vorliegenden Band sowohl die Bildung wie auch die Liebe in wissenschaftlicher Hinsicht (wieder) zum Thema und folglich auch diskutierbar gemacht. Damit bleibt zu hoffen, dass zukünftig an vorliegenden Ausführungen und Erkenntnissen angeknüpft wird, sodass ein reger Austausch und spannender Diskurs am Leben erhalten werden kann. Ein herzliches Dankeschön gilt zudem unseren Fördermittelgeberinnen und -gebern, die die Realisierung dieses Projektes mit einem großzügigen Obolus unterstützt haben. Hierzu zählen das Amt der Tiroler Landesregierung/Abteilung Kultur, das Amt der Vorarlberger Landesregierung/Abteilung Wissenschaft und Weiterbildung, die Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck, das Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck sowie das Katholische Bildungswerk Tirol und der Katholische Tiroler Lehrerverein. Dankende Worte sind auch an alle Unterstützerinnen und Unterstützer des Sammelbandes zu richten, die als Quellen der Inspiration und durch Worte der Anerkennung im Rahmen der mehrjährigen Realisierung des vorliegenden Projektes zu wichtigen Wegbegleiterinnen und -begleitern wurden. Zu danken gilt in diesem Sinne besonders Frau Dr. Hilde Bründler, Frau MMag. Verena Luggin und Herrn Stadtpfarrer Dr. Florian

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Norbert Schomers wie auch dem transcript Verlag und unserer stets bemühten Ansprechperson Frau Katharina Wierichs. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern inspirierende Lektüremomente und bedanken uns für Ihr Interesse! Die Herausgeberinnen und Herausgeber, Nadja M. Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger

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Kapitel I Philosophische Annäherungen

Die Liebe und die liebe Bildung Eine essayistisch streitschriftliche Summe an Auslassungen Peter Stöger The crack is where the light comes in. (Leonard Cohen) Fürchte Dich nicht, es blüht hinter uns her. (Hilde Domin)

1. E inführend Neulich hörte ich eine Geschichte aus Mexiko: Ein achtjähriges Kind sitzt »allein« im Flugzeug. Es ist frohgemut, zeichnet, hört Musik …, als das Flugzeug in ziemliche Turbulenzen gerät. Alle rundherum ängstigen sich. Nur das Kind nicht. Es bleibt ruhig. Da fragen es gleich mehrere: »Hast Du denn keine Angst?« Seine Antwort: »Nein, mein Papa ist der Pilot!« In dieser Vignette ist das Zentrale angesprochen: Urvertrauen, Selbstbewusstsein. Dazu werden noch Nähe und Distanz, (Herzens-)Bildung und das re-ligere, das »Zurückbinden« an das Gute kommen, vor allem auch dann, wenn Bosheiten als Gegenspieler der Liebe das Leben belagern, literarisch z.B. von Baudelaires Les fleurs du mal (1857) zentral gerückt. Dieser Urkonflikt ist in Kunst (Hieronymus Bosch, Albrecht Altdorfer) und Philosophie (von Sophokles’ Antigone, Dostojewskis Schuld und Sühne bis hin zu Adornos Erziehung zur Mündigkeit) tausendfach behandelt. Es spannt sich ein weiter Bogen von den ägyptischen Wüstenvätern, den Kappadoziern, der Scholastik herauf bis zur Frankfurter Schule. Vom Hl. Antonius und seinen Versuchungen, von Bernhard von Clairvaux, J. Duns Scotus, Anselm von Canterbury, Bonaventura, den Russischen Idealisten bis zu Erich Fromm. Grundthema ist allemal Thomas von Aquins »die Entfaltung der Liebe« und all ihre Gefährdungen (vgl. Hierdeis, 1968: 8, 139). Versuchen wir, uns den (Un-)Möglichkeiten von »Liebe« und der Frage, was das mit Bildung zu tun haben könnte, mit einem kleinen Skizzenblock zu nähern.

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2. L iebe : E inkürzung und S tanze Die Liebe entspringt dem Urvertrauen, Bindungstheorien bestätigen es. Von diesem basic trust spricht Erik H. Erikson (vgl. 1999: 241ff). Die eingangs erzählte Vignette dokumentiert dies. Die Liebe, so stark, dass sie sogar Hass überwinden kann, ist die bildende Kraft. Die Lebensläufe von Nelson Mandela, Rigoberta Menchú, Desmond Tutu, Mutter Teresa bezeugen es. Sie deuten auch auf die politische Dimension der Liebe hin. Sie strafen jene Lügen, die meinen, dass der gute Mensch (das ist der Mensch, der auch dann gut blieb, als er sich zum »Gutmenschen« degradiert sah und nur mehr als statistischer Irrläufer inmitten unumstößlicher soziologischer Regelwerke und Machtstrukturen taxiert war) nur zu feige sei, um böse zu sein. In bildenden Kontexten ist die Liebe in der Form von philia, der freundschaftlichen, geschwisterlichen Kraft, besonders angesprochen. Wie aber konnte es nur kommen, dass die Liebe in den Bildungswissenschaften zu einem unkeuschen Wort wurde? Welche Verrenkungen machten sie bloß, um »im Namen der Wissenschaft« dieses Wort zu vermeiden? Wer dennoch an der Liebe festhält, galt (gilt) als unprofessionell. Manche sperren die Liebe in Geschichtsräume ein, sehen sie »bloß« als Konstrukt, um sie als Ideenblase zum Platzen zu bringen. Was ist mit »Stanze« gemeint? Die Liebe wurde in den Erziehungswissenschaften, vermehrt in den 68er- und Post-68er-Jahren, ein Unwort, mit der Begründung, sie kaschiere nur Machtanspruch und Gewaltgenerierung. Etliche, vermeintlich ideologiefreie Kommentare entbehr(t)en nicht der Häme. So manche stecken die Liebe immer noch gerne in die Schubladen 19. Jahrhundert und Bourgeoisie – ganz so, als wäre das Hohe Lied der Liebe (1 Kor 13: »Die Liebe prahlt nicht«, »sie eifert nicht«, »sie bläht sich nicht auf« …) keine heilsame Auseinandersetzung mehr wert. Es bleibt beim eher feindlichen Bild »Liebe = bürgerliches Relikt«. In dem viel zitierten 19. Jahrhundert hatte die bürgerliche Frau ja Zeit, sich Freizeit zu gestalten: Deckchen stricken, Kragen stärken – und eben Kinder lieben. So passte das Konzept »Liebe« in die (Nach-)Metternich’sche Zeit als psychisches Desiderat von »My home is my castle«. Sich des Luxusartikels »Liebe« zu bedienen, das war scheinbar nur dem Bürgertum möglich. Liebe verkam zu Rüsche, Kalenderspruch, picksüßer Erbauung. Der proletarischen Familie war derlei Luxus verwehrt. Die Liebe wurde in dieser Kurzschrift zur bloßen Retorte. Im 19. Jahrhundert soll überhaupt viel erfunden worden sein: neben der Liebe auch das Geschlecht, die Natur und sogar das Sein an sich, das als bloße ontologische Stanze (die in eine konservativ-reaktionäre christliche, rein normative Pädagogik ausgeflossen sein soll) bedient wurde. Die Leugnung von Sein als einer Mächtigkeit ist auch auf der Folie dessen, dass das Böse »entropisch« ein Mangel an Sein ist, im Lichte von Auschwitz zerstörerisch, denn damit ist die Negentropie als Fülle an Sein, als Liebe per se verleugnet (s.u.).

3. D ie Q uadriga Die Liebe ist vielfach in historisch-anthropologische und ethnopsychoanalytisch relevante Abrisse gebracht worden. Für erstere stehen beispielsweise Philippe Ariès und Bernhard Rathmayr, für letztere Mario Erdheim, Paul Parín und Fritz Morgenthaler.

Die Liebe und die liebe Bildung

Wichtig ist, Liebe nicht allein unter dem Misslingen zu betrachten. In den Bildungswissenschaften hat sich schon vor den 68ern eine falsche Optik etabliert: »Zuerst ist das Problem, dann wird sich der Inhalt schon finden.« Fortan wurde alles flächendeckend pädagogisch problem-beackert. Die pädagogische Eroberung ließ nichts aus. Man/Frau schloss sich aber selbst als Wurzel von Entfremdungsvorgängen aus. Entfremdung traf auslösend immer nur »die Anderen«. Die (Fanat-)Ismen wurden anderen umgehängt. Wertepädagogik wurde als »normativ« verunglimpft: »reaktionär-bürgerlich«, »moralinsauer«, »nicht beweisbar«, so die Schlagwörter. Dass unter Wertepädagogik auch Systemerhalt betrieben wurde, liegt offen, gab und gibt aber keine Berechtigung dazu, die Sache an sich zu verabschieden. Mit dem Werteverlust einhergehende Fehl- und Selbstüberschätzungen haben Anteil am Orientierungsverlust vieler Jugendlicher, auch von Teilen der Arbeiterschaft und der neuerdings absteigenden Mittelschicht. (Der entfremdete Mensch, der sich vor nichts mehr zu verbeugen hat, ist bei Erich Fromm zentral.) Die Liebe indes hat vom Wesen her mit Ehrfurcht, Nüchternheit, Dankbarkeit und Staunen zu tun. Diese Quadriga weist auf die Basis der Liebe, die Würde. Mit ihr ist ein Angstregulativ verbunden. Die Angst verliert an Übermacht. Der nachhaltig bewirtschafteten Angstgesellschaft gilt Paul M. Zulehners Gegenruf: »Entängstigt Euch!« (Zulehner, 2017).

3.1 Ehrfurcht Die Ehrfurcht ist eines jener besonders altmodischen und von den Bildungswissenschaften nicht sonderlich goutierten Wörter, die in die Schublade »frömmelnd«, »gesellschaftsunkritisch«, »systemhörig« gesteckt wurden und werden. Für die Ehrfurcht steht Janusz Korczak, der polnische Kinderarzt, der, anstatt die Flucht anzutreten (Schweizer Pass und Fluchtauto standen bereit), bei seinen 200 Waisenkindern im Warschauer Ghetto blieb. Er wurde, das Schicksal vor Augen, mit ihnen in Treblinka vergast. Korczak demonstrierte den Vorzug der Barmherzigkeit vor der Engführung jeder Ehre vielfach. Er tauschte die Kippvariante von Ehre zugunsten einer höheren, nämlich der Barmherzigkeit als Urgrund des Lebens. Er fürchtete die Ehre so sehr, dass ein Verrat an ihr unter dem Titel »Ehre« (wie oft wird die Ehre im Namen der Ehre verraten!) für ihn gar nicht in Frage kam. Dies illustriert Folgendes: Auf der Suche nach Nahrung für die Kinder bettelte Korczak auch im Milieu der Unterwelt. Die Ehrfurcht vor der Würde der ihm Anvertrauten ließ ihn furchtlos werden: Das ist Ehr-Furcht. Wer ehrt, überwindet die Furcht. So war es für Father Flanagan vor 100 Jahren kein Problem, ein Mörderkind in seine Boys-Town aufzunehmen. Die »Logik der Liebe« (Dalai Lama, 1989) stellt die Frage nach Sicherheiten anders. Die Liebe scheint etwas Fassungsloses und Bedingungsloses zu sein, und vor allem kennt sie keine Konzessionen, auch nicht an die Ehre in einer ehrenvoll-possessiven Form (zu J. Korczak: vgl. Pelzer, 1987; zu Flanagan: vgl. Oursler, 1951). Sehr nahe zu diesem Prinzip der Barmherzigkeit steht das Erbarmen (von manch postmodernen Pädagoginnen und Pädagogen nicht unbedingt freundlicher zitiert als die erwähnte Barmherzigkeit). Die misericordia ist aber der Kern jener Ehrfurcht, die J. Korczak gelebt und mit seinem Leben bezahlt hat. Die Liebe geht auch immer mit einem Faszinosum und einem Tremendum einher. Die Nazizeit dokumentiert, wie gefährlich die Liebe sein kann. Am Christoph-Probst-Platz in Innsbruck gibt es

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in sinniger Nähe zur Universität eine Gedenkplakette für zwei Jesuitenstudenten aus El Salvador, die die Liebe zu den Armen in ihrem Heimatland mit ihrem Leben bezahlen mussten.

3.2 Nüchternheit Nahe der Ehrfurcht steht die Nüchternheit. Dazu gehört, dass die Liebe keine Romantisierungen und Verkitschungen, auch keine emotionale Ausbeutung, verträgt. Liebesbezeugnisse aus dem Gefängnis, KZ-Briefe, Exilliteratur illustrieren die Nähe von Liebe und Nüchternheit. Schon die Kappadozischen Kirchenväter und die Hesychasten vom Athos sprachen von der Nüchternheit (vgl. Jungclaussen, 1974: 1ff). Ohne diese Verbindung ginge der Liebe die Liebe verloren und der Ehre die Ehre. Es geht also nicht um glänzende Oberfläche, sondern um Inhalt. In Gefängnissen zelebrierten Priester, wie wir aus Zeiten der Verfolgung wissen, die Messe mit einer Konservenbüchse. Das Liebes-Opfer nennt sich im katholischen Messritus Eucharistie, »Wohl-Dank«. Zur Nüchternheit gehören die Einhaltung des Nähe-Distanz-Verhältnisses und die reifende Fähigkeit, Vertrautes im Fremden und Fremdes im Vertrauten zu erkennen. »Das Fremde im Vertrautesten« zählt mit Helmwart Hierdeis »wohl zu den Existenzialien. Wir tragen gleichsam den oder das Andere in uns. In der Differenz steckt ein Lebensimpuls. Das zu wissen gehört in Anlehnung an Cusanus zur docta ignorantia. Die Nüchternheit ist die Einsicht, wie erbauend die Liebe sein kann, jenseits aller Schnörkel und jenseits von allem Getue. Das Kippen in die gnadenlos egoistische Sehnsuchtsaggression, offenkundig im sexuellen und emotionalen Missbrauch, liefert dunkle Bilder. Sie zeigen, was passiert, wenn jedwede Nähe-Distanz-Balance und Nüchternheit verlorengegangen sind. Zu dieser Nüchternheit lässt sich wiederum mit Hierdeis hinzufügen: »[W] er von Liebe redet, redet immer schon von sich selbst als Liebendem. Der Mensch kann sich nicht von seiner Liebe befreien und sich an einen objektiven Ort begeben, um von dort aus als ganz anderer, nämlich als Liebloser, den ihm fremden Gegenstand ›Liebe‹ zu analysieren« (1968: 32f). Dem fügt Hierdeis etwas überraschend Optimistisches hinzu: »Der Mensch liebt immer, und seine Liebe bestimmt sein Mensch-sein« (ebd.: 33). Wenn man die oben erwähnten Kippvarianten der Liebe (als verfehlte Sehnsucht nach ihr, nach dem Bergenden) hinzuzählt, dann stimmt der Satz wohl. Wie heftig Kippvarianten in der politischen Dimension ausfallen können, hat das 20. Jahrhundert, das so wenig hell wie das Mittelalter einzig dunkel war, dokumentiert. Auf noch etwas deutet der Hierdeis-Satz hin: auf das Mensch-sein. Der Bindestrich betont etwas Ontologisches, kein Modewort der Bildungswissenschaften. Anschlussfähig wird Hierdeis‹ Satz aber zur »Negativen Theologie« (»negativ«, denn in positiven Sätzen kann über Gott, das Geheimnis, nicht gesprochen werden): Der Mangel an Liebe in der Bildung ist so etwas wie ein Mangel an Sein. In einer hegemonial exkludierenden Bildung ist die ontische Qualität, ist Sein in seiner Nüchternheit, Radikalität, ja Nacktheit, in seinem (R-) Evolutionsanspruch, in seiner Teleologie, sich »antikapitalistisch« zu mehren, dem Wärmetod im psychischen Kosmos widerstehen zu können, verlorengegangen.

Die Liebe und die liebe Bildung

3.3 Dankbarkeit Die Dankbarkeit ist mit dem Denken wortwurzelverwandt (»think«/»thank«, »denken«/»danken«). Die großen Fehlentwicklungen im Denken (»Alles ist machbar!«) deuten auf einen Mangel an Dankbarkeit dem Leben, der Liebe gegenüber hin. Zieht man in die Geschichte des Denkens die Folie »Ehrfurcht/Respekt« mit ein, entsteht eine Haltung, die das Denken erdet (humus), die demütig (humilitas) und nüchtern macht und staunen lässt. In den Riten ist Danksagung mit Opfer und Wandlung verbunden. Das darf auch für die Bildung gelten. Dankversagung schmälert die Liebe und den Respekt im Bildungsgeschehen. Vom Anderen zu lernen und sich in Dankbarkeit darauf zu berufen, ist ein Respons an die Liebe in ehrwürdiger Form. Industriell vorgefertigte Denkmoden und Denkherrschaften stehen dem entgegen. Paulo Freire spricht in solchen Zusammenhängen von »Behälter«, »Spareinlage«, »Anlage-Objekt« (1973: 57), von »kultureller Invasion« (1973: 129f), von der »Unterwerfung« als einer »antidialogischen Aktion« (1973: 105ff) von »Bankiers-Methoden« (1973: 143), von »domestizieren« (1973: 67), kurzum von »Bankiers-Erziehung« (siehe auch 1974: 20, 71ff). Die mühsamen, respekt- wie liebevollen Wege zur Authentizität von Lehre (einschließlich der Irrwege und Dankversagungen) zu dokumentieren, ist ein selbst-heilsames Bildungsgeschehen. Es ist nachhaltiges Lernen par excellence. Miteinander sein und eben nicht in solipsistischer Manier in konkurrenzierendem Habitus von »splendid isolation« zu verbleiben, leitet zur Dankbarkeit als einem basalen Zeichen von Liebe (Respekt ist eine Regenbogenfarbe daraus). Michael Göhlich und Jörg Zirfas (2007: 17) zirkeln Lernen als »Wissend-Werden«. Bildung als Leben-Lernen wird zum Prozedere. Lernen als bloße statische Kapital(=Stoff)mehrung steht dem konträr gegenüber (siehe Lehrende, die immer nur an den Lehr-Stoff denken). Fehlt es an Dankbarkeit, ist es auch schwierig, Erkenntnisse auf eine Linie von Entfaltung zu bringen. Die Weigerung, vorausgegangene Denker als solche zu würdigen, führt nicht selten zu deren anonymisierter Ausbeutung. Das eine hat natürlich mit dem anderen zu tun. Besonders drastisch ist die Undankbarkeit etwa in Form von Diebstahl von Wissen. Damit ist nicht nur das herkömmliche Plagiatsunwesen angesprochen. Das betrifft auch den Wissensraub an indigenen Völkern. Dieses Wissen, nahe der Weisheit, macht den Kosmos ihres Lebens aus. Es handelt sich speziell um Heilkräuterwissen, das sie als ein »Geschenk des Himmels«, ganz ohne Besitzrechte erachten. Wie will man Gottes Weisheit, die man ja nur durch schweigsames Beobachten und Gebete, dem Göttlichen, den »Himmeln«, der »Mutter Erde« meditativ »abschaut«, kaufen oder verkaufen? Weil ohnehin »besitzlos«, wird dieses Wissen nun »europäisiert«, das heißt »umgewandelt« in chemische Parameter und Befundungen (die Eingeborenen haben innerhalb dieser kolonialen Sicht ja »keine Ahnung« von Pflanzen) zwecks Patentierung durch die Pharmaindustrie.

3.4 Staunen Albert Einstein (1988: 9f) sagt uns: »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.« Eine intellektuelle

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Raffgier, die Kapitalisierung von Wissen (zugunsten des militärisch-industriellen Komplexes) kommt aus der Verblendung, sich zum Herren über alles machen zu können. Gerald Hüther meint, dass die Liebe ein Naturgesetz sei (vgl. 1999a: 19f). Die Erkenntnis dessen setzt ein existenzielles Lernerfahren voraus. Eben dieses Erfahren darf Bildung konstituieren. Ist sie logo- und paidotrop, weiß sie um die liebevolle Umsicht, weiß sie um den Kairos, den rechten Augenblick, weiß sie auch um »Urdistanz und Beziehung« (Buber, 1978). Mit Umsicht und Kairos ist Staunen berührt. Daran erinnert die Kinderphilosophie. Meine mexikanische Nichte Mariana fragte mich einmal: »Tio, wenn Du beim Flugzeug das Fenster aufmachst, kannst Du dann die Sterne pflücken?«

4. »K opf und H erz« …klingt ein bisschen kitschig. Ist nicht börsentauglich. Und gehört aus der Sicht manch bildungswissenschaftlich Allmächtiger zur pädagogischen Traktätchenliteratur. Es ist indes interessant, dass der Volksmund die Kombinationen »Kopf und Herz« und »Herz und Hand« gerne zitiert. In dem Maße, in dem die westliche Pädagogik ein Wort wie »Herz« zum verbum non gratum erklärte, scheinen sich Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler für diese Dimensionen, die über das rein materiale Wissen hinausführen, zu interessieren. Sie tun dies seit jeher. So reicht denn der Bogen von Demokrits Atomlehre (mit den »Bildchen«, den Eidola, die über die Sinnespforten zu uns gelangen und Seelenatome in Bewegung bringen) über Blaise Pascal bis zu Werner Heisenbergs Ordnung der Wirklichkeit (1989). Sie haben keine Berührungsängste – im Gegensatz zu manchen Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftlern, die das Wort »Herz« am liebsten in die aseptische Station verweisen möchten. Das Herz, so scheint es, hat nur mehr in der Altertumsabteilung des Museums für Geschichte der Medizin oder in der Hightech-Abteilung von Transplantationen seinen Ort. Trotzdem: Was gut und schön (die griechische Kalokagathia) und wahr ist, das verdient es, im Zeitgeistwiderstand verteidigt zu werden (siehe Heisenbergs Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft, 1971). Kopf und Herz – Intellekt und Wesensmitte – sind aufeinander angewiesen. Marc Chagall hat die beiden gemalt. Die Verbindung der beiden über Stirn und Oberarm gebundenen Kapseln kennen wir aus der Synagoge, kennen wir von Bildern von der Klagemauer in Jerusalem und eben von Marc Chagalls Pinselschrift. Diese Zusammenführung gilt auch im übertragenen pädagogischen Sinne. Heute, da so viel von Bildungsmanagement, Ressourcenverwaltung, Kompetenzorientierung, Input und Output, Zeitmanagement und Kosten-Nutzenrechnung im Bildungsbereich die Rede ist, tun auch die alten Bilder von Kopf und Herz in der alten Schuel des osteuropäischen Städtels gut. Die Schuel war der liebevolle Ort geistiger, emotionaler und religiöser Präsenz. Hier wurde gelernt, gebetet, getanzt und das karge Essen geteilt. Galizien, die Bukowina, Podolien und Wolhynien waren die Zentren dieser versunkenen Welt. Die Lernatmosphäre der Schuel kannte in seinen Ansätzen noch Martin Buber. Hier ist die Quelle seiner Dialogphilosophie Ich und Du (1923). Der Grundgedanke, dass jeder Lehrer, jede Lehrerin, ein Schüler, eine Schülerin und jeder Schüler, jede Schülerin, ein Lehrer, eine Lehrerin ist, findet

Die Liebe und die liebe Bildung

sich auch bei Paulo Freire, dem lateinamerikanischen Antipoden, wenn er sagt: »Lehrende-Lernende und Lernende-Lehrende stehen im befreienden Bildungsprozess beide als anerkennende Subjekte den sie einander vermittelnden Objekten gegenüber« (1974: 85). Hier ist das Menschenbild zutiefst personal. Arthur Kauffmann hat recht, wenn er meint: Menschsein ist ein »Phänomen, das seinshaft und prozesshaft zugleich ist«, ist ein »Ensemble der Beziehungen« (zit.n. Auer, 2016: 1047). Für dieses Ensemble steht tausendfach bebildert »Herz«. Dem Volksmund ist klar, was Herzensbildung ist – manchen Humanwissenschaftlerinnen und Humanwissenschaftlern weniger. Oft einmal geniert sich die Erziehungswissenschaft ob solcher Bilder, ob einfacher Wahrheiten, bläst sich hochakademisiert auf, und vollgeplustert wundert sie sich, wenn sie manchmal nur mehr als Karikatur ihrer selbst wahrgenommen wird. Die Schule wird kopf- und herzlos: Entweder sie versinkt in Reformwut oder sie missrät zur Funmeile, wobei Wut und Fun ohnehin in einem besonderen Verhältnis stehen. Auch die Universität wird, wenn sie herzlos agiert, schnell einmal kopflos. Kopf- wie herzlos ist die Überbetonung von Formalia, die Lehrenden wie Studierenden abverlangt werden (oft mit dem Ziel, sie klein zu halten). Nur zu oft steht die Form im Vordergrund. Gibt es dazu einen kompatiblen Inhalt in Passform, in der passenden, angepassten Form, darf die Arbeit »passieren«. Ich denke da an manche Vorgaben für Seminararbeiten, in denen alles zurechtgequetscht werden muss; und in diesem »Zwetschkenformat« darf sich dann noch ein bisschen Inhalt verstecken. Hinzu kommt, dass manche Lehrende, von oben geknechtet, in ihrer aggressiven Traurigkeit darauf achten, dass auch wirklich jede Lösung ihr Problem hat. Die Parrhesia, die alte Redefreiheit, kollabiert dann, wenn Organisationen, kopflos-herzlos, nicht mehr die Wahrheit vertragen (vgl. Weiskopf, 2016 sowie Weiskopf & Miersch, 2016). Schlaffe Brüste hat sie, die »Nährende Mutter« (= Alma Mater), und ihr EKG zeigt Herzrhythmusstörungen. Hier wird auch Josef Aigners Ruf »Raus aus dem Hamsterrad« (2017) anschlussfähig. Darin kritisiert er die »ausgeprägte Regelungswut« und die kurzsichtige Verzweckung, die viele Lehrende zu Drittmittelknechten degradiert (s.u.). Schon in den 70er-Jahren hat Ivan Illich auf die Gefahr des »kommunikativen Infarktes« aufmerksam gemacht (1974: 29ff, 39ff). Muss denn Bildung auch noch nützlich sein? Eigentlich nicht. Denn die Quadriga Ehrfurcht, Nüchternheit, Dankbarkeit und Staunen kennt kein Kalkül, keine Utilitarisierung, keine Selbstbespiegelung. Erst aus der Nutzlosigkeit heraus mag sich in einem zweiten, aber eben erst zweiten Schritt, Nutzen ergeben. Aber das Staunen, um ein Beispiel zu nennen, ist im Augenblick seines Vollzuges nicht auf sich selbst bezogen. Eine Pädagogik des »um zu« (»ich mache netten Unterricht, um zu begeistern, um es selbst auch angenehm zu haben, um die Leistung zu steigern«) fixiert den Punkt des Menschen-Ansehens auf einen Zweck hin. Wohl mögen auch diese Aspekte ihre partiellen Sinnhaftigkeiten haben, sie treffen aber die Liebe nicht im Kern, denn der ist zweck- und bedingungslos (und manchmal riskant). Kleine Kinder strahlen nicht mit einem »um zu«. Sie tun es aus sich heraus. In der Liebe fallen die Filter (z.B. der des Kalküls) weg, im Kern ist die Liebe plan-los. Aber aus der liebevollen Haltung darf etwas erwachen, etwas wachsen: die Verantwortung (jenseits von Pflicht oder gar Dienstvorschrift).

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Zwischen diesem primären Akt von Bildung (Zwecklosigkeit) und dem zweiten Akt (ich darf Nutzen daraus ziehen, dass ich z.B. Englischvokabeln beherrsche) liegt ein Abstand, der vielfach übersprungen wird. Technizistisches Vokabular, Bildung zu fassen, ist die Verkürzung eines Geschehnisses, das in seinem Kern sprachlos bleibt. Ist es nun nicht Aufgabe der Wissenschaft, das Sprachlose in Sprache zu überführen? Ja, das stimmt, aber der Platzhalter, auf diese Sprachlosigkeit zu verweisen, muss offen bleiben. Platzhalter finden sich heute – heureka! (so im Zusammenhang mit Archimedes von Syrakus der Erstaunensruf im Alten Griechenland) – öfters in Natur- denn in Humanwissenschaften. Fast sind wir mit einer Schamhaftigkeit konfrontiert, die aber nicht aus Ehrfurcht vor dem Unaussprechlichen entsteht, sondern aus einer gepflegten selektiven Unaufmerksamkeit. Naturwissenschaften scheinen mit einem größeren Selbstbewusstsein an diese Platzhalter anzuklopfen, wohingegen manche auf den selbstgebastelten Thronen der Bildungswissenschaften meinen, an Wissenschaftlichkeit zu verlieren, wenn sie weiche Begriffe benutzen, die den Elchtest »beweisbar« nicht bestehen, weil sie zu einer anderen Verständnisgrammatik tendieren. Die Balance von Freude und Ernst ist ein weiteres liebe-volles Kennzeichen von Bildung. Wenn die Freude und der Ernst nicht koalieren können, bleibt nur mehr Bildung als Funmeile übrig. Herbert Pietschmann, Doyen der Physik in Österreich (2017: 21): »Wenn man die Freude nur allein betrachtet, wird daraus der Spaß. Und wenn man nur den Ernst betrachtet, wird daraus die Trostlosigkeit.« Er nennt das »die ›Schatten‹ dieser Zielbegriffe« (ebd.). Zu schnell heißt es, man müsse sich zwischen Spaß oder Ernst, Spiel oder Arbeit entscheiden. Das europäische Denken habe sich, so Pietschmann, zu stark auf einer Entweder-Oder-Linie entfaltet. Die Sowohl-als-auch-Linie sei die Stärke Asiens. Sie weiß mit Aporien (den unauflöslichen Widersprüchen) umzugehen. Mit Pietschmann ist das Abendland (das freilich nicht monolithisch ist; Anm. P. S.) »die einzige Kultur, die den Begriff Aporie nicht mehr kennt« (ebd.). In diesem Defizit (man könnte dazu auch Bildungsdefizit sagen; Anm. P. S.) sieht er einen starken Nachteil. Gegenüber Indern, Chinesen, Japanern könnte uns das »noch einmal auf den Kopf fallen«, kennen ihre Kulturkreise doch »ganz andere Denkformen« (ebd.). Spaß tendiert dazu, solipsistisch zu sein, Freude ist im Grunde relational auf die Mit-mir-Menschen bezogen. Sie ist und wirkt absichtslos. Dazu darf sich mit Ivan Illich »Die Beredsamkeit des Schweigens«, so ein Aufsatztitel in seinem Schulen helfen nicht (1972: 81ff), gesellen. Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen manche Prüfungsformen, als Kompostierung oder Recycling, als Kästchenausfüllwelt, nur noch systemadaptiv. Die Nützlichkeits(be)treiber verschachteln Bildung in Kartons wie in Plastik eingeschweißte Gurken. Manches Gut ist parfümiert (für die pädagogische Spaßkultur) und wegen kritischer Bazillen aseptisch, keimfrei, verpackt. Woran gearbeitet wird, ist die Minimierung von Funktionsstörungen, die die Systemadaption einbremsen. Bloße Nützlichkeits- und Effizienzsteigerungen, zu der sich Ranking und Controlling gesellen, sind einem relationalen Bildungsbegriff entgegengesetzt. Bildung als merkantiler Vorgang zur Hebung von Human-Verwertbarkeit bürgert Lehrende wie Lernende aus (zu Verwertungsinteresse und Kompetenzbegriff: siehe Meueler, 2011: 88). Die Ausbürgerung erfolgt aus allen Formen des Innewerdens, der Ergriffenheit und der Langmütigkeit, alles Kennzeichen der Liebe. Politisch adaptiv, die Umstände der Entfremdung nur kosmetisch verändernd und deshalb ureigent-

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lich unpolitisch, ändert sich à la longue innerhalb dieser Nützlichkeitsstrategien nichts wesentlich. Für all die Auf brüche in Richtung relationsbezogener, liebe-voller und zugleich politisch sensibler Bildungsarbeit steht beispielsweise das Werk Paulo Freires, insbesondere sein Buch Die Pädagogik der Unterdrückten (1973). Die Verkürzung von Problemlagen unter einem manchmal nicht unproblematischen Postulat »Lehre hat neutral zu sein« demaskiert sich nur allzu schnell als Tun im Dienste von Herrschaftsinteressen (ein Gedanke, der in der Kritischen Theorie bedacht wird) (vgl. Freire, 1973, 1974). Unreflektierte Neutralität (nach dem Motto: »Wir müssen neutral bleiben und dürfen uns nicht einmischen!«) kann schnell einmal den status quo legitimieren und so institutionelles Unrecht unterstützen. Dass das Wachstum zur Liebe, zur Negentropie nicht schmerzfrei vonstattengeht, darüber berichtet Igor A. Caruso, auf Teilhard de Chardin verweisend, in Die Trennung der Liebenden (2001: 211-217). Darüber berichten Therapieverläufe und darüber berichten Literaten wie der 2017 verstorbene Peter Härtling. In Leben lernen (2003) spricht er von den Schmerzen auf dem Weg der Menschwerdung: »Sie gehören dem Ich, das ich noch werde« (zit.n. Pfoser, 2017). So wird Gerechtigkeit, so wird Amorisation – der Ausdruck stammt von Teilhard de Chardin und bezieht sich in seinem anthropologischen Schaffen auf evolutive Aspekte. Dieser Gedanke der Menschwerdung hat auch in der Geistes-Bildung, einhergehend mit tausend mutativen Schritten, ihren Anklang. Psychoanalytisch hat diese Amorisation Igor A. Caruso fruchtbar gemacht. Sie darf durchaus für die Bildung in Korrespondenz gebracht sein, ist sie doch, ähnlich der seelischen Reifung, auch ein Werdegeschehnis in Sprüngen an Reife und Erkenntnis.

5. B ildungsziel : »D er gute Tod « Die Liebe umfasst mit Igor A. Caruso und Teilhard de Chardin die Negentropie (als Chiffre für das Wachstum zur Liebe). In der Bildsprache der beiden wirkt sie dem, was tödlich ist, wirkt sie der Entropie, entgegen (vgl. Caruso, 2001: 213f; Teilhard de Chardin, 1973, 1994). Sie überwindet ein tödliches Prinzip. Genauer gesagt: Sie gibt dem Tod lebensspendende Antworten und lässt ihn nicht tödlich enden. Die Merkantilisierung, die Erniedrigung des Menschen auf den Status des schulisch herangebildeten »enfant consumateur« – auf dass er die mittlere und höhere Reife der Markttauglichkeit erreicht – entspricht diesem tödlichen Prinzip der Todesvergessenheit, weil Lebensvergessenheit. Der Sponsoringeinbruch in die Schulen läuft parallel zum Lifestyle-Konsumismus. Die Kapitalisierung von Gefühlen durch eine mediale Erziehung zur Oberflächlichkeit ist nur mehr »folgerichtig«. Emotionale Kapitalisierung/Kolonialisierung ist nur ein anderer Ausdruck für Lieblosigkeit. Karikaturistisch zugespitzt: Wenn der Bildungsauftrag zu einer kritischen Medienerziehung nicht greift, dann bedient das Kind nicht nur den Touchscreen, es wird selbst zum Touchscreen. Leben scheint wie »weggewischt«. Eine Wischi-waschi-Generation kennt dann nur noch Oberflächenwissen, die Wünsche sind gestreamt und gescreent. Der Lehrer, die Lehrerin rutscht zum didaktischen Barkeeper ab. »Sobald man aufhört, eigentlich Wissenschaft zu suchen, oder sich einbildet, sie brauche nicht aus der Tiefe des Geistes her geschaffen, sondern könne durch Sammeln extensiv aneinandergereiht werden«, gibt uns Wilhelm von Humboldt als Merkkistchen für unsere Tage mit, »so ist alles unwiederbringlich und auf

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ewig verloren« (zit.n. Halmer, 2017: 17). So ernst stellt sich das Thema des Respektes, ein unverschnörkeltes Wort für jenen Grundstrom, der sich Liebe nennt. Ein Grundstrom, der von allen Farben und Tönen, Zwischenfarben und Zwischentönen menschlichen Mit- und Zueinanders im Bildungsgeschehen getragen ist – die Weisheitsbücher der Menschheitsgeschichte sind voll davon, vom Tibetischen und Ägyptischen Totenbuch bis zum Buch »Sprüche« der Bibel. Einer der edelsten Bildungsaufträge ist das liebevolle Aufmerken, dass der Tod dem Leben inhärent ist und es ein Leben lang zu lernen gilt, den guten Tod zu sterben. Denn anders lässt es sich nicht gut leben. Anders will »Mensch« psychisch nicht wieder und wieder geboren sein. Die Ikonologie kennt denn auch sarkophagähnliche Krippendarstellungen. Die menschenbildenden Texte der Liturgien sind Hebammentexte zu der bildenden Erkenntnis, dass der Tod die Pforte zum Leben ist. Und damit zur Liebe. Gesagtes kann durchaus säkular gelesen sein. Ist es nicht Aufgabe der Schule, diesem Bildungsauftrag des Pfortenöffnens nachzukommen? Clemens von Alexandrien, der zum Beginn des 3. Jahrhunderts die frühchristliche Schule von Alexandria leitete, schreibt in seinem Werk Paidagogis, dass der gute Pädagoge (damals noch ungegendert) so etwas wie ein guter Kapitän sein solle, der sich um seine Passagiere sorge. Diese Kapitänssorge, so der Meister vor rund 1800 Jahren, gehört jenen, die er »durch alle Gefahren zu ihrem Reiseziel bringen will« (zit.n. Konstantinou, 1988: 184). Das also ist ein Kernmodul unseres Lernauftrags: erwachsen zu werden. Das »Wenn ihr nicht so werdet wie die Kinder« in der Bibel ist keine Einladung zu Infantilismus, sondern die Einladung, in der Liebe stehend erwachsen zu werden, um dann, wieder Kind geworden, zu lernen, sich auf das gute Heimgehen (die ars moriendi) vorzubereiten. Kind und Tod ist ein nicht unbekanntes Sujet, etwa in der Darstellung der Entschlafung Mariens im Ikonentypus, in der die Seele als SeelenPuppenkind auf dem Arm Christi ruht. Was das mit der Liebe zu tun hat? Der Tod ist Lernprogramm, unabhängig davon, ob ich an ein Weiterleben glaube. Sein Hereinnehmen in das Leben erst gibt der Liebe den Raum zur Entfaltung. Darauf bedarf es Antworten, auch im Lebensraum »Bildung«. Kindwerden, der alte biblische Auftrag, ist dann mit allen Irrungen und Wirrungen (so haben Buber und Rosenzweig »Tohuwabohu« übersetzt) der Lernweg unseres Lebens. Was wir oft erleben, ist die Platzanweisung von Themen wie Liebe oder Tod an Fächer wie Religion oder Philosophie, in weiterer Folge an Bildnerische Erziehung und Musikerziehung. Im Prinzip sollten aber alle Fächer mit einbezogen sein. In diesem Kontext ist es bedauerlich festzustellen, wie sehr sich ideengeschichtliche Aspekte der Geographie verflüchtigt haben. Die Vernützlichung von Geographie in Richtung Wirtschaftskunde, der Auszug der Kulturgeographie, haben das Fach verdünnt. Die Einbindung von anthropos in das Fach provozierte indes die Mithereinnahme von Sinnfragen: In welchen sozialgeographischen, sozialgeschichtlichen, ideengeschichtlichen, religiösen Landkarten entfaltete/entfaltet sich Menschsein? Alle Unterrichtsfächer zeigen, wenn die Augen darüber nicht verschlossen werden, die härtesten Konfrontationen mit den Rändern des Lebens. Thanatoide Entwicklungen zeigen sich in der Flüchtlings- und Klimafrage. Anders als über die Konfrontation mit diesen Rändern lässt sich die Brücke von Bildung und Liebe nicht schlagen. Dabei gilt es, den Tod nicht engführend zu versachlichen, sondern das Angebot zu stellen, Studierende auf diese Ränder aufmerksam

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zu machen, etwa im Rahmen von Lehrausgängen zu Friedhöfen, Lesebücher der besonderen Art. Jüdische Friedhöfe, die KZ-Geschichten sichtbar machen, oder auch die Gräber der Namenlosen, die Armengräber, konfrontieren Studierende mit den Lebensbrücken (im Jüdischen heißt Friedhof chaim beth, »Haus des Lebens«) vor Ort. Das ist dann mehr als nur eine sachliche Information. Es ist ein Plus an Bildung, das über rein Faktisches hinausgeht.

6. R esümierend und ausblickend 6.1 Ver-rückt Liebe ist ver-rückt, unplanbar und unkontrollierbar. Ist das Bildungsgeschehen also nur etwas für Verrückte? Muss sich nicht auch der liebevollste Lehrer, die liebevollste Lehrerin an Vorschriften halten, z.B. bei der Brandschutzübung? Kann man dem Ich-Es-Modus (dem Verdinglichungsmodus bei Martin Buber) überhaupt entkommen? Nein, meint Buber, man kann nicht dauerhaft in der Ich-Du-Beziehung verweilen. Auch ein poetisch veranlagter Deutschlehrer, eine poetisch veranlagte Deutschlehrerin wird nicht einen Vormittag lang durchdichten können. Was er, was sie, aber in liebend-respektvoller Art den Kindern beibringen kann, ist, dass die Sprache lebt und dass sie ein Körper ist, der auch leiden kann, und keine Sache; dass Sprache ein Klangteppich ist und ähnliche Regeln hat wie die Musik, dass Grammatik Welt-Anschauung ist (vgl. Whorf, 1963). Wo berühren sich nun Bildung und Liebe? Weist Hans Blumenberg einen Weg, wenn er sagt: »Bildung ist ein Horizont« (zit.n. Lederer, 2010: 88)? Bernd Lederer (2010) bettet dieses Zitat Blumenbergs in seine Überlegungen über Bildung ein, in denen er die Tiefenstruktur von Bildung mit einem Deckenfresko vergleicht (auch wenn er betont, dass ihr Gesamt mehr ist als die Summe seiner Teile). Damit sind »der Eigencharakter und die Eigendynamik jeder Erkenntnis, jedes Bildungserlebnisses angesprochen. Bildung ist folglich ein Gesamtkosmos, Bildung steht für das von einer Geistes- und Werthaltung der Neugierde getragene Bauen und Erkennen eines Systems und nicht nur seiner Einzelteile« (Lederer, 2010: 88). An diesen Horizonten fließen Quantität und Qualität, Sagbares und Unsagbares, Bild und Bildung und das, was Liebe genannt ist, zusammen. Das Berühren eines solchen Horizontes besagt, dass Bildung kein Produkt, kein Event, kein Konsumgut mit Behübschungsschleife ist. Dass es nicht darum gehen darf, Kinder in den Konsum- und Medien-, Dienst-, Waren- und Personenmarkt einzuschleusen (und Lehrende dabei zu Schleusenwärtern und Schleusenwärterinnen zu degradieren). Solange Bildungseinrichtungen nur als mehr oder weniger freundliche Subunternehmen zur Züchtung von konsum- und lifestyle-tauglichem Verhalten fungieren und der »homo consumens« (Fromm, 1993: 79) oberstes curriculares Ziel ist, ist Liebe abwesend. Wohl ist von den Gegenstimmen zu hören, den Bestpractice-Beispielen, doch gerade sie enttarnen vielfach Institutionen als Kosmetiksalons. Was soll die freundliche Maske verdecken? Im Universitätsbetrieb sind es das beinharte Ranking, die totale Subordination unter wirtschaftliche Zwänge, die die Human- und Geisteswissenschaften aushungern, wenn sie für das System von Gier und Beschleunigung, von beschleunigter Gier, nichts abwerfen. Die Unterwerfung unter D(T)rittmittel, ist bezeichnend (vgl. Aigner, 2017). Auch soll die

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Schimäre Freiheit verdeckt werden, die nur mehr Marktfreiheit und Warenwahlfreiheit im Rahmen unifizierter Globalmärkte (von uni[s]fizierten Bildungswarenhäusern) darstellt. Diese Art von Freiheit, auch im Bildungssystem, ist nicht jene der Liebe. Bildung ist kein Warenhaus, in dem ich lehrerbegleitet Bildungsregale abgehe. Eine befreiende Bildung orientiert sich an einem Freiheitsbegriff, der weder narkotisierend noch lieblich ist: »Er stürzt die Mächtigen vom Throne und erhöht die Niedrigen« (Lk 1,52). Befreiend richtet sie sich gegen die allgegenwärtige Sucht des Mehr-Habens, der Pleonexia (vgl. Marcuse, 1980: 27). Ist Bildung nur mehr freundlich dirigierte und mitunter kindgemäß zubereitete Manipulations- und Best-Practice-Masse? Marcuse (1980: 31; s.a. Thalhammer, 2017: 23) meinte denn, auf Adorno verweisend: »[D]ie Ideologie [steckt] im Produktionsprozeß selbst.« Dieser Prozess ist in den Karikaturen von Claudius Ceccon, zu finden in Paulo Freires Der Lehrer ist Politiker und Künstler, in Form von Schule und Universität als Aufziehmännchenfabrik illustriert (Freire 1981: 17-35). Gelingt es Bildung, sich auf besagte Horizonte (Ehrfurcht, Dankbarkeit, Staunen und Nüchternheit) zu orientieren, tangiert sie freilich einen Andachtsraum und öffnet den Horizont der Hingabe.

6.2 Abkunft und Hinkunft Ist Bildung nur ein Modul-Baukasten zur Nützlichkeitssummierung, um im blind rotierenden Roulette »Wirtschaft« immer besser bestehen zu können? Wenn heute ressourcengeleitet streng zwischen Ausbildung und Bildung unterschieden wird, ist das ein Armutszeugnis. Ausbildung wäre demnach das Notwendige, die Produktion des berufs- und markttauglichen »Untertans« (vgl. Illich, 1972; Halmer, 2017: 17). Das Wissen darum, dass dieser ein Opfer von den Strukturen ist, auf die hin er ja ausgebildet wurde, muss durch den allein-seligmachenden Glauben an die Konsumfreiheit schon frühzeitig betäubt werden. Konsumerziehung ist weitgehend nur Systemkosmetikum. Für den besagten Untertan passt folgender Ausdruck: Mietling. Wir finden ihn bereits bei Joh 10,10-13: »Der Mietling achtet der Schafe nicht.« Er flieht vor dem Wolf, lässt die Schafe allein. Dem ist der pastor bonus entgegengestellt (Joh 21,17). Bei den Kappadoziern des 4. bis 6. Jahrhunderts, respektive dem Hl. Chrysostomus, ist das verdingte, an entfremdete und entfremdende Zustände »vermietete« Leben wiederholt angesprochen. Der Unterdrückte ist in Miete, ist ein- und ausgemietet, vermietet. Damit ist etwas angesprochen, an das Marx quellenvergessen anknüpfen wird (vgl. Jungclaussen, 1974: 54, s.a. Illichs Konvivialität: 1978: 163). Mag pure Ausbildung noch so elegant, technisch gestylt und internationalisiert daherkommen, wenn sie basal wie zentral nicht auch Bildung trägt, dann ist sie nur mehr eine Trainingsanstalt für Systemadaption. Mag sie elektronisch auch bunt sein, sie ist dann mit Humboldt (zit.n. Halmer, 2017: 17) kein sinnstiftendes, kein »bildendes Organ des Gedankens« mehr. Auch dann nicht, wenn der Spaßfaktor beim Lernen hoch ist, denn die Fun-Industrie ist seit den Zeiten der römischen »Brot und Spiele« längst schon in System-Koalition. Bildung wird als orchideenartige Nische, als Luxus beibehalten, solange sie den Markt nicht nachhaltig stört (vgl. Liessmann, 2006: 54). Dazu gehören sprachimperialistische Züge wissenschaftlicher Ideologien. Zum Beispiel exkludierende Sprachformate. Ein Sprechtech extremer Lieblosigkeit im Dienste der Bildungsconquista. (Zur kulturellen Invasion: s. Freire, 1973: 129f) Eitelkeiten zeigen sich

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deutlich in Exklusionssprache, einhertrabend mit Unverständlichkeit. Ein Sprachgladiatoren-Habitus (»Man muss mich erst einmal nicht-verstehen!«) tut Übriges. Autistisch, selbstreferentiell werden alle Abkünftigkeiten des Denkens vernebelt. Performance ist alles. Dogmatisch und definitionsmächtig? Danach handeln doch nur die Anderen, selbstdefinitorisch zu solchen gemacht. Die eigene zwanghafte Unoffenheit (Täuschen als Systemfaktor) maskiert die Kränkungsgier, die immer, um ein altertümliches Bild zu gebrauchen, mit der Hoffart einhergeht. Wie diese im akademischen Getriebe erklären? Am besten als die Unfähigkeit zur Demut. Sie lässt nicht zu, dass ich mich verdanken und mein Haupt verneigen müsste. Vergessen ist die Verbindung von Demut zu Dienstmut, ja zu Mut überhaupt. Die Religionen sind es, die, neben den Abkünftigkeiten auch die Hinkünftigkeiten, die großen Platzhalter für Bildung, in den Horizont bringen. Das ist im säkularen Westen freilich schwer zu begreifen. Dass durchaus angebrachte Gesellschaftskritik sehr schnell in Dogmatismus und den damit verbundenen Herrschaftsanspruch kippen kann, ist eine der Ursünden der nicht immer in Ehren ergrauten 68er-Bewegung. Obwohl Ontologie als Unwort mit Spott überzogen wird (»Ontologisierung lauert überall!«), gewinnen solche Dogmatismen durchaus »ontologische« Gravität.

6.3 Bildungsautismus Den akademischen Autismus, das Sprachgesäusle, das Sprachgebläse, das nur trockene Blätter durcheinanderwirbelt, gab es wohl immer, medial sind sie nun aber massenhaft multiplizierbar, mitunter sogar gerankt »like- und smiley-fähig« geworden. Wo Eitelkeit und Egoshootergestus den Lehrton angeben, ist für Dank kein Platz, und Liebe wird allenfalls zum bescheidenst vorgetragenen Eigendekor. Es überrascht nicht, dass Dankbarkeit in bildungs-neoliberalen Designs nicht mehr erstrangig gesetzt wird. Feigheit wird als Mut zur Schau gestellt. (Die Kontrollwut hat damit zu tun. »Controlling« – früher gab es dafür ein gutes deutsches Wort: Misstrauen.) Dass in Naturwissenschaften tendenziell dankbarer als in den Humanwissenschaften verfahren wird, wirft ein bezeichnendes Licht speziell auf die Humanwissenschaften. Manche – nicht nur, aber auch aus der Pädagoginnen- und Pädagogenzunft, es sind weder die Besten noch die Gebildetsten – fühlen sich geradezu beschämt, narzisstisch gekränkt, dass sie ihr Wissen anderen zu verdanken haben. Mit dem Erblühen der Quadriga (vgl. Punkt 3) als bildendem Moment entfaltet sich relationale Pädagogik, entfaltet sich jenes »Zwischen«, von dem Buber (1982: 167) spricht: Es ist aber kein Trennendes, es ist vielmehr etwas, das den Dialog erst konstituiert. »Jenseits des Subjektiven, diesseits des Objektiven, auf dem schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen, ist das Reich des Zwischen.« Für Carl Friedrich von Weizsäcker (1963) Grund, sich »Ich und Du« atomphysikalisch zu nähern. Für Hilde Domin Grund für ihre eingangs zitierten Zeilen: »Fürchte Dich nicht, es blüht hinter uns her«. Nun sind ja solche weichen Begriffe wie »Liebe« für manche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen »unfeine« Begriffe. Sie scheinen nicht so recht zur Wissenschaftlichkeit zu passen. Sie scheinen dem Paradigma »Rhizom« als Grundmuster jedweder Entwicklung (auch jener von Identitäten) zu widersprechen. Das »Mensch-Geworfensein«, das in postmodernen Bricolage-Identitäten an die Stelle

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eines »Mensch-Gewordenseins« als je neuen Werdegeschehnisses getreten ist, ist nicht die Frucht von Liebe als einem ens bonum. Identitätsdiffusionen (vgl. Erik H. Erikson, Otto F. Kernberg) haben auch diese Quelle. Entwurzelung ist ein besonderer Aspekt dieser Entwicklungen. Wer aber, wie Simone Weil es formuliert, verwurzelt ist, entwurzelt nicht. Wurzelnschlagen und Heimatfinden klingen altmodisch, wie alle großen Wahrheiten.

6.4 Die Randnotiz eines Physikers Manche Pädagoginnen und Pädagogen machten in brüsker Ablehnung des Personalismus (G. Marcel, E. Mounier, J. Maritain, N. Berdjajew, E. Coreth, F. Pöggeler u.a.) einen großen Bogen um die »Liebe«. Dem Thema widerfuhr ein ähnliches Schicksal wie den Großen Erzählungen im Zuge der Postmoderne (in der Überzeugung, das Postulieren des Endes der Großen Erzählungen sei selbst keine Erzählung). Kurzum, die Liebe wie die Ehrfurcht, die Dankbarkeit und das kindliche Staunen schienen und scheinen in den streng nützlichkeitsorientierten Formen, Erziehungswissenschaften zu betreiben, keinen gewürdigten Platz zu finden. Schon eher finden Nichtpädagogen, wie der Physiker Herbert Pietschmann (2017: 21), den Mut, Selbstverständliches (das aber bei manchen aus den Bildungswissenschaften nicht von selbst verständlich ist) zu benennen: »Um Erfolg zu haben, muss ein Lehrer oder eine Lehrerin die Schüler einfach gernhaben. Es ist eine Frage der Liebe, nicht des Intellekts. Es gibt kaum etwas Schöneres, als jungen Menschen, die noch nicht fertig sind, dabei zu helfen, sich zu entwickeln. Für diese Arbeit muss man ja geradewegs dankbar sein.« »Helfersyndrom«, »realitätsfremd« ist noch das Vornehmste, was man bei solchen Meldungen in so manchem bildungswissenschaftlichen Institut zu hören bekommt. Es fehlt nicht an Spott. Dabei könnten wir bei einigen Physikern und Physikerinnen Nachhilfeunterricht nehmen. So etwa bei Einstein (1988 [1934]), Heisenberg (1977, 1988 [1969], 1989) und Schrödinger (1989a [1958], 1989b [1925 u. 1960], 1989c [1944]). Sie alle tangieren in ihren philosophischen Schriften besagte Quadriga. Von der Tendenz, die Liebe als Erfindung und Illusion des 19.  Jahrhunderts abzutun, war bereits die Rede (s.o.). Auch Theodor Adorno (1962: 40) steht in diesem Kontext eher wie ein Findling da, wenn er schreibt: »Fürchtete ich nicht das Missverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe.« Die Denkfigur, dass ob der Unterdrückung die einfachen Leute erst gar keinen Raum gehabt hätten, in Liebe zu verweilen, und dass erst die bürgerliche Etablierung den Raum dafür geöffnet habe (Liebe als Freiheit, als bürgerliches Desiderat), hat zwar gewichtige Annotationen, geht aber, auch bei Berücksichtigung nachvollziehbarer zeitgeschichtlicher Momente, am Wesen vorbei und entpuppt sich als ideologisch aufgeladen. Von der Zeit des Hohen Liedes bis herauf zu Theodor Adorno zieht sich etwas, das Ehrfurcht und Liebe in gegenseitige Nähe, ja in Unabdingbarkeit bringt. Zieht sich etwas Nicht-Statisches: Erziehung wie Bildung als jeweils im Fluss, als Werdeganzes hin zu einer Entfaltung, hin zur Mutation zu sehen. Eine liebevolle Sicht auf sich und (s)ein pädagogisches Tun zu werfen, berührt die Identität im Kern, das heißt bei sich zu sein und dem eigenen Ich ein Leben lang entgegenzuwachsen. Wenn Nick Broomfield 2017 seinen Film über den Abgesang der Popdiva Whitney Houston »Whitney: Can I be me« betitelt, schwingt ein Sehnen mit. Ange-

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lus Silesius (1979 [1675]: 32) fasste schon im Cherubinischen Wandersmann Unfassbares: »Mensch werde wesentlich!« Was späterhin Igor A. Caruso (1972: 75) zum Konsonieren bringen wird: »Der Mensch muss zwar werden, aber das, was er ist.« Das ist ein lebenslanger Bildungsauftrag und eine lebenslange Liebesorientierung, jenseits aller Utilitarismen. Und allen Marketings.

6.5 Marginalien Im Folgenden seien vier Marginalien zum Thema »Bildung und Liebe« angefügt: Erstens: Eine und nicht die geringste Marginalie ist an die Leibeserziehung/ Sporterziehung zu richten. In ihr haben Bildung und Liebe eine besonders empfindliche Schnittfläche. Gelingt es, darin das Kreative zu betonen, ist dieses Unterrichtsfach ein Transmissionsriemen zur Selbstfindung. Gelingt es nicht, kann sehr leicht eine Kinderseele verletzt werden. Das thanatoide Element in puncto Leibeserziehung hat besonders in der NS-Zeit einen Höhepunkt erfahren, in Form des gestählten Leibes für die Todesmaschinerie Krieg. Es gibt kaum ein zweites Fach, in dem so massive Menschenrechtsverletzungen und Demütigungsrituale vonstattengingen wie in diesem Fach, vor allem als Leibeserziehung noch Wehrertüchtigung und Abtötung der Sinnlichkeit bedeutete. Wir sehen an einem solchen Beispiel, wie das Liebesgebot im Kontext Schule verletzt wurde. Es wird aber auch heute verletzt, wenn Unterricht einschließlich Leibeserziehung nach dem Grundsatz »schneller, besser, höher, weiter« erfolgt. Dieser Grundsatz ist nur die Umsetzung der Regeln eines unkontrollierten, menschenverachtenden Wirtschaftswachstums. Was auf der Strecke bleibt, ist die relationale Pädagogik im Sinne von Buber und Freire (s.o.). Sind Unterricht und Lehre relational, sind sie im Fluss des Lebens und seiner Ränder. Das heißt, das alte panta rhei wird anschlussfähig, und die Bildung wird ökosophisch. Sie weiß sich so auch zu verdanken. Die Danksagung ist in allen Religionen rituell eine Liebeserklärung an die Schöpfung. »Leiben«, »leben«, »lieben«: Die alten l-b-Verbindungen sind nicht von ungefähr verwandt. Zweitens: Albert Schweitzers Satz »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will« (1974: 377) illustriert eine ökosophische Dimension, die alle Aspekte von Bildung tangiert. Die Ethikfrage berührt eben nicht nur Ethikunterricht bzw. Religionsunterricht, sondern alle Fächer. Es geht immer um oikos (»Haus« im Sinne von »die Zelle« genauso wie im Sinne von »das Weltall«). Darauf hat auch Vaclav Hável in Moral in Zeiten der Globalisierung (1998: 207) Bezug genommen. Die Miteinbindung dieser Gedanken ist, um mit Paulo Freire zu sprechen, eine »Erziehung als Praxis der Freiheit« (1980). Es gibt kein Unterrichtsfach, das unter »liebenden Gesichtspunkten« an der Schöpfungsverantwortung vorbeisehen könnte. Die Verantwortung den Mitmenschen gegenüber ist damit Partitur zu lesen. Drittens: Auch Bildungsinstitutionen sind Orte der Sehnsucht des Menschen nach einem Ort des Gemochtwerdens und Geborgenseins. Das betrifft Studierende wie Lehrende. Es berührt etwas, das (religions-)anthropologisch vom pränatalen Raum bis zu jenem Etwas reicht, von dem es in religiöser Lesart heißt: »Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen«. Diese Ursehnsucht, die alles durchwirkt, und damit natürlich auch den Resonanzraum Bildung, weist uns darauf hin, wie zerbrechlich Lehrende inmitten dieser (ungern eingestandenen) Sehnsüchte sind. Wie der Missbrauch von Bildung in der NS-Bildungsgeschichte zeigt, ist kein Fach

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(so wie die Leibeserziehung diente z.B. auch die Physik der Wehrerziehung) frei von emotionalen und ideologischen Verführungen. Lehrpersonen können in der all- und alles umfassenden, herz-zerreißenden Sehnsucht, gemocht, respektiert, geliebt (oder gefürchtet, als Kippvariante der Liebe) zu werden, die eigene verlorene Kindheit nicht nachholen. Das kann selbst- und andere gefährdend sein. Diese Erkenntnis ist so nüchtern wie heilsam (und notwendig). Eine Aufgabe der Bildung besteht darin, respektvoll (Respekt ist der Schlüssel zur Liebe) das Fremde dem Eigenen und das Eigene dem Fremden näherzubringen. Das Eigene wie das Fremde ruhen auch in den Lehrerinnen- und Lehrerseelen und in den Schülerinnen- und Schülerseelen, dort, wo es wohl am wenigsten vermutet wird und wo es auch am schwersten zu finden sein mag: in mir. Im Eigentlichen fremd und im Fremden zutiefst eigen, ja ureigentlich sein, im Grunde eigen-fremd wie fremd-eigen zu sein, das kreuzt und durchkreuzt unser Leben im Bildungswege, erschreckend wie auch heilsam. Heimeliges und Unheimeliges können einander dabei nahekommen. All das sogenannte Eigene und sogenannte Fremde in besagtem Respekt mehr und mehr in die Nähe von Verträglichkeit bringen, bei mir und anderswo, ist ein dringlicher Bildungsauftrag. Dabei können sie nahe zusammen kommen, das Heimelige und das Unheimelige. Diese Verknotungen lösen zu helfen, ist auch ein Auftrag. Über Erinnerungs- und Trauerarbeit hinaus ist etwas angefragt, was mit der Dialogpädagogik Martin Bubers gut nachgezeichnet werden kann. Es gilt wohl, das Eigene und das Fremde, das Bergend-Heimatliche und das Entbergend-Unheimatliche, wieder in geduldigen Schritten der Bewusstwerdung in Relation zu setzen und die Gegensätze zu versöhnen. Dann stürzt die Inlandsverteidigung auf Kosten der »Ausländer« und der »Anderen« in sich zusammen. Dann wird der Boden dafür bereitet, das schattenhaft Andere (z.B. im eigenen Land der Lehrerinnen- und Lehrerseele) wieder mit dem Eigenen in eine zunehmend verlässlichere Verbindung zu bringen. Viertens: Bildung und Liebe: Gibt es nun ein gemeinsames Gewebe, das alle Fächer verbindet? Das alte Griechenland hat dafür das Wahre, das Gute und das Schöne (s.o.) in Verbindung gebracht. Über alle Zeiten und Gezeiten der Jahrhunderte hinweg ist davon nichts zu subtrahieren, wohl wissend, wie unterschiedlich die einzelnen Momente diskutiert werden. Im Lichte der erwähnten Ökosophie als einem Aspekt der Liebe könnte die Dimension der Gastfreundschaft dazugesellt werden. Hier wird fächerübergreifend der Dritte Defintivartikel Kants zur allgemeinen Hospitalität als Kernpunkt der von ihm sogenannten Weltbürgerschaft aktuell (Kant, 1977 [1795]: 214).

7. Z wei W örter zum S chluss Bildung und Liebe? Manche sehen darin eine Spannung, entweder als nicht aufzulösende, oder als fruchtbare und lebensweisende. Die Ökosophie, von der die Rede war, hat ein außereuropäisches Pendant. In den Cantares Mexicanos, einer Sammlung von 91 Liedern in Náhuatl, heute in der Biblioteca Nacional in Mexico City, heißt es:

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»Ich singe die Bilder aus den Büchern vor, Ich entfalte sie, Ich bin jener blühende Papagei, der die Codices zum Sprechen bringt, drinnen im Bilderhaus.« (König, 1986: 141) »Bilden, Bild und Bildung« – mit der Liebe verwandt? Jedenfalls können Bilden, Bild und Bildung Ausfluss dessen sein, was das alte Griechenland als energeia bezeichnete (und von Wilhelm von Humboldt aufgenommen wurde), als Kräftigkeit inmitten aller provisorischen (auch »professorischen«) Ohnmächtigkeiten. Dazu gesellten sich in alten theologischen Traditionen die Dynamik und der Geist (pneuma). Auch säkular gelesen darf Bildung energievoll, dynamisch, geist-voll sein. Zurück zu den Cantares: In diesem Ambiente wirkte Nezahualcoyotl (14021472) vom Stamm der Acolhu im alten Mexiko. Er war Regent und Baumeister, Dichter und Astronom im Stadtstaat Texcoco. Er fühlte sich dem Herrn »der Nähe und des Ganzen« verbunden. Er sammelte um sich Bildner, Keramiker, Musiker und Wissenschaftler. Er wusste um das Verhältnis von Bild und Bildung. Wissenschaft ward zu seiner Zeit tecpillatolli, »genaue Sprache«, genannt. Die Künstler waren zu seiner Zeit steuerfrei, ihr Wohlklang, hieß es, sei ihre Steuer. Nur wenn die Musiker falsch spielten, drohten ihnen saftige Strafen. Die Wissenschaften genossen höchstes Ansehen, wenn Historiker aber die Geschichte verfälschten, ereilte sie die Todesstrafe (vgl. Martínez, 1972: 11ff, 22ff, 39ff). Sein Herz pulsierte mit dem Universum, mit den Schmetterlingen und Melodien. Das Universum floss aus in seine Poesie von »Blume und Gesang«. Darin ist sein Weltbild, sein oft verzweifelt-sehnsüchtiges Suchen nach dem »wahren Wort« in Farben vertont. »So lasst uns denn in unseren Liedern erkennen« war gleichsam die Vignette über seinem Leben. Der Staatsmann und Philosoph meinte, dass es nicht die Kriege, sondern vielmehr die Lieder seien, die dereinst vom Ruhme künden werden. Ähnlich wie es der Hl. Paulus am Areopag in Athen tat, sprach er zu seiner Zeit hymnenreich von seiner Suche nach dem »unbekannten Gott« (vgl. ebd.: 74-85). Er fand sich auch im Dienst an den Armen. Sein Weg zur Macht war dornenreich. Vorher war er Flüchtling. Im benachbarten Tenochtitlan (heute Mexico City) ging es ihm aber gut. Er konnte schon in jungen Jahren erfahren, was in dem deutschen Wort »Bildung« meisterlich zum Ausdruck kommt, nämlich, dass der Wissenserwerb mehr ist als nur Ausbildung alleine, dass Wissen in seiner Tiefe nahe der Weisheit liegt. Er ordnete an, dass für die Armen die Ränder der Straßen stets mit Bohnen und Mais bepflanzt seien. Sein Bildungskonzept war umfassend, liebe-voll. (Zu Nezahualcoyotl: s.a. Krumpel, 2010: 130-135 und López Austin, 1985: 57ff). Einmal verglich sich Nezahualcoyotl auf der Suche nach dem Göttlichen mit einem Glühwürmchen in der Nacht. Ernesto Cardenal (1973: 43-58) hat dies in poetische Form gegossen. Im Poesieministerium Nezahualcoyotls wurde ein Bildungskonzept entworfen. Dabei standen zwei Fächer im Zentrum: Ixtlamachilitztli und Yolmelahualiztli, was so viel heißt wie »den Gesichtern Weisheit geben« und »die Herzen aufrichten« (vgl. Muñoz López, 2009: 15; Cervantes Guzmán, 2012: 72; Nebel, 1986: 339).

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Ob sie die Mitte von Bildung ausmachen? Diese zwei Wörter? Heute droht dieser Kern durch Einseitigkeiten zerschlagen zu werden. Oder doch nicht? War da ein Glühwürmchen?

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Bildung als Weg gemeinsamen Erkennens Peter Graf

Ein junger Mann hört auf seinen Stiefvater. Dieser gibt dem Jugendlichen den dringenden Rat, in die Welt hinauszuziehen, um etwas Großes zu unternehmen. Es ist eine der frühen Erzählungen der Menschheit, die so beginnt. Im Mythos des Perseus nimmt der junge Mann die ihm gestellte Aufgabe an, selbst aufzubrechen, um seinen Weg der Vollendung zu beschreiten. Perseus wagt es, in die Fremde zu gehen und dort die drachengestaltigen Gorgonen herauszufordern. Seine Aufgabe besteht darin, unter den zahllosen Schuppen ihrer Köpfe, die sich endlos vermehren, das verborgene Haupt der Medusa zu erkennen, um es dem Ungeheuer abzuschlagen und so die Gorgonen zu vernichten. Die besondere Gefahr, die von Medusa ausgeht, besteht darin, dass jeder, der sein eigenes Gesicht ihrem Bild zuwendet, durch den bloßen Anblick zu Stein erstarrt. Perseus besteht diese Bedrohung dadurch, dass er sein Gesicht hinter seinem Schild verbirgt, dessen glänzende Mitte jedoch das Bild der Medusa ›dreifach‹ für ihn spiegelt. So erkennt er das Untier, ohne sich seinem Anblick auszusetzen, und kann es mit seinem Schwert enthaupten. Die mythische Erzählung fügt noch hinzu, dass Perseus den Kopf der Medusa in seine Tasche steckt und mit sich nimmt, denn er wird ihr bloßes Bild noch mehrmals selbst benötigen, um seine Gegner durch das starrende Bild der Medusa zu lähmen und so seinen Weg zu vollenden. Hat es je eine Welt gegeben, in der jeden Moment so viele neue Bilder ihr Haupt erheben, die die Welt ringsum ebenso verdinglicht vorstellen wie sie sie verstellen? Für Kinder und junge Menschen ist die Flut aufregender Bilder, die auf sie einströmt, nicht nur ein Ereignis, das sie bewegt, sondern sie auch bedroht. Niemand kann das je neue ›outfit‹, wie andere und man selbst nach außen erscheinen sollten, wirklich erfüllen. Über die Medien begegnen Kinder bereits in der Vorschulzeit täglich visuellen Bildern über die Welt, die sie früh lesen, ohne sie verarbeiten zu können. Kommen sie in die Schule, so werden den bisherigen Vorstellungen ebenso neue wie fremde Perspektiven aus der Welt der Bücher, Sprachen und des Fachwissens hinzugefügt. Dabei genügt es in der Schule nicht länger, neue Dinge als Gegen-stände nur anzusehen, sondern es geht darum, sie zu verstehen, mit ihnen umzugehen, so ihnen gegenüber als Lernende, als Lernender zu bestehen. Wie im Mythos ausgesprochen, geht es darum, die Erscheinungen der Welt im eigenen Inneren zu spiegeln, um sie selbst zu durchschauen und auf sie antworten zu können. Schülerinnen und Schüler haben einen weiten Weg erfolgreich zu bestehen, um über ihre Schulbildung dahin zu gelangen, eine Fülle komplexen Fachwissens

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sich innerlich anzueignen, um es im späteren Leben selbst verwenden zu können. Wer wird sie als Kinder nicht nur nach einem Vorbild ausbilden, ihnen Verhaltensmuster vermitteln, sondern sie befähigen, als individuelle Person ihre Umwelt zu reflektieren, um selbst in den Aufgaben zu bestehen, die sie ihnen stellen wird? Wer erzieherische Verantwortung für junge Menschen im Sinne von Bildung übernimmt, stattet sie über Jahre zusammen mit anderen mit einem Schild der Reflexion aus. Die innere Spiegelung äußerer Eindrücke wird sie befähigen, als individuelle Person die einströmenden Wahrnehmungen zu durchschauen, um selbst die notwendigen Entscheidungen für ihren eigenen Weg treffen zu können. Junge Menschen zu bilden, führt über das Ausbilden nach vorgefertigten Mustern hinaus, wenngleich dieses eine Reihe von Fertigkeiten zur Voraussetzung hat, die praktisch zu vermitteln sind. Das Konzept der Bildung ist – über das bekannte Erziehen in Lateinschulen hinaus – gedacht worden, um dem einzelnen Menschen mit seinen individuellen Begabungen gerecht zu werden. Vom Prozess des sich ›uzbildens‹ zu sprechen, ist nicht zufällig im Umkreis der Schule des Mystikers Meister Eckhart im Spätmittelalter erfunden worden. Es geht nicht mehr nur um die Ausbildung eines bestimmten Standes, bzw. des männlichen Geschlechts für bestimmte Aufgaben, nämlich vor allem jene der Kleriker in den Kirchen. Vielmehr haben nach diesem Konzept alle Menschen, unabhängig von ihrem Stand und Geschlecht, die Aufgabe, im Freiraum der Schule ihre inneren Anlagen aus-zu-bilden, somit konkret zu entfalten, was sie als einmalige Person kennzeichnet. Für das 14. Jahrhundert war dieser Gedanke, alle Menschen gleichermaßen zu bilden, revolutionär, obwohl es längst Schulen gab, um Lesen und Schreiben, Rechnen und Grundkenntnisse in den ›sieben freien Künsten‹ zu lernen. Die Septem artes liberales waren: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Sie sollten den ›freien Mann‹ (damals noch nicht gegendert) auszeichnen, der keinem Broterwerb nachgehen musste. Diesem klassischen Konzept der Erziehung als ›educatio‹ für bestimmte Berufe steht mit dem ›uz-bilden‹ des Menschen eine Vorstellung gegenüber, die jedem Menschen ganz unabhängig von seiner Stellung und seinem Geschlecht den gleichen Rang zuerkennt. Im Blick auf seine innere Begabung kommt jedem Menschen als Geschöpf Gottes der gleiche Rang zu. Eine Generation vor Meister Eckhart hat Thomas von Aquin (1225-1274) die einmalige Qualität eines jeden Menschen gelehrt, die Person nicht mehr nur als Exemplar der Art Mensch oder eines Geschlechts verstanden, sondern jedem Menschen ein vollendetes eigenes Sein zuerkannt. So heißt es bei ihm »persona est perfectissimum in tota natura« (STh I 29, 3): Die Person ist das vollendetste Sein in der Natur. Das Konzept der Bildung folgt dieser anthropologischen Linie, es stellt eine frühe Ankündigung der Konzeption einer allgemeinen Würde des Menschen dar, wie sie Pico della Mirandola 1486 vorgeschlagen hat. Pico della Mirandola wurde für seine Anthropologie verfolgt, doch die weitere Entwicklung Europas wurde von seiner Konzeption kulturell, rechtlich und politisch bestimmt (vgl. Pico della Mirandola, 1997). ›Bildung‹ ist nie nur als Konzept des Unterrichts und der Lehre gedacht worden. Sie stellte immer einen Lernprozess des einzelnen Menschen dar, der sich selbst als einmalige Person aus-bildet. Insofern dient die Institution Schule jungen Menschen in gleicher Weise, wenn sie die Aufgabe der ›Bildung‹ übernimmt, und dabei deren individuelle Person in ihre Mitte stellt. Nicht ungleich dem Helden im Mythos soll der Mensch durch Bildung das in seinem inneren Selbst liegende

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Potenzial entfalten und so als Individuum auf seinem einmaligen Lebensweg in den Herausforderungen bestehen. Bildung befähigt Menschen dazu, dem inneren Ruf ihrer je eigenen Berufung zu folgen und diese zu erfüllen. Sie spiegelt daher gleichermaßen die einmalige wie gleiche Würde eines jeden jungen Menschen. Entsprechend gibt es keine höhere Aufgabe als diese innere Begabung der Person zu entfalten. In dem Maße, in dem Menschen in gegenseitiger Achtung einander begegnen, treten sie in ein Verhältnis der Beziehung, das sie selbst verändert, indem sie sich gegenseitig spiegeln. Indem sie sich gegenseitig informieren, bringen sie ihre je eigene Reflexion in Form, ob sie dieses bewusst tun oder nicht. Insofern ist Bildung der Kommunikation vergleichbar, die immer stattfindet. Das erste Axiom von Paul Watzlawick dazu lautet: »Man kann nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick, Beavin & Jackson, 2011: 33f). In schulischer Bildung verlaufen diese Prozesse bewusst. Nach Bildung in der und durch die Schule zu fragen, bezieht sich daher nicht auf das Ob von Bildung, sondern auf das Wie ihres Verlaufs und die Bedingungen des Gelingens von Bildungsprozessen zwischen den Generationen und zwischen Gleichaltrigen.

1. N eurobiologische G rundl agen zur menschlichen K ognition Die moderne Kognitionspsychologie gründet wesentlich auf Erkenntnissen der Neurobiologie, die zu einem großen Teil erst seit einigen Jahrzehnten vorliegen, so zur Architektur des sehenden Gehirns (vgl. Hubel, 1989: 103f). Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie empirisch belegt sind und in ihren Grundaussagen für alle Menschen gleichermaßen Geltung haben. Insgesamt stellen sie menschliches Erkennen als einen Vorgang dar, dessen Komplexität nur zu bewundern ist. In wichtigen Teilen bleibt er nach wie vor ungeklärt. Gleichzeitig bestätigen diese Erkenntnisse in neuer Form Positionen, die seit langem große Bedeutung für die Erziehungswissenschaften haben. Aufgabe und Kernanliegen dieses Faches muss es sein, den Prozess des Lernens in einer Weise durch ein erzieherisches Handeln zu gestalten, dass die Lernenden ihre bisherige Wahrnehmung erfolgreich ausweiten und kreativ neu strukturieren. Dabei gilt, dass schulisches Lernen über Sprache und das Wissen der Fächer sich insgesamt auf sehr hohe Formen der menschlichen Kognition bezieht, die weit über bloße Imitation hinaus je neu individuell eingesehen werden sollen.

1.1 Kognitive Reflexion führt nach innen Menschliche Wahrnehmung wird nicht an den Schnittstellen unseres Körpers zur Außenwelt, unseren Sinnen, erkannt. Wir hören weder mit unseren Ohren noch sehen wir mit den Augen, sondern über die Netzwerke der neuronalen Systeme, in die unsere Sinne ihre Signale senden, bis wir schließlich im absolut »dunklen« Gehirn alle Farben der Welt sehen oder gesprochene Worte verstehen. Wer eine ihm vollkommen unbekannte Sprache hört, vernimmt auditiv nur ein weißes Rauschen. Kennt er, kennt sie, diese Sprache jedoch, hat seine, hat ihre, Großhirnrinde gelernt, ihre Lautsignale auszuwerten, so hört er, hört sie Worte und versteht sie, ohne diesen Lauten irgendetwas hinzuzufügen. Das erste Axiom einer neurobio-

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logisch begründeten Kognitionspsychologie lautet daher: go inside. Alles Erkennen findet im unantastbaren Inneren eines Menschen statt. Weil das so ist, wird jede Form der Kognition zu einem einmalig individuellen Ereignis, denn sie entsteht in seinem Inneren, in und mit seinem Leib, gemäß einer einmaligen Biographie, die jeder Mensch als lernende Person bereits erlebt und erlitten hat. Wie Menschen nicht selbst in das Innere ihres eigenen Gehirns sehen können, ist keinem zweiten der direkte Blick in die Kognition eines anderen möglich. Dieser kognitive Raum des Inneren – die Schaltstelle alles Erkennens – ist ebenso zu achten wie die Würde der individuellen Person. Eine weitere Position der Kognitionspsychologie gewinnt auf diese Weise eine zentrale Bedeutung. Unsere Sinne bilden keineswegs nur die visuelle, haptische oder auditive Umwelt ab. Sie liefern erste Signale einfachster Art, die erst über viele Stufen der Verarbeitung jene Bedeutung erlangen, die sie kognitiv einleiten. Dieses Procedere beinhaltet immer einen je neu stattfindenden Prozess, in dem, bildlich gesprochen, »nichts« steht, in dem, so scheint es, »irgendetwas« aus einem Speicher einfach nur abgerufen wird. Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (1987: 32) gehen daher in ihrer Konzeption von dem ersten Grundsatz aus: »Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.« Anders als viele meinen, können unsere Nerven keine spezifischen Botschaften derart versenden, dass sie mitteilen: Hier ist ein grünes Licht oder eben jetzt ertönte ein hoher Ton. Neuronen als die eigentlichen Werkzeuge unseres Erkennens haben nur eine einzige Wahl: zu feuern oder im Ruhetonus elektrochemische Signale abzugeben. Sie geben entweder einen schnellen oder langsamen Puls in ihre Netzwerke. Die gesamte äußere Welt wird auf diese Weise aufgenommen, doch keineswegs in der Art von Bildern oder Wörtern abgebildet. Unsere Augen sind keine Kameras, denn keine Kamera der Welt hat je etwas gesehen. Um zu sehen liefern unsere Augen Impulse dafür, unser inneres visuelles System in einer Weise anzuregen, die zur Folge hat, dass diese Impulse optisch gelesen werden. Dabei sind alle unsere Sinne auf Veränderungen eingestellt, Neuronen können überhaupt nur Veränderungen signalisieren. Stehende Bilder werden visuell dadurch hergestellt, dass unsere Augen durch ihre eigene Bewegung, den Augentremor, die Welt ringsum visuell scannen. So können visuelle Netzwerke durch die Folge von Augensignalen feststellen, dass ein bestimmtes Profil draußen immer noch besteht. In welcher Form die Signale der Netzhaut unserer Augen visuell gedeutet werden, darüber entscheiden ausschließlich nachfolgende Netzwerke. Nicht die Milliarden Neuronen, über die Menschen verfügen, zeichnen uns aus, sondern die um ein Vielfaches höhere Zahl ihrer möglichen Verknüpfungen. Weil das Gehirn kein Speicher ist, ist es auch nie voll, wie das für die Festplatte eines PCs gilt. Die vertraute Vorstellung von Jean Piaget, Lernen bestünde darin, dass äußere Muster als solche auf bestehende innere Schemata einwirken, diese sich entsprechend assimilieren oder akkommodieren, scheint sehr einleuchtend, doch sie ist kognitionspsychologisch nicht mehr zu halten. Alles Wahrnehmen ist vielmehr Ergebnis eines konstruktiven Prozesses der inneren Verarbeitung von Eingangssignalen, der je neu stattfindet und weit über das Abbilden etwa einer Kamera hinausgeht. In unserem Gehirn befindet sich keine beobachtende Instanz, welche eingehende Bilder mit den bestehenden vergleichen könnte. Die äußere Welt schafft nur die Gelegenheit für neuronale Systeme, aktiv zu werden und nach bewährten inneren Strukturen die ankommenden Veränderungen zu verarbeiten. Beispiele für die konstruktive Arbeit der neuronalen Netzwerke im Umgang mit äußeren Signalen

Bildung als Weg gemeinsamen Erkennens

liegen in großer Zahl vor: Kippbilder, die man nur so oder anders lesen kann, optische Täuschungen, veränderte Farbwahrnehmung je nach Umgebung. Wir sehen sogar Strukturen, die faktisch draußen nicht vorliegen. Wenn Menschen mit gesunden Augen den aufgehenden Mond sehr viel größer wahrnehmen als hoch am Himmel, so entspricht das keinem Faktum. Der aufgehende Mond ist tatsächlich nicht größer, wird auch nicht durch die Atmosphäre vergrößert. Gleichzeitig können sich Menschen dieser Konstruktion unseres Gehirns im Verhältnis zum Horizont nicht entziehen (vgl. Maturana & Varela, 1987: 22f). Entsprechend können schulische Lernprozesse, die Einsicht und Verstehen erfordern, nicht als Übernahme von äußeren Mustern oder Techniken angesehen oder als einfache Anpassung an vorzulegende Schemata verstanden werden. Es geht vielmehr immer um produktiv-konstruktive Prozesse der inneren Verarbeitung von äußeren Impulsen, die nach bisher erprobten, daher erlernten Strukturen ablaufen, doch als solche je neu gelingen oder auch misslingen. Die Schule des Konstruktivismus gelangt daher zu dem Fazit, dass menschliches Erkennen immer das Ergebnis eines konstruktiven inneren Prozesses der neuronalen Verarbeitung äußerer Impulse darstellt. Schließlich ist anzuerkennen, dass die Basis für alles Erkennen ausschließlich in den elektrochemischen Impulsen liegt. Das Erregungspotential dieser Milliarden von Impulsen im Verhältnis zum Ruhepotential liegt darin, dass ein Neuron außen anstelle von 70 Millivolt positiv in die Spannung von 40 Millivolt negativ wechselt. Dieses ereignet sich als Teil des bewegten Lebens millionenfach in jeder Sekunde im Inneren des Menschen, der wahrnimmt. Dieser Zusammenhang bereitet auf ein Problem des Lernens vor, das alle Lehrerinnen und Lehrer kennen. Selbst gut dargestellte Lerngegenstände werden von den Schülerinnen und Schülern in ihrer neuen Struktur erkannt und so gelernt, von anderen jedoch nicht. Deren innere neuronale Struktur ist in einer Weise vernetzt, die eben diese neue Struktur der Verarbeitung nicht annimmt. Nicht in der Motivation der Schülerinnen und Schüler liegt das Problem, sondern in den fehlenden Anschluss-Möglichkeiten für die zu erlernende neue Struktur der Wahrnehmung. Diese Erfahrung verweist auf die Tatsache, dass keine direkte Einflussnahme auf das innere Verstehen eines Menschen möglich ist. Lehrende müssen sich darauf konzentrieren, das Feld der Wahrnehmung so zu bereiten, dass sich viele Anschlussmöglichkeiten für die Lernenden auftun. Dabei geht es immer um deren innere Reflexion, nicht um fertige Strukturen, die äußerlich beeindrucken.

1.2 Kognition integriert alle Bereiche der Wahrnehmung Schulisches Lernen steht als Bildung im Dienst von jungen Menschen auf ihrem individuellen Lebensweg. Sie werden nur über ganzheitliches Lernen darin bestehen, ihren eigenen way of life zu finden. Eben auf das endlos vernetzte Feld menschlicher Kognition verweist die neuere Kognitionspsychologie. Alle Formen des Wahrnehmens sind nicht nur miteinander verbunden, sie verändern sich laufend, da sich der menschliche Körper als Träger der neuronalen Netzwerke laufend verändert. Wer Lernen befördern will, muss auf das umfassende Feld menschlicher Kognition achten. Darin liegt ihr eigentliches Potential. Nicht nur die verschiedenen Sinne werden kontinuierlich miteinander vernetzt. Die einzelnen Sinneseindrücke werden selbst wiederum kreuzweise überlagert. Eben daraus ergibt

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sich die Qualität etwa unserer visuellen Wahrnehmung. Durch die Überlagerung der verschiedenen Sinneseindrücke des linken mit dem rechten Auge wird etwas ›gesehen‹, was ein einzelnes Auge nicht abbilden kann: die Tiefe des Raumes. Ein zweites Axiom der Kognitionspsychologie lautet daher: Alles ist mit allem verbunden. Eben daraus ergibt sich die Effizienz und Qualität menschlicher Wahrnehmung. Keine Wahrnehmung besteht allein aus dem Sehen, Hören, Fühlen, Riechen oder der Bewegung und dem Körper. Sprache zu verstehen beinhaltet sehr viel mehr als eine Folge von Wörtern zu decodieren. Immer kommen der Klang des Wortes, die Geste und die Konstitution des Körpers hinzu. Aus allem zusammen entsteht Bedeutung, kommt die Aufmerksamkeit zu lernen. Das Feld dieses Potenzials der Vernetzung zu nützen beinhaltet eine weitere wichtige Position: Aus der Verarbeitung der Überlagerung unterschiedlicher Signale entsteht das kreativ Konstruktive der menschlichen Kognition. Die Überlagerung stehender Bilder in einer Folge ab 20 Bilder pro Sekunde lässt uns etwas gänzlich Neues, die Bewegung, sehen, während die Stehbilder verschwinden. Kein Film oder Video kann Bewegung darstellen, da sie alle nur aus einer Folge von Stehbildern bestehen. Oder aus der Überlagerung aller Regenbogenfarben nehmen wir das weiße Licht wahr, ohne dass es physikalisch eine Wellenlänge für weißes Licht gibt. Wenn wir Musik hören, vernehmen wir nicht die einzelnen Töne, aus denen sie besteht, sondern die Melodie und den Klang der Harmonie, die deren Ineinanderfließen ergibt. Ebenso können wir Stille hören, die kein Mikrophon aufzuzeichnen vermag. Dieses konstruktive Erkennen kommt jeweils hinzu, darin liegt die spezifisch kreative Leistung menschlicher Kognition. Sie stellt keine nur reaktive Antwort auf einzelne Signale dar, sondern leitet kreative Prozesse des Erkennens ein, die aus der Interferenz unterschiedlicher Eingangssignale abgeleitet werden. Entsprechend muss alles Lernen in der Schule als ein ebenso autonomer wie kreativer Prozess der Verarbeitung angesehen werden, der die Strukturen des Erkennens verändert und insofern Lernen begründet. Es findet mit Kopf, Herz und Hand statt, wie die Reformpädagogik lehrte, und wird so zu einem inneren Vorgang, den Schülerinnen und Schüler selbst vollziehen müssen. Zu Recht sagen Kinder, wenn sie etwas gelernt und verstanden haben: ›ich kann das‹. Je mehr dieses individuelle Verarbeiten in der Gruppe möglich wird, desto intensiver wird gelernt. Das isolierte Bruch-Rechnen gibt es nicht. Es kommt vielmehr aus einem ganzheitlichen Aufmerken des Lernenden, wird getragen von seiner interaktiven Präsenz in der Gruppe und seinem Mittun im gewünschten Zusammenspiel mit anderen, seinen Sinnen und seinen rationalen Kenntnissen. Das Potenzial seiner inneren neuronalen Vernetzung muss vom Feld der äußeren Verbundenheit mit der Lehrerin, dem Lehrer und der Schulklasse aktiviert werden. Damit werden Haltungen wie die gegenseitige Achtung und Zuwendung zur Bedingung für produktives Lernen, da nur auf diese Weise das innere Netzwerk der kognitiven Verarbeitung vollständig aktiviert wird. In den aktuell gegebenen Schulklassen, die sich zunehmend heterogen zusammensetzen, kann diesem Feld nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet werden. Gemeinsames Lernen ereignet sich im einzelnen Lernenden, doch dazu kommt es nur, wenn der einzelne in ein ganzheitlich-ausgewogenes Beziehungsfeld eingebettet ist.

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1.3 Biographien begründen den Prozess der Bildung Schulisches Lernen setzt keineswegs an einem kognitiven Nullpunkt an, selbst wenn Schulanfänger Dinge lernen, die sie noch nicht kennen. Als Lernende wenden sie sich neuen Themen mit dem gesamten Umfang ihrer bisherigen Erfahrungen zu. Auch junge Schülerinnen und Schüler kommen bereits mit einer ausgeprägten Biographie in die Schule. Sie begründet ihr Wissen. Ihr Lebenslauf ist es, der die Einmaligkeit ihrer Persönlichkeit ausmacht. Niemand in der Schulklasse hat die gleichen Eltern, das gleiche Zuhause oder die gleichen Geschwister wie andere Schülerinnen und Schüler. Ihre Kindheit mit einer großen Fülle an sozialen Erfahrungen, Empathie oder auch der Erfahrung von Distanz stattet Schülerinnen und Schüler mit individuellen Erfahrungen aus, die ihr weiteres Lernen begründen. Ein drittes Axiom lautet daher: Kognitionspsychologisch gibt es keinen Nullpunkt. Den Ursprung des Erkennens kennen wir nicht, da nur bereits vorhandene und aktive neuronale Netzwerke sich weiter vernetzen können. Babys wissen vom ersten Tag an, was sie tun müssen, um zu überleben. Aus ihren Erfahrungen entwickelt sich eine Intelligenz, die weithin von emotionalen und sozialen Erfahrungen geprägt ist. Gerald Hüther spricht von einer ›emotionalen Intelligenz‹, die weithin unterschätzt wird. Eine liebevolle Umgebung ist seiner Meinung nach der entscheidende ›Programmöffner‹ für die kognitive Entwicklung des Kindes (Hüther, 2010: 13, 79f). Mitgefühl und Empathie begründen nach Hüther nicht nur das Aufmerken und die Zuwendung, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen ihr Gehirn rational nützen. Eben diese Erfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte können Menschen zwar verdrängen, doch nicht bewusst vergessen. Dabei sind sie es, die die einzigartige Individualität des Menschen schaffen, denn jede Biographie ist einmalig. Damit richtet die Kognitionspsychologie die Aufmerksamkeit der Lehrenden erneut auf einen bekannten Zusammenhang, der für das Vorhaben, junge Menschen zu bilden, grundlegend ist: Junge Menschen sind dort abzuholen, wo diese stehen. Das bezieht sich nicht nur auf die intellektuelle Entwicklung eines jungen Menschen, sondern auch auf seine emotionale Intelligenz, seine körperliche Entwicklung und seine sozialen Erfahrungen. Wenn die moderne Kognitionspsychologie geradezu durchgehend von der Konzeption eines ›embodied mind‹ oder der ›verkörperten Kognition‹ spricht, dann stellt sie diesen umfassenden, biographisch begründeten Blick auf junge Menschen in die Mitte pädagogischen Handelns (vgl. Varela, Thompson & Rosch, 1992: 205ff). Die Inszenierung dessen, was Varela et al. als Kognition verstehen, kommt aus der gegenseitigen Bedingung zwischen körperlichen und neuronalen Strukturen. Es ist der Leib, der die Neuronen ernährt und wachsen lässt. Daraus entstehen neuronale Netzwerke, die ihrerseits die Entwicklung des Körpers steuern. Im Vergleich der lebenden Wesen ist es der Organismus, der den Augen von Tier und Mensch mitteilt, auf welche Wellenlängen des Lichts sie sich einzustellen haben und in welcher Form sie verarbeitet werden. Die daraus sich ergebende Form des Sehens ist für das Überleben bedeutsam, daher auch vom Leib bestimmt. Über diese Wechselwirkungen wird ebenso die Wahrnehmung auch des Menschen hergestellt und ausgestaltet. Alles Wahrnehmen ist daher eine konstruktive Leistung des Körpers, die sehr wohl auf die äußeren Eindrücke abgestimmt wird, doch in ihrer Leistung weit über die bloße Reaktion auf äußere Signale hinausführt (vgl. Varela et al., 1992: 219ff). Sie kommt aus Prozes-

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sen der Kreation durch einen embodied mind, der leben will und sich daher laufend ändert. Die innere Vernetzung aller neuronalen Systeme wird daher von einem Körperbewusstsein getragen, das alle übrigen Wahrnehmungen einbindet. Damit verweist jede ›verkörperte Kognition‹ auf die Lebensgeschichte eines Menschen, die Summe seiner vorausgehenden Erfahrungen aus vernetzter Verarbeitung dessen, was sich ereignet hat. Junge Menschen haben bereits individuelle Biographien erfahren, teilweise auch erlitten. Den Umkreis dieser Kognition im eigenen Körper, aus Vernunft, den Sinnen und zahllosen Emotionen, kann niemand bewusst ausblenden. Was der einzelne nie vergessen kann, ist die strukturelle Grundlage für neues Wahrnehmen, also ein Lernen, das die bisher gültigen Strukturen der Kognition verändert. Wer gelernt hat, sieht einen bestimmten Zusammenhang anders als er ihn eben vorher deutete. Damit sind die vorausgehenden kognitiven Strukturen Basis und Andockstelle für neues Erkennen. Auch über diese Argumentationslinie der Kognitionspsychologie rückt der einzelne Lernende mit seiner einmaligen Biographie, die seine individuelle Identität begründet, in den Mittelpunkt. Sie fordert dazu auf, vorausgehende Erfahrungen zu reflektieren, um sie weiter zu entwickeln und Lernschwierigkeiten eben dadurch zu überbrücken. Natürlich haben Kinder in den ersten Schuljahren in den Augen der Erwachsenen noch so gut wie alles zu lernen. Gleichzeitig aber ist bereits in diesem Alter ihr Lebensweg einmalig, sind ihre emotionale und soziale Kompetenz hoch entfaltet, ist ihre personale Identität in ihrem Kern bereits unantastbar. Wer junge Menschen lehrt, ihre unterschiedlichen Geschichten zu reflektieren und zu entfalten, befähigt sie, auf dem eigenen Lebensweg weiter voranzuschreiten. Wie sollen anders die Hindernisse, auf die sie treffen, überwunden werden? Wie können sie ohne diese ganzheitliche Basis in der Begegnung mit anderen und ihrer Zuwendung zu neuen Lerninhalten voranschreiten? Ihre Welt wird zunehmend durch eine kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt gekennzeichnet sein, in der täglich Formen der Einteilung und Ausgrenzung erfahren werden. Eine neue Aufgabe der Schule wird darin liegen, einen kognitiven Raum gemeinsamen Lernens durch Reflexion, Dialog und Begegnung zu schaffen, in dem alle Schülerinnen und Schüler ihre eigene Herkunft, Biographie, ihre Sprachen und kulturellen Fähigkeiten zeigen können. Nur in einem gemeinsamen Feld des interkulturellen Lernens, das inzwischen den Alltag öffentlicher Schulen bestimmt, wird die Schule ihre Aufgabe als Institution der Bildung erfüllen können. Hierzu zählt nicht zuletzt der Umgang mit spezifisch schulischen Kenntnissen wie Sprache und Religion. Nicht nur kulturelle Minderheiten werden durch diese Reflexion in ihrer Identität bestärkt werden. Sie wird Prozesse der Integration einleiten, die alle Schülerinnen und Schüler bereichern werden. (Für die religiösen Bildung näher ausgeführt in: Graf, 2016: 181ff)

2. D ie B egegnung mit dem D u als E rfahrung der eigenen I dentität Zu den spezifischen Errungenschaften des Abendlandes gegenüber den asiatischen Kulturen zählt das Konzept, junge Menschen in Gruppen zu unterrichten. Mit der Einführung von Schulen werden in Europa die Lernenden in der Klasse (aus lateinisch classis: Gruppe, Abteilung, Flotte) unterrichtet, vom Schulbeginn

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an bis in die hohen Schulen der Universitäten. In China oder Japan herrschte dagegen über Jahrhunderte die Tradition, dass Schüler/innen ihre Lehrer/innen aufsuchten, weithin mit ihnen lebten und ihnen dienten. Die Lehrer/innen ihrerseits wählten nicht nur ihre Schüler/innen einzeln aus und unterrichteten sie. Sie ordinierten die Erfolgreichsten von ihnen schließlich und übergaben ihnen das Recht, ihre Lehre fortzuführen. Im Westen hingegen lernten Schüler/innen immer in Gruppen, in Konkurrenz zu anderen und mit ihnen. Nicht nur ihr Verhältnis zum Lehrer bzw. zur Lehrerin, sondern auch ihre Stellung in der Gruppe begründete ihren Lernerfolg. Daraus ist ein System der Benotung, der Zertifikate und Punkte mit all seinen bekannten Nachteilen entstanden. Doch gleichzeitig schuf die Beziehung mit Gleichaltrigen in der Lerngruppe ein über Jahre währendes Feld der Begegnung und Kommunikation mit einer entsprechend hohen Bedeutung für die individuelle Entwicklung der Lernenden.

2.1 Menschliches Bewusstsein aus Beziehung in Sprache Nach Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela erreicht im Reich der lebenden Wesen allein der Mensch eine einmalig hohe kognitive Stufe, das menschliche Bewusstsein. (Vgl. Maturana & Varela, 1987: 221f) Es kommt nach den beiden Autoren aus dem sprachlichen Bereich, in dem der Mensch lebt und eine intensive Beziehung zwischen Ich und Du, zwischen Frage und Antwort eingeht. Sprache lernen Menschen nur von anderen Menschen und für sie. Der damit mögliche Austausch führt weit über das Versenden von Informationen hinaus, das auch im Tierreich bekannt ist, wobei hinzuzufügen ist, dass es im Tierreich selbstredend mehr gibt als bloßes Versenden von Informationen. Menschen können und wollen Fragen stellen, über die Antwort des anderen klären, was man zum Beispiel morgen tun solle. Dieses ist nur dem Menschen möglich. Damit entfaltet der Mensch über Kommunikation und soziale Beziehung jene innere Reflexion, die das menschliche Bewusstsein begründet. Die genannten Neurobiologen sehen darin die ›conditio humana‹, jene einmalig hohe Stufe der kognitiven Entwicklung, die das Mensch-Sein ausmacht. (Vgl. Maturana & Varela, 1987: 267). Sie bestimmen diesen Vorgang als kollektive Ko-Ontogenese, die zum homo sapiens führt (vgl. Maturana & Varela, 1987: 224). Dieser Lernprozess verlangt ein intensives Miteinander-In-Beziehung-Stehen. Maturana und Varela sprechen von einem Feld der ›sozialen Koppelung‹, in der eben dadurch, dass laufend entstehende Differenzen sprachlich verarbeitet werden, das menschliche Bewusstsein entsteht. Dessen Qualität besteht nicht in der Reaktion auf faktische Wahrnehmungen, sondern in der inneren Reflexion über die Bedeutungen, die andere den Ereignissen zuschreiben. Vereinfacht gesagt kann der Mensch nur zusammen mit anderen die ihm eigene kognitive Stufe erreichen. Schule ist nicht zuletzt eine Sprach-Institution, um die eigene Sprache, die Sprachen der Fächer sowie fremde Sprachen zu lernen. In der Schule gemeinsam in Klassen sprachlich zu lernen, stellt daher eine Gelegenheit dar, über einen Lebensabschnitt zusammen mit anderen hohe kognitive Kompetenzen durch sprachliche Reflexion zu erlangen. Kognitionspsychologisch kann sprachliche Kommunikation, die wesentlich aus der eigenen Frage und der Antwort des anderen besteht, als eine soziale Interferenz verstanden werden. Wie die Verarbeitung von Differenzen in den neuronalen Netzwerken konstruktiv neue Wahrnehmungen erzeugt, so

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ergeben sich aus den Überlagerungen dessen, was verschiedene Menschen sagen, konstruktiv neue Lösungen. Dieses gilt allerdings nur, wenn verschiedene Positionen verstanden und im Dialog verhandelt werden, sie also nicht nur festgestellt oder zurückgewiesen werden. Wie die innere Überlagerung von Links und Rechts räumliches Sehen ermöglicht, die Folge von Stehbildern Bewegung und die Wahrnehmung von drei Grundfarben Weiß erzeugt, so schafft die Überlagerung verschiedener Aussagen kreativ neue Bedeutungszusammenhänge. Andere sind nicht nur immer anders, sie bewerten auch vergleichbare Situationen immer etwas verschieden. Eben diese Differenzen sind, insofern sie angesehen und produktiv verarbeitet werden, die Quelle für neues Erkennen. Das Lernen in Gruppen ist dazu da, aus diesen Quellen zu schöpfen. Hohe kulturelle Traditionen kommen nicht nur aus einer gemeinsamen Sprache, wie das für kulturelle Traditionen und Religionen gilt. Sie begründen ihrerseits eigene Sprachkulturen. Sie führen Menschen in das Gespräch in der Gruppe, das in der Form eines ausgewogenen Dialogs nicht nur gemeinsame Schnittmengen begründet, sondern zu kreativ neuen Erkenntnissen führt, die der einzelne allein nicht findet. Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hat der Philosoph des Dialogs, Martin Buber, die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für die Entfaltung der eigenen Person neu konzipiert. Anders als in anderen philosophischen Ansätzen geht es in der Anthropologie von Martin Buber nicht darum, dass der Mensch zuerst seine Identität profiliert, um dann zum anderen zu gehen. Er kann nach Martin Buber nur in-Beziehung-stehend sich selbst finden. Das Du des anderen erweitert nicht nur den eigenen Gesichtskreis, zwei Leute sehen nicht nur mehr als einer. Im Raum von Beziehung zeigt sich ihm vielmehr neu das eigene Selbst. Buber (1984: 32) hat diesen Zusammenhang in die prägnante Formel gefasst: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« Dieser Prozess lernender Begegnung im Dialog ist nicht einfach zu verwirklichen. Er muss gelebt werden. Doch Bubers Konzept hat bis heute seine Gültigkeit. Es ist durch schwere Prüfungen zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit gegangen und hat sie durchgestanden. Buber hat es über seine Begegnung mit den jüdischen Chassidim in der Bukowina selbst erfahren (vgl. Stöger, 2003: 45f). Begegnung und Dialog als kognitive Grundlage für den Prozess der Selbstfindung im Sinne von Bildung anzusehen, erhebt einen vergleichbar hohen Anspruch. Die Mitschülerinnen und Mitschüler einer Klasse sollen ihr Wissen nicht nur in den Unterricht einbringen, um es zu vermehren oder Schnittmengen herzustellen. Werden verschiedene Positionen wahrgenommen und verarbeitet, dann werden die einzelnen Schülerinnen und Schüler in diesem Feld ihre eigene Stellung erkennen und ihre spezifisch eigene Antwort wahrnehmen lernen. So wird in der Verarbeitung von Verschiedenheit die eigene Besonderheit erkennbar, denn die eigene Identität zeigt sich in der Andersheit der anderen. Hierzu müssen alle Lernenden das Recht haben, sich gleichrangig einzubringen. Ebenso muss jede ernste Frage, jeder Beitrag, der dem Gegenstand dient, angenommen und beantwortet werden. Dieses in den heterogenen Schulklassen zu leisten, stellt hohe Ansprüche an die Lehrenden ebenso wie an alle Lernenden. Doch andererseits entsteht dadurch der aktuell so notwendige Raum der Selbstwahrnehmung, in dem die Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig geachtet fühlen und im Austausch ihre je eigene Identität finden können. Für den Prozess der Identitätsfindung genügt es nach Erik H. Erikson nicht, das eigene Selbst für sich zu bestimmen oder gegebenen Mustern

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zu folgen. Menschen benötigen dazu die anderen. Auch von ihnen muss das eigene Selbstbild wahrgenommen und anerkannt werden: »Das bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.« (Erikson, 1966: 18)

Wenn das Bewusstsein Menschen kognitiv auszeichnet, dann deswegen, weil es weder nur aus dem Eigenen kommt noch von anderer Seite vorbestimmt wird, sondern im dialogischen Gespräch ausgeformt wird. Dieses begründet eine innere Reflexion, die – wie andere Formen der vernetzten Kognition – kreativ über die verschiedenen Positionen, die ausgetauscht werden, hinausführt. Ein auf diese Weise gefundenes Selbst kommt aus der Andersheit der anderen und führt in die Besonderheit des eigenen Inneren. So anspruchsvoll dieses erscheint, bereits junge Menschen bestehen darauf, in ihrer eigenen Besonderheit angenommen zu werden. Für eine Schulklasse erfordert dieses eine enorme tägliche Arbeit darin, die Verschiedenheit in der Gruppe anzusehen, auf Gleichrangigkeit in den Beziehungen zu achten und die auftretenden Ungleichgewichte jeden Tag neu auszugleichen.

2.2 Loben und Lieben als gegenseitiges Erkennen Junge Menschen müssen in die weite Welt der anderen hinausgehen, um zu lernen. Dabei werden sie zunächst unterscheiden, mit wem sie in Kontakt treten möchten und mit wem nicht. Sie werden Urteile über andere fällen, sie entsprechend einteilen. Ihre Umwelt nimmt dieses aufs Genaueste wahr, wird mit vergleichbaren Urteilen antworten. In eine Beziehung einzutreten, ohne beurteilt zu werden, geht dem voraus. Zugehörigkeit als ›need to belong‹ ist nach Abraham H. Maslow ein existentielles Grundbedürfnis von Kindern (Maslow, 1970: 43). Zu hören »Du gehörst nicht zu uns!« stellt für Kinder eine sehr schmerzliche Erfahrung dar. Im Gegensatz dazu wird der Ruf: »Komm’ zu uns, wir mögen dich, wer bist du!« zu einer Einladung, der kein Kind widersprechen wird. Zwei verschiedene Haltungen, die zunächst als ethische Einstellungen erscheinen, werden so zur Grundlage für unterschiedliche Formen gegenseitiger Wahrnehmung. Gleiches gilt für den Unterricht in der Schule und das allgemeine Zusammenleben mit anderen. Urteile unterscheiden nicht nur, sie teilen ein. In der Regel errichten sie im Sinne des Sprechers Barrieren zum anderen, die der so Angesprochene in der Regel seinerseits vertiefen wird. Die Alternative dazu führt zur Tätigkeit des Lobens. Die Wortgeschichte von »›loben« ist mit »geloben« und »lieben« verwandt. Über die Bedeutung »gutheißen, gern haben, begehren« wird daraus eine Wahrnehmung positiver Art. An die Stelle des Teilens tritt das Anziehende. Wo das Annehmen herrscht, wird gegeben, im Sinne von commitment, Verantwortung für andere übernommen. Zu lieben bezieht sich nicht nur auf Personen, sondern auch auf Gegenstände, ein Fach oder eine bestimmte Tätigkeit eigener Wahl. Das Loben wie das Lieben steht daher für eine aufmerksame Form der Wahrnehmung des anderen Menschen, die Verbindung sucht. Es hebt alles Urteilen über den anderen auf, lobt und bestärkt ihn vielmehr, frei zu handeln. Damit bezeichnen das Loben wie das Lieben einen kognitiven Prozess der offenen Begegnung ohne jedes Einteilen. Jemanden liebend

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zu loben ist nicht möglich ohne die kognitive Entscheidung: Ich nehme dich eben so an, wie du bist. Für den erzieherischen Kontext ist es bekannt, dass Schülerinnen und Schüler auf eine lobende Rückmeldung durch die Lehrenden angewiesen sind, die sie bestärkt. Vergleichbar gründet der echte Dialog nach M. Buber auf eine rückhaltlose Beziehung ohne ein vorausgehendes Urteilen. Sicher sind diese anspruchsvollen Vorgaben für das Gespräch zwischen Lehrpersonen und Lernenden nicht eins zu eins umzusetzen. Doch Geltung haben sie für das Gespräch im Klassenzimmer, sowohl zwischen den Lernenden als auch im Austausch mit den Lehrenden. Damit geht es wie immer nicht um das eine oder das andere, um das lobende Bestärken oder das Lehren, sondern um ein Unterrichten, in dem beides stattfindet, man sich den Schülerinnen und Schülern lobend zuwendet. Einem Beziehungsverhältnis dieser Art wird man sich immer nur annähern können, muss es wohl jede Woche neu unternehmen. Darin spiegelt sich ein Verhältnis, das auch Eltern pflegen, wenn sie ihre Kinder lieben, indem sie von ihnen erwarten, dass sie ihrerseits Aufgaben übernehmen lernen. Damit findet in Beziehungen ein kognitives Handeln gegenseitigen Erkennens statt, das von allen Beteiligten getragen wird. Hierzu muss eine weitere Haltung genannt werden, die Haltung des Nachgebens und des Vergebens. Schülerinnen und Schülern im Wettbewerb einer Schulklasse Raum zu geben, zu sagen, was sie meinen, wird nicht möglich sein ohne die Bereitschaft, Formen des gegenseitigen Fehlverhaltens, die immer wieder vorkommen, nachzusehen. Nur so kann die Kommunikation von Störungen befreit werden. Diese Arbeit steht sicher täglich für jeden Lehrenden an, denn die Schülerinnen und Schüler folgen nur teilweise seinen Erwartungen. Dabei handelt es sich nicht um ein ethisches Handeln, das hinzukommt, sondern um die Begründung von gemeinsamem Lernen. Das führt über Paul Watzlawick hinaus, der in seinem Konzept lehrte (zit.n. Watzlawick et al., 2011: 55f), dass das Feld der interaktionalen Beziehung nur als ein Teil von Kommunikation anzusehen ist, der hinzugefügt wird oder fehlt, und entsprechend durch Metakommunikation zu klären ist. Axiom 2: »Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, wobei Letzterer den Ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist.« Beziehung und Emotionen sind vielmehr die Träger und Auslöser für alles Kognitiv-Sprachliche. Sie sind integrales Element jeder inneren Reflexion, aus der Denken und Sprechen kommen. In ihnen findet sich daher der eigentliche Motor für gemeinsames Lernen. Eine lobende Beziehung regt vor allem junge Menschen zu herausragenden kognitiven Leistungen an. Antonio Damasio als einer der führenden Neurobiologen hat seinem neuesten Buch den Titel Im Anfang war das Gefühl (2017) und den Untertitel Der biologische Ursprung menschlicher Kultur gegeben.1 Der empirisch arbeitende Wissenschaftler begründet mit dieser Grundthese seiner Studie die Einzigartigkeit eines jeden menschlichen Wesens. Was und wie der Mensch fühlt, gehört nur ihm ganz allein. Die Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist entfalten sich über das Fühlen. Entsprechend begründen Gefühlszustände nach Damasio das Mentale und Rationale im Menschen bis hin zu seiner Kultur. Weder der Körper noch der Geist herrschen allein im Menschen, dessen innere Reflexion ist vielmehr Ergebnis eines endlosen Zusammenwirkens von Körper und Gefühl im Geist. Diese interferente Überlagerung innerlich auszu1 |  Der Band erschien 2018 in New York unter dem Titel The Strange Order of Things. Life, Feeling and the Making of Cultures.

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gleichen, findet von Anfang an statt. Beziehung liegt eben darin, sich dem anderen, der anders ist, zuzuwenden, um in der Überlagerung von Verschiedenheit Neues zu erfahren. Über das Gefühl begründet die Begegnung mit anderen die kognitive Erfahrung aus Interaktion und Kommunikation. Emotionale Netzwerke wirken als bestimmende Faktoren im Ineinandergreifen von menschlicher Reflexion. Gefühlszustände bauen nach Damasio Erwartungen auf, bereiten Menschen darauf vor, die Initiative zu ergreifen und selbstbewusst zu handeln. Dabei begründen sie rational, was sie tun werden. Damasio stellt zudem neu heraus, dass Menschen im Kognitiven über nichts »Stehendes« (Statisches) verfügen. Körper wie Gefühlszustände ändern sich laufend. Entsprechend »hat« keiner ein bestimmtes Selbst, verfügt niemand über ein Gefühl, schlägt auch keiner einfach nur ein in ihm stehendes Wissen nach. Alles muss aktiv gefunden, neu kognitiv hergestellt werden. Das bewegte Empfinden ist immer Teil der inneren Reflexion, die ihrerseits wieder das Handeln des Menschen, der nachdenkt, bewegt. Sich dem anderen aufmerksam zuzuwenden, ihn in seinem Auftreten anzunehmen und zu ertragen, in der Begegnung nichts an ihm wegzunehmen oder hinzuzufügen, das nennen wir Liebe. Sie ist Ergebnis intensiver Kognition in reiner Gegenwart aus Beziehung. Kommunikation aus Begegnung in Liebe wird nicht verstanden, wenn die Liebe als ethische Zugabe angesehen wird. Tatsächlich liegen in der urteilslosen Begegnung der ethisch-emotionale Ausgangspunkt und die Bedingung für eine wahre Reflexion, die durch keine Absicht getrübt wird. Eben dieses Handeln in gelöster Beziehung begründet erfolgreiches Aufmerken im Lernen. Die Vielfalt der Kulturen und Lebensformen, die unterschiedliche Herkunft der Schülerinnen und Schüler verweist auf die zukünftige Bedeutung der Haltung einer lobend-liebenden Beziehung in den Schulen. So viel Aufmerksamkeit sie auch verlangt, nur so wird offener Raum für Begegnung, die produktive Verarbeitung von Differenz geschaffen. In dieser Beziehung werden vorweg bestehende Urteile überwunden, können sich die Lernenden gegenseitig losgelöst wahrnehmen, die kulturellen Einteilungen, die sie mitbringen, ablegen. Wie wir gesehen haben, sind es emotionale Gefühlszustände und Beziehungsverhältnisse, die die Mühle einer gemeinsamen Kognition antreiben, in der die Themen der Kommunikation bearbeitet werden. Dem Mahlwerk dieser Mühle muss laufend thematisches Korn eingegeben werden, damit sie etwas zu mahlen hat. Die Inhalte der Schulfächer liefern genug an Aufgaben, denn ohne Korn mahlt die Mühle nicht. Doch ihre kognitive Kraft zu mahlen, die Dinge für Lernende zu zerlegen, um sie ungeteilt zu verstehen und neu zusammenzusetzen, kommt aus Emotionen und Beziehungen, in denen die Lernenden sich selbst wiederfinden. Die Aufgabe des interkulturellen Lernens liegt in der Verarbeitung interkultureller Differenz. Sie bedarf der urteilslosen Beziehung, ist Ergebnis einer anstrengenden Neukonstruktion der Wahrnehmung dessen, was ringsum erscheint. Nicht nur Schülerinnen und Schüler aus Minderheiten müssen in dieses Lernen eintreten und entsprechende Beziehungen auf bauen, um ihre Erfahrungen gemeinsam neu zu deuten. Sie können dieses Feld der konstruktiven Verarbeitung von Differenz nur zusammen mit Gleichaltrigen aus der Mehrheit bearbeiten. Unsere Schulen müssen sich daher für ihre Sprachen und Kulturen öffnen, die religiöse Bildung nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für religiöse Minderheiten anbieten. Auf diesem Weg werden sie zu einem Raum für interkulturelle Integration werden, in dem jeder mit und vom anderen lernt. Lehrerinnen und Lehrer können das allein nicht leisten, obgleich auch hie-

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rin ihr Beitrag entscheidend sein wird. Das Annehmen der Andersheit der anderen, die aufmerksame Zuwendung zu ihrer Deutung der gemeinsamen Welt wird nicht ohne einen beständigen Ausgleich der Beziehungsverhältnisse in den Schulklassen geschehen. Hierin liegt die besondere Verantwortung der Lehrenden, in die sie selbst einbezogen sind. Gelingt es, diesen emotional entspannten Raum für Begegnung zu schaffen, so werden ebenso intensive wie kreative Lernprozesse möglich, die alle Beteiligten bereichern. Die kognitive Bedeutung von gegenseitiger Beziehung, die nicht ohne das Lob der Liebe auskommt, haben die Kognitionspsychologen H. R. Maturana und F. J. Varela als das bedeutendste Ergebnis ihrer berühmten Studie bezeichnet. Sie kommen dort zu einem für empirische Biologen höchst erstaunlichen Schluss, den sie mit folgenden Sätzen darlegen: »Aus diesem Grund ist das, was wir in diesem Buch dargelegt haben, nicht nur eine Quelle für eine naturwissenschaftliche Erforschung, sondern auch für das Verständnis unseres Menschseins, unserer Menschlichkeit. Wir sind hier auf eine soziale Dynamik gestoßen, die auf einen grundlegenden ontologischen Zug der Conditio humana hinweist, der nun nicht mehr bloße Annahme ist: Wir haben nur die Welt, die wir zusammen mit anderen hervorbringen, und nur Liebe ermöglicht uns, diese Welt hervorzubringen.« (Maturana &Varela, 1987: 267f)

Beide Autoren leiten eben jene kognitiven Prozesse, die allein Menschen auszeichnen, aus ihrer Bereitschaft ab, in liebender Beziehung gemeinsam die je eigenen Erfahrungen zu deuten. Diese Verbindung in der Reflexion über Verschiedenheit schafft das konstruktiv Neue. Einer sozialen Beziehung in Liebe steht als gegenteilige Haltung die Angst gegenüber. Beide werden in Interaktion gemeinsam aufgebaut. Allein die erstere lässt die mentalen Wände zwischen den Menschen fallen, durchlässige Verbindungen erkennen und verarbeiten, wo ohne sie Urteile des Teilens herrschen, die das Verschiedene verstärken. »Erkennen ist in Wahrheit Liebe«, sagt Gitta Mallasz (1996: 385).2

2.3 Bilden aus Erfahrung von Potenzialität Die moderne Physik hat ein Gesetz aufgegeben, das sie über Jahrhunderte grundlegend bestimmte, das Gesetz der Kausalität. Mehr noch, die Kernphysik weist das Denken nach kausalen Abhängigkeiten zurück. Im Feld der Atome, die zum zentralen Feld auch für alle Naturwissenschaften geworden ist, ist das verdinglichte Denken, in dem das eine das andere schafft, nicht mehr anwendbar. Anstelle von Abhängigkeiten nach dem Prinzip Ursache und Wirkung blickt die moderne Physik auf Felder der Potenzialität. In und aus ihm entwickeln sich alle Erscheinungen nach gut berechenbaren Wahrscheinlichkeiten. Physiker wie Hans-Peter Dürr (2017: 43) beschreiben die Themen ihres Faches gänzlich neu: »Es ist echte Kreation: Verwandlung von Potenzialität in Realität.« Im Bildungswesen herrscht allerdings weiterhin das verdinglichte Kausalitätsdenken. Aufgrund eines isolierten Verhaltens wird eine Schülerin, ein Schüler 2 |  Das Lehnwort »Angst«, kommt dagegen vom lateinischen angustiae, Engstelle, Furt. Die Wände des Einteilens sind immer mehrere, zusammen schaffen sie Engstellen, ausweglose Situationen der Angst.

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in einer Weise bewertet, die seine Stellung in der Klasse einordnet. Dabei wird dieser junge Mensch als der eigentliche Kern der Institution Schule nach einem verdinglichten Aspekt seines vergangenen Verhaltens qualifiziert. Möglichkeiten der Entwicklung im Sinne einer personalen Potenzialität kommen dabei nicht zur Geltung. Wie Atomkerne nicht mehr dinghaft gewogen und vermessen werden können, sollten auch Schülerinnen und Schüler vor allem in der Grundschule nicht gegenständlich beurteilt werden. Ihre Potenzialität liegt in ihrer einzigartigen Individualität. Sie steht für eine nicht mehr weiter teilbare Einheit, das Unteilbare im Menschen als in-dividuum. In der griechischen Sprache steht entsprechend das Wort ›atomo‹, das für das Unteilbare steht, für ›Person‹. Es ist an der Zeit, dass zumindest im Grundschulbereich die verdinglichte Bewertung junger Menschen, die man bereits als Kinder einteilt und zuordnet, aufgegeben wird. Die Möglichkeiten ihrer Entfaltung werden so nicht nur nicht erfasst, sondern begrenzt. Junge Menschen benötigen nichts dringender als freien Raum für ihre Entwicklung, die von ihnen selbst gewählt werden muss und nicht von fremder Hand, nicht einmal von jener der Eltern, entschieden werden kann. Martin Buber hat für personale Begegnung die Bedingung der ›Urdistanz‹ genannt. Sie ist Voraussetzung für rückhaltlose Beziehung (vgl. Buber, 1978: 36). Schülerinnen und Schüler sind darauf angewiesen, über eine freie Wahl ihrer Freundinnen und Freunde, ihres Lieblingsfaches, ihrer inneren Aufmerksamkeit ihre weitere Entwicklung selbst gestalten zu können. Bildung verlangt eben diese Möglichkeit der Wahl. Dabei kommt es den Lehrenden zu, die Lernenden auf wichtigen Schnittstellen ihres Weges zu beraten und zu begleiten, nicht an ihrer Stelle zu entscheiden. Um aufzubrechen und zu gehen, benötigt jeder Mensch freien Raum vor seinen Füßen. Die Potenzialität möglicher Wahlen sollte jungen Menschen daher so lange wie möglich offengehalten werden. Dieses bedeutet nicht zuletzt, die personale Autonomie zu achten, die hinter jedem Lebensweg steht, ihn letztlich begründet. Das Konzept der Potenzialität auch im Erziehungswesen zu pflegen bedeutet gleichzeitig nicht, die Dinge im Unbestimmten zu belassen. Physiker/innen können über die Wahrscheinlichkeit sehr genaue Vorhersagen treffen. So auch Lehrerinnen und Lehrer, die für Schülerinnen und Schüler begründete Vorhersagen über den wahrscheinlichen Verlauf von Schullauf bahnen treffen. Dieses zu tun ist ihre Aufgabe, um das Feld der Potenzialität im Sinne der Lernenden zu strukturieren. Sie unterscheidet sich davon, über Noten festzustellen, wer die Lernenden sind und welche Stellung sie faktisch in der Schule innehaben.

3. U nterrichten als D ienst auf dem W eg Junge Menschen zu erziehen besteht nicht aus 45-Minuten-Einheiten. Jeder Unterricht führt Prozesse des vorausgehenden Lernens fort und befähigt Schülerinnen und Schüler, in ihrer Schullauf bahn voranzuschreiten. Sie haben alle bereits eine Lerngeschichte durchlaufen und werden sie in der Schule weiter entfalten. Insofern stellt jede Unterrichtsstunde einen Anschluss an das Vorausgehende her und öffnet den Weg für die weitere Entwicklung, in der die Lernenden stehen. Jede Unterrichtsstunde stellt eine Art Türe dar, die einen Durchgang von der vergangenen Entwicklung zu einem neuen Feld des Lernens erschließt. Dieses als Lehrerin und Lehrer zu sehen bedeutet nicht nur, das eigene Unterrichten in den Kon-

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text der Entwicklung der Lernenden zu stellen. Diese Sicht verdeutlicht, dass das Unterrichten nicht nur Ergebnis der eigenen Planung ist. Es steht als Lernereignis im Kontext von Lernprozessen, die immer über das Fach hinausführen, denn es sind die Lernenden, die den Unterricht aufgreifen, erfüllen und darauf antworten. Dieses zu sehen unterstreicht den Dienst, den das Lehren beinhaltet, insofern es junge Menschen befähigt, letztlich sich selbst auf ihrem individuellen Weg zu bilden, die eigenen Kenntnisse anwendend und den eigenen Erwartungen folgend. Diese Sicht erinnert zudem daran, dass es nicht die Schule ist, die herrscht, und die Schülerinnen und Schüler ihr unterstehen, sondern die Schule ihnen dient. Ihre Aufgabe ist es, Räume gemeinsamen Lernens anzubieten, in denen die Lernenden durch ihre eigene Reflexion ihre Schullauf bahn finden, sich für ihren eigenen Weg entscheiden. Unter dieser Perspektive werden Lehrerinnen und Lehrer von Sachzwängen der Curricula und der Institution Schule befreit, denn in allem, was sie tun, werden sie – über ihre Vorbereitungen und Verpflichtungen hinaus – auf das Können, die Antwort und Erwartung ihrer Schülerinnen und Schüler achten. Deren Verhalten fällt immer unvorhersehbar aus, es wird letztlich von den Lernenden mit all ihren Unterschieden eingebracht. Doch eben ihnen dient Bildung.

3.1 Einsicht in freien Momenten gemeinsamer Wahrnehmung Schülerinnen und Schülerinnen stehen in der Mitte des Unternehmens Schule. Sie sind es, die über schulische Bildung sich selbst reflektieren, um in ihren eigenen Lebensweg einzutreten, ihren Beruf zu wählen, ihr Leben mit anderen zu gestalten. Hierzu sind Entscheidungen nötig, die junge Menschen nur dann eigenständig treffen können, wenn sie selbst über eine innere Einsicht erfahren haben, wer sie sein möchten, wie die Dinge eben mit ihnen zusammenhängen und wie sie selbst in diesem Feld handeln wollen. Wenngleich das Ereignis der inneren Einsicht nicht regelmäßig stattfindet, so muss es sich doch ereignen. Es liegt darin, dass junge Menschen in Freude erkennen: Das kann ich gut mit anderen, das bewegt mich mehr als andere, dieses Tun gefällt mir, dieses Feld bewegt mich besonders. Insofern Schule durch Räume offener Interaktion Momente des Einsehens schafft, dient sie der einzelnen Schülerin, dem individuellen Schüler. Eben dann schafft sie Raum für die Selbstfindung, in dem junge Menschen erkennen, wer sie sein können, worin ihre Besonderheit im Verhältnis zu den anderen, ihre eigene Identität liegt. Hierzu sind Momente für spontanes Handeln nötig, die den Lernenden kreative Spielräume gewähren. Einsicht wird nicht gelehrt, sondern von den Lernenden selbst gefunden und erkannt. Sie kommen aus ihrer inneren Reflexion und befähigen sie, aus individueller Überzeugung jene Wahlen zu treffen, für die sie sich entscheiden müssen, um in ihren eigenen Weg einzutreten. Das kognitive Ereignis der ›Einsicht‹ kommt nicht nur immer von innen, es schafft auch Ein-heit. Es versammelt, was sich ringsum ereignet, zu einer gemeinsamen Wahrnehmung und befähigt so die Erkennenden zu sehen, wo sie selbst darinstehen.

3.2 Von der Würde des Dienstes der Lehrenden Das Unterrichten in den Dienst an Schülerinnen und Schüler zu stellen, verweist nicht nur auf die Bürde, sondern auch auf die Würde dieser Aufgabe. In diesem Sinne zu lehren führt über die Vorgaben der Curricula einschließlich der eigenen

Bildung als Weg gemeinsamen Erkennens

Planung hinaus. Das Eigene ist nicht mehr die alleinige Norm und Kriterium, um über Erfolg oder Misserfolg zu entscheiden. Diese Haltung befreit davon, denn zu unterrichten wird zu einem Ereignis der Begegnung, das von den Lernenden maßgeblich gestaltet wird. Im Feld des Sich-Begegnens kann der Lehrende mit seiner individuellen Persönlichkeit vor die Lernenden treten. Ebenso ist es den Schülerinnen und Schülern erlaubt, sich individuell in den Unterricht einzubringen. Dieses ist nicht vorhersehbar und entscheidet doch über das Gelingen von Unterricht. Das Bewusstsein, Unterrichtsplanung als eigenes Angebot zu verstehen, befreit die Lehrenden vom Maßstab des Eigenen. Es fordert vielmehr dazu auf, sich in den Dienst junger Menschen zu stellen. Sie lieben eben jene Lehrerinnen und Lehrer, die nicht nur um ihre Fähigkeiten wissen, sondern auch auf ihre Fragen und Probleme achten. So kommen Merkmale des Spontanen in den Unterricht, die ihn nicht abwerten, sondern in den Augen der Schülerinnen und Schüler auszeichnen. Damit löst das Konzept der Bildung, das die Lernenden auf ihrem Weg in die Mitte stellt, die Lehrenden von ihrer Lehre. Darin liegt ihre ganze Aufgabe, doch ihr Lehren erfüllt sich im Dienst an den Schülerinnen und Schülern, die sie in ihrer Antwort annehmen oder ablehnen, bestätigen oder mit Fragen versehen. Diesen Horizont des Dienstes unterstreicht der ursprüngliche Name für berufliches Erziehen: ›Pädagoge‹. Aus dem Griechischen abgeleitet bezeichnet paid-agogos den Begleiter junger Menschen auf dem Weg zu ihrer Sportstätte. Er ist ihr Diener, der sie führt, nicht belehrt. Diese (noch nicht gegenderte) Wortgeschichte erinnert Erzieherinnen und Erzieher an das einmalige Potenzial, das in jedem jungen Menschen ruht. Seine Aufgabe liegt darin, es begleitend zu entfalten. Pädagogik hat zur Aufgabe, Türen des Verstehens für das Vorausgehende und das neu zu Lernende zu öffnen, damit junge Menschen auf ihrem Weg bestehen. Bergführerinnen und Bergführer erklären nicht nur Wege oder Karten über ein Gebirge, sie gehen selbst mit auf dem Weg. Zu unterrichten ist eine Lebensform in offener Begegnung mit jungen Menschen. Das gemeinsame Lernen, dem sie dient, ist einem kognitiven Aufstieg vergleichbar. Auf einer Bergtour geht es nicht darum, dass eine, einer führt, indem sie oder er die Gruppe beherrscht, sondern darum, gemeinsam auf dem anstrengenden Weg einer Tour zu bestehen. Einer der ersten Lehrer der Menschheit hat beides zusammen gesehen und aufeinander bezogen, den Dienst der Lehrenden und die Fülle der Selbstfindung der Lernenden in und durch das zurückhaltende Vorbild derer, die Menschen bilden. Sein Spruch zum Inbegriff seiner eigenen Lehre lautet: »Man schaffe es und nähre es: zu schaffen, doch nicht zu besitzen, zu wirken, doch nicht darauf zu pochen, wachsen zu lassen, doch nicht zu regieren: das ist die urtümlich rechte Gesinnung.« (Lao Tse, 1986: 40)

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Peter Graf

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Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie Hans Ernst

1. A nspruch und R eichweite des

tr anszendentalphänomenologischen A nsat zes hinsichtlich des L iebesphänomens und der dadurch fundierten B ildungsidee

Die transzendentale Phänomenologie fristet in der zeitgenössischen Erziehungswissenschaft ein Schattendasein und wurde nur marginal in ihrem originären Entstehungs- und Begründungszusammenhang rezipiert (vgl. Meyer-Drawe, 2001; Loch, 2005: 1214; Ernst, 2017: 35ff). Gleichwohl ist der originäre transzendentalphänomenologische Ansatz für die Behandlung des Phänomens Liebe einmalig und exklusiv geeignet, da er erstmals in der Philosophiegeschichte das menschliche Gefühl erfahrungsfundierter und systematischer Erfassung zugänglich gemacht hat. Das Verdienst, die Gefühlssphäre des Menschen und damit das Phänomen Liebe systematisch erleuchtet und erforscht zu haben, gebührt zweifellos Max Scheler. Für Scheler ist Liebe u.a. »Pionier« ([1913/16] 1980: 267) der Werterkenntnis. Werte erleben wir in der Grundhaltung der Liebe, die intentionales Fühlen des Wertvollen fundiert. Wojtyła (1980: 42) betont hinsichtlich der Erfassung des menschlichen Fühlens und Werterkennens den exklusiven Charakter der phänomenologischen Methode: »Die phänomenologische Methode gestattet uns, ihn [den Wert] aus diesem Erlebnis [des intentionalen Fühlens] wissenschaftlich herauszuentwickeln und zu objektivieren. Und ausschließlich die phänomenologische Methode ist dazu imstande, [Herv. d. Verf.] […]« (ebd.). In meinen Studien zur transzendentalphänomenologischen Pädagogik habe ich mich vor allem in der zweiten Studie »Kontur, Anspruch und Reichweite transzendentalphänomenologischer Philosophie (Husserl, Scheler) als Grundlage ganzheitlicher, personalistischer Pädagogik« (Ernst, 2017: 33ff) mit diesem Thema auseinandergesetzt. Eine fundierte Einführung in die transzendentalphänomenologische Pädagogik hat Werner Loch (2005: 1196-1219) in der Sammlung Pädagogische Grundbegriffe, herausgegeben von Lenzen, vorgelegt, weswegen ich darauf nicht weiter eingehen werde. Insgesamt teile ich Lochs Einschätzung der originären Leistung Edmund Husserls, die eine angemessene Erfassung des Phänomens Liebe erst angestoßen und ermöglicht hat: »Die von Husserl maßgebend in einem entscheidenden An-

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teil mitbegründete Phänomenologie hat sich als ein epochemachendes Muster der Forschung und Theoriebildung erwiesen und erfüllt somit die Kriterien des von KUHN […] konzipierten Begriffs eines ›Paradigmas‹.« (Loch, 2005: 1204) Bei aller paradigmatischen Originalität können »fünf große Vorläufer Husserls« (ebd.: 1199) angeführt werden: Platon, Augustinus, Descartes, Kant und Hegel. Ideengeschichtlich sind die genannten Vorläufer für unser Thema interessant, sofern sie etwas zu Bildung und Liebe beitragen können. Platon ([ca. 385/378 v. Chr.] 1974: 105ff) beschäftigt sich explizit im Symposion mit Eros/Liebe und entwickelt dort eine entsprechende Idee, die von neueren Autoren (Scheler, Casper, Kuhn) als treffende Wesensschau und als Vorläufer der phänomenologischen Bestimmung von Liebe eingestuft wird. Dass Liebe in der Antike immer die Pädagogik entscheidend mitbestimmt hat, muss nicht gesondert hervorgehoben werden. Allein Platons Meisterdialog Symposion liefert schon viele Beispiele für schöne (liebevolle) und hässliche (z.B. eigensüchtige, triebbestimmte) Formen und Fehlformen des pädagogischen Verhältnisses. Mit Augustinus ([397/401] 1950) kommt die Phänomenologie in den Kontext christlicher Theologie. Augustinus liefert in seiner Suche nach Gotteserkenntnis in den Confessiones (v.a. zehntes Buch) eine Beschreibung des Bewusstseins in Form des Gedächtnisses und bereitet so die Frage der Erforschbarkeit des Phänomens Liebe im Kontext der christlichen Liebesidee vor, wie sie dann von Scheler und Wojtyła aufgegriffen werden wird. In Auseinandersetzung mit Descartes hat Husserl ([1929/1932] 1977) seine Cartesianischen Meditationen verfasst, die in didaktischer Absicht auch als »Einleitung in die Phänomenologie« gedacht waren. Allerdings beschäftigt sich Descartes eher nicht mit Liebe, ist aber wegweisend für die Transzendentalphilosophie Kants und seine imperativische kategorische Ethik. Schelers materiale Wertethik ([1913/16] 1980), die auf dem Fühlen beruht, wurde in Auseinandersetzung mit dieser formalistischen Ethik generiert. Abschließend erinnert uns Hegels Phänomenologie des Geistes daran, Phänomenologie nicht ausschnitthaft nur über »Leiblichkeit« (vgl. das entsprechende Stichwort im historischen Wörterbuch der Pädagogik, Meyer-Drawe, 2004: 603-619) zur Sprache zu bringen. Mit Wojtyła (1980) lässt sich nämlich komplementär und integrativ auch auf den Primat des Geistes hinweisen, wie dies im Titel seiner Habilitationsschrift und der zugehörigen Studien, 1980 von Stroynowski herausgegeben, zum Ausdruck gebracht wird, und mit ihm kann man eine ganzheitliche Sicht der Liebe gewinnen, die neben geistigen und psychischen Schichten der Person »Leiblichkeit« integrativ interpretieren kann (vgl. Wojtyła [1960] 1979b; 1981). Liebe lässt sich in der genannten problemgeschichtlichen Konstellation vor allem mit Schelers emotionsphilosophischem Ansatz behandeln. Mit ihm soll das Phänomen Liebe anschaulich gemacht und im Hinblick auf Bildung bzw. Pädagogik fruchtbar werden. Hinsichtlich der Phänomenbegründung und der Wesensbeschreibung bietet das Buch Wesen und Formen der Sympathie ([1913, 1922] 1974) die beste Referenz innerhalb der phänomenologischen Forschungsansätze, da es in einem der drei großen Abschnitte unter der Überschrift »Liebe und Haß« (ebd., Abschnitt B: 150-208) eine positive »phänomenologische Bestimmung« der Liebe liefert (ebd.: 155). Das zentrale und wegweisende Werk Schelers brachte diese Leistung in der Erstauflage 1913 schon im Titel zur Sprache, der Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß hieß und damals nur zwei

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie

Hauptkapitel umfasste, wobei das erste die Sympathiegefühle (z.B. Mitleid, Mitgefühl) phänomenologisch zur Schau bringt, die als fundierend für Menschenliebe (Humanitas), Person- und Gottesliebe herausgestellt werden (ebd.: 105ff). Auf diesem Fundierungsverhältnis erfasst Scheler dann im zweiten Hauptteil die »Phänomenologie von Liebe und Haß« (ebd.: 150ff), mit der er in seinem gleichzeitig erschienenen Werk zur materialen Wertethik (Der Formalismus in der Ethik [Kant] und die materiale Wertethik, [1913/16] 1980) seine Lehre zum intentionalen Fühlen der Werte fundieren und systematisieren kann. So soll in dieser Studie »Liebe« in der Wesensschau Schelers evident werden. Wie sich zeigen wird, hat dieser emotionale Akt bei ihm eine erkenntnisleitende Funktion. In ihm erscheinen die Werte vergleichsweise wie in einem Lichtkegel, werden im intentionalen Fühlen fassbar und können systematisiert und phänomenologisch beschrieben werden. Letzteres leistet dann, wie gesagt, die Schrift zur materialen Wertethik, auf die sich Wojtyła in seiner Habilitationsschrift Über die Möglichkeit, eine christliche Ethik in Anlehnung an Max Scheler zu schaffen ([1953, veröff. poln. 1960] 1980: 37-197) fast ausschließlich bezieht (vgl. Ernst, 2017: 55ff, dritte Studie). Mit dieser ersten philosophischen Hauptschrift Wojtyłas waren aber die Grundlagen für das spätere philosophisch zentrale Werk Person und Tat (Wojtyła, [1969] 1981) gelegt, mit dem wir das Verhältnis von Liebe und Bildung, das – wie sich zeigen wird – ein Fundierungsverhältnis darstellt, herausarbeiten wollen. Insofern soll mit diesem Beitrag der Aufriss einer in Liebe fundierten, phänomenologischen Theorie der Bildung entstehen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Wojtyła in den genannten zwei philosophischen Hauptschriften fast keinen Bezug zum Phänomen Liebe herstellt, wie es in der Sympathieschrift Schelers vorliegt. Jedoch hat Wojtyła in seinem Buch Liebe und Verantwortung ([1960] 1979b) Entscheidendes über personale Liebe ausgeführt. Diese Schrift ist mit dem Anliegen entstanden »die Normen der katholischen Sexualethik zu begründen« (ebd.: 10). Sie steht in der ersten Auflage 1960 zeitlich zwischen den beiden philosophischen Hauptschriften und bezieht sich zunächst in der ersten (polnischen) Auflage nicht – anders als jene (vgl. Ernst, 2017: 55ff) – explizit auf die transzendentale Phänomenologie. Spätere Auflagen und Übersetzungen von Liebe und Verantwortung (z.B. deutsch 1979b) interpretieren dann diese Schrift zur Liebe im Kontext von Person und Tat und stellen damit den Bezug zur Tradition der transzendentalen Phänomenologie (v.a. Scheler) explizit her, beziehen aber die Transformation, die diese Lehre bei Wojtyła vor allem im Begriff der Person und ihrer willentlichen Handlung erfahren hat (vgl. Ernst, 2017: 90ff), fundierend mit ein: »Man braucht kein Wort zu verlieren, um klarzumachen, wie sehr die Problematik dieses Werkes [Person und Tat] mit der Frage der verantwortlichen Liebe – […] – verknüpft ist. Die Person in ihrer Tat und durch ihre Tat ist ja Subjekt und Objekt einer verantwortlichen Liebe. Die Person ist Schauspielerin dieses Dramas – persona dramatis –, worin sie selbst ›ihre wahrhaftigste Geschichte‹ schreibt, die Geschichte der Bejahung oder Verneinung von Liebe. Der Text von ›Liebe und Verantwortung‹ wäre in seinem wesentlichen Grundgehalt verarmt, wenn man ihn nicht irgendwie mit dem Text von ›Person und Tat‹ zu verbinden suchte, wenn man ihn nicht im Kontext von Karol Wojtyłas ›Traktat über den Menschen‹ zeigen würde. Dies ist der […] Grund, der die Beifügung eines Kommentars notwendig gemacht und dessen Charakter bestimmt hat.« (Styczeń, Gałkowski, Rodziński & Szostek, 1979b: 16)

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Wojtyła selbst ordnet sein Werk zur personalen Liebe nicht der Moraltheologie, sondern der Philosophie zu: »Das Buch hat im Ganzen einen philosophischen Charakter – denn die Ethik ist eine philosophische Disziplin.« (Wojtyła, [1960] 1979b: 10)

Wir beziehen uns in unserem Anliegen, Liebe und Bildung in transzendentalphänomenologischer Perspektive zum Thema zu machen, vor allem in dieser typischen, in den späteren Auflagen gereiften Form, auf Wojtyłas Schrift Liebe und Verantwortung (Wojtyła, 1979b). Auf diesem Hintergrund kann also in einem ersten Schritt das Verständnis von Liebe über Max Scheler gewonnen werden, ein Verständnis, das Wojtyła sehr gut kannte und auf das er u.a. sein Wertverständnis gestützt hat (vgl. Ernst, 2017: 55ff, dritte Studie). Kritisiert hat er aber den Emotionalismus des Schelerschen Ansatzes und er hat in seiner Grundlegung der Lehre von der Person die Rolle von Vernunft und Wille, die nach ihm die Emotion flankieren sollten, – Scheler komplementär ergänzend – herausgearbeitet. In Person und Tat (Wojtyła, 1981) wurzeln Werterkenntnis und Wertverwirklichung in der Erkenntnis der »Wahrheit vom Guten« (ebd.: 157ff) und haben neben der emotionalen Wurzel noch kognitive und volitive Grundlagen. Es kann deshalb verwundern, dass Wojtyła in seiner philosophischen Hauptschrift nur marginal auf die phänomenologische Liebesidee Schelers Bezug nimmt. Selbst das christliche Liebesverständnis behandelt er in Person und Tat nur kurz im Zusammenhang mit Gewissen und Geboten/ Normen (ebd.: 190) und in seinem abschließenden Kapitel zur Gemeinschaft (ebd.: 337ff). Gleichwohl entstand die Phänomenbeschreibung der Liebe und der Person (Bildung) schon bei Scheler immer auch in Auseinandersetzung mit der christlichen Liebesidee. Wojtyła trennt jedoch streng zwischen der theologischen und philosophischen Herangehensweise und vermeidet die unkritische Vermischung. Die Schrift Liebe und Verantwortung (1979b) begründet dann folglich das Liebesgebot – neben allen theologischen Implikationen – philosophisch mit den entsprechenden Verweisen auf die phänomenologischen Grundlagen in Person und Tat ([1969] 1981) und versteht sich als »ethische Studie«. Mit Wojtyłas Rezeption und Weiterentwicklung der Schelerschen Phänomenologie der Formalismusschrift in Person und Tat wird das Verhältnis von Liebe und Bildung für uns erst richtig, d.h. umfassend ganzheitlich beschreibbar. Scheler hat ja pädagogische Einwirkungen stets misstrauisch betrachtet. Für ihn vernichtet eine pädagogische Einstellung geradezu echte Liebe (vgl. Scheler [1913, 1922] 1974: 159f). Das Verhältnis von Liebe und Bildung wäre von daher nicht oder nur schwer zu gewinnen. In der Interpretation durch Wojtyła kann Liebe jedoch als fundierend herausgearbeitet werden, da diese eine pädagogische Haltung denkbar macht: In der Liebe handelt die Person durchaus auch pädagogisch, wirkt mit an der Bildung der in der Verantwortung der Pädagogen und Pädagoginnen stehenden Kinder und Jugendlichen und in diesem pädagogischen Bemühen und Handeln, das für Wojtyła in der Erkenntnis des Guten und damit auch in der Liebe wurzelt, geschieht zugleich die Bildung des Pädagogen und der Pädagogin, dessen bzw. deren Person im Tun des Guten besser wird und eine Wertsteigerung erfährt (siehe im Folgenden, Punkt 3). In dieser Weise kann pädagogische Liebe herausgearbeitet werden und sie erhält entsprechend ihre tiefere, fundierende Bedeutung für Bildung.

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie

2. D as P hänomen »L iebe «: W esen , F ormen , A rten , M odi und F undierungsverhältnisse in pädagogischer P erspek tive 2.1 Das Phänomen Liebe Phänomene sind nicht nur der Sinnenwelt korrespondierende Allgemeinbegriffe (z.B. Tisch, Tier), sondern auch originäre Produkte der Geistestätigkeit, die auch Gegenstände der Fantasie sein können (z.B. Einhörner, Fabelwesen, »Geister«) oder aber Ideen, die dem menschlichen Erkenntnisstreben folgend zu immer besseren Einsichten fortschreiten (z.B. die Idee der Vollkommenheit). So ist es also möglich – in platonischer Tradition – Liebe (oder Schönheit) als Idee phänomenologisch zu konzipieren. Dabei erfolgt mit der eidetischen Reduktion die Konstitution der angezielten Idee (hier »Liebe«), verbunden mit Deskription/Intuition und Attribution/Intention (vgl. Loch, 2005: 1197ff). Erreicht wird damit die Wesensschau von Liebe. Es gibt wertvolle Hinweise von Helmut Kuhn (1980: 291ff), von Casper (1973: 860f) oder von Scheler selbst ([1913, 1922] 1974: 125), dass das Phänomen Liebe in vorzüglicher Weise im platonischen Meisterdialog Symposion erfahrbar wird (vgl. auch Gigon & Zimmermann 1974, Schlagwort »Liebe/Freundschaft«, 185-188). Wir folgen diesen Hinweisen in didaktischer Absicht und stellen die platonische Idee der Liebe zunächst vor. Im Symposion (Platon [ca. 385/378 v. Chr.] 1974: 105ff) erzählt Apollodoros einem Freund von einem bestimmten Gastmahl, bei dem Sokrates, Alkibiades, Agathon und weitere Freunde den Charakter von Eros (Liebe/Freundschaft) in der bekannten Dialogform in Form einer Wesensschau erforschen wollten. Dabei tritt Sokrates der Meinung des Agathon (ebd.: 195a) entgegen, der Eros als den jüngsten und glückseligsten unter den Göttern preist. Dies könne nicht der Fall sein, da die Götter ja vollkommen seien, die Liebe aber als ein Streben nach dem Besseren und Vollkommenen charakterisiert werden müsse. Gefragt, wie es mit Eros wirklich bestellt sei, berichtet Sokrates von seinem Gespräch mit der Priesterin Diotima (ebd.: 201c ff), die ihm das Wesen des Eros (der Liebe) erläutert habe. Dieser sei – in mythologischer Sichtweise – als das Ergebnis eines Zeugungsaktes zwischen dem Gott Poros, Sohn der Klugheit, und dem Menschenwesen Armut entstanden und als Sohn dieser beiden ein Halbgott bzw. Daimon (Daimone vermitteln zwischen Menschen und Göttern) (ebd.: 203b/c). Die Zeugung des Eros geschah aber am Geburtstag der Aphrodite. »Deshalb ist auch Eros ein Begleiter und Diener der Aphrodite geworden, weil er […] von Natur ein Liebhaber des Schönen ist und weil auch Aphrodite schön ist.« (Ebd.: 203b/c) Danach ist Eros ein »Mittleres« zwischen Hässlichem und Schönem, zwischen menschlicher Armut und göttlichem Reichtum, ein immer Bedürftiger nach den Gegenständen, derer er nur unvollkommen teilhaftig ist: nach dem Schönen, der Weisheit und dem Guten. »Denn zu den schönsten Dingen gehört doch die Weisheit, und Eros ist Liebe zum Schönen; so muß also notwendig Eros weisheitsliebend sein. Indem er aber das ist, steht er in der Mitte [Herv. v. Verf.] zwischen dem Weisen und dem Unwissenden. Auch daran ist seine Herkunft schuld, stammt er doch von einem weisen und klugen Vater, aber von einer unweisen und unklugen Mutter. Gerade das ist nun aber die Natur des Daimons [Eros], Sokrates.« (Ebd.: 203e–204c)

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Hier ist nun in der frühen Philosophiegeschichte die Idee der Liebe gut erfasst. Sie entsteht nach dem platonischen Sokrates (ebd.: 209e–212a) in einer Stufenfolge: Zuerst wird ein konkreter Mensch geliebt, dann in der Liebe zu Schönen das Schöne allgemein entdeckt, darauf die schöne Seele, die auch einen alten oder hässlichen Menschen auszeichnen kann, dann die Idee des Schönen an sich, die den Gesamtbereich der Ideen umfasst und somit in die Liebe zum Guten und zur Weisheit (Liebe zur Weisheit entspricht dem Begriff »Philosophie«) mündet. (Vgl. Gigon & Zimmermann, 1974: 187) Diese der Mythologie und der Ideenlehre entspringende frühe Wesensbestimmung von Freundschaft und Liebe (Eros), die folgend mit der Phänomenologie Schelers und Wojtyłas wissenschaftlich weitergeführt und bestimmt werden soll, enthält für die Griechen ganz selbstverständlich (vgl. Reble, 1981) pädagogische Implikationen, die in den platonischen Dialogen häufig im Kontext des Verhältnisses von älteren zu jüngeren Menschen zur Sprache gebracht werden (vgl. Platons Dialoge Lysis, Phaidros, Symposion). »Der Freund wie der Liebende will den Partner erziehen, was in diesem Fall bedeutet: jenen Einsichten ans Tageslicht und zur Gestaltung verhelfen, die im Partner als Möglichkeit schon seit jeher vorhanden waren, aber ohne einen Helfer sich nicht zu verwirklichen vermochten. In dieser Weise eröffnet L. [Liebe]/F. [Freundschaft] den Weg zu dem, was sich dann im Partner (summarisch gesagt) als Tugend [glückliches Leben, Bildung] bewährt.« (Gigon & Zimmermann, 1974: 186)

Liebe in dieser platonischen Tradition können wir nun als Phänomen problemgeschichtlich bestimmen: Sie ist ein Mittleres zwischen Polen (z.B. schön-hässlich, klug-dumm, reich-arm), strebt nach Vervollkommnung, fundiert die Erkenntnisfunktion im Bereich der Werte (intentionales Fühlen, Vorziehen von höheren Werten), entwickelt sich ontogenetisch vom Leiblichen über Psychisches und Geistiges zum Göttlichen (heilige Sphäre), orientiert das menschliche Begehren und Streben und wird als pädagogisches Anliegen die Entfaltung des Partners bzw. der Partnerin fördern, hin zu seiner höheren Lebensgestalt. In dieser Sicht ist Bildung in Liebe fundiert. Auf dem herangezogenen problemgeschichtlichen und anschaulichen Hintergrund lässt sich »Liebe« nun in strenger phänomenologischer Absicht herausarbeiten. In der Formalismusschrift liefert Scheler ([1913/16] 1980: 259-270) ein für dieses Anliegen zentrales Kapitel: »Fühlen und Gefühle«. Er unterscheidet dabei zuerst (ebd.: 262ff) das Fühlen von Gefühlen, das Fühlen von gegenständlichen emotionalen Stimmungs-Charakteren (z.B. Ruhe eines Flusses) und »das Fühlen von Werten, wie angenehm, schön, gut; hier erst gewinnt das Fühlen neben seiner intentionalen Natur auch noch kognitive Funktion, die es in den beiden ersten Fällen nicht besitzt« (ebd.: 263, Fußnote). Im intentionalen Fühlen werden Werte erkannt, es »[…] ›erschließt‹ sich uns […] die Welt der Gegenstände selbst, nur eben von ihrer Wertseite her« (ebd.: 265). Vom intentionalen Fühlen unterscheidet Scheler in einem weiteren Schritt das Vorziehen und Nachsetzen von Werten als »eine besondere Klasse emotionaler Akterlebnisse« (ebd.), denen Werterkenntnis im intentionalen Fühlen fundierend vorhergeht. Zum anderen stellt er neben den emotionalen Akten des Vorziehens und Nachsetzens Liebe und Hass als weitere emotionale Akte vor. Diese Klasse der »emotionalen Akte« (ebd.: 266) scheidet er von den »intentionalen

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie

Fühlfunktionen«. Liebe und Hass folgen dabei nicht der Werterkenntnis, sondern gehen ihr (intuitiv) voraus. »Aber ich meine, daß dem Akt der Liebe nicht das wesenhaft ist, daß er nach gefühltem Wert oder nach vorgezogenem Wert sich auf diesen Wert ›antwortend‹ richte, sondern daß dieser Akt vielmehr die eigentlich entdeckerische Rolle in unserem Werterfassen spielt – und daß nur er sie spielt –, daß er gleichsam eine Bewegung darstellt, in deren Verlauf jeweilig neue und höhere, d.h. dem betreffenden Wesen noch völlig unbekannte Werte aufleuchten und aufblitzen. Er folgt also nicht dem Wertfühlen und Vorziehen, sondern schreitet ihm als sein Pionier und Führer voran. Insofern kommt ihm zwar nicht für die an sich bestehenden Werte überhaupt, aber doch für den Kreis und Inbegriff der jeweilig durch ein Wesen fühlbaren und vorziehbaren Werte eine ›schöpferische‹ Leistung zu.« (Ebd.: 266f)

Nach dem bisher Ausgeführten kommen wir mit Scheler zu einer positiven Bestimmung des Phänomens Liebe. Liebe ist als letzte Wesenheit von Akten allerdings »[…] nur erschaubar zu machen, nicht definierbar« ([1913, 1922] 1974: 155). Mit der für die transzendentale Phänomenologie typischen Wesensschau gelangt Scheler (ebd.: 164) zur folgenden Bestimmung von Liebe: »Liebe ist die Bewegung, in der jeder konkret individuelle Gegenstand, der Werte trägt, zu den für ihn und nach seiner idealen Bestimmung möglichen höchsten Werten gelangt; oder in der er sein ideales Wertwesen, das ihm eigentümlich ist, erreicht (Haß aber die entgegengesetzte Bewegung). Ob es sich hierbei um Selbstliebe oder Fremdliebe handelt, ist hier dahingestellt, wie alle anderen möglichen Differenzierungen.«

2.2 Formen, Modi und Arten der Liebe in pädagogischer Perspektive Auf der Grundlage dieser (positiven) Bestimmung des Phänomens unterscheidet Scheler Formen, Arten und Modi von Liebe und Hass. Danach (Scheler [1913, 1922] 1974: 170f) kann man Liebe in drei Daseinsformen kategorisieren: geistige Liebe als höchste Form der Liebe, als Liebe zu Gegenständen oder Personen, die heiligen Charakter zeigen, seelische Liebe als Liebe zu Kulturwerten (Erkenntnis, Schönheit) und als unterste Stufe die vitale bzw. Leidenschaftsliebe. Zur darunterliegenden materiellen Wertebene (z.B. eine Speise) gibt es nach Scheler keine Liebesbeziehung: »Die bloß ›angenehmen‹ Dinge sind einer eigentlichen Liebe nicht fähig, wie sie auch keiner Werterhöhung in dem Sinne fähig sind, wie sie mit dem Wesen der Liebe notwendig verbunden ist.« (Ebd.: 170) Die drei Formen zeigen eine gut abgrenzbare Kontur, da die Schichten in einer Person jeweils verschieden Gegenstand von Liebe und Hass sein können, z.B. bei einer vitalen »Liebesleidenschaft« zu einem Menschen »ohne daß darum … seine Art der geistigen Form, Gestalt und Bildung Liebe einflößte« (ebd.: 171).1 Den Formen der Liebe entsprechen Arten der Liebe: Gottesliebe (Heiliges), Freundesliebe, elterliche Liebe, Geschwisterliebe (Seelisches) und (Geschlechts-) Liebe zwischen Mann und Frau (Vitales). Damit sind Arten der Liebe ausdifferenziert. »Die Arten der Liebe [z.B. auch Heimatliebe, Mutterliebe, kindliche Liebe] 1 |  Dieser rein triebbestimmten »Liebe« spricht Wojtyła allerdings in ihrer einseitigen, desintegrierten Form den Charakter echter, personaler Liebe ab. (Vgl. unten)

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bekunden sich darin als echte Arten, daß sie in Regungen gegenwärtig sein können, ohne daß der Gegenstand (irgendwie) bildhaft gegeben ist, auf den sie sich richten.« (Ebd.: 173) Scheler veranschaulicht diese Tatsache an der Mutterliebe, die als Liebesregung bei einer Frau auch gegeben sei, wenn sie niemals eigene Kinder gezeugt und geboren hat. Neben Formen und Arten der Liebe unterscheidet Scheler noch »[…] Modi […], die sich in […] Verbindungen von Liebesakten besonders mit sozialen Verhaltensweisen und Mitgefühlserlebnissen darstellen« (ebd.: 174). Scheler nennt hier u.a. Güte, Wohlwollen, Zuneigung, Liebenswürdigkeit, Zärtlichkeit, Freundlichkeit, Anhänglichkeit. Für den pädagogischen Bereich ergeben sich aus diesen Differenzierungen gewisse Hinweise: Erlaubt und erwünscht sind in unserer Zeit Formen, Arten und Modi der Liebe als pädagogische Haltung, die nicht der Geschlechtsliebe zuzurechnen sind.2 Bei den Griechen erleben wir ein echtes Liebesverhältnis zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen (z.B. Knabenliebe, lesbische Liebe). Nur die ganzheitliche, alle anthropologischen Schichten übergreifende Liebe galt als schön, die einseitig missbrauchende, nicht das Beste für den anderen anstrebende Sexualität als hässlich und verabscheuenswürdig. (Vgl. Platon, Symposion, [ca. 385/378 v. Chr.] 1974: 120ff) Die Formen der Liebe erfordern in dieser Weise die Berücksichtigung der verschiedenen Schichten im Menschen (Wojtyła unterscheidet Leib, Psyche, Geist), die bei einer Erziehung in Liebe in ein gedeihliches Verhältnis gebracht werden und somit zu einer integralen Bildung beitragen. Neben diesen Differenzierungen der Liebe in Formen, Arten und Modi verdanken wir Scheler ([1913, 1922] 1974: 105ff) noch Fundierungsgesetze zwischen Sympathie und Liebe, die ebenso pädagogische Relevanz besitzen. So fundiert Einfühlung Nachfühlung, Nachfühlung Mitgefühl, Mitgefühl Menschenliebe (Humanitas) und Menschenliebe Gottesliebe. Scheler zeigt in phänomenologischer Schau Bedingungen der Liebe, die auch Pestalozzi schon gesehen hat (Rolle der Mutter in der Wohnstube) und die in der Humanethologie und Bindungsforschung empirisch erhärtet werden konnten. Unter Bezug auf die Ergebnisse der Bindungsforschung (John Bowlby, Mary Ainsworth) kommt Eibl-Eibesfeldt (1986: 245) zu folgender Feststellung: Es »sei noch einmal hervorgehoben, daß in der Mutter-Kind-Beziehung jenes ›Urvertrauen‹ entwickelt wird, das die Voraussetzung für eine weiter ausgreifende Nächstenliebe ist. Erst in der individualisierten Familienbeziehung werden die Anlagen entwickelt, die es uns ermöglichen, auch in uns unbekannten Menschen ›Brüder‹ und ›Schwestern‹ zu sehen, also das familiale Ethos auf die Gruppe zu übertragen. Ein Miteinander-Leben in der anonymen Großgesellschaft wird dadurch überhaupt erst möglich.«

Die Bildung der Liebesfähigkeit ruht auf genetischen Bedingungen, die in frühester Kindheit gegeben sein müssen. Auch die Entstehung von Hass findet hier eine Erklärung: »Frühkindliche soziale und emotionale Entbehrungen führen zu einem Sozialisationsdefizit, das für spätere Kriminalität anfällig macht. Unter anderem 2 |  Selbst die Griechen verachteten schon rein triebbestimmte Verhältnisse zwischen Älteren und Jüngeren (vgl. Platons Symposion; Marrou 1957). Sexueller Missbrauch kann über diese Tradition nicht beschönigt oder gar legitimiert werden.

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie

führt [sic!] sie zu einer Gefühlsverflachung [Lieblosigkeit] und Empfindungslosigkeit, die sich unter anderem in einem Mangel an Schuldgefühlen äußert.« (Ebd.) Wer in Brennpunktschulen unterrichtet hat, kennt dieses Phänomen. Kinder, die in mehreren Heimen und Pflegefamilien keine emotionale Bindung auf bauen konnten, reagieren auf freundliche Zuwendung häufig zunächst mit Ablehnung, wenn nicht gar mit Aggressionen. Schon Scheler ([1913, 1922] 1974: 165) – und vor ihm Pestalozzi – erklärt diese Fehlentwicklungen mit einem Mangel an Liebe: »Aber wer sagt, daß – […] – dieser Mensch ›böse‹ wäre, wenn er nur genügend geliebt worden wäre? […] Wer sagt, daß er nicht in und durch den Aktus der Liebe ein Besserer würde?« Um Fehlentwicklungen in der Ausprägung der Liebesfähigkeit vorzubeugen müssen also nach Scheler (ebd.: 112) die fundierenden Sympathiegefühle in der richtigen Reihenfolge und im notwendigen Umfang entwickelt sein. Erst dann kann eine vollwertige Menschlichkeit entstehen. »Es bedürfen zunächst alle, nicht nur diese oder jene der artunterschiedenen Kräfte des Gemütes einer Ausbildung, wenn ein ideal mögliches volles Menschentum im Menschen gewonnen werden soll. Dies schon darum, weil ja, wie gezeigt, eine feste Fundierungsordnung zwischen den emotionalen Akten und Funktionen besteht – die höherwertige und zugleich dem Wesen nach weniger allgemein dem Menschen zukommende Gemütskraft nicht voll ausgebildet werden kann, wenn nicht die unterwertige, aber allgemeinere, voll ausgebildet ist.« (Ebd.)

2.3 Pädagogische Liebe Diese Fundierungsverhältnisse, die Liebe voraussetzen, nämlich in der Zuwendung der ersten Bezugspersonen, die erst die Liebesfähigkeit im Kind entfalten können, führen uns nun zur Bestimmung der pädagogischen Liebe. Im Gegensatz zum Liebesverständnis Platons, das ohne einen pädagogischen Impetus im richtigen Verhältnis von älteren und jüngeren Menschen nicht zu denken ist, grenzt Scheler ([1913, 1922] 1974: 159-161) das pädagogische Verhältnis von aktueller Liebe scharf ab. Nach ihm lässt »eine ›pädagogische‹ Einstellung […] die aktuelle Liebe sofort und notwendig verschwinden […]« (ebd.: 160). Jeglicher Versuch, den anderen Menschen verändern und besser machen zu wollen, schließt nach ihm Liebe aus, versteckt oder zerstört das Grundphänomen Liebe. »Denn in keinem dieser Fälle ist Liebe gegeben. Wohl darf man sagen, echte Liebe öffne die geistigen Augen für immer höhere Werte des geliebten Gegenstandes: sie macht sie sehen, […] Sie selbst ist aber kein ›suchendes Verhalten‹ nach neuen Werten an dem geliebten Gegenstande. Im Gegenteil! Ein solches Herumsuchen nach ›höheren‹ Werten wäre zweifellos ein Zeichen eines bestehenden Mangels an Liebe.« (Ebd.)

Liebe als emotionaler Akt liebt ihren Gegenstand so wie er ist, mit Fehlern und Mängeln, die durchaus gesehen werden, aber sie nimmt diese Fehler nicht in der Absicht der (pädagogischen) Veränderung wahr. Damit ist aber pädagogische Liebe für Scheler ein Unbegriff, eine Contradictio in adjecto. Liebe ist eben kein »[…] Anlaß zum Schaffen des höheren Wertes durch Erziehung […] Ich setze noch hinzu, daß überhaupt ein Verändernwollen des geliebten Gegenstandes gar nicht

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Hans Ernst in der Liebe als solcher liegt. Es ist ganz richtig, wenn man sagt: Wir lieben (wesensgesetzlich) die Gegenstände, z.B. einen Menschen, wie sie sind [Herv. d. Verf.] […] und wir leugnen, daß in der Liebe ein Wert gegeben sei, der nur an ihm sein ›soll‹. Jedes ›du sollst so sein‹, gleichsam als ›Bedingung‹ der Liebe genommen, zerstört ihr Wesen fundamental. Das ist z.B. äußerst wichtig für die rechte Auffassung der evangelischen Liebesidee […].« (Ebd.: 161)

Echte Liebe besteht also in einer bedingungslosen Akzeptanz der geliebten Person und diese Akzeptanz kann als Prinzip und Grundlage jeglicher personalistischen Pädagogik angesehen werden. (Vgl. Ernst, 1993; Schröder, 1999; Tausch & Tausch, 1991) Dabei darf Scheler nicht missverstanden werden. Er will das Grundphänomen Liebe, ihre Wesenheit als aktuellen emotionalen Akt beschreiben und dieser aktuelle Akt der Liebe ist eben dadurch gekennzeichnet, dass er im aktuellen Vollzug mit der pädagogischen Einstellung unvereinbar ist. Er behauptet also »[…] daß sich Liebe und pädagogische Einstellung als gleichaktuelle gleichzeitige Phänomene ausschließen« (Scheler [1913, 1922] 1974, Fußnote). Scheler behauptet aber nicht die Unvereinbarkeit der Liebe zu einem Kind mit dem Anliegen, in diesem Kind Werte zu sehen, die entwickelt werden sollen. Er behauptet nur die Unmöglichkeit der gleichzeitigen aktuellen Existenz des emotionalen Aktes der Liebe und der pädagogischen Einstellung. Die pädagogische Absicht, »[…] einen Menschen zu ›bessern‹ [zu] suchen oder ihm irgendwie zu helfen, Träger höherer Werte zu werden« (ebd.: 159) liegt nicht im Wesen bzw. Phänomen Liebe, kann aber auch mit Scheler als Folge der Liebe gesehen werden: »Gewiß kann auch das eine Folge der Liebe sein.« (Ebd.) Als Beispiel können wir mit Scheler das Gleichnis des verlorenen Sohnes heranziehen. Der Vater liebt ihn bedingungslos und nimmt ihn mit Freude auf, die Forderung ein anderer Mensch zu werden, ist in dieser Aufnahme nicht enthalten, sie ist in dieser liebevollen Annahme keine Bedingung. Dieser bedingungslosen Akzeptanz entgegengesetzt ist die Haltung des eifersüchtigen Bruders, der dessen Verfehlungen nicht hinnehmen will und nicht versteht, dass der Vater keine Voraussetzungen für die liebende Annahme macht, etwa die Wiedergewinnung des verprassten Vermögensanteils.

3. L iebe und B ildung im S piegel der tr anszendentalen P hänomenologie Liebe als pädagogische Grundhaltung lässt sich über die Kritik und in der Transformation der zweifellos wegweisenden Analysen Schelers herausarbeiten, die Wojtyła vorgenommen hat. (Vgl. Ernst, 2017: 55ff, dritte Studie) Dabei wird das Phänomen Liebe aus seiner engen Fassung als aktueller emotionaler Akt, aus einer rein emotionalistischen Perspektive in ein weiteres Verständnis überführt, in eine Grundhaltung der Person, die neben dem Gefühl und dem intentionalen Fühlen Verstand und Wille zur Geltung bringt. Flankierend zum emotionalen, momentanen Akt der Liebe kommen mit Wojtyła noch Erkenntnisakte über die »Wahrheit« der Liebe und Willensakte z.B. in Form der Anerkennung der Norm, einen anderen Menschen nicht als Mittel zu gebrauchen, mit zum Tragen. Während Scheler dem

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie

intentionalen Fühlen hohe Treffsicherheit zubilligt 3, zeigt Wojtyłas Verständnis der Gefühle und des Fühlens große Skepsis zu Schelers Optimismus. Nach Scheler ([1913, 1922] 1974: 160) macht Liebe sehend und nicht blind. Zu einer wesentlich anderen Einschätzung gelangt Wojtyła ([1960] 1979b: 67): »Die Gefühle selbst haben kein Erkenntnisvermögen […]. Die Gefühle entstehen spontan – darum tritt die Zuneigung zu einer Person manchmal plötzlich und unerwartet auf –, doch diese Regung ist im Grunde blind. Die natürliche Gefühlstätigkeit ist nicht bestrebt, die Wahrheit über ihren Gegenstand wahrzunehmen. Im Menschen ist die Wahrheitserkenntnis eine Funktion und Aufgabe der Vernunft. Und obwohl es Denker (Pascal, Scheler) gab, welche die besondere Logik der Gefühle (logique du cœur) betonten, ist doch festzustellen, daß die emotiv-affektiven Reaktionen die Zuneigung zu einem wahren Gut unterstützen, aber auch behindern können.«

Den Fall einer Liebe, die eher nicht das ideale Wertwesen der anderen Person sieht, die regelrecht blind für dieses Wertwesen sein kann, sieht Wojtyła in bestimmten Formen der jugendlichen Liebe. »Dieses Phänomen der Idealisierung nimmt den Menschen nicht so, wie er ist, sondern überhöht ihn; dieser bietet nur Gelegenheit dafür, daß im emotiven Bewußtsein kraftvolle Werte aufscheinen, zu denen man hingezogen wird und die man deshalb der geliebten Person beilegt. Es macht dabei wenig aus, ob ihr diese Werte tatsächlich eigen sind.« (Ebd.: 98)

Diese Art der jugendlichen Liebe projiziert Werte in einen anderen Menschen, wird von Werten genährt, die der vermeintlich Liebende in sich selbst trägt und die ihm einen realistischen Blick auf das wahrhafte Wertwesen des anderen versperren oder beeinträchtigen. Gegen diese falsch verstandene Liebe stellt Wojtyła (ebd.: 100ff) ein Verständnis von Liebe, das sich frei macht von Eintrübungen der Erkenntnis durch Sexus, Affekt, Projektion, Schwärmerei, die für ihn den Blick auf echte Liebe behindern können, da sie überwiegend mit dem Ego verknüpft sind und mehr über dessen Befindlichkeiten verraten als über das Ziel, das Beste für die andere Person zu wollen, was bei ihm das Wesen der personalen Liebe ausmacht. Anders als Scheler verknüpft Wojtyła Liebe mit einem Akt der Wahrheitserkenntnis; er beschränkt sie nicht auf den emotionalen Akt. Und in dieser Erweiterung des phänomenologischen Liebesverständnisses, das auch volitive Züge trägt, lässt sich der pädagogische Aspekt für die Liebe wiedergewinnen, da sich Liebe in dieser Sicht von aktualistischen und emotionalistischen (Scheler) Beschränkungen löst. Liebe wird in Verbindung mit Wille und Vernunft zu einer Grundhaltung, die der anderen und der eigenen Person gut will. In dieser Sicht fundiert Liebe auch die pädagogische Haltung zum Mitmenschen und man kann »pädagogische Liebe« als echte Art der Liebe herausstellen. Wojtyła gewinnt für die Liebe ein Verständnis zurück, das wir schon in den platonischen Schilderungen gefunden hat-

3 |  Man kann tatsächlich fragen, ob jeder Mensch in Liebe das »ideale Wertwesen« des anderen (Scheler) richtig erfasst, oder ob hier nicht auch entwicklungs- oder intelligenzbedingte Einschränkungen vorliegen können. Ein empirischer Beweis scheint nicht möglich.

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ten. In dieser Sicht wird Liebe aber fundierend für »Bildung«. Dies leuchtet sofort ein, wenn man Wojtyłas ([1960] 1979b: 71f) Definition von Liebe wiedergibt: »Es ist hier zu betonen, daß Liebe die vollste Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschen ist. Sie ist die maximalste [sic!] Aktualisierung der Potentialität, die einer Person eigen ist. Die Person findet in der Liebe die volle Fülle ihres Wesens, ihrer objektiven Existenz. Liebe ist der Akt, der das Dasein der Person am vollsten entfaltet. Damit dies der Fall sei, muß es sich dabei natürlich um echte Liebe handeln. Was besagt dieser Ausdruck genau? Liebe ist echt, wenn sie ihr Wesen verwirklicht, d.h. sich auf ein echtes Gut (und nicht auf ein scheinbares) richtet, und zwar so, wie es der Natur dieses Gutes entspricht. Diese Definition gilt auch für die Liebe zwischen Mann und Frau. Auch in diesem Bereich vervollkommnet echte Liebe das Sein der Person und entfaltet ihr Dasein. Falsche Liebe bewirkt das Gegenteil. […] Diese Liebe auch ist es, die ihr Subjekt am meisten vervollkommnet und das Dasein des Subjekts wie das der Person, auf die sie sich richtet, zur vollsten Entfaltung bringt.«

Liebe als »vollste Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschen« ist aber kaum etwas anderes als »Bildung« im idealen Sinn. Der wahre Zweck des Menschen ist nach Humboldt »die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« (Humboldt, 1772, zit.n. Reble, 1981: 187) und dies beabsichtigt Liebe im Sinne Wojtyłas, wobei bei letzterem auch noch die Verwirklichung des menschlichen Heils stärker akzentuiert sein dürfte. Bildung wird mit dem führenden Bildungstheoretiker der Gegenwart Dietrich Benner in der Tradition Humboldts als »Prozess der Formung des Menschen« (Benner & Brüggen, 2004: 174) zum einen gefasst, als »Bestimmung, […] Ziel und […] Zweck menschlichen Daseins« (ebd.) zum anderen. Der dem Bildungsbegriff korrespondierende Begriff der Bildsamkeit verweist andererseits auf die anthropologische Kategorie der Plastizität des Menschen (Roth) und bezieht sich auf die »Erziehungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit« (ebd.), auf die Möglichkeit und Bedingung persönlicher Formung und Steigerung, die, wie gesagt, auch Voraussetzungen echter Liebe sind. Mit Wojtyła stehen Bildung und Erziehung unter der grundsätzlich geltenden personalistischen Grundnorm: »[…] vergiß niemals, daß du sie [die Person] nicht bloß als Mittel, als Werkzeug, behandeln darfst, sondern sei dir bewußt, daß sie ihr eigenes Ziel hat oder wenigstens haben sollte« (Wojtyła, [1960] 1979b: 25).

Wojtyła bezieht diese personalistische Norm explizit auf Erziehung: »Darin liegt der Sinn der Kindererziehung und, ganz allgemein, der gegenseitigen Erziehung der Menschen« (ebd.), die unter dieser Norm in Bildung mündet. Die personalistische Norm fundiert so Bildung in Liebe, die den positiven Wert der personalistischen Norm voraussetzt: »die Person ist ein solches hohes Gut, daß einzig die Liebe die angemessene, gültige Haltung zu ihr bildet.« (Ebd.: 37)

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie

4. B ildung in L iebe Aus dem bisher Gesagten ergibt sich ein Fundierungsverhältnis von Bildung durch Liebe. Man kann mit Wojtyła daneben auch von »Bildung der Liebe« sprechen. Diese Bildung der Liebe kann als freier und selbstbestimmter Prozess verstanden werden, bei dem »[…] Liebe stets eine gegenseitige Beziehung zwischen Personen ist, die auf ihrer individuellen und gemeinsamen Ausrichtung auf das Gute gründet« (Wojtyła, [1960] 1979b: 63), ein Prozess, der auf Steigerung und Vervollkommnung ausgerichtet ist. Um das Phänomen Liebe genau zu verstehen, muss man das Wesen der Person in ihrer Struktur und Zeitgestalt detailliert begreifen. Dies kann hier nicht geleistet werden und ich muss auf meine Vorarbeiten in den Studien vier und fünf (Ernst, 2017) verweisen, in denen ich versucht habe, die Struktur der Person in einer Scheler und Wojtyła folgenden Phänomenbeschreibung zu erfassen. Hier können nur erweiternd die wesentlichen Gesichtspunkte angesprochen werden. Wie sittliche Bildung geschieht, versuche ich anhand eines Schaubilds (siehe Abbildung 1; entnommen aus Studie fünf, ebd.: 91) darzulegen. Abbildung 1: Der einfache Willensakt (entnommen aus: Ernst, 2017: 91, Abb. 7)

Danach verwirklicht sich die Person in ihren Handlungen. Auch das erzieherische Geschehen kann als Handeln im Sinne einer »Ausrichtung auf das Gute« verstanden werden. Bildung in Liebe geschieht dann in der Beziehung zwischen Personen, die von Wohlwollen, Zuneigung, Sympathie und Freundlichkeit (vgl. Wojtyła, [1960] 1979b: 63) geprägt sein sollte. Die Liebe müsste in der Weise in das Schaubild eingefügt werden, dass sie die Werte des Gegenübers, auf den sich die Handlung bezieht, sehend macht und zur richtigen Handlung im Sinne der Steigerung der Wertgestalt der anderen Person das Ziel, die Motivation und den Antrieb liefert. Man weiß, dass Erziehung und Bildung Zeit brauchen und Entwicklungsprozessen unterliegen. Insofern unterliegt auch Liebe Erziehungs- und Bildungsprozessen. Es gibt erfahrungsgemäß neben der kindlichen Liebe auch die Art der rei-

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fen Liebe mit allen ihren Zwischen- und Vorstufen, z.B. pubertäre und jugendliche Liebe bei erwachtem Geschlechtstrieb. Wojtyła hat in Erziehung zur Liebe (1979a: 10) diese Entwicklungstatsache genau gesehen. Die Liebesfähigkeit unterliegt so einem Prozess, der Erziehung und Bildung (in Liebe) fordert: Liebe ist »[…] nicht von Anfang an […] so [in ihrer reifen Hochform] […] und [kann] auch nicht so sein. Das nämlich wäre nicht mit dem allgemeinen Charakter menschlichen Seins zu vereinbaren, in dem das Gesetz der Entwicklung und stufenweisen Anpassung herrscht. Daher ist die Liebe nicht von Anfang an reif und vollwertig, sondern kann erst allmählich so werden. Es bedarf einer gewissen Orientierung in der gesamten Problematik des ›Werdens‹, um von der Erziehung zur Liebe sprechen zu können. Diese Frage ist wichtig, sie ist ein Schlüsselproblem, das den Anfang sehr vieler Dinge im menschlichen Leben bildet.« (Ebd.)

Dabei geht es im Bildungsprozess »[…] um das Vervollständigen dessen, was im Gefühl und in den Sinnen beginnt, durch das, was die wahre Tiefe der menschlichen Person […] ausmacht.« (Ebd.: 11) Man kann in dieser liebenden Zuwendung zur Person des jüngeren, in Entwicklung befindlichen Menschen den Kern des pädagogischen Ethos erblicken (vgl. auch Nohl, 1949; Marrou, 1957). Dabei will man eben das Gute (»das Beste«) für den Mitmenschen. Dieses Handeln in Liebe, an Erziehung und Bildung orientiert, hat aber auch intransitive Folgen – in Abbildung 1 als sittlicher Wert und Güte der handelnden Person dargestellt. Als Folge des guten Handelns vollzieht sich die Steigerung der eigenen Person. (Scheler, [1913/16] 1980: 45ff) Diese Steigerung, die man als Frucht der Selbstliebe einstufen kann, ist eine Folge der liebenden Hingabe (vgl. Wojtyła, [1960] 1979b: 83ff) an die andere Person. Dieser wechselseitige Prozess der in Liebe fundierten Steigerung des anderen und der eigenen Person charakterisiert einen Hauptaspekt der Berufung zum Pädagogen bzw. zur Pädagogin. Pädagogische Liebe ist echte Liebe, kann Gegenliebe erwecken und bereichert alle beteiligten Personen. Wojtyła (ebd.: 71) zielt dabei auf »die vollste Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschen«, auf »die maximalste Aktualisierung der Potentialität, die einer Person eigen ist.« Abbildung 2 versucht diese Zusammenhänge nochmals zu verdeutlichen. Abbildung 2: Erziehung und Bildung in Liebe

Bildung und Liebe im Spiegel der transzendentalen Phänomenologie

5. A ufgaben , B ereiche und Z iele der B ildung und E rziehung in L iebe Grundsätzlich ist die Befähigung zur Ausübung der Selbstbestimmung in Freiheit Voraussetzung für die Entfaltung reifer Liebe. Liebe kann nicht befohlen werden, sie ist aber gemäß der personalistischen Norm die gebotene Form humanen Umgangs. Wie ich gezeigt habe (Ernst, 2017: 77ff, vierte und fünfte Studie), können Wojtyłas Phänomenanalysen der menschlichen Person in ausgezeichneter Weise das führende Bildungsziel der Selbstbestimmung (z.B. Benner, 2012; Oser & Althof, 2001) fundieren und stützen. Selbstbestimmung geschieht aber in bedingter Freiheit, d.h. der selbstbestimmte Geist/Wille sieht sich leiblichen und psychischen Bedingungen gegenüber, im Fall der Liebe eben der Sinnlichkeit, dem Triebgeschehen (Leib), dem Gefühl und der Affektivität (Psyche) und er muss mit seiner Werterkenntnis diese Bereiche der Person in eine gedeihliche, sittlich akzeptable Ordnung bringen. Dies bezeichnet eine Aufgabe der Bildung durch Integration. Letztlich sind Bildung und Erziehung aber nicht nur transitive und intransitive dialogische Vorgänge. Der idealtypische Fall eines begnadeten Erziehers (Rousseaus »Emil«; pädagogisches Verhältnis in der griechischen Antike), der sich einem einzigen jüngeren Menschen gegenüber sieht, ist in unserer modernen Zeit – abgesehen von der elterlichen Liebe – mit einem professionellen Bildungssystem eher die Ausnahme. Da stellt sich die Aufgabe, größere Einheiten (Klassen, Schulen, Heimgruppen) zu unterrichten, zu erziehen und den Mitgliedern Bildung zu ermöglichen. Grundsätze für den richtigen Umgang von Menschen in Institutionen und Organisationen (Organisationspädagogik) hat Wojtyła in Person und Tat (1981) in seinem Kapitel zur »Teilhabe« geliefert (ebd.: 302-345). Danach ergibt sich ein gedeihlicher Umgang in der Gemeinschaft in (pädagogischer) Liebe mit dem Bildungsziel der Selbstbestimmung und der Befähigung zur verantwortlichen Teilhabe an einer menschlichen Gesamtpraxis (Benner, 2012) vorzüglich in einer demokratischen gesellschaftlichen und politischen Ordnung (Kohlberg; Oser & Althof). Auch in dieser Hinsicht kann man die Phänomenanalysen der Liebe durch Scheler und Wojtyła als fundierend bzw. wegweisend ansehen. Sie könnten helfen, den Bildungsauftrag pädagogischer Institutionen und Organisationen richtig zu interpretieren. Mit dem Einbezug der wichtigen Rolle der Liebe für Personen, Gemeinschaften, pädagogische Institutionen und Organisationen wird aber erst ein ganzheitliches Bildungsverständnis erreichbar, wie ich es in einer Studie zur Bildungstheorie zu entfalten versucht habe (vgl. Ernst, 1997). Danach hätte sich Bildung im weiten Sinn nicht nur um die von Scheler ([1925] 1980: 52ff) typisierten Wissensformen des Bildungs- und Herrschaftswissen zu kümmern, sondern auch um das Heilswissen. Und genau dies kann, im Sinne eines Ausblicks, mit der Berücksichtigung der Liebe in der Bildung geleistet werden. Darüber hinausgehend erfährt aber nicht nur die Idee von Bildung durch ihre Fundierung im Phänomen Liebe eine Erweiterung und Transformation. Betroffen ist auch die Disziplin Pädagogik selbst, die Bildung (neben Erziehung) zu einem ihrer zentralen Begriffe erhoben hat. Denn in Liebe verwurzelte Bildung verweist auf eine Kontur der Pädagogik, die neben einem Theorie-Praxis-Verhältnis, wie es Herbart vorgeschwebt haben mag, eine weitere Sicht eröffnet. Pädagogik ist dem-

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nach vornehmlich poetisch (vgl. Loch, 2005: 1201), d.h. der Kunst näherstehend als der Wissenschaft, deren Erkenntnisse sie aber für einen gedeihlichen Bildungsprozess einbezieht. Für Bildung aus Liebe heraus ist deshalb jede einseitig technologische Herangehensweise (»Herrschaftswissen«) wesensvernichtend. Insofern ist auch das Suchen und Streben nach »pädagogischer Professionalität« in sich ethisch problematisch, wenn man die Rolle der Liebe nicht sehen will und Pädagogik als rein theoriegeleitete Praxis ins Auge fasst. Dann könnte dieses Handlungsfeld unter emotionaler Kälte leiden. Pädagogik, als kreativer Prozess verstanden, der in der Steigerung der Heranwachsenden seine Passion findet, ist dagegen als jenes schöpferische Verhältnis anzusehen, bei dem die Liebe für die jeweils höheren Werte des Menschen – der eigenen und der fremden – sehend macht, diese dann in ihrer Entfaltung fördert und zum Vorschein bringt. Und genau dies wäre von einer Disziplin, die Herrschaftswissen, Bildungswissen und Heilswissen ganzheitlich und aus der Perspektive in Liebe begründeter Bildung integrieren will, zu erwarten. (Vgl. Ernst, 1997) Die transzendentalphänomenologische Sichtweise von Liebe und Bildung stützt, wie herausgearbeitet, eine Pädagogik, die als kreative, konstruktive Handlungskunst (vgl. Loch 2005: 1201) (wieder) ein menschliches Gesicht zeigt.

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Nächstenliebe als kommunikativ generierte Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen Andreas Schiel

1. E inleitung Wolfgang Edelstein, der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, schreibt im Vorwort eines Sammelbands mit dem Titel Moralische Erziehung in der Schule aus dem Jahr 2001: »Die Politik, die Medien, die Wirtschaft: Alle rufen nach Werteerziehung. Angesichts der Konfrontation mit […] Säkularisierung und Traditionszerfall […], angesichts der Individualisierung und der daraus folgenden Korrosion institutionalisierter Solidargemeinschaften, vor allem der Familie, soll Werteerziehung plötzlich das Allheilmittel gegen die Probleme der Jugend sein. Freilich weiß kaum jemand, wie er die gesuchten Werte definieren soll. Unklar sind die Vorstellungen über das Wünschenswerte, das unser Handeln lenken soll, die geschätzten Güter, die wir anstreben, die Maßstäbe, die wir anerkennen sollen. […] dem Wertezerfall soll durch erzieherische Maßnahmen Einhalt geboten, die beklagten Folgen der Modernisierung durch wertkonservative Integrationsleistungen kompensiert werden. […] Die Schule soll es richten. […] Vielfach scheint ganz unreflektiert die Ansicht vorzuherrschen, dass Werte nach dem Modell des Inhaltslernens angeeignet werden sollen wie die Fakten der Erdkunde.« (Edelstein, 2001: 7)

Diese Analyse, die heute unverändert Geltung besitzt und die sich angesichts der Entwicklungen unserer jüngsten Gegenwart, in denen sich die Konflikte und möglichen Bruchstellen der pluralen Gesellschaften der (Post-)Moderne immer deutlicher abzeichnen, als dringliche Aufforderung zum Umdenken und Handeln lesen lässt, ist Ausgangspunkt dieses Textes. Schule und andere Bildungsinstitutionen sollen Werte vermitteln, zu wertegeleitetem Handeln erziehen, ja womöglich sogar Werte erzeugen, in einer Situation, in der diese Werte radikal und immerfort in Frage gestellt sind – nicht nur durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, sich widersprechender Weltsichten und -interpretationen übrigens, sondern auch durch das Handeln einflussreicher Institutionen und Unternehmen, von Personen in privilegierten und in exponierten Positionen. Kurz: durch nicht wenige Angehörige der sogenannten Eliten, die sich notorisch in einen performativen Selbstwiderspruch setzen zu solchen Werten, die nicht wenige von ihnen gegenüber Kindern und Jugendlichen als erstrebenswert, essenziell, vielleicht sogar als verpflichtend

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darstellen. Das ist die unbefriedigende Situation unserer Zeit – und wenn wir uns mit der Frage auseinandersetzen, welche Rolle die Liebe in der Pädagogik spielen könnte und sollte, dann müssen wir uns auch – und vielleicht vor allem – vor diesem Hintergrund mit ihr befassen. Dabei kann die Person und Herangehensweise des oben zitierten Wolfang Edelstein übrigens Orientierung bieten. Edelstein, dessen Karriere als Bildungsreformer nicht zuletzt durch seine Zeit an der Odenwaldschule geprägt wurde, wo er – deutlich bevor dort Gerold Becker sein verheerendes Wirken begann – zunächst als junger Lehrer und später als Studienleiter tätig war, kann man durchaus als einen Pädagogen betrachten, der sich für eine liebevolle Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen einsetzte. Allerdings nicht in einer Weise, die Liebe etwa primär als egozentrisches Begehren ausbuchstabierte, das Lehrende gegenüber Lernenden hemmungs- und rücksichtslos ausleben dürften. Sondern ganz im Gegenteil, als Fürsprecher einer auf Wertschätzung, Akzeptanz und Respekt zielenden Pädagogik, die Edelstein im oben zitierten Sammelband wie folgt zusammenfasst: »Es geht um die Einübung moralischer Diskurse unter gegenseitiger Anerkennung, um die Übernahme sozialer Verantwortung in Situationen gemeinsamen Handelns, um die Geltung von Gerechtigkeit und Fairness bei der Lösung sozialer Konflikte.« (Edelstein, 2001: 9)

Dass in dieser Aufzählung das Wort Liebe überhaupt nicht auftaucht, möchte ich übrigens durchaus als paradigmatisch für diesen, meinen Text verstehen: Zwar wird es im Folgenden darum gehen, aus einem Konzept von Liebe, das diese primär als Phänomen ausdeutet, das wechselseitige Wertschätzung und Akzeptanz ermöglicht und erzeugt, produktive Ideen und Ansätze für die pädagogische Arbeit zu gewinnen. Und zwar insbesondere für jene Bildungsarbeit, die sich um die Vermittlung von Werten bemüht. Und dazu werde ich mich in den ersten beiden Abschnitten dieses Aufsatzes explizit auf ein Verständnis von Liebe beziehen, das bereits eine Vielzahl nicht selten gegenläufiger und vielfach auch fragwürdiger Interpretationen erfahren hat: auf die Nächstenliebe nämlich, in ihrem christlichen, oder weit besser, jesuanischen Sinne. Dies geschieht allerdings in keinster Weise, um den Liebesbegriff grundsätzlich und allgemein im Kontext der Pädagogik neu zu verorten oder gar in irgendeiner Weise zu ›rehabilitieren‹. Denn ich bin mir alles andere als sicher, ob ein solches Unterfangen nicht in einem Fiasko enden würde, wie dies in der Geschichte der Pädagogik schon mehrmals geschehen ist. Vielmehr möchte ich das utopische Potenzial des Liebesbegriffs und insbesondere der Nächstenliebe nutzen, um im Nachdenken über Pädagogik und Werteerziehung einen Möglichkeitsraum zu eröffnen, der bis heute leider viel zu selten betreten wird. Es geht mir hierbei um die großen Potenziale, die ein Miteinander von Lehrenden und Lernenden eröffnen könnte, das konsequent auf gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung setzt. Es sind nämlich solche Prozesse einer, wie ich im Fortgang noch verdeutlichen möchte, kommunikativ generierten Akzeptanz, die sich im Anschluss an das ursprüngliche, durch Jesus von Nazareth gelebte Verständnis von Nächstenliebe geradezu aufzudrängen scheinen. Aus Lernsituationen, die durch eine solche kommunikativ generierte Akzeptanz geprägt sind, kann dann, aus dem Prozess eines guten Miteinanders – und nicht aus irgendwelchen abstrakten Inhalten der Moral! – eine grundsätzliche ethische Orientierung

Nächstenliebe als kommunikativ generier te Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen

entstehen. Diese zeigt sich, mit Christoph Schmitt gesprochen, gerade nicht als Wertevermittlung, sondern als Werte-Verwirklichung – also das gemeinsame Leben und Ausagieren von Werten im Prozess der menschlichen Kommunikation. Im stetigen Wiedererleben und Durchleben dieses Prozesses können dann Werte wie Respekt, Verantwortung, individuelle Freiheit und Würde spürbar werden, ohne dass sie zweifelsfrei benennbar werden müssen. Kurz: Aus einer Praxis des wertschätzenden und ja, des liebevollen Unterrichtens, entstünde eine ethische Praxis und ethische Haltung derjenigen, die diesen Unterricht erleben und als gleichberechtigte Partnerinnen und Partner tragen. Hierin liegt m.E. der Schlüssel zur Lösung des eingangs geschilderten Problems moderner Orientierungslosigkeit und des sogenannten Werteverfalls, soweit dieses Problem von Seiten der Pädagogik allein überhaupt gelöst werden kann. Als Entwurf ambitioniert genug, sehe ich allerdings wenig Veranlassung, ein solches Ansinnen langfristig mit dem Begriff der Liebe zu beschweren und durch dessen widerstreitende und mannigfache, nicht selten von Angst und Enttäuschung geprägten Interpretationen zu behindern. Allerdings kann es hilfreich sein, wenn man in den alltäglichen, in den praktischen Dingen etwas ändern will, durchaus einmal utopisch zu denken. Dazu sehe ich mich als weitgehend »Fachfremder«, als Philosoph, der an dieser Stelle über Bildung schreibt, umso mehr aufgefordert und legitimiert, als ich einen fundierten Blick aus der Binnenperspektive von Pädagogik und Bildungswissenschaft auf die angesprochenen Zusammenhänge ohnehin nicht werfen kann. Ich bitte darum den vorliegenden Text zu verstehen als kreativen Einwurf eines Außenstehenden, der zwar einige Erfahrungen in der praktischen Bildungsarbeit sammeln konnte, aber nur teilweise über den entsprechenden fachlich-wissenschaftlichen Hintergrund verfügt. Somit möchte ich mir kein Urteil darüber anmaßen, was in der Pädagogik aus Sicht der Pädagogik das schlechthin Ratsame sei. Als mitdenkender und -fühlender (ehemaliger) Schüler, Student, Dozent und Lehrer möchte ich allerdings einige Schlüsse sowohl aus meinen theoretischen Überlegungen im Feld der Philosophie und Psychologie als auch aus meinen praktischen Erfahrungen ziehen.

2. L iebe und P ädagogik – ein schwieriges V erhältnis Liebe und Pädagogik, dieses schwierige, spannungsreiche und energiegeladene Gespann erinnert über weite Strecken zumindest der abendländischen (Geistes-) geschichte an eine klassische amour fou, eine Beziehung von zwei Ungleichen, die voneinander nicht lassen können, weil sie sich schicksalhaft zueinander hingezogen fühlen – jedoch kaum anhaltende Freude aneinander finden können. Den tragischen Part gab bei diesem Spiel zumeist die Pädagogik. Denn während die Liebe andere Wege findet, sich an anderen Orten verwirklichen mag, wirkt eine lieblose Erziehung und Bildung denkbar blutleer, ja ist vielleicht sogar von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Wie aber findet die Liebe Eingang in pädagogisches Arbeiten, ohne einerseits in seichten Zusicherungen des Wohlwollens spurlos zu verebben oder andererseits sich in ihr brutales Gegenteil zu verwandeln, als Hass, Gewalt und Missbrauch zu Tage zu treten? Platon hat mit seinen Überlegungen zu Liebe und Pädagogik genau diesen immer wiederkehrenden Spannungsbogen vorgezeichnet. Und das vor dem Hin-

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tergrund einer Gesellschaft, die päderastische, also eindeutig sexuell geprägte Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern für normal und legitim erachtete. Immerhin stehen damit auch klar die Risiken und Abgründe vor Augen, denen sich eine Pädagogik aussetzt, die von der Liebe nicht lassen will. Dass sie es nicht tun sollte, stand für Platon außer Frage. Weil sie sonst zur seelenlosen und oberflächlichen Faktenvermittlung verkäme und sich von jedem höheren Bildungsziel verabschieden müsste. Es geht Platon hierbei um den Graben zwischen expliziten und dem logisch denkenden Verstand prinzipiell leicht zugänglichen (trivialen) Sachverhalten auf der einen und impliziten (höheren) Einsichten und Werten auf der anderen Seite (Platon, 2004a: St. 510f). Die Erkenntnis des Guten, Schönen und Wahren, so Platons bleibende Einsicht, zählt eindeutig zu den letzteren. Und solch eine Erkenntnis ist nicht vermittelbar über nüchterne Unterweisung durch neutrales Lehrmaterial oder Lehrpersonen. Es braucht vielmehr zu ihrem Verständnis einen Wahnzustand (mania), der zwischen Vernunft und Unverstand pendelt und in den ein Mensch nur mit Hilfe des Eros gelangen kann (Platon 2004b: St. 244). Und auch ein weit nüchternerer Schüler Platons, der unter anderem als Erzieher Alexanders des Großen bekannt gewordene Aristoteles, brach trotz vieler Differenzen zu Platon nicht mit der Überzeugung, dass die ethische Bildung junger Menschen nicht gelingen kann, wenn nicht eine Vorbildfigur wertegeleitetes Handeln vorlebt und für den Schüler bzw. die Schülerin unmittelbar praktisch erlebbar macht (Aristoteles 2001: 57ff). Da ist es gleich, ob (ethische) Erkenntnis einem gottgewirkten Wahnzustand entstammt oder einfach nur in einer Praxis gewonnen werden kann, die dem rein theoretischen Studium unzugänglich ist – im Endeffekt erschließt sich implizites Wissen nur durch die direkte und sicherlich alles andere als emotionslose Weitergabe von Mensch zu Mensch. Der vergleichsweise kühle Kopf Aristoteles hielt es da lieber mit der Philia, einer Art liebevoll zugewandten Freundschaft, als mit dem Eros (Aristoteles, 2001: 323ff). Im Ergebnis aber bleibt die Gewissheit, dass nicht selten die wesentlichen Inhalte und Werte, die Pädagogik zu vermitteln trachtet, nur über eine persönliche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden weitergegeben werden können. Muss aber diese Beziehung durch Liebe geprägt sein, gar durch einen erotisch geprägten Erkenntnisdrang? Indem die westliche Kultur mit der Ausbreitung des Christentums sich allmählich ein anderes Liebesverständnis aneignete, kam es zu einer folgenreichen Spaltung unserer Vorstellung von Liebe, die schwerwiegende Konsequenzen auch und gerade für die Pädagogik hatte. Neben den Eros, dem nun ganz vorwiegend negative und destruktive Eigenschaften zugeschrieben wurden – der Kirchenvater Augustinus fand im 4. Jahrhundert nach Christus zum Begriff der concupiscentia, der wollüstigen Begierde (Augustinus, 1950) – trat nun als Gegensatz die Agape, eine gänzlich altruistische und moralisch positiv konnotierte, weil unmittelbar mit Gott identifizierte Form der Nächstenliebe. Grob gesagt entstand in der Folge durch das enge Ineinandergreifen von Kirche und Bildungswesen in ganz Europa eine weitgehend fleischlose Pädagogik des Geistes, die sich bis heute in wesentlichen Bestandteilen in unserem modernen Schulwesen erhalten hat. Jedenfalls gilt das m.E. für das aus dem preußischen Obrigkeitsstaat hervorgegangene deutsche Bildungssystem, das ich als Lernender wie als Lehrender aus unterschiedlichen Perspektiven kennengelernt habe. Diese Kontinuität, in kritischer Absicht könnte man auch sagen, Hegemonie einer Pädagogik, die das Kognitive gegenüber dem Affektiven, das Rationale gegenüber dem

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Emotionalen, die Abstraktion gegenüber der Konkretion, die Theorie gegenüber der Praxis und das Geistige gegenüber dem Fleischlichen priorisiert und privilegiert, ist schwer zu übersehen. Sie hat über die Jahrhunderte und auch bis in unsere unmittelbare Gegenwart immer wieder Gegnerinnen und Gegner bzw. Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan gerufen, was zunächst nur recht und billig scheint: Denn nicht nur bei der Liebe, sondern beim menschlichen Wesen überhaupt handelt es sich um ein Kontinuum, das sich vom Leiblichen über das Seelische (oder neutraler gesprochen: Emotionale) bis hin zum Geistigen erstreckt, wie es unübertroffen der Philosoph Søren Kierkegaard gezeigt hat (Kierkegaard, 1992). Nur waren die Versuche, Liebe in einer nicht bloß altruistisch-moralisierten Form in Bildungsprozesse und -institutionen einfließen zu lassen, in der wohl ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht von langfristigem Erfolg gekrönt. Wenn wir an so unterschiedliche Konzepte denken wie die antiautoritäre Pädagogik, die den spontanen Impuls der Lernenden der erfahrungsgesättigten Unterweisung durch Lehrende vorzog, an Ansätze einer sympathie- und fürsorgezentrierten liberalen ›Kuschelpädagogik‹, die möglichst sanktionslos erziehen wollte aber längst nicht immer konnte, oder schließlich an die Reformpädagogik, die sich in Teilen hart an den Schattenseiten einer Pädagogik stieß, die Liebe auch in ihrer erotischen Ausformung nicht grundsätzlich ausschließen wollte: Wenn wir an all diese in ihren ursprünglichen Beweggründen nachvollziehbaren aber doch mindestens vorerst gescheiterten Ansätze einer von der Zielstellung her menschengemäßeren Pädagogik denken, dann erscheint es verzeihlich, wenn sich viele von uns mit dem unbefriedigenden, aber wesentlich risikoärmeren Status Quo unseres bestehenden Bildungssystems angefreundet haben. Man sollte sich allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, was dieser bedeutet: Eine zwar moderate, aber im Kern doch dezidierte Verneinung großer Bestandteile dessen, was Liebe ausmacht und somit selbstverständlich auch dessen, was menschliches Sein und Werden ausmacht und mithin auch vielen Aspekten, die förderliche und erfüllende Lernprozesse kennzeichnen (sollten). Unser Schulsystem, aber auch unsere Universitäten setzen im 21. Jahrhundert noch genauso wie Augustinus im 4. Jahrhundert oder die preußischen Schulherren im 19. Jahrhundert auf geistig gesteuerte Selbstbeherrschung, auf das Ignorieren, Verdrängen oder zumindest Ausblenden von Emotionen, auf Impuls- und Triebkontrolle. Erfolgreiche Lernprozesse, das steht m.E. außer Frage, sind selbstverständlich auch eine Frage der Disziplin und Selbstbeherrschung. In unserem Bildungssystem allerdings scheinen diese Eigenschaften oftmals als der einzige entscheidende Faktor zur Erlangung von Lernerfolgen. Das natürlich, so praxisblind bin ich nicht, ist »nur« die systemische, die strukturelle Seite. Engagierte und im wahrsten Sinne beherzte Pädagoginnen und Pädagogen, die man von der Kinderkrippe bis zur Spitzenuniversität in jedem Sektor des Bildungswesens finden kann, arbeiten allenfalls teilweise, vielleicht gar nicht auf der Basis eines solchen Bildungsverständnisses. Ihr engagierter Einsatz verhindert allerdings nicht nur, dass ein überaltertes Bildungssystem an seinen Mängeln in Leblosigkeit vollkommen erstarrt, er bringt auch einen Widerspruch deutlich zur Geltung, den Tim Loreman in seinem Buch Love as Pedagogy prägnant beschreibt: »While most educators acknowledge the need for caring environments in which warm, personal relationships are fostered between teacher and learner, few have taken the time to

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Andreas Schiel address what this actually means. Part of the reason for this might be found in a general discomfort with talking about love and education, and also fears that writing about love and pedagogy might provide some with the motivation to cross professional and ethical boundaries with those whom they teach.« (Loremann, 2001: 1)

Die Sozialisation und die darin erworbenen Überzeugungen der heutigen Generation von Lehrenden, ebenso wie die der meisten Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien, die in immer gewaltärmeren und an Zuneigung reichen sozialen Kontexten leben und aufwachsen, fordern ein (erneutes) Bekenntnis der Pädagogik zur Liebe geradezu ein. Wer die Liebe verneint, verneint auch den modernen Menschen in wichtigen Bestandteilen seines Selbstverständnisses. Gleichzeitig aber verlangt das Bildungssystem in seiner uralten Logik nach Disziplin, Selbstbeherrschung und, ja man soll es aussprechen: Gehorsam, der nicht selten im Widerspruch steht zu den im unmittelbaren Fall wahrgenommenen eigenen, subjektiven Interessen und Wünschen der Lernenden und Lehrenden. Und dementsprechend nach einer nicht nur professionellen, sondern auch menschlichen Distanz derjenigen, die in diesem System noch immer die Anweisungen erteilen, gegenüber denen, die ihnen als Unwissende und weit gehend Unmündige folgen sollen. Bei alldem ist freilich keinesfalls klar, wohin die Reise in Sachen Liebe und Pädagogik denn gehen sollte, würfe man alle althergebrachten Bedenken über Bord. Klar sollte allerdings eines sein: Eine von Liebe geprägte oder auch nur durch Liebe inspirierte Pädagogik müsste einen Mittelweg finden zwischen den zwei gleichermaßen fragwürdigen Extremen einer egozentrischen, lustzentrierten Pädagogik des Eros auf der einen Seite und der Orientierung an einer kompromisslos altruistisch ausbuchstabierten Nächstenliebe, welche die Impulse und Emotionen der Individuen in der Tradition einer disziplinzentrierten Pädagogik stringent reguliert, ignoriert oder sogar sanktioniert, auf der anderen Seite. Denn keine von beiden wäre geeignet eine Antwort zu geben auf die Herausforderungen ethisch und kulturell zusehends atomisierter Gesellschaften, die zwar unter den negativen Folgen eines zunehmenden Egozentrismus und Narzissmus der Individuen leiden. Es handelt sich bei diesen Individuen um Menschen, die in nur noch sehr geringem Maße für »von oben herab« getätigte Belehrungen über abstrakte Werte und Normen empfänglich sind. Wo die abstrakte und allgemeine Geltung dessen, was früher als gut, wahr und richtig galt, stetig abnimmt, hilft es nichts, bloß Werte wie angestaubte Besitztümer aus dem Mottenschrank der Menschheitsgeschichte hervorzuholen und anzupreisen. Stattdessen gilt es nicht nur die Köpfe, sondern auch und vor allem die Herzen der Menschen – und hier insbesondere der jungen Menschen – zu gewinnen. Das aber ist ein Lernprozess, der nicht ohne die emotionale, spontane und intensive Beteiligung der Individuen auskommt. Einen solchen Lernprozess zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern, dazu müsste eine im Kontext der Pädagogik sinnvolle und hilfreiche Liebe beitragen können. Jedoch: Problemanalysen sind schnell geschrieben, echte Lösungen dagegen eine Rarität. Mein Vorschlag lautet daher, in einer schwierigen und nicht ohne weiteres überschaubaren Situation zunächst beim Bekannten anzusetzen, um von dort aus eine grundlegende Veränderung zu denken und anzugehen. Dieses Bekannte ist in diesem Fall – trotz allem! – das aus unserer noch weitgehend christlich geprägten Kultur vertraute Konzept der Nächstenliebe. Ich möchte im Folgenden kurz verdeutlichen, dass dieses Konzept vielfach missverstanden und durch

Nächstenliebe als kommunikativ generier te Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen

seine religiös-konfessionelle Interpretation entstellt wurde. Den Schwerpunkt meiner Darstellungen möchte ich allerdings auf die Potenziale richten, die in einer modernen und säkularen, kommunikationstheoretischen Deutung von Nächstenliebe als wechselseitiger Akzeptanz liegen. Hierin bietet sich m.E. nichts weniger als die Chance, unter den Bedingungen einer pluralen und komplexen, sich immer schneller wandelnden Gesellschaft zu einem entscheidenden Zugewinn an Selbstvertrauen und emotionaler Stabilität bei Schülerinnen und Schülern beizutragen.

3. V on der N ächstenliebe

zur kommunik ativ generierten

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Wie aber könnte ein solches Ziel erreicht werden? Zunächst einmal durch die Rückbesinnung auf ein in unserem kulturellen Gedächtnis tief verwurzeltes Konzept von Liebe, das allerdings vielfach missinterpretiert und -verstanden worden ist. Ich meine eben den Gedanken der Nächstenliebe, der in seiner Grundkonzeption, wie wir sie vor allem aus den sogenannten synoptischen, den ersten drei Evangelien des Neuen Testaments her kennen, viele bestechende Qualitäten aufweist. Denn Nächstenliebe ist eine Form der Zuwendung, die weder sexuell konnotiert ist, noch hedonistisch, noch egozentrisch, noch mit romantisch-narzisstischen Erfüllungserwartungen belastet ist. Nächstenliebe stellt sich ganz einfach dar als eine tief empfundene Hinwendung zu den, ja zu allen mir begegnenden Mitmenschen, die nicht mit Forderungen oder weitgehenden Erwartungen an diese Menschen verknüpft ist. Aber – und das ist entscheidend – Nächstenliebe ist von ihrem ursprünglichen Verständnis her auch keine selbstlose Liebe, keine komplett altruistische Haltung, sondern vielmehr eine Einstellung oder auch ein Geistesund Gefühlszustand, der entscheidend auf der Akzeptanz der eigenen Person, ja der Liebe zum eigenen Selbst auf baut. Damit aber wären wir auch schon bei den vielfachen Missverständnissen und Fehldeutungen angekommen, denen dieses Konzept von Beginn an unterlag – und sehen uns mit der Problematik konfrontiert, dass der Begriff »Nächstenliebe« eben okkupiert, ja womöglich auch korrumpiert ist durch eine Vielzahl widerstreitender Deutungen, die leider längst nicht immer zweifelsfrei im Sinne einer Beförderung der Humanität ausfielen, denkt man etwa an die wechselvolle und durchaus abgründige Geschichte der christlichen Kirchen. Deshalb möchte ich auch nicht für den Begriff als solchen werben, den ich vielmehr im Fortgang durch das Konzept einer kommunikativ generierten Akzeptanz ersetzen will. Allerdings muss und möchte ich durchaus den Ursprung meiner dann folgenden Überlegungen erläutern, wozu es nötig ist, den Ideengeber zu benennen. Und dieser ist hier tatsächlich Jesus von Nazareth, oder, um es ganz genau zu fassen, eben die Aufzeichnungen über sein Wirken, wie wir sie in den Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas im Neuen Testament vorfinden. Dabei möchte ich mich allerdings auf Jesus eindeutig nicht als Propheten, religiöse Heilsfigur oder gar göttliches Wesen berufen, sondern schlicht als Lehrer einer bestimmten Lebensweise und ethischen Haltung, eine Perspektive, die nicht nur gut in den Kontext der Pädagogik passt, sondern sich in eine humanistisch ge-

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sinnte Tradition einfügt, welche die Protagonisten der großen Religionen primär als ethische Lehrmeister einordnet.1 Das Wesentliche am Auftreten der Person Jesu, nämlich sein dezidiert an menschlichem Wohl und menschlichen Leid, ja an der Menschenwürde ausgerichtetes Handeln, das jegliche Schranken sozialer Milieus, Hierarchien und religiöser Regeln und bisweilen sogar der staatlichen Gesetzgebung ignorierte, darf als bekannt vorausgesetzt werden: Jesus gilt, vor allen weiterführenden Interpretationen, als Mensch, der sich anderer Menschen annahm, vollkommen ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Berufes, ihres sozioökonomischen Status. Er zeigte Akzeptanz, wo andere sich ignorant zeigten und zollte auch denen Respekt, denen sonst keiner die Ehre erwies. Für unseren Kontext interessant und relevant sind nun besonders zwei Punkte: Zum Einen, aus welchem Selbstverständnis, oder vielleicht besser, Selbstverhältnis heraus, Jesus so handelte. Und zweitens, welches Konzept von Ethik hinter dem Handeln dieses Mannes stand, der Nächstenliebe nicht nur praktisch lebte, sondern diese auch explizit als Grundprinzip seines Wirkens benannte. Die erste Frage nach dem Selbstverhältnis Jesu ist deshalb interessant, weil sie uns mittelbar auch Auskunft darüber gibt, welcher Art die Liebe war, die Jesus propagierte und lebte. Die zweite Frage wird für uns relevant, wenn wir ausgehend vom jesuanischen Verständnis der Nächstenliebe nach einer modernen, kommunikativen Ausdeutung dieses Konzepts suchen. In der Betrachtung des ersten Punkts soll nun deutlich werden: Nächstenliebe im jesuanischen Verständnis ist sicherlich keine vom menschlichen Wesen abgewandte oder sogar entgegengesetzte Haltung, wie es etwa der Kirchenvater Augustinus und nach ihm viele weitere theologische Interpretinnen und Interpreten dargestellt haben. Laut Augustinus wird Leben nach und Handeln in der Nächstenliebe überhaupt erst denkbar durch eine Selbstüberwindung des Menschen, der jeglicher auf das eigene Selbst gerichteten Zuneigung und Liebe zunächst entsagen muss, damit er die ausschließlich altruistische und übermenschlich ausgedeutete Caritas nicht korrumpiert, etwa durch seine sexuellen Begierden (Augustinus, 1950). Diese scharfe Trennung findet sich in den synoptischen Evangelien allerdings nicht wieder. Jesus stand in einer jüdischen Tradition der Herzensweisheit (Krüger, 2009: 92ff) und bekannte sich zum bereits in der Tora niedergelegten Liebesgebot, das wörtlich lautet: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Lev. 18,19). Der Sozialphilosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm hat dazu geschrieben: »Die im biblischen Gebot ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ ausgedrückte Idee impliziert, daß die Achtung vor der eigenen Integrität und Einzigartigkeit, die Liebe zum eigenen Selbst und das Verständnis dafür nicht von unserer Achtung vor einem anderen Menschen,

1 |  So deutet diese Persönlichkeiten etwa Karl Jaspers in seinem Buch Die großen Philosophen (Jaspers, 1988) und so habe ich es, um nur ein Beispiel zu nennen, auch im Ethikunterricht des Bundeslandes Brandenburg kennengelernt, wo ein eklektischer Zugang zu den Propheten der großen Weltreligionen gesucht wird, der ihre ethischen Forderungen und Lehren – und deren verblüffende Gemeinsamkeiten – in den Vordergrund der Auseinandersetzung mit Religion stellt.

Nächstenliebe als kommunikativ generier te Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen von unserer Liebe zu ihm und unserem Verständnis für ihn zu trennen sind. Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden.« (Fromm, 1999: 475)

Es ist wichtig, diesen Umstand klarzustellen: Es wäre verfehlt, Jesus als Menschen zu begreifen, der von seinem Wesen derart Abstand nahm, dass seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse darin keine Rolle mehr gespielt hätten. Jesus besaß durchaus ein Ich, ein sehr selbstbewusstes und präsentes sogar. Nicht nur sein entschlossenes und eigensinniges Handeln, das zum Teil gegen alle gültigen Konventionen verstieß, deutet darauf hin. Sondern auch jene Szenen in den Evangelien, in denen er mit seiner Rolle hadert und um sein Leben bangt. Jesus, der vor seiner Hinrichtung sichtbar mit Gott und sich selbst ringt, der im Moment seiner Kreuzigung ausruft: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34 sowie Mt 27,46) fügt sich zwar letzten Endes in sein »Schicksal«, agiert dabei aber alles andere als selbstlos, sondern vielmehr als ein Mensch, der im existenzphilosophischen Sinne um sein Selbst besorgt ist. Was er zweifellos besitzt, ist die Fähigkeit zu seinem Selbst zeitweise auf Distanz zu gehen und gewissermaßen in einen inneren Dialog zu treten, sich in ein Zwiegespräch mit seinem Selbst zu begeben. Dieser innere Dialog mit sich selbst (religiös gesprochen freilich mit Gott, den wir hier als Symbolisierung des Gewissens begreifen können) führt ihn schließlich zu der Überzeugung, dass er sich dem über ihn gefällten Todesurteil nicht entziehen wird. Auch Hannah Arendt hat sich mit dem Verhalten Jesu und dem anderer moralischer Heldenfiguren beschäftigt. Sie kommt zu folgendem Schluss: »Gerade die wenigen moralischen Sätze, die angeblich alle besonderen Vorschriften und Gebote zusammenfassen, wie etwa »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« […] sie alle haben das Selbst und damit das Zwiegespräch des Menschen mit sich selbst zum Maßstab. […] Wir waren darüber deshalb erstaunt, weil von der Moralität schließlich angenommen wird, dass sie das Verhalten des Menschen gegenüber Anderen regelt, und wenn wir von Güte sprechen oder an jene Personen in der Geschichte denken, die gut waren – Jesus von Nazareth, der Heilige Franz von Assisi usw. –, dann rühmen wir sie wahrscheinlich wegen ihrer Selbstlosigkeit, genauso wie wir üblicherweise die menschliche Schlechtigkeit mit irgendeiner Art von Selbstsucht, Egoismus und ähnlichem gleichsetzen.« (Arendt 2006, 48f)

So gesehen ist eine Haltung wie die Nächstenliebe überhaupt keine übermenschliche, geschweige denn eine unmenschliche Haltung, die denjenigen, der sie lebt, wegführt von persönlichen Beweggründen und Befindlichkeiten, sondern ganz im Gegenteil eine Haltung, die dadurch entsteht, dass ich sowohl in meinem Nächsten als auch in mir selbst eine humane Qualität und ›Würde‹ entdecke, der unnötiges Leid zuzufügen sich einfach deshalb zu verbieten scheint, weil ich damit indirekt oder direkt auch mir selbst Schaden zufügen würde. Diese besondere Qualität nun, von Nächstenliebe im jesuanischen Sinne, ist entscheidend für unseren Zusammenhang. Denn angesichts der im Vorhergehenden beschriebenen Defizite einer Pädagogik und daran anknüpfenden Wertevermittlung, die auf Liebe höchstens insofern Bezug nimmt, dass sie sie im augustinischen Sinne als Selbstüberwindung zu Gunsten anderer kennzeichnet, könnte demgegenüber eine ethische und pädagogische Orientierung an einer Form der Nächstenliebe, die individuelle Regungen, Intuitionen, ja selbst eigene Bedürfnis-

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se nicht aus-, sondern explizit einschließt, geradezu einen neuen Horizont für die Wertevermittlung oder besser gesagt Werte-Verwirklichung im Sinne Christoph Schmitts (dazu später noch mehr) eröffnen. Liebe würde hier zu einem praktischen Vollzug ethischer Werte, und fungierte gleichzeitig als deren Träger. Im Idealfall müsste dann Moral nicht mehr als abstrakter Inhalt und in seiner Absolutheit tendenziell überfordernder Appell gelehrt, sondern könnte schrittweise, intuitiv und weitgehend zwanglos in der Praxis erlernt und erlebt werden.

3.1 Nächstenliebe als kommunikative Praxis Wie das möglich sein soll? Sicherlich weit weniger über das Studium biblischer oder anderer religiöser Schriften, als durch den klugen Transfer des Kerngedankens einer Nächstenliebe, wie ich sie gerade gedeutet und beschrieben habe. Wie aber kann ein solcher Transfer aussehen? Ich möchte im verbleibenden Teil dieses Beitrags in aller Kürze auszuführen versuchen, was ich an anderer Stelle weitaus umfangreicher beschrieben habe (Schiel, 2014). Der Grundgedanke lässt sich allerdings in einem Satz zusammenfassen: Betrachtet man Nächstenliebe als eine Praxis auf wechselseitige Wertschätzung und Akzeptanz zielender Kommunikation, eröffnen sich Zugänge und Handlungsoptionen, die verschlossen bleiben müssen, wenn man den Begriff nur als Appell zur Selbstüberwindung versteht. Was eigentlich bedeutet Nächstenliebe in der (ethischen) Praxis? Zunächst einmal, dass ich weder meine eigenen Interessen und (Vor-)Urteile, noch ein abstraktes Gut, Prinzip oder Gebot zum Maßstab meines Handelns erhebe, sondern ganz einfach das Wohl und die Würde des nächsten mir jeweils begegnenden Menschen. Damit wird ein Prozess der sonst eher abstrakten moralischen Abwägung, der fragt, was grundsätzlich geboten sei, radikal konkretisiert und sozialisiert, indem ich das ›richtige‹, das ›gebotene‹ Verhalten und Handeln direkt aus den Bedürfnissen meiner Mitmenschen ableite. Man kann die Fundierung der Ethik auf Nächstenliebe durch Jesus – jedenfalls habe ich das in meiner Dissertation getan (Schiel 2014) – somit als eine Art Befreiungsschlag des Individuums begreifen. Ein Befreiungsschlag, der zu einer unvergleichlichen Entlastung des Einzelnen in moralischer Hinsicht führt. Nehmen wir nämlich den Gedanken der Nächstenliebe ernst, bin ich zwar dadurch aufgerufen, gewissenhaft und verantwortungsbewusst meine Mitmenschen in ihrem ganzen Wesen zu respektieren – diese aber sind es ihrerseits auch. Und können somit nicht gnadenlos glasklare ›Gerechtigkeit‹ und ›Richtigkeit‹ aller meiner Handlungen und Entscheidungen von mir verlangen, sondern sind vielmehr aufgefordert, mir – so wie ich ihnen – maßvoll und unter Berücksichtigung meiner persönlichen, meiner menschlichen Schwächen und Grenzen zu begegnen. Kurz: Wer vom anderen Nächstenliebe erwartet, muss ihm diese ebenfalls gewähren und kann sich daher schlecht zum unbarmherzigen Richter über mich aufschwingen, wenn mir im Bemühen um gewissenhaftes und verantwortungsbewusstes Handeln ein Fehler unterläuft. Nächstenliebe ist ethisches Handeln, das gewisser Weise nur in Rücksprache oder Rückkopplung mit unseren Mitmenschen möglich ist, bei dem es sich verbietet, in Unkenntnis ihrer Lebenssituation abstrakte Urteile über sie zu fällen – und auch überhaupt zu erwarten, dass das jemand tun könnte. Damit ist sie wesentlich kommunikatives Handeln. Zwar nicht – oder jedenfalls nicht nur in dem Sinne

Nächstenliebe als kommunikativ generier te Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen

– wie das der Philosoph und Ethiker Jürgen Habermas beschrieben hat, weil es sich nicht nur um ein nüchternes, rationales Abwägen von Interessen und Positionen handelt, sondern um einen Prozess, der den Willen und die Fähigkeit zur Empathie zwingend miteinschließt. Ich bezeichne darum den der Nächstenliebe zu Grunde liegenden Prozess in Anlehnung an den Psychologen und Philosophen Karl Jaspers gern als existenzielle Kommunikation, bei der ein tiefgehender und umfassender Austausch über das stattfindet, was für Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation und sozialen Position ausschlaggebend und bestimmend ist (Jaspers, 1948: 295ff). Als ethische Haltung, die primär auf Praxisvollzüge abstellt und gerade nicht – das geht zum Beispiel auch aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium hervor, wenn man sie denn aufmerksam und sorgfältig liest (Schiel, 2014: 189ff) – auf die rigoristische Interpretation und Befolgung von Prinzipien und Normen, als ethische Praxis, die auch nicht die kognitive, die intellektuell-abstrakte Einsicht in die Berechtigung von Normen in den Fokus rückt, sondern vielmehr die wechselseitige Einfühlung in individuelle Lebenslagen, Bedürfnisse und Empfindungen, muss Nächstenliebe keine Heldengeschichten und vorbildhaften Ergebnisse produzieren. Sie soll lediglich das ehrliche Bemühen, meinen Mitmenschen gerecht zu werden, in die Praxis übersetzen helfen. Und dieses Bemühen kann man weitgehend problemlos deuten als ein kommunikatives Geschehen.

3.2 Akzeptanz Diese Interpretation umfassend plausibel machen kann ich in diesem vom Umfang her stark limitierten Text nicht, sondern muss dazu auf meine Dissertation (Schiel, 2014) verweisen. Allerdings möchte ich versuchen, die grundsätzliche Berechtigung dieser Überlegungen kurz an Hand einiger Thesen aus dem Bereich der Psychologie und Kommunikationstheorie zu illustrieren. Diese scheinen mir nämlich in der Tat den praktischen Kern des NächstenliebeGedankens, wie wir ihn bisher erläutert haben, aufzunehmen. Es handelt sich dabei um eine Deutung zwischenmenschlicher Kommunikation, welche die gegenseitige Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung von Individuen betont. Und ferner um einen anwendungsorientierten Ansatz, der das menschliche Miteinander in einer Weise zu verstehen und zu beeinflussen sucht, die auf die Verwirklichung ebensolcher Haltungen, Einstellungen und Praxisvollzüge in alltäglichen Situationen abzielt. Ich beziehe mich hier auf die Kommunikationstheorie Paul Watzlawicks (Watzlawick, Beavin & Jackson, 1969), die mir wesentliche Bestandteile der Idee eines von Nächstenliebe geprägten Miteinanders aufzunehmen scheint. Denn das Ende der 1960er Jahre entwickelte Konzept einer therapeutischen Kommunikation liefert ein Modell der zwischenmenschlichen Verständigung, das den Gedanken der wechselseitigen Akzeptanz in den Mittelpunkt stellt. Damit Kommunikation zwischen Menschen dauerhaft funktioniert, so Watzlawick, muss vor allem eine Voraussetzung gegeben sein: Dass sich Menschen gegenseitig in ihren Selbstbildern bestätigen. Wenn dies nämlich geschieht, so die Beobachtungen der Kommunikationsforscher, stellt sich bei jedermann der Eindruck einer grundsätzlichen Annahme und Akzeptanz durch das Gegenüber in der Kommunikation ein (Watzlawick et al., 1969: 84ff).

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Kommunikationsprozesse, in denen dieses gelingt, laufen nach den Beobachtungen der Psychologen bzw. Psychologinnen mittelfristig weitaus konfliktfreier ab – und vor allem haben sie einen stabilisierenden Einfluss auf die Persönlichkeit derjenigen, die so miteinander kommunizieren. Vorausgesetzt – das ist ein weiterer essenzieller Punkt – es handelt sich dabei nicht um oberflächliche Spiegelungen des Selbstbildes, die sich etwa darauf beschränken, dass ein Arzt bzw. eine Ärztin zum Patienten bzw. zur Patientin in der Psychiatrie mit zynischem Grinsen sagt: »Aha, sie sind also ein Marsmensch.«, weil diese/r eben das behauptet. Sondern es geht hierbei auch um die gestische, die mimische, gewissermaßen die umfassende und »wahrhaftige« Anerkenntnis dieses Selbstbildes, das im genannten Fall der Arzt bzw. die Ärztin nicht in letzter, in »objektiver« Sicht bestätigen muss, aber durchaus als die Sicht, die der Patient bzw. die Patientin für sich eben als die maßgebliche und wahre empfindet. Solcherlei umfassende, man könnte sagen ganzheitliche Kommunikation, die entscheidend auf die Bestätigung und damit grundsätzliche Anerkennung von Selbstbildern und Selbstdefinitionen zielt, kann, so Watzlawick und seine Mitautoren, in hohem Maße therapeutisch, also heilsam wirken. Ebenso wie das Erlebnis, von einem anderen Menschen im Sinne der Nächstenliebe Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Respekt zu erfahren, heilsam sein kann, ohne dass dieser sonst an meiner Lebenssituation etwas Wesentliches verändert. So erzählen es ja auch viele Geschichten in den Evangelien, die von der seelischen und sogar von der körperlichen Heilung von Menschen berichten, die mit Jesus Kontakt hatten. Wenn wir diese Geschichten etwas von ihrem religiösen und mythologischen Ballast befreit haben, können wir durchaus dabei bleiben, dass Nächstenliebe als soziale Interaktion, als existenzielle oder therapeutische Kommunikation verstanden werden kann, die Menschen bei der Einübung in ethisch vorteilhafte Verhaltensweisen und ein respektvolles Miteinander entscheidend unterstützen kann. Und zwar indem sie gewissermaßen die Eintrittsschwelle in den Raum der Moral möglichst niedrig hält, weil sie nicht an übermenschliche Prinzipientreue und selbstlose Aufopferung appelliert, sondern vielmehr ein dem Individuum entgegenkommendes und in Gewissensfragen entlastendes kommunikatives und soziales Klima erzeugt und befördert. Dass diese Hypothese theoretisch angreif bar ist, möchte ich nicht verhehlen. An dieser Stelle möchte ich mich allerdings darauf konzentrieren, sie in den beiden folgenden praxisorientierten Abschnitten zu illustrieren und dadurch schrittweise zu plausibilisieren. Richten wir nämlich – so möchte ich zeigen – den Fokus in der werteorientierten Bildungsarbeit auf kommunikativ generierte Akzeptanz, so sind hier in der Tat viele Potenziale zu erschließen. Und es fällt nicht besonders schwer, ein solches Vorgehen mit dem Gedanken der Nächstenliebe in Verbindung zu bringen.

4. K ommunik ativ generierte A k zep tanz in der pädagogischen P r a xis Den Blick auf kommunikativ generierte Akzeptanz zu richten, kann insbesondere im Feld der Werteerziehung oder -vermittlung außerordentlich fruchtbar sein. Und zwar, weil durch den vorgeschlagenen Perspektivwechsel aus solcher

Nächstenliebe als kommunikativ generier te Akzeptanz in (ethischen) Lernprozessen

Wertevermittlung, mit Christoph Schmitt gesprochen, »Werte-Verwirklichung« (Schmitt, 2016: 165) werden kann. Was das heißt? In diesem Querschnittsfeld pädagogischer Praxis, das insbesondere unter den heutigen Bedingungen zusehends pluraler, komplexer und unübersichtlicher Umwelten einen enormen Bedeutungsgewinn weit über den Ethik- oder Religionsunterricht in den Schulen hinaus verzeichnet (oder jedenfalls verzeichnen sollte), könnte kommunikativ generierte Akzeptanz, die man Nächstenliebe nennen kann, als Bestandteil, Ziel und tragendes Element pädagogischer Arbeit große Potenziale eröffnen. Nämlich dadurch, dass sie dort, wo heute zumeist Moral nur gelehrt, an den gegenseitigen Respekt bloß appelliert wird, gelebte Anerkennung und Wertschätzung praktisch und alltäglich erlebbar macht. So könnte ein von kommunikativer Akzeptanz getragener Unterricht jener (post-)modernen Problematik begegnen, die heute vielfach als Wertepluralismus und -relativismus, als Werteverfall, als zunehmende ethische Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit beklagt wird. Indem diese Werte nicht lediglich als wünschenswert benannt, gelehrt oder gar beschworen, sondern ganz einfach gelebt werden. Das würde in der Konsequenz nicht weniger als den Abschied von einer primär theoriegeleiteten Erziehung zur Moral, von der auf (Lippen-)Bekenntnisse zielenden, auf die akklamatorische Anerkennung von Werten, Normen und Konventionen gerichteten Unterweisung in ethischen Fragen bedeuten. So wie Jesus von Nazareth sich von wirklichkeitsfremden Vorschriften und Konventionen ab- und den Menschen und ihrer Lebenspraxis zugewandt hat, würde Pädagogik, die im Sinne von Nächstenliebe auf kommunikativ generierte Akzeptanz zielt, sich von der theoretischen Belehrung ab- und dem praktischen Miteinanderlernen von Ethik zuwenden. Weil dann aber von Werten, Normen und Idealen weit weniger die (bemühte) Rede sein müsste, als das heute vielfach der Fall ist, müsste auch der Begriff »Nächstenliebe« nicht zwingend diese Form des ethischen Lernens beschreiben. Möglicherweise würde er sich sogar als störend erweisen. Darauf will ich im abschließenden Abschnitt 5 nochmals zu sprechen kommen. Im nun folgenden Abschnitt unternehme ich somit den Versuch, ein bisher primär theoretisches Konzept einer auf wechselseitige Akzeptanz zielenden kommunikativen Praxis, das ich in meiner Dissertation entworfen und in einigen Texten, primär zur Konfliktkommunikation im politischen Raum, weiterentwickelt habe, auf die pädagogische Praxis zu übertragen.

4.1 Persönliche Eindrücke: Woran es in der Wertevermittlung fehlt Ich möchte mit den Erfahrungen beginnen, die ich als Lehrer für (Praktische) Philosophie2 an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen machen konnte. Sie waren, jedenfalls aus meiner Sicht, weniger glorreich als lehrreich. Angetreten mit der Absicht, in dieser mir eher zufällig zugefallenen Vertretungstätigkeit über 2 |  An Gymnasien in Nordrhein-Westfalen übernimmt das Fach Praktische Philosophie, das grundsätzlich in der gesamten Sekundarstufe I ab der fünften Klasse unterrichtet werden kann, die Funktionen des Ethikunterrichts, nimmt also all diejenigen Schülerinnen und Schüler auf, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen. Zumeist wird es nur in den höheren Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I unterrichtet. Ab der Sekundarstufe II gibt es einen regulären Unterricht im Fach Philosophie, der gewöhnlich von denselben Lehrpersonen vertreten wird wie Praktische Philosophie. Ich habe ebenfalls in beiden Fächern unterrichtet.

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ein Schulhalbjahr den Schülerinnen und Schülern als möglichst nahbarer Lehrer entgegenzutreten, dessen Haltung und Unterrichtspraxis es ihnen erlauben sollte, den Gegenstand des Faches möglichst als ihre eigene Angelegenheit zu betrachten, musste ich schnell die Grenzen sowohl meiner eigenen didaktischen Fähigkeiten als auch des Lernsettings einsehen. Während es mir gelang, in einem Kurs der neunten Jahrgangsstufe trotz oder gerade wegen des eher abstrakten Themas ›Technik‹ recht lebendige, wirklichkeitsnahe Gespräche und spielerische Interaktionen mit zum Teil großem Engagement der Teilnehmenden anzuregen, scheiterte ich in zwei Kursen der achten Klasse an einer Barriere mal rebellisch-aggressiv, mal desinteressiert-passiv vorgetragenen pubertären Desinteresses. Warum eigentlich sollten die vielfach mit großem intellektuellem und sozialem Kapital versehenen Schülerinnen und Schüler der achten Gymnasialklasse mit mir über Themen ins Gespräch kommen, die ihnen sowohl aus dem Elternhaus als auch aus früheren Unterrichtsjahren bereits bekannt waren? Die allermeisten jedenfalls wussten schon sehr genau, was man üblicherweise zu tun und zu lassen hat, wie sich ein Mensch benehmen sollte, der auf Anerkennung und Respekt der anderen stoßen möchte, und welche Fehltritte er tunlichst unterlassen sollte. Zu meiner Freude hatten auch viele von ihnen eine sehr gute Intuition für das, was wir im Alltag etwas leichtfertig ›falsch‹ und ›richtig‹ nennen. Kurz: Diese Jugendlichen wollten und mussten nicht über Ethik belehrt werden – und mein Angebot zu einem ergebnisoffenen Austausch »auf Augenhöhe« nahm nur eine Minderheit von ihnen an, vielleicht, weil es missverständlich formuliert war, vielleicht, weil sie sich davon nichts anderes erwarteten als »Gelaber« über Werte. Dort, wo ich bewusst belehrend agierte, nämlich im Unterricht der Oberstufe, in dem ebenfalls gerade die Ethik auf dem Lehrplan stand, waren meine Erfolge, wie ich schließlich feststellen musste, nur scheinbar größer. Von den relativ anspruchsvollen Inhalten des Faches dazu animiert, wählte ich einen vorwiegend dozierenden Unterrichtsstil, der zwar Interaktion und Interventionen seitens der Schülerinnen und Schüler zuließ, ihren aktiven Anteil am Unterricht aber doch deutlich beschränkte, da »der Stoff« ja durchgearbeitet werden wollte. Zum Ende des Schulhalbjahres wurde mir allerdings klar, dass nur ein Teil meinem Unterricht hatte folgen können, während je nach Kurs, etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler aus dem Unterrichtsgeschehen mindestens teilweise oder sogar vollkommen ausgestiegen war. Sie empfanden die Inhalte als zu abstrakt und konnten so nicht in die substanziellen ethischen Überlegungen und Diskussionen einsteigen, zu denen ich sie durchaus eingeladen hatte. Ohne Zweifel also wäre es hilfreich gewesen, den Bezug der behandelten Zusammenhänge zur Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler besser zu verdeutlichen, Überlegungen nicht zu schnell ins Allgemeine, in die Abstraktion zu führen, sondern länger beim Konkreten zu verweilen. Diese relativ triviale Erkenntnis umzusetzen, wäre mir vielleicht, hätte ich den Unterricht länger fortsetzen können, auch gelungen. Mindestens aber im Fall der Kurse der achten Jahrgangsstufe hätte es, so jedenfalls mein Eindruck, weitaus mehr bedurft: Im Schulunterricht vermisste ich ein Lernumfeld, das einen sowohl lebens- und praxisnahen, als auch angstfreien, also von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Austausch über ethische Fragen ermöglicht hätte. Das Gegenteil nämlich war der Fall: Unsere gemeinsamen Diskussionen fanden ausschließlich »am grünen Tisch«, nämlich im Klassenzimmer statt und beschäftigten sich mit Problemlagen, die zwar teilweise der

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Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler entnommen waren, sie aber doch längst nicht in jedem Fall persönlich betrafen. Und dort, wo dies der Fall war, scheuten sich viele, vor einer Gruppe von 25 Gleichaltrigen ihre Gedanken und Empfindungen ehrlich zu äußern. Vielleicht aber hing diese Wahrnehmung viel zu stark an meinen persönlichen Dispositionen? Vielleicht habe ich mich zu sehr von meinen eigenen Anlagen und Überzeugungen leiten lassen, und auch in viel zu hohem Maße theoretische Betrachtungsweisen aus meiner vorhergegangenen wissenschaftliche Arbeit auf einen dafür unpassenden Praxiskontext angewendet? Vielleicht ließ ich deshalb auch naheliegende Potenziale ungenutzt, das von mir angestrebte Lernsetting zu erzeugen? Das alles kann ich definitiv nicht ausschließen. Eine bessere fachliche Vorbereitung auf meine Arbeit, die Übung und Routine jahrelanger Lehrtätigkeit in der Schule hätten sicherlich zu besseren Ergebnissen führen können. Allerdings sehe ich auch Hinweise darauf, dass die von mir im individuellen Fall empfundenen Defizite auf einen grundsätzlichen Konflikt verweisen, der immer dann gegeben ist, wenn in pädagogischer Arbeit Werte diskutiert und vermittelt werden sollen. Und außerdem glaube ich, dass die in den ersten beiden Teilen dieses Aufsatzes skizzierten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen (Nächsten-)Liebe und Akzeptanz durchaus von Relevanz für diesen Problemzusammenhang sind. Beides möchte ich im Fortgang des Textes an ausgewählten Positionen der Pädagogik und der Psychologie veranschaulichen.

4.2 Fachliche Perspektiven: Was möglich ist Zuerst möchte ich dazu auf die Thesen von Christoph Schmitt zurückgreifen, den Autor eines Buches mit dem sprechenden Titel Die Moral ist tot. Es lebe die Ethik, der auf zwanzig Jahre Bildungsarbeit in Schulen und Hochschulen zurückblicken kann und heute ein Unternehmen für Bildungsdesign betreibt. Schmitt nimmt, wie es der Titel seines Buches bereits erahnen lässt, darin eine kritische Analyse der Werteerziehung im Schulunterricht vor. Er konstatiert: »Meine These ist, dass schulisches Lernen bis heute den Schwerpunkt der Erziehung junger Menschen nicht darauf legt, ethisch Denken zu lernen, sondern darauf, moralisch (›regelkonform‹) zu handeln.« (Schmitt, 2016: 20) Dieser Satz deckt sich mit dem persönlichen Unbehagen, das ich darüber empfand, meinen Schülerinnen und Schülern aus abstrakten Überlegungen abgeleitete Denk- und Verhaltensweisen nahezubringen, die diese zwar grundsätzlich als »gelernten Stoff« akzeptieren konnten, aber offensichtlich nur in seltenen Fällen in für ihre Lebenspraxis relevantes Anwendungswissen überführen konnten. Aber wie kommt Schmitt zu dieser Feststellung? Und stellt sie tatsächlich ein handfestes Problem dar? Zunächst einmal beobachtet er in der Ausbildung von Lehrkräften und im Unterrichtsgeschehen einen starken Fokus auf fachliche Inhalte: »Die Art und Weise, wie sich Lernende mit Inhalten jedweder Art in Kontexten des Lehrens und Lernens auseinandersetzen, orientiert sich nach wie vor an deren korrekter Wiedergabe. Daran wird bis heute der Erfolg eines schulischen Lernprozesses gemessen: an seinem inhaltlichen Ergebnis. Weitaus weniger setzen wir uns als Menschen, die andere Menschen

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Andreas Schiel beim Lernen und sich Bilden begleiten, mit den Prozessen auseinander, die sich hinter dem Begriff des ›Lernens‹ verbergen […].« (Schmitt, 2016: 14)

Diese Feststellung ist, glaube ich, wenig kontrovers, wenn wir uns zum Beispiel das deutsche Bildungssystem vor Augen führen, in dem die fachlich-inhaltliche Qualifikation von Lehrenden immer noch eine erheblich größere Bedeutung hat, als ihre didaktische Ausbildung und im Bereich der Hochschulen oftmals sogar als einziges Kriterium zur Feststellung der Eignung von Lehrpersonal herangezogen wird. Warum aber sollten wir, insbesondere im Kontext der ethischen Bildung, der Wertevermittlung, den Prozessen mehr, möglicherweise sogar ein größeres Augenmerk schenken, als den Inhalten? Was würde das eigentlich bedeuten? Nun, die »Inhalte« der Ethik, so beschreibt es Schmitt, sind in unserer Gegenwart in höchstem Maße fragwürdig geworden. Schülerinnen und Schüler, die in der kulturell, ethnisch und religiös pluralen Umwelt des frühen 21. Jahrhunderts sozialisiert werden, sehen sich, so Schmitt, geradezu einem »Dschungel der moralischen Ansprüche« (ebd.: 29) ausgesetzt. Denn welche dieser Ansprüche, die sich »von innen und von außen« (ebd.: 29) an die Menschen richten, sind eigentlich angemessen und legitim, in einer Zeit, in der sowohl im wirtschaftlichen Handeln als auch auf der politischen Bühne das Recht des Stärkeren und ein dadurch ebenso um sich greifender Opportunismus der jeweils (gefühlt) Schwächeren alle anderen Werte, Normen und Regeln zusehends in den Hintergrund drängt? Natürlich aber ist eine solche Situation nichts fundamental Neues. Auch in den 1960er und 70er Jahren gerieten Normen und Konventionen in die Kritik, wurden Werte fragwürdig. Aus dieser Zeit stammt ein sehr interessantes Buch, das sich ebenfalls mit dem Thema Wertevermittlung auseinandersetzt – allerdings nicht im Rahmen des Schulunterrichts, sondern in den Familien. Geschrieben hat es der US-amerikanische Psychologe Thomas Gordon und sein deutscher Titel Familientherapie ist vielleicht noch manchen in Erinnerung geblieben. In seinem im Stil populärwissenschaftlich gehaltenen, aber sehr substanzvollen Ratgeber konstatiert der Autor, vielen Familien müsse es vorkommen, als sei bei ihnen zu Hause der Krieg ausgebrochen; zwischen Eltern und Heranwachsenden, deren Appelle an den Normengehorsam ihrer pubertierenden Kinder scheinbar ungehört verhallten, deren Drängen auf die Einhaltung von Regeln und Konventionen nur Gegnerschaft, nicht selten bis hin zur offenen Rebellion herauf beschwor. Heute steht uns klar vor Augen, was der Auslöser dieses Konflikts war: Vielen Mitgliedern der heranwachsenden Generation dieser Zeit waren die Normen und Werte, auf die ihre Eltern sich beriefen, zutiefst fragwürdig geworden. Sie glaubten nicht mehr an die Geltung von Normen, die ihre Elterngeneration in den gewalttätigen Exzessen und totalitären Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts selbst außer Kraft gesetzt hatten und denen zu folgen ihnen selbst im vergleichsweise friedlichen Alltag längst nicht immer gelang. Die Elterngeneration der damaligen Zeit besaß also vielfach ein denkbar distanziertes, ein abstraktes Verhältnis zur Moral: In der Theorie beharrte sie auf der unumstößlichen Geltung von Werten und Normen, die sie in der Praxis oftmals selbst nicht verwirklichen konnte. Der Vater, der seinen Sprösslingen das Hören von Schallplatten der Beatles verbieten will, selbst aber nicht recht erklären kann, warum diese denn nun gegen Sitte und Anstand oder gar gegen das Gute im Menschen verstoßen, hat ein durchaus ähnliches Problem wie der Ethiklehrer bzw. die

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Ethiklehrerin, der bzw. die nur mit abstrakten Argumenten verdeutlichen kann, warum der kategorische Imperativ Kants einer opportunistisch-relativistischen Ausdeutung von Normen vorzuziehen ist – auch wenn die Argumente des letzteren zumindest in der Theorie weitaus mehr zählen mögen als die des erstgenannten. Aber was hilft das, wenn sie nicht verständlich gemacht werden können? Da ist nun Schmitts Hinweis wertvoll, dass die Lösung womöglich weit weniger im Beharren auf den Inhalten als der Hinwendung zu den Prozessen gesucht werden müsste. Denn genau das schlägt Gordon vor, der sich nicht anschickt, einen ganzen ›Generationenkonflikt‹ zu heilen, sondern lediglich einige grundlegende Veränderungen im Kommunikationsverhalten von Eltern gegenüber ihren Kindern vorschlägt. Sie sollen, so Gordon, aufhören, als in moralischen Dingen allwissende ›Respektpersonen‹ aufzutreten, sondern lernen »einem anderen gegenüber echte Annahme zu empfinden und sie ihn spüren zu lassen [im englischen Original: to feel and communicate genuine acceptance]« (Gordon, 1972: 38 bzw. Gordon, 1970: 34). Der Familientherapeut rät also dazu, im Streit über alltägliche und moralische Standpunkte nicht um Positionen zu kämpfen, sondern zunächst einmal eine Art aktiven Zuhörens und wertschätzenden kommunikativen Verhaltens zu praktizieren, die eine tiefgehende, wechselseitige Verständigung ermöglicht: »Wenn ein Mensch aktives Zuhören praktiziert, geschieht etwas mit ihm. Um richtig zu verstehen, wie ein anderer Mensch von seinem Standpunkt aus denkt, oder empfindet, um sich momentan an seine Stelle zu versetzen um die Welt mit seinen Augen zu sehen – laufen Sie als Zuhörer das Risiko, daß ihre eigenen Meinungen und Einstellungen verändert werden. […] ›Aufgeschlossen für die Erfahrungen‹ eines anderen zu sein, fordert die Möglichkeit heraus, die eigenen Erfahrungen neu interpretieren zu müssen.« (Gordon, 1972: 60)

Was der Psychologe Gordon im familiären Kontext für sinnvoll erachtet, hält auch der Bildungsexperte Schmitt für den richtigen Ansatz. Denn auch er hält wenig davon, eine Krise der Werte zu beklagen und sich lange mit den Inhalten moderner Ethik auseinanderzusetzen. Für essenziell erachtet er vielmehr die Art und Weise der Wertevermittlung, oder besser, wie er schreibt, Werte-Verwirklichung: »Wir müssen weder alte Werte wieder ausgraben noch brauchen wir irgendwelche neuen Werte: Wir brauchen neue Wege, wie wir sie miteinander verwirklichen können.« (Schmitt, 2016: 165) Und dazu zielt Schmitt auf ein »gelingende[s] Miteinander« (Schmitt, 2016: 165). In diesem Miteinander müssten insbesondere die jungen Menschen, die Schülerinnen und Schüler, auf »genügend empathische, aufmerksame Zuhörer« Schmitt (2016: 162) treffen, die ihnen ein Gefühl von Anerkennung und Wertschätzung vermittelten und so – ganz praktisch – auch Werte vorlebten und transportierten: »Woran erkennt ein junger Mensch, ob und dass er sich in einer Gemeinschaft oder Gruppe bewegt, in der eine lebendige Form der Wertevermittlung in diesem Sinne praktiziert wird? Daran, dass er oder sie dort auf Menschen trifft, die sich mit ihm und ihr ernsthaft beschäftigen und auseinandersetzen. Nicht um sie von etwas zu überzeugen, sondern um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst in diesen Auseinandersetzungen immer besser zu verstehen. Menschen, die zuhören, wenn er oder sie in welchen Formen auch immer von seinem und ihrem Leben und von seinen und ihren Erfahrungen erzählt, von ihren Sorgen, Nöten

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Andreas Schiel und Freuden. Ganz banal. Menschen treffen auf Menschen, die sich einander anvertrauen.« (Schmitt, 2016: 164)

Was Schmitt und Gordon mit unterschiedlichen, aber doch sehr ähnlichen Worten als wirkungsvollen Ansatz beschreiben, für diejenigen, die in unterschiedlichen Kontexten junge Menschen zu wertegeleitetem Handeln anregen wollen und müssen, ist, wie es Schmitt treffend schreibt, eigentlich ein fast schon banaler Ratschlag: Durch das eigene Verhalten erst einmal den Respekt und die Wertschätzung zu vermitteln, den man vom Gegenüber erwartet, als Voraussetzung wie Resultat eines ethisch wünschenswerten Umgangs. Im Kern setzen sie damit auf eine kommunikative Praxis, welche die wechselseitige Akzeptanz von Menschen entscheidend fördern kann. Thomas Gordon bezieht sich dabei direkt auf den von Watzlawick et al. geprägten Terminus »therapeutische Kommunikation« (Gordon, 1972: 42). Nicht nur das: Er spricht auch von Liebe, die im Rahmen seines Konzepts eine erhebliche Rolle spiele: »Denn einen anderen anzunehmen, ›wie er ist‹, stellt einen wahrhaften Akt der Liebe dar; sich angenommen zu fühlen, heißt sich geliebt zu fühlen.« (Ebd.: 40f) Das mag im Kontext familiärer Beziehungen weniger ungewöhnlich sein als im Bereich der professionellen Pädagogik. Doch Christoph Schmitt lässt seinerseits deutliche Bezüge zum jesuanischen Konzept der Nächstenliebe erkennen, wenn er sich explizit auf »die Geschichten, die […] im Neuen Testament zu finden sind« (Schmitt, 2016: 163) bezieht: »Insbesondere in den vier Evangelien. In vielen dieser Geschichten wird allein aufgrund des Handelns der Protagonisten in den buntesten Farben zum Ausdruck gebracht, was unter dem ›Wert eines Menschen‹ zu verstehen ist […]. […] Auch wird in diesen Geschichten der Wert des eigenen Lebens und das ›des anderen‹ in eine wechselseitige Beziehung ›auf Augenhöhe‹ gebracht.« (Schmitt, 2016: 163)

Wir können also festhalten: Erstens scheinen die beiden hier konsultierten Positionen aus Bildungspraxis und Psychologie Antworten zu geben, auf das von mir praktisch erfahrene Problem, dass Wertevermittlung nicht erfolgreich sein kann, solange sie bei der abstrakten Darstellung und bloßen Behauptung von Werten stehen bleibt. Schmitt und Gordon sprechen hier sehr ähnliche Empfehlungen aus und raten dazu, einzusteigen in die gelebte kommunikative Praxis wechselseitiger Anerkennung und Wertschätzung. Zweitens sind in ihren Ausführungen eindeutige Parallelen sichtbar, zum Konzept einer an Nächstenliebe orientierten, kommunikativ generierten Akzeptanz, wie ich es in den ersten beiden Abschnitten dieses Textes entworfen habe. Daraus lässt sich ohne größere Schwierigkeiten die These bilden, dass die Erzeugung von Lernsituationen, die gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz ermöglichen und steigern, neben eben diesem unmittelbar positiven Effekt auch zu einem tieferen Verständnis von Werten und moralischen Problemen entscheidend beitragen können – ein Verständnis, das über den Weg der bloßen Belehrung von Schülerinnen und Schülern kaum erreicht werden könnte.

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5. Ü ber L iebe hinaus : P erspek tiven der B ildungsarbeit von heute und morgen

Eine andere Frage ist allerdings, ob denn genau der in diesem Text beschriebene Weg beschritten werden muss, wenn man eine Antwort finden will auf die Herausforderungen pädagogischer Arbeit der Gegenwart unter den Bedingungen eines zunehmenden (Werte-)Pluralismus, der allmählichen Schwächung und Auflösung normierender Konventionen und Institutionen bei einem gleichzeitigen Aufschwung des Individualismus und einem stärker gewordenen Drang nach Selbstbestimmung. Muss die Antwort hier ausgerechnet Nächstenliebe lauten, will man pädagogische Arbeit und die Aufgabe der Wertevermittlung vor diesem Problemhintergrund neu definieren und ausrichten? Nein, das muss sie nicht. Der vorliegende Text ist, so habe ich es in der Einleitung deutlich gemacht, gedacht als Horizont- und Perspektiverweiterung, als kreativer Einwurf in die Debatte über Gegenwart und Zukunft der Bildungsarbeit. Mir ist bewusst, dass die von mir eingenommenen philosophischen und geistesgeschichtlichen Blickwinkel nicht von allen Praktikerinnen und Praktikern nachvollzogen werden können und müssen. Auch sind die von mir im dritten Abschnitt herangezogenen Positionen vielleicht zu randständig und noch nicht zureichend präzise, dass sie es ohne weiteres erlauben würden, daraus konkrete Projektpläne oder gar Schulreformen für eine neue Art des (Ethik-)Unterrichts abzuleiten. Allerdings kann die Beschäftigung mit dem Ideal der Nächstenliebe uns daran erinnern, dass die Aufgabe, Lernumfelder der gegenseitigen Wertschätzung und Akzeptanz zu schaffen, nicht nur eine große und schwierige Herausforderung, sondern auch eine ehrenwerte und mit einer tiefen Berechtigung versehene Aufgabe darstellen könnte. Und dass ein solcher Wandel der pädagogischen Arbeit Potenziale freilegen könnte, die wir derzeit allenfalls erahnen. Der methodische und praktische Zugang indes, zu einem solchen Wandel der Bildungsarbeit, kann auch über ganz andere Begriffe, Assoziationsketten und Erfahrungen gefunden werden. Zum Beispiel über die Begriffe Demokratie und Gerechtigkeit und die daran anknüpfenden Konzepte der Demokratiepädagogik und Just Community. Auf diese bereits in der pädagogischen Praxis erprobten Ansätze möchte ich abschließend noch kurz zu sprechen kommen, weil sie mir Folgendes in sehr anschaulicher Weise aufzuzeigen scheinen: Die Thematik einer in Lernkontexten mit dem Ziel der Wertevermittlung und Werte-Verwirklichung kommunikativ zu generierenden wechselseitigen Akzeptanz kann auch mit deutlich anderen Begriffen und Begründungen erfolgreich angegangen werden. Diese scheinen mir letzten Endes jedoch sehr ähnliche Ziele zu verfolgen wie meine oben skizzierten, vom Gedanken der Nächstenliebe ausgehenden Überlegungen. Der eingangs zitierte Wolfgang Edelstein ist einer der einflussreichsten Vertreter des Konzepts der modernen Demokratiepädagogik in Deutschland, aus dem neben zahlreichen anderen (Schul-)Projekten und Praxisansätzen auch das BundLänder-Programm Demokratie leben und lernen sowie ein Katalog von Lehr- und Lernkonzepten (LISUM, 2011) für das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg hervorgegangen sind. Die Demokratiepädagogik legt großen Wert darauf, Demokratie nicht nur als Staatsform verständlich zu machen und erklärend zu legitimieren, sondern Demokratie als Lebensform für Schülerinnen und Schü-

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ler unmittelbar erleb- und spürbar zu machen. Dieser Anspruch führt automatisch dazu, dass Werte wie Meinungsfreiheit, Selbst- und Mitbestimmung, aber auch die Anerkennung von Minderheitenpositionen im Schulalltag nicht nur gepredigt, sondern direkt in die Kommunikation und Kooperation der Lernenden und Lehrenden einfließen und so die gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz steigern (Edelstein, 2007). Auf die vielfältigen Implikationen und Herausforderungen der Demokratiepädagogik kann ich hier zwar nicht eingehen, wohl aber auf das recht kompakte Konzept der Just Community, das ursprünglich auf den Entwicklungspsychologen Lawrence Kohlberg zurückgeht und welches, jedenfalls in seiner für schulische Zwecke adaptieren Form, mit dem Ansatz der Demokratiepädagogik eng verwandt ist (Edelstein, 2007: 10). »Die ›gerechte Gemeinschaft‹ will nämlich in ihrer Zielsetzung nichts anderes, als […] erstens eine entscheidende Verbesserung der moralischen Atmosphäre der Schule, zweitens eine stärkere Identifikation mit der Schule, drittens die nachhaltige Intensivierung des Normaufbaus und der Demokratisierung, und viertens die Förderung der Entwicklung des sozialen Verstehens, des moralischen Urteilsvermögens und der moralischen Sensibilität des Einzelnen.« (Oser & Althof, 2001: 252)

Aus diesem Zitat eines Artikels der Pädagogen Fritz Oser und Wolfgang Althof, auf den ich mich im Folgenden beziehen möchte, lässt sich bereits erahnen, dass das Konzept der Just Community, ebenso wie die Demokratiepädagogik, jenseits der formalen Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern im Alltag auch und gerade auf die Stärkung von Kompetenzen im sozialen bzw. kommunikativen Bereich sowie im Feld der moralischen Sensibilität und Urteilsfähigkeit setzt, die aus einer gezielten kommunikativen Ausgestaltung der mit der Just Community in Schulen eingeführten Mitbestimmungselemente resultieren. Unter letzteren sind zu nennen: Eine regelmäßige Gemeinschaftsversammlung aller Angehörigen der Schule, die über wichtige Grundsatzfragen oder aktuelle Konflikte berät, ein sowohl mit Schülerinnen und Schülern als auch Lehrenden besetzter Vermittlungsausschuss, der in Streitfällen und moralischen Konflikten eingreifen kann, sowie eine gewählte Vorbereitungsgruppe, die neben wenigen Lehrenden Delegierte aus jeder Klasse umfasst und die Themen der kommenden Gemeinschaftsversammlungen festlegt (vgl. Oser & Althof, 2001: 246ff). Bei der Einführung dieser Mitbestimmungsinstrumente an drei Schulen in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 1985-89 im Rahmen eines Modellversuchs beschränkten sich Oser und Althof allerdings nicht auf die Institutionalisierung dieser formalen Entscheidungsgremien. Stattdessen begleitete ihre Arbeit eine umfassende Fortbildung der jeweiligen Lehrerinnen und Lehrer (vgl. ebd.: 251f), die dadurch angehalten und befähigt wurden, die Zielsetzungen in Bezug auf die moralische Urteilsfähigkeit und Sensibilität der Schülerinnen und Schüler, die nachhaltige Stabilität der gemeinsam getroffenen normativen Vereinbarungen sowie die Veränderung und Verbesserung des gesamten Schulklimas zu erreichen. Dabei legten Oser und Althof einen deutlichen Schwerpunkt auf die gegenseitige Akzeptanz der Schülerinnen und Schüler untereinander aber auch zwischen Lehrenden und Lernenden. Sie bemühten sich, ein kommunikatives Klima zu etablieren, das auf Wertschätzung und dem intensiven Bemühen um gegenseitiges Verstehen basierte: »Nicht bloß die gemeinsam entwickelten Normen und Hand-

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lungsrichtlinien, sondern auch diese verstehende, nachvollziehende und den Anderen anerkennende Argumentation schafft Solidarität und ein Gleichgewicht der moralischen, klimatischen und innenpolitischen Kräfte der Schule.« (Ebd.: 244) Eine an Kohlberg orientierte wissenschaftliche Evaluierung des Modellprojektes an drei Schulen ergab laut Oser und Althof (eine veröffentlichte Fassung liegt nicht vor) eine deutliche Verbesserung der »moralischen Atmosphäre« (ebd.: 253f) an den betroffenen Schulen was Bereiche wie die »Bereitschaft zur Partizipation und gemeinschaftlichen Behandlung von Problemen, das Ausmaß von Normenakzeptanz und von […] prosozialem Handeln« (ebd.: 253f) betrifft. Außerdem, so Oser und Althoff, sei die moralische Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler deutlich gestiegen (vgl. ebd.: 252f). Die Lehrerin einer Schweizer Grundschule, die das Just Community Konzept in einer modifizierten Form langfristig einsetzt, wird mit folgenden Worten zitiert: »Ich sehe einfach immer mehr die Früchte. Jeden Tag! Die Kinder sorgen füreinander, denken aneinander, helfen sich gegenseitig. […] In der Klasse sehe ich auf Schritt und Tritt, welche Entwicklungen sich da ergeben haben.« (Ebd.: 261) Diese Ergebnisse einer Einführung des Just Community Ansatzes an Schulen sind aus meiner Sicht ein ermutigendes Zeichen für die Potenziale kommunikativ zu generierender Akzeptanz und Wertschätzung im Schulalltag und weit darüber hinaus, die in unserer Zeit zunehmender ethischer Unsicherheit und Desorientierung enorm hilfreich sein könnten, den Boden für gemeinsames Verständnis und konstruktives Miteinander zu bereiten – und außerdem extrem wertvolle Impulse für eine Grund legende Veränderung jeglicher auf Wertevermittlung zielender Bildungsarbeit geben könnten. Das beschriebene Beispiel der Just Community zeigt ebenso wie der Ansatz der Demokratiepädagogik oder auch Christoph Schmitts Rede vom gelingenden Miteinander, das zur Werte-Verwirklichung führt, dass solche Veränderungen nicht notwendiger Weise mit dem Gedanken an die (Nächsten-) Liebe ihren Ausgang nehmen und schon gar nicht dort enden müssen. Die zeitliche und örtliche Begrenztheit solcher pädagogischen Experimente, die, wie das Beispiel Just Community zeigt, seit Jahrzehnten bekannt und nicht selten erfolgreich erprobt sind, macht allerdings auch deutlich, dass es unseren Bildungssystemen offenbar an Mut und Entschlossenheit mangelt, solche Konzepte endlich zur Umsetzung zu bringen. Vielleicht kann ja in diesem Fall der Gedanke an die Nächstenliebe, weniger in einem christlichen als vielmehr in einem universell humanistischen Sinne ein Motivator für manche oder auch viele Akteurinnen und Akteure sein. Ich möchte behaupten: Es wäre durchaus im Sinne ihres »Erfinders«.

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Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext Veronika Fischer & Daniel Getzberger »[Das] Konzept der Liebe [wird] aus den Beliebigkeiten des rein individuellen Erlebens herausgenommen und an sozialen Erwartungen festgemacht. […] Passioniertes Lieben wird zur Erwartung, auf die hin gelernt und erzogen wird, ein sozialer Typus, der schon aus Gründen hinreichender Verständigung nur begrenzte Modifikationen zuläßt.« (Luhmann, 2008: 80)

Eine rein sprachliche Analyse des Begriffs »Liebe« zeigt, dass eine Vielzahl an Bedeutungen existiert. Die einzelnen semantischen Verwendungen werden im theoretischen Diskurs oftmals verwechselt oder nicht klar getrennt – Missverständnisse in der Praxis sind damit vorprogrammiert. Es gilt sechs Verwendungsweisen zu unterscheiden. Zunächst aber werden nun die historischen Einflüsse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrachtet, um dann die aktuelle Auffassung des Liebesbegriffs sowie deren Semantik zu beschreiben.

1. L iebe als soziokulturelles P hänomen Was wir heute für eine Vorstellung von Partnerschaften haben, nämlich die, dass die Liebe den Grund für das Eingehen einer Zweierbeziehung darstellt, ist kulturhistorisch betrachtet relativ neu: Jean-Jacques Rousseau startet 1761 in seinem Erfolgsroman Julie oder Die neue Heloise das Experiment – die Liebesehe, die im aufkommenden Humanismus in die Realität umgesetzt wird. Bis dato gibt es die Liebe im besten Fall als Resultat einer Ehe, welche für gewöhnlich von den Eltern vereinbart wird, um den Familienbesitz zu erhalten oder zu erweitern. Meist ist die voreheliche Liebe der Feind der elterlichen Autorität. Im Zeitalter der Aufklärung hingegen entwickelt sich der Anspruch, dass die Liebenden sich symbiotisch ergänzen und gegenseitig zu einer höheren Humanität verhelfen. Die wahre Liebe, unter welcher »die Begeisterung für die Vollkommenheit des Partners« (Rousseau, 1991: 407) verstanden wird, wird zum Grund der Eheschließung erklärt. Die Frau

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bringt in die Beziehung Naturnähe, Emotionalität und Sittlichkeit ein, womit sie sich selbst in ihrer dreifachen Befähigung als Gattin, Mutter und Hausfrau finden und ausleben kann. Der Mann, als rationaler Teil der beiden komplementären Pole, ist für den außerhäuslichen Gelderwerb zum Unterhalt der Familie verantwortlich. (Vgl. Wägenbauer, 1996: 30) Die Liebesbeziehung wird im 18. Jahrhundert somit zur ›amour passion‹, zur Bindung aus Leidenschaft. In diesem Kontext stehen sinnliche Momente wie willenloses Ergriffensein und »krankheitsähnliche Besessenheit, Zufälligkeit der Begegnung und schicksalhafte Bestimmung füreinander, unerwartbares (und doch sehnlichst erwartetes) Wunder, Impulsivität und ewige Dauer, Zwanghaftigkeit und höchste Freiheit der Selbstverwirklichung« (Luhmann, 2008: 31). Die Liebesbeziehung wird zu einem privaten Raum und damit zu einem Rückzugsort. Sie bietet Geborgenheit und die Möglichkeit der Selbstentfaltung. Seit Rousseau gibt es zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen und Freiheitsbewegungen. Im Großen und Ganzen stimmt aber die damals entstandene Liebesdefinition noch immer mit unseren Vorstellungen überein. Wenn man Hollywoodfilme oder Liebesromane einer näheren Betrachtung unterzieht, folgen die Storylines einem nahezu einheitlichen Schema und streben eine einzigartige Herzensbildung an, die alles bisher Erlebte in den Schatten stellt.1 Heute wie damals gilt: »Unsere Liebesmythologie lehrt, dass angesichts der Liebe alles andere verblasst. Die Identität der Person zeigt sich in der Wahl eines Liebespartners und dem Stehen zu dieser Wahl ungeachtet aller Widrigkeiten. Liebesbeziehungen, die sich über Sitte, familiäre Wünsche und Schichtgrenzen hinwegsetzen, machen damit gleichzeitig die Autonomie des Individuums geltend.« (Swindler, 2014: 369)

Verändert hingegen haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wo noch vor zwei Generationen die klar definierten Geschlechterrollen die Sphären von Arbeit und Privatleben dominierten, ist heute in dieser Hinsicht wenig Struktur und Ordnung zu finden. »Plötzlich wird alles unsicher: die Form des Zusammenlebens, wer wo wie arbeitet, die Auffassung von Sexualität und Liebe und ihre Einbindung in Ehe und Familie; […] Es beginnt ein allgemeines Ringen und Experimentieren mit ›Wiedervereinigungsformen‹ von Arbeit und Leben, Haus- und Erwerbsarbeit usw. Kurz gesagt: Das Private wird politisch, und dies strahlt auf alle Bereiche aus.« (Beck & Beck-Gernsheim, 1990: 42)

Durch die Auflösung der klaren Arbeitsgebiete von Frau und Mann, durch die Auflösung der Definitionen von ›Frau‹ und ›Mann‹, durch die Befreiung des weiblichen Geschlechts aus Küche und Kinderzimmer und die gleichzeitige (Ver-) Drängung der Männer dorthin, durch den Versuch einer absoluten Gendergleichstellung, ohne aber den Arbeitsmarkt strukturell zu verändern, verlagert sich der Konflikt von Fürsorge und Autonomie mehr und mehr in das Privatleben und somit in die Gestaltung der Liebesbeziehungen. (Vgl. Beck & Beck-Gernsheim, 1990: 1 |  Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der Liebesvorstellung siehe: Kuhn, 1975.

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56) Arbeitswelt und Hausarbeit sind technisierter, aber ebenso zu verrichten, wie in jenen Zeiten, als eine klare Geschlechtertrennung die strukturelle Ausrichtung des Systems beinhaltet, eine Ungleichstellung von Männern und Frauen also vorausgesetzt hat. Da die Vorstellungen von Liebe und Beziehungen sich in den letzten zweihundert Jahren nicht maßgeblich verändert haben, die strukturellen Bedingungen hingegen sehr, sind Konflikte vorprogrammiert. »Wir können nicht die neuen ›runden‹ Menschen in die alten ›eckigen‹ Schachteln der Vorgaben des Arbeitsmarktes, Beschäftigungssysteme, Städtebaus, sozialen Sicherungssystems usw. zwängen. Wenn dies versucht wird, darf sich niemand wundern, daß das private Verhältnis der Geschlechter zum Schauplatz für Auseinandersetzungen wird, die nur defizitär in den Zerreißproben des ›Rollentauschs‹ oder der ›Rollenmischform‹ von Männern und Frauen ›gelöst‹ werden können.« (Beck & Beck-Gernsheim, 1990: 43)

2. D ie K ennzeichen unserer Z eit Da nun deutlich ist, inwiefern die gesellschaftlichen Strukturen eine Auswirkung auf die Bildung von Liebe und Beziehungen haben, stellt sich die Frage, durch welche Charakteristika sich diese sozialen Strukturen im Detail auszeichnen. Im Folgenden wird der Fokus auf drei wesentliche Aspekte unserer Gesellschaft gelegt: das politische System, das Wirtschaftssystem sowie die kulturellen Einflüsse (vgl. Engelhard, 1999: 239). Betrachten wir unsere aktuelle Gesellschaft, sind dies: Demokratie, Kapitalismus und stellvertretend für kulturelle Sitten und Gebräuche, die zu einer drastischen Umwandlung geführt haben: Cybermedien sowie die Psychologie.

2.1 Demokratie Liebesbeziehungen bieten ein großes Feld für die Ausübung und Festigung von Wertebegriffen und Verhandlungstaktiken. Beginnend bei der Eltern-Kind-Bindung, in welcher das Kind lernt, seine individuellen Vorstellungen zu erkennen und durchzusetzen, zieht sich diese Erfahrung von Erfolg und Scheitern durch freundschaftliche und autoritäre Beziehungen, bis hin zur eigenen Paarbeziehung. Erlebt eine Person in diesen interpersonellen Bindungen eine hohe Autonomie und Selbstbestimmung, so ist denkbar, dass sie diese Werte auch als Allgemeingut, sprich auf politischer Ebene einfordert. Ebenso ist denkbar, dass aus einer sehr rigiden, autoritär bestimmten Bindung ein Ausbruch erfolgt und deshalb die gegensätzlichen Werte von Freiheit und Gleichheit im großen Maße erwünscht werden. Die Auswirkungen können unterschiedlicher Natur sein. Fest steht aber, dass die politische Grundeinstellung einer Person im privaten Rahmen gelernt, gefestigt und geprägt wird. Zum einen manifestieren sich die Werte und Normen, aber auch die Einstellung zu Kommunikation, Diskussion und Entscheidungsfreiheit in direkten personellen Beziehungen, finden dort praktische Anwendungen und übertragen sich dann auf eine abstraktere, politische Ebene. (Vgl. Giddens, 1993: 211; Giddens, 2003: 81)

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Veronika Fischer & Daniel Get zberger »Die Herausbildung und zunehmende Verfestigung gemeinsamer Realitätsdefinitionen aus zunächst flüssigen und verhandelbaren Anfängen kann [in der Paarbeziehung] praktisch im Zeitraffer beobachtet werden.« (Kuchler, 2014: 27)

Demokratische Praktiken und Abläufe prägen also wiederum die Gestaltung von Liebesbeziehungen. Verhandlungen, gleichberechtigte Diskussionen, Abstimmungen und Verträge sind Bestandteil moderner Partnerschaften.

2.2 Kapitalismus Dass Liebe und Kapitalismus untrennbar miteinander verbunden sind, hat die Soziologin Eva Illouz in ihrer Abhandlung Der Konsum der Romantik (2003) dargestellt. Sie zeigt, dass Rituale in partnerschaftlichen Beziehungen sehr stark verknüpft sind mit dem Genuss von Luxusartikeln. Dies beginnt mit der Wahl des Weines im Restaurant beim ersten Date und zieht sich über den Kauf von Blumen, Geschenken, Kinokarten und Urlauben durch die Beziehung fort. (Vgl. Illouz, 2003: 65) Die allgegenwärtige Kommerzialisierung ist unerbittlich in »die privatesten Nischen unseres zwischenmenschlichen und emotionalen Lebens eingedrungen [und somit hängen viele] der romantischen Praktiken direkt oder indirekt von Konsum ab und Konsumaktivitäten haben unsere romantischen Vorstellungen vollständig durchdrungen« (Illouz, 2003: 180). Die Erwartung an die Liebe ist, dass sie als Kontrast zur Arbeitswelt unterhaltsam, befriedigend und erholsam funktioniert. »Die konsumorientierte Liebe beruft sich auf Werte und Prinzipien, die in der gesamten abendländischen Geschichte ein emanzipatorisches Potential darstellten: Individualismus, Selbstverwirklichung, Bestärkung der persönlichen Qualitäten des Individuums und Gleichheit zwischen den Geschlechtern in der wechselseitigen Erfahrung von Vergnügen.« (Illouz, 2003: 187)

Die Praxis der kapitalistischen Handlungen im Liebeskontext schlägt sich auf das theoretische Verständnis von Liebe nieder. Die Liebe selbst wird zum Konsumgut, eine Einteilung in Kosten-Nutzen-Kalküle erfolgt ebenso wie eine Objektivierung der Partnerin bzw. des Partners. Je mehr der Wunsch der Liebe sich in einer zur Marktwirtschaft konträren Position manifestiert, desto mehr ist diese durch das System durchdrungen. Die Sehnsucht nach einkommensunabhängiger Anerkennung, nach Liebe fernab von Berechnung und Kalkül, nach »unbezahlbaren Momenten« ist hoch, gleichzeitig steigen aber auch die Konsumpraktiken innerhalb der Liebesbeziehungen und -beziehungsfindungen an. Die Konsequenz dieser Dynamik spiegelt sich beispielsweise im aktuell vorherrschenden Gesellschaftsbild der seriellen Monogamie wider – ein Partner bzw. eine Partnerin, der bzw. die nicht mehr »funktioniert«, wird ersetzt, nicht »repariert«.

2.3 Cyberkultur und Soziale Medien Im kulturellen Bereich erscheint ein Phänomen als besonders charakteristisch für die heutige Epoche: der Einzug des Internets sowie die damit verbundene Nutzung von entsprechenden Endgeräten und sozialen Medien. Unser Alltag hat sich

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dadurch stark verändert. Telefonzellen, Autoatlanten, Auskunftszentralen etc. sind aussterbende Relikte einer vergangenen Zeit. Sie sind überflüssig geworden in einer Welt der Smartphones, Navigationsgeräte und intelligenten Computersysteme. »Im Laufe der Evolution des Gesellschaftssystems nimmt die Komplexität der Gesellschaft und der für sie tragbaren Welt zu. Das verändert allmählich, zuweilen auch in abrupten Schüben, die Ausgangslage, in der die Kommunikationsmedien operieren. Jeder mitgeteilte Sinn wird zur Auswahl aus mehr anderen Möglichkeiten, alles Bestimmte gewinnt eine höhere Selektivität. Und entsprechend werden Kommunikationsmedien stärker beansprucht.« (Luhmann, 2008: 75)

Diese Kommunikationsstrukturen schlagen sich auf die Partnersuche nieder. Durch das Medium Internet stehen dem User eine Vielzahl von Onlinedating-Portalen und Apps zur Verfügung, die eines gemeinsam haben: Die Dimension wird erweitert, das Auswahlverfahren beschleunigt. Die neuen Formen der Interaktion verändern nicht nur die Entstehung einer Beziehung, sondern auch deren Bestehen. Betrachtet man das Entstehen aktueller Liebesbeziehungen, so wird deutlich, dass diese anders verlaufen als vor der verbreiteten Nutzung des Internets. Die virtuelle Welt hält Einzug in die Beziehungen. Es spielt keine Rolle, ob sich die Partner bzw. Partnerinnen zum ersten Mal über einen speziellen Logarithmus bei Elitepartner oder bei Freundinnen und Freunden auf einer Gartenparty begegnet sind: Bevor es zur ersten Verabredung geht, werden im Netz Informationen über den anderen gesucht und somit ein Bild erstellt, das aus Fremdinformationen besteht; ein Bild, das der Kontrolle des anderen nur zu einem bestimmten Grad unterliegt. Bestehende Liebesbeziehungen werden online inszeniert. Der Beziehungsstatus auf Facebook wird verändert »X ist jetzt in einer Beziehung mit Y.«, es gilt als Liebesbeweis, sich aus Kontaktbörsen zu verabschieden und Datingapps zu löschen. Fotos von gemeinsamen Unternehmungen werden über Whatsapp und Instagram an den Kreis der Freundinnen und Freunde bzw. Follower weitergeleitet. Das Liebesglück ist ein Statussymbol, das zelebriert und geteilt wird. Was oberflächlich und leicht erscheint, dringt doch bis an die Substanz. Nach einer Trennung fällt es schwer, die Bilder und Nachrichten wieder aus dem Netz, aus der persönlichen Chronik zu entfernen, viele lassen sie bestehen. »Mit einem Klick schaltet man ein, mit einem Klick schaltet man aus. Mit einem Klick erstellt man ein Profil, mit einem Klick schließt man die Seite. Mit einem Klick versendet man eine Mail, mit einem nicht ausgeführten Klick beantwortet man eine Antwort nicht. Das mit einer Maus ausgestattete Individuum denkt, es hätte seine sozialen Beziehungen auf diese Weise bestens unter Kontrolle. Es weiß nicht, dass es den Finger in ein Räderwerk gesteckt hat, aus dem es nicht ohne Blessuren herauskommen wird.« (Kaufmann, 2011: 13)

Ein Beispiel, das mit besonders eindrücklicher Deutlichkeit zeigt, wie sich der Umgang mit der Liebe verändert hat, ist in Smartphone-Applikationen wie Tinder zu finden. Hier werden dem Nutzer Profilbilder und Kurzinformationen von Personen präsentiert, die mit einem Swipe nach links oder rechts gewischt werden, was ein Gefallen bestätigt oder negiert. Ergibt sich ein Match, was bedeutet, dass beide Akteure bzw. Akteurinnen sich gegenseitig für geeignet befunden haben, entsteht die

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Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Auch in der Realität wird oftmals innerhalb von Sekunden entschieden, ob eine Kommunikation entsteht, oder ob diese bei einem Blickkontakt belassen wird. Auf Tinder wird dies medial pointiert und zelebriert.

2.4 Psychologie Eine weitere Komponente stellt die Affinität des modernen Menschen zu Therapien und der Ratgeberliteratur dar. Aufgekommen in den 1950er-Jahren in Managerkreisen in den USA wird die Leistungssteigerung anhand von Coachings heute auf alle Bereiche des Lebens übertragen. Es besteht das Angebot von Workshops, Fortbildungen und Kursen zu unterschiedlichsten Themen. Auch bezüglich der Partnersuche, Beziehungsgestaltung und Kindererziehung finden sich unzählige Bestseller und spezielle Beratungsinstitutionen. Durch den Einfluss der Psychologie steigert sich die Sehnsucht nach Autonomie. Man will von nichts determiniert sein, weder von gesellschaftlichen Werten und Normen, noch von der eigenen defizitären Kindheit. Gleichzeitig steigt damit die Verantwortlichkeit für das persönliche Glück. Und das wiederum prägt die Ansichten über Liebesbeziehungen. »Als die Autonomie zunehmend in den Mittelpunkt des von der Psychologie verfochtenen idealen Selbst rückte, kam die emotionale Verschmelzung in den Ruf, diese Autonomie zu gefährden. Sein Selbst mit dem eines anderen zu verschmelzen oder sich jemand anderem zu unterwerfen, galt nun als Negation des eigenen grundlegenden Anspruchs auf Autonomie und damit als Anzeichen einer emotionalen Pathologie.« (Illouz, 2012: 295)

Durch die Pathologisierung von Liebesleid und Opferbereitschaft sinkt die Fähigkeit, Dinge in der Liebe zu erdulden oder auszuhalten, die vor dem Einzug der Psychologie als normal und zur Liebe zugehörig galten. Beispiele aus der Literatur zeigen, dass Liebe und Leid noch vor ein paar Jahrhunderten viel selbstverständlicher als zusammengehörig verstanden und nicht pathologisiert wurden. So spricht Helena in Shakespears Sommernachtstraum zu Demetrius: »Ich bin Euer Hündchen, und wenn Ihr mich schlagt, ich muß Euch dennoch schmeicheln. Begegnet mir wie Eurem Hündchen nur, stoßt, schlagt mich, achtet mich gering, verliert mich: Vergönnt mir nur, unwürdig, wie ich bin, Euch zu begleiten. Welchen schlechtern Platz kann ich mir wohl in Eurer Lieb erbitten (Und doch ein Platz von hohem Wert für mich), als daß Ihr so wie Euren Hund mich haltet?« (Shakespeare, 1826: 368)

Auch andere Beispiele aus der Literatur bis ins 19. Jahrhundert zeigen, dass Leid als eine Komponente einer Liebesbeziehung begriffen wurde, ohne welche die Liebe zu einer anderen Person nicht vollständig gewesen wäre und dieses Leid angenommen und erlebt wurde. Stellen wir uns Werther ohne Liebeskummer vor: Hätte er bereits beim ersten Zweifel eine Therapeutin oder einen Therapeuten aufgesucht, der mit ihm seine Kindheit und deren Auswirkungen auf sein Partnersuch- und Bindungsverhalten analysiert hätte, so wäre er vielleicht niemals in diesen emotional tiefen Zustand der persönlichen Verzweiflung ob seiner unerfüllten Liebe gekommen. Heute wird Leid vermieden, es wird versucht dies so klein wie möglich zu halten, es zu umgehen.

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Durch den Einfluss der Psychologie auf unser Liebesleben können Liebesbeziehungen instabil werden. Wenn eine Beziehung nicht funktioniert, ist klar, dass es in der Verantwortung des Paares liegt, nicht in der Sache an sich. »Was eine Ehe zu einer gelungenen machte, war die Fähigkeit von Männern und Frauen, sich gegenseitig zu verstehen und an der Gegenwart des anderen zu erfreuen. Damit machten die Psychologen zugleich deutlich, daß die Individuen es nun selbst in der Hand hatten, ihre Ehe glücken zu lassen, womit zugleich die Verantwortung für Erfolg oder Scheitern bei ihnen lag. Ein solches Eheverständnis vergrößert die Unsicherheit hinsichtlich der Regeln, die für das Verhalten in der Ehe gelten sollten.« (Illouz, 2011: 203)

Wie nun gezeigt wurde, hat sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten rasant entwickelt und verändert, wohingegen die Vorstellung von Liebe sich weniger progressiv verhält. Dies führt zu der These, dass wir an einem veralteten Ideal der Liebe festhalten, nämlich einer Form der romantischen Liebe, die bereits vor zweihundert Jahren das herrschende Paradigma der romantischen Liebe darstellte, und diese mit unseren modernen Werkzeugen zu gestalten versuchen. Wir kämpfen also mit Mitteln für einen Zweck, der diesen diametral entgegen steht. Um die Auswirkungen dieses Dilemmas auf praktischer Ebene so gering wie möglich zu halten, erscheint es umso bedeutungsvoller, zu verstehen, was gemeint ist, wenn von »Liebe« gesprochen wird. In philosophischen Theorien und Abhandlungen wird das Phänomen »Liebe« zumeist in eros, philia und agape unterschieden oder eine Einteilung in die Modelle der Vereinigung, kurativen Sorge oder des Gefühls unternommen. Diese Theorien lassen sich jedoch nicht klar voneinander trennen. Es gibt Überschneidungen, Doppeldeutigkeiten und Missverständnisse. Um diese zu vermeiden, wird im Folgenden eine rein sprachliche Betrachtung der Semantik des Begriffs »Liebe« vorgenommen.

3. S emantische B edeutungen Der Begriff »Liebe« begegnet uns tagtäglich in den vielfältigsten Verwendungsweisen. In der Werbung ist er präsent, ebenso wie in den Boulevardmedien und auch in der Alltagssprache. Dabei umfasst dieser Term die unterschiedlichsten Bedeutungen. Neben den unterschiedlichen Arten der Liebe (Vaterlandsliebe, Gottesliebe, Eltern-Kind-Liebe, Nächstenliebe, Objektliebe etc.) existieren auch im Bereich der partnerschaftlichen Liebe verschiedene Bedeutungen. In der akademischen Literatur wird diese Liebe meist »romantische Liebe« oder »personelle Liebe« genannt. Doch wenn man die Liebe eines Paares begreifen möchte, fasst der erste Begriff zu wenig, da er nur auf die Anfangsphase des Verliebtseins beziehungsweise die romantischen Komponenten einer Liebesbeziehung zu zielen scheint, der zweite hingegen zu viel, da andere Formen der Liebe zwischen Personen (Mutter-KindLiebe u.a.) nicht ausgeschlossen werden. (Vgl. Krebs, 2015: 12f) Im Folgenden wird deshalb dem Term »partnerschaftliche Liebe«, aus Ermangelung an Alternativen, die weniger ökonomisch klingen, der Vorzug gegeben.

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Sind sich die Liebenden nicht im Klaren darüber, was »Liebe« für sie bedeutet und darüber hinaus nicht dazu in der Lage zu kommunizieren, was sie meinen, wenn sie »Liebe« sagen, so ist eine fehlerhafte Kommunikation vorprogrammiert. »Es gehen unzählige Elemente in sie [die Liebe] ein, die ihren Ablauf so sehr verwickeln und verwirren, dass in ihnen meistens alles vorkommt außer dem einen, was im eigentlichen Sinn Liebe genannt zu werden verdient. Eine psychologische Zergliederung der ›Lieben‹ mit ihren kausalen Einzelheiten gäbe mancherlei Einblicke; aber wir könnten uns missverstehen, wenn wir nicht vorher untersuchten, was im strengen und reinen Sinn die Liebe ist.« (Ortega y Gasset, 1941: 262)

Es können Missverständnisse der einfachen Art sein, die im Laufe der Zeit eine ungeahnte Komplexität und Dimension annehmen. Ein Beispiel: Zwei Liebende, nennen wir sie Romeo und Julia, sagen sich ein erstes Mal, dass sie sich lieben. Romeo spricht es aus: »Ich liebe dich.« und meint damit, dass er gerne in Gesellschaft von Julia ist, seine Zeit mit ihr verbringen möchte, den Moment mit ihr genießt und sie körperlich begehrt. Julia aber versteht unter »Liebe« einen Pakt, der nicht mehr aufgelöst werden soll, der gilt, bis dass der Tod sie scheidet, der unersetzlich und einmalig ist. So sind die Verständnisse, Erwartungen und Intentionen hinter ein und derselben Aussage sehr unterschiedlich und führen mitunter zu Angst, Verletzungen, Streit, Zurückziehen usw. Würde Romeo nun aber sagen »Ich liebe dich und das bedeutet für mich abc.«, so könnte Julia erwidern »Ich freue mich, dass du gerne deine Zeit mit mir verbringen möchtest. Für mich bedeutet Liebe hingegen xyz.« und sie können sich entscheiden, ob sie sich dennoch auf das Gegenüber mit dessen Vorstellungen und Wünschen einlassen möchten. Im Folgenden werden nun die verschiedenen Verwendungsweisen des Terminus »Liebe« dargestellt und klar gegeneinander abgegrenzt. Damit soll eine Basis geschaffen werden, um im weiteren Verlauf deutlich zu machen, von welcher Art der Liebe die Rede ist sowie Missverständnisse aufzudecken. »[…] wenn wir über eine Art praktisches oder anwendbares Liebesverständnis verfügten, könnte es immer noch sehr hilfreich sein, wenn wir dieses Wissen bewusst und gezielt einsetzen könnten: Es könnte dazu beitragen, dass wir auf dem richtigen Weg bleiben und unser praktisches Verständnis erweitern bzw. es auf eine solidere Grundlage stellen« (Wilson, 1995: 22).

Eine der häufigsten Verwechslungen ist die der Liebe mit dem Begehren und dem Verliebtsein: »Ich habe mich unsterblich verliebt.« (I.). Darüber hinaus wird »Liebe« oftmals als ein reines Gefühl bzw. eine Emotion beschrieben (II.), welches den Liebenden ergreift, übermannt und unkontrollierbar steuert »Ich liebe dich.«. Auch die erotische Beziehung zwischen zwei Personen wird bisweilen als »Liebe« tituliert: »Wir machen Liebe.« (III.). Darüber hinaus kann mit der »Liebe« aber auch eine einzelne Person (IV.) gemeint sein: »Du bist die Liebe meines Lebens« oder »meine erste große Liebe« sind Konzepte, die an eine bestimmte Person gebunden sind, den Klang einer bestimmten Stimme und einen nicht ersetzbaren Geruch tragen. Aber die »Liebe« kann noch mehr meinen: Sie kann über den personellen einen institutionellen Charakter tragen (V.): »Unsere Liebe ist unsterblich.« Hier

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wird deutlich, dass es sich bei dieser Auffassung um einen Pakt zwischen zwei Liebenden handelt, um ein gemeinsames Projekt, um etwas, das mehr ist als Gefühl und Erotik. Jenseits all dieser Beschreibungen steht das allumfassende, fast schon religiös anmutende Verständnis von »Liebe«, das als Rettung, Lösung und Sinn allen Daseins begriffen wird. Bereits in der Popkultur wird es proklamiert: »All you need is love!« Hier finden sich alle Komponenten der Semantik (I. – V.) wieder und bilden ein Konglomerat, das als Utopie über unserer Gesellschaft hängt (VI.).

3.1 Abgrenzung zur Verliebtheit – »I am in love« Im 19. Jahrhundert schreibt Marie-Henri Beyle (1783-1824) unter dem Pseudonym »Stendhal« über die Liebe. Mit seinem Werk De l’Amour erweist er uns einen großen Gefallen. Zum einen schenkt er einem Phänomen Aufmerksamkeit, das bisweilen in Schriften über die Liebe vernachlässigt wird: der Verliebtheit. Zum anderen zeigt er, wie nahe die Begriffe zusammenliegen und wie schnell es geschieht, dass ein Missverständnis entsteht. »Liebe« wird hier als »die Wonne, ein liebenswertes und uns selbst liebendes Wesen mit allen Sinnen und so innig als möglich zu betrachten, zu berühren, zu fühlen« (Stendhal, 2007: 44) definiert. Dann beginnt zeitgleich ein Prozess, den Stendhal als die »erste Kristallisation« benennt und in folgender Metapher beschreibt: »In den Salzburger Salzgruben wirft man in die Tiefe eines verlassenen Schachtes einen entblätterten Zweig; zwei oder drei Monate später zieht man ihn über und über mit funkelnden Kristallen bedeckt wieder heraus; […] man erkennt den einfältigen Zweig gar nicht wieder.« (Stendhal, 2007: 45)

Im Stadium des Verliebens erfolgt laut Stendhal eine Kristallisation der Tätigkeit des Geistes, indem die geliebte Person mit strahlenden und funkelnden Eigenschaften überzogen wird wie der Ast im Salzwerk. Schon kurz nach diesem Prozess erheben sich Zweifel am Erfolg des Unterfangens, die Gründe für die anfängliche Hoffnung werden hinterfragt. Versuche wieder zurück zu der ursprünglichen Gefühlswelt zu kommen, scheitern. Mit dieser Unsicherheit erscheint zeitgleich ein Verlangen nach der Erfüllung der Liebe, das sich stetig steigert. Dieses Verlangen führt im Moment des Zweifels zu einer erneuten, »weitaus stärkeren« (Stendhal, 2007: 49) Phase der Kristallisation, in welcher, der oder die Verliebte sich in einem Wechsel aus Zweifel und Überzeugung befindet. Er oder sie wandelt »am Rande eines schrecklichen Abgrundes, während das vollkommene Glück greif bar vor [ihm] schwebt […]« (Stendhal, 2007: 48). Diese Phase sieht Stendhal als entscheidend zwischen den Möglichkeiten »geliebt zu werden oder sterben zu müssen« (Stendhal, 2007: 49). Hierbei wird deutlich, welche Rolle der Erwiderung der Gefühle sowie deren Umsetzung in eine Partnerschaft oder zumindest in einen Dialog gleicher Erwartung zugeschrieben wird: der des »vollkommenen Glücks«. Die Liebe also wird als Erlösung angesehen, als Befreiung und Heilung, aber auch als unerreichbares Gut und da der Zustand der Verliebtheit fälschlicherweise ebenfalls als »Liebe« bezeichnet wird, erhält sie die Charakteristika einer Krankheit, einer Manie, eines alles zerstörenden Übels. »Die Liebe gleicht einem Fieber; sie überfällt uns und schwindet, ohne daß der Wille im geringsten [sic!] beteiligt ist.« (Stendhal, 2007: 52)

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Es wird deutlich, dass die Einbildungskraft eine zentrale Rolle im Prozess des Verliebens spielt, ebenso wie auch die ernüchternde Feststellung, dass all die mentalen Prozesse kaum Bezug zur Realität haben, was zu dem großen Gegenpol der Verliebtheit führt: zum Liebesleid, das in der modernen Psychologie sogar ein entsprechendes Krankheitsbild prägt: die Limerenz.

3.2 Liebe als Gefühl Betrachtet man zunächst die erste Verwendungsweise: Das sekundäre Substantiv, welches beispielsweise im Satz »Meine Liebe zu dir ist mir abhandengekommen.« verwendet wird, so handelt es sich um eine Substantivierung des Verbes »lieben«. Der Satz könnte auch synonym verwendet werden mit »Ich habe aufgehört dich zu lieben«. Der Ursprung dieser grammatikalischen Form liegt also im Verb begründet. Was lässt sich über diese Bedeutung der Liebe sagen? Mit der Verwendung der Verbform »lieben« kann vieles gemeint sein. So kann man bedenkenlos sagen, dass man Personen, Gegenstände oder Eigenschaften liebt. Damit eine solche Aussage (rein formal) wahr ist, muss das Lieben nicht erwidert werden. Es geht zwar vom Objekt aus und zu diesem hin, kann aber durchaus einseitig erfolgen. Aufgrund dessen ist es auch nicht notwendig, dass das Objekt der Liebe in diesem Kontext eine Person darstellt. Synonym zu »lieben« könnten Verben wie verehren, respektieren, achten, wertschätzen, begehren, wollen, bewundern, brauchen etc. gesetzt werden. Intuitiv würde man behaupten, dass mit einer solchen Aussage ein bestimmtes Gefühl oder eine Haltung gemeint ist. Daher schließt sich hier die Frage an, ob das Lieben einem mentalen Zustand zugeordnet werden kann. Stellt man die Frage: »Warum liebst du sie?«, so wird sich die Antwort auf bestimmte Eigenschaften jener Person beziehen, welche den Liebenden anziehen und das Objekt der Liebe in besonderer Weise auszeichnen. Es bedarf also bestimmter Charakteristika, die das Objekt der Liebe zu etwas Besonderem machen. Hier muss geklärt werden, welche Eigenschaften ein Objekt zufällig besitzt (extrinsisch) und welche Eigenschaften unmittelbar und untrennbar zu dessen Identität (intrinsisch) gehören. (Vgl. Wilson, 1995: 29) Wichtig für die Liebe ist hierbei, dass sich die Wertungen in Bezug auf die jeweiligen Eigenschaften der beiden Liebenden nicht allzu sehr unterscheiden oder eine Person an dem oder der Geliebten Eigenschaften schätzt, die der andere als zufällig und unwichtig erachtet oder gar nicht besitzt. Die Verliebtheit lässt sich den Emotionen zuschreiben, denn sie ist zeitlich beschränkt, zufällig und intentional auf ein Objekt gerichtet. Körperliche Reaktionen können durchaus auftreten. Herzpochen, Schmetterlinge im Bauch und eine grundlegende Nervosität sind in der Verliebtheit an der Tagesordnung. Die Verliebtheit ist irrational und nicht steuerbar.2 Bei der Liebe hingegen handelt es sich um einen dauerhaften Zustand, der reflektiert und intellektualisiert ist. Die Liebe lässt sich, im Gegensatz zur Verliebtheit, der man ohnmächtig erliegt, dem Willen unterziehen. Die Richtung der Liebe geht zur geliebten Person hin (zentrifugal). 2 |  Hier gibt es eine große Debatte um die neurobiologischen Ursachen der Verliebtheit. Da es an dieser Stelle aber nicht um die Entstehung der Liebe, bzw. des Verliebtseins geht, sondern darum, was die partnerschaftliche Liebe ist, und da diese in einer deutlichen Abgrenzung zur Verliebtheit steht, wird diese Diskussion außen vorgelassen.

Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext

(Vgl. Ortega y Gasset, 1941: 265) Man kann am Anfangspunkt einer Beziehung bewusst entscheiden, ob man diesen Schritt wagen will: »Willst du mit mir gehen? Ja, nein, vielleicht.« Und ebenso kann man die Beziehung willentlich festigen – »Willst du mich heiraten?« – oder aus bestimmten Gründen beenden. Die Unterschiede zwischen diesem Verständnis von Liebe und der Verliebtheit liegen also zum einen in der besonderen Wahrnehmung des Objektes, zum anderen aber auch in der Auswahl, wen man liebt. Aufgrund der Erkenntnis, dass die Liebe im Gefühlskontext reflektierbar und gestaltbar ist, erscheint es als sinnvoll, die Liebe als »Gefühlsaktivität« (vgl. Ortega y Gasset, 1941: 285) zu bezeichnen. Dies lässt den Schluss zu, dass die Liebe ausbaufähig, entwickelbar, erlernbar ist. Ähnlich wie ein Schreiner, der sein Handwerk erlernen muss, handelt es sich auch bei der partnerschaftlichen Liebe um eine solche Fähigkeit, die erlernt, geübt und perfektioniert werden muss. Um die Fähigkeit der Liebe auszubauen, ist das Vorgehen mit jedem anderen Lernprozess vergleichbar. Der Schreiner muss zum einen über ein Wissen bezüglich der Materialien, der Verfahrensweisen und der Werkzeuge verfügen, zum anderen muss er dieses Wissen praktisch anwenden können. Erst wenn »die Ergebnisse [des] theoretischen Wissens und die Ergebnisse [der] praktischen Tätigkeit miteinander verschmelzen und [man] zur Intuition gelang[t]« (Fromm, 1995: 17), kann eine Fähigkeit zu ihrer vollen Entfaltung kommen.

3.3 Erotik Das (sexuelle) Begehren ist in vielen Abhandlungen über die Liebe ein wichtiger Bestandteil. Dennoch sind die Begriffe »Liebe« und »Sexualität« auch vollkommen unabhängig voneinander denkbar. Wie also ist der Zusammenhang von körperlicher Liebe und dem theoretischen Liebesmodell zu beschreiben? Hier schließt sich die Frage an, ob das körperliche Begehren ein notwendiger Bestandteil der Verliebtheit und der Liebe ist. Fakt ist, dass die erotische Komponente ein Merkmal ist, welches partnerschaftliche Liebe von anderen Formen der Liebe oder einer sehr engen Freundschaft unterscheidbar macht. Daher besteht nicht selten die Ansicht, dass Sex oder zumindest das geistige Verlangen nach körperlicher Nähe als notwendiger Bestandteil der Liebe begriffen werden muss. Sexualität kann als profane Metapher für den Wunsch nach Vereinigung angesehen werden, doch durch die Liebe wird das unreine, triebhafte, animalische Körperliche veredelt zu einer »reinen Unreinheit« – der Vervollkommnung mit dem anderen. Diese ist also nicht beliebig, denn man findet nicht in der körperlichen Vereinigung, dem Orgasmus, die Befriedigung, sondern in der »Verschmelzung mit dem Geliebten« (Ortega y Gasset, 1941: 281). Die Begeisterung für eine andere Person – die unlösliche Einheit der Seele und des Körpers – wecken das Begehren. Das Objekt geht hier also dem Begehren voraus. (Vgl. Ortega y Gasset, 1941: 280f) Biologische Faktoren wie die Reaktion auf bestimmte Reizschemata, Gerüche oder hormonelle Vorgänge werden hierfür als Basis zugrunde gelegt. Die Erotik lässt sich also bestenfalls als Bestandteil der partnerschaftlichen Liebe begreifen. Weder lässt sich eine Einflussnahme von der Sexualität eines Paares auf deren Liebesbeziehung abzeichnen, noch lassen sich die Begriffe synonym verwenden. Es erscheint daher als ausreichend, wenn die Sexualität bzw. das geistige Verlangen nach dem oder der Geliebten mindestens einmal in der Liebesgeschich-

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te eines Paares auftaucht, um diese Liebe von anderen Formen der Zuneigung abzugrenzen.

3.4 Liebe als personelle Instanz In dieser Verwendungsweise, der des nomens concretum, ist ein bestimmtes Objekt gemeint – eine Person, die nicht einfach ersetzt werden kann. Synonym könnten Aussagen wie »Du bist der tollste Mensch der Welt.« oder »Du bist der/die Einzige für mich.« verwendet werden. Die Verlobungsfrage »Willst du meine Frau/ mein Mann werden?« zeigt noch deutlicher, was gemeint ist: Möchtest du der eine Mensch für mich sein? Eine Pluralbildung ist grundsätzlich möglich, zum einen durch eine temporäre Verschiebung (mehrere Liebesbeziehungen im Laufe einer Biografie), die jedoch im jeweiligen Moment nur auf eine Person zutreffend ist. Man kann beispielsweise nicht frei von Ironie sagen: »Frauen sind die Liebe meines Lebens.«, »Erna ist meine große Liebe, zuvor war es Hannelore.« hingegen ist eine logisch kohärente Aussage. Doch auch eine Liebe abseits der Dyade ist natürlich denkbar. So ließe sich auch von zwei oder drei Partnerinnen oder Partnern sagen: »Ihr seid die Einzigen für mich.« oder »Ihr beiden seid meine große Liebe.« Doch hierbei müsste inhaltlich exakt definiert werden, was eine solche Aussage für die jeweiligen Adressaten zu bedeuten hätte und wie das Element definiert sein müsste, um Gültigkeit zu erhalten. Es geht darum, dass man als Geliebte oder Geliebter für den Liebenden durch den Kontext der Liebe zu etwas Besonderem wird.

3.5 Liebe als Institution Diese Verwendungsform schließlich meint keine konkrete, physisch existente Entität, sondern etwas Gleichbedeutendes wie Partnerschaft, Beziehung, Einheit, Verbindung, Ehe, Gemeinschaft, Zusammensein, Wir etc. Hier gibt es keine Pluralbildung. Diese Form der Liebe ist nur wechselseitig möglich. Es setzt also (im Gegensatz zu den beiden vorausgehenden Fällen) kein Ich als Autorin bzw. Autor voraus, sondern ein Wir. Die Wechselseitigkeit ist erforderlich, sonst entspräche die Aussage dem Fall der Substantivierung von »lieben« (II.). Die Bedeutung der Liebe als relationale, wechselseitige Bindung erfordert als Gegenüber eine Person. Während es in den ersten beiden Fällen denkbar wäre, dass auch ein Gegenstand oder Tier das Objekt der Liebe darstellen könnte, so ist es in diesem Fall durch die Wechselseitigkeit, welche Reflexions- und Artikulationsvermögen voraussetzt, unumgänglich, von einer Person auszugehen. Erfüllt sich nun dieses Kriterium der gleichen Wertigkeit, so ist noch nicht geklärt, warum man nicht einer anderen Person, welche die gleichen Eigenschaften innehat oder sogar bessere aufweist, den Vorzug geben sollte und warum andere Menschen »mein« Liebesobjekt nicht ebenso lieben. Es wird deutlich, dass die gemeinsame Geschichte eines Paares ein entscheidendes Merkmal ihrer Liebesbeziehung ist. Der andere ist über die Zeit hinweg zu einem Teil der eigenen Biografie geworden. (Vgl. Wilson, 1995: 33f) Hier gilt es, Kontinuität (continuity) und Beständigkeit (constancy) von Beziehungen zu unterscheiden, um ein adäquates Verständnis der Historizität zu schaffen.

Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext

3.6 Liebe als übergreifende Utopie »Love is all you need!« – Aufgrund der Präsenz des Phänomens Liebe lässt sich annehmen, dass diese in unserer heutigen Zeit den Status einer Religion erhalten hat oder den Platz besetzt, von dem die Religion stetig schwindet. Es lassen sich einige Parallelen zwischen dem derzeitigen Umgang mit der Utopie der Liebe und der christlichen Religion der vergangenen Jahrhunderte ziehen. So gilt für die Liebe ein Erlösungs- oder Heilsversprechen allerdings im Diesseits (»Mit dem nächsten Partner wird alles gut.«). Es besteht das System von Beichte und Absolution (die Individualität des Einzelnen wird durch den anderen in ganzer Form bejaht, auch mit den schlechten Seiten), bestimmte Rituale prägen den Alltag der Liebenden, die sich reziprok anbeten und vergöttern. »Religiöse Symbole und Rituale haben in der modernen Gesellschaft an Lebendigkeit und Relevanz für das tägliche Leben verloren, aber die Erfahrung der Liebe ist noch aktuell, und auch sie bietet wenigstens ansatzweise die Möglichkeit zur Erfahrung von Transzendenz. Ebenso wenig wie religiöse Erfahrung beherrscht die kulturell geformte Erfahrung der Liebe jeden Moment unseres Alltagslebens.« (Swindler, 2014: 365)

Die Liebe verspricht Gnade und es gibt zahlreiche Gebote, die zu befolgen sind, um eine erfüllte Liebe zu erhalten. Grundsätzlich lassen sich auch die christlichen zehn Gebote auf den Liebesglauben übertragen: Du sollst nicht lügen, du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, du sollst keine anderen »Götter« haben. Der Geliebte bzw. die Geliebte steht im Zentrum, ist Gottheit und Priester bzw. Priesterin zugleich, wird verehrt und angebetet und erteilt die Absolution im Sündenfall. Über diese Gebote hinaus bestehen weitere Regelwerke, Dating-Kodexe und normative Ratgeber, die festsetzen, wie man sich zu verhalten habe, um erfolgreich zu lieben und geliebt zu werden. (Vgl. Beck & Beck-Gernsheim, 1990: 231ff) Im Unterschied zum Universalitätsanspruch des Christentums oder anderer Weltreligionen erhält die Liebe einen privaten, individuellen Charakter. Es gibt keinen Kosmos, der die gesamte Weltordnung umgreift, sondern lediglich kleine Welten, die aus Ich und Du bestehen. Dazwischen gibt es »abgegriffene Symbole und Klischees (etwa rote Rosen) auch bei ansonsten kulturell anspruchsvollen und auf Originalität bedachten Personen« (Kuchler, 2014: 13) – Kosenamen, Musikstücke, Andenken an die gemeinsam erlebte Geschichte – die zu einem erlebten Gemeinsamkeitsgefühl beitragen, ähnlich der religiösen Symbole mit dem Unterschied der Individualisierung. Damit erhält die »Religion der Liebe« einen differenzierten Charakter. Ebenso ist sie nicht das einzige Phänomen, das in unserer Zeit Parallelen zu einer Religion zeigt. So können vergleichbare Darstellungen mit Konsumartikeln, Pornografie, Fußball, Karriere, Kindern, Selbstverwirklichung u.a. erstellt werden. Die Liebe ist also eine von vielen Nachreligionen, die unsere heutige Zeit prägen. (Vgl. Beck & Beck-Gernsheim, 1990: 238f) Und doch bietet sie eine »[…] paßgerechte Gegenideologie der Individualisierung. Sie betont die Einzigartigkeit, verspricht die Gemeinsamkeit der Einzigartigen, nicht durch Rückgriff auf ständische Überlieferungen, Geldbesitz, rechtliche Ansprüche, sondern kraft Wahrheit und Unmittelbarkeit des Gefühls, des individuellen Lebensglaubens und seiner jeweiligen Personifizierung. Die Instanzen der Liebe sind die vereinzelten Individuen, die nur kraft ihrer Begeisterung für-

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Veronika Fischer & Daniel Get zberger einander sich das Recht nehmen, ihr eigenes Recht zu schaffen« (Beck & Beck-Gernsheim, 1990: 239).

4. L iebe als U nterrichtsthema Wie gesehen, ist der Liebesbegriff eine institutionalisierte Komponente des Alltags, der Lebenswelt und der Kultur, welche sich aufgrund des amorphen Bedeutungshorizontes schwer zu fassen gibt und sich zudem einem konsistenten philosophietheoretischen Zugriff zu verweigern droht. (Vgl. Hähnel, 2015: 9ff) Es bedarf einer Didaktik des reflektierten und verantwortungsvollen Zugangs zu sich wandelnden Partnerschafts- und Beziehungsformen bei heranwachsenden Jugendlichen, die direkt bei diesen Jugendlichen und ihrer Lebenswelt, ihren eigenen Erfahrungen, Überzeugungen und Wertemustern ansetzt und bestrebt ist, das asymmetrische Interaktions- und Kommunikationsmuster zwischen Lehrkraft und Klasse für dieses sensible und (wechselseitiges) Vertrauen voraussetzende Themenfeld zumindest und wenigstens anfänglich und teilweise aufzubrechen, um die Diskurshoheit zunächst bei den Jugendlichen selbst anzusiedeln, während der Lehrkraft in erster Linie moderierende, ausgleichende und informationsgebende Funktionen zukommen. Mit dieser sprachphilosophischen Basis kann der Versuch unternommen werden, das formelle Bildungsziel der Liebe für die praktische Unterrichtsgestaltung aus seinem formalen Kontext zu lösen, ergebnisoffen und nah an den Jugendlichen zu diskutieren sowie semantische Missverständnisse zu vermeiden. ›Die‹ Liebe ist Teil eines formalen Bildungskodexes und fordert beispielsweise als Kompetenzfeld »Liebe, Ehe, Familie« der baden-württembergischen Bildungsstandards für den Ethik-Unterricht an allgemeinbildenden Gymnasien, welche im Folgenden exemplarisch verwendet werden, eingehende Behandlung ein. So heißt es dort etwa, dass die Schülerinnen und Schüler in Klassenstufe 9/10 »die Bedeutung von Liebe und Freundschaft für eine humane Lebensführung darlegen« können und sich darüber hinaus eingehend mit dem »Problemfeld der Moral« in Verbindung mit Ehe und Familie auseinandersetzen. (Vgl. Bildungsplan, 2004: 67) Dabei bleibt offen, welche Form der Liebe gemeint ist, welche Bedeutung sie besitzen soll und was sie denn überhaupt und ihrem Wesen nach ist. Dies zudem vor dem Hintergrund, dass ihre Thematisierung in einem schulischen Kontext erfolgen soll, der durch das klassisch asymmetrische Verhältnis zwischen Lehrkraft und Klasse und die Klassenverbundstruktur ein offenes Sprechen über persönliche Einstellungen, Erwartungen und Erfahrungen hinsichtlich eines für jugendliche, vor gravierende Entwicklungsaufgaben gestellte Schülerinnen und Schüler sehr sensiblen und intimen Bereiches nicht unbedingt vereinfacht. (Vgl. Kern-Felgner & Zwingmann, 2014: 462-473) Es bedarf demnach eines didaktischen Ansatzes, der es für die Unterrichtspraxis mit heranwachsenden Jugendlichen ermöglicht, einen reflektierenden und verantwortungsvollen Zugang zu sich im Wandel befindlichen Partnerschafts- und Beziehungsformen zu schaffen. Um dies zu erreichen, erscheint es notwendig, ausgehend von der Perspektive der Schülerinnen und Schüler sowie der Lebenswelt der Jugendlichen ein Grundverständnis vom Wesen der Liebe zu erarbeiten und fortfolgend zu eruieren, welche Bedeutung Liebe hinsichtlich der individu-

Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext

ellen Lebensführung im Allgemeinen und der Partner- und Beziehungswahl im Besonderen besitzen kann. Hierbei können dann etwa auch Fragen aufgeworfen und verhandelt werden, welche Vorstellung wir von einer (gelungenen) partnerschaftlichen Beziehung haben, welche Erwartungen an den/die jeweilige/n (potentielle/n) Partner/in damit verbunden sind und wie soziokulturelle Faktoren hinsichtlich geschlechtlicher Rollenbilder den Menschen in seiner persönlichen Lebensführung beeinflussen (können). Sowohl den Schülerinnen und Schülern als auch den Lehrkörpern sollte dabei jedoch stets die dem Liebesbegriff inhärente Unschärfe und seine interpersonelle Verhandelbarkeit als Voraussetzung bewusst sein, um eine aufgeschlossene, vertrauensvolle und von wechselseitiger Toleranz geprägte philosophische Diskussion innerhalb des »Schutzraums« Klassenzimmer ermöglichen zu können. Für die offene schulische Verhandlung dieses für die Heranwachsenden sehr persönlichen Themenfeldes spielen zudem weitere Faktoren eine zentrale Rolle, die hier aber nur kurz angedeutet werden sollen. So ist neben der respektvoll-zugewandten, auf Vertrauen basierenden Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern mit der Lehrkraft insbesondere auch eine von wechselseitiger Toleranz und Respekt geprägte Interaktion innerhalb der Klasse relevant, ebenso wie die geschlechtliche und kulturell-religiöse Zusammensetzung der Ethik-Lerngruppe. Hierbei ist zudem zu beachten, dass zusätzlich zu den regulären alters- und geschlechtsspezifischen Herausforderungen oftmals eine Unsicherheit hinsichtlich des Preisgebens persönlicher Werteinstellungen und Erwartungen vorhanden ist, die durch die Zusammensetzung von Ethik-Lerngruppe aus unterschiedlichen Klassen und damit mitunter eher unvertrauten und unbekannten Mitschülerinnen und Mitschülern weiter erschwert wird. (Vgl. Kern-Felgner & Zwingmann, 2014: 462-473; Abele, 2014: 423-430)

5. Ü berlegungen zur didak tischen U mse t zung des L iebesbegriffs im U nterricht Die baden-württembergischen Bildungsstandards für allgemeinbildende Gymnasien sehen das Kompetenzfeld »Liebe, Ehe, Familie« für die Klassenstufe 9/10 vor und rechnen es dem Kompetenzbereich »Problemfelder der Moral« zu. Als Leitlinien des inhaltsbezogenen Kompetenzerwerbs heißt es darin: »Die Schülerinnen und Schüler können Bedingungen für gelingende/misslingende Partnerschaft formulieren und Möglichkeiten verantwortlichen Umgangs mit Sexualität erörtern; Formen des Allein- und Zusammenlebens im Hinblick auf Probleme, Zukunftschancen und eigene Erwartungen bewerten.« (Bildungsplan, 2004: 68) Als »Problemfeld der Moral« ist weiterhin »die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten und für die Entwicklung von Jugendlichen folgenreichen Herausforderungen« (Bildungsplan, 2004: 62) definiert, die sich – so der Bildungsplan – im »Verhältnis von Liebe, Ehe, Familie« (Bildungsplan, 2004: 63) zeigen. Zusätzlich zur Behandlung von Liebe als Problemfeld der Moral finden sich in den Bildungsstandards weitere Einbettungen des Themenfeldes in den Kompetenzbereichen Anthropologie und Moralphilosophie. So heißt es bezüglich des Kompetenzfeldes »Lebensgestaltung«: Die Schülerinnen und Schüler können »die

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Bedeutung von Liebe und Freundschaft für eine humane Lebensführung« (ebd.: 67), sowie hinsichtlich des Kompetenzfeldes »Sozialität«, »den gesellschaftlichen Wandel des Rollenverständnisses (sex and gender)« (ebd.: 67) darlegen. Bei Betrachtung dieser Zielvorgaben lässt sich mithin überlegen, ob eine solche klar definierte und überwiegend vom Ende her gedachte, ergo zuvorderst outputorientierte und im Hinblick auf die Verknüpfung mit Ehe und Familie doch recht eng gefasste Perspektive im Kontext eines zeitgemäßen Unterrichts bei Adoleszenten (noch) als sinnvoll erscheint. Dies zeigt sich deutlich bei Betrachtung des ersten Standards, der Schülerinnen und Schülern zunächst lediglich eine Formulierung, d.h. bloße Wiedergabe von nicht genauer definierten Bedingungen für gelingende/misslingende Partnerschaft abverlangt, ohne dass diese eingehender betrachtet oder hinterfragt werden sollten. Geht es hingegen um die kritische Reflexion von Formen des Allein- und Zusammenlebens, wird die priorisierte Nennung von damit in Verbindung stehenden Problemen augenfällig. Die ab dem Jahr 2016 sukzessive neu einzuführenden Bildungsstandards für die Gymnasien in Baden-Württemberg tragen dieser Problemengführung Rechnung und wählen einen stärker schülerinnen- und schüler- sowie lebensweltorientierten Kompetenzzuschnitt. Beim in »Liebe und Sexualität« umbenannten Kompetenzfeld steht nunmehr die Erfassung von Liebe und Sexualität für die eigene Lebensgestaltung der Schülerinnen und Schüler und die anderer im Vordergrund. (Vgl. Bildungsplan, 2016: 23) Dabei sollen insbesondere »verschiedene Vorstellungen von Liebe und Sexualität im Spannungsfeld von Selbstbestimmung, Verantwortung und gesellschaftlichen Erwartungen untersuch[t], bestimm[t] und diskutier[t]« (Bildungsplan, 2016: 23) werden. Diese Neuformulierung ist bemerkenswert, vor allem aus zwei Gründen: Zum einen kommt es zu einer klaren, wörtlichen Benennung des eigentlich virulenten Themenfeldes, der Liebe als solcher, die sich nicht mehr nur im symbiotisch suggerierten Verhältnis zu Ehe und Familie enthüllt. Zum anderen ist nicht mehr länger von Problemen die Rede, sondern von einem Spannungsfeld, das sich zwischen eigenen Liebeserwartungen der Schülerinnen und Schüler und denen der Gesellschaft auffächert. Dies schließt hinsichtlich der Kompetenzanforderungen an den als zentral zu erachtenden Bildungsstandard des noch gültigen Bildungsplanes an, »die Bedeutung von Liebe und Freundschaft für eine humane Lebensführung darlegen« zu können. (Vgl. Bildungsplan, 2004: 67) So sind denn hier die eigentlichen Grundlagen gelegt für einen Zugang zur Frage nach dem Wesen der Liebe im schulischen Kontext, die eine angemessene und horizonterweiternde Behandlung dieses in jeglicher Hinsicht großen Themenfeldes überhaupt erst ermöglichen. Denn bevor es zu einer Bewertung dessen kommen kann, was eine »gute« bzw. »gelingende« Partnerschaft ausmacht und wie unterschiedliche Beziehungsformen im Hinblick auf ihre Güte bewertet werden können, erscheint es zunächst unabdingbar, den sich in einem Reifeprozess befindlichen Jugendlichen den Raum zu geben, für sich und aus sich heraus die Frage zu beantworten, was (das Wesen der) Liebe ist, ganz ohne engführendes, normatives Konzept, das bestimmte Wertvorstellungen wie erlernbare Wissensinhalte den Lernenden schlichtweg überstülpen möchte. Es bedarf mithin einer Didaktik eines reflektierenden und verantwortungsvollen Zugangs zu sich wandelnden Partnerschafts- und Beziehungsformen bei heranwachsenden Jugendlichen, die direkt bei diesen ansetzt.

Missverständnisse der Liebe – Eine Begriffsanalyse im Bildungskontext

Mit diesem didaktischen Ansatz kann der Versuch unternommen werden, das formelle Bildungsziel der Liebe für die praktische Unterrichtsgestaltung aus seinem formalen Kontext zu lösen und ergebnisoffen und schülernah zu diskutieren. Dies trägt dabei insbesondere einer zentralen Befähigung der Schülerinnen und Schüler Rechnung – einer Analyse und Reflexion ihrer eigenen Neigungen und Interessen. (Vgl. Bildungsplan, 2004: 68) Aus philosophiedidaktischer Perspektive knüpft die Behandlung des Themenkomplexes »Liebe« insbesondere bei den Überlegungen Kants und Martens an. Im Mittelpunkt steht das eigenständige (Nach-)Denken und Urteilen der Schülerinnen und Schüler, das »denken und philosophieren lernen« (Kant, AA II.: 306) und eben nicht das Lernen vorgefertigter, ›erlernbarer‹ Gedanken und Philosophien. Dies gilt generell, aber umso mehr und in dreifacher Weise bei a) der Thematisierung des Wesens der Liebe und den damit zusammenhängenden Fragen nach einem reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit und in partnerschaftlichen Beziehungen innerhalb eines b) schulischen Kontextes bei c) heranwachsenden Jugendlichen. Im Vordergrund steht demnach eine Schulung der Denktätigkeit und Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, die ihren Ausgangspunkt bei ihren ganz eigenen Einstellungen und Präkonzepten, ihren Erfahrungen und in ihrer persönlichen Lebenswelt nimmt, um diese in einem Prozess des gemeinsamen (Nach-) Denkens und argumentativen Austausches unter Anleitung und Führung der Lehrperson kritisch zu hinterfragen und auf ihre Gültigkeit und Angemessenheit hin zu prüfen, sodass die Schülerinnen und Schüler letzten Endes zu einem validen und eigenständigen, aber eben nicht vorherbestimmten Urteil gelangen können. (Vgl. Kant, AA II.: 301ff) Das Nachdenken über die Liebe und ihre Bedeutung für die eigene Lebensführung und -gestaltung, das bei den Vorstellungen der Jugendlichen seinen Ursprung nimmt, ist daher im besten Sinne ›populärphilosophisch‹. (Vgl. Martens, 2016: 24) Es entspricht dem von Martens als »elementare Kulturtechnik« beschriebenen Prinzip des Philosophierens, und zwar insofern, als es »im Rahmen der Schule zum Zweck der Kritikfähigkeit und Persönlichkeitsbildung« (ebd.: 31) durch autonomes Denken und miteinander Diskutieren über »Grundannahmen unseres alltäglichen […] Denkens« (ebd.) zu erlangen ist, was eben »keine elaborierten Fachkenntnisse voraussetzt [sondern] im Prinzip von jedermann praktiziert werden kann« (ebd.: 32). Es gilt somit weder zu wissen, was Liebe ist, noch kann es im Sinne einer intendierten Befähigung zum aufgeklärten und reflektierten SelbstDenken sein, vorzugeben, wie die Heranwachsenden für sich das Wesen der Liebe zu definieren und zu verstehen haben. Allerdings stellt sich die Frage hinsichtlich der methodischen Umsetzbarkeit dieses didaktisch vorwiegend kompetenzorientierten (im Gegensatz zu einem stärker wissensorientierten) Ansatzes. Auch hier kann wiederum auf Martens verwiesen werden, der sich gegen einen Methodenmonismus und stattdessen für dezidierten Methodenpluralismus und für Methodenvernetzung ausspricht, und zwar im Sinne einer integrativen Verknüpfung phänomenologischer, hermeneutischer, analytischer, dialektischer und spekulativer Unterrichtsmethoden. (Vgl. ebd.: 68) Ausgehend von der Praxis sokratischen Philosophierens schlägt Martens ein Modell vor, das die fünf genannten Methoden miteinander zu verweben sucht und so unterschiedliche Zugänge und Perspektiven auf die in Frage stehende Thematik

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eröffnet. Die jeweiligen Einzelmethoden sind dabei nicht im Sinne ihrer fachwissenschaftlichen Definition zu verstehen, sondern vielmehr als ein simplifiziertes Abbild, das in seinen Grundzügen den jeweils spezifischen Herangehensweisen entspricht. (Vgl. Martens, 2016: 48ff) Die phänomenologische Methode fordert nach Martens somit, von (Brüchen in) Alltagserfahrungen oder empirischen Befunden auszugehen, sprich (persönliche) Beobachtungen, Empfindungen und Wahrnehmungen für eine nähere Bestimmung oder Einkreisung des in Frage stehenden (Unterrichts-)Gegenstandes heranzuziehen, wohingegen die hermeneutische Methode zuvorderst auf das Lesen und Interpretieren philosophischer Texte abzielt. Mittels der analytischen Methode können Begriffe untersucht und Prämissen und Argumente auf ihre logische Konsistenz hin geprüft werden, die dialektische Methode erlaubt das Verhandeln und Abwägen unterschiedlicher Perspektiven und Ansichten und die spekulative Methode das kreative Weiterführen von Denkansätzen. (Vgl. Martens, 2016: 54)

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Kapitel II Bildung ohne Liebe? – Problemanzeigen

Bildung und Liebe – (k)ein Widerspruch(?) Ein Essay über eine unter den gegebenen Umständen paradoxe und schier unmögliche Selbstverständlichkeit Hubert Brenn Wir waren jung, so wild und frei, doch als die Schule kam, war das vorbei. Sie stopften uns mit Wissen aus, mit allem Möglichen, was man nie braucht. Physik, Chemie und Algebra und wann Napoleon in Russland war, und wie der Mensch sich hier vermehrt. Gott und die Propheten, was Sünde ist und Beten, alles hat man uns gelehrt. Doch wie man liebt, das hat uns keiner beigebracht. Ich weiß bis heut’ noch nicht genau, wie man das richtig macht. Ich hab’ geglaubt, es wär ganz einfach, das kann doch jeder hier, doch dass man lieben lernen muss, weiß ich erst von dir. (Matthias Reim: Wie man liebt. Songtext)

1. B ildungsziel : H erzensbildung Der im voranstehenden Liedtext erhobene Vorwurf stimmt mich nachdenklich. Ja, man hat vieles zu lernen im Laufe seiner Lebens- und Lerngeschichte. Nicht nur, aber vor allem in der zu diesem Zweck eingerichteten Institution Schule und vergleichbaren Bildungseinrichtungen. Aber ob es das Richtige ist und man damit das Auslangen findet? Dabei wäre es eigentlich ganz einfach. Letztlich ist und bleibt es eine Frage des Umgangs miteinander. Dieser kann liebevoll, personal ausgerichtet, partnerschaftlich und wertschätzend, achtungsvoll und achtsam ausfallen, oder aber von oben herab, beherrschend, machtansprüchlich und herabsetzend, diskriminierend und verletzend, zurückweisend und beziehungstötend. An den

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Reaktionen und Ergebnissen ist schlussendlich abzulesen und zu erkennen, welcher Art der Umgang jeweils ist oder war, beziehungsweise wie er empfunden und wahrgenommen wurde. Wo positive zwischenmenschliche Beziehungen tonangebend waren, wo Begegnungen und wahre Menschlichkeit im Vordergrund standen und es nicht bloß um Zweckhaftigkeit und Funktionalität ging, wo man sich als Individuum verstanden, voll angenommen, wertgeschätzt und akzeptiert sowie respektiert und auch geliebt fühlen durfte, daran erinnert man sich gern und denkt man wohlwollend sowie mit positiven Gefühlen zurück. Wie die Mitmenschen mit einem umgegangen sind, kann man einordnen, und selbst wenn ab und zu einmal unangenehme Maßnahmen zu ertragen sind oder waren, so erkennt man die dahinter stehenden Fördergedanken und die wohlmeinenden Absichten im Zugeständnis des Bemühens um die persönliche Weiterentwicklung. Bildung ist ein vielschichtiger Begriff und bezeichnet im weitesten Sinn den »Vorgang des Entfaltens der geistigen Anlagen, des Erziehens und dessen Ergebnis« (Pfeifer et al., 1993: 138). Ob jemand als gebildet aufgefasst werden kann, wird vorerst durchwegs vom Bildungsergebnis abhängig gemacht. Persönlichkeits- und Herzensbildung gelten als weitgehend anerkannte bedeutsame Bildungsziele. Von gebildeten Menschen darf u.a. erwartet werden, dass sie auch die Kunst des liebevollen Umgangs miteinander beherrschen und sich darum bemühen. »Eine wohlverstandene Bildung, so könnte man folgern, ist nicht etwas, was man hat, sondern etwas, was man praktiziert.« (Precht, 2013: 30) Doch nicht selten weit gefehlt. Da gibt es beispielsweise so etwas wie den »Tatort Schule. Wo mit Gleichgültigkeit und Kälte Kinderseelen zerbrochen werden« (Salcher, 2009: 53). Die Schlagzeilen in den Printmedien sind immer wieder übervoll damit. Was den unabdingbaren Ruf nach Liebe in der Gesellschaft wie im Bildungsgeschehen aufkommen lässt, im kleinsten gemeinsamen Nenner verstanden als »starkes Gefühl der Zuneigung, Barmherzigkeit, Mildtätigkeit« (Pfeifer et al., 1993: 799). Liebe hat viel mit Emotionen, Vorstellungen, Erfahrungen, Wünschen, Praktiken und Erwartungen zu tun (vgl. Precht, 2010: 258ff). Sie äußert sich u.a. in der »Lebensform« eines Menschen: »In ihrer höchsten Entfaltung ist die soziale Geistesrichtung Liebe« (Spranger, 1966: 194). Dabei bestimmt die wertschätzende Ausrichtung auf die Eigenheiten und Bedürfnisse eines oder mehrerer Mitmenschen das konkrete individuelle Handeln und Tun. In den älteren Erziehungslehren wird diese Liebe in der Form einer spezifischen, eigentümlichen Hingabe an Kinder und Jugendliche bzw. an die erzieherischen Tätigkeiten im Verständnis von Anreiz, Wertschätzung, Fürsorge und Verantwortung benannt (vgl. Netzer, 1972: 52, 64). Mittlerweile ist der Begriff eines in diesem Sinn verstandenen »pädagogischen Eros« in der Fachliteratur kaum bis gar nicht mehr auffindbar (vgl. Raithel et al., 2009: 149f). Vieles deutet darauf hin, dass unsere Gesellschaft vielfältige Probleme im Umgang mit der Liebe in allen ihren Erscheinungsformen und Schattierungen hat, sie ist in vielfacher Hinsicht eine gegenüber den Anliegen und Nöten der Mitmenschen oft abgestumpfte, gleichgültige und lieblose geworden. Ohne Liebe jedoch ist alles nichts, wie man in Abwandlung eines Sprichworts ohne Übertreibung feststellen kann.

Bildung und Liebe – (k)ein Widerspruch(?)

1.1 Lernen bedeutet die Vielfältigkeit des Lebens zu spüren Kinder und Jugendliche erfahren die Gegebenheiten ihrer Um- und Mitwelt, in der sie leben, im Verlauf ihres Sozialisationsprozesses, lernen sie kennen und verstehen und versuchen darin ihren eigenen Platz zu finden. Vor allem die Sozialisationsinstanzen Familie und Schule sowie die Art ihres Zusammenwirkens spielen dabei durch ihre Eigenheiten und die Modalitäten der erteilten Unterstützung eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der an sie herangetragenen Aufgaben und Herausforderungen (vgl. Buchebner-Ferstl, 2017: 1-4, bezugnehmend auf Kapella et al., 2017). Erziehung also als Beziehung einerseits und Lebenshilfe andererseits. Dem gegenüber stehen Erlebnisse und Erfahrungen, die beim Einzelnen unter Umständen Gefühle von Kleinheit und Unterlegenheit, von Schwachheit, Unvermögen und Fremdbestimmtheit aufkommen lassen. Man kann sich nicht nach eigenen Vorlieben und Neigungen entfalten und betätigen, sondern hat vor allem und hauptsächlich das zu machen, was einem vorgegeben und aufgetragen wird. Dabei wird man ständig überwacht, kritisiert und korrigiert, zur Steigerung der Bereitschaft, sich den fremden Ansprüchen zu öffnen und unterzuordnen, häufig oberflächlich und unehrlich gelobt und manipuliert. Und am Ende überwiegen Ablehnung, Negatives und Unerfreuliches. Man geht den Forderungen aus dem Weg, so gut es geht, leistet Widerstand, oft mit einem hohen Risiko, da der vollkommene Ausschluss bis hin zur Selbstvernichtung als mögliche Folgen drohen, und man beginnt sich zurückzunehmen und zu verkapseln, reduziert sich auf das Erbringen von Minimalleistungen, nimmt Scheinanpassungen auf sich und geht alle möglichen Risiken ein. Die Starken halten durch und überleben alles irgendwie, einige mit größeren Abstrichen und Schäden, andere mit weniger dramatischen Ausfällen. Aber das beeinträchtigte Selbstbild und die Ablehnung von möglichst allem, was dazu geführt hat, sind da und bleiben. Man kann sich dann zwar darüber lustig machen oder darüber schimpfen, Alternativen aufzeigen oder es einfach relativieren und sogar ignorieren, aber aus der Welt schaffen kann man es nicht mehr. Es haftet einem an, oft ein ganzes Leben lang. Noch schlimmer erwischt es die Schwachen, die leiden und erdulden, die nicht die Kraft auf bringen, sich ausreichend zur Wehr zu setzen und mit der Zeit krank werden (vgl. Brenn, 2006a: 20-27), die versuchen, die große Belastung mit sich herum zu schleppen und davon irgendwie erdrückt werden. So verlaufen leider viele der üblichen Schulkarrieren. Es sind nur wenige, die sich gerne daran zurück erinnern und kein Haar in der Suppe finden. Für viele war es ein Horror und eine Schreckensherrschaft. Sie haben nicht für das Leben gelernt, sondern einzig für die Schule, für irgendwelche Erwartungen von irgendjemandem. Für die Noten. Sie haben nachgeplappert und auswendig gelernt, sie haben wiedergekäut und Unverdautes ausgespuckt. Mit vielem konnten sie nicht viel bis nichts anfangen. Sie haben es nur wenig als hilfreich und nützlich eingeschätzt. Vieles war für sie überflüssiger Ballast und hatte nichts mit ihrem Leben zu tun. Es ist nicht gelungen, ihnen die Bedeutung des Gelernten und Vermittelten für die persönliche Entwicklung, Bildung und Lebensgestaltung wie für die Bewältigung zukünftiger Anforderungen aufzuzeigen und nahe zu bringen. Sie erlebten Schule und Unterricht als etwas, dem man nicht entkommen konnte, obwohl man alles daran setzte, es so weit als möglich zu versuchen. Man wurde Minimalist. Man passte sich an. Man machte das, wofür man verstärkt wurde und die Leckerlis erhielt. Sogar Ge-

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fühle, Regungen und Empfindungen wurden verfremdet (vgl. Brenn, 2006b: 3537). Sie haben gelacht, wenn es erwartet wurde, und sie schauten betroffen drein, wenn man es sollte. Wenn man wirklich lachen wollte, musste man es hinter vorgehaltener Hand machen, und wenn einem zum Weinen zumute war, tat man es am besten daheim im stillen Kämmerlein, wo es die anderen nicht sehen konnten. Sonst wäre man zum seelischen Schmerz dazu noch ausgelacht, verhöhnt und verspottet worden. Der Zugang zur faszinierenden Welt des Geistes, der Erkenntnis und des Wissens, die erschlossen werden sollte, wird erschwert, oft unmöglich gemacht und zubetoniert, verbogen und für immer verschlossen. Bestehende lebendige Neugierde und Lernlust wie Erfahrungsfreude verkommen zu Demotivation und Desinteresse. Bildung nunmehr verstanden als »lebenslanger Prozess, der auf der erfolgreichen Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben basiert« (Buchebner-Ferstl, 2017: 1). Es ist leider oft eine tragische Entwicklung. Es liegt am Umgang miteinander, mit den Dingen und Inhalten, mit den Lerngegenständen und Lernwegen, mit den Lernprodukten und Vorkommnissen. Der Umgang formt den Menschen. Von Liebe rundum häufig keine Spur weit und breit. Es ist letztlich ein liebloses System (vgl. Brenn, 2017: 1281ff), in welchem die normierende Kraft des Faktischen die Regeln bestimmt. Das diesbezüglich betreffende und in Frage kommende System, das Schulsystem, ist manchmal wenig menschenfreundlich. So sagte z.B. der Berliner Schauspieler Fahri Yardim: »Unser Schulsystem halte ich für eine veraltete absolute Fehlkonstruktion«. Es gehe um ein Leistungsprinzip, »das dir eingehämmert wird. Verbunden mit unsagbarer Angst zu versagen.« Seine Kollegin Anna Maria Mühe (zit.n. Anonymus/dpa, 2017: 26) ergänzte: »Wenn du dir unter permanentem Druck Wissen eintrichtern musst, verlierst du die Lust und die Neugier am Lernen.« Beinahe wie andere Zwangseinrichtungen, in die man nicht freiwillig ginge, wenn man nicht müsste und dazu verdonnert würde. Wie oft habe ich weinende, schreiende Kinder erlebt, die sich verzweifelt und ängstlich an ihre Mütter oder Großeltern klammerten, an die Leute, die sie frühmorgens brachten und herschleppten, beinahe einlieferten. Einige waren nur schwer zu beruhigen, bei anderen gelang es überhaupt nicht. Andere ließen es abgestumpft und apathisch mit sich geschehen. Sie hatten wohl eingesehen, dass Widerstand letztlich zwecklos war und nichts fruchtete. Gutes Zureden und freundliche Worte konnten nicht viel ausrichten. Dabei wäre es doch ein Leichtes, müsste es doch sein, ihre natürliche Aufgeschlossenheit, unendliche Lernbereitschaft und große Offenheit zu nutzen, zu fördern und zu erhalten. Ich habe es erlebt, dass Jugendliche vor den Toren ihrer Schule scharenweise Halt machten, umdrehten, in einer Art irrationaler Panik die Flucht ergriffen und das Weite suchten. Das System, welches die Schicksale und das Lebensglück gar nicht weniger auf dem Gewissen und auch in der Hand hat, verkennt die Ursachen, sagt dazu Schulschwänzen, nennt es Schulverweigerung oder Schulabsentismus, und nach den mühsamen und leidvollen Jahren der Erfüllung der Schulpflicht werden viel zu viele zu sogenannten Schulabbrechern bzw. Schulabbrecherinnen. Beinahe ein Fünftel unserer jungen Menschen gehen im Europa unserer Tage diesen Weg. Welches Potenzial hier verschleudert wird und ungenutzt bleibt! Kann sich der Kontinent und können sich die einzelnen Länder das überhaupt leisten? Es sind Tragödien, die sich dabei häufig ereignen. Jeder Mensch zählt und hat ein durch die Menschenrechte vorgegebenes Anrecht auf größtmögliche Entfaltung und Förderung seiner Potenziale, Möglichkeiten und

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Anlagen. Jedem derartigen Schulschicksal, jeder problematischen Lerngeschichte geht eine lange Leidensgeschichte voraus. Tolle wissenschaftlich abgesicherte und aussagekräftige, aber beinahe schon menschenverachtende Begriffe wie »Schulversagen«, »Drop-outs« und »Early-School-Leavers« vermögen das jedem einzelnen Fall zu Grunde liegende große menschliche Elend und Leid nicht zu verschleiern. Es dürfte nie so weit kommen, dass die aversiven Gefühle die Überhand erlangen. Eine solche Forderung wird allenthalben Zustimmung finden. Aber das ist wie ein Reden gegen den Wind, das von diesem übertönt und von niemandem gehört wird. Man ist wie ein einsamer Rufer in der Wüste. Alle wissen es, das einschlägige Wissen füllt Bibliotheken und Studierzimmer, ist weit verbreitet und bekannt. Es ist halt zugestandenermaßen um vieles einfacher, über Umgang und Beziehung hochgelehrt und abstrakt daherzureden als handfeste pragmatische Hilfestellungen zu geben. Es ist meines Erachtens zutreffend, wie Hermann Nohl den sogenannten »pädagogischen Bezug« in seiner dyadischen Grundstruktur auffasst: »Die Grundlage der Erziehung ist […] das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, daß er zu seinem Leben und zu seiner Form komme.« (Nohl, 1963 [1933]: 134, zit.n. Raithel et al., 2017: 149f)

Freilich ist die Befindlichkeit einer Person in einem hohen Grad von subjektiven Komponenten bestimmt und abhängig. Schule und alle damit in Zusammenhang stehenden Aspekte und Variablen tragen jedoch zweifelsohne maßgeblich dazu bei, wie ein Kind oder Jugendlicher bzw. eine Jugendliche sich selbst in seiner oder ihrer individuellen Lebenswelt wahrnimmt (vgl. Kittl-Satran et al., 2006: 43-100; Eder, 2007: 30-179). Es sind einfach zu viele, die auf der Strecke bleiben, die nicht das Gefühl haben, weiter zu kommen, oder dass man ihnen dabei etwas Gutes antut, eher im Gegenteil, und die regelrecht Schaden nehmen.

1.2 Auf die Lehrenden kommt es vor allem an Das System kann also ein krankmachendes sein. Lehrende können davon genauso betroffen sein wie Lernende (vgl. Brenn, 2002: 84-89; 2008: 16-20; 2016: 32-43). Das ist dann das Heer jener, die halt recht und schlecht schauen, irgendwie über die Runden zu kommen, Dienst nach Vorschrift machen, nur ja nicht mehr, und die froh sind, wenn bald einmal nach Mittag die Schulglocke läutet und sie sich wieder in ihre vier Wände zurückziehen können, wo dann das wahre, das wirkliche, das eigentliche Leben stattfindet, jedenfalls außerhalb der Schulmauern. Denn was sich dort tut, hat mit dem realen Leben oft wenig zu tun. Vielleicht »another brick in the wall«, wie es im Lied der englischen Gruppe Pink Floyd heißt. Schule ist manchmal eine Scheinwelt, eine Parallelwelt mit eigenen Regeln und Gesetzen aus ursprünglichen, aber längst vergangenen Zeiten, die in der modernen Lebenswelt oft noch nicht angekommen sind, am Leben erhalten von fanatischen Schreibtischtäterinnen und Schreibtischtätern und verstaubten Aktenstaplern. Wo vor allem diejenigen Förderung und Hilfe erfahren, die es nicht bräuchten, während jene, die darauf angewiesen wären, einer beinharten Selektion und Auslese unterzogen werden, weil immer noch nach dem Aschenputtel-Prinzip gehandelt und vorgegangen wird. Die angepassten Einsersammler und Streber stehen höher im Kurs als die eigenständigeren und daher manchmal unbequemen Schülerinnen und Schü-

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ler mit pädagogischen Herausforderungen und Neigung zur Selbstständigkeit im Denken und Handeln bei geringer Anpassungsbereitschaft an schematische Abläufe und Vollzüge. Viele Wege führen bekanntlich zum Ziel, und vor allem nicht ein gleicher Weg für alle. Wer sich dabei schwer tut, bedarf eben spezieller Hilfestellungen und spezifischer Betreuungsformen und Lernangebote. Lernen und Werden, Sich-Entwickeln, Entfalten und Wachsen ist ein lebendiges Geschehen und hat mit dem Leben zu tun, basiert auf Kreativität, Schöpfungsgeist und Erfindungsgabe und muss daher frei gestaltet werden, nicht primär paragraphengesteuert und dadurch normbezogen verwaltet. Der gesamte Apparat des Schulsystems ist schlichtweg überreguliert, bräuchte somit dringend Deregulation und mehr Autonomie, damit den darin tätigen Akteuren mehr kreative Handlungsfreiheit zugestanden wird und sie die für gelingendes Lernen und nachhaltige Lernergebnisse erforderlichen Spielräume vorfinden, um originale Bildungsprozesse zu ermöglichen. Wohin die strikte Bindung an Rechtsnormen führt, zeigt sich vergleichsweise im Strafrecht und in den Besserungsanstalten und Zuchthäusern, in welchen die angestrebte Resozialisierung häufig nicht im gewünschten und erhofften Maße gelingt, wie die Rückfallquoten zeigen. Solche wie auch die in der Psychiatrie gängigen defektologischen und defizitären Beschädigungskonzepte erweisen sich diesbezüglich als durchwegs ungeeignet. Sie sind falsche Denkmodelle, Ansätze und Ausgangspunkte. Pädagogisches – erzieherisches wie unterrichtliches – Tun erfordert in jeder Hinsicht ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein und muss daher vorzugsweise unter zwischenmenschlichen und ethisch-moralischen Gesichtspunkten erfolgen und solchen Rechtfertigungen unterzogen werden, um Beliebigkeiten und Willkürlichkeiten zu vermeiden. Darauf wäre in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung hauptsächlich zu achten (vgl. Brenn, 2007: 163-173; Precht, 2013: 140ff; Liessmann, 2017: 58ff). Mit manchmal recht fragwürdigen Auswahlverfahren und Methoden der Eignungsfeststellung wird Kandidatenauslese betrieben und dabei wieder dem Gott und Moloch Norm gehuldigt und geopfert. Menschen müssen jedoch individuell gesehen und behandelt werden. Richtiges Behandeln setzt richtiges Erkennen voraus, wie ein altbekannter und bewährter psychagogischer Grundsatz lautet. Soviel muss jedes Kind und sollte jeder Mensch wert sein, dass man seine Eigenheiten und Bedürfnisse, seine Stärken und Schwächen, seine Ansprüche und Möglichkeiten zum Ausgangspunkt und zur Grundlage aller Betreuungsmaßnahmen, Forderungen und Förderangebote im Rahmen des Entwicklungs-, Lern- und Sozialisationsprozesses nimmt. Konkretisierungen fallen diesbezüglich jedoch sehr unterschiedlich aus (vgl. Precht, 2013: 138ff). Der Wert handlungspraktischer Erfahrungen und einschlägiger Voraussetzungen wird dabei häufig relativiert und in Frage gestellt, sodass sie in den Anstellungs- und Verwendungserfordernissen beinahe keine Rolle mehr spielen. Lehrerinnen und Lehrer sollen selbstverständlich über eine volle akademische Bildung verfügen, sie sollen imstande sein, ihre Tätigkeit und die Bedingungen ihres Handelns im Sinne von Handlungsforschung zum Gegenstand ihres Forschens, Untersuchens und Reflektierens machen zu können, und der Berufsstand insgesamt bedarf zweifelsohne einer professionalisierten, sozio-ökonomischen und prestigemäßigen Aufwertung, alles fraglos Anliegen. Aber das alles kann letztlich die konkrete Praxis in der realen Lebenswelt einer Schule nicht ersetzen und bedarf ausreichend einschlägiger Praktika und Übungen inklusive vorangehender sowie anschließender Reflexionen und Auswertungen. Angehende

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Pädagoginnen und Pädagogen müssen ihre zukünftige Klientel und Lernpartnerinnen und Lernpartner in ihrem Lebensfeld kennenlernen. Praxis und Theorie sind keine Gegensätze, auch wenn sie meistens als solche wahrgenommen und aufgefasst sowie auch einer unterschiedlichen Wertung unterzogen werden, sondern zwei Kehrseiten ein und derselben Medaille, zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit. Zur Lösung praktischer Probleme und zur angemessenen Beantwortung entsprechender Fragestellungen bedarf es unzweifelhaft der Grundlegung durch Theorie. Diese wiederum braucht zur ständigen Rückmeldung und Absicherung gewissermaßen die Bezugnahme auf eine konkrete Praxis. Was heißen soll, dass mögliche Folgen und Auswirkungen, unmittelbare wie längerfristige, für eine gewisse Praxis mitzubedenken sind und nicht vernachlässigt werden dürfen. Es kann also nicht um ein Entweder-Oder gehen, sondern um ein Sowohl-als-Auch in einer vernünftigen Relation. Gängige Bildungsinstitutionen sind zu hinterfragen und neu zu definieren. Es braucht weiters neue Wege in der Bildung generell sowie in der Bildung der Pädagoginnen und Pädagogen. Es braucht einen neuen, innovativen Typus von Schulleuten, nicht stoppuhrverliebte Stundenhalter und fachbesessene Stoffjunkies, sondern begeisternde Lernbereichsleiterinnen und -leiter und mitreißende Lernarrangeure mit großen Animationsqualitäten und Beziehungskompetenzen. Wir brauchen ein neues Lernverständnis sowie eine neue Fehlerkultur ohne fehlersüchtige Rotstiftpädagogik. Fehler müssen als Lernchancen verstanden und daher zugestanden werden. Den Lernenden muss ein weitaus höherer Grad an Freiheit, Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeiten eingeräumt werden als bisher. Der stumpfe und geisttötende Rhythmus eines Stundenplans sowie anderer schulischer Stereotypien und Rituale soll durch spontane Entscheidungen und kreatives Handeln zu durchbrechen und zu ersetzen sein. Noten, Zensuren, Zeugnisse und andere Lernerfolgsfeststellungen wie Schularbeiten und Prüfungen könnten vermehrt durch direkte Leistungsvorlagen und Lernentwicklungsberichte ergänzt oder abgelöst werden. Das Helfer- und Förderprinzip muss gegenüber den üblichen Selektionsmechanismen nachhaltiger im Vordergrund stehen. Der tägliche wertschätzende und regelbezogene Umgang miteinander muss offen und frei erfolgen können, um wirkliches soziales Lernen im alltäglichen Zusammenleben zu ermöglichen, anstelle es lediglich abstrakt zu thematisieren. Auftretenden Schwierigkeiten, Regelverstößen, Konflikten und unliebsamen Vorkommnissen ist durch schülerorientierte Begleitmaßnahmen und gemeinsame Aufarbeitung zu begegnen und nicht durch ausschließende und disziplinierende Maßnahmen (wie gängige Time out-Klassen, durch zeitlich limitierte Schulverweise, Ausschlüsse usw., die meines Erachtens absolut unpädagogische und inkompetente Aktionen darstellen). Integration und Inklusion stellen Leitprinzipien dar. Das methodische Inventar bis hin zum Einsatz moderner Kommunikationstechnologien soll insbesondere Maßnahmen der Individualisierung und Differenzierung, der Handlungsorientierung und Ermöglichung weitestgehender Selbsttätigkeit zum Ziel haben. Lehrerinnen und Lehrern als Expertinnen und Experten des Erziehens und Unterrichtens, wenn sie solche sein sollen und wollen, muss bedeutend mehr Freiheit in der Ausrichtung und Gestaltung ihrer Lernangebote und professionellen Entscheidungen zugestanden werden. Auf den »Vollzug« kommt es an. Im Umgang miteinander macht der Ton die Musik. Erziehung als »Liebeserziehung« müsste sich generell darauf und nicht nur auf Anliegen der Sexualerziehung beziehen (Brenn, 1988: 640; 1998: 104-107).

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1.3 Beschaffenheit der Strukturen und strukturell-organisatorische Probleme Bezüglich der Aufgaben und Funktionen von Schulleiterinnen und Schulleitern bzw. Schulaufsichtsbeamtinnen und Schulaufsichtsbeamten ist zwischen ihren pädagogischen Aufgaben und den administrativen Tätigkeiten klar zu trennen. Die Rekrutierung für solche Funktionen verlangt grundsätzlich andere bzw. zusätzliche Kompetenzen und Problemlösungsqualitäten als die Bewährung als Lehrerin und Lehrer und sollte daher dementsprechend erfolgen. Direkte Eingriffe und Einflussnahmen durch die Dienstbehörde oder Schulverwaltung sind so gering wie möglich zu halten und sollten sich allenfalls auf administrative und dienstrechtliche Belange beschränken, was die administrativen und dienstrechtlichen Belange betrifft (vgl. Brenn, 2016: 42 f). Derzeit ist die Schule als Institution gleichsam zwangsverwaltet. Der Apparat, das System hat zu ermöglichen und zu unterstützen und sich ansonsten aus dem konkreten Schulgeschehen weitgehend herauszuhalten, ausgenommen grobe Umstände oder gar Missstände verhindern eine Konfliktlösung und Problembewältigung durch die Betroffenen selbst. Bei Vertreterinnen und Vertretern der Schulaufsicht und Schulverwaltung handelt es sich durchwegs in engerem Sinne um schulfremde Personen, manchmal vom realen Schulbetrieb schon weit entfernt. Es dürfte für sie schwierig sein, im Bedarfs- oder Anlassfall zu anderen als rechtlich normierten und damit zu angemessenen Bewertungen und Entscheidungen zu finden. Die Mitwirkungsmöglichkeiten und Beteiligungsrechte der Eltern sind dagegen auszuweiten und als Selbstverständlichkeiten zu sehen. Das sind unumgängliche Grundzüge für eine Erneuerung des Bildungswesens. Freilich braucht es mehr unterstützendes Personal, sind die Lehrenden von administrativen und kompensierenden Tätigkeiten weitgehend frei zu halten. Ganztägige Schulformen entheben viele Eltern von der Sorge um die Betreuung ihrer Kinder, während sie dem Broterwerb nachgehen. Gesamtschulähnliche Schulformen befreien die Heranwachsenden und ihre Familien vom Druck früher Entscheidungen bezüglich der weiteren Bildungswege und Schullauf bahnen, lassen längerfristig angelegte Entwicklungsprozesse zu, reduzieren Leistungsstress und vermeiden oft auftretende Brüche bei Übertritten. Nicht die Zuständigkeiten von irgendwelchen regionalen oder bundesweiten Verwaltungsstellen sind ausschlaggebend. Dann werden die Schulen ein anderes Gesicht bekommen, Bildung wird einen neuen Stellenwert und eine andere Ausprägung erhalten. Dann wird es in den Schulen und Bildungseinrichtungen in mancherlei Hinsicht anders zugehen als gegenwärtig üblich. Dann werden vermehrt Leute einen pädagogischen Beruf anstreben, denen die Umsetzung und Verwirklichung solcher Reformschritte ein Herzensanliegen ist. Denen es um den echten Lernfortschritt und die persönliche Weiterentwicklung der Lernenden geht, weniger um stofflich-curriculare Ansprüchlichkeiten oder anderweitige vorwiegend bildungspolitisch bzw. rechtlich akzentuierte Rechtfertigungen und Regulative wie schulautonome Tage, Ferienzeiten und dergleichen. Die auch einmal etwas aushalten, Kritik einstecken und gut gemeinte Anregungen aufnehmen und annehmen können, die erneuerungs- und veränderungsbereit sind und dennoch imstande, Bewährtes zu erhalten. Solche, die bestrebt sind, moralisch zu handeln und über ein hohes Berufsethos verfügen. Die Lernleistungen werden steigen, Lernfreude wird zunehmen, Schulunlust und Schulfrust werden zuerst abnehmen und allmählich beinahe verschwinden. Es

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wird insgesamt eine höhere Schulqualität geben. Alles andere ist lediglich Utopie, nur Scheinkosmetik und Augenauswischerei. »Bildung, ernst gemeint, wäre heute eine Provokation.« (Liessmann, 2017: 9) Wir lernen tatsächlich nicht für die Schule, sondern einzig für das wahre, wirkliche und persönliche Leben durch Lernen in unbeeinträchtigter und ungebrochener Neugier auf die das Leben betreffenden Aspekte anhand realer Erfahrungen und über vielfältige Angebote an Lernhilfen und Lernmethoden. Die größten und bedeutsamsten Lernziele sind hohe Selbsterkenntnis und zurückhaltend-maßvolle Selbstgenügsamkeit, wie die Inschriften am Eingang des Tempels von Delphi zum Ausdruck brachten: »Erkenne dich selbst!« (γνῶθι σεαυτόν) und »Nichts im Übermaß!« (μηδὲν ἄγαν). Es ist zentral, den Heranwachsenden ein über die Schule hinausreichendes Selbstwertgefühl und eine adäquate Selbsteinschätzung zu vermitteln, weiters die Freude und die Neugierde am Lernen durch große Anteile selbstbestimmten Lernens aufrecht zu erhalten und in den Fähigkeiten und Interessen entsprechende Bahnen zu lenken. Das jeweils individuelle Entwicklungstempo, die verschiedenen natürlichen Entwicklungsbedürfnisse und die Lernvoraussetzungen der Lernpersönlichkeiten sind gebührend zu beachten und zu respektieren. Eigene Erfahrungen und die Gestaltungskraft der Kinder und Jugendlichen sind Ausgangspunkte und bilden die Basis für die Bildungsarbeit, für welche eine entspannte und vorbereitete Umgebung eine ausschlaggebende Voraussetzung darstellt. Dies schließt sowohl die professionelle Grundhaltung der die Heranwachsenden auf ihren Lernwegen begleitenden Erwachsenen mit ein wie auch die den Bedürfnissen der Lernenden entsprechende konkrete und reichhaltige materiale Umwelt in Form der zur Verfügung stehenden Spiel- und Arbeitsbehelfe und Lernmittel. Derart gestaltet sich ein gangbarer Weg zu einer Schule, in welcher Lernen und Lehren bzw. Arbeiten jeden Tag Spaß und Freude bereiten, Lernerfolge sicherstellen und eine positive, gesunde, schadlose Entwicklung der Lernpersönlichkeiten wie der Lehrpersonen gewährleisten.

2. I dentifik ation einiger »S teine « in der M auer Schulen sind Institutionen mit dem Ziel der Bildungsvermittlung. In einigen Fällen erliegen sie leider auch der Gefahr der Un-Bildung. Es besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass Bildung nicht den einzigen, aber für sehr viele einen ausschlaggebenden Schlüssel für die Zukunft darstellt. Heranwachsende brauchen die bestmögliche Förderung und Unterstützung, um auf die Anforderungen des Lebens, was immer man darunter subsummieren mag, vorbereitet zu werden. Dies geschieht am besten, wenn man in personaler Hinsicht gestärkt wird, bezüglich Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und zutreffender Selbsteinschätzung keinen Schaden nimmt, seine Talente, Begabungen und Neigungen entfalten und allfällige Defizite aufholen oder ausgleichen kann und in Bezug auf Motivation und Interessen keine Beeinträchtigungen erfährt. Die inhaltlichen Angebote sind zweifelsohne wichtig, aber nicht zentral. Bildung ist das nachhaltigste Kapital, welches eine Gesellschaft zur Bewältigung anstehender wie künftiger Anforderungen bereitstellen kann. In der Theorie stimmen wohl die Meisten mit dieser Zielbeschreibung überein, in der Praxis allerdings hapert es recht häufig mit der Umsetzung und Verwirklichung dieser anspruchsvollen und hehren Zielset-

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zungen. Dabei sind die Hemmnisse zumeist systemimmanent. Um es noch deutlicher zu sagen: Es liegt weitgehend an den handelnden Personen, wenn es nicht klappt Dies ist vor allem darin begründet, dass zwischen den ausschlaggebenden beteiligten Bereichen innerhalb des Schulsystems nur wenig Zusammenschau und Kongruenz besteht. Es wursteln alle vor sich hin, die Linke weiß häufig nicht, was die Rechte tut, man streitet sich um Kompetenzen im Sinne von Zuständigkeiten anstatt um Kompetenzen im Sinne von Fähigkeiten zur Aufgabenbewältigung und Problemmeisterung. Die hauptsächlichen Bereiche, welche sich um die Regulierung wie Gestaltung und Lenkung des Schulwesens und des Schullebens bemühen, sind neben diesem zum einen die Lehrerinnen- und Lehrerbildung, die Schulaufsicht und zum anderen die Schulverwaltung als ausführende Organe der Bildungspolitik. Obwohl sie alle mit derselben Wirklichkeit befasst sind, sehen sie diese jeweils durch ihre spezifische Brille und gehen es ziemlich unterschiedlich an. Für die Schulverwaltung geht es vor allem um die bürokratische Regulierung des Schulbetriebs über Gesetze, Erlässe und Vorschriften sowie um seine Überwachung und Kontrolle infolge der sich aus den staatsbürgerlichen Selbstverständlichkeiten ergebenden Ansprüche fernab der pädagogischen Implikationen will heißen psychosozialen und individuell-personalen Voraussetzungen und Bedingungen und ohne Berücksichtigung der Komplexität und damit auch Störanfälligkeit des Geschehens. Die Schulverwaltung agiert als Machtapparat und legitimiert sich aus den (macht-)politischen Gegebenheiten, setzt diese voraus und bezieht sich darauf, ohne sie weiter zu hinterfragen oder zusätzlichen Rechtfertigungen zu unterziehen. Forderungen nach mehr umfassender Autonomie an den Schulen in jeder Hinsicht und Zulassung der Individualitäten der Menschen sowie stärkere Ausrichtung daran werden häufig geradezu als Tabubrüche aufgefasst und stoßen durchwegs auf Ablehnung. Der Staat erhebt den Anspruch auf jedes einzelne Kind und greift darauf zu, weil es sich aus der Schul- und Bildungspflicht so ergibt. Punktum. Aber genau das ist es eben nicht, und viele Schwierigkeiten, Unzulänglichkeiten und für die Betreffenden beziehungsweise Betroffenen oft leidvolle Probleme resultieren daraus. Die Heranwachsenden werden wie die Erwachsenen letztendlich als Untertanen betrachtet. Sie werden nach Jahrgängen, Alter, sogenannter Reife, Geschlecht, Herkunft, Bekenntnis, Leistungsniveau, Lernergebnissen, Abstammung, Beherrschung der Unterrichtssprache und anderen manchmal etwas eigenartig anmutenden Kriterien oder Kategorien erfasst und eingeteilt. Sie können abgelehnt und abgewiesen werden, für unreif erklärt oder für schulfähig, für behindert oder beeinträchtigt, für durchschnittlich begabt oder für hochbegabt. Sie können der Schule verwiesen werden, dazu verdonnert, eine Schulstufe oder gleich mehrere Klassen zu wiederholen, seltener eine zu überspringen, sie können fachärztlicher Behandlung, psychologischer Betreuung oder fürsorgerischen beziehungsweise anderen spezifischen sogenannten Erziehungs-Maßnahmen zugeführt oder sogar den Eltern entzogen werden, und es ist eigentlich beinahe alles möglich. Es gibt bestimmte Richtzahlen und Werte für Gruppengrößen und Klassenschülerhöchstzahlen, für Teilungen, für das Zustandekommen von Kursen oder eben nicht, Zeitmaße für Gesamtstundenzahlen und Lehrverpflichtungen, für Entfernungen bezüglich Abgeltung von Reisekosten und dergleichen, und es ist so ziemlich das Meiste irgendwie geregelt. Und alles zur Förderung des Gemeinwohls sowie zum besonderen Wohle der anvertrauten Schülerinnen und Schüler, wovon man überzeugt ist und sich nicht abbringen ließe.

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Der zweite Bereich, die Schulaufsicht, handelt gewissermaßen vor Ort im Auftrag dieser Bürokratie und Verwaltungstechnokratie. Ihre Angehörigen gehen zwar zumeist aus dem Pädagoginnen- und Pädagogenstand hervor, haben jedoch mit der Zeit ihre eigentliche und ursprüngliche pädagogische Identität zugunsten einer bürokratischen und obrigkeitlichen ausgetauscht. Sie sind eigentlich Gefangene des Systems. Sie sind zwischendrin, sitzen zwischen den Stühlen und nehmen eine Sandwichposition ein, die sie veranlasst, sich wie ein Radfahrer bzw. eine Radfahrerin gleichzeitig sowohl nach oben als auch nach unten zu orientieren. Alleine die bis vor kurzem übliche Funktionsbezeichnung »Inspektorin bzw. Inspektor« brachte das überwiegend hoheitliche Selbstverständnis der Funktionsinhaberinnen und -inhaber deutlich genug zum Ausdruck. Sie verstehen sich auch mit neuen Funktionsbezeichnungen als Bildungsmanagerinnen und Bildungsmanager, oder manchmal auch als Bildungsberaterinnen und Bildungsberater, befinden sich dadurch jedoch mehr oder weniger in ständigen Rollenkonflikten, die sie kaum als solche wahrnehmen oder erkennen, und denen sie meistens erliegen, da sie nur selten über die erforderliche Rollenambiguität verfügen. Man bastelt sich dann ein dem Selbstverständnis entspringendes Expertentum, demgemäß man auftritt und handelt. Der dritte Bereich, die Lehrerinnen- und Lehrerbildung, scheint aufs erste den größten Einfluss für die reale Ausprägung der Schulwirklichkeit zu haben. Aber – leider – nur scheinbar. Man würde meinen, die Ausbildungs- und Selektionsrituale wären überzeugend, effizient und nachhaltig genug, gängige Qualitätsmerkmale und veranlasste Innovationen sowie angemessene Grundhaltungen und personale Tugenden in die Klassenzimmer zu bringen. Aber weit gefehlt. Die berufliche Sozialisation schafft es binnen kurzem vieles zunichte zu machen, was jahrelang mühsam aufgebaut und eintrainiert wurde (vgl. Brenn, 2012: 318). Da der Bildungsprozess vor allem durch persönliche Begeisterung und Interessen der Lernenden gesteuert werden sollte, braucht es vor allem Lehrerinnen und Lehrer, welche in der Lage sind, ihre beruflichen Kompetenzen wie ihre Lebenserfahrung für die geistige Welt der Lernenden nutzbar zu machen und gewissermaßen in die Sprache der Heranwachsenden zu übersetzen. Dies zu bewerkstelligen wäre bzw. ist meines Erachtens Aufgabe der Lehrer- und Lehrerinnenbildung. Die relativ hohe Zahl der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher und Schulversagerinnen und Schulversager stellte und stellt für das Bildungssystem Herausforderungen dar, denen es teilweise recht hilflos gegenübersteht. Auch bei derzeit üblichen, aber dennoch in mancherlei Hinsicht zumindest hinterfragbaren internationalen Vergleichsstudien (wie zum Beispiel PISA oder TIMS) befanden und befinden sich die Leistungen österreichischer Schüler bestenfalls im Mittelfeld. Man muss sich einmal ernsthaft fragen, was solche Leistungsüberprüfungen grundsätzlich bezwecken und durch sie eigentlich herausgefunden und festgestellt werden kann oder soll (vgl. Precht, 2013: 81f). Derartige Vergleiche sind höchstens in der Lage, etwas über die unterschiedlichen Lehr- und Lernmethoden sowie Unterrichts- und Lernmodalitäten auszusagen. Sie können darauf aufmerksam machen, dass es in den Schulen verschiedener Länder ziemlich unterschiedlich zugeht und daher auch die Lernergebnisse anders ausfallen. Schulverwaltung und -aufsicht, Lehrerinnenund Lehrerbildung und Schulwirklichkeit bedürf(t)en also einer weitestgehenden Vernetzung und Übereinstimmung in den Grundanliegen, um die erforderliche Schulqualität sicherzustellen und zeitgemäßen Anforderungen zu entsprechen.

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Schule ist aufgrund der geänderten gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse ständig Reformen und Innovationen unterzogen, die nicht nur für die Schülerinnen und Schüler neue Gegebenheiten mit sich bringen, sondern nachhaltig auch das Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer betreffen. Dies kann schmerzlich sein und birgt naturgemäß Anlässe für zahlreiche Konflikte, wie die Alltagspraxis leider belegt. Es kann zutreffen und sich die Notwendigkeit einstellen, sich von liebgewordenen Gewohnheiten und Traditionen verabschieden zu müssen. Reformen stellen keinen Selbstzweck dar. Hauptziel muss letztlich die stetige Humanisierung der Schulwirklichkeit zum Wohle aller Beteiligten sein, ein Anspruch, der in mancherlei Hinsicht einen Musterwechsel intendiert (vgl. Brenn, 2016: 42f). Es geht schlichtweg um die Betroffenen. Schulpolitik und Schulverwaltung kommt es zu, die Umsetzung der gesetzlich vorgegebenen und geregelten Neuerungen einzuleiten, zu begleiten und zu überwachen. Der Schulaufsicht fiele dabei eine tragende Rolle zu, der sie nicht immer gerecht wird. Eine lösungsorientierte, machtfreie Sprache der Annahme und des Dialogs bildet eine Grundvoraussetzung zur Bewältigung auftretender Probleme (vgl. Salvador, 2015: 88ff). Die Installierung einer unabhängigen Schieds- bzw. Ombudsstelle anstelle gemischter hoheitlich-quasikollegialer Gremien, deren Zusammensetzung trotz gegenteiliger Beteuerungen wiederum jedenfalls irgendwie parteipolitisch gesteuert erfolgt, könnte bei auftretenden Problemen objektiver und hilfreicher agieren. Lehrerbildung hat bzw. hätte die vorrangige Aufgabe, einerseits die angehenden Pädagoginnen und Pädagogen auf die Schulwirklichkeit vorzubereiten, und andererseits eine das gesamte Berufsleben andauernde selbstkritische Innovationsbereitschaft sowie ein entsprechendes Berufsethos zu evozieren. Das professionelle Selbstkonzept und Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern entsteht in mehreren Schritten und entwickelt sich auf der Basis von vorberuflich bestehenden Motivationen und Fähigkeiten über die Maßnahmen der Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung sowie die individuelle wie geleitete Reflexion der beruflichen Erfahrungen zu einem persönlichen Expertentum. Die berufsbiographische Entwicklung im Lehrerberuf zielt auf eine professionelle kompetente Lehrerinnen- bzw. Lehrer-Persönlichkeit, welche über die Fähigkeit der angemessenen Bewältigung situativer Anforderungen hinaus im Stande ist, den individuellen Bedürfnissen und Lernvoraussetzungen der Lernenden im Hinblick auf ihre Förderung gerecht zu werden. Solche Selbstkonzepte sind unumgänglich und generieren sich mehr oder weniger automatisch, können aber mit der Zeit recht rigide werden (vgl. Brenn, 2012: 319). Die unerlässliche und geforderte Gestaltung des schulischen Handlungsfeldes als möglichst humane Lebenswelt für alle darin Agierenden und Betroffenen erfordert außer stärkerer Deregulierung und Autonomie als unabdingbare Voraussetzung die größtmögliche Kongruenz von Schulwirklichkeit, der Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie der Schulverwaltung inklusive Schulaufsicht. Diesbezüglich bestehen unzweifelhaft häufig zumindest teilweise grobe Brüche und Interessenkonflikte, die beileibe nicht von allen erkannt und als solche empfunden werden. Es geht nicht um Reformen um der Reform willen, nicht darum, ob Änderungen der persönlichen Werteskala oder dem tages- oder parteipolitischen Geplänkel entsprechen, sondern einzig darum, das Schulleben in jeder Hinsicht ein gutes Stück menschlicher zu machen. Denn die Schule hat im konfliktträchtigen Spannungsfeld zwischen Individuation und Sozialisation nur eine einzige legitime Funktion, nämlich für die Kinder, und zwar für jedes einzelne Kind, da zu sein und ihnen

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bei ihrer ganz persönlichen Menschwerdung in einem bedeutsamen Abschnitt ihrer Entwicklungsgeschichte und Lebenszeit im wahrsten Sinne des Wortes beizustehen, was nie vergessen werden und im Vordergrund stehen sollte. Die Fakten sprechen allerdings eine andere Sprache. Die große Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger, welche die Kulturtechniken nicht ausreichend beherrscht, ist im Steigen begriffen, ebenso die Anzahl der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher und Schulversagerinnen und Schulversager. Man macht es sich zu leicht, wenn man die Ursachen dafür einzig und vor allem außerhalb und bei den Betreffenden selbst sucht und vermutet, so zutreffend dies im Einzelfall vielleicht sogar sein mag. Es gibt schon auch so etwas wie eine Systemverantwortlichkeit, die hier nicht übergangen werden darf. Es geht um das zugrunde liegende Menschenbild. Jeder Mensch ist lernfähig. Jeder Mensch ist förderbar. Jeder Mensch kann erfolgreich sein. Jeder Mensch ist darauf angelegt, glücklich zu sein. Jeder Mensch möchte reüssieren und Zustimmung sowie Anerkennung finden. Jeder Mensch möchte sich beweisen und Probleme lösen. Jeder Mensch verfügt über ein natürliches Maß an Motivation, Begeisterungsfähigkeit und Interessen. Jeder Mensch ist ansprechbar und wenigstens graduell beziehungsfähig. Jeder Mensch kann sich auf bestimmte Ziele hin anstrengen und bemühen, in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Potenzialen Maximales zu leisten. Jeder Mensch ist darauf angelegt, zu einem großen Gemeinsamen beizutragen. Das gelingt jedoch nicht mit Druck und Zwang, mit Verzärtelung und Verwöhnung, mit Lob und Strafe, mit Manipulation und Beeinflussung, mit Gleichgültigkeit und Gewährenlassen, mit Überforderung und Blamage, mit Misserfolgen und Frustration und dergleichen gängigen Praktiken, sondern bedarf des Zugangs der Anerkennung der personalen Individualität und Einzigartigkeit, der Einmaligkeit und Würde, des uneingeschränkten Respekts und der ehrlichen Wertschätzung. Gut-sein und Gut-werden kann nur über erlebte Güte erfahrbar gemacht und erreicht werden.

2.1 »… doch am größten […] ist die Liebe« (1 Kor 13,13) Heranwachsende fragen nach dem Weg und sind auf der Suche danach. Erwachsene verstehen sich häufig als Wegweiser. Wegweiser haben es aber an sich, dass sie nur in eine Richtung zeigen oder hauptsächlich ein Ziel angeben. So einfach sind Menschen allerdings nicht gestrickt. Damit finden sie nicht das Auslangen. Das Leben ist zu bunt und vielfältig, als dass man mit einem Weg das Auslangen finden könnte. So etwas wird nur in den seltensten Fällen zutreffen und ohne Einschränkungen und Reduktionen bleiben. Umwege sind einzuplanen. Mit Fjodor Dostojewski: »Das Geheimnis des menschlichen Lebens liegt nicht im bloßen Leben, sondern im Sinn des Lebens.« Eine Dimension, die im Laufe der Zeit etwas oder ziemlich bis gänzlich ins Hintertreffen geraten ist, ist der metaphysisch-religiöse Bereich. Kinder sind von klein auf Philosophen und fragen von selbst nach dem Woher und Wohin, nach dem Warum und Wieso, dem Wozu und Weshalb, nach dem Sinn und dem Zweck, nach dem Urgrund und dem Lebensziel, nach dem Wofür und Danach. Heranwachsende erwarten Antworten darauf, und wenn sie ausbleiben wie leider häufig trotz Religions- oder Ethikunterricht, dann machen sie sich selbst einen Reim darauf oder holen sich Vorgefundenes und Genehmes aus dem nicht gerade kleinen einschlägigen weltanschaulich-ideologischen Angebot. Religiöse Unterweisung muss neben der Vermittlung der jeweils spezifischen

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Glaubenswahrheiten vor allem diesen menschlichen Existenzialen nachgehen, die Grundzüge einer allgemeingültigen natürlichen Moral aufzeigen und die Bedeutung des individuellen Gewissens und der Verantwortlichkeit jedes einzelnen Menschen bezüglich seines Tuns und Lassens in den Vordergrund stellen. Diese Nachdenklichkeit und auf eine Lebensmitte ausgerichtete Bezogenheit ist ein allgemeines der Natur und dem Wesen des Menschen entsprechendes menschliches Existenzial, das versiegt wie ein tröpfelndes Rinnsal im Wüstensand, wenn es nicht ausreichend wahrgenommen und gebührend gepflegt wird. Mittlerweile sind vielen Dörfern die Kirchen abhandengekommen. Auch wenn viele Gotteshäuser sich noch in der alten Dorfmitte befinden, was ihre Bedeutung und ihren Sitz im Leben der Menschen betrifft, steht die Kirche heutzutage oft nur mehr am Rande der Dörfer oder sogar noch weiter abseits. Wir leben in einer Epoche der radikalen Umbrüche. Das krampfhafte Festhalten an Traditionen und Ritualen, an Hierarchien und Autoritäten, an Begründungen und Auslegungen, an unverständlichen Dogmen und inhumanen Glaubensforderungen verhindert und zerstört mehr, als es zu bewirken und bewerkstelligen vermag. Einerseits besteht die Sehnsucht nach absoluten Wahrheiten und unverrückbaren ewigen Werten, andererseits werden durch eine neue Aufklärungswelle alte Bindungen gelockert und die Gültigkeit übernommener und bewährter Moralvorstellungen und Glaubenssätze wie von einem Tsunami einfach hinweggeschwemmt. Die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Instanzen, die oft so große und deutlich wahrnehmbare Diskrepanz zwischen ihrer Theorie und Praxis, wie auch ihr menschenverachtendes Agieren im Verlaufe der Geschichte, beinhalten zu viele Angriffspunkte und Stolpersteine. Der Glaube an das Wirken eines gütigen, allmächtigen, weisen und seine Geschöpfe liebenden Schöpfergottes wird angesichts der bestehenden Ungerechtigkeiten, der Not und des Elends, der Machtansprüche und ihres Durchsetzens um jeden Preis, der Gräuel von Krieg und Gewalt, von Katastrophen und Krankheiten, von Naturgewalten und anderen Schrecknissen und Bedrohungen oft auf eine harte Probe gestellt. Der Beitrag von Religionen zur Humanisierung und Optimierung der menschlichen Lebensbedingungen kann kontroversiell diskutiert werden. Fakt bleibt, dass heute noch Menschen um ihrer Überzeugung und ihres Glaubens willen verbrannt, gekreuzigt, gequält, auf das Schrecklichste und unter unvorstellbaren Demütigungen gefoltert und getötet werden. Es ist und bleibt ein Trauerspiel. Auch das christliche Hauptgebot der dreifachen Liebe (Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, Mt 22,34-40) konnte leider Fehlentwicklungen nicht verhindern.

2.2 Bildung und Liebe und was man daraus macht Es ist ein gutes und schönes Land, unser Land. Es bietet und gibt den Menschen Heimat, Schutz und Geborgenheit. Mir fallen dazu die Verse von Franz Grillparzer aus König Ottokars Glück und Ende ein, die ich einmal vor vielen Jahren, in meiner Schulzeit auswendig zu lernen hatte. Die Menschen sind fleißig, strebsam und tüchtig. Sie lieben ihr Land. Sie sind stolz auf ihr Land und das Erreichte. Sie wissen, dass Wohlstand, Frieden, Sicherheit und annehmbare Lebensbedingungen nicht als Selbstverständlichkeiten genommen und erwartet werden können. Dafür muss man etwas tun und sich einsetzen. Den meisten Menschen geht es gut, einigen von ihnen sogar sehr gut. Vielleicht sind sie sogar ein wenig verwöhnt, sind zufrieden und satt geworden und haben neue Ziele aus den Augen verloren. Aber

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es gibt leider noch genug, die mit dem, worüber sie verfügen, nicht das Auslangen finden. Der soziale Ausgleich findet bei aller erreichten sozialen Sicherheit und Versorgung noch lange nicht ausreichend statt. Immer weniger besitzen immer mehr. Ein paar wenige Prozent der Bevölkerung verfügen über mehr Besitz und Vermögen als alle anderen zusammen. Die Einkommensschere klafft nicht nachvollziehbar immer mehr auseinander. Es ist oft schwer zu verstehen und erklärt sich hauptsächlich aus traditionellen Bewertungskriterien wie Ausbildungshöhe und Ausbildungsdauer, white-collar-Tätigkeiten, Verantwortlichkeiten, Anzahl der untergeordneten Beschäftigten und dergleichen, warum eine Arbeit mehr wert sein soll als eine andere. Spitzengehälter sichern ein Tageseinkommen von TopPositionen in der Höhe eines Monats- und sogar Jahresverdienstes für sogenannte »normal« Arbeitende. Da kann man doch nicht zur Tagesordnung übergehen. Dem Land geht es gut. Aber es geht nicht allen gut. Trotz allen Fortschritts bleibt das Land hinter seinen Möglichkeiten zurück (vgl. Czernich, 2016: 4). Muss es auch, denn die bestehenden Potenziale werden bei weitem nicht ausgeschöpft und liegen folglich leider brach und bleiben ungenützt. Dies zum Nachteil des Landes und seiner Menschen. Man ist zufrieden mit dem Erreichten, mit dem Status quo, und ist darüber selbstzufrieden und selbstgenügsam geworden. Die Hoffnung beflügelt, dass es so bleibt. Man ist dankbar, wenn es nur nicht viel schlechter wird. Dem den Bestand sichernden Abwarten wird gegenüber einer aktiven Zukunftssicherung der Vorzug eingeräumt. Die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sind zurückhaltend und vorsichtig geworden um nicht zu sagen mutlos und auch ideenlos. Sie verwalten eher passiv anstatt aktiv zu gestalten. Und dann ist da noch dieses Seilschaftsdenken. Das beginnt bereits in der Gemeinde und zieht sich durch bis hinauf in die höchsten Ebenen und Gremien. Man muss jemanden kennen, der sich für jemanden einsetzt und verwendet. Man kann nur etwas werden, wenn man zu einer Seilschaft gehört. Nicht bloß zu irgendeiner, schon zur richtigen. Man muss beim richtigen Club sein, bei der richtigen Verbindung, beim richtigen Verein, bei der richtigen Partei. Man muss sich deklarieren und Farbe bekennen. Es ist nicht einzig wichtig und ausschlaggebend, dass man etwas kann und versteht, über Sachkenntnisse und einschlägige Kompetenzen verfügt. Es kommt ebenfalls darauf an, wie gut man sich verkauft, ins Spiel bringt, den Kotau beherrscht, Aufmerksamkeit erregt und erzeugt oder sich als nützlich und loyal erweist. Aber das Land bräuchte jedes Talent, jede Fähigkeit, jede Kompetenz. Vieles ist unverhältnismäßig geworden. Der Verhältnismäßigkeit müsste wieder mehr Beachtung zukommen. Ein Übel ist die Kompliziertheit vieler Abläufe, die Unkoordiniertheit im Zusammenspiel der Ämter, Behörden und Stellen und generell die bürokratische Überladenheit. Nichts geht von selbst und automatisch, alles muss umständlich und langwierig beantragt und angefordert werden, und seit dies infolge der zunehmenden Digitalisierung auch auf elektronischem Weg zu erfolgen hat, ist alles noch viel komplizierter und für gar nicht so wenige Menschen aussichtsloser geworden. Bei den Römern entstand der Spruch, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Ganz Unrecht hatten sie jedenfalls nicht. Manchmal kommt man um den Eindruck nicht herum, dass es darum geht, alles schwierig, möglichst kompliziert und umständlich zu machen, anstatt es zu erleichtern. Kindergartenkinder und Pflichtschülerinnen und Pflichtschüler werden nach Schulsprengeln eingeteilt anstatt diejenige Schule besuchen zu dürfen, der aufgrund

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persönlicher Motive oder auch Wohnortnähe der Vorzug gegeben würde. Plötzlich hat es eine Zentralmatura zu sein, ohne jedoch das sonstige Prüfungswesen darauf abzustimmen und umzuändern. Die Ergebnisse, besonders im hauptsächlichen Schreckensfach Mathematik, sehen dementsprechend aus. Man glaubt, durch solche Maßnahmen größere Objektivität zu erreichen, und setzt dadurch dennoch alles vermehrt den Zufälligkeiten und Beliebigkeiten aus, denen man entkommen und die man beseitigen wollte. Ich wage ein Gedankenexperiment: Bereits über fünfzig Jahre ist es bei mir her, dass ich die Reifeprüfung abgelegt und bestanden habe. Was würde dabei herauskommen, wenn jemand aus unserem Jahrgang die heurige Version der Reifeprüfung abzulegen hätte und jemand von den diesjährigen Maturantinnen und Maturanten die damaligen Aufgaben von uns zu lösen und zu beantworten hätte? Ich habe Vertrauen in die Menschen und in ihre Problemlösekapazitäten, in ihren guten Willen und in ihre Bereitschaft, für das größtmögliche Gemeinwohl aller einzutreten. Das lässt in mir die Hoffnung keimen, dass es irgendwann doch noch gelingt, den richtigen Weg einzuschlagen.

3. L iebe weck t L iebe (S prichwort) Hier schließt sich der Kreis. Man kann durchaus die Augen verschließen, so tun, als ob das alles nicht wäre, und behaupten, es handle sich dabei bestenfalls um haltlose Schuldzuweisungen oder fake news. Doch trotz aller Bildungsmaßnahmen oder vielleicht sogar gerade ihretwegen sind viele Menschen gedankenlos und abgestumpft geworden (vgl. Liessmann, 2017: 221). Weil sie es gut und lange gelernt und eingetrichtert bekommen haben, zu gehorchen, Erwartungen und Anordnungen zu befolgen und Befehlen nachzukommen, aber viel zu wenig dazu angehalten wurden, mündig zu denken, eigenständig zu entscheiden und selbstverantwortlich zu handeln. So wie die Verkehrsstrafen eingeplante Budgetgrößen darstellen, auf die man gar nicht verzichten möchte und könnte, so sieht es auch in anderen Bereichen aus. Hier wäre anzusetzen. Diesbezüglich müsste sich etwas ändern, wenn man keine Untertanenmentalität, sondern mündige Bürger und Bürgerinnen haben und die Heranwachsenden dazu erziehen möchte. Es ist letztlich eine Frage des Menschenbildes und wird damit zu einer humanwissenschaftlichen Angelegenheit per se. Wer davon ausgeht, dass Menschen ständiger Führung, Anleitung und Überwachung bedürfen, weil sie selbst nicht dazu in der Lage wären, ihren Lebensweg ordentlich und problemlos zu gehen, wird zahllose dementsprechende Regulative für alles Mögliche und Unmögliche bereitstellen. Wer dagegen zugesteht, dass dies sehr wohl möglich sein kann, wenn die angemessenen und richtigen Bedingungskonstellationen bereit stehen, wird darauf weitgehend verzichten können. Der Mensch ist zur Freiheit geboren. Das ist nicht nur meine tiefste Überzeugung, sondern eine fachliche psychologische Feststellung über ein dem Wesen des Menschen entsprechendes und ihn auszeichnendes Merkmal. Bildung erhebt den Anspruch, in besonderer Weise der persönlichen Weiterentwicklung von vor allem jungen Menschen dienlich und förderlich zu sein. Maßnahmen der Persönlichkeits-, Gewissens- und Herzensbildung kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Eine Bildung wie immer auch, die nicht vor allem darauf abzielt, verfehlt ihre ureigentliche Bestimmung. Das trifft beispielsweise bei hochqualifizierten

Bildung und Liebe – (k)ein Widerspruch(?)

Personen zu, die ihr Wissen und Können zum Nachteil und Schaden ihrer Umwelt und Mitmenschen einsetzen. Wirklich gebildete Menschen zeichnen sich durch spezifische fürsorgende Umgangs- und wertschätzende Begegnungsformen sowie ein Höchstmaß an Verantwortung aus, deren optimale wie maximale Ausprägung in der Liebe gegeben ist, welche somit das zentrale Bildungsziel darstellt. Lieblose Strukturen dagegen erzeugen vielfältige strukturelle Probleme und bewirken höchstens gegenteilige Effekte. Vielleicht wird dann einmal jemand in die Lage versetzt, aus tiefster Überzeugung einen Liedtext zu schreiben, in dem es heißen könnte: »Und wie man liebt, das haben sie uns auch beigebracht.« Ich gebe die Hoffnung darauf nicht auf.

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Über den Kältetod in der Empirischen Erziehungswissenschaft Oder: Wider die Verdinglichung der Person Sabine Seichter

»In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein bloßes Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können. Das Beunruhigende an den modernen Theorien des Behaviorismus ist nicht, daß sie nicht stimmen, sondern daß sie im Gegenteil sich als nur zu richtig erweisen könnten, daß sie vielleicht nur in theoretisch verabsolutierender Form beschreiben, was in der modernen Gesellschaft wirklich vorgeht. Es ist durchaus denkbar, daß die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.« (Arendt, 1981: 341-342)

Diese gegen Ende von Hannah Arendts Vita activa oder Vom tätigen Leben zu findende Aussage führt uns direkt in das hier zu verhandelnde Thema hinein: Die Tendenz, menschliches Handeln (griechisch: praxis), welches – gemäß dem von Aristoteles festgeschriebenen Begriffssinn – seinen Zweck in sich selbst hat, mehr und mehr in menschliches Herstellen (griechisch: poiesis) zu transformieren, das sein einziges Ziel in einem fertigen Produkt hat, ist zunehmend in allen Bereichen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens zu beobachten. Ein ständig wachsender Effektivierungsdrang, ausgerichtet an den Maßstäben der (rationalistischen) Ökonomie, und die damit verbundene Vorstellung von einer technologisch orientierten Herstellungslogik verändert nicht nur – wie im Eingangszitat ausgeführt – die Arbeitsgesellschaft im Allgemeinen, sondern auch die darin sich abspielenden Beziehungen im Besonderen. Im Zusammenhang mit diesen sich schleichend fortsetzenden Entwicklungen schreibt neuerdings – in engem Anschluss an die Prognose Hannah Arendts – die nordamerikanische politische Philosophin Wendy Brown:

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Sabine Seichter »In dem Maße, wie sich eine normative Ordnung der Vernunft über drei Jahrzehnte hinweg zu einer weit und tief verbreiteten Regierungsrationalität entwickelte, verwandelt der Neoliberalismus jeden Bereich und jedes Unterfangen des Menschen gemeinsam mit den Menschen selbst gemäß einem bestimmten Bild des Ökonomischen. Jedes Verhalten ist ökonomisches Verhalten; alle Bereiche des Lebens werden in ökonomischen Begriffen und Metriken erfasst und gemessen, auch wenn diese Bereiche nicht direkt monetarisiert werden.« (Brown, 2015: 8)

Die von Wendy Brown im einzelnen beschriebene »Revolution« zeigt anschaulich auf, wie die neue ökonomische Regierungsrationalität in alle Bereiche menschlichen Lebens eindringt, und wie Steuerung, Zweck-Mittel-Zusammenhänge und kontinuierliche Kapitalvermehrung schließlich zur Ökonomisierung der Subjekte selbst führen.

1. D ie V erdinglichung des K indes in der E mpirischen E rziehungswissenschaf t Es versteht sich beinahe von selbst, dass die Arbeit von Erziehung und Bildung, ist sie doch immer Teil von und eingebettet in gesellschaftlichen Gegebenheiten, von diesen Entwicklungen nicht verschont bleibt. Die Ökonomisierung der Subjekte, welche ihren drastischen Ausdruck in dem Begriff des »Humankapitals« findet, macht vor Praxen der Erziehung und Bildung nicht halt. Im Gegenteil kann leicht gezeigt werden, wie sich Erziehungs- und Bildungsinstitutionen aufgrund eines ökonomischen und evidenzbasierten Denkens massiv umgestaltet haben und wie sich dabei vor allem die anthropologische Sicht auf das Kind radikal verändert hat (vgl. Krautz, 2010). Die dort hypothetisch angenommenen kausalanalytischen Wirkungsketten von mehr Investitionen in die Ausbildung und daraus resultierendem Wirtschaftswachstum promulgiert die ökonomische Rentabilität als Hauptkriterium erziehungs- und bildungspolitischer Reformen. Erzieherische »Investitionen« gelten danach nicht mehr in erster Linie der menschlichen Person, sondern primär der Brauchbarkeit und Nützlichkeit des Individuums im Hinblick auf zukünftige Arbeits- und Leistungsprozesse. Bildungsaufgaben, die sich nicht nach dem Schema von Input-Output klassifizieren, berechnen und evaluieren lassen, drohen marktwirtschaftlich und erziehungswissenschaftlich obsolet zu werden. Dieser – ökonomisch bedingte – Technisierungs- und Steuerungsoptimismus zwischenmenschlichen Lebens hat sich – vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auch unmittelbar in der Disziplinentwicklung der Erziehungswissenschaft niedergeschlagen (vgl. Radtke, 2016). Das oberste Ziel einer am Postulat der Werturteilsfreiheit orientierten Erziehungswissenschaft verlangte – denknotwendig und streng orientiert an einer ökonomisch-rationalistischen Vernunft – die Abwertung alles Nichtrationalen und bloß Intuitiven und das Streben nach sicherer Prognose, Kalkulation und Vorhersagbarkeit. Für solcherart erziehungswissenschaftliche Erkenntnis erscheint im strengsten Sinne alles das als wenig relevant, was zukünftig nicht durch technische Berechnung einerseits und experimentelle Überprüfung andererseits beherrscht und kontrolliert werden kann. Zieht man eine in dieser Auffassung von Erziehungswissenschaft sehr populäre Definition von Erziehung heran, so wird die dort postulierte mechanische Logik sofort sicht-

Über den Kältetod in der Empirischen Erziehungswissenschaf t

bar: »Von einem Menschen s1 absichtsvolles und geplantes Zuführen von Impulsen in Bezug auf einen Menschen s2 mit dem Ziel, das Lernen von s2 so zu beeinflussen, daß s2 Dispositionen so erwirbt oder ändert, daß s2 Verhalten realisiert, das die Verhaltens-Erwartungen von s1 (und/oder seines Auftraggebers) erfüllt.« (Rössner, 1979: 123) Der Effektivitätsorientierung verpflichtet, sieht diese Empirische Erziehungswissenschaft ihr oberstes Ziel darin, kausale und effizienzrelevante Bedingungen für das Realisieren von bestimmten Verhaltensweisen zu erforschen, welche weder zeitlich noch räumlich, mithin nicht geschichtlich-individuell begrenzt sind. Der »Erziehungstechniker« kontrolliert im Idealfall die technologisch aufgestellten Hypothesen hinsichtlich ihres Zeitaufwandes, der Kosten, Nebenwirkungen und der Zieladäquatheit, um sie gegebenenfalls aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit oder Ineffektivität zu korrigieren.

2. D ie Partikul arisierung von E rziehung und B ildung Erziehungswissenschaftliches Denken und erzieherisches Tun haben nicht länger auf die von den Vertretern und Vertreterinnen der sogenannten Geisteswissenschaftlichen Pädagogik postulierte Ganzheitlichkeit und Personalität des Zöglings zu zielen, sondern sie nehmen verstärkt jene Persönlichkeitsaspekte des Zuerziehenden in den Blick, welche aufgrund von »behavior modification« dauerhaft verändert und verbessert werden sollen. Eine ganzheitliche anthropologisch-pädagogische Perspektive wird durch eine erziehungswissenschaftlich-partikulare abgelöst. Im Zusammenhang mit der angestrebten Rationalitätssteigerung pädagogischen Tuns wird eine partikulare Sichtweise notwendig und bringt nach Hans Jürgen Apel unweigerlich »eine unangemessene Technokratisierung und Entpersönlichung pädagogischen Tuns« (1999: 11) mit sich. Michael Wimmer (vgl. 1999) hat dazu kritisch zu bedenken gegeben, dass partikulares erzieherisches Handeln immer ein instrumentelles Handlungsverständnis impliziert und ein daraus resultierendes poietisches Herstellen leicht zu einer Vergewaltigung, d.h. zu einer Verdinglichung der Person führt. Pädagogisches Handeln wird dann notwendig partikular, wenn es auf das Erreichen klar bestimmter und festgelegter Zwecke reduziert wird. Dagegen sind, mit den Worten Brezinkas gesagt, »gute Absichten, emotionale Anteilnahme und intuitiv für richtig gehaltene Probierhaltungen […] keine Garantie für den Erfolg der Erziehung« (Brezinka, 1976: 104). Sie verschwinden aus einer erziehungswissenschaftlichen Konzeption ebenso wie das Denken in komplexen Zusammenhängen, welches allererst den Raum für die Begriffe von pädagogischer Liebe und Person eröffnet (vgl. Seichter, 2007: passim). Auch für die Bedeutung von Erziehung selbst hat jener Prozess der Partikularisierung Konsequenzen: Der Begriff der Erziehung, welcher laut Giesecke »im harten Wettbewerb mit der Norm des Marktes« (2015: 12) steht, kann sich nicht länger auf die Gesamtperson des Zuerziehenden beziehen, sondern muss sich selbst auf einzelne steuerbare und zu vermarktende Aspekte seiner Persönlichkeit konzentrieren. Auch die Denomination verschiebt sich von dem herkömmlichen »Erzieher« zu dem ökonomisch orientierten, planmäßig und zielstrebig operierenden professionellen »Lernhelfer« und von der Person des Kindes zu einem »lernenden Subjekt«. Vor diesem Hintergrund scheint es dann geradezu als »normal«,

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dass weder ein ganzheitlicher Begriff von Erziehung noch auch ein umfassender Bildungsbegriff weiterhin existieren, geschweige denn gar als sinnvoll angesehen werden können. Lapidar heißt es dazu bei Giesecke: »Zentrale Aufgabe des pädagogischen Handelns ist nicht Erziehen, sondern Lernen ermöglichen« (2015: 15) innerhalb der »fünf Grundformen pädagogischen Handelns: Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren und Animieren« (ebd.: 72). Die Frage nach der Einheit des Pädagogischen scheint dabei mehr und mehr verloren zu gehen, und der Sinn einer pädagogischen Handlungsstruktur droht sich zu verflüchtigen (vgl. Wimmer, 1999). Das Zerstückeln des pädagogischen Gesamthandelns in einzelne isolierte, getrennt organisierte und institutionalisierte Lernprozesse verstellt den Blick auf die Gesamtperson des Edukanden und – horribile dictu – macht ihn scheinbar auch gar nicht mehr nötig. Die Grenzen des Lernen­ermöglichens werden nicht mehr in der Person des Kindes gesehen, sondern sie liegen nun dort, wo Lernprozesse nicht mehr der rationalen Aufklärung zugänglich sind. In dem Maße, wie das Erziehungsziel nicht mehr in der ganzheitlichen und individuellen Bildung der Person liegt, sondern sich vielmehr in bestimmten Lernleistungen materialisiert, welche nach vorgegebenen Kriterien trivialisiert und evaluiert werden können, und in dem Maße, wie Erziehungsbemühungen als »Korrekturen des Verhaltens« definiert werden, stellt Giesecke nur konsequent fest, dass die Verwendung des Erziehungsbegriffs für öffentliches pädagogisches Handeln äußerst problematisch geworden sei. Ohne das Erfassen einer Situation als pädagogische und ohne das Erörtern von Wert- und Normfragen (s. d. Mikhail, 2017) einschließlich der Bedeutung des Begriffs der pädagogischen Liebe für professionelles Handeln führen die genannten Umdeutungen – nach der treffenden Analyse Wimmers – in letzter Konsequenz zu einer »totalitäre(n) Utopie eines restlos homogenen, kontinuierlichen, transparenten und geschlossenen Wissensraumes, in dem potentiell alle Unbestimmtheiten und alles Nicht-Wissen in Wissen aufhebbar wäre und in dessen Zentrum das autonome Subjekt Herr nicht nur über die Sprache und seine Handlungen, sondern auch über seine Wirkungen wäre. Subjekt wäre es aber nur, sofern es sich den Imperativen des Wissens unterwerfen würde und damit seine Autonomie gerade verlöre. Die imaginäre Allmachtsphantasie verdeckt die reale Ohnmacht des Subjekts, die es jedoch dadurch verleugnen und verkennen kann, dass es sich mit dem Wissen identifiziert, anstatt es als Wissen zu wissen, das heißt eine Distanz zu ihm zu halten.« (Wimmer, 1999: 430)

3. Tatsachen stat t P ersonen Die starke Fokussierung auf allgemeine und objektive Tatsachen, ohne Berücksichtigung der je einmaligen und konkreten Personen, gibt dem distanzierten Beobachten und der nüchternen Erforschung von monokausalen Gesetzmäßigkeiten den absoluten Vorrang und führt dazu, der Sache mehr Bedeutung zuzusprechen als den daran beteiligten Personen (vgl. Seichter, 2009). Charles Dickens hat am Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Roman Harte Zeiten auf groteske Art und Weise die Folgen der Entemotionalisierung des Menschen aufgrund kaltherzig werdender gesellschaftlicher Umstände eindringlich beschrieben.

Über den Kältetod in der Empirischen Erziehungswissenschaf t »Wohlgemerkt! Was ich haben will sind Tatsachen. Paukt diesen Jungen und Mädchen hier nichts ein als Tatsachen! Tatsachen allein sind die Dinge, die man im Leben braucht. Pflanzen Sie nichts anderes ein, und rotten Sie alles andere aus! Sie können keines denkenden Tieres Geist anders bilden als einzig und allein auf Tatsachen. Nichts anderes wird hierzu jemals irgendwie zu brauchen sein. Dies ist der Grundsatz, nach welchem ich meine eigenen Kinder erziehe; und dies ist der Grundsatz, nach welchem ich diese Kinder hier erziehe.« (Dickens, 1986: 9)

Das dressurartige Abrichten der Kinder auf partikulare »Tatsachen« ohne Rücksicht auf ihre Individuallage spiegelt nach Ansicht von Andreas Gruschka eine neue Lernmoral, welche »als Resultat der gesellschaftlichen Reproduktionszwänge« (1994: 17) anzusehen ist. In seiner Studie Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung hat er schon 1994 großflächig aufgezeigt, wie die abendländische Zivilisation zunehmend von einem Prinzip der Kälte durchwirkt wird, welche sich aufgrund der materiellen Grundlagen der Reproduktion entwickelt. Der Topos der »Bürgerlichen Kälte« (1994) ist nach Gruschka aus der historisch-gesellschaftlichen Situation heraus zu deuten und kann in unserem Zusammenhang als Grund sowohl für das Verschwinden der Person als auch für die Austilgung des Liebesbegriffs angesehen werden.

4. K älte und D istanz Es war und ist nicht Gruschkas Ziel, »klimatische Zustände in der Pädagogik auszudifferenzieren oder gar ein Bewertungsschema für kalte Sachlichkeit, warme Zuwendung oder hitzige Aufklärung aufzustellen« (1994: 257) und auf diese Weise eine kalte Rationalität gegen eine dahinschmelzende Herzerwärmung innerhalb des erzieherischen Handelns auszuspielen, sondern es geht ihm darum, den Prozess der Demoralisierung des Menschen im Zuge seiner Vergesellschaftung grell zu beleuchten und die darin heimlich wirksamen sozialen Regelwerke aufzudecken. Aufgrund wachsender ökonomischer und wirtschaftlicher Bedeutung der Arbeitsprozesse definieren sich die arbeitenden Menschen immer weniger über den Wert ihrer individuellen Person und immer mehr über den Preis ihrer generellen, d.h. anonymen Funktionalität. Die Deutung der Person als verdinglichtes »Verfügungsobjekt« spiegelt am Ende die prinzipielle Austauschbarkeit von Menschen gleichsam wie von Maschinen wider. Angesichts einer alles beherrschenden Marktrationalität, welche den Wert der einmaligen Person geringschätzt oder sogar missachtet, dominiert hinsichtlich humaner Fähigkeiten und Fertigkeiten die kühle Kalkulation von Kosten-Nutzenrechnungen. Die Erbarmungslosigkeit dieses Konkurrenzprinzips wird im Kampf um Anerkennung, Macht und Prestige für jeden spürbar erfahren. Aus diesem »Kampf ums Überleben« resultiert für Gruschka eine Art von Kälte, welche vor allem die persönlichen Umgangsformen unter Personen nachhaltig beeinflussen. Das »Erwachen des Subjekts« (Adorno, zit.n. Gruschka, 1994: 39) – so Gruschka im Anschluss an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – musste durch die »Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen« (Gruschka, 1994: 39) erkauft werden.

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Horkheimer und Adorno, welche mehrfach versucht haben, die sozialphilosophischen Phänomene der Kälte aufklärerisch zu analysieren und das moralische Unbehagen an der Bürgerlichen Ordnung deutlich aufzuzeigen, haben sich auch dem Erkalten beziehungsweise dem Verschwinden der Liebe im Horizont von Konkurrenz und Rationalität zugewandt. »Das Tauschverhältnis, dem sie [die Liebe; A.G.] durchs bürgerliche Zeitalter hindurch partiell sich widersetzte, hat sie ganz aufgesogen; die letzte Unmittelbarkeit fällt der Ferne aller Kontrahenten von allen zum Opfer. Liebe erkaltet am Wert, den das Ich sich selber zuschreibt.« (Adorno, zit.n. Gruschka, 1994: 49) Die Kälte, welche die moralische Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen zu signalisieren und zu deuten vermag, »stiftet das Kontinuum zwischen theoretischen Einsichten/Orientierungen, praktischen Verhaltensweisen und emotionalen Integrationsleistungen« (Gruschka, 1994: 73). Obwohl das Christentum kontinuierlich versucht hat, »die alles durchdringende Kälte zu tilgen« (Adorno, zit.n. Gruschka, 1994: 41), ist unser heutiges Denken, Fühlen und Handeln maßgeblich – so abermals Gruschka – durch eine kalte Distanz gekennzeichnet. Die Brücke zu dem distanzierten Beobachter bzw. zur distanzierten Beobachterin der erziehungswissenschaftlichen Forschung lässt sich von hier leicht schlagen. Der Standpunkt unbeteiligter Distanz verträgt sich nicht mehr mit der Wärmemetapher und ist Ausdruck dessen, was dann bei Niklas Luhmann bekanntlich »Trivialisierung des Kindes« heißt. Dieses bewusste Absehen von der Personalität des Kindes eröffnet zwar die Möglichkeit zu einer professionell-rationalen Arbeit, erzwingt aber gleichzeitig auch »eine Leidenschaftslosigkeit der Erkenntnisarbeit« (Gruschka, 1994: 40). Diese Leidenschaftslosigkeit kann durchaus als Desinteresse an der Person des Kindes interpretiert werden, welches nunmehr als »Trivialmaschine« angesehen und damit in seiner individuellen Personalität verkannt oder gar negiert wird. Obwohl der Begriff der Kälte nicht ein Fehlen von Emotionen überhaupt besagt, meint er dennoch einen streng rationalen Umgang mit Emotionen und impliziert gleichzeitig die unterwürfige Anpassung an das Prinzip der Rationalität. Das widerstandslose, unbegründete und ungeprüfte Hinnehmen von empirisch ermittelten »Tatsachen« – von Zweck-Mittel-Schemata, Kausalplänen und am Ende gar »Technologieersatztechnologien« – führt nach Gruschka unweigerlich in eine anti-moralische weil wertfreie Haltung, hinter welcher man sich ungestraft der Verantwortung des Erziehungsgeschäftes entziehen kann (vgl. Seichter, 2008). Die von Gruschka verfassten Kältestudien haben insgesamt zu belegen versucht, dass das Prinzip der Kälte eine charakteristische Dimension des Erziehungsprozesses und der darin stattfindenden Interaktionen geworden ist. Dazu schreibt der Autor zusammenfassend: »Kälte entsteht im Hinnehmen, Überspielen und Reproduzieren des Widerspruchs zwischen dem moralischen Anspruch und der Wirkungswirklichkeit der Erziehung. Selbst dort, wo Lehrer sich darum bemühen, der Norm ihrer Praxis zu folgen, bewirken sie oft eine Desensibilisierung für die der Norm widersprechenden Implikationen sozialisatorischer Prozesse.« (Gruschka, 1994: 261)

Ein durch Kälte bestimmtes Verhalten wurde in den Kältestudien am Ende als eine »sozialmoralische Kompetenz« entlarvt, und das führte Gruschka schließlich zu

Über den Kältetod in der Empirischen Erziehungswissenschaf t

der nüchternen Feststellung, dass ohne ihre Omnipräsenz die Schule gar nicht funktionieren würde. Den unübersehbaren Zusammenhang zwischen moderner Erziehungswissenschaft und bürgerlicher Kälte, welcher unweigerlich auch eine Kälte bei den Schülern und Schülerinnen generiert, sieht Gruschka historisch schon parallel mit dem Entstehen der bürgerlichen Erziehung grundgelegt. »Mit der Erfindung und Durchsetzung einer Schule, die alle Kinder erreicht, werden diese gezwungen, in eine Institution einzutreten, die sie in Klassen zusammenfaßt, um sie vereinzeln zu können, die sie dem Konkurrenzprinzip unterwirft und so letztlich gegeneinandertreibt.« (Gruschka, 1994: 309)

5. E motionale V ernunf t : P ädagogische L iebe Die Folgen einer (andauernd latenten) entpersonalisierten Distanz können jedoch nicht einfach mit einem pädagogischen Programm der liebenden Nähe kompensiert bzw. bereinigt werden. Dass die Dialektik von Nähe und Distanz nur mittels eines aufgeklärten Spannungsverhältnisses von Liebe und Kälte getroffen werden kann, auch darauf hat schon Adorno besonders eindrücklich hingewiesen: »Liebe [zu] predigen setzt in denen, an die man sich wendet, bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber so, daß sie nicht lieben können, und darum ihrerseits keineswegs liebenswert. […] Der Zuspruch zur Liebe – womöglich in der imperativischen Form, dass man es soll – ist selber Bestandteil der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwanghafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde.« (Adorno, 1970: 106-108, zit.n. Gruschka, 1994: 82)

Versucht man, die korrektive Bedeutung der Liebe auf den erziehungswissenschaftlichen Kontext zu transformieren, um der (nochmals auf das Eingangszitat Hannah Arendts verweisend) tödlichen und sterilen Passivität des Pseudo-Tätigseins entgegenzuwirken, kann dies nur auf der Folie eines semantischen (und historisch-kulturellen) Deutungsmusters geschehen, welches sich zur Beschreibung einer pädagogischen Form von Beziehung als tauglich erweist (vgl. Seichter, 2014). Bei der Klärung dessen, was unter dem Begriff der pädagogischen Liebe, welcher vor allem während der Ära der sog. »Geisteswissenschaftlichen Pädagogik« kultiviert wurde und aktuell im Kontext eines Revivals der ethisch-personalen Gefühle wieder international diskutiert wird, zu verstehen ist, tut man gut daran, sich an einen Hinweis Eduard Sprangers zu erinnern. Dieser weist darauf hin, dass seine Klärung ausschließlich mit philosophischen Mitteln erreicht werden und somit auch der Versuch, das Problem der pädagogischen Liebe begrifflich zu fassen, nur theoretisch-konstruktiv erfolgen könne (vgl. Bilstein & Uhle, 2007; Seichter, 2007; Drieschner & Gaus, 2011). Geht man davon aus – wie ich es hier tue –, dass pädagogisches Handeln nur als ein interpersonales Handeln verstanden werden kann, so hat die Analyse dieses professionell interpersonalen Erziehungsverhältnisses zwischen den Polen von Rationalität und Emotionalität zu erfolgen. Es kann an dieser Stelle nur am Rande auf die für unseren Zusammenhang wegweisende Untersuchung Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions von Martha C.

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Nussbaum verwiesen werden, in der die nordamerikanische Philosophin die irreführende Entgegensetzung von Vernunft und Gefühl, Kognition und Emotion zurückgewiesen und nachdrücklich aufzeigt hat, dass es reine Gefühle gar nicht gibt, sondern diese immer schon von einem vernunftgeleiteten Urteil bzw. von einer rationalen Stellungnahme abhängen (vgl. Seichter, 2012). Aus dieser Perspektive gesehen verschließt sich der Begriff der pädagogischen Liebe nicht der wissenschaftlich-rationalen Analyse, sondern im kritischen Bewusstsein der beiden Pole von Rationalität und Emotionalität, welche beide vernunftgeleitete Urteile ermöglichen, wird jene Aufarbeitung geradezu notwendig.

6. D ie D ialek tik von N ähe und D istanz Versucht man die Strukturmerkmale einer pädagogischen Beziehungsform zu fassen, welche nicht nur von ökonomischen Evidenzkriterien, sondern ebenso von ethischen Prinzipien und Gefühlen bestimmt ist, so ist vor allem an die ambivalenten bzw. dialektischen Momente in Erziehung und Bildung zu denken, wie beispielweise die doublebinds von Emotionalität und Rationalität, von Nähe und Distanz, von Objektivem und Subjektivem oder von Bejahung und Negierung etc. Im Sinne einer geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Tradition konkretisiert sich die Form der pädagogischen Beziehung in der Anerkennung des Zuerziehenden, in einer von Sorge getragenen Hilfe bei der Personwerdung des Kindes, in einer dialogisch konstruierten Ich-Du-Beziehung und in einem verantwortungsbewussten Engagement seitens des Erziehers bzw. der Erzieherin. Dieser weiß um die Bedeutung der Dialektik zwischen einer erzieherisch-bildnerischen Nähe sowie einer unerlässlichen sittlich-ethischen Distanz und arbeitet darauf hin, den Heranwachsenden zu einem Leben in Selbstverantwortung und Mündigkeit zu führen, um das pädagogische Verhältnis schließlich überflüssig zu machen und aufzulösen. Die für das Kind auf Vertrauen basierende wechselseitige, wenn auch anfänglich asymmetrisch gedachte pädagogische »Erziehungsgemeinschaft« ist somit jene Handlungsform, in welcher der Erzieher bzw. die Erzieherin erstens den jungen Menschen fordert, zweitens seine Individualität in der gegebenen Situation und antizipierend im Rahmen seiner Möglichkeiten fördert und das drittens im Bezug auf objektive Werte und die kulturelle Gemeinschaft tut. Gegenwärtig ist – vor allem international gesehen – eine steigende Prominenz pädagogischer Erziehungs- und Bildungskonzeptionen zu beobachten, die sich unverkennbar – auch wenn sie es selbst oft nicht ausdrücklich zu erkennen geben – im (Be-)Deutungsraum des pädagogischen Liebesbegriffs bewegen. Die Rede ist vor allem von jenen Konzeptionen, die um die Frage nach der »Alterität« des Kindes als Person kreisen und die zwischenmenschliche Interaktion und Kommunikation als maßgebliche Grundlage für Erziehungs- und Bildungsprozesse sehen. Was Georg Bollenbeck für den Begriff und das Deutungsmuster der Bildung festgestellt hat, trifft auch auf die pädagogische Liebe zu: Mit einer – hier bedingt durch neoliberale Strukturen, die das Humane zu bedrohen scheinen – angeblich zu Ende gehenden Geschichte eines Deutungsmusters muss die Idee der pädagogischen Liebe als solche noch längst nicht erledigt sein. Empathie, Sympathie, Sorge und Verantwortung spiegeln die Aktualität neuer Deutungsmuster, und jene Begrifflichkeiten versuchen, die pädagogische Liebe, wenn auch nicht ihrem Namen nach, wohl aber

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hinsichtlich vieler ihrer konstitutiven Merkmale mit neuen Zu- und Beschreibungen zu kompensieren. Die Zuwendung zu anthropologisch und handlungstheoretisch personalen Momenten innerhalb von Erziehung und Bildung, das Betonen eines sorgenden und verantwortlichen professionellen Berufsethos sowie das Bemühen um eine Vermittlung der pädagogischen Grundpolaritäten und Paradoxien lässt unverkennbar eine erklärte Reserve und eine deutliche Abkehr von extremen und radikalen empirisch-erziehungswissenschaftlichen Ansätzen erkennen. Der Meinung, das Deutungsmuster der pädagogischen Liebe wäre zur Charakterisierung erzieherisch-professionellen Handelns hinfällig geworden, darf mit Fug und Recht widersprochen werden.

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Begehren und Zuschreiben Phänomene des Lernens und ihre Bedeutung für Bildungsprozesse Johanna Schwarz & Gabriele Rathgeb »We are drawn by love towards wisdom into understanding, drawn beyond information, grades, credentials, paychecks, ›success‹, and shallower notions of philosophy and education. We are carried by love to the fountain of wisdom with hope that it, like art, will yield its own reward: love for love.« (Rocha, 2014: 47)

1. L ernen und B ildung als E rfahrung Erfahrungsdimensionen schulischen Lernens aus pädagogischer Sicht werden in aktuellen Lerndiskursen (vgl. Faulstich, 2014) kaum berücksichtigt. Angesichts der Aufmerksamkeit, die Lernen in vielen Disziplinen – von der Medizin zur Biologie, von der Soziologie zur Psychologie, von den Neurowissenschaften zu den Sozialwissenschaften – genießt, verwundert es einigermaßen, dass philosophischpädagogische Zugänge unterrepräsentiert bleiben (vgl. Meyer-Drawe, 2008; Buck, 1989). In einer Zeit, in der funktionalistische, technizistische und normierende Zugänge zu Lernen und Bildung Hochkonjunktur haben, stellen erfahrungsorientierte (Forschungs-)Zugänge eine Randerscheinung dar. Doch was meint Erfahrung überhaupt? Mit Verweis auf Foucault beschreibt Meyer-Drawe Erfahrung wie folgt: »Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht.« (2015: 115) Dieser Beitrag folgt einem Verständnis, das Lernen und Bildung aus phänomenologischer Sicht als Erfahrung rahmt (vgl. Meyer-Drawe, 2015). Phänomenologie als Philosophie der Erfahrung fragt danach, »wie uns ›etwas als etwas‹ in unserer Erfahrung, im Denken, Wahrnehmen, Handeln oder Imaginieren sowie in anderen Zuwendungsweisen1 erscheint. Das erste ›Etwas‹ ist uns nur im Sinne des zweiten ›Etwas‹ gegeben« (ebd.: 122) und in der Erfahrung gehört zusammen, was mir etwas bedeutet.

1 |  Eine solche Zuwendungsweise ist auch das Lieben.

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Bildung als Erfahrung zu verstehen, hat weitreichende Konsequenzen. MeyerDrawe zeigt auf, dass sowohl in der Tradition der griechischen Antike wie auch in jener des Alten Testaments dem Menschen eine Vollendung verweigert wird und auf diese Weise »der Bildungsvorstellung von vorneherein ein Entzug, eine untersagte Erfahrung eingeschrieben« (ebd.: 126) ist. Im modernen Bildungsverständnis seit dem 18. Jahrhundert wird mit dieser Tradition gebrochen, »Selbstverwirklichung statt Selbstbeherrschung« (ebd.) lautet seither die Devise. Versteht man Bildung als Erfahrung, wird deutlich, dass diese wenig mit »Selbstfindung, Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung« gemein hat, sondern »eine konflikthafte Lebensführung, einen spezifischen Prozess der Subjektivation meint, der eingespannt bleibt zwischen reiner Autonomie und bloßer Heteronomie« (ebd.: 127). Ein aktuelles Forschungsprojekt, aus dem heraus die Innsbrucker Vignettenforschung entwickelt wurde (vgl. Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter, 2012), hat sich der Aufgabe verschrieben, Lernen in seiner Erfahrungsdimension zu betrachten und empirisch angemessen zu erforschen. Die zentralen Forschungsfragen waren dabei: Wie erfahren Schülerinnen und Schüler Schule? Was widerfährt ihnen an diesem institutionellen Ort? Wie antworten sie auf sich ihnen dort stellende Ansprüche? Dieser Forschungszugang basiert auf einem Verständnis von Lernen, das »auf die Rolle von Störungen, Irritationen, Verzögerungen und hemmende[n] Gefühlen aufmerksam macht« (Meyer-Drawe, 2015: 123), wenngleich dies dem Zeitgeist widerspricht. Solches Lernen hat zunächst »unsere Hilflosigkeit zur Folge […]. Sämtliche vertraute Ordnungen geraten ins Wanken. Das alte, zuverlässige Wissen und Können versagt, und eine neue Möglichkeit ist noch nicht vorhanden.« (Ebd.: 124) Das ist kein angenehmer Zustand, vermutlich auch keiner, den Lernende oder Lehrende lieben. Dennoch zeigt sich, dass mit Lern- und Bildungsprozessen häufig Erfahrungen von »Unstimmigkeit, Irritation, Ausweglosigkeit, Staunen, Wundern, Stutzen, Ratlosigkeit, Verwirrung und Benommenheit« (ebd.: 124) einhergehen. So wichtig die Korrektur eines einseitigen Lernverständnisses und die Betonung der Bedeutung von negativen Erfahrungen darin sind, so sehr ist die Bedeutung des (leidenschaftlichen) Interesses, der Freude am Lernen und der Liebe zum Wissen für das Lernen und für Bildungsprozesse nicht diskutierbar. Dabei wird deutlich, dass das Pathos, die Ekstase und die Leidenschaft, die mit dem Begehren eng verknüpft sind, sowohl auf schmerzliche als auch auf lustvolle Erfahrungen verweisen. Wege aufzuzeigen, mit solchen Erfahrungen so umzugehen, dass Wissbegierde und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, geweckt werden – Neues, das sich dem »Gewohnten widersetzt und sich nicht ins Gängige einfügen lässt« (ebd.), – ist eines der Anliegen dieses Beitrags. In einem ersten Schritt werden die Prämissen zweier unterschiedlicher Phänomene – Begehren und Zuschreiben – theoretisch vorgestellt, in einem zweiten Schritt sollen ihre konkreten schulischen Erscheinungsformen am Beispiel einer Vignette aus der Innsbrucker Vignettenforschung illustriert werden. In einem dritten und letzten Schritt werden die Befunde resümierend auf Intentionen und Anliegen des vorliegenden Bandes bezogen.

Begehren und Zuschreiben

2. V on den P hänomenen und ihren P r ämissen 2.1 Das Begehren nach Wissen »Wissen kann man weitergeben, das Begehren danach nicht. Der Wunsch zu wissen ist selbst kein Wissen. Was man liebt, möchte man so genau wie möglich kennen. Darum ist es wichtig, etwas zu begehren, um zu lernen. Die Sache muss in den Brennpunkt rücken. Neugierde muss entfacht werden.« (Meyer-Drawe, 2012a: 35)

Im Sinne dieses Zitats sind das Begehren nach Wissen, die Hingabe und Leidenschaft für eine Sache oder ein Thema zentrale Voraussetzungen für das Lernen. Schulischem Lernen mangelt es oft an diesem Pathos; Lehrende verfallen nicht selten »unter dem Druck der Zeit und der Forderung nach Effizienz in die Attitüde ›des Informierens‹« (ebd.: 36) und auf der Seite der Lernenden stehen das Erledigen von Aufgaben und das Bestehen von Prüfungen im Vordergrund. Es stellt sich die Frage, inwiefern es Schule und Lehrenden gelingt, Wissbegierde und Neugierde von Schülerinnen und Schülern anzustacheln und ihr Interesse wachzuhalten. Was trägt dazu bei, das Begehren nach Wissen zu wecken und was lässt es verstummen? Im Gegensatz zu Konzeptionen, die das Begehren aus einem Mangel heraus erklären und es damit in die Nähe von Bedürfnissen rücken, soll hier Denkrichtungen der Vorzug gegeben werden, die das Begehren als Begehren des Anderen, als Bezogenheit eines Selbst auf den oder die Andere/n kennzeichnen. Nach Waldenfels ist etwas, »das als etwas intendiert oder in etwas erstrebt wird, […] darüber hinaus etwas, wovon wir getroffen sind und worauf wir antworten, indem wir es auf diese oder jene Weise meinen und erstreben« (Waldenfels, 2002: 60). Wenn Waldenfels die Begriffe »Eros« und »Begehren« in Anlehnung an Platons Schrift Phaidros in analoger Weise gebraucht, nimmt er »das Moment des Außer-sich-geratens« (Waldenfels, 2000: 317) in den Blick. »Der Eros ist keine Verhaltensweise, über die wir verfügen, die wir nach bestimmten Regeln und Konventionen gestalten, sondern der Eros ist seinem Wesen nach etwas, das uns aus der Normalität herausreißt.« (Ebd.) Wenngleich in diesem Beitrag das Begehren nach Wissen und dessen Bedeutung für Lernen und Bildung im Zentrum der Betrachtung steht, soll darüber hinaus nicht vergessen werden, dass sexuelles Begehren und Sexualität, die alle Lebensbereiche durchdringen, auch in pädagogischen Zusammenhängen eine zentrale, gelegentlich auch problematische Rolle spielen. Die Notwendigkeit der Kultivierung des (sexuellen) Begehrens zeigt sich insbesondere in pädagogischen Beziehungen, die von Machtverhältnissen ge(kenn)zeichnet sind. Möglicherweise sind es gerade der Versuch der Unterdrückung und Verleugnung des Eros als sinnlicher Kraft und ein einseitiges Fokussieren auf Kognitives in Lern- und Bildungsprozessen, die Formen sexuellen Missbrauchs den Boden bereiten. In der »Trennung von Wissen und Begehren« sieht Waldenfels eine Dissoziation am Werke, die »z.B. die Form einer starken Intellektualisierung oder Ideologisierung annimmt,

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wo einerseits über alles gesprochen wird und andererseits die Lebensabläufe in relativer Trivialität versinken, wo Erleben und Sprechen auseinandertreiben« (2000: 328). Gerade diese Dissoziation ist es, unter der schulisches Lehren und Lernen nicht selten leiden. Das Begehren nach Wissen entzündet sich am Anderen, am Anderen als menschlichem Anderen, aber auch an Dingen und am Wissen selbst. In diesem Zusammenhang rückt die Frage nach dem Verständnis und der Konzeption von Wissen in den Fokus. Wissen bedeutet nicht nur ein (vorläufiges) Antworten auf ein vorhergehendes Fragen, sondern erhebt zugleich einen Anspruch; es appelliert an uns und unser Begehren. Der Anspruch, der von Wissen ausgeht, kann nur hörbar werden, wenn Wissen als eine Form der Praxis verstanden wird, in der Bedeuten und Begehren Hand in Hand gehen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn Wissen in einem dialogischen Prozess hervorgebracht, weitergegeben und für Transformationsprozesse offen gehalten wird. Wissen wird in einem solchen Zugang nicht als etwas Fertiges und Abgeschlossenes präsentiert, sondern in seiner Brüchigkeit, Rätselhaftigkeit und Offenheit gezeigt. Im Wissen spricht sich das Begehren der Vorgenerationen aus. Gerade dem Rätselhaften, Fragwürdigen, Widersprüchlichen des Wissens, das im Frage-Antwort-Ereignis zwischen Selbst und Anderem den Raum für das Pathische offen hält, eignet in besonderer Weise das Potenzial, Neugierde und Wissbegierde zu entfachen. Die ekstatische Verfasstheit des Selbst korreliert mit diesem Zug des Wissens und ermöglicht ein Auf brechen vom Zuhause in ein Anderswo, in ein Land, das wir nicht kannten. (Vgl. Lévinas, 2003: 35) Das Begehren nach Wissen ist Ausdruck dieser Gerichtetheit des Selbst auf Andere und Anderes, eine unendliche Bewegung, in der sich das Selbst zuallererst konstituiert. In einem Verständnis von Wissen, das dieses (auch) in seinem Appellcharakter wahrnimmt, fordert dieser Appell nicht nur eine Antwort ein, sondern unterstellt diesem Wissen darüber hinaus auch eine Attraktivität, die es von sich aus zu entfalten vermag. Solches Wissen sowie die ihm inhärente Leuchtkraft und sein Potenzial, Welt- und Selbstverstehen zu ermöglichen und zu vertiefen, appelliert an unser Begehren. Insofern könnte man vom Eros des Wissens sprechen. Wissen und Wahrheitsansprüche in ihrer Partialität, Lokalität und Körpergebundenheit zu zeigen und Wissen als Herrschaftswissen und perspektivisch bestimmtes Wissen auszuweisen, bedeutet nach Rabl, dieses als veränderbar darzustellen und mit ethischen Ansprüchen zu verknüpfen. (Vgl. Rabl, 2014: 73) Damit wird die Frage relevant, inwiefern in Wissen eingeschriebene Differenzen und Machtkonstellationen zur Fortschreibung oder Veränderung ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. Wenn Wissensordnungen nicht als fertige und abgeschlossene gesehen, sondern in ihrer Begrenztheit, Perspektivität und damit Veränderbarkeit dargestellt werden, wird der Fokus vermehrt auf ethische Implikationen, die mit Wissen verbunden sind, auf Verantwortlichkeit und auf die Ermöglichung von Urteils- und Handlungsfähigkeit durch Wissen gerichtet. (Vgl. ebd.: 74f) Ein solches Wissen kann einerseits ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse fortschreiben, andererseits verweist es auf sein gesellschaftsveränderndes Potenzial, Subjekte zur Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu ermächtigen und zum Handeln zu befähigen – eine Einsicht, die das Begehren nach Wissen anstacheln könnte. Das Begehren wie die Wissbegierde werden vor allem in intersubjektiven Zusammenhängen entfacht. In diesen ist immer damit zu rechnen, dass sich das

Begehren und Zuschreiben

Begehren, das eigene wie das der anderen, ausspricht. Jede Rede ist vom Begehren durchzogen, ist begehrende Rede. (Vgl. Waldenfels, 1994: 347) Das bedeutet, dass das Begehren in jeder Beziehung und im Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden immer mitschwingt und es nur darum ginge, dieses Begehren aufzuspüren. Insbesondere ist es der Anspruch der Dinge – sowohl in seiner einladenden als auch in seiner abstoßenden Geste –, der in der Lage ist, Wissbegierde und Neugierde zu wecken. Nach Kurt Lewin ist die Aufforderung, die von den Dingen ausgeht, eine »Aufforderung, auf die Dinge zuzugehen, etwas mit ihnen zu machen« (Waldenfels, 2000: 374). Wie in der Begegnung mit der/dem Anderen von Angesicht zu Angesicht ist das Antworten auf die Aufforderung der Dinge nicht als freier Akt zu denken. »Es beginnt mit dem Ereignis, daß mir etwas entgegentritt, mich anreizt, mich lockt: etwas reizt mich zum Herunterspringen. Dieser Anreiz steht nicht in meiner Macht, sondern er ist etwas, worauf antwortend ich überhaupt in Aktion trete.« (Ebd.: 377)

Im Rekurs auf Merleau-Ponty betont Waldenfels, dass der Leib in diesen Aufforderungsfeldern als ganzer tätig sei, wenn auch unter wechselnden Dominanten. Die Sinne sind nicht teilbar, das widerspräche der Eigendynamik und Selbstorganisation des Leibes. (Vgl. ebd.: 377f). Waldenfels weist auf einen symbolischen Überschuss hin, der bereits bei einfachen Situationen auftrete. So stehe z.B. das Öffnen einer Tür nicht nur für die Möglichkeit, in ein anderes Zimmer zu gelangen, sondern auch für den Zugang zu einem neuen Erfahrungsbereich. (Vgl. ebd.: 376) Gerade Brüche und Widrigkeiten erweisen sich nicht selten als Einfallstore des Pathischen. (Vgl. Waldenfels, 2002: 59) Insbesondere jene Momente, die irritieren und verunsichern, die das Eigene in Frage stellen und in denen sich die Fremdheit des Anspruchs offenbart, entfachen die Wissbegierde. Diese Momente eröffnen die Chance, Lern- und Bildungsprozesse zu initiieren, sie können aber auch Angst und Abwehr erzeugen. Für das (schulische) Lehren und Lernen könnte dies bedeuten, dass es wichtig ist, den Raum für den Einbruch des Neuen offen zu halten, das Fremde zuzulassen und nicht Barrieren dagegen zu errichten, indem allzu viel vorstrukturiert, vorgeplant und Wissen den Lernenden in kleinen, essfertigen, leicht verdaulichen Portiönchen und Aufgabenstellungen serviert wird.

2.2 Zuschreiben als wirkmächtiges Phänomen in der Schule »In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die andern in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. […] Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben der Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer.« (Frisch, 1976: 29)

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Das Zitat von Max Frisch artikuliert unsere Verstrickung mit den Anderen und der Welt, ein Befund, der für das Phänomen Zuschreibung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Meyer-Drawe & Schwarz, 2015; Schwarz, 2012; 2013; 2016). Dass wir teilweise zu jenem Wesen werden, das die Anderen in uns hineinsehen, artikuliert eine fundamentale Wesensstruktur schulischer Zuschreibungserfahrungen. Die Eigenschaften und Charakteristika, die wir uns wechselseitig zuschreiben, prägen offensichtlich nachhaltig. Es ist die Rede von der Verantwortung der Zuschreibenden vor allem für die Ausschöpfung des Potenzials, das die Adressaten bzw. Adressatinnen zur Verfügung haben, und das durch Zuschreibungen geschmälert werden kann. Das Bild des Spiegels, im Rahmen dessen die Anderen als die Opfer und Erzeugnisse unserer erstarrten Menschenbilder erscheinen, weist bereits auf die weitreichende Wirkmacht schulischer Zuschreibungserfahrungen hin. Im Extremfall führen Zuschreibungen zu Fixierungen, Erstarrungen, zu stereotypen Bildern, zu Stigmatisierung und Ausgrenzung. Dass dies auf eine heimliche und unentrinnbare Weise geschieht, weist auf Ambivalenzen, auf schwer Durchschaubares und Komplexes hin und macht Zuschreibung zu einem schillernden Phänomen. Je nachdem, welches Licht auf einen schillernden Gegenstand geworfen wird bzw. aus welcher Perspektive er betrachtet wird, changiert, schwankt und flimmert er in unterschiedlichen Farben und Facetten (vgl. DWB). Synonyme wie verschwimmend, ambivalent oder schwer durchschaubar verstärken dies. Das Phänomen Zuschreibung stellt sich als ähnlich vielschichtig, schillernd und schwer durchschaubar dar und erscheint in jeweils anderem Lichte, je nachdem aus welcher Perspektive es betrachtet wird. Das deutet auf eine komplexe Gemengelage hin, welche die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Gegenstand zu einer sehr herausfordernden macht. Wie Zuschreibungen wirken und sich in den Leib einschreiben können, selbst wenn die Schülerinnen und Schüler sie gar nicht hören, weil sie, beispielsweise, nicht in ihrem Beisein, geäußert werden, prägt den Umgang mit diesem Phänomen. Wie lässt sich empirisch fassen, was unsichtbar, unhörbar und im Verborgenen wirkt? Wie lassen sich Zuschreibungserfahrungen so beschreiben, dass sie sich als Geschehen in Klangfarben, Tonlagen, Nuancen und Facetten zeigen und »verkörpern [können], ohne sogleich auf die eingefahrenen Bahnen von Logos, Organon, Regel oder Konsens zu geraten« (Waldenfels, 1994: 17)? Waldenfels’ Bild des Registers oder des Verzeichnisses, in das man Ergebnisse von Untersuchungen einträgt, ist angemessen, eine Verfahrensweise im Umgang mit diesem Phänomen zu beschreiben, die diesem gerecht wird. Es wird zusammengetragen, was sich zu Zuschreibungen aus sehr unterschiedlichen Zugängen und Perspektiven sagen lässt, ohne dass alle gleichermaßen erschöpfend behandelt werden könnten oder zu einer konzisen Synthese führten. Die Ambivalenz, Opazität und bedingte Undurchdringlichkeit des Phänomens bringt es mit sich, dass endgültige Antworten sowie eindeutige Befunde in einem solchen Register fehlen. Schülerinnen und Schülern werden aus unterschiedlichen Gründen Eigenschaften zugeschrieben. Dadurch werden sie als bestimmte Lernende anerkannt, als andere nicht. Dies markiert nicht nur den schulischen Umgang mit ihnen, sondern auch die Art der Aufmerksamkeit, die sie dort bekommen. Es stellt sich die Frage, ob Lernenden, die als schlecht attribuiert sind, weiterhin komplexe (Aufgaben-)Angebote gemacht werden, oder ob bei solchen, die als brillant etikettiert

Begehren und Zuschreiben

sind, noch überprüft wird, was es mit dieser Exzellenz auf sich hat. Zuschreibungserfahrungen sind häufig Diskriminierungserfahrungen in der Schule und haben Widerfahrnischarakter. Wir können uns davor nicht schützen, sondern sind ihnen ausgesetzt, sodass wir durchleiden (müssen), was uns hier widerfährt. Die Anderen, die uns Eigenschaften zuschreiben, sind unserem Einfluss- und Wirkungsbereich entzogen. Wir können weder den Zeitpunkt bestimmen, an dem Zuschreibungen erfolgen, noch können wir deren Schwere oder Leichtigkeit erfassen. Oft hören wir Zuschreibungen nicht, weil sie nicht in unserer Anwesenheit geäußert werden, sondern spüren oder vermuten lediglich ihre Wirkung. Während »zuschreiben« den Akt des Zuschreibens meint, betont das Nomen »Zuschreibung« den Vollzug oder das Ergebnis zuschreibenden Denkens, Redens oder Handelns. Im Synonym »attribuieren« schwingt ein Tribut mit, der zu leisten ist, während »unterstellen« andeutet, dass es sich um etwas Negatives handelt. Allerdings entfalten auch positive Zuschreibungen ihre ganz spezifische Wirkmacht. Der Begriff des Schreibens im Verb »zuschreiben« ist irreführend, weil es sich hier um nichts Schriftliches handelt. Die festen Bilder, mit denen Zuschreibungen operieren und gegen die Lernende im Grunde machtlos sind, äußern sich vorwiegend mündlich, gestisch oder mimisch bzw. artikulieren ihre Wirkmacht im Handeln (vgl. Meyer-Drawe & Schwarz, 2015: 129). Wir sind nicht neutral in der (Schul-)Welt, sondern nehmen immer etwas als etwas wahr (vgl. Husserl, 1985; Waldenfels, 1992, 2000; Meyer-Drawe, 2010). In einer Gruppe von Kindern in der Schule nehmen wir diese als Aufgeweckte, Langsame, Freche, Unscheinbare, Mutige, Brave, Intelligente oder Schwache wahr. In jeder Ausprägung dieses etwas als etwas drücken sich Wertschätzung oder Geringschätzung aus, Lieblosigkeit oder liebevolle Anerkennung. Wir können aber nicht nicht zuschreiben: In Zuschreibungen machen sich Lehrpersonen ein Bild, ordnen und strukturieren das Erfahrene. Dies gibt Halt und Orientierung, aber typisiert und kategorisiert auch. Typisierte und global bewertende Bilder oder erstarrte Bilder aufgrund wiederholter Zuschreibungen führen leicht zu Stigmatisierung und Diskreditierung, zu sozialer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Benachteiligung (vgl. u.a. Brusten & Hurrelmann, 1976; Goffman, 1975, 1973; Rabenstein & Reh, 2009; Arens & Mecheril, 2010; Mecheril et al., 2011).

3. V igne t ten als K l angkörper des L ernens Vignetten als »Klangkörper des Lernens« (Brinkmann, 2012; Meyer-Drawe, 2012c; Schratz et al., 2012: 30) wurden als Forschungsinstrumente eines Zugangs entwickelt, der der Flüchtigkeit von Lern- und Bildungserfahrungen gerecht werden soll. Vignetten haben eine Genauigkeit besonderer Art; sie sind prägnant, nicht präzise (vgl. Gabriel, 2010; Meyer-Drawe, 2012c: 14; Meyer-Drawe, 2015). Sie verfügen in ihrer Trächtigkeit über einen Erfahrungsüberschuss, der weder eindeutig interpretiert noch final analysiert oder operationalisiert, sondern je nach Perspektive ausdifferenziert und in seinem Reichtum an Nuancen und Facetten gefasst wird. Die folgende Vignette erfährt im Anschluss eine phänomenspezifische Lektüre, welche die bisherigen Befunde illustrativ auf konkrete schulische Erfahrungsweisen bezieht.

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Johanna Schwarz & Gabriele Rathgeb »Es ist Englischstunde. ›Have‹ und ›has‹ werden wiederholt. Zero fragt: ›Wie lange dauert die Stunde noch?‹ Der Lehrer antwortet schnell, mit klarer und fester Stimme: ›Diese Frage stellt man nicht!‹ und schreibt dann die Vokabeln einer ganzen Lehrbucheinheit an die Tafel: zuerst die deutschen und daneben die passenden englischen Wörter. Die Kinder schreiben sie ab. Anschließend setzt sich der Lehrer an einen freien Schülertisch ganz hinten. Einige SchülerInnen, die mit der Aufgabe schon fertig sind, beginnen die Schulsachen einzupacken. Der Lehrer stoppt sie, laut und deutlich: ›Wir müssen die Wörter noch besprechen! Ich habe nichts von Wegräumen gesagt!‹ Er beginnt die englischen Wörter vorzusprechen. Die SchülerInnen sprechen im Chor nach. Beim Vorsprechen verwendet der Lehrer verschiedene Stimmlagen und Tempi und variiert die Lautstärke. Er spricht laut und leise, im Flüsterton, brüllt, spricht schnell und langsam. Die Kinder tun es ihm nach. Es läutet. Die Kinder schnaufen auf: ›Jaah!‹ Der Geräuschpegel in der Klasse steigt an. ›Hallo, hallo, wir sind noch nicht fertig. Ich sage, wir machen weiter!‹, unterbricht der Lehrer das in der Luft liegende Endlich. Erst dann, in der schon angefangenen Pause, beenden sie die Unterrichtsstunde gemeinsam, der Lehrer und die SchülerInnen.« (Schratz et al., 2012: 70)

In dieser Vignette werden im Englischunterricht die Hilfszeitverben wiederholt. Angesichts der Tatsache, dass hier mit einem Zeitphänomen gearbeitet wird, mutet es eigenartig an, dass Zeros Frage nach der Dauer der Stunde mit einer so harschen Zurechtweisung beantwortet wird: »Diese Frage stellt man nicht!« Darin drückt sich Empörung aus über Lernende, die dem Ende des Unterrichts entgegenfiebern und nicht bis zur letzten Sekunde aufmerksam scheinen. Die Vokabeln einer ganzen Lehrbucheinheit schreibt der Lehrer an die Tafel, die deutschen wie die englischen Wörter, und die Lernenden sind aufgefordert, sie in ihr Heft zu kopieren. Warum dafür der Umweg über die Tafel genommen werden muss, und die Schülerinnen und Schüler diese nicht direkt aus dem Lehrbuch in ihr Heft kopieren bzw. aus dem Buch lernen können, erschließt sich nicht. Auch nicht, dass Unterrichtszeit, die offensichtlich so wertvoll ist, dass die Frage nach ihrem Ende einem Tabubruch gleichkommt, für eine reine (Abschreib-)Übung verwendet wird; dass die Lehrperson vor dem nahenden Stundenende und auch als es schon zur Pause geläutet hat, mit dem chorischen Nachsprechen der soeben geschriebenen Wörter fortfährt, genauso wenig. Es entsteht der Eindruck, dass es hier weniger um einen kreativen, zielführenden, interessanten oder innovativen Weg geht, die Wissbegierde für die fremdsprachliche Verwendung von Zeitformen zu nähren, als um die Disziplinierung frecher und vorlauter Zehnjähriger. Diese wagen es, nach dem Ende der Stunde zu fragen, wie Zero, oder packen vorzeitig ihre Sachen, wie jenes Grüppchen, das das Geforderte zwar schon fertiggestellt hat, aber dennoch gerügt wird. Diese sich in den Aussagen des Lehrers ausdrückenden impliziten Zuschreibungen – frech, ungehörig, arbeitsscheu, nichtsnutzig – legen die Schülerinnen und Schüler auf ein Bild fest, das in der Antwort der Lehrperson darauf nur die scharfe Zurechtweisung zuzulassen scheint. Diese Lehrperson verabsäumt es, differenzierter zu fragen, weshalb die Lernenden ihre Sachen noch vor dem Läuten der Glocke zum Stundenende wegpacken. Fürchtet die Lehrperson um die Aufrechterhaltung der Kontrolle über das sich im Klassenraum vollziehende Geschehen? Weshalb der Lehrer sich an einen Schülertisch ganz hinten im Klassenraum setzt, und was er da tut, erschließt sich nicht. Dies kann zudem nur von kurzer Dauer gewesen sein, da er postwendend die Kinder am Zusammenpacken hindert

Begehren und Zuschreiben

und eine chorische Ausspracheübung startet, die den Charakter einer Drillübung hat. Die Positionierung der Lehrperson im Klassenraum ist prägend für den Stempel, den das Geschehen, das sich dort abspielt, erhält. Steht sie am Katheder, mit dem Rücken zur Tafel, zentral und frontal vor der Lerngruppe, hat sie den Gesamtüberblick und das Geschehen fest im Griff. Wendet sie der Klasse den Rücken zu, etwa beim Aufschreiben der Vokabeln an die Tafel, kann alles Mögliche geschehen, das sich ihren Blicken entzieht. Dass die Lehrperson in dieser Szene zuerst nach hinten wechselt, deutet an, dass sie den Kindern freien Lauf im Erledigen der Abschreibübung lässt. Dies erweist sich als halbherzig, wechselt sie doch umgehend in ihre mächtige Position zurück, sobald jene Schülerinnen und Schüler, die die geforderte Aufgabe schon fertig gestellt haben, ihre Sachen zu packen beginnen. Wieso das gerade jene trifft, bleibt fragwürdig, handelt es sich dabei ja nicht um Tunichtgute, die der Arbeit entfliehen wollen, sondern um Schnelle oder Fleißige, die ihr Pensum in kurzer Zeit geschafft haben. »Wir müssen noch die Wörter besprechen, ich habe nichts von Wegräumen gesagt!« – Das kollektive Wir im Wechsel mit dem singulären Ich korrespondiert sprachlich mit dem Wechseln der Lehrperson zwischen Machtposen und (scheinbar) freilassenden Gesten. Die Lernenden haben hier nicht die Macht, die Lehrperson auf diese Inkongruenz hinzuweisen oder die Sinnhaftigkeit des Beginnens einer neuen Aufgabe so kurz vor Unterrichtsschluss zu thematisieren. Die Ohnmacht und wohl auch Empörung der Kinder entlädt sich im geschnauften »Jaaa!« beim Hören der Schulglocke und, wie die Vignettenschreibende dies ausdrückt, im in der Luft liegenden »Endlich!«, das der Lehrer sofort unterbricht: »Wir machen weiter!« Die Zehnjährigen haben angesichts der strukturellen Ungleichheit in den im Schulkontext herrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen keine Möglichkeit, ihren Wunsch nach dem Ende der Stunde oder gar ihren Protest angesichts der implizit mitschwingenden Zuschreibung und Unterstellung – sie wollten nicht arbeiten, sondern suchten jede Gelegenheit, der Arbeit in der Englischstunde zu entfliehen – verbal auszudrücken. Es sind die leiblichen Gesten der hörbaren geschnauften Erleichterung sowie des gehauchten »Endlich!«, die in zuschreibungsreflexiver Lesart Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit dem, was geschieht, eröffnet hätten. Solche leiblichen Gesten und Gebärden in den Blick zu bekommen und mögliche Lernimpulse darin zu entdecken, würde sich lohnen. Aus dem Verhalten der Zehnjährigen lässt sich nicht zwingend ableiten, sie wären faul, ungehörig, uninteressiert an Arbeit usw. Zeros Frage nach dem Stundenende könnte viel mehr bedeuten als die Lesart der Lehrperson – er wollte sich vor der anstehenden Arbeit drücken – zu implizieren scheint. Vielleicht will er sich die Zeit einteilen, die ihm noch bleibt, zur Fertigstellung des Geplanten, vielleicht gibt es viele andere Gründe, die ihn das Ende der Stunde herbeisehnen lassen. Weder diese leiblichen Gesten noch das Läuten der Schulglocke, das den Schülerinnen und Schülern eigentlich die Pause garantiert, scheinen die Lehrperson zu beeindrucken. Die Geringschätzung, die sich im Handeln der Lehrperson artikuliert, erscheint lieblos und dem Anliegen des Initiierens von Lernvollzügen wenig förderlich. Der Lehrperson soll hier keineswegs Bösartigkeit oder generell fehlende Wertschätzung den Schülerinnen und Schülern gegenüber angelastet werden. Vielleicht artikuliert sich in ihrem Handeln auch nur die gute Absicht, die Dauer der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit bestmöglich für das Lernen zu nutzen. Das gemeinsame Beenden der Unterrichtsstunde, das Erkleckliches an Pau-

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senzeit stiehlt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier wenig Gemeinsames passiert ist. Der Lehrer hat die Genugtuung, dass er Herr über Zeit und Inhalt im Unterricht ist, aber um welchen Preis ist diese Machtposition erkauft? Wie wirksam das Gelernte zur Verwendung der englischen Zeitformen und Vokabeln ist, bleibt dahingestellt. Offen bleibt auch, wie sehr sich die Erfahrung festsetzt, dass es verboten ist, gewisse Fragen zu stellen, oder dass beendete Aufgaben noch lange nicht bedeuten, dass diese in eine verdiente Pause münden. Wo und als was zeigen sich in dieser Vignettenszene Wissbegierde und Neugierde? Worauf richtet sich das Begehren der Kinder, worauf das des Lehrers? Wovon sind die Lernenden und der Lehrer in dieser Englischstunde in Anspruch genommen? Welche Ansprüche stellt der Lehrer hier an die Schülerinnen und Schüler und wie antworten sie darauf? Inwiefern wecken diese das Begehren der Lernenden, auch jenes nach Wissen? In dieser Situation werden gleich mehrere Spannungsfelder sichtbar, die von verschiedenen, teilweise gegenläufigen Ansprüchen gekennzeichnet sind. Diese sind vor allem mit den Dimensionen der Zeit, der Beziehung und der Macht verknüpft. Die Unterwerfung des Lernens, der Inhalte wie der Personen unter das Diktat der zeitlichen Taktung kann einen Störfaktor für das Begehren nach Wissen und Lernen darstellen. Wissbegierde lässt sich nicht takten, nach Minuten und Stunden einteilen. Insbesondere die vorgegebene Zeitstruktur der schulischen 50-MinutenEinheiten und wohl auch der Druck, der durch Lehrpläne und hoch angesetzte Lernziele erzeugt wird, führen dazu, dass Lernen und Arbeiten von ständigen Unterbrechungen bedroht sind. Lernvollzüge, sollten sie in Gang kommen, werden zeitlich reglementiert und in Minuten und Stunden zerlegt, Inhalte und Aufgaben werden in kleinen Häppchen serviert. Von Schülerinnen und Schülern ist rasches Sich-Einlassen und ebenso rasches Wieder-Abkühlen gefordert. Das Begehren nach Wissen und Lernen wird immer wieder geweckt, doch seine Ansätze nicht selten im Keim erstickt. Das führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler Abwehrstrategien entwickeln und von vorneherein Schutzmäntel auf bauen, indem sie sich erst gar nicht allzu sehr auf eine Sache oder Aufgabe einlassen oder eben sehr pragmatisch vorgehen. Wenn das Begehren (nach Wissen) erwacht, ist oft gerade keine Zeit dafür. Inwiefern wird dies in der Englischstunde deutlich? Der Lehrer beharrt auf dem Durchhalten bis zum Schluss, auf seiner Verfügungsmacht über die Zeit oder auch auf dem Einhalten der vorgegebenen Zeitstruktur. Beinahe scheint es so, als würde ihn die Frage Zeros nach dem Ende der Stunde dazu animieren, jetzt erst recht sein Programm durchzuziehen und eine nicht enden wollende Zahl an Vokabeln an die Tafel zu schreiben. Auch die Schülerinnen, die ihre Aufgaben schon beendet haben und beginnen, ihre Schultasche einzupacken, werden vom Lehrer gestoppt. Die Uhr und der Lehrer als ihr Wächter verweisen darauf, dass die Stunde noch nicht zu Ende ist. Die vorgegebene Zeitstruktur scheint im Missverhältnis zum zeitlichen Erleben und Wünschen der Lernenden zu stehen. Es ist zu vermuten, dass die Lehrperson von den Lernenden verlangt, sich ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, sich auf das Lernangebot einzulassen. Die Frage nach dem Ende der Stunde stört dieses Sich-Einlassen, reißt heraus und schafft Distanz. Gleichzeitig ist die Zeitstruktur in der Schule allgegenwärtig. Die Schulglocke unterbricht in Gang kommende Lernvollzüge, stoppt Lehrende wie Lernende in ihrem Tun und stellt sich quer zu dem, was gerade Sache ist. Alle Akteure und Akteurinnen sind

Begehren und Zuschreiben

gefordert, mit dieser Situation zurechtzukommen und sich ihre Zeit nach den äußeren Zeitvorgaben einzuteilen. Lernende üben sich zum Beispiel darin, sich nicht fünf Minuten vor Ende der Stunde noch auf eine Aufgabe intensiv einzulassen oder auch darin, ihr Pausen- und Erholungsbedürfnis auf die gegebenen Möglichkeiten abzustimmen. Zeros Frage ist also nicht nur mehr als berechtigt, sondern sie zeigt auch, dass er gelernt hat, mit der schulischen Zeitstruktur umzugehen. Die Lehrperson hingegen möchte die vorhandene Zeit möglichst gut nützen, um ihren Lernenden etwas beizubringen, in diesem Fall englische Vokabeln. Das Begehren der Lernenden nach dem Ende der Stunde oder zumindest nach einer Orientierung in der Zeit steht – zumindest vordergründig – gegenläufig zu diesem Anspruch. Nicht nur die zeitlichen Bedingungen zeigen sich in dieser Situation als Hindernis für die Weckung von Wissbegierde und Neugierde, auch die Unterrichtsmethoden, die der Lehrer anwendet, scheinen kaum dazu angetan, das Begehren der Lernenden nach Wissen zu wecken. Wenn Vokabeln und deren deutsche Übersetzung von der Tafel abgeschrieben werden sollen, wenn englische Wörter im Chor – in verschiedenen Stimmlagen und Tempi – gesprochen werden, trägt das möglicherweise kaum dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler mit sich, mit der Lehrperson und mit den Sachen des Lernens in Beziehung treten. Eher kommt es zu einer Unterforderung der Kinder und Jugendlichen und zu einer Trivialisierung der Inhalte, wie dies Heinz von Förster (von Foerster & Pörksen, 1999: 65ff), Andreas Gruschka (2011) oder Konrad Paul Liessmann (2006) beschreiben. Die Methoden und Abläufe scheinen die intensive Auseinandersetzung mit den Sachen zu erschweren oder gar zu verunmöglichen; sie scheinen die Liebe zum Wissen eher zu ersticken als zum Leben zu erwecken. Wenn Wissen einen Anspruch erhebt und an uns und unser Begehren appelliert, wie kann dieser hier hörbar werden? Wissen ist als eine Form der Praxis zu verstehen, in der Bedeuten und Begehren Hand in Hand gehen. Was könnte es bedeuten, Wissen und Wahrheitsansprüche in ihrer Partialität, Lokalität und Körpergebundenheit zu zeigen (Rabl, 2013: 73)? Inwiefern werden hier Wissen als Herrschaftswissen und perspektivisch Bestimmtes deutlich? Die Art der Vermittlung von Sprache in dieser Englischstunde problematisiert nicht, sondern geht von einer Eindeutigkeit aus, die es so nicht gibt. Sprache ist kein fixes und starres System, sie bildet Wirklichkeit nicht nur ab, sondern verändert sie zugleich. Das Abschreiben einzelner Wörter verkennt zum Beispiel, dass Sprache nicht aus Einzelwörtern besteht, sondern dass Sinn immer nur im Zusammenhang erfassbar ist. Das chorische Sprechen und Nachsprechen von einzelnen Wörtern in verschiedenen Laustärken und Tempi macht kaum nachvollziehbar, wie sehr die Art der Betonung den Sinn verändern kann oder wie reich und facettenreich sprachliche Kommunikation – in verbaler und nonverbaler Form – ist. Gerade das Englische wird weltweit in vielen Varianten gesprochen, die einerseits Ausdruck der Vielfalt der Menschen und Kulturen sind, andererseits aber auch auf Differenzen und Machtkonstellationen verweisen. Anhand von Vignetten kann gezeigt werden, dass das Interesse der Lernenden an den Sachen des Lernens vor allem aus der Beziehung zu den Lehrenden, aber auch zu Mitschülerinnen und Mitschülern erwächst. (Vgl. Rathgeb, 2017: 290ff) Nicht immer gelingt es, diese Beziehungen und die Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden so zu gestalten, dass das Fragen und Antworten nicht engmaschige und vorprogrammierte Formen annimmt, sondern für Pathisches,

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für Überraschungen und für den Einbruch des Neuen offengehalten wird. Der Anspruch des Anderen, insbesondere des menschlichen Anderen, ist es, der vor allem in der Lage ist, das Begehren zu entfachen. Doch dazu bedarf es des Hörens auf diesen Anspruch von beiden Seiten. Waldenfels und Lévinas weisen darauf hin, dass wir nicht aus freien Stücken auf die Ansprüche anderer antworten, sondern dass wir unwillkürlich respondieren und antworten müssen. Lediglich wie und was wir antworten, bleibt uns überlassen. Am Verhalten des Lehrers könnte man sein Begehren nach der Erfüllung von Pflichten und den Gehorsam gegenüber schulischen Vorgaben ablesen. Der Lehrer folgt in dieser Situation sowohl Ansprüchen der Institution wie auch möglichen gesellschaftlichen Vorstellungen von der Lehrerrolle. Es entsteht der Eindruck, als wäre die Anwesenheit des Dritten, hier der Institution Schule, aber auch der Gesellschaft und die Appelle, die von ihnen ausgehen, so dominant, dass sie den Lehrer blind und taub machen für die Ansprüche der Lernenden, die der Lehrer deshalb nicht oder nur verzerrt vernimmt. Dies ist nur eines der Hindernisse, die den Weg zum Begehren, zur Wissbegierde verstellen. In den Augen der Lehrperson ist das, was für Zero und seine Mitschüler und Mitschülerinnen Thema ist, Hindernis und Störung und so stuft er dies, unreflektiert zuschreibend, als Desinteresse oder sogar Aufmüpfigkeit ein. Der Lehrer sieht seine Autorität gefährdet und handelt entsprechend. Die Situation wird zu einer Disziplinarmaßnahme und zu einer Machtdemonstration. In dieser Auseinandersetzung setzt sich der Lehrer durch: Die Kinder folgen ihm – zumindest in ihrem äußeren Tun – bis zum Ende der Stunde. Doch scheint keine wirkliche Freude am Lernen oder Liebe zum Wissen aufkommen zu wollen. Das Vorsprechen der englischen Wörter in verschiedenen Stimmlagen und Tempi könnte ja auch Freude machen. Die Kinder folgen dem Lehrer, heißt es, sie tun es ihm nach, doch das von Aufatmen begleitete Jaaa! nach dem Läuten konterkariert die pädagogisch-didaktische Absicht des Lehrers. So verkommt die vielleicht gut gemeinte Aktivität zum mechanischen Erledigen einer der vielen Aufgaben, die an diesem Vormittag bereits gestellt wurden. Die Kinder scheinen mit ihren Köpfen und Herzen, mit ihren Gedanken und Leibern längst woanders. Die Art und Weise, wie sich das Begehren der Kinder und Jugendlichen in der Schule zeigt, entspricht häufig nicht den Vorstellungen und Erwartungen der Erwachsenen. Wie anhand von Vignetten gezeigt werden kann, sind die Bedingungen, die jeglichem Begehren förderlich sind, mit jenen, die das Begehren nach Wissen wachrufen, verwandt. (Vgl. Rathgeb, 2017: 309) Dort, wo das Begehren unter dem Anspruch von Ordnung, Funktionalität und Disziplin unterdrückt wird, schleicht sich zugleich auch das Begehren nach Wissen auf leisen Sohlen davon oder verdrückt sich in den Untergrund und waltet im Geheimen. Störungen und Irritationen sind es jedoch zuallererst, die das Begehren wachrufen und die Wissbegierde entfachen. Das Glätten von Unebenheiten, das Abschleifen von Ecken und Kanten, sei es in den schulischen Räumen als auch – im übertragenen Sinn – bei den Kindern und Jugendlichen, scheinen kaum dazu angetan, dem Begehren Raum zu geben. Das Ausbrechen aus der Gewohnheit und dem Gehäuse der Alltagswelt (vgl. Meyer-Drawe, 2012b: 32) erfordert Mut und braucht Lehrende, die gelegentlich als Brandstifterinnen und Störenfriede agieren (vgl. Meyer-Drawe, 2012a: 39), nicht solche, die vor allem an Ruhe und Disziplin interessiert sind, die

Begehren und Zuschreiben

angepasstes Verhalten einfordern und ängstlich über der Aufrechterhaltung ihrer Überlegenheit wachen.

4. A bschliessende B emerkungen Die Gemeinsamkeiten von Bildung und Lernen gründen vor allem in der Erfahrungsdimension der beiden Vollzüge. Der Erfahrungsbegriff verweist darauf, dass das Selbst immer schon in Anspruch genommen ist vom Anderen und von Anderen, bevor es in der einen oder anderen Weise auf diese Ansprüche antwortet. So sind Bildung wie Lernen nicht als vom Selbst bestimmte und gestaltete Aktivität zu verstehen, sie entspringen nicht eigener Initiative, sondern sind wesentlich (mit-) bestimmt von den Anderen und der Welt, in der wir leben. Bildung, die seit dem Ausgang des 18. Jahrhundert zumeist als etwas verstanden wird, »das Menschen mit sich und für sich machen« (Bieri, 2012: 228), ist eben gerade kein »intraindividuelles Geschehen« (Mertens, 1998: 125), sondern das Selbst bildet sich im Austausch mit dem Anderen und den Anderen, mit der Welt, den Dingen und den Menschen. Bildung als ein »Losreißen von sich selbst« (vgl. Foucault, 2005a: 52, zit.n. Meyer-Drawe, 2015: 116) zu verstehen, entzieht gängigen Bildungsverständnissen, die Bildung vor allem als Identitätssuche, Selbstfindung oder Selbstverwirklichung deuten, den Boden. Eine Spurensuche nach bildenden Erfahrungen in Vignetten in Angriff zu nehmen, hieße also, jene Momente ausfindig zu machen, in denen das Selbst durch Welterkenntnis in Frage gestellt wird und in denen »eine stets revidierbare Haltung zur eigenen Verhältnishaftigkeit und damit eine grundsätzliche Skepsis gegenüber eigenen Einschätzungen« (Meyer-Drawe, 2015: 129) befördert werden. So bedeuten z.B. Zuschreibungen Festlegungen und stehen im Widerspruch zu jener Intransparenz und zur Fremdheit, von der das Selbst von Anfang an heimgesucht ist. Gleichzeitig können Zuschreibungen aber auch Irritationen auslösen, die dazu beitragen, Widerständigkeit und eine Haltung auszubilden, die dadurch gekennzeichnet ist, »dass man sich nicht nur als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse begreift, sondern sich diesen entgegenstellt« (ebd.: 129). Die Schülerinnen und Schüler des Vignettenbeispiels mögen (zu wenig) Vokabeln gelernt haben in dieser Englischstunde, erfahren haben sie Disziplinierung und Geringschätzung dessen, was sie schon geleistet haben sowie Unverständnis für ihr Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Diese Erfahrungen und wie Lernende auf sie respondieren, können Teil eines fortwährenden Bildungsprozesses sein, der durch Irritationen und Verletzungen ebenso bestimmt ist wie durch die Erfahrung von Anerkennung und Respekt. Entscheidend dafür, wie Erfahrungen wirken, ist nicht zuletzt die Möglichkeit und Ausbildung der Fähigkeit ihrer Reflexion, wenngleich Erfahrungen uns nur zum Teil zugänglich und artikulierbar sind und das, was das Selbst bildet, zu einem guten Teil im Dunkeln bleibt. Wenn Bildung ein Offenhalten des Möglichkeitsraums des Fragens ist, wenn sie bedeutet, »die Fraglichkeit der Selbst-, Welt- und Fremdbezüge nicht zu überwinden« (Meyer-Drawe, 2015: 127), offenbart dies einmal mehr den engen Zusammenhang zwischen dem Begehren (nach Wissen) und Bildung. Wie das Begehren ist auch Bildung eine nicht zum Ende kommende Bewegung, die sich mehr dem Fragen als dem Antworten verpflichtet weiß und die das Selbst über sich hinaus-

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reißt in ein Anderswo. Das Begehren nach Bildung anzustacheln, ist auch Aufgabe formeller Bildung; nicht im Sinn des lebenslangen Lernens, das als Dogma der sogenannten Wissensgesellschaft Menschen an die Kandare nimmt und ihnen die Verantwortung für die Selbstbildung bis zum Tod auferlegt, sondern im Sinn der Notwendigkeit der Kultivierung des Selbst und seines Begehrens, der Freude an Beziehung, der Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe und im Sinn der Liebe zum Wissen. Die Erfahrungsdimension von Bildungsprozessen und Lernvollzügen entlarvt nicht nur die Autonomie des Selbst als Illusion (vgl. Meyer-Drawe, 2000), sie deckt auch die Fragwürdigkeit des Primats des Denkens und Sprechens in den Wandlungsprozessen der Verhältnishaftigkeit des Selbst auf. Bildung wie Lernen sind nicht nur Kopfsache. Wenn sich im Lernen wie durch Bildung unser Verhältnis zu uns selbst, zu Anderen und zur Welt verändert, betrifft dies den ganzen Menschen, mitsamt seinem Leib, seinem Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln. Lern- und Bildungserfahrungen schreiben sich in den Leib ein. Gerade leibliche Artikulationsweisen sind deshalb besonders aufschlussreich, wenn es darum geht, Phänomenen wie Zuschreibung oder Wissbegierde auf die Spur zu kommen. Diese äußern sich weniger sprachlich-verbal als leiblich – in Mimik, Gestik, Tonalität und Stimme. Diese Aspekte erhalten in Vignetten besondere Aufmerksamkeit, sie ermöglichen es Lesenden, die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler ein Stück weit mitzuerfahren. Die Dissoziation von Leiblichem und Geistigem, von der Waldenfels spricht, verkennt die Bedeutung von Emotionen für Lern- und Bildungsprozesse. Bildung beginnt, so Bieri (2012: 229), mit »Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt.« Wissbegierde und Neugierde sind also nicht nur wichtig, um zu lernen, sondern sie stoßen Bildungsprozesse zuallererst an. Wenn es im Sinne des Eingangszitats (vgl. Rocha, 2014: 47) die Liebe ist, die uns zum Brunnen der Weisheit führt, jenseits von Noten oder Berechtigungen – was bedeutet dies nun für Lernen und Bildung? Meyer-Drawe macht auf den Zusammenhang von Liebe und Lernen aufmerksam: »Was man liebt, möchte man so genau wie möglich kennen. Darum ist es wichtig, etwas zu begehren, um zu lernen.« (2012c: 17) Von Liebe im Zusammenhang mit Lernen oder Bildung zu sprechen, irritiert. Möglicherweise assoziieren wir mit Liebe in Bildungskontexten sexuellen Missbrauch oder Gewalt in der Beziehung von Schülern und Schülerinnen und ihren Lehrenden. Dennoch sollten wir uns davor hüten, vor lauter Sorge um Irr- und Abwege wesentliche Dimensionen des Menschseins und menschlicher Beziehungen aus dem Lernen und Lehren, aus formellen Bildungskontexten zu verbannen. Meyer-Drawe verweist auf die Notwendigkeit, als Lehrende »über die Ränder der Erkenntnis- und Wissenshorizonte hinaus[zu]blicken und [zu] berücksichtigen, dass wir auch in der Begegnung von Lehrenden und Lernenden nicht nur epistemische Subjekte sind, sondern Träumende, Spielende, Sehnende, Begehrende – vor allem Erfahrende, denen eine expressive Welt noch etwas zu sagen hat« (2012a: 38f). Das an unseren Schulen sein zu dürfen, sei allen Lernenden und Lehrenden von Herzen gewünscht.

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Bildung exklusive [Liebe] Ein Essay über Ausklammerungsversuche und kulturhistorische Stilbrüche Thomas Sojer & Nadja M. Köff ler

Bildung exklusive Liebe: Wo ist die Liebe und allen voran der Liebesbegriff im Kontext formaler Bildung hin verschwunden? Sind Affekte, Gefühle und emotionale Unkontrollierbarkeit des liebenden wie auch geliebten Menschen moderner Bildung an den Orten ihrer Institutionalisierung etwa fremd geworden oder ist Liebe in formalen Bildungskontexten gar einer willentlichen Verfremdung, wenn nicht gar Verteufelung unterworfen? Woher rührt die Negation der Liebe als Grundlage pädagogischer Praxis, die entgegen ihrer eigenen Begriffsgeschichte argumentiert? Ein Blick auf die pädagogische Literatur der letzten Jahrzehnte veranschaulicht, dass der Liebesbegriff und seine Zusammenführung mit der pädagogischen Praxis in öffentlichen Einrichtungen gänzlich unangetastet blieb und einer Tabuisierung unterliegt. Das Andenken von Liebeswirklichkeiten im Schul- und Universitätskontext wird als fehlplatziert empfunden – auch wenn nicht von der Hand zu weisen ist, dass Bildungsinstitutionen als soziale Lebensräume menschliche Interaktionen in all ihren Facetten niemals ganz zu bändigen vermögen. Vermeintliche Synonyme wie Wertschätzung, Wohlwollen, Nähe oder Bindung fanden Eingang in die Literatur und den Sprachgebrauch (vgl. Drieschner & Gaus, 2011: 9). Phrasen wie »Liebe zum Kind« oder der Begriff »Begehren« werden mit Bezug auf die pädagogische Praxis hingegen tunlichst gemieden. Allein der Ausspruch »Ich mag Kinder.« hinterlässt in pädagogischen Kontexten ein allgemeines Gefühl des Unbehagens in Bezug auf die richtige Wahl von Nähe und Distanz. Vor dem Hintergrund fehlender Zugeständnisse an die Relevanz von Liebe für die pädagogische Praxis schält folgende Ausführung jene Tendenzen und Motive willentlicher Ausklammerung heraus, die auf dem Vorwurf fußen, das Urgeheimnis menschlicher Existenz drohe als irrationale Kraft Grenzen und Ziele gelingender Bildung zu überschreiten, zu verzerren und letztlich zu Fall zu bringen. Das reizvolle Zusammenspiel von Bildung und Liebe eröffnet sowohl Potenziale als auch Fallstricke und Abgründe »pädagogischen Liebens«, die es zu benennen und auszuverhandeln gilt. In einem paradox anmutenden Balanceakt ist einerseits durch Entbanalisierung, andererseits durch Entmythologisierung der beiden Begriffe, die fundamentale Relevanz des Liebens für die Qualität von Lern- und Bildungsprozessen einer Prüfung zu unterziehen. Die hier geführte Argumentation

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adressiert als Desiderat folglich die Notwendigkeit, dem an den Randbereich gedrängten Phänomen Liebe im Kontext öffentlicher Bildung (wieder) eine Stimme zu verleihen (vgl. Drieschner & Gaus, 2011: 8), denn als wesentlicher Bestandteil menschlicher Bildung muss Liebe Fundament pädagogischen Handelns werden und bleiben.

1. Trivialisierung und V erwahrlosung grosser B egriffe Bildung und Liebe – zwei Begriffe von einst einnehmender Bedeutung, die aufgrund ihres unreflektierten und inflationären Gebrauchs inhaltsleer ausbleichen. Gemäß André Comte-Sponville (2014: 36) scheint man »sich des Wortes [Liebe] umso lieber zu bedienen, je weniger man weiß, wovon man redet.« Damit verführt die willkürliche Verwendung des Liebesbegriffs zu seiner Banalisierung und Verniedlichung und geht der Tragweite und Tiefe der ursprünglichen Bedeutung verlustig. Dass die Wissenschaften hier nicht nur d´accord gehen, sondern darüber hinaus die Liebe in ihrer Objektivierungs- und Systematisierungswut wegrationalisieren, zeigt sich beispielsweise an der offenkundigen Zurückhaltung, »Liebe in den klassischen Kanon philosophischer Themen und Problemstellungen aufzunehmen« (Hähnel, 2015: 9) – ungeachtet der Tatsache, dass die Philosophie ihre Namensgebung der ›Liebe zur Weisheit‹ verdankt. Jean-Luc Marion sieht eine akademische Philosophie vor sich, die sich hütet, über Liebe zu sprechen. »Schweigen ist übrigens besser, als dass sie [die Philosophie] sie [die Liebe] schlechtmacht oder verrät, wenn sie denn einmal wagt, über sie zu sprechen.« (Marion, 2011: 11) Marions euphemistische Deutung des Schweigens verkennt die Gefahr der Ignoranz: Als stille Zensur verbannt es die Liebe aus dem Sprachgebrauch und der sozialen Wirklichkeit. Dem Verbannten haftet zunehmend der Ruch des Unmoralischen an, und einstmals Geschätztes exiliert zum Tabu. Emmanuel Lévinas (1992: 38) untermauert das vorherrschende Misstrauen, indem er den Liebesbegriff mit dem Attribut »verdorben« ausweist und seine Verwendung im wissenschaftlichen Diskurs damit als hochgradig kritisch einstuft. Etliche Disziplinen nähern sich der existentiellen Urkraft deshalb nach wie vor stiefmütterlich und meiden Liebe als Gegenstand denkerischen Interesses. Ein ähnliches Schicksal ereilt den Bildungsbegriff: Der Bildungswissenschaftler Bernd Lederer (vgl. 2011: 16) erklärt diesen angesichts seiner plattitüdenhaften Verwendung zum Unwort, wohlwissend, dass ein Verzicht aufgrund seiner Omnipräsenz das Dilemma nicht zu lösen vermag. Beide Begriffe sind einer definitorischen Verwahrlosung ausgesetzt, die eine Klärung kaum zulässt und Begriffsverwirrungen und plurale Verwendungsweisen weiter vorantreibt. Banalisierung und Ignoranz treffen auf Bedeutungsunschärfe und fehlendes Fassungsvermögen. Im Hinblick auf das bunte »Bedeutungspotpourri« (Lederer, 2011: 17) von Bildung und Liebe wird in Frage gestellt, ob Definitionsversuche großer Begriffe überhaupt Sinn machen bzw. notwendig erscheinen. Denn es besteht Grund zur Annahme, mit weiterführenden und neuen Diskursen die beiden Begriffe einer weiteren Bedeutungsentleerung auszusetzen. Nichtsdestotrotz scheint ihre Wirkmacht unangetastet. Die Worte Bildung und Liebe lassen entgegen aller (mutmaßlichen) Trivialisierungs- und Verwahrlosungs-

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tendenzen nach wie vor aufhorchen. Konfrontiert mit der zu allen Epochen der Geistesgeschichte präsenten Frage, was die Begrifflichkeiten im Letzten bezeichnen, sieht dieses Essay den Schlüssel des Problems im Zusammenspiel beider Triebkräfte. Bildung und Liebe gestalten sich als Rätsel, dessen Auflösung mit der Frage, weshalb öffentliche Bildungskontexte Liebe ausklammern, verbunden ist.

2. D er P ädagogische E ros unter G ener alverdacht Die Abwehrhaltung der Pädagogik gegenüber der Liebe fußt auf drei historisch gewachsenen Aspekten: a. auf dem Trugschluss, Liebe mit Sexualität gleichzusetzen, b. auf der Bedeutungsverzerrung des Pädagogischen Eros in Wechselwirkung mit der medialen Zurschaustellung sexueller Missbrauchsfälle an pädagogischen Elite-Einrichtungen jenseits journalistischer Sensibilität und Differenziertheit, und c. der Unberechenbarkeit und Unbiegsamkeit der Liebe, die in Spannung zur einfrierenden Normierung und Formalisierung institutionalisierter Bildung steht.

2.1 Liebe und Sexualität Der Frage nach Nähe und Distanz ist die Frage nach Leiblichkeit eingeschrieben. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts rückt nach Epochen der Transzendenz und Rationalität der menschliche Leib ins Zentrum des Menschenbildes, maßgeblich angetrieben durch die Arbeiten der französischen Phänomenologie. Sexualität wird aus den Parametern der Moralität und weltanschaulicher Deutung befreit und als selbstbestimmte Erlebniswirklichkeit in Raum und Zeit fassbar gemacht. Maurice Merleau-Ponty definiert Sexualität als zum Leben selbst koextensiv und erklärt sie damit zum Inbegriff des personalen Vollziehens (vgl. Merleau-Ponty, 1945: 187). Eine Dialektik von Enttabuisierung des Sexuellen und medialer Hypersexualisierung verdrängt, was Transzendenz und Rationalität noch bewahren konnten, nämlich die gegenseitige Bezugnahme von Sexualität und Eros. Im dystopischen Verfall wird Eros zu Erotik, Erotik zu Pornographie und Pornographie mutiert zu Gewalt. Liebe wird ihrem Wesen nach ausgeklammert, obwohl die reformpädagogische Literatur im Zuge der sexuellen Revolution en masse von ihr sprachlich Gebrauch machte. Auf dem Programmparteitag der nordrhein-westfälischen Grünen wird 1985 ein Papier verabschiedet, das gewaltfreie Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern erlauben will (vgl. Reichardt, 2014: 775). Simone de Beauvoir erwählt in ihren Vorlesungen besonders begabte Studentinnen zum Beischlaf mit ihrem Lebensgefährten Jean Paul Satre (vgl. Pasquini, 2014: 16). Diese Fälle veranschaulichen, wie wichtig Sexualität genommen wird, »so wichtig […], dass sie oft mit der Liebe verwechselt wird und […] geglaubt wird, ein sexuelles Erlebnis sei die Voraussetzung für die Liebe« (Lauster, 2001: 3). Der pädagogische Eros wird folglich als sexuelles Lernen umgedeutet. In Film und Belletristik regiert der Topos rechtswidriger, keine Altersgrenzen kennender Affären. Was die Fantasie an die Leinwand wirft, findet sich bald in den Schlagzeilen der Tagespresse: prominentes

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Beispiel sind der Bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß und seine 17-jährige Ulli. Die ursprüngliche Hinwendung zur Leiblichkeit pervertierend, reduziert sich Sexualität auf Geschlechtsakt und Triebbefriedigung. Der originäre Sinngehalt des pädagogischen Eros, der Feuer, Leidenschaft und bedingungsloses Wohlwollen im Streben nach Bildung entfachen will, erlischt. Ein Vakuum der Liebe ruft nach einer Ausuferung der Triebe, denn »wo die Qualität des Liebesglücks fehlt«, so Viktor Frankl, »muss dieser Mangel durch die Quantität des Sexualgenusses kompensiert werden, […] je weniger ein Mensch beglückt wird, umso mehr muss sein Trieb befriedigt werden« (Batthyány, 2014: 24). Eine richtungsweisende Entwicklung, die mit der Aufdeckung der Missbrauchsskandale für den pädagogischen Eros tödlich wurde. Als zentrale Metapher reformpädagogischer Ansätze war die Abgrenzung zwischen Lauterem und Unsittlichem nicht mehr gegeben und stand unter Generalverdacht, eine Einladung zur unsittlichen Berührung junger Menschen auszusprechen. Gerne wurden Parallelen mit der antiken Praxis der Knabenliebe gezogen. Der Geschichte von Bildung und Liebe wurde in ihrer Umdeutung zur Geschichte von Erziehung und Missbrauch jedweder ethische Boden entzogen.

2.2 Die Medien und die Missbrauchsfälle Der Begriff des pädagogischen Eros wird heute medial als Einstieg in die verwerflichen Praktiken der Pädophilie stigmatisiert. Missbrauchsfälle an repräsentativen Eliteschulen und Landerziehungsheimen (wie Ettal, Odenwaldschule, Kremsmünster in Österreich), wie auch die Enthüllungen der Sozialethikerin Martha Nussbaum zu ihren Erfahrungen der sexuellen Belästigung vonseiten ihres Doktorvaters (vgl. Aviv, 2016), zeugen von der Altersund Kontextunabhängigkeit sexuellen Missbrauchs in öffentlichen Bildungseinrichtungen. Dass Abhängigkeitsverhältnisse sexuelle Übergriffe provozieren, zeigt sich durchgehend vom Primar- bis zum Tertiärbereich. »Gerade weil die personale Beziehung zwischen Erzieher bzw. Erzieherin und Zögling eine derartig existentiell aufeinander verwiesene, auf ihre Weise, im Hinblick auf das Lernen, auch immer intime ist, ist ihr die Gefahr unterschiedlichster Dimensionen von Missbrauch immer schon logisch mit eingeschrieben.« (Drieschner & Gaus, 2011: 9) Es fällt in pädagogischen Kontexten daher schwer, dem Eros einen positiven Klang abzugewinnen. Der Liebesbegriff wird im Kontext eines Abhängigkeitsverhältnisses nur mehr negativ gelesen. Eine wichtige Frage richtet sich deshalb an Möglichkeiten und Umsetzung der Grenzziehung zwischen Zuwendung und Übergriffigkeit – eine Frage pädagogischer Professionalisierung, die dankbar im Interesse formalisierender und normierender Bildungseinrichtungen aufgegriffen wird.

2.3 Unberechenbarkeit und Unbiegsamkeit der Liebe Gerade in Zeiten fortschreitender Normierung und Standardisierung formaler Bildung steht das Konzept der pädagogischen Liebe in einem spannungsgeladenen Verhältnis zu aktuellen Professionalisierungsbestrebungen in der Pädagogik. Die Angst, Missstände dieser Art könnten sich ausbreiten und abwegige sexuelle Neigungen von Heimleitung, Lehrpersonen und Professoren- bzw. Professorinnenkurie in einem unvorhergesehenen Ausmaß ans Licht bringen oder gar provozieren,

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führt zur gesellschaftlichen Forderung, Gefühle und Emotionen in öffentlichen Bildungseinrichtungen als unangemessen zu deklarieren und mit einer gewissen ›professionellen‹ Distanz zu begegnen. Die Ausblendung bzw. Tabuisierung von Liebe lässt öffentliche Bildungsinstitutionen jedoch zu emotionsarmen Stätten der Wissensfabrik deformieren. Dabei wird schnell übersehen, dass geschürte Ängste gegenüber dem liebevollen Umgang in Kindergärten, Schulen oder Universitäten den Professionalisierungsbestrebungen geradezu dienlich sind bzw. in die Karten spielen: Der pädagogische Eros wird in der Missbrauchsdebatte zum Sündenbock erklärt. Eine Struktur der Ordnungsschaffung und Disziplinierung, die sich von heiklen Abhängigkeitsverhältnissen nährt (vgl. Foucault, 2014) und nachweislich zum Auf blühen sexuellen Missbrauchs beiträgt, inszeniert sich selbst als Heilmittel der eigen verschuldeten Krankheit. Liebe ist gefährlich, denn sie vermag Ordnungen aufzubrechen, Grenzen zu sprengen, neu zu ziehen und andere Realitäten zu schaffen – Realitäten, die in hierarchischen Strukturen als Gegenspieler die Tradierung altbewährter Normen und Werte gefährden. Die Instrumentalisierung sexuellen Missbrauchs ermöglicht es, sich der Liebe vollkommen zu entledigen, weil Prekarität und emotionale Aufgeladenheit der Sachlage keine Diskussion über den ursprünglichen Sinngehalt des pädagogischen Eros zulassen. Die Tatsache, dass sexueller Missbrauch gerade in Bereichen stattfindet, die Wissen um die Sensibilität und Zerbrechlichkeit des Menschen voraussetzen, schreit jedoch nach einer tiefgreifenden Auseinandersetzung, die weder den pädagogischen Eros verteufelt noch die Verstrickungen und Perversionen von Liebe verschleiert. Denn im bedingungslosen Streben nach dem richtigen Maß von Nähe und Distanz wird zuhauf verkannt, dass Liebe als Gefühlsbindung eine Grundvoraussetzung des Lernens und des Sich-Bildens ist.

3. W arum die F akultas des H erzens das F undament der B ildung bleiben muss Liebe wurde in bildungsphilosophischen Schriften überwiegend als (pragmatisches) Erziehungsmittel oder Erziehungsziel für pädagogische Kontexte definiert. Die Trennung von Liebe und Bildung wurde daher in allen Epochen als unvollkommen bzw. mangelhaft begriffen. Und es war die Liebe, die die Bildung vor der Degradierung zur Ausbildung zu bewahren versuchte. Herodot beschreibt im fünften vorchristlichen Jahrhundert Solon, das Urbild jedes Staatsmannes, als Mensch, dessen Handeln stets durch Liebe zur Bildung motiviert war. Für seinen Zeitgenossen Isokrates ist die Entfaltung der Liebe Voraussetzung für einen Lernprozess (vgl. Eucken, 1983: 168). Bernhard von Clairvaux formt im 12. Jahrhundert seine Zöglinge im Geist, dass jeglicher Bildungsvollzug ohne die Wirkmacht der Liebe belanglos und aufgeblasen ist – Liebe ohne Bildung zum Irrtum führt (vgl. Hurter, 1888: 578). August Hermann Niemeyer verweist im 18. Jahrhundert in der Tradition Pestalozzis auf den Nutzen des sensiblen Zusammenspiels zwischen Zögling und Erzieher bzw. Erzieherin. Denn erst durch die emotionale Verbundenheit wird der Respekt gegenüber dem Erzieher bzw. der Erzieherin gewahrt (vgl. Niemeyer, 1879: 242). Der Kinderarzt Remo Largo geht davon aus, dass der Eros Paedagogicus Grundvoraussetzung für eine kindgerechte Lehrtätig-

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keit sei. Verbundenheit gegenüber dem Pädagogen/der Pädagogin und eine stabile emotionale Beziehung können dazu führen, dass der Zögling eher bereit ist, Anstrengungen auf sich zu nehmen (vgl. Largo & Beglinger, 2009: 195). Mit Bezug auf die dialektische Struktur des Bildungsbegriffs tritt ab dem fin de siecle die Relevanz von Beziehungsverhältnissen im Bildungsprozess noch stärker hervor. Indem Bildung nach einem Inbeziehungsetzen von Selbst- und Weltverhältnissen verlangt, bleibt der (sich) bildende Mensch immer gebunden an seine Mitwelt und damit den Anderen. Martin Buber sieht Bildung analog als Begegnung mit dem Anderen, die zum Vollzug eine Entfaltung von Liebe impliziert: In der Dialogstruktur sich begegnender Subjekte gewinnt sich das Ich am Du. Liebe erwächst im Prozess des Wirklichwerdens des Anderen. Sie »haftet dem Ich nicht an, so daß sie das Du nur zum ›Inhalt‹, zum Gegenstand hätte; sie ist zwischen Ich und Du« (Buber, 2011: 15). Für Gerhard Mertens (1998: 125) »bildet, entfaltet, verwirklicht sich der Mensch zwar in und für sich selbst als Individualität; als ein Selbstsein in der Welt aber vermag er dies nur von der Welt her und auf die Welt hin.« Bildung ist in seinem Verständnis kein intraindividuelles Geschehen, sondern erfordert eine Bewegung hin zur Transsubjektivität, die letzten Endes Grundvoraussetzung für ein verantwortliches Zusammenleben und Miteinander darstellt. Für Mertens erweist sich Bildung daher als Verantwortungs- und Solidaritätsfähigkeit, die einer fundamentalen Liebesfähigkeit bedarf, wenn diese nicht sogar voraussetzt. Liebe beeinflusst jedoch nicht ausschließlich Dimensionen der Weltaneignung im Sinne des Sich-Inbeziehungsetzens zum und mit dem Anderen. Max Scheler findet in ihr den elementaren Antrieb für die Ausbildung von (Selbst-)Erkenntnis. Liebe wird zum ursprünglichen Akt der Zuwendung zur Welt, die alles Erkennen und Wollen fundiert und daher »die Weckerin zur Erkenntnis und zum Wollen – ja, die Mutter des Geistes und der Vernunft selbst ist« (Scheler, 1957: 356). Für Scheler ist der Mensch, ehe er ein ens cogitans (denkendes Wesen) oder ein ens volens (wollendes Wesen) wird, ein ens amans (liebendes Wesen) – denn alles was der Mensch will, wählt, tut, handelt, leistet, ist von den Bewegungen des Herzens abhängig. Die spärlich gesäten aktuellen Diskurse zu Manifestation und Wirkung von Liebe in formalen Bildungskontexten unterstreichen die positiven Auswirkungen von vertrauensvollen Gefühlsbindungen und emotionaler Zuwendung auf das Lernverhalten und den Lernerfolg (vgl. Hattie, 2008). Elmar Drieschner und Detlef Gaus (vgl. 2011: 11) definieren in diesem Zusammenhang Bildung als Beziehungsgeschehen und erklären Vertrauen, Verbundenheit und emotionale Zuwendung zum Fundament jeglichen pädagogischen Handelns. Diese Standpunkte der letzten zweitausendfünfhundert Jahre erheben ihre Stimme gegen die Ideen hinter Bologna-Prozess, Hochschulabschlussmaschinerie und Standardisierungsbestrebungen und unterstreichen, dass Bildung ohne Liebe auch im Zeitalter der Moderne letztlich versagt – ja ihren eigenen Anspruch verfehlt, ist die Liebe doch Fundament, Auslöser, Triebfeder und zuweilen Ziel von Lern- und Bildungsprozessen und deshalb brisanter Gegenstand öffentlicher Bildungsdiskurse.

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4. L iebe trot z allem Viktor Frankl (1975: 220) prägt quer durch sein gesamtes Schriftwerk zwei termini technici, namentlich die »Trotzmacht des Geistes« und den »Sinn trotz allem«. Beide Begriffe bezeichnen die Fähigkeit des Menschen, immer und überall Sinn zusprechen zu können, gerade gegenüber einer vermeintlichen Omnipräsenz der Sinnlosigkeit. Sinn wird, so Frankl, nicht vorgefunden, sondern erst durch den bewussten Sinn-Zuspruch des Menschen »macht« etwas Sinn. In seinem Hauptwerk Ärztliche Seelsorge (Frankl, 2014) entwickelt Frankl Schelers Liebesbegriff − angelehnt an die benannte Sinnfrage − weiter, und findet in der Liebe jene Kraft, die kein entsprechendes Habitat sucht, sondern, wie widrig die Umstände auch sein mögen, selbst ihr Habitat schafft. Er knüpft diese Souveränität der Liebe an die tägliche Erfahrung, wie Menschen einander Liebe zusprechen und sie dort ermöglichen, wo ihre Existenz banalisiert oder verzerrt wird. So zartbesaitet Liebe in ihren abstrakten Geistesgebilden gedacht werden will, so unbezwingbar und unermüdlich erweist sie ihre Wirkmacht an den Orten, wo sie als sinnlos ausgewiesen und gettoisiert wird. Bildung kann Liebe niemals gänzlich ausklammern. Nicht, weil Liebe der Bildung immanent wäre, sondern, weil die Liebe den Menschen selbst innewohnt. Das Rätsel um die verworrene Verschränkung von Bildung und Liebe hat eine Auflösung im Menschen. Beide bleiben leere Begriffshülsen ohne die Person, die ihnen Art und Gestalt verleiht. In diesem Sinne appelliert folgender Beitrag abschließend, trotz eines – mit Lévinas‹ Worten sprechend – verdorbenen Liebesbegriffes, das Eigentliche hinter der Begrifflichkeit zu erkennen und die alltägliche Lebenswirklichkeit, beispielsweise in Form der liebevollen Zuwendung, des Vertrautseins und -werdens oder der Verantwortungsübernahme aller pädagogischen Arbeit als stilles Synonym für Liebe wahrzunehmen und anzuerkennen. Erst der Vollzug leitet die Katharsis des Begriffs ein.

L iter atur Aviv, R. (2016). The Philosopher of Feeling. The New Yorker. Zugriff am 27.07.2018 von https://www.newyorker.com/magazine/2016/07/25/martha-nussbaumsmoral-philosophies Batthyány, D. (2014). Liebe und Eros. Grüner Kreis Magazin, (1), 18-24. Buber, M. (2011). Ich und Du. Stuttgart: Reclam. Comte-Sponville, A. (2014). Liebe – eine kleine Philosophie. Zürich: Diogenes. Drieschner, E. & Gaus, D. (2011). Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung. Wiesbaden: VS. Eucken, C. (1983). Isokrates: Seine Positionen mit den zeitgenössischen Philosophen. Berlin: De Gruyter. Foucault, M. (2014). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frankl, V. (1975). Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Wien: Huber. Hähnel, M. (2015). Was ist Liebe?: Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam. Hattie, J. (2008). Visible Learning. New York: Routledge.

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Kapitel III Gefährdungen der Liebe und Missbrauch

Liebe als Alibi Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Bildungsinstitutionen Peter Mosser

1. E inleitung Im deutlichen Unterschied zu meinen üblichen Gepflogenheiten im Kontext wissenschaftlicher Publikationen will ich diesen Beitrag mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Als ich darum gebeten wurde, mich mit einem Artikel an einer Veröffentlichung mit dem Titel Bildung und Liebe zu beteiligen, schwante mir nichts Gutes. Um den diskursiven und gewissermaßen auch gesellschaftspolitischen Hintergrund dieses Beitrags zu skizzieren, kann es hilfreich sein, meinen zumindest größtenteils noch memorierbaren inneren Monolog zu rekonstruieren, der durch diese Anfrage in Gang gesetzt wurde: Zunächst fragte ich mich, aus welcher Ecke wohl die Leute kamen, die auf die Idee gekommen waren, ein solches Projekt zu planen. Ich entwickelte dabei die Theorie, dass deren Anliegen in der Entwicklung eines Gegenentwurfs zum seit einigen Jahren dominanten Diskurs der Gefahrenabwehr und professionellen Grenzsetzung in pädagogischen Kontexten bestand. Pädagogik, so meine (selektive) Wahrnehmung, ist in den vergangenen Jahren vor allem unter dem Primat des Schutzes, der Förderung und der Optimierung von Kindern und Jugendlichen diskutiert worden. Da verwundert es nicht, so meine Deutung, dass sich eine Art von wissenschaftlicher Reaktanz Gehör verschaffen will. Assoziativ fielen mir dazu zwei Szenen ein: Die erste bezieht sich auf den prominenten Diskurs über den »Missbrauch mit dem Missbrauch« (Rutschky & Wolff 1994), der in den 1990er Jahren eine markante Reaktion auf die zuvor zunehmend elaborierte Skandalisierung sexuellen Missbrauchs darstellte. Es entstanden in dieser Zeit Diskursfiguren, wonach »überall Missbrauch gesehen werde« und es sollte von wissenschaftlicher und intellektueller Differenzierungsfähigkeit zeugen, dem Missbrauchshype eine Pose der kritischen Urteilskraft entgegenzusetzen (für einen Überblick siehe z.B. Kavemann, Graf-van Kesteren, Rothkegel & Nagel, 2015). Die zweite Assoziation entstand aus meinen Erfahrungen aus Fortbildungen mit Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe. Als Reaktion auf Sensibilisierungen in Bezug auf Grenzüberschreitungen im pädagogischen Alltag ist es nicht ungewöhnlich, dass Kollegen und Kolleginnen mit einer gewissen protestierenden Empörung und auf der Basis des Gefühls einer fachlichen Kränkung deklarieren, dass ihnen wohl nun verboten würde, Kinder in

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den Arm zu nehmen oder auf ihren Schoß sitzen zu lassen. Die zugrunde liegende Theorie lautet womöglich: In Zeiten von Schutzkonzepten, Verfahrensrichtlinien und Präventionsinitiativen gerät der emotionale Kontakt zu Kindern und Jugendlichen schnell in Verdacht, als Übergriffigkeit oder gar als sexueller Missbrauch angesehen zu werden. Ich vermutete also, dass die Herausgeber/innen von Bildung und Liebe auf die spätestens seit den großen Aufdeckungen im Jahre 2010 vorangetriebenen Skandalisierungen pädagogischer Institutionen und Praktiken reagierten und mir war nicht wohl dabei. Vor allem dachte ich, dass der Einsatz des Liebesbegriffs ziemlich provokativ oder wenigstens ungeschickt war. Dennoch kann ich nicht verhehlen, dass mich das Thema interessierte. Diese inneren Beobachtungen sind interessant. Sie sind Bestandteile des diskursiven Feldes, in dem wir uns bewegen, wenn wir über emotionale und strukturelle Bedingungen von Erziehung und Bildung sprechen. Offensichtlich operieren wir dabei mit Begriffen, um die sich ein ganzes Arrangement von Bedeutungsgebungen, Ideologien und Verdächtigungen gruppiert. Vor allem transportieren diese Begriffe Gefühle. Trotz aller Zweifel habe ich mich dazu entschlossen, einen Beitrag zu diesem Buch zu leisten, denn dadurch ergibt sich die Möglichkeit einer Positionierung und Standortbestimmung. Ich kann nach wie vor nicht verhehlen, dass mir der Konnex Bildung und Liebe suspekt erscheint. Ich sehe meine Aufgabe darin, eine empirisch inzwischen gut fundierte Grenze zu markieren. Sie ist dort zu lokalisieren, wo sich die Gewalt der Liebe als Alibi bedient.

2. S e xualisierte G e walt und M isshandlung im K onte x t von B ildungseinrichtungen – ein F orschungsüberblick Die gegenwärtige empirische Datenlage lässt viele Fragen hinsichtlich Ausmaß und Charakteristika sexualisierter Gewalt in formalen Bildungseinrichtungen offen. Es fällt auf, dass innerhalb des sich immer mehr ausdifferenzierenden Literaturbestands zum Thema »sexualisierte Gewalt« der Bereich Schule augenscheinlich unterrepräsentiert ist. Bundschuh (2010: 21) kommt in ihrer Literaturübersicht zu der Einschätzung, dass »sexualisierte Gewalt durch Fachkräfte an staatlichen Regelschulen […] noch weitgehend im Dunkeln liegt«. Vereinzelte Befunde deuten aber darauf hin, dass das Problem nicht marginal ist. Für die vorliegende Fragestellung ist es von Interesse, (1) Einschätzungen bezüglich des Ausmaßes sexualisierter Gewalt von Pädagoginnen und Pädagogen gegenüber Schülerinnen und Schülern zu erhalten, (2) Charakteristika dieser speziellen Tatkonstellation näher zu bestimmen, (3) Erkenntnisse über Täter und Täterinnen und ihre Strategien darzustellen und (4) auf mögliche Folgen aufseiten der betroffenen Schülerinnen und Schüler hinzuweisen.

2.1 Ausmaß sexualisierter Gewalt durch schulisches Personal gegenüber Schülerinnen und Schülern Die Durchsicht von Befunden sexualisierter Gewalt an Schulen lässt die Einschätzung zu, dass das Problem erheblich, aber quantitativ schwer zu fassen ist. Einblicke in das Ausmaß des Problems erlauben insbesondere die Studien von Shakes-

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haft (2004) in den USA sowie von Khoury-Kassabri (2006) für Israel. Shakeshaft analysierte die Daten aus sechs verschiedenen US-amerikanischen Studien und kam zu dem Ergebnis, dass 7 % der Schülerinnen und Schüler aus der achten bis elften Klassenstufe über sexuelle Übergriffe mit Körperkontakt von Lehrerkräften und Trainer/innen betroffen sind. Dieser Wert steigt auf 10  %, wenn auch noch andere sexuelle Handlungen (Zeigen von Pornografie, sexualisierte Gespräche, Exhibitionismus) berücksichtigt werden. Morgenbesser (2010) berichtet von einer nationalen Umfrage einer US-amerikanischen Nachrichtenagentur, derzufolge zwischen 2001 und 2005 insgesamt 2570 Lehrkräfte wegen sexuellen Fehlverhaltens sanktioniert wurden (d.h. v.a. ihre Lehrerlaubnis verloren haben). Khoury-Kassabri (2006) wertete die Daten einer nationalen repräsentativen Umfrage von Schülerinnen und Schülern (n = 17.465; 4.–11. Klasse) in Israel aus und fand, dass fast 8 % der Sekundarstufenschüler/innen von Schulpersonal sexuell misshandelt werden, wobei der Jungenanteil höher ist als der Anteil der betroffenen Mädchen. In Deutschland berichteten 4 % der im Rahmen einer repräsentativen Studie befragten Schulleitungen und Lehrkräfte (n = 1830) von Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt durch erwachsenes Schulpersonal innerhalb der vergangenen drei Jahre. Wurde nach entsprechenden Fällen in der weiter zurückliegenden Vergangenheit gefragt, stieg dieser Wert auf 6 % (vgl. Helming et al., 2011). In einer aktuellen Studie wurden über 4000 Schüler/innen aus der 9. Jahrgangsstufe u.a. zu sexualisierten Gewalterfahrungen befragt (vgl. Hofherr, 2017). Dabei wurden hauptsächlich Übergriffe von Mitschüler/innen oder anderen Jugendlichen berichtet. Nur 1 % der von Mädchen berichteten verbalen sexualisierten Belästigungen ging vom Schulpersonal aus. Dieser Wert steigt auf 4 % bei sexualisierten Übergriffen ohne Körperkontakt und 2 % bei sexualisierten Übergriffen mit Körperkontakt. Männliche Schüler berichten ausschließlich von verbalen Belästigungen durch Schulpersonal (keine sexualisierte Gewalt mit oder ohne Körperkontakt). Diese Täter/innengruppe macht aber insgesamt auch nur 2 % der gesamten verbalen Belästigungen aus, die von männlichen Schülern berichtet werden. Diese Befunde stimmen mit dem Ergebnis einer anderen aktuellen Untersuchung überein, wonach Schule zwar als Ort sexualisierter Gewalt häufig genannt wird, die Täter/innen aber primär der Gruppe der Gleichaltrigen zugeordnet werden (vgl. Maschke & Stecher, 2017). Ein umfassendes Datenmaterial wurde in den vergangenen Jahren insbesondere im Zusammenhang mit der Forschung zu sexualisierter Gewalt durch (katholische) Geistliche generiert. Aus den Befunden lassen sich in einem gewissen Ausmaß auch Einblicke in die Verbreitung sexualisierter Gewalt in entsprechenden Bildungseinrichtungen gewinnen. Eine österreichische Studie zeigt, dass über 10  % der Taten, die von katholischen Geistlichen verübt wurden, in Schulen begangen wurden (vgl. Lueger-Schuster, Kantor, Weindl, & Jagsch, 2012). Deetman, Draijer, Kalbfleisch, Merckelbach, Monteiro & de Vries (2011) kommen in einer großen niederländischen Untersuchung auf der Basis mehrerer Datenquellen zu dem Ergebnis, dass bei 45 % und 67 % der von Geistlichen begangenen Taten eine Bildungseinrichtung als Missbrauchskontext genannt wurde. Die beiden großen Berichte der nationalen Aufarbeitungskommissionen aus Irland (vgl. Ryan, Cummiskey, Gibson, Greer & McHugh, 2002) und den USA (vgl. Terry, 2008; Terry, Smith, Schuth, Kelly, Vollman, & Massey, 2011) liefern hierzu leider weniger präzise Daten. Aus der irischen Studie geht zumindest hervor, dass Grundschulen, weiterführende Schulen sowie Industrial Schools und Reformatory Schools sehr häu-

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fig als Tatorte sexualisierter Gewalt genannt werden, wobei es sich bei den letzten beiden Schulformen um geschlossene Unterbringungssysteme handelt. Zusammenfassend lässt die verfügbare Datenlage den Schluss zu, dass sexualisierte Gewalt durch Schulpersonal als hinreichend empirisch fundiertes Problem relevanten Ausmaßes zu sehen ist. Aufgrund der geringen Anzahl von Untersuchungen, uneinheitlicher Studiendesigns und großen Varianzen hinsichtlich Stichproben, Zeiträume und Missbrauchsdefinitionen bestehen aber hinsichtlich der Deutung der Befundlage noch erhebliche Spielräume, die weitere Forschungsanstrengungen notwendig machen.

2.2 Charakteristika von Tatkonstellationen Analysen bekannt gewordener Fälle sexualisierter Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in formalen Bildungseinrichtungen bringen in auffälliger und präziser Weise die »klassischen« Komponenten des sexuellen Missbrauchs Erwachsener gegen Kinder zutage. Das zentrale Thema ist Macht. Formale Bildungseinrichtungen basieren auf einem strukturellen Ungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Minderjährigen, welches zusätzlich innerhalb des Leistungsparadigmas Beurteilungs- und Bewertungsskripts vorschreibt, die aufseiten der Schülerinnen und Schüler zu nachhaltigen sozialen und emotionalen Konsequenzen beitragen (vgl. Weiss, 2002; Sullivan & Beech, 2002). Fragen von Abhängigkeit und Autorität sind integraler Bestandteil des Lehrer/in-Schüler/in-Verhältnisses und tragen daher naturgemäß das Risiko des Missbrauchs (hier im allgemeinen Sinn verstanden) in sich. Vor diesem Hintergrund wird auch der Umstand verständlich, das manche Personen mit sexuellen Präferenzen gegenüber Kindern gezielt Berufsfelder wählen, in denen sie »unkomplizierten Zugang« zu Minderjährigen erhalten (vgl. Colton, Roberts & Vanstone, 2010). Eine kanadische Sekundärauswertung von Falldaten führte zu dem Ergebnis, dass 84 % der Täter/innen ihre Autoritätsposition an der Schule ausnutzten, um Schüler/innen sexuell auszubeuten. 40 % gaben an, dass sie sich mit ihren Opfern angefreundet hatten. Fast alle Täter/innen erklärten ihre Taten als »sexuell motiviert« (vgl. Moulden, Firestone, Kongston & Wexler, 2010). Das strukturell angelegte Machtungleichgewicht trägt naturgemäß zu der hohen Aufdeckungsresistenz solcher Fälle bei. Insbesondere populäre und beliebte Lehrkräfte genießen sowohl bei Eltern als auch Kolleginnen und Kollegen einen erheblichen Vertrauensvorschuss, der die Wahrnehmung von Verdachtssignalen verzerrt. Im Falle von Verdachtsäußerungen führt dies tendenziell dazu, dass Eltern ungläubig reagieren, Behörden das Problem herunterspielen und die Schulgemeinschaft den Verdächtigten unterstützt, was umso leichter fällt, wenn auch die betroffenen Opfer aus subjektiv überzeugenden Gründen vor einer Aufdeckung zurückschrecken (vgl. Salter, 2012, zit.n. Shakeshaft, 2013). Bezüglich der Charakteristika gefährdeter Kinder und Jugendlicher zeigen Studien übereinstimmend, dass vulnerable, emotional nicht ausreichend versorgte, leistungsschwache Mädchen und Jungen mit höherer Wahrscheinlichkeit in den Blick sexuell übergriffiger Lehrkräfte geraten. Als »klassische« Konstellation gilt das Angebot zusätzlicher pädagogischer (und emotionaler) Unterstützung für belastete Kinder, deren Eltern z.B. aufgrund von Trennung, Arbeitslosigkeit oder psychischer Probleme ihrer Erziehungsverantwortung nicht hinreichend nachkommen können. Im Gegensatz zur gängigen Tatkonstellation ist im Kontext Schule die Häufung weiblicher Tä-

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terinnen zu beachten (vgl. Knoll, 2010). In einer groß angelegten US-amerikanischen Sekundäranalyse von Daten aus 80.000 US-amerikanischen Schulen wurde ein Anteil von 40 % an weiblichen Täterinnen gefunden (vgl. Shakeshaft, 2004). Typischerweise neigen diese dazu, die von ihnen begangene sexuelle Ausbeutung von Schülern (und Schülerinnen) als romantische Liebe zu verklären. In diesem Zusammenhang ist auf das Problem der Bagatellisierung zu verweisen: Eine speziell auf den Schulkontext bezogene Studie von Fromuth, Mackey & Wilson (2010) replizierte den Befund, wonach sexuelle Übergriffe von Frauen gegen Jungen (insbesondere von männlichen Befragten) als harmloser eingeschätzt werden als Übergriffe von Männern gegen Mädchen.

2.3 Täter, Täterinnen und Täterstrategien Lehrkräfte, die sexuellen Missbrauch an Schülerinnen und Schülern begehen, stellen eine amorphe Gruppe ohne spezifisches Set an Eigenschaften dar, auch wenn das nachvollziehbare strategische Ziel der frühzeitigen Identifikation solcher Täter und Täterinnen Versuche entsprechender Charakterisierungen freisetzt (vgl. Firestone, Moulden & Wexler, 2009). Einer interessanten Differenzierung zufolge kann zwischen fixierten Tätern und Täterinnen einerseits und Gelegenheitstätern und -täterinnen andererseits unterschieden werden. Nach Shakeshaft (2013) fokussieren (mehrheitlich männliche) fixierte Täter ihre ausgeprägten grooming-Strategien auf eher jüngere und männliche Kinder, um das Vertrauen von Eltern, Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen. Sie gelten in vielen Fällen als exzellente Pädagogen, die einen besonders guten Ruf an ihrer Bildungseinrichtung genießen. In gewisser Weise kann hier vom typischen pädosexuellen Täter (i.  S. einer sexuellen Präferenzstörung) gesprochen werden. Die höhere Anzahl von Fällen (Shakeshaft zufolge ca. zwei Drittel) sind aber Gelegenheitstätern und -täterinnen zuzuschreiben. Diese gelten als »regressiv«, ihre sexuelle Präferenz richtet sich nicht ausschließlich auf Minderjährige. Sie haben Probleme mit Grenzen und sind in ihrem sozialen und emotionalen Urteilsvermögen eingeschränkt. Sie suchen häufigen Kontakt zu Minderjährigen, biedern sich in gewisser Weise an jugendliche peer-groups an, wollen bei Jugendlichen als hip und cool gelten. Unter diese Gruppe fällt auch eine große Anzahl weiblicher Täterinnen. Innerhalb solcher Tatkonstellationen entsteht bei den betroffenen Minderjährigen häufig das Gefühl, in die erwachsene Lehrkraft verliebt zu sein. Die Strategie der Täter und Täterinnen besteht häufig darin, die von ihnen ausgewählten Minderjährigen zu loben, zu bevorzugen, zusätzliche Hilfe anzubieten, sie im Sinne einer Mentorenschaft zu begleiten und Gelegenheiten zum exklusiven Zweierkontakt zu schaffen (vgl. Knoll, 2010; Leclerc, Proulx & McKibben, 2005). Colton et al. (2010) sprechen von einer »pastoralen Rolle«, die Lehrkräfte gegenüber Schülerinnen und Schülern einnehmen und die sie in die Lage setzt, der emotionalen Verwundbarkeit vieler Heranwachsender mit Zuwendung und Vertraulichkeit zu begegnen. So berichten Colton et al. von Tätern, die besonders gut mit »schwierigen« Kindern klar kommen und daher ein besonderes Ansehen bei Kolleginnen, Kollegen und Eltern genießen. In einem Selbstbericht (zit.n. Colton et al., 2010: 353) eines sexuell missbrauchenden Lehrers heißt es: »Es war klar, dass mich die Schule oder seine Mutter kontaktierten, wenn es Probleme gab. Jede Autoritätsperson verwies an mich. Er konnte sich nirgendwo anders hinwenden.«

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Ein anderer Täter beschreibt seine Opfer als »verletzliche Personen, die aus allen möglichen Gründen unglücklich waren, was mir die Entschuldigung gab, sie zu missbrauchen« (zit.n. ebd.: 351). In mehreren Veröffentlichungen werden Warnsignale aufgelistet, die für potenzielle Gefährdungen von Schülerinnen und Schülern durch sexuell übergriffige Lehrkräfte sensibilisieren sollen. Sie geben Auskunft über empirisch ermittelte Verhaltensweisen, die bei Tätern und Täterinnen sexualisierter Gewalt im Schulkontext überzufällig häufig vorkommen: Offensichtliche Bevorzugung eines Schülers; außerordentlich viel Zeit alleine mit einem Schüler verbringen; außerordentlich viel Zeit mit einem Schüler außerhalb des Unterrichts verbringen; wiederholt Zeit mit einem Schüler in seinem privaten Umfeld verbringen; einen Schüler zur Schule bringen oder von der Schule nach Hause bringen; sich mit Eltern anfreunden und sie zu Hause besuchen; als »Vertrauter« eines Schülers fungieren; kleine Geschenke, Karten, Briefe an einen Schüler; unangemessene Anrufe und eMails an einen Schüler; übermäßig liebevolles Verhalten gegenüber einem Schüler; Flirtverhalten und unangemessene Bemerkungen gegenüber einem Schüler; Verdacht anderer Schüler, Scherze und Andeutungen anderer Schüler (vgl. Shakeshaft, 2004; Knoll, 2010). Aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass der Bereich der sexualisierten Grenzverletzung sehr umfangreich ist und eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen strafrechtlich sanktionierbaren Handlungen einerseits und pädagogisch unangemessenen, aber erlaubten Verhaltensweisen andererseits getroffen werden kann. Es ist daher auf eine sorgfältige Wortwahl zu achten, die zwischen sexuellen Grenzverletzungen, sexuellen Übergriffen und sexuellem Missbrauch unterscheidet (vgl. Enders, Kossatz, Kelkel & Eberhardt, 2010). Ebenso ist klarzustellen, dass grooming-Strategien keinen sexuellen Missbrauch darstellen, sondern diesen in vielen Fällen vorbereiten.

2.4 Folgen sexualisierter Gewalt in formalen Bildungseinrichtungen Die Auswirkungen sexualisierter Gewalt sind sehr heterogen und anhand verschiedener Dimensionen beschreibbar (für einen Überblick siehe Mosser, 2018). In Bezug auf Bildungseinrichtungen ist das besondere Verhältnis zwischen Lehrkraft einerseits und Schülerin oder Schüler andererseits sowie die Verstrickung mit schulischen Leistungsaspekten hervorzuheben. Wolfe, Jaffe, Jette & Poisson (2003) identifizieren in Bezug auf institutionellen sexuellen Missbrauch fünf zentrale innerpsychische Dynamiken aufseiten der Betroffenen: Traumatisierung, Verrat, Stigmatisierung, mangelnder Respekt gegenüber Autoritäten, Vermeidung gegenüber missbrauchsbezogenen Stimuli. Zentrales Motiv ist dabei der Bruch des ursprünglichen Vertrauensverhältnisses gegenüber erwachsenen Autoritäten. Speziell im Zusammenhang mit dem Kontext Schule erarbeiteten Burgess, Welner & Willis (2010) aufgrund eingehender Fallanalysen grundlegende Faktoren, die die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs für die Betroffenen moderieren. Dazu gehören (1) die Unterbrechung/Zerstörung von Peer-Kontakten, (2) die Unterbrechung/Zerstörung für das Jugendalter typischer Beziehungs- und Partnerschaftsmuster, (3) der Bruch der Beziehung zu den Eltern, (4) problematische soziale Reaktionen innerhalb des Aufdeckungsprozesses und (5) Belastungen im Zusammenhang mit Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. Als exemplarische Folgen dieser Dynamiken beschreiben die Autorinnen und Autoren posttraumatische

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Belastungsstörungen, depressive Episoden, Entfremdungsgefühle, Albträume, Intrusionen, Antriebslosigkeit, suizidale Gedanken, sexuelle Funktionsstörungen, Schulversagen, Alkoholismus. Hierbei handelt es sich um ein komplexes Belastungsmuster, das mit dem von Burgess et al. (2010) verwendeten Terminus des »Entwicklungstraumas« nicht hinreichend beschrieben ist, da psychodiagnostisch erfassbare Belastungen mit sozialen und schulisch/beruflichen Auswirkungen im Sinne destruktiver Wechselwirkungen miteinander verstrickt sind (vgl. Mosser, 2018).

3. D ie B ehaup tung von L iebe als B edingung institutioneller G e walt – die B eispiele K irche und R eformpädagogik Grundlage der folgenden Ausführungen sind unsere Arbeiten zu Misshandlungen und sexualisierter Gewalt in Bildungskontexten (vgl. Keupp, Mosser, Busch, Hackenschmied & Straus 2018; Keupp, Straus, Mosser, Gmür & Hackenschmied, 2017a; Keupp, Straus, Mosser, Gmür & Hackenschmied, 2017b). Schwerpunkte dieser Projekte waren die Bedingungen, unter denen Gewalt in Institutionen entstehen und aufrecht erhalten werden konnte, die Folgen für die Betroffenen, die Identifikation institutioneller Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten der Prävention. Diese Untersuchungen sind in einem größeren Forschungszusammenhang zu sehen, der sich insbesondere seit 2010 unter anderem durch entsprechende Förderlinien des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung konstituierte. Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten wird seither disziplinübergreifend intensiv beforscht, wobei vor allem von (sozial-)psychologischen, erziehungswissenschaftlichen und medizinischen Zugängen Erkenntnisfortschritte erwartet werden (vgl. Fegert & Wolff, 2015; Andresen & Heitmeyer, 2012). Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag ist die Beobachtung, dass Bildungskontexte, die auf sehr unterschiedlichen pädagogischen Konzepten, Weltanschauungen und Erziehungshaltungen gründen, in ähnlicher Weise anfällig zu sein scheinen für die Ausübung von Gewalt gegen Schülerinnen und Schüler. Paradigmatisch bezieht sich diese Wahrnehmung auf die prinzipielle Gegensätzlichkeit zwischen katholischen Klosterinternaten einerseits und reformpädagogischen Institutionen wie der Odenwaldschule andererseits. Neben vielen anderen Faktoren könnte eine Analyse der jeweils unterschiedlichen Instrumentalisierung des Liebesbegriffs Einsichten in die Genese institutioneller Gewaltdynamiken bringen. Die Herangehensweise ist teilweise historisch, da sich die dargestellten Beobachtungen schwerpunktmäßig auf einen Zeitraum zwischen 1960 und 1990 beziehen. Aktuell ist sie aber auch insofern, als sie überdauernde Fragen der pädagogischen Haltung, weltanschaulicher Hintergründe erzieherischen Wirkens, institutioneller Kulturen und der emotionalen Dimension im pädagogischen Verhältnis berührt. Das Spannungsfeld zwischen Tradition und Reform ist ein erziehungspolitisches Dauerthema, das nicht zuletzt von dem Ringen um die Deutungshoheit darüber gekennzeichnet ist, was Kindern »gut tut«. Die folgenden Beispiele zeigen, dass der Anspruch auf gute Erziehung auch bei vollkommen gegensätzlichen weltanschaulichen Hintergründen zu desaströsen pädagogischen Entwicklungen führen kann, mit deren Folgen die betroffenen Minderjährigen lange Zeit zu kämpfen haben.

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3.1 Die Klosterinternate Unsere Untersuchungen erlaubten es, die Heterogenität der Formen und Manifestationen von Gewalt in den Klosterinternaten Ettal (Bayern) und Kremsmünster (Österreich) zu skizzieren. Dabei sind folgende Aspekte wichtig: (1) Der Alltag der Schüler war durchdrungen von Bedrohungen, die ein Kontinuum zwischen diffuser Potenzialität und tatsächlicher Inszenierung aufdeckten. (2) Die auferlegte Interpretation von Männlichkeit senkte die Schwelle für Gewalt, korrumpierte das Empfinden von Angst und Schmerz und verengte potenzielle Bewältigungsversuche auf die Bedingungen der Institution selbst. (3) Die Sozialisationsbedingungen in den Klosterinternaten sind umfassend in Begriffen von Entwicklungsrisiken beschreibbar. (4) Eine bestimmte, in brachialer Vollkommenheit zelebrierte raumzeitliche Organisation des Alltags erzeugte als psychologisches Korrelat aufseiten der Schüler ein ausgeprägtes Empfinden von Ausweglosigkeit und Ausgeliefertsein. Vor diesem Hintergrund erscheint es lohnenswert, vor allem jene drei »weichen« Komponenten dieses Erziehungsarrangements zu betrachten, die einen wesentlichen Beitrag zu seiner Aufrechterhaltung leisteten, nämlich die deklarierte Moral, die Reputation der Institution und der Begriff der Liebe. Diese ebenso wirkmächtigen wie unbestimmten Bereiche können nicht als vollkommen trennscharf konzipiert werden, vielmehr bedingen und durchdringen sie einander und schaffen nachhaltige Verhältnisse der Legitimation. Der Begriff der Liebe ist im katholischen Glauben omnipräsent. Man könnte sagen, dass er als Vehikel eines kulturellen Unbehagens fungiert. In mehr oder weniger ausgeprägter Form konkurriert der katholische Liebesbegriff mit dem alltäglichen, zwischenmenschlichen Empfinden von Liebe, das sich in die Daseinserfahrung aller Menschen in irgendeiner Form einschreibt. Religiöser Begriff und konkretes Empfinden stehen in einem undurchsichtigen Verhältnis zueinander. Diese Beobachtung ist wichtig, um das Problem der katholisch geprägten Erziehung besser zu verstehen. Es wäre verkürzt zu sagen, dass der Einsatz des katholischen Liebesbegriffs eine Täterstrategie darstellt, aber er ist hinreichend unklar, um Heranwachsenden eine Orientierung dahingehend zu verweigern, was in Ordnung ist und was nicht, was man darf und was man nicht darf, was im Umgang mit Kindern legitim ist und was nicht. Nicht die Liebe, sondern der Begriff von Liebe eignet sich als Alibi einer höheren Moral, deren Kenntnis den Erwachsenen vorbehalten bleibt. Aus Berichten ehemaliger Schüler der Klosterinternate kennen wir die alltägliche Kakofonie der katholischen Liebe: Die Rede ist von der Liebe zu Gott, von der Nächstenliebe, der Liebe zum Kind: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes.« (Lk 18, 16). In vielen Interviews haben gewaltbetroffene ehemalige Schüler den Widerspruch zwischen den präsentierten Begriffen von Liebe und der konkreten Alltagserfahrung deutlich gemacht: »Die haben uns am Sonntag in der Hausmesse Nächstenliebe gepredigt und Montagfrüh schon die erste Fotzn gegeben. Mit dem Schlüsselbund geworfen, Kopfnüsse verteilt, wo wir als Kinder schon gesagt haben: Toll! Sonntags predigen sie Nächstenliebe, und am Montag geht’s dann wieder weiter im gleichen Stiefel. Und das ist einfach komplett unverständlich.« (Keupp et al., 2017b: 161)

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Diese Diskrepanz zwischen begrifflich gefasster Liebe, zwischen einem unumstößlichen moralischen Appell an die Heranwachsenden und dem tatsächlichen Handeln der Erwachsenen ist ein konstitutives Element gewalttätiger Erziehung. Sie ist das Zeichen von Heuchelei und Verrat. Die Geistlichen, die zugleich Lehrer und Erzieher sind, verhalten sich auf eine Art dyston zu der von ihnen gepredigten Weltanschauung, die von den Schülern nicht ohne Weiteres zu durchschauen ist. Das oben angeführte Zitat erfolgt aus einer retrospektiven Betrachtung. Der Junge aber, der die Predigt des Pfarrers hört und danach Kopfnüsse erhält, ist naturgemäß der Deutungsmacht erwachsener Autoritäten ausgeliefert. Der Erwachsene besetzt das Wort der Liebe mit einem bestimmten Arrangement von Qualitäten und drängt dieses dem Kind auf. Das erinnert an die Anfangsszenen in dem Film Dogtooth des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos (2009), in dem die Kinder einer hermetisch von ihrer Umwelt abgeriegelten Familie dazu genötigt werden, vollkommen unzutreffende Wortbedeutungen zu lernen. Das heißt, sie eignen sich eine Sprache und damit einen semantischen Raum an, der nur innerhalb der ihnen aufgezwungenen Lebenswelt Bedeutung hat und sie gleichzeitig von einer nur potenziell existierenden sozialen Umwelt isoliert. Das ist ein wichtiges Problem: Indem Begriffe idiosynkratisch konzipiert werden, verlieren sie ihre Funktion der Gestaltung von Zwischenmenschlichkeit. Man kann sagen, dass im von der Umwelt weitgehend isolierten Klosterinternat ein Begriff von Liebe konstruiert wird, der wie eine eigene Währung fungiert, die in der Außenwelt keinen akzeptablen Tauschwert hat. Er ist auf das Terrain eines strikten, widersprüchlichen und selbstreferenziellen Katholizismus beschränkt. Ein zentraler Befund unserer Untersuchungen besteht darin, dass Beziehungsschwierigkeiten im weiteren Lebenslauf als »Hauptsymptom« einer Gewaltsozialisation im Klosterinternat identifizierbar sind. Die Annahme liegt nahe, dass die unter der Bedingung der Isolation vorgenommene Definition des Liebesbegriffs hier eine bedeutende Rolle spielt. Spätestens seit Nietzsche wissen wir, dass der Begriff der Liebe eine Funktion der Moral ist. Die psychologische Bedeutung des katholischen Liebesbegriffs besteht insbesondere darin, die konkrete menschliche Erfahrung von Liebe zu desavouieren. Diese Konstellation bildet einen verlässlichen Hintergrund für das erzieherische Wirken in katholischen Klosterinternaten. Gewalt, Sexualität, Glaube, Leistung und Ordnung verbinden sich zu einem hermeneutischen Dschungel, innerhalb dessen der Liebesbegriff wie ein verirrtes Tier herummarodiert. Die in diesem Dschungel verstrickten Schüler sind der Deutungsmacht ihrer Lehrer und Erzieher hilflos ausgeliefert. Im Rahmen unserer Forschungen haben wir mit einer Reihe ehemaliger Schüler gesprochen, die auch in der retrospektiven Wahrnehmung die Realität der Gewalt nicht anerkannt haben und im funktionalen Bewältigungsmodus der Umdeutung verblieben sind: »Gewalttätigkeit haben wir eigentlich nicht erlebt. Wir haben – es hat einen gegeben, den haben wir in Geografie gehabt, das war ein herzensguter Mensch und von dem eine Ohrfeige zu bekommen, war ein Ritual an die, die er mögen hat. […] Das haben wir nie als Schlagen oder Strafe empfunden, sondern im Gegenteil, das war nicht so negativ.« (Keupp et al., 2017a: 211)

Die Ohrfeige eines herzensguten Menschen ist der Beweis seiner Liebe; sie ist viel mehr Belohnung als Bestrafung. Sie kann dies sein, weil die im Internat soziali-

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sierten Jungen wenig Möglichkeiten haben, einen selbst-bewussten Liebesbegriff zu entwickeln, der auf eine bestimmte Qualität der zwischenmenschlichen Erfahrung rekurriert, die mit Achtsamkeit, Respekt und Fürsorge zu tun hat. Aber das Problem ist noch komplexer. Die organisatorische Klammer, die die Praxis der katholischen Internatserziehung zusammenhält, ist die Reputation. Es ist nicht ohne Weiteres zu verstehen, was Eltern dazu veranlasste, ihre Kinder einer Gruppe tief religiöser Männer anzuvertrauen, die in ihrer Mehrzahl über keinerlei pädagogische Ausbildung verfügten und nicht den Eindruck erweckten, als könnten sie junge Menschen in zeitgemäßer Weise auf die Anforderungen einer modernen Welt vorbereiten. Man kann annehmen, dass solche Beauftragungen primär auf dem Vorurteil der moralischen Festigkeit und des Bildungserfolges gründeten. Und auf einer bestimmten Verheißung von Kontrolle: Abwehr unkalkulierbarer Bedrohungen für den heranwachsenden Jungen: Mädchen, Sexualität, Sex, drugs, rock’n roll und Liebe. Das Klosterinternat lebte von einer Reputation, die ihm insbesondere eine bestimmte Form der Reinheit zuschrieb. Auch Reinheit der Liebe, die im wesentlichen Verzicht auf die Liebe in ihrer weltlichen, allzu menschlichen, pubertierenden Form bedeuten sollte. An diesem Punkt – und übrigens auch im Hinblick auf die Akzeptanz körperlicher Gewaltanwendung – kann von einer Komplizenschaft zwischen Eltern und katholischen Erziehern und Lehrern gesprochen werden. Das Projekt des moralisch einwandfreien Aufwachsens hinter den Mauern des Klosterinternats gründete auf einem ideologisch fundierten und kulturell verankerten Konsens derer, die Erziehungsverantwortung trugen. Die Liebe war selbstverständlicher Bestandteil dieses Projekts – als unbestimmter Imperativ, als strategischer Irrtum, als höheres Ziel einer Art verkorkster Sublimierung.

3.2 Die Odenwaldschule Es ist hier nicht der Platz, um die grundsätzlichen Zielrichtungen reformpädagogischer Ansätze in ihrer ganzen Vielfalt darzustellen und es wäre zweifellos verkürzt, diese Ansätze vorwiegend negativ zu bestimmen, nämlich als Reaktion auf eine pädagogische Kultur, die auf einen Habitus der Strenge, der Autorität und der Reduktion auf Wissensinhalte gründet: »Man konnte nur für das Gute und gegen das Schlechte eintreten, wenn man sich erst einmal für die Reformpädagogik entschieden hatte.« (Oelkers, 2014: 479) Für die vorliegenden Ausführungen sind insbesondere zwei Aspekte von Bedeutung: (1) Reformpädagogische Ansätze erheben den Anspruch, die ganzheitliche Entwicklung des Kindes zu fördern. Pointiert könnte man sagen, dass die gesamte Persönlichkeit des Kindes zum Projekt pädagogischen Wirkens wird. Da auf diese Weise die emotionale Seite des Menschen expliziert wird, wird erzieherisches Handeln naturgemäß viel stärker in die Nähe der Liebe gerückt als dies – ganz allgemein ausgedrückt – in der »herkömmlichen« Pädagogik der Fall ist. (2) »Die« Reformpädagogik als homogenes Bildungsprojekt gibt es nicht. Zumindest in Deutschland hat sich aber die Odenwaldschule als reformpädagogisches Vorzeigeprojekt etabliert, womit der Anspruch einherging, dass sich in dieser Institution vieles, was an reformpädagogischen Ideen formuliert worden war, »materialisieren« sollte. Angesichts vielfältiger Praxen der institutionellen Selbstdefinition und der Selbstinszenierung ist es unangebracht, Reformpädagogik mit der Odenwaldschule gleichzusetzen. Der Reflex, gleichzeitig mit der Odenwaldschule die Gesamtheit reformpädagogischer Konzepte in Verruf zu

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bringen, ist zwar auf einer bestimmten motivationalen Grundlage nachvollziehbar, greift aber zu kurz. Im vorliegenden Beitrag geht es darum, bestimmte Parallelen zwischen katholischen Klosterinternaten und ihrem »ideologischen Gegenstück«, der reformpädagogisch organisierten Schule, aufzuzeigen. Insofern eignet sich die Odenwaldschule ebenso wie die Klosterinternate Ettal und Kremsmünster als paradigmatischer Ort, um institutionelle Dynamiken aufzuzeigen, die sich um den Begriff und die Praxis der Liebe organisieren. Ebenso wie Ettal und Kremsmünster hatte die Odenwaldschule den Ruf einer Eliteinstitution, die als Leuchtturm des zeitgenössischen Bildungswesens angesehen wurde. Wenn Eltern ihre Kinder diesen Einrichtungen anvertrauten, dann taten sie dies mehrheitlich in dem Bewusstsein, dass diese dort die »beste« Bildung genießen würden. Unter diesen Voraussetzungen können wir die über Jahrzehnte hauptsächlich von männlichen Pädagogen gegen Schülerinnen und vor allem gegen Schüler ausgeübte sexualisierte Gewalt an der Odenwaldschule ebenfalls unter der Korrumpierung des Liebesbegriffs, der Moral und der Reputation betrachten. Der Begriff von Liebe, den man sich im reformpädagogischen Diskurs macht, ist ein anderer als der katholisch kontaminierte. Er findet seinen sprachlichen Ausdruck nicht in der Liebe zu Gott oder in der Nächstenliebe, sondern in der Chiffre des »pädagogischen Eros«, die – im Rückbezug auf die griechische Antike – ihren Ursprung in der deutschen Jugendbewegung und in den Erziehungsgemeinschaften der reformpädagogischen Landerziehungsheime vor dem Ersten Weltkrieg hat (vgl. Reiß, 2016). Das ist weniger ein kulturell verankerter Imperativ als vielmehr der Ausdruck einer psychologischen Pose, mit der man einen Unterschied zu einem primär wissens- und leistungsorientierten Bildungsverständnis markieren möchte, die die unmittelbar gelebte persönliche Nähe zwischen Pädagoginnen und Pädagogen und Schüler/innen akzentuiert (vgl. Melter, 2017). Er rekurriert auf bestimmte emotionale Qualitäten, von denen das Verhältnis zwischen (elitären, männlichen) Pädagogen und ihren (männlichen) Schülern durchdrungen sein sollte (vgl. Klinger, 2011, zit.n. Melter, 2017). Im Nachhinein betrachtet könnte man sagen, dass der Begriff strategisch unklug gewählt ist. Der Eros hat längst Assoziationen auf sich gezogen, die wenig zu tun haben mit einer engagierten, auf Beziehung gründenden, achtsamen und persönlichkeitsorientierten Pädagogik. Der Eros ist ideologischer Wegbereiter, Komplize und wertloses Alibi des Missbrauchers. Er ist ein alter, missverstandener Grieche. Ungeachtet dessen, dass er sich nicht im Geringsten für die Beschreibung eines neuzeitlichen pädagogischen Verhältnisses eignet, wurde der Eros in genau dieses Verhältnis begrifflich hereingeholt und auf klandestine Weise sozial integriert (vgl. Melter, 2017). Inzwischen dient er vor allem für begriffsgeschichtliche Auseinandersetzungen, innerhalb derer sein semantischer Gehalt zwischen genitaler Sexualität und pädagogischem Engagement hin und her schweift. Auch wenn er nicht-genital gemeint ist, so wirft die Verwendung dieses Terminus stets die grundsätzliche Frage auf, weshalb man die gemeinte Qualität der pädagogischen Beziehung nicht mit unverfänglicheren Begriffen beschreiben konnte. Als implizites Zugeständnis an die Kritik Melters bietet Thiersch (2017: 252) hierfür etwa die Termini »Passion«, »Engagement«, »Parteilichkeit« oder »Hingabe an die pädagogische Aufgabe« an. Es wäre naiv zu denken, dass der zur Beschreibung eines engagierten pädagogischen Verhältnisses herangezogene Begriff des pädagogischen Eros lediglich ein hartnäckig über-

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lebendes semantisches Paradoxon darstellt. Bedarf es des Begriffs »Eros«, um ein nicht-erotisches Verhältnis zu bezeichnen? Man benötigt ein ziemlich ausgeprägtes Vertrauen in die eigene begriffliche Deutungshoheit, wenn man davon ausgeht, dass der Eros nicht sexuell rezipiert wird, so wie Thiersch (2017) auch hofft, dass »libidinös« im Allgemeinen – ganz unschuldig – als »Lebenstrieb oder -kraft« verstanden wird. Der nicht-genital konzipierte platonische Eros ist eine Denkfigur, die im besten Fall partiell mit dem Begriff des Eros der griechischen Antike in Übereinstimmung zu bringen ist. Foucault (1989) hat detailliert beschrieben, auf welche Weise das erotische Verhältnis zwischen dem männlichen Vollbürger der Polis und dem Jüngling eine bestimmte gesellschaftliche Struktur und eine imperativ festgelegte Organisation der Lüste voraussetzte. Es wird deutlich, dass die gesellschaftliche und sexuelle Organisation, innerhalb derer sich die »prototypische« Form des unter vielen Anführungszeichen gesetzten »pädagogischen Eros« entfaltete, allein vom männlichen Vollbürger aus gedacht ist. Alles andere ist Zuweisung: Zuweisung der Rolle der Frau, kokettierende Zuweisung der Funktion des Knaben, festgelegtes Geschlechterverhältnis. Mit dem pädagogischen Eros müsste man eine ganze gesellschaftliche Struktur in die demokratische Moderne importieren, die eine bestimmte Organisation der Ehe und des Hauswesens und als konstitutives Element die Sklaverei voraussetzt. Daraus ist auch die Kongruenz des pädagogischen Eros mit elitären, männlichkeitsdominierten Bildungsidealen erklärbar, obwohl diese auf den ersten Blick reformpädagogischen Ambitionen zuwiderzulaufen scheinen. Eine Gesellschaft aber, die für sich den Anspruch erhebt, der Perspektive und dem Bedürfnis des Kindes einen moralisch begründeten, erkenntnisstiftenden und politischen Wert zuzumessen, findet eher keine nachvollziehbare Veranlassung, pädagogisches Handeln zu erotisieren. Die Rezeption des pädagogischen Verhältnisses der griechischen Antike enthält keine entwicklungspsychologischen Elemente, sie sieht den Pädagogen – in der metaphorischen Nachfolge des griechischen Vollbürgers – als Akteur und den (männlichen) Schüler als passiven Empfänger der (gut gemeinten) erzieherischen Praktiken seines Lehrers. Aus einer semantischen bzw. etymologischen Perspektive hätte sich der Begriff der Philia wahrscheinlich besser zur Beschreibung eines pädagogischen Verhältnisses geeignet als jener des Eros. Interessanterweise ist aber gerade dieser Terminus, der als solcher eine nicht-sexuelle Freundschaftsqualität zum Ausdruck bringt, vollkommen sexuell konnotiert, nämlich im Begriff der Pädophilie. In der Geschichte der Reformpädagogik ist eine Linie der unzweifelhaften Nähe zur Erotisierung des Verhältnisses zwischen Erzieher und Schüler zu erkennen (vgl. Oelkers, 2014). Man könnte fragen, ob sich auch darin eine Art von anarchistischer Antithese zum als gewalttätig und kalt konzipierten bürgerlichen Bildungsideal manifestiert. Man könnte auch fragen, ob sich in der Verquickung einer bestimmten Bildungsideologie mit libidinösen Mustern nicht auch so etwas wie ein politischer Charakter der Pädophilie zeigt. Mindestens bis in die 1970er Jahre hinein wird von bestimmten Gruppen die sexuelle Aktivität mit Kindern auch als Attitüde der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen behauptet (vgl. Bündnis 90/Die GRÜNEN, 2016). Es ist hier nicht der Platz zu ergründen, in welchem Verhältnis die politische Pose zum schlichten Erregungsmuster des Individuums steht, von dem sie instrumentalisiert wird. Es gab jedenfalls Zeiten, in denen der sexuelle Missbrauch von Kindern Chancen hatte, Teil eines sich im Prozess der Legitimierung befindlichen politischen Programms zu werden (vgl. Bündnis 90/Die

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GRÜNEN 2016). In diese Zeit fällt auch die jahrzehntelange sexualisierte Gewalt an der Odenwaldschule. In alles, was die Pädagogik an der Odenwaldschule vom Mainstream der traditionellen Bildungsinstitution unterscheidet, wird auch eine Vorstellung von Liebe hineinverpackt. Im dort definierten Verhältnis zwischen Pädagoginnen und Pädagogen einerseits und Schülerinnen und Schülern andererseits wird der emotionalen Komponente, dem Beziehungsgeschehen ein zentraler Platz eingeräumt. Diese Komponente wird positiv beschrieben und in dieser positiven Definition können sich all diejenigen wiederfinden, die darin einen pädagogischen Mehrwert erkennen (vgl. Oelkers, 2014). Das Problem ist, dass keine Grenze gezogen wird. Zum Beziehungsarrangement innerhalb der Odenwaldschule gehören neben einer aufmerksamen, motivierenden, einfühlsamen und wissensorientierten Pädagogik die Distanzlosigkeit, die Vernachlässigung, die Grenzüberschreitung, die subtile Erotisierung, die nicht-subtile Erotisierung, die Sexualisierung, der sexuelle Missbrauch und die Vergewaltigung. Durch diese widersprüchliche Landschaft geistert die Liebe zum Kind genauso wie sie auch im katholischen Klosterinternat unterwegs ist. Sie existiert dabei nicht nur als begriffliches Alibi, sondern auch in den Vorstellungen derer, die in ihren jeweiligen Kontexten offenbar ideologische Grundlagen für ihren subjektiven Liebesbegriff finden. Ein überdauerndes Muster der Odenwaldschule, von dem sie selbst sogar überlebt wurde, ist jenes der Überhöhung und Abwertung. Diese Dichotomie ist ein Organisationsprinzip, das sich in der Erziehung, im sexuellen Missbrauch und in allen Prozessen seiner Aufdeckung wiederfindet. Es ist wenig Raum zwischen der Verachtung von Lehrern und (Mit-)Schüler/innen und deren Heiligsprechung. Alles ist Spaltung. Die Liebe ist in der Odenwaldschule omnipräsent, ihre Voraussetzungen gleichen denen in einem katholischen Klosterinternat. Sie entsteht da wie dort aus einer gewaltaffinen, selbstreferenziellen, inzestuösen Struktur. In einem dichotomen Verachtungs-Überhöhungsklima bleibt der Liebe kaum etwas anderes übrig, als sich an eine aus den engen Grenzen dieses Systems selbst entwickelte Form zu heften. Es ist das klassische Thema des institutionellen sexuellen Missbrauchs: Starre Grenzen nach außen, undurchsichtige Grenzen nach innen. Es ist nicht unüblich, sich in der Odenwaldschule zu verlieben. Ein grenzenloser Ort der Liebe? Negativ sind die Verhältnisse an der Odenwaldschule nur insofern bestimmt, als sie einen Bruch mit einer bestimmten gesellschaftlichen Konvention darstellen. Was aber darüber hinaus fehlt, ist die Definition einer Grenze, ein schlichter, partizipativ entwickelter Kodex, der festschreibt, dass sexualisierte Sprache, sexuelle Berührungen, Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülern oder Schülerinnen verboten sind. Eine Vorschrift, die deutlich definiert, was Reformpädagogik nicht ist und wo die Grenzen dessen sind, was mit dem Begriff der Liebe transportiert werden sollte. »Der Erzieher liebt das Kind auf uneigennützige Weise und er steht ganz im Dienste der Entwicklung seiner Schutzbefohlenen. Die Frage war nie, ob das eine sinnvolle oder nicht vielmehr eine gefährliche Begründung für eine pädagogische Beziehung sei, sondern immer nur, wie man dem Ideal möglichst nahekommen könne.« (Oelkers, 2014: 479)

Einige Pädagogen an der Odenwaldschule haben es geschafft, die gesamte Reformpädagogik in Verruf zu bringen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich

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geändert und erfordern eine genaue Definition des Verhältnisses zwischen Pädagoginnen und Pädagogen einerseits und Schülerinnen und Schülern andererseits. Die Verwendung eines Begriffs von Liebe ist dabei in vielerlei Hinsichten fragwürdig, da er eine Phase seiner ziemlich vollständigen Korrumpierung hinter sich hat.

4. F ormen behaup te ter L iebe – T ätersysteme und S ysteme als T äter /in Um ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie es zur Gefährdung, Bedrohung und Schädigung von Schülerinnen und Schülern in pädagogischen Institutionen kommt, ist es hilfreich zwei Fragen genauer zu beleuchten, nämlich: (1) Wer sind die Täter/innen? (2) Unter welchen institutionellen Voraussetzungen können diese Täter/innen handeln? Diese Fragen können nicht getrennt voneinander behandelt werden, da Täter/innen und Institution auf vielfältige Weise miteinander verstrickt sind. Ettal, Kremsmünster und Odenwaldschule verbindet eine ähnliche Struktur. Es gibt jeweils eine Person, die als Haupttäter gilt. In Ettal ist es Pater Magnus, in Kremsmünster Alfons Mandorfer, in der Odenwaldschule Gerold Becker. Diese Männer haben über viele Jahre hinweg in den genannten pädagogischen Institutionen viele der ihnen anvertrauten (männlichen) Schüler sexuell missbraucht. Um diese Männer gruppiert sich in losem Zusammenhang jeweils ein Kreis von anderen Tätern, die ebenfalls Minderjährige sexuell missbraucht und – insbesondere in den Klosterinternaten – körperlich misshandelt haben. Ebenso lassen sich in allen Institutionen vielfältige Formen emotionalen Missbrauchs nachweisen. Den nächsten Kreis bilden stille Komplizen, nämlich diejenigen, die von den Misshandlungen mehr oder weniger gut Bescheid wussten oder darum bemüht waren, möglichst nichts mitzukriegen, also diejenigen, die weggeschaut haben. In unseren Forschungen sind wir mit vielen Berichten von Menschen konfrontiert, die sagen, dass sie nichts wussten. Es wäre anmaßend, all diese Berichte vollkommen in Zweifel zu ziehen. Konstatiert werden kann, dass sich hier ein ganzes Feld von Mitwisserschaft, Gerücht, Vermutung, Vermeidung, Ignoranz, Verdrängung und tatsächlichem Nicht-Wissen auftut, welches aber in seinem Ergebnis dazu beitrug, dass in jeder dieser Einrichtungen über Jahrzehnte massive Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ausgeübt wurde. Innerhalb des Konglomerats komplexer Mechanismen, die zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Gewalt gegen Schülerinnen und Schüler beigetragen haben, gibt es eine Dynamik, die die Position der Täter innerhalb der Institution unaufhörlich stärkt. Es ist hier zunächst wichtig, festzustellen, dass nur wenigen Tätern retrospektiv einigermaßen zweifelsfrei etwas zugeschrieben werden kann, was als sexuelle Präferenzstörung – in medizinischen Termini als Pädophilie – beschreibbar ist. An der Odenwaldschule gilt dies für Gerold Becker und den Musiklehrer Wolfgang Held, ebenfalls für Pater Magnus im Kloster Ettal. Diese Einschätzung spricht dafür, dass das sexuelle Verlangen nur partiell – aber auch – zur Entwicklung der sexualisierten Gewaltdelikte in diesen Einrichtungen beigetragen hat. Bei den einen mehr, bei den anderen weniger. Bei einigen überhaupt nicht. Becker war in manche Schüler, die er vergewaltigte, verliebt. Ähnliches ist bei dem Musiklehrer Held anzunehmen. Nur bei diesen wenigen pädosexuell orientierten

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Tätern lässt sich der Verdacht aufrechterhalten, dass der sexuelle Missbrauch etwas mit Gefühlen der Liebe und sexuellem Begehren zu tun hat. So formuliert dieser Satz nichts Anderes als eine mögliche innere Repräsentation und Legitimation des Täters. Er drückt einen Sachverhalt aus, der alleine aus der Sicht des Täters Relevanz hat. Diese Sicht aber bringt einen Aspekt von Realität zum Ausdruck, der für einige Fälle von sexualisierter Gewalt konstitutiv ist. Für den vorliegenden Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass einige Täter ihre Opfer lieben. Diese Liebe verbindet sich mit sexuellem Begehren. Obwohl es subjektiv ist, ist dieses Gefühl Realität. In der Ausübung des sexuellen Missbrauchs kontaminiert der Täter konsensuelle Begriffe von Kindheit, Sexualität und Liebe. Pater Magnus bot seinen Schülern einen emotionalen Zufluchtsort vor den kalten und prügelnden Patres. Hier ist der Mechanismus besonders deutlich: Innerhalb eines hermetischen Systems werden die ausgelieferten Schüler von autoritären, gefährlichen Lehrern und Präfekten in die Hände dessen getrieben, der seine Schüler auf andere Weise liebt. Die Schüler sind eingekreist von Liebe: Sie beziehen daraus Prügel und Vergewaltigung. All das ergibt überhaupt keinen Sinn. Es ist zu vermuten, dass genau dieser Umstand einen wichtigen Beitrag zur Aufdeckungsresistenz sexualisierter Gewalt in Institutionen geleistet hat. Wenn Eltern ihre Kinder den genannten Eliteinstitutionen anvertraut hatten, konnten sie sich keinen Begriff davon machen, auf welche Weise diese von maßgeblichen Figuren des Systems geliebt wurden. Erst recht nicht die Schüler selbst. Insofern ist der pädosexuelle Begriff von Liebe eine Täterstrategie. In der unendlichen Vielfalt subjektiver Bedeutungsgebungen von Liebe scheint es – wenn auch bewegliche – kulturell diskutierte Grenzen zu geben, die einen Bereich umfassen, der mit dem Begriff der »Konsensmoral« beschreibbar ist (vgl. Paul, 2016). Jenseits dieser Grenzen inszeniert der Pädosexuelle seine unbegreiflichen Aufführungen. Wir haben zum Beispiel im Fall von Mandorfer ausführlich beschrieben, wie dieses Unbegreifliche als offenes Geheimnis einen etablierten diskursiven Platz innerhalb der Institution bekommen konnte. Die seltsame retrospektive Uneinigkeit darüber, ob man es gewusst hat oder nicht, ist in ihren wesentlichen Zügen durch die Unbestimmtheit dieses »es« erklärbar. In allen untersuchten Institutionen ist eine bestimmte Form des Gerüchts innerhalb der Schülerschaft nachweisbar, wonach Magnus, Mandorfer und Becker auf Jungs stehen. Die Attitüde des Gerüchts besteht in einem spitzbübischen Lächeln. Nichts an diesem Gerücht hat mit Gewalt zu tun, mit Verletzung, Schädigung. Nichts daran hat mit Liebe zu tun. Der zugrunde liegende Modus scheint eher jener der abgewehrten Scham, der diffusen Bedrohung und der Angst zu sein. Die meisten Täter waren nicht pädosexuell. Interessant ist, dass so gegensätzlich konzipierte pädagogische Systeme wie das katholische Internat und die progressive Reformschule Bedingungen schaffen, unter denen Menschen sexualisierte Gewalt ausüben, die kein sexuelles Interesse an Kindern und Jugendlichen haben. In ihrer ganzen Komplexität können die Mechanismen, die dazu führen, an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Auf die Gefahr, dass diese Verkürzung dem Anspruch auf ein umfassendes Verstehen nicht gerecht werden kann, werden hier zwei Dynamiken herausgestellt, die für diesen Zusammenhang bedeutungsvoll erscheinen: Die eine bezieht sich auf die ganze biografische Equipage des im Klosterinternat sozialisierten katholischen Paters. Die andere ist Ausdruck einer institutionell beförderten, ideologisch anschlussfähigen Dissozialität. Anders ausgedrückt könnte man einen Gegensatz zwischen Überstrukturierung und Unterstrukturierung

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eröffnen: Die desaströsen Komponenten der hermetischen Sozialisation im katholischen Klosterinternat sind in ihrer Vielfalt keinesfalls vollständig erfassbar: strikte raum-zeitliche Organisation, Ideologien von Gott, Männlichkeit, Reinheit, Zölibat, Sexualität. Der Täter im Klosterinternat ist schlecht ausgebildet, findet keinen Ort der diskursiven Selbstreflexion und manövriert eher improvisierend zwischen dem erzieherischen Anspruch der Eliteinstitution und den alltäglichen Anforderungen der pädagogischen Praxis. Und er ist vor allem emotional bedürftig. Auch wenn ihm seine Sexualität noch irgendwie organisierbar erscheint, so findet er keinen Ort für seine emotionale Bedürftigkeit. Beides verbindet sich zum Kitzeln der Schüler, zum Raufen, zur Erektion bei der Umarmung, zum Beobachten im Schwimmbad, zum Schlagen auf den nackten Hintern. Der nicht-pädosexuelle Täter in der Odenwaldschule findet für seine emotionale Bedürftigkeit einen Ort der Verwahrlosung vor. Er ist nicht beschränkt durch die bleierne Umzäunung der katholischen Imperative. Aber wie der katholische Priester findet er in der Institution Möglichkeiten vor, seine emotionale Bedürftigkeit in subjektiv sinnvollen, entlastenden und zerstörerischen Akten auszuleben. So wie sich der katholische Pater durch all die inneren und äußeren Beschränkungen zur Grenzverletzung genötigt fühlt, so ist es genau das fast vollständige Fehlen dieser Beschränkungen, die den Pädagogen an der Odenwaldschule ebenfalls zu Grenzverletzungen verleitet. An einem bestimmten Punkt ist dort fast alles Verwahrlosung. Die emotionale Bedürftigkeit findet gar keinen und nahezu unendlich viele Orte. Ebenso wie im Klosterinternat ist sie keiner tatsächlichen Reflexion zugänglich, aber überall sind Schüler und Schülerinnen, die Opfer werden können. Es gibt Anmache, es gibt eine Sexualisierung im Sprechen und Handeln, es gibt Berührungen, es gibt sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und es gibt eine Tendenz von Pädagogen und Pädagoginnen, mit volljährigen Schüler/innen sexuelle Beziehungen einzugehen. Aus analytischen Gründen könnte es sinnvoll sein, diese Phänomene in einer Reihe zu nennen. Die Beziehung mit den volljährigen Schüler/innen erscheint wie das Alibi der Bedürftigen. Auch dreißig oder vierzig Jahre danach wird standhaft Legitimität behauptet. Man kann aber eine solche Konstellation als Symptom der Verwahrlosung, als Ausdruck eines systemisch konstruierten, mithin inzestuös anmutenden Liebesbegriffs sehen. Einer der Täter, Kahle, hat eine Schülerin geheiratet. Das wirkt wie eine nachträgliche Legitimation, durch die eine aus emotionaler Bedürftigkeit produzierte Gewalt in eine gesellschaftlich anerkannte Liebe transformiert wird. All diese unvollständigen Beobachtungen zusammenfassend, kann festgestellt werden, dass die von nicht-pädosexuellen Tätern ausgeübten Formen sexualisierter Gewalt in völlig gegensätzlichen institutionellen Milieus jeweils einen fruchtbaren Boden zum Ausleben ihrer unreflektierten emotionalen Bedürftigkeit vorfanden. Man kann deutlich feststellen, wie die psychologische Organisation von Individuen mit Systemdynamiken korrespondiert. Der Erklärungswert einer retrospektiven Empörung über Becker, Mandorfer, ihre Mittäter und Mit(halb)wisser ist gering. In einem unserer Interviews wurde von einem Betroffenen der Begriff der »Schrebergartenmentalität« geprägt (vgl. Keupp et al., 2017a). Dieses Wort vereint eine spezifische Struktur mit einer mit ihr assoziierten psychischen Befindlichkeit. Es spricht einiges dafür, dass diese Wortschöpfung einen wichtigen Aspekt jener systemischen Zusammenhänge widerspiegelt, die für die jahrzehntelange Aufrechterhaltung von Gewalt im institutionellen Kontext verantwortlich sind. Die

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Schrebergärten und die aus ihrer spezifischen räumlichen Anordnung generierte Mentalität: Enge, unsichtbare Nachbarschaft; heilige Ruhe; umfriedete, inzestuöse Grenzenlosigkeit. Der Schrebergarten ist das Synonym der »Familie« in der Odenwaldschule. Die Pädagogen und Pädagoginnen beackerten dort nach ihrem eigenen Gutdünken ihr jeweiliges Gärtchen, auf dessen Boden Privatheit und pädagogische Idee im ineinander verschlungenen Wildwuchs wucherten. Diese Schrebergartensiedlung ist heterogen organisiert. Neben Ordnung wächst Chaos, neben Bildung wächst Verwahrlosung, neben Respekt wächst Gewalt. Es ist legitim, über all das einen Homogenität suggerierenden Begriff von »Odenwaldschule« zu legen, aber es ist wichtig zu verstehen, dass die Differenz ein Organisationsprinzip dieser Struktur ist. Innerhalb dieser Struktur bildet sich eine institutionelle Mentalität heraus, die unter anderem von einem korrumpierten Begriff der Liebe gekennzeichnet ist: Die pädagogischen Organisationseinheiten heißen nicht »Wohngruppe«, sie heißen »Familie«. Die Familie als Hort der Liebe. Der pädagogische Eros geht in diesen Häusern ein und aus und es scheint keine ernsthafte Reflexion des Liebesbegriffs zu geben, der mit dem Etikett der Familie eigentlich assoziierbar wäre. Es geht eher um eine gefährliche implizite Zuweisung von Liebe zur Familie: Liebe zwischen den Paaren, die die Familien führen. Liebe dieser Paare zu ihren leiblichen Kindern. Liebe zwischen den Schülerinnen und Schülern. Liebe der Schülerinnen und Schüler zu ihren Pädagogen und Pädagoginnen. Liebe der Pädagogen und Pädagoginnen zu ihren Schülerinnen und Schülern. Überall unreflektierte, grenzenlose Liebe im Schrebergarten. Überall Geheimnis, Andeutung, Gerücht und das Fehlen einer institutionellen Struktur, die es sich zur Aufgabe macht, die Mädchen und Jungen zu schützen. Es ist eine der wesentlichsten Erkenntnisse unserer Forschungen, dass diese Schrebergartenmentalität genauso im katholischen Klosterinternat vorzufinden ist. Wir haben gelernt, dass das katholische Kloster trotz seiner autoritären, streng reglementierten Organisation wesentliche Züge der Desorganisation beinhaltet. Während die Schüler – insbesondere dann, wenn sie noch jünger sind – einem strikten raum-zeitlichen Regime unterworfen sind, geistern die Patres unverbunden, autonom und regellos durch diese Struktur. Sie erscheinen gleichsam voneinander dissoziiert und kommen dadurch in die Lage, ihre jeweils eigenen Bereiche autonom und isoliert zu definieren und zu konstruieren. Wesentlich ist, dass sie dabei einem Ausmaß an sozialer Kontrolle unterliegen, das bei Weitem nicht ausreicht, sexualisierte Gewalt, körperliche und emotionale Misshandlung von Schülern zu verhindern. Die verbindende Einheit zwischen den Schrebergärten ist die Gerüchteküche. Gottes Liebe und die Liebe zum Kind können unter diesen Umständen individuellen Interpretationen folgen und sich in eine Praxis übersetzen, die ziemlich unbehelligt ist von sozialen oder gar gesellschaftlichen Korrektiven. Man findet in solchen Strukturen den Geistlichen, der mit Massagen und Gesprächen über Sexualität und Liebe alternative Formen des erzieherischen Wirkens praktiziert. Die katholische Kirche scheint prädestiniert dafür, Pädagogen hervorzubringen, die sich gegen den Mainstream der Sexualfeindlichkeit, der Verklemmtheit und Prüderie stellen und die sich nah dran wähnen am Empfinden und an den Bedürfnissen Heranwachsender (vgl. Hackenschmied & Mosser, 2017). Die Geilheit ihres Tätigkeitsfeldes beziehen sie aus dem ständigen Überschreiten von Schamgrenzen, die Antithese zur katholischen Doktrin bildet ihr Alibi. Die Organisation des katholischen Klosters bietet keine Instrumente, um in solche Erzie-

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hungsformen korrigierend einzugreifen; ebenso wenig kann sie den pädosexuellen Täter davon abhalten, Mädchen und Jungen sexuell auszubeuten. In all diesen Strukturen sei es im Zusammenhang der »Familien« in der Odenwaldschule, sei es in der »Abteilung« oder der »Gruppe« im Klosterinternat ist die Liebe als private Vorstellung ebenso virulent wie als ideologisches Alibi. Es gibt keine Instanz, die die Kluft zwischen behaupteter und praktizierter Liebe auch nur annähernd kritisch in Augenschein nehmen würde. Wenn die Liebe bestimmter Bedingungen bedarf, um das Leben von Menschen tatsächlich zu bereichern, so liegen diese in den beschriebenen pädaogogischen Kontexten nicht vor: In der Odenwaldschule wächst sie auf dem Boden der Verwahrlosung, in den Klosterinternaten geht sie aus einem Klima verunglückter Sublimierungen hervor.

5. F a zit : L iebe als V er ant wortung und F ürsorge Vor dem Hintergrund der hier dargestellten Beobachtungen ist es schwierig, ohne Misstrauen eine positive Vorstellung von Liebe im formalen Bildungskontext zu entwickeln. Es sollen hier zwei Konstellationen entworfen werden, die dennoch diesbezügliche Ansatzpunkte liefern könnten. Die erste ist eine negative Bestimmung, die der pädagogischen Institution die Verantwortung zuweist, Gewalt zu verhindern. Die zweite beschreibt ein Modell, in dem die Liebe als implizite Qualität einer institutionalisierten Fürsorgetechnik erscheint.

5.1 Der Verzicht auf Gewalt als Grundlage von Pädagogik – eine negative Bestimmung bildungsinstitutioneller Verhältnisse Die Aufdeckungen sexualisierter Gewalt und Misshandlungen im institutionellen Kontext im Jahre 2010 haben zur Installierung des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch (RTKM) durch die deutsche Bundesregierung geführt. Der Runde Tisch hat sich unter anderem intensiv mit Fragen der Gewaltprävention beschäftigt und Anregungen für entsprechende Entwicklungen und Intensivierungen auf institutioneller Ebene gegeben (vgl. RTKM, 2011). Das Thema war nicht neu (vgl. Fegert & Wolff, 2002), bedurfte aber eines nachhaltigen gesellschaftspolitischen Anstoßes, um Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche betreut werden, im erforderlichen Ausmaß zu erreichen. Ein Überblick über die bestehende Forschungsliteratur machte deutlich, dass hierzu in Deutschland ein erheblicher Nachholbedarf besteht (vgl. Bundschuh, 2010). Eine erste systematische Erfassung über das Ausmaß sexualisierter Gewalt im institutionellen Kontext in Deutschland lieferte die Studie des Deutschen Jugendinstitutes, in der auch Empfehlungen zur Prävention gegeben wurden (vgl. Helming et al., 2011). Bereits in dieser Untersuchung werden aber auch »Stolpersteine« benannt, die einer Umsetzung von Schutzstrukturen in Institutionen im Wege stehen könnten. Die Autorinnen und Autoren rekurrieren hier insbesondere auf die Beobachtung, dass Regeln in vielerlei Hinsicht anfällig für Abweichungen sind und somit auch unter der Voraussetzung der Implementierung von Schutzkonzepten relevante Risikobereiche bestehen bleiben. In weiterer Folge kam es zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Erfordernissen und Qualitätsmerkmalen präventiver Initiativen in Institutionen (vgl. Fegert & Wolff, 2015). Als unverzichtbare Elemente von Präventionskonzepten wurden unter ande-

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rem identifiziert: Qualifizierung des Personals, Hinzuziehung externer Beratung, Integration des Schutzgedankens in das institutionelle Leitbild, Durchführung einer Risikoanalyse, Etablierung von Partizipation, Entwicklung und Umsetzung von Beschwerdeverfahren, Erstellung von Verhaltenskodices, Entwicklung von Verfahrensrichtlinien i. S. eines Notfallplans etc. (vgl. Rörig, 2015). Die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit solcher Strukturelemente von Prävention kann in Fachkreisen als weitgehend konsensuell angesehen werden. Es existieren inzwischen ausführliche praxisfundierte Darstellungen, aus denen die Wichtigkeit einzelner Präventionsbausteine hervorgeht, so zum Beispiel zur Partizipation (vgl. Obele, 2015) oder zum Beschwerdemanagement (vgl. Urban-Stahl, 2015). Hinsichtlich einer möglichst breit gestreuten Umsetzung von Präventionskonzepten sind insbesondere die Realisierung einer Rahmenvereinbarung des UBSKM mit gesellschaftlichen Dachorganisationen (2012) sowie die Initiierung der Kampagnen »Kein Raum für Missbrauch« (2013) und »Schule gegen sexuelle Gewalt« (2016) zu nennen.1 Basierend auf der Evaluation einer bundesweiten Fortbildungsoffensive für pädagogische Fachkräfte wird berichtet, dass Fachkräfte in ihren jeweiligen Einrichtungen nicht nur mit unterschiedlichen strukturellen Gegebenheiten konfrontiert werden, sondern auch mit unterschiedlichen Leitungsstilen, Kommunikationsstrukturen und institutionellen Dynamiken (z.B. offene bzw. verdeckte Konflikte oder fachliche Kontroversen) (vgl. Eberhardt, Naasner & Nitsch, 2015). Basierend auf diesen Erkenntnissen wurden »Handlungsempfehlungen zur Implementierung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe« veröffentlicht (vgl. Eberhart, Naasner & Nitsch, 2016), in denen unter anderem Best-practice-Beispiele dargestellt sind, die insbesondere auf systemische Dynamiken und den Prozesscharakter einer gelingenden Prävention rekurrieren. Der wissenschaftliche Beirat des Projekts vermerkt darin unter »spezifische Problemlagen«, dass sich Einrichtungen mit akuten oder in der Vergangenheit liegenden Übergriffen und Grenzüberschreitungen auseinandersetzen müssen, um die für die Umsetzung von Prävention erforderliche Motivation und Arbeitsfähigkeit des Personals erreichen zu können (vgl. Buskotte, Deegener, Kavemann & Wiesner, 2016). Zu resümieren ist also, dass (1) es inzwischen ein umfangreiches und differenziertes Wissen über erforderliche Bausteine von Prävention sowie über Mechanismen ihrer Implementierung gibt, (2) die Realisierung von Prävention von (sexualisierter) Gewalt in pädagogischen Einrichtungen außerordentlich voraussetzungsreich und anspruchsvoll ist und (3) insbesondere der Mangel an bereitgestellten (personellen, zeitlichen und finanziellen) Ressourcen sowie eine fehlende Bearbeitung vergangener und aktueller Gewaltvorkommnisse die Umsetzung von Prävention blockieren. Was wir hier beobachten können, ist eine Bewegung, mit der ein deutliches Primat des Schutzgedankens transportiert wird. Der damit einhergehende Diskurs hat sich im Laufe der Jahre erheblich ausdifferenziert, wobei eine Entwicklungsrichtung das Bemühen zum Ausdruck bringt, sich von der Verhinderung in Richtung einer positiv definierten Qualität von Pädagogik zu bewegen, wie dies zum 1 |  Die entsprechenden Websites finden sich unter https://www.kein-raum-fuer-missbrauch.de/sowie unter https://www.schule-gegen-sexuelle-gewalt.de/home/(letzter Zugriff jeweils 24.07.2018).

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Beispiel in der Praxis der Partizipation zum Ausdruck kommt. Es ist häufig von Einrichtungskulturen die Rede, innerhalb derer der Achtung von Grenzen eine hohe Bedeutung zugewiesen wird (vgl. Helming et al., 2011; Khoury-Kassabri & Attar-Schwartz, 2013; Monks, Smith, Naylor, Barter, Ireland & Coyne, 2009). Aus guten Gründen ist man vorsichtig mit affektiven Aufladungen solcher pädagogischen Atmosphären. Es geht darum, strukturelle Voraussetzungen für gesunde zwischenmenschliche Beziehungen zu schaffen. Die pädagogische Haltung ist von Achtung, Respekt und Zugewandtheit gegenüber Kindern und Jugendlichen geprägt. Der Schutzgedanke transportiert etwas, was auf den ersten Blick wie pädagogischer Pragmatismus aussehen könnte, wobei es wichtig ist, diesen nicht mit zwischenmenschlicher Kälte oder einem Mangel an Emotionalität zu verwechseln. Diese Diskussion ist spannend und in Entwicklung. Der Liebesbegriff hat in ihr keinen Platz und es ist schwer abzusehen, ob er an irgendeinem Punkt zu einer erkenntnisfördernden Kategorie werden und Impulse für die erzieherische Praxis geben kann.

5.2 Das Lóczy in Budapest – Fürsorge als Technik der Liebe Die ungarische Ärztin Emmi Pikler hat in den 1950er Jahren eine institutionelle Struktur geschaffen, die bedeutende Impulse für die erzieherische Praxis in den darauf folgenden Jahrzehnten gegeben hat (vgl. Pikler, Tardos & Valentin, 2002). Grundlage dafür war der Transfer der Erkenntnisse der Bindungstheorie in einen bestimmten Umgang mit Kindern, die einer Institution anvertraut wurden. Das Budapester Kinderheim Lóczy diente diesbezüglich als modellhafte Einrichtung. Dort wurden Säuglinge und Kleinkinder versorgt, deren Mütter an Tuberkulose erkrankt waren und keine Möglichkeit hatten, ihre Kinder zu versorgen. In der frühen Entwicklung geschah also die Trennung von den primären Bezugspersonen. Pikler hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die lebenswichtigen Qualitäten der frühkindlichen Bindung auf eine institutionelle Struktur zu übertragen, die von ausgebildeten Pflegekräften getragen wurde. Von großer Bedeutung war dabei sowohl eine bestimmte raum-zeitliche Organisation als auch eine besondere Form der Interaktion zwischen den Pflegekräften und den ihnen anvertrauten Säuglingen und Kleinkindern. All die minutiösen Praktiken, die Ainsworth im Zusammenhang mit dem Konzept der Feinfühligkeit beschrieben hatte (vgl. Grossmann & Grossmann, 2015), wurden von den Pflegekräften innerhalb der institutionellen Struktur des Lóczy zur Anwendung gebracht: Blickkontakt, Aufmerksamkeit gegenüber den Signalen des Kindes, prompte Reaktion, genaue sprachliche Kommentierung, all das, was den späteren Begriffen der Präsenz und Resonanz entsprechen könnte, machte das Repertoire der Pflegehandlungen aus. Es ist faszinierend, wie Pikler die motorische Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern beschrieb und in welcher Weise dabei die autonomen Bewegungsbedürfnisse der Kinder mit der aufmerksamen Begleitung der Erziehungspersonen korrespondieren (vgl. Pikler, 1997). Das Besondere dessen, was im Lóczy geschah, lässt sich folgendermaßen skizzieren: Es gibt den kargen, durchdachten räumlichen Rahmen des Budapester Kinderheims. In diesem Milieu wird eine bestimmte Serie von Techniken zur Anwendung gebracht, die (bindungs-)theoretisch fundiert sind. Diese Äußerlichkeiten sind assoziiert mit einem inneren Erleben, das von Vertrauen, Zufriedenheit, Explorationsbedürfnis, Trost, Zuneigung, insgesamt also von einer ausgeprägten

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Emotionalität geprägt ist. Wir wissen nicht, ob die Pflegekräfte im Lóczy die von ihnen betreuten Kinder lieben, aber wenn wir in alten Schwarz-Weiß-Filmen die Interaktion zwischen Pflegekraft und Kleinkind beim Wickeln beobachten, dann mutet uns etwas an, für das es schwer ist, einen anderen Begriff als Liebe zu finden. Diese eigenartige Kombination von Institution, Technik und tiefer Emotionalität könnte ein Modell dafür sein, wie ein Begriff von Liebe innerhalb des Bildungskontextes platzierbar wäre. Das Lóczy ist die Antithese zu Missbrauch und Gewalt: Weder Verwahrlosung noch Grenzüberschreitung, sondern hoch konzentrierte, aufmerksame, freundlich interagierende Begleitung der Entwicklung des Kindes. Die Bindungstheorie, insbesondere das Konzept der Feinfühligkeit, liefert uns, wenn man es pointiert ausdrücken will, das »Werkzeug der Liebe«. Allerdings bedarf es anspruchsvoller institutioneller und menschlicher Voraussetzungen, um dieses Wissen in eine förderliche erzieherische Praxis zu übersetzen. Konzepte und Techniken des Lóczy stellen keinen Anachronismus dar. Sie sind vielmehr anschlussfähig u.a. an die Bindungsforschung, an Forschungen zu Spiegelneuronen und zur Theory of Mind. Ihre Bedeutung für das in diesem Beitrag behandelte Thema ergibt sich aus zahlreichen Befunden, die die fortdauernde Wirkung früher Bindungsrepräsentationen für das Beziehungserleben über die gesamte Lebensspanne nachweisen (vgl. Brisch & Hellbrügge, 2015).

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Ist Verlass auf die Liebe? Überlegungen zum Gewaltmissbrauch in katholischen Heimen Walter Schaupp »Liebe hat gefehlt, Konsequenz war da.« Aus einem Interview mit einem Opfer (Schäfer-Walkmann, Störk-Biber & Tries, 2011: 247)

Hintergrund für die Frage, die im Zentrum des folgenden Beitrags steht, ist einerseits eine langjährige frühere Mitarbeit des Verfassers in einer »Arbeitsgruppe Theologie des Ordenslebens«, wo in engagierter Weise über Sinn und Zukunftsfähigkeit dieser Lebensform in der heutigen Zeit diskutiert wurde. Andererseits wurde derselbe Verfasser als Mitglied der diözesanen Missbrauchskommission der Diözese Graz-Seckau (Österreich) mit den Originalprotokollen von Missbrauchsopfern konfrontiert, die ein trauriges, negatives Bild vom Wirken verschiedener Ordensgemeinschaften in Heimen und Internaten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vermitteln. Zumindest im Hinblick auf die damalige Zeit wird darin eine erschreckende Diskrepanz zwischen Anspruch und Ideal des Ordenslebens und gelebter Realität sichtbar. Die Tätigkeit in einer diözesanen Missbrauchskommission führt naturgemäß zu einer konzentrierten Konfrontation mit dem Versagen der Heim- und Internatserziehung der damaligen Zeit, da sich nur ehemalige Heiminsassen mit traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen melden. Es fehlen die positiven Heimbiographien, die es auch gegeben hat, um das Bild auszugleichen (vgl. Unabhängige Expertenkommission, 2013: 151). Gewaltmissbrauch und sexuelle Gewalt bekommen in religiös geführten Heimen eine besondere Dramatik, da die Menschen, die hier in Leitung und Erziehung gearbeitet haben, sich im Hinblick auf ihren ganzen Lebensentwurf mehr als andere einer christlich geprägten Liebe verpflichtet wussten. Warum konnte, so fragt man sich, das explizite Bewusstsein um die Bedeutung (christlicher) Liebe, an der ein Leben in einer (katholischen) Ordensgemeinschaft sich ungeteilt ausrichten soll, das Abgleiten in Zerrformen dieser Liebe bis hin zu bewusstem Missbrauch im erzieherischen Alltag nicht verhindern? Der hier sichtbar werdende Kontrast soll im Folgenden im Hinblick auf den erzieherisch-pädagogischen Kontext der Heimsituation analysiert werden, um daraus etwas für die Rolle von »Liebe« in pädagogischen Kontexten allgemein zu lernen. Im Hinblick auf die Fragestellung dieses Bandes, der ein aktuelles »bildungsöko-

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nomisches Verständnis von Bildung, das Liebe gänzlich ausklammert, wenn nicht gar zu unterdrücken droht« beklagt (Bildung und Liebe, 2017: 3) wie auch die »moderne Versuchung«, »Liebe als Idee« zu verabschieden (Bildung und Liebe, 2017: 5), ist dies interessant, weil gerade in den Orden und Kongregationen, in deren Institutionen sich Missbrauch ereignete, Liebe offiziell immer im Zentrum der pädagogischen Bemühungen stand. Die »Idee der Liebe« konnte hier jedoch aus verschiedenen Gründen eine von Liebe weit entfernte reale Praxis nicht verhindern. Der folgende Beitrag bringt keine neuen Fakten ans Tageslicht, sondern will im Hinblick auf die genannte Fragestellung etwas zum Verständnis des Vorgefallenen beitragen. Er stützt sich auf die eigene Kenntnis von Protokollen in der diözesanen Missbrauchskommission, die jedoch nicht direkt verwertet werden, sowie auf schon publizierte Berichte, Analysen und biographische Erfahrungen zu Gewaltmissbrauch und sexueller Gewalt in Heimen, Internaten und Schulen in der Zeit vor und nach dem zweiten Weltkrieg. Der Akzent liegt auf Gewaltmissbrauch und nicht auf sexueller Gewalt (sexuellem Missbrauch) und dies wiederum in der Heim- und Internatssituation, also in einem erzieherischen, nicht rein schulischen Kontext. Natürlich ist sexueller Missbrauch ein noch schwererer Verstoß gegen pädagogische Liebe und Verantwortung und gegen die Würde des Kindes. Gewaltmissbrauch war aber verbreiteter als sexueller Missbrauch, war akzeptierter und wurde offener durchgeführt. Er konnte innerhalb der Heimöffentlichkeit anders als sexueller Missbrauch als pädagogische Notwendigkeit getarnt und verteidigt werden (vgl. Sieder & Smioski, 2012: 526). In diesem Sinn stellt die in vielen Institutionen der damaligen Zeit herrschende Kultur von Erniedrigung und Gewaltanwendung eine besondere Herausforderung im Hinblick auf das Ideal christlich-pädagogischer Liebe dar. Heime und Internate waren statistisch gesehen die für Missbrauch anfälligsten Orte: 69,9 % der kirchlichen Missbrauchsfälle in Österreich fanden in Heimen und Internaten statt und nur 10,1  % der Fälle in Schulen (vgl. Lueger-Schuster, Kantor, Weindl & Jagsch, 2012: 44).

1. D er K onte x t 1.1 Die Institution der Heime Es ist wichtig, sich die Heterogenität der Institutionen vor Augen zu führen, wenn von Heimen und Internaten die Rede ist (vgl. Ralser, Bischoff, Jost & Leitner, 2015; Schäfer-Walkmann et al., 2011). Historisch am Beginn standen im 19. Jahrhundert Häuser für Waisen, denen später Einrichtungen für »verwahrloste« Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen wie Flüchtlingskinder, uneheliche Kinder oder Kinder alleinerziehender Mütter in großer finanzieller Notlage folgten. So genannte »Rettungsanstalten« zielten zunächst auf die Behebung materieller und sozialer Not, später rückte der Gedanke einer notwendigen Befreiung dieser Kinder aus drohender oder eingetretener »sittlicher Verwahrlosung« in den Vordergrund (Sieder & Smioski, 2012: 521). »Besserungsanstalten« für Jugendliche »Korrigenden«, in denen sich ebenfalls geistliche Gemeinschaften engagierten, zielten von vornherein darauf, ein schon etabliertes fehlgeleitetes Verhalten zu korrigieren. In manchen Fällen waren hier »Strafzellen« als bauliche Voraussetzung

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für eine Strafpraxis von vornherein mitgeplant (Ralser et al., 2015: 62), die auch für andere Heime vielfach belegt ist und besonders nach Fluchtversuchen exzessiv gehandhabt wurde. Es gab aber auch Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, wie z.B. das im Jahr 1882 gegründete, heute noch existierende Odilien-Institut in Graz für Menschen mit Sehbehinderung. Die Fürsorgeidee der damaligen Zeit war von der Vorstellung durchdrungen, dass von sozial und sittlich verwahrlosten Kindern und Jugendlichen für die »normale« Gesellschaft eine »Ansteckungsgefahr« ausgeht und diese daher segregiert werden müssen. In vielen Fällen wurden die Kinder gegen ihren Willen in die Heime verbracht, viele kamen mit Traumatisierungen (vgl. Schäfer-Walkmann et al., 2011: 120). Einen ganz anderen Typus stellen die Stifts- oder Klosterinternate dar, die von »normalen« Jugendlichen bewohnt wurden, wie im Fall von Ettal, Kremsmünster oder Admont. Sie wurzeln nicht wie die anderen Heime im Fürsorgegedanken, sondern in der Tradition der Kloster- und Ritterschulen, die dem eigenen Nachwuchs oder der Erziehung adeliger Kinder dienten und die einen elitären Anspruch Auswahl und Erziehung der Zöglinge betreffend vertraten. Insgesamt handelte es sich damit um Einrichtungen mit sehr verschiedener Herkunft der Kinder und Jugendlichen und mit einem breiten Spektrum an Zielsetzungen, das von reinen Erziehungs- und Bildungszielen (manchen Heimen waren Schulen und Handwerksstätten angeschlossen), über sonderpädagogische Ziele bis hin zu Korrektions- und Detentionszielen reichte. Im Fall von Besserungsanstalten überschnitten sich die Ziele, da die Kinder hier gleichzeitig erzogen und gebildet aber auch »verwahrt« werden sollten (vgl. Ralser et al., 2015: 58). Vor allem Korrektion und Detention implizieren von vornherein institutionelle Gewalt, innerhalb derer sich individuelle Gewalt kaum vermeiden lässt. Die gesamte Heimgeschichte hindurch bis in die 70er-Jahre springt die starke funktionale und organisatorische Verflechtung von Jugendgerichtsbarkeit, staatlicher Jugendfürsorge und Heimen ins Auge, der die konfessionellen Heime in keiner Weise entzogen waren. Beide Seiten profitierten von dieser Situation. Die Gesellschaft glaubte an den positiven Effekt einer religiösen Heimerziehung auf das Leben der Kinder und profitierte in finanzieller Hinsicht, da religiös geführte Heime billiger kamen als staatliche (vgl. Ralser et al., 2015: 62). Für die geistlichen Gemeinschaften, die sich gebraucht und anerkannt erlebten, stellte die Übernahme von Heimen die Möglichkeit einer weiteren Expansion der eigenen Gemeinschaft dar (vgl. Isenring, 1996: 31-47). Konkret wurden Schwestern von Seiten politischer Verantwortungsträger gebeten, schon existierende Einrichtungen zu übernehmen oder es gab private Stifter oder Vereine, die eine Einrichtung finanzierten und diese einer Schwesternkongregation übertrugen. Vertragsheime mussten die ihnen durch die Fürsorgestellen und Gerichte zugewiesenen Kinder und Jugendliche übernehmen, es konnten ihnen aber auch Kinder über Vermittlung der Trägervereine oder kirchlicher Stellen zugewiesen werden.

1.2 Heimerziehungsideen Schon sehr früh, im Jahr 1811, wurden in der k. u. k. Monarchie Kindern erstmalig ein Recht auf Erziehung und den Eltern Erziehungspflichten zugeschrieben. Wurden letztere vernachlässigt, ergab sich die Möglichkeit, den Eltern das Erziehungs-

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recht zu entziehen (vgl. Jesionek, 2010). Im Verlauf des 19. und des 20. Jahrhunderts engagierten sich Staat, kirchliche Institutionen und private Vereine immer mehr in der Kinder- und Jugendfürsorge, indem man Waisen- und Kinderheime sowie Rettungs- und Besserungsanstalten verschiedenster Art gründete. Die Heime folgten dem bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein dominanten Modell der geschlossenen Heimerziehung, das auf Absonderung von der Außenwelt und auf maximale innere Kontrolle und Disziplin setzte. Dahinter standen verschiedene Ideen. Um Kinder nachhaltig »retten« bzw. »bessern« zu können, mussten sie konsequent aus ihrem Herkunftsmilieu herausgelöst und an einer Rückkehr in das schädliche Herkunftsmilieu gehindert werden (Ralser et al., 2015: 261, Anm. 3). Innerhalb der Heime sollte eine homogene, hygienische und disziplinierte Gegenwelt erschaffen werden, in welche die Kinder im Kontrast zu ihrer Herkunft eingewöhnt werden sollten. Die in bestimmten Fällen für notwendig gehaltene »Zwangserziehung« – »Wo aber Familienerziehung mangelt oder nicht ausreicht, hat die Zwangserziehung einzutreten gegen drohende oder tatsächliche Verwahrlosung« (Zötl, 1907: 183) – setzte voraus, dass die Kinder sich dem erzieherischen Zugriff nicht entziehen konnten. Dazu kam die schon erwähnte Idee, man müsse umgekehrt die Gesellschaft vor eine »Ansteckung« durch »verwahrloste« Kinder und Jugendliche schützen (Sieder & Smioski, 2012: 520). Sogar innerhalb der Heime wurden die Kinder bzw. Jugendlichen nach Geschlecht, Alter aber auch nach »moralischen Eigenschaften« getrennt, um sittliche »Kontamination« zu vermeiden (Ralser et al., 2015: 257). In diesem Sinn trifft es zu, sie zumindest im Prinzip als »totale Institutionen« verbunden mit einer »totalen Erziehung« zu bezeichnen (Sieder & Smioski, 2012: 524), auch wenn die konkrete Erziehungskultur, wie der Bericht über die Ingenbohler Schwestern am Beispiel der Heime in Hohenrain und Rathausen zeigt, sehr unterschiedlich sein konnte (vgl. Unabhängige Expertenkommission, 2013: 20). Zu den Ursachen sozialer Verwahrlosung bei Kindern zählt Lydia von Wolfring, eine für damalige Zeiten fortschrittliche Vertreterin der Kinder- und Jugendschutzidee in einem Referat im Jahr 1907 neben unverschuldeter Armut der Herkunftsfamilie und verschuldetem Versagen der Herkunftsfamilie (Kriminalität, Alkoholismus, Prostitution, familiäre Gewalt) eine, wenn auch seltene, »ethisch defekte, erbliche Veranlagung« des Kindes. Kinder mit einem solchen »erblich angeborenen Defekt des Gewissens« seien erzieherischen Maßnahmen prinzipiell unzugänglich, »wenn sie den besitzlosen Klassen angehören, seien sie von vornherein bestimmt, in jugendlichem Alter die Korrektionshäuser, später Zwangs- und Strafanstalten zu füllen« (Wolfring, 1907: 160). Es ist unmittelbar einsichtig, dass sich, wurde ein solches Urteil einmal über ein Kind gefällt, ein ganz anderes Programm an erzieherischen Maßnahmen rechtfertigen ließ als bei Kindern, die man für unschuldig in Not geraten und entwicklungsfähig hielt. Schon im Jahr 1872 stößt man auf eine erste gesetzliche Regelung des elterlichen Züchtigungsrechts. Erlaubt wird es, »unsittliche, ungehorsame oder die häusliche Ordnung und Ruhe störende Kinder auf eine nicht übertriebene und ihrer Gesundheit unschädliche Art zu züchtigen« (ABGB 1872 §145). Auch wenn damit eine Überschreitung prinzipiell bestraft werden konnte, waren zusätzlich bis 1975 Misshandlungen mit leichter Körperverletzung im Rahmen häuslicher Zucht »privilegiert«, d.h. sie wurden in der Praxis kaum geahndet (vgl. Jesionek, 2010). Eine weitere Ausnahme gab es für »nicht vollsinnige und sittlich verwahrloste Kinder«,

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was in Heimen für »verwahrloste« Kinder und Kinder mit Behinderung ein Einfallstor für übermäßige Gewaltanwendung gewesen sein muss. Erst im Jahr 1989 wurden das Züchtigungsrecht in Österreich vollständig und ersatzlos abgeschafft. Das Problem von Kindesmisshandlungen war schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt und wurde zum Beispiel auf dem schon erwähnten Ersten österreichischen Kinderschutzkongress im Jahr 1907 in Wien äußerst kritisch thematisiert (vgl. Schriften des Ersten österreichischen Kinderschutzkongresses in Wien, 1907: IX). Man sieht damals vor allem uneheliche Kinder oder Stiefkinder in einem Kontext von Verarmung, Arbeitslosigkeit, alleinerziehender Mutterschaft und männlichem Alkoholismus von Gewaltmissbrauch bedroht und zwar in ihren Ursprungs- und in Pflegefamilien. Darüber hinaus wird Kritik an einer nachlässigen und unzureichenden Gemeindefürsorge und an realitätsfremden Entscheidungen der Jugendgerichte geübt, nicht jedoch an der Situation von Kindern in den damals schon existenten Heimen. Die damals neu entstehenden Fürsorgevereine und die von ihnen gegründeten Heime erscheinen vielmehr noch als innovative Lösung, auf die man stolz ist, in Fällen wo die obigen Institutionen versagen.

1.3 Das Engagement von religiösen Orden und Kongregationen Das sozial-karitative Engagement von geistlichen Kongregationen und Orden lässt sich exemplarisch am Beispiel der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz darstellen, die auch in der Steiermark stark präsent waren. Die Gemeinschaft wurde im Jahr 1856 in der Schweiz durch Maria Theresia Scherer auf Inspiration des Kapuzinerpaters und Sozialreformers Theodosius Florentini (1808-1865) gegründet. Die Schwestern engagierten sich von Beginn an in der Sorge um Waisen, »verwahrloste« Mädchen, Alte und Kranke, daneben in Spitälern und Gefängnissen. In den Einrichtungen für Kinder und Jugendliche wollte man diesen vor allem unabhängig von ihrer Herkunft eine Schulbildung und/oder Handwerksausbildung ermöglichen. Die Schwestern wurden nach Graz gerufen und gründeten hier 1871 ein Dienstmädchenasyl, 1872 ein Priesterspital, 1878 zwei Schülerhorte, 1879 in Bruck an der Mur das Pius-Institut als sonderpädagogische Einrichtung und 1885 ein Sanatorium in Graz. Im Jahr 1891 übernahmen sie auf Anfrage hin die Krankenpflege im Villacher Krankenhaus. Eine ähnliche Dynamik wird im Engagement der Schulbrüder sichtbar, in deren Einrichtungen es ebenfalls zu Gewaltmissbrauch kam. Sie wurden 1857 nach Wien gerufen, um das k. u. k. Waisenhaus in der Boltzmanngasse zu übernehmen. Von hier aus übernahmen sie 1882 ein in Tullnerbach vom Katholischen Waisenhilfsverein erbautes Haus, das Norbertinum, das später vorbildhaft in der Errichtung von Lehrwerkstätten wurde, und 1957 ein Studentenheim in Feldkirch für 220 Kinder. Im Fall der gut untersuchten Geschichte des Jagdberges in Schlins, Vorarlberg, kam die Anregung zur Gründung einer Einrichtung für sozial vernachlässigte Kinder von einem Priester vor Ort. Nachdem er den Landtag für sein Projekt gewonnen und einen Unterstützungsverein gegründet hatte, wurde das Vorhaben 1886 umgesetzt und die Leitung wurde den Kreuzschwestern übertragen. Für die Einweisung war der Verein zuständig. Später nahm man auch »schwachsinnige« Kinder auf. Im Jahr 1926 übernahmen die Salesianer Don Boscos die Einrichtung. In dieser Zeit fällt allgemein eine beeindruckende Dynamik von Neugründungen und Neuübernahmen von sozialen Einrichtungen durch katholische Kongre-

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gationen und Orden ins Auge. Sie alle entstanden aus dem Wunsch, auf die vielschichtige soziale Not zur Zeit der industriellen Revolution zu reagieren und der armen Landbevölkerung zu helfen. Im Fall der Kreuzschwestern zählte die Kongregation im Jahr 1888, dem Todesjahr der Gründerin, bereits 1596 Schwestern. Das Motiv für einen Eintritt lag sicherlich nicht nur in der Motivation des Helfens, sondern auch in der Möglichkeit, beengten Herkunftsbedingungen zu entkommen und in der Kongregation als Frau eine Chance auf Bildung und sozialen Aufstieg zu bekommen. Angesichts der schon erwähnten starken Verflechtung von staatlichen und religiös getragenen Institutionen ist die Frage, wie viel Spielraum die geistlichen Gemeinschaften hatten, in ihrem sozialen Engagement innovative und alternative Wege zu gehen. Für Joachim Schmiedl, einen selbst einem Orden angehörenden Historiker, besteht einer der Kausalfaktoren für Missbrauch in katholischen Einrichtungen darin, dass es in Deutschland im Unterschied zu anderen Ländern keine Tradition des Widerstands von Ordenseinrichtungen gegen den Staat gegeben hätte (vgl. Schmiedl, 2006). Auch ging es bei dem kirchlichen Hilfsangebot aus heutiger Sicht nicht nur um das Kind selbst sondern auch darum, angesichts einer schon damals empfundenen Entchristlichung der Gesellschaft und der zunehmenden Konkurrenz von Seiten der sozialistischen Arbeiterbewegung gesellschaftlich Terrain zu gewinnen (vgl. Ralser et al., 2015: 55).

1.4 Ubiquität von Missbrauch und die Suche nach Kausalfaktoren Beeindruckend ist die Ubiquität von Gewalt und sexuellem Missbrauch in Institutionen verschiedenster Art und Zielsetzung. Betroffen sind konfessionelle und öffentliche Heime – zu letzteren zählen etwa die Hohe Warte und der Wilheminenberg in Wien (vgl. Sieder & Smioski, 2012; Helige et al., 2013) – wie auch katholische und evangelische. Unter den religiösen Trägern finden sich weibliche und männliche Orden und Kongregationen, solche mit sehr alter, kontemplativer Tradition (Benediktiner) wie auch Gründungen des 19. Jahrhunderts mit einer explizit sozial-karitativen Ausrichtung. Das Phänomen des Heimmissbrauchs ist somit weder ein spezifisch kirchliches, noch ein spezifisch katholisches Problem und im Hinblick auf geistliche Gemeinschaften als Träger ist es unabhängig von Geschlecht, Alter und Charisma der jeweiligen Institution. Es gibt jedoch Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und sozialer Herkunft der betroffenen Kinder, da in hohem Maß Heime für Waisen, für »verwahrloste« Kinder und für Kinder mit Behinderung betroffen waren. Eine bestimmte soziale Herkunft disponierte offensichtlich für Missbrauch im Sinn besonderer Vulnerabilität. Missbrauch begegnet aber auch in Institutionen mit einem elitären Anspruch wie dem Stiftsinternat in Kremsmünster oder dem von Jesuiten geleiteten Aloysius-Kolleg in Bonn, wo sich Kinder aus gutbürgerlichen Familien fanden. Wie die Missbrauchsfälle in den Einrichtungen der Sisters of Mercy und der Christian Brothers in Irland belegen, spielt auch die in Österreich und Deutschland oft anzutreffende Nähe einzelner Täter/innen zum Nationalsozialismus keine entscheidende Rolle, auch wenn im Einzelfall eine deutliche Nähe von Täter/innen zu nationalsozialistischem Gedankengut sichtbar wird (Sieder & Smioski, 2012: 530) und ein betroffenes Opfer von »letzten Zuckungen des Naziregimes« spricht, »die

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in diesen Institutionen unter Begrifflichkeiten, wie Disziplin, Sitte und Gehorsam und so weiter pervertiert wurden« (Schäfer-Walkmann et al., 2011: 136). Systematisch können die inzwischen bekannten Faktoren, die zu Missbrauch beitrugen, den Kindern, den Erziehern/Erzieherinnen und/oder den Institutionen bzw. dem institutionellen Kontext zugeordnet werden. Auf Seiten der Kinder waren mangelnde soziale Stützung durch die Herkunftsfamilie, massive Abwertung und Ausgrenzung aufgrund ihres Status z.B. als uneheliche oder allgemein »verwahrloste« Kinder, Stigmatisierung als »ethisch defekt« sowie individuelle Belastungen und Traumata durch frühere Missbrauchserfahrungen disponierende Faktoren. Im Hinblick auf die Erzieher/innen sind mangelnde pädagogische Ausbildung, Arbeitsüberlastung, eigene psychische Belastungen und Gewalterfahrungen, aber auch individuelle Charakterdispositionen sowie eine Nähe zu einem nationalsozialistischen Erziehungsideal zu nennen. Auf institutioneller Ebene finden sich überfordernde Arbeitsbedingungen wie kein Urlaub, zu große Gruppen, räumliche Enge und kaum Privatsphäre für Schwestern (vgl. Schäfer-Walkmann et al., 2011: 195-200), dazu Leitungsversagen, z.B. in Form eines mangelnden Willens, auf (offenkundige und angedeutete) Missbrauchsvorwürfe zu reagieren, aber auch die Nähe mancher Direktoren und Direktorinnen zu einer »schwarzen Pädagogik« und die darin gründende bewusste Förderung und Ermöglichung einer Gewaltkultur. Alle genannten Faktoren haben eine Rolle gespielt und doch ist keiner von ihnen durchgängig anzutreffen. Als stabilster Faktor ist die Heimsituation im Sinne einer »totalen Institution« nach Erving Goffmann (1973) auszumachen, d.h. die Situation einer massiven Abschottung nach außen, einer fatalen Machtasymmetrie zwischen Kindern und Erziehenden sowie eines rigorosen, an Ordnung und Disziplin orientierten Erziehungsideals. In diesem System gab es physisch aber auch psychisch für das Kind keine Möglichkeit, sich dem Gewaltzugriff zu entziehen und/oder woanders stützende Ressourcen in Anspruch zu nehmen, was die Anfälligkeit für Missbrauch wie auch die Anfälligkeit für nachhaltige Traumatisierung erhöhte. Auf dem Hintergrund dieses einen durchgängigen Faktors trugen die anderen Faktoren in wechselnder Konstellation zur Intensität des Missbrauchs und zu seinen langfristigen Folgen für das Kind bei. Empirisch zeigt sich dies in einer neuen Studie zu den psychischen Folgen von Missbrauch in katholischen Institutionen in Österreich, nach der 69,9 % der Fälle von Gewaltmissbrauch in Heimen bzw. Internaten stattfand, 10,1 % in Schulen, 11,2 % in Pfarreinrichtungen und Kirchen und 2 % in Jugendgruppen (vgl. Lueger-Schuster et al., 2012: 44).

1.5 Schwierigkeiten eines angemessenen Urteils Jede Auseinandersetzung mit dem Thema Heimmissbrauch steht vor Schwierigkeiten, was die Angemessenheit der Einschätzung der damaligen Verhältnisse und die Gerechtigkeit eines Urteils bezüglich moralischen Versagens betrifft. Immer wieder bleibt offen, wie repräsentativ einzelne Fälle für das Gesamtsystem sind. »Die Berichte von Ehemaligen zeigen zwei verschiedene Welten«, stellen die Autoren des Berichts über die Ingenbohler Schwestern diesbezüglich fest (Unabhängige Expertenkommission, 2013: 65; vgl. auch Keupp, H., Straus F., Mosser, P., Gmür, W., Hackenschmied, 2013: 7-16). Mit Sicherheit wurde, stellt derselbe Bericht fest, in vielen Fällen »gute Arbeit geleistet« und »Kinder und Jugendliche [haben] eine

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Lebenschance erhalten […], die sie wahrscheinlich in ihrem häuslichen Milieu nicht gehabt hätten« (Unabhängige Expertenkommission, 2013: 209). Dies entschuldigt in keiner Weise das moralische Unrecht, das an einzelnen Kindern begangen wurde, ist aber wichtig für die Frage, wie weit eine Kongregation insgesamt in ihrem sozial-karitativen Engagement versagt hat. In verschiedenen Heimen herrschten verschiedene Gewalt-Kulturen, auch innerhalb ein und derselben Kongregation, und innerhalb desselben Heims waren nicht alle Kinder in gleichem Maß von Strafexzessen betroffen (vgl. Unabhängige Expertenkommission, 2013: 5; 20). Unter den Schwestern bzw. Erzieherinnen gab es regelmäßig einige, die nicht oder kaum gewalttätig wurden. Für das Kloster Ettal heißt es im Bericht: »Für einen Großteil der Patres war es selbstverständlich, die ihnen anvertrauten Schüler einzuschüchtern und zu unterdrücken. Ein kleinerer Teil der Patres verzichtete auf dieses Vorgehen.« (Keupp et al., 2013: 87; ähnlich Keupp et al., 2017: 79) Der Wiener Heimbericht wiederum kommt zum Ergebnis, dass an dem Klima der Gewalt gewöhnlich »maßgeblich einzelne ErzieherInnen oder Gruppen von Erziehern aktiv und andere passiv beteiligt« (Sieder & Smioski, 2012: 528) waren. Für einzelne Schwestern war es jedoch kaum möglich, das Gesamtsystem des jeweiligen Heimes zu beeinflussen. Was die Folgen des Gewaltmissbrauchs angeht, besteht eine Schwierigkeit darin, dass die Kinder vielfach schon mit teils extremen Gewalterfahrungen in der Familie/Pflegefamilie ins Heim kamen, sodass der Heimaufenthalt als zusätzlicher, nicht alleiniger traumatisierender Faktor angesehen werden muss (vgl. Ralser et al., 2015: 293). Die subjektiven Erinnerungen traumatisierter, ehemaliger Heimkinder blenden natürlich all die Schwierigkeiten aus, mit denen sich die Schwestern bzw. Erzieherinnen in dem Bemühen konfrontiert sahen, unter oft unzumutbaren pädagogischen Bedingungen und mit verhaltensschwierigen Kindern einen regulären Heim- bzw. Tagesablauf zu gewährleisten. So waren im Vorarlberger Heim Jagdberg im Jahr 1961 sechs Planstellen als Erzieher/innen für über 100 Buben vorgesehen. Mit Sicherheit förderte diese personelle Knappheit den Rückfall in einen offen repressiven und autoritären Führungsstil (vgl. Ralser et al., 2015: 319).

2. V err at an den eigenen I de alen Gewaltmissbrauch und sexueller Missbrauch kam wie erwähnt in Heimen aller Art vor, aber in der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Institutionen in konfessioneller Trägerschaft. Beschäftigt man sich mit den Idealen der entsprechenden Gemeinschaften und Kongregationen, wird der hier geschehene Missbrauch von Kindern in eindrücklicher Weise zu einem Verrat am eigenen, gemeinschaftlichen und individuellen Ideal christlicher Liebe. Taucht doch der Begriff der »Liebe« oder der »Barmherzigkeit« schon im Ordensnamen betroffener Kongregationen auf, wie im Fall der »Schwestern unserer Frau von der Liebe des guten Hirten«, der »Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz« oder der »Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul«.

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2.1 Liebe als Ideal Wie aus einer Grabinschrift der Gründerin der Kreuzschwestern, die diese für verstorbene Mitschwestern formulierte, hervorgeht, wollen die Schwestern »der Liebe Christi Stellvertreterin« [kursiv W.S.] sein. »Quellgrund« des eigenen Handelns sei die »barmherzige Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus bis zum Tod am Kreuz« entäußert hat; diese große Liebe Gottes solle im konkreten Tun »erfahrbar« gemacht werden, so in einer aktuellen Formulierung der eigenen Mission. Die Gründerin der Schwestern vom Guten Hirten, Schwester Maria Euphrasia Pelletier (1796-1868) weist diejenigen, die sich ihr anschließen, darauf hin, dass »ein Menschenleben […] mehr wert [ist] als die ganze Welt« und verspricht ihnen, dass die Motivation der Liebe menschliche Grenzen überschreiten lässt: »Tut alles aus Liebe, und ihr werdet staunen, wozu ihr fähig seid.« Die Gemeinschaft sieht, wie andere Gemeinschaften auch, ihre Berufung besonders in der Sorge um Arme, um Verlorene und Schwache in der Gesellschaft. Bei den Kreuzschwestern, aber auch bei den Schwestern vom Guten Hirten, verbindet sich das Ideal gelebter Liebe mit einer Spiritualität des Kreuzes, wie dies in dem Spruch von Maria Theresia Scherer (1825-1888), der Gründerin der Kreuzschwestern, deutlich wird: »Ganz dem Gekreuzigten, darum ganz dem Nächsten«. Es soll bewusst gemacht werden, dass die geforderte Liebe zu den Armen und Schwachen fordert, Leid und Kreuz auf sich zu nehmen. Schließlich ist besonders in den weiblichen sozial-karitativen Gemeinschaften des 18. und 19. Jahrhunderts ein hohes Bewusstsein dafür anzutreffen, dass es im eigenen Engagement darum geht, auf bestimmte Nöte der jeweiligen Zeit zu reagieren. Ordensideal und Ordenscharisma sind hier viel stärker zeit- und situationsbezogen als bei kontemplativen Orden. Von Theodosius Florentini (1808-1865), einem Kapuzinerpater, der hinter der Gründung der Ingenbohler Schwestern (Kreuzschwestern) in der Schweiz stand, stammt der oft zitierte Spruch: »Das Bedürfnis der Zeit ist Gottes Wille«. Zusammenfassend geht es also um das Ideal, die barmherzige und heilende Liebe Gottes auch unter Inkaufnahme von Leid und Entbehrung im Hinblick auf die besonderen Bedürfnisse der jeweiligen Zeit konkret zu leben. Während es den Gründerinnen und Gründern dieser Gemeinschaften gelungen ist, dieses Ideal in einer innovativen Gestalt und auf inspirierende Art und Weise zu leben, zeigt das Zeugnis vieler ehemaliger Heimkinder heute für den weiteren Verlauf in erschreckender Weise einen doppelten »Verrat« an den ursprünglichen Idealen. Einerseits ist es in den Jahrzehnten vor und nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Fällen nicht gelungen, dieses Ideal auch nur annähernd zu verwirklichen. Ein hoher Anteil an Heimkindern erlebte rückblickend keine liebevolle und wertschätzende, sondern eine kalte, demütigende, gewalttätige, willkürliche und disziplinierende Atmosphäre. Andererseits finden sich keine oder wenige Hinweise, dass die religiös geführten Institutionen im Vergleich zu den staatlichen Institutionen was Atmosphäre und pädagogische Konzepte betrifft, innovativ gewesen wären. Vielmehr wurden in ihnen jene Strukturen und Dynamiken reproduziert, die in entsprechenden Heimen und Institutionen allgemein herrschten. Die Problematik eines Verrats an den eigenen Idealen hat wie kein anderer Klaus Mertes, der Rektor des von Jesuiten geführten Canisius-Kollegs in Berlin, der die Aufdeckung der Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen in Deutsch-

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land ins Rollen brachte, auf den Punkt gebracht: »Gerade für Jesuiten ist der Missbrauch von Schülern durch Lehrer eine absolute Katastrophe.« (Mertes, 2010). Es gehe hier um eine Erschütterung des eigenen »Existenzgrundes« (Mertes, 2013: 44); was sich zugetragen habe, sei »der schlimmste Verrat an unserer Spiritualität« (Mertes, 2010). Diese Dimension der Missbrauchsfälle zeigt sich aber auch in einem säkularen Kontext. Der Journalist Christian Füller gibt seinem Buch über die Missbrauchsfälle in der Odenwald-Schule in Heppenheim bezeichnender Weise den Titel »Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte« (Füller, 1996: 2011). Der ursprünglich religiös kontextuierte Begriff »Sündenfall« wird auf eine säkulare Ebene transponiert und verweist so umgekehrt auf eine quasi-religiöse Aufladung säkularer Erziehungsideale, die hier verraten wurden.

2.2 Dysfunktionale Ideale Wie konnte es dazu kommen, dass in religiös geführten Institutionen das Ideal der Liebe sich über Jahrzehnte in sein Gegenteil verkehrte und die bewusste Einübung in eine religiös-christliche Lebensform, die dieses Ideal in den Mittelpunkt rückt, die beteiligten Schwestern und Ordensmänner nicht mehr gegen Missbrauch immunisierte? Eine erste Erklärungsmöglichkeit betrifft die Existenz dysfunktionaler Ideale in der eigenen religiösen Lebensform. Gemeint sind Verständnisweisen dieser Lebensform bzw. dieses Lebensideals als Ordensfrau oder Ordensmann, die sich rückblickend als missbrauchsunterstützend erweisen oder die zumindest den Widerstand gegen pädagogische Gewaltexzesse schwächten. Für die von Benediktinern, also von monastischen Gemeinschaften geführten Internate in Ettal und Kremsmünster weisen die Berichte auf die problematische Rolle des Ideals kontemplativer Einsamkeit verbunden mit einem institutionell geförderten Schweigen hin. (Vgl. Keupp et al., 2017: 354, 356; Keupp et al., 2013: 100). »Der Mönch hält seine Zunge vom Reden zurück, verharrt in der Schweigsamkeit und redet nicht, bis er gefragt wird«, lautet in der Regel des Heiligen Benediktus die neunte von insgesamt zwölf Stufen der Demut. An einer anderen Stelle heißt es: »Mag es sich also um noch so gute, heilige und auf bauende Gespräche handeln, vollkommenen Jüngern werde nur selten die Rede erlaubt wegen der Bedeutung der Schweigsamkeit.« (Die Regel des Heiligen Benedikt, 1992: 7,56 [S. 56] und 6,3 [S. 48]). Eine in den Klöstern geübte Kultur des Schweigens war nach Keupp et al. mit schuld an einem hochgradigen Kommunikationsdefizit in den jeweiligen Gemeinschaften und an einem allgemeinen Schweigen über die offenkundige Missbrauchskultur (vgl. Keupp et al., 2013: 100). Es ist tatsächlich nachvollziehbar, dass in der schwierigen Frage, ob und wann man einen Missbrauch oder Missbrauchsverdacht in der Gemeinschaft öffentlich ansprechen soll, einzelne sich spontan auf die genannten Weisungen berufen haben, um ein Schweigen zu legitimieren. Dazu kam, dass in den klösterlichen Gemeinschaften die Beziehung eines jeden Mitglieds zum Abt dominiert, der allein mit einer starken Autorität ausgestattet ist und dem allein die Mönche Rechenschaft schulden. Das damit verbundene Fehlen horizontaler bzw. flacherer Kommunikations-, Verantwortungs- und Autoritätsstrukturen trug ebenfalls zum Persistieren der Missbrauchskultur bei (vgl. Keupp et al., 2013: 100, 109).

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Einen weiteren Punkt stellt das aus heutiger Sicht fehlgeleitete Gehorsamsverständnis in damaligen Gemeinschaften dar. Bis in die Zeit des Konzils hinein wurde Gehorsam in Form einer Verleugnung eigener Wünsche, Überlegungen und Anschauungen als religiös fundiertes Ideal verlangt und geübt (vgl. Schaupp, 2010). Es führte vor allem in Frauengemeinschaften dazu, dass es als ungehörig und als Verstoß gegen die klösterliche Disziplin angesehen wurde, Mitschwestern zu kritisieren, substantielle Kritik am Verhalten oder an Anordnungen von Oberinnen zu üben oder das System allgemein in Frage zu stellen. Paul Rheinbay, Mitglied der auch von Missbrauchsfällen betroffenen Ordensgemeinschaft der Pallottiner, macht darüber hinaus zu Recht eine »Überbetonung des Opfers« im Sinn einer in sich latent gewalttätigen Beherrschung der eigenen körperlichen Bedürfnisse und Leidenschaften, zusammen mit einer tief in der christlichen Tradition sitzenden Leibverachtung als Dispositionen für Gewaltmissbrauch verantwortlich (vgl. Reinbay, 2010). Das christliche Mönchtum ist von Beginn an vom Wunsch getragen, die »Welt« zu verlassen, um an einem besonderen Ort »allein Gott zu gefallen« (soli Deo placere cupiens), wie Gregor der Große dies in seiner Vita Benedicti dem Heiligen Benedikt in den Mund legt. Versucht man dieses Programm nicht nur im negativen Sinn von Weltflucht zu verstehen, könnten Klöster als Andersorte gesehen werden, an denen Menschen versuchen, eine Gegenkultur im Sinn der Jerusalemer Urgemeinde (vgl. Apg 4,32-36) zu leben; ein neues Miteinander im Geist von Geschwisterlichkeit, Gütergemeinschaft und gemeinsamem Gebet. Ein solches Lebensmodell erfordert eine Selbstverpflichtung wie auch eine gewisse Grenze, die Zugehörigkeit/ Nicht-Zugehörigkeit bzw. ein »Drinnen« und ein »Draußen« markiert, wie dies die Kultur des klösterlichen Lebens auch tatsächlich vielfach prägt (vgl. die Form von Klosteranlagen oder das Institut der Klausur). Die im 19. Jahrhundert entstandenen sozial-karitativen Frauenkongregationen waren ursprünglich ungleich offener und in die Gesellschaft hinein verflochtener konzipiert gewesen, wurden später jedoch gezwungen, sich dem klösterlichen Ideal anzunähern. Viele lebten nicht wie ursprünglich konzipiert in kleinen Gemeinschaften inmitten der allgemeinen sozialen Strukturen, sondern in großen, abgegrenzten Klosterkomplexen (vgl. Isenring, 1996: 50-57). Vor diesem Hintergrund gehört es zur Dramatik der Missbrauchsfälle, dass die Geschlossenheit solcher Andersorte, die ursprünglich das Leben eines positiven Gegenkonzeptes zur »Welt« ermöglichen sollten, hier nicht als Chance für eine alternative Kultur der Liebe genutzt wurde, sondern eine negative pädagogische Gewaltkultur stabilisieren konnte. Immer wieder wird aus den verfügbaren Berichten die Bedeutung einer hermetischen Grenze zum Außen für die Missbrauchskultur ersichtlich. Heimkinder durften das Heim nie verlassen außer in der Gruppe und in Begleitung, es gab keinen oder nur reduzierten Kontakt zur Familie, Briefe wurden zensuriert. Die Heimkinder erlebten all dies wohl zu Recht als eine klosterähnliche Atmosphäre, die ihren Bedürfnissen nicht gerecht wurde und die es zuließ, dass sich eine gewalttätige Alltagsnormalität etablierte, der man hilflos ausgeliefert war und die auch von jenen, die nicht so stark betroffen waren, kritiklos hingenommen wurde (vgl. Keupp et al., 2013: 28-29). Beim Typus der Ordensinternate ist als weiterer Faktor ein aus Stolz auf die eigene jahrhundertealte Tradition gespeistes Elitegefühl auszumachen, das gegen Kritik und gegen Reformzumutungen immunisierte. Es verband sich mit einer

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»Selektionspädagogik« (Keupp et al., 2017: 91), die auf körperliche und psychische Abhärtung und auf Durchsetzungsvermögen setzte, welche man durch eine entsprechend »harte« Erziehung gewährleisten wollte. Umgekehrt führte es dazu, dass neue und »weichere« Erziehungskonzepte als zeitgeistig abgetan wurden (vgl. Keupp et al., 2013: 26). »Schwäche wurde nicht als Auftrag für Unterstützung und Zuwendung gesehen, sondern als Aufforderung zum Ausschluss.« (Keupp et al., 2017: 56). In von Schwestern geführten Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen stößt man auf weitere Zerrformen eines religiös-moralischen Vollkommenheitsanspruchs. Sie speisten sich aus rigiden Vorstellungen klösterlicher Disziplin allgemein und sittlicher Keuschheit im Besonderen. Die Kinder hatten hier keine Chance auf eine eigene, mit spontaner Lebendigkeit und Unordnung verbundene kindgemäße Lebenswelt, sie mussten sich vollkommen den in Schwesternkonventen üblichen Standards von Disziplin, Pünktlichkeit und Reinheit anpassen. Auf dem Hintergrund der erwähnten Reinheits- und Keuschheitsvorstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ein zentraler Teil des eigenen Vollkommenheitsideals waren, wurden vor allem Mädchen, die mit einer unehelichen Geburt, mit sexuell ungeordneten Verhältnissen in der Herkunftsfamilie oder gar mit eigenen sexuellen Erfahrungen belastet waren, massiv abgewertet und öffentlich bloßgestellt. Wie in vielen Berichten deutlich wird, hielt man ihnen und allgemeiner allen »sittlich verwahrlosten« Kindern gegenüber härtere Formen der Erziehung für angebracht. Ein betroffenes Heimkind erinnert sich an die Demütigungen aufgrund der eigenen unehelichen Geburt: »Eine Schande war das! Ja, so haben sie meine Mutter angeschaut, so: ›Die Dirne hat einen Bastard auf die Welt gebracht!‹« und »Ich habe das fest büßen müssen.« (Ralser et al., 2015: 292). Allgemein stand immer wieder die Sicherung einer rigiden religiös-moralischen Ordnung einer spontanen Akzeptanz der Kinder und einem unvoreingenommenen Beziehungsauf bau entgegen.

2.3 Falsch verstandene Liebe Natürlich ist der Begriff der Liebe notorisch schwierig und mehrdeutig. In der christlichen Tradition steht nicht der platonische Eros im Zentrum, sondern die Agape. Sie bezeichnet eine vom Erfahrungskontext her in Familienbeziehungen wurzelnde, emotional getragene, uneigennützige Zuwendung zum anderen, eine von »affektiver Zuwendung« getragene »Loyalität« (Guttenberger, 2007: 21). Später definiert Thomas von Aquin (1225-1274): »amare est alicui bonum velle« (Thomas von Aquin, 1962: II–II, 26, 6, ad 3), ungefähr zeitgleich formuliert Johannes Duns Scotus (1266-1308) »amo: volo ut sis«. Die erste Definition bezieht sich auf das (objektiv) »Gute«, das man für den anderen will, die zweite grundlegender auf sein Dasein als Person. Bei beiden steht der voluntative Aspekt (Liebe als Sache des Willens) gegenüber dem emotionalen (Gefühl der Zuneigung) im Vordergrund. Der 2007 verstorbene Moraltheologe Bruno Schüller erläutert auf diesem Hintergrund in seinem Buch Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie den grundlegenden Unterschied zwischen Liebe als Gesinnung und als Tat (vgl. Schüller, 1987: 68-72). »Liebe als Gesinnung«, lat. benevolentia, bedeute die innere Haltung der Bejahung und Anerkennung des/der anderen als Person; bedeute, dass man ihm »herzlich gesinnt« (Röm 12,10) sei. »Liebe

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als Tat«, lat. beneficientia, bezeichne dagegen die Verfolgung und Verwirklichung des Wohls des/der anderen im Tun. Neben diesem Be- und Erwirken des Guten für den anderen kennt Schüller noch »Ausdruckshandlungen«, deren Sinn primär darin liegt, eine Gesinnung der Liebe, Dankbarkeit oder Freude auszudrücken, wie z.B. in der Geste einer Umarmung oder durch ein Geschenk (vgl. Schüller, 1987: 69). Während es bei Liebe als Gesinnung und ihrem Ausdruck um Freiheit und Authentizität geht, muss die Liebe als Tat sich die Maßstäbe des Handels von außen vorgeben lassen – sie ergeben sich aus den – richtig wahrgenommenen – Bedürfnissen und Interessen des Anderen und aus den richtig gewählten Mitteln auf sie zu antworten. Auch Alfons Auer, ein 2005 verstorbener, bekannter Moraltheologe weist auf die Notwendigkeit der Sachbezogenheit der Liebe hin, wenn er vom Sittlichen als dem »JA zur Wirklichkeit« spricht (Auer, 1984: 17). Es gehe beim Sittlichen und damit auch bei der Liebe grundlegend darum, sich »dem Anspruch der Wirklichkeit« (ebd.: 16), andere würden sagen der anderen Person zu öffnen. Verfehlungen gegen die Liebe können daher die innere Gesinnung betreffen, wenn diese z.B. in Gleichgültigkeit oder gar Hass umschlägt, aber auch ein falsches oder ausbleibendes Handeln. Jemand kann das Richtige tun, aber in innerer Gleichgültigkeit oder aus egoistischen Motiven, oder umgekehrt das Falsche, obwohl man eine gute Gesinnung hat. Der Gründer der Barmherzigen Brüder, Johannes von Gott (1495-1550 n.  Ch.), forderte von seinen ersten Gefährten am Beginn des 16. Jahrhunderts immer wieder, sie sollten »Gutes tun und es gut tun« (Charta der Hospitalität, 2000: 12). Die von Schüller analysierte Doppelstruktur der Liebe taucht hier im Kontext der Sorge um Kranke auf. Es genügt nicht, aus einer guten/religiösen Motivation heraus für sie das Gute zu wollen, man muss sich auch um die gute/sachgerechte Umsetzung kümmern. Liebe (als Gesinnung) braucht mit anderen Worten ein gewisses Maß an Professionalität, will sie sich nicht selbst verraten. Was Johannes von Gott für die Pflege von Kranken feststellt, gilt im Prinzip auch für die pädagogische Liebe. Sie muss sich sowohl um eine Kultivierung der inneren Haltung und Gesinnung, wie auch um die Sachgerechtigkeit ihrer Ziele und Mittel kümmern. Im Hinblick auf die Vorkommnisse in von religiösen Gemeinschaften geführten Heimen sollte man nicht vorschnell an einer grundlegenden Gesinnung zweifeln. Niemand ging, auch damals nicht, in eine solche Gemeinschaft, um bewusst Kinder schädigen zu können, auch wenn eine ursprünglich gute Gesinnung später zusammenbrechen und sich sogar in ihr Gegenteil verkehren konnte. Wenn in diesem Abschnitt der Möglichkeit einer falsch verstandenen Liebe nachgegangen wird, geht es um mögliche falsche Vorstellungen vom »Guten« für diese Kinder, um irrige Annahmen, was ihrem Wohl dient. Dafür finden sich viele Anhaltspunkte. Die verbreitete Idee, man könne Kinder mit einer einige Jahre währenden rigorosen Disziplinierung und einer ihnen aufoktroyierten religiösen Praxis bestmöglich für ihr weiteres Leben vorbereiten, hat sich für viele/die meisten der Betroffenen im Nachhinein als Fehler erwiesen. Als Fehler hat sich auch die Angst der Schwestern vor zu großer emotionaler Nähe und körperlich ausgedrückter Beziehungsaufnahme zu den Kindern erwiesen, was den damaligen Idealen des klösterlichen Lebens entsprach. Dramatisch fehlerhaft ist auch die immer wieder anzutreffende Vorstellung, man könnte die Persönlichkeit von Kindern in der Situation des Heimes durch Strafen nachhaltig in positivem Sinn »formen«, das Innere würde nach und nach der äußeren Zurichtung folgen.

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Man stößt hier auf das Problem der »schwarzen Pädagogik«, die auf das Brechen des kindlichen Willens durch Strafe und auf vollkommene und widerspruchslose Anpassung der Kinder an eine äußere Ordnung setzte und die in der damaligen Heim- und Internatserziehung diffus wirksam war. »Der Wille des Kindes muss gebrochen werden, d.h. es muss lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen« heißt es 1865 in der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens (Schmid, 1965: 670). Gerade hier ist es schwer, falsch verstandene Liebe, die noch an einer positiven Entwicklung des Kindes interessiert ist, von Fällen zu unterscheiden, wo Erzieherinnen und Erzieher begannen, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen und Gewalt bewusst und mit Lust zu kultivieren (vgl. Sieder & Smioski, 2012: 526) und wo eine benevolentia den Kindern gegenüber sich nicht mehr sinnvoll annehmen lässt. Gesamtgesellschaftlich war die Notwendigkeit von Strafe, auch körperlicher, allgemein anerkannt, sodass sie nicht als grundsätzlich in Widerspruch zu erzieherischer Liebe stehend verstanden wurde und als Ausdruck einer benevolentia gelten konnte (vgl. Keupp et al., 2013: 36). Versucht man, die damaligen Vorstellungen gerechter Strafen in den Blick zu nehmen, ist z.B. folgender Auszug aus der Hausordnung des Erziehungsheims in Untermarchtal bei Ulm, einer noch heute bestehenden Einrichtung der Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz von Paul, aus den fünfziger Jahren aufschlussreich: »Ohne Strafen kann eine Besserungsanstalt nicht auskommen. Weil die Z. [Zöglinge] meist ungeregeltes je ungezügeltes Sinnenleben haben, dürfen jene Strafen nicht ausgeschlossen bleiben, welche empfindlich auf dieses Sinnesleben wirken. Näherhin sind an Erziehungsstrafen vorgesehen: Warnung, Verweis, Entziehung von Zuspeisen, Absonderung bei der Arbeit, Isolierung in einem Zimmer, Verweis von der Oberin, vom Vorstand, vor den anderen, schliesslich auch körperliche Züchtigung und Arrest. Die beiden letzteren Strafen dürfen nur von der Oberin, vom Vorstand verhängt werden, wobei eine Schwester mit der Ausführung beauftrag wird.« (Schäfer-Walkmann et al., 2011: 102).

Heute würde man nicht mehr unterschreiben, dass eine Besserungsanstalt ohne das damals tolerierte Strafsystem nicht auskommen könne. Auch die Vorstellung, ein »ungezügeltes Sinnenleben« könne nur mit entsprechend empfindlichen Strafen korrigiert werden, erscheint obsolet. Die Reservierung von »körperlicher Züchtigung« und »Arrest« für Oberin bzw. Vorstand muss als Reaktion auf das Problem übermäßiger Züchtigungen und Arreste gedeutet werden. Die genaue Auflistung von erlaubten und von reservierten Strafarten weist insgesamt auf die Existenz eines massiven Problems mit Strafen hin. Selbst ein solch expliziter Strafenkatalog lässt im konkreten Umgang damit noch Vieles offen. In zeitgenössischen katholischen Handbüchern der Moral wird einerseits die allgemeine Notwendigkeit von Strafe betont, andererseits auf das Erfordernis »gerechten« Strafens verwiesen. Die gerechte Strafe musste maßvoll sein, sie musste gerecht im Sinn einer Gleichbehandlung aller Kinder sein und sie durfte Kinder gesundheitlich nicht schädigen. Erzieher und Erzieherinnen sollten trotz Strafens primär die Herzensbildung des Kindes im Auge haben. So heißt es etwas im Lehrbuch der Moraltheologie von Anton Koch aus dem Jahr 1907:

Ist Verlass auf die Liebe? »Die Zurechtweisung (correctio) und, wenn nötig, die Bestrafung der Kinder durch die Eltern erfordert große Klugheit und Mäßigung. Wird sie in Leidenschaft geübt, so erzeugt sie Mutlosigkeit, Erbitterung oder Verachtung und bereitet der gedeihlichen Erziehung häufig große Hindernisse.« (Koch, 1907: 655; ähnlich Schilling, 1928: 599-600)

Gewarnt wird allerdings auch vor zu großer Milde: »Die Scheu der Eltern vor strengerer und empfindlicher Handhabung der Disziplin ist nur scheinbar human, in Wirklichkeit ein Zeichen von Schwäche« (Koch, 1907: 655). Regelmäßig taucht auch der Hinweis auf, dass gute Erziehung zwar gerecht zu sein, aber doch auch auf die individuellen Bedürfnisse von Kindern einzugehen hat: Kinder sollen »mit gleicher Gerechtigkeit, andererseits aber auch wieder nach ihrer verschiedenen Individualität mit besonderer Rücksicht behandelt werden« (Koch, 1907: 656).

2.4 Verlorene Liebe In der faktischen Heimsituation der Vor- und Nachkriegszeit war dieses Erziehungsverständnis offensichtlich Ermöglichungsgrund und Legitimationsrahmen für dramatische Strafeskalationen wie auch für eine vielfach verbreitete rigorose Strafkultur, die den gesamten Heimalltag durchzog. Anlass war meist der Versuch, die Heimdisziplin (Pünktlichkeit, Schweigen, Aufessen u.a.) durchzusetzen. In der Durchsetzung der kollektiven Heimordnung ging man an individuellen kindlichen Bedürfnissen nach Zuwendung, Wertschätzung und Geborgenheit praktisch vollständig vorbei. Kein Wissen gab es dagegen im Hinblick auf die lebenslang traumatisierende Wirkung vieler Strafmaßnahmen wie z.B. Karzer oder brutale Schläge. Es ist offensichtlich, dass die Strafpraxis in Heimen vielfach massiv gegen das für das damalige Strafverständnis zentrale Kriterium des richtigen Maßes verstieß (vgl. dazu Keupp et al., 2017: 60-61), wie auch gegen den auch rechtlich abgesicherten Grundsatz, dass Strafen die körperliche Integrität nicht verletzen dürfen. Der Blick für das rechte Maß wurde unter anderem auch dadurch außer Kraft gesetzt, dass man in »verwahrlosten« und »gefallenen« Kindern die »Sünde« bzw. das »Böse« am Werk sah, das in exorzistischer Manier durch körperliche Strafen »ausgetrieben« werden musste (Unabhängige Expertenkommission, 2013: 71f). Zusammenfassend hat man sich in religiösen Institutionen somit jenseits des Problems einer falsch verstandenen Liebe mehrfach verfehlt: Es gab einen erschreckenden, ungewollten und auch gewollten Verlust des Maßes, in vielen Fällen eine Ungleichbehandlung der Kinder, was das Strafregime anging, aus Rücksichtnahme auf ihre soziale Herkunft (vgl. Wum, 2016: 40, 116-119; Schäfer-Walkmann et al., 2011: 141), und eine Blindheit für körperliche und psychische Schäden, die Kinder aus dieser Erziehung davontrugen. Der notwendige Blick auf die individuellen Bedürfnisse von Kindern wurde durch die kollektivistische Logik der Heimerziehung und die großen Gruppen verunmöglicht bzw. erschwert. In vielen dieser Fälle lässt sich kaum noch an eine aufrechterhaltene innere Gesinnung der Liebe glauben. Als Konsequenz wurde auf Seiten der Kinder meist nichts von Liebe spürbar: »Weil Liebe – das waren ja Nonnen, die haben keine Liebe gegeben. Die haben Strenge gegeben und Schläge« (Schäfer-Walkmann et al., 2011: 140), so die Aussage eines ehemaligen Heimkindes.

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Es gibt auch keine Belege, dass die Erziehungspraxis in den katholischen Einrichtungen ernsthaft kritisch reflektiert wurde und man nach grundlegenden innovativen Ansätzen gesucht hat, im Sinn etwa von reformpädagogischen Ansätzen im katholischen Milieu. Im Gegenteil stellen Keupp et al. in ihrem Bericht dem Stift Kremsmünster die Diagnose eines vollkommenen »Mangels an reflektierter Pädagogik« (Keupp et al., 2017: 52). Mit einiger Sicherheit stand dahinter eine doch beträchtliche Selbstgewissheit als katholische Elite und Selbstgenügsamkeit bezüglich der eigenen, religiös fundierten Erziehungspraxis. Immer wieder stößt man auf die Auffassung, dass das Wichtigste, was man gefährdeten und fehlgeleiteten Kindern mitzugeben habe, die religiöse Bildung sei. All dies verhinderte offensichtlich eine unvoreingenommene Wahrnehmung des Versagens des eigenen Erziehungsstils und Blindheit für die Folgen bei den Kindern sowie eine darauf aufbauende Selbstkritik mit einer offensiven Auseinandersetzung mit pädagogischen Fragen.

3. S chlussrefle xion 3.1 Phänomene Das oben skizzierte Verständnis von Liebe umfasst, blickt man auf die diesem Band zugrunde gelegten »Manifestationsformen der Liebe« (Bildung und Liebe, 2017: 5), einerseits Liebe als Wertschätzung, die sich in Sprache und Tun, also körperlich ausdrückt, andererseits die Aspekte von Fürsorge und Verantwortungsübernahme, denen die Liebe als Tat im Sinn Schüllers zugeordnet wurde. Ansätze pervertierter Liebe finden sich in manchen Fällen von Gewaltmissbrauch. (1) In der Heimsituation der fünfziger bis siebziger Jahre begegnet man einem erschreckenden Versagen in der Vermittlung der Liebe als Gesinnung und Einstellung. Die intendierte Liebe ist, so sie existierte, nicht real, d.h. sichtbar und spürbar bei den Kindern angekommen. Sie fühlten sich vielfach nicht »gemeint«, erlebten einen fehlenden Glauben an sie und die Wiederholung gesellschaftlicher Stereotypen und Abwertungen. Immer wieder gab es jedoch Personen, denen dies doch gelang. (2) Es gab ein defizitäres und falsches Verständnis von dem, was dem Wohl der Kinder dient und sie gut auf das spätere Leben vorbereitet. Heimdisziplin und harte religiös-sittliche Erziehung standen über emotionaler Zuwendung und Zeichen individueller Wertschätzung und unterdrückten das kindliche Bedürfnis nach kreativer Lebendigkeit und geschwisterlichem Austausch untereinander. Formung erfolgte einseitig durch Strafe. Somit wurden die wirklichen Bedürfnisse der Kinder nicht erkannt und die nachhaltigen negativen Folgen des eigenen Erziehungsstils nicht durchschaut. (3) Es wurde bei Strafen auf eine Art und Weise, die nicht mehr einer falsch verstandenen Liebe zugeschrieben werden kann, völlig das Maß verloren, es wurde die Gerechtigkeit verletzt, indem Kinder, die einen stärkeren Rückhalt außerhalb des Heims oder reichere Eltern hatten, weniger unter Strafen zu leiden hatten als andere. Schließlich wurde der sowohl moralisch wie auch rechtlich verankerte Maßstab verletzt, dass durch Strafen das körperliche Wohl nicht verletzt werden dürfe. Man

Ist Verlass auf die Liebe?

stößt hier auf ein Phänomen mangelnder Selbstkontrolle und Selbststeuerung bis hin zu einer bewussten Aufgabe der eigentlich vertretenen Ideale. Die Gemeinschaften erfüllten ihren Ordensauftrag, sich besonders den Armen und Schwachen zu widmen, zwar in dem Sinn, dass sie Heime für »verwahrloste« und »gefährdete« Kinder führten und Schwestern investierten tatsächlich einen großen Teil ihrer Lebenszeit für diese Kinder, aber sie verletzten die Pflicht der Solidarität mit Armen und Schwachen, indem innerhalb der Heime die abwertenden gesellschaftlichen Muster des Umgangs mit diesen Gruppen wiederholt wurden. (4) Schließlich ist ein Verlust der kritischen und innovativen Kraft des Ursprungs zu beobachten. Die konfessionell geführten Heime wurden zum Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Fürsorgesystems (vgl. Sieder & Smioski, 2012), ohne dass dessen Schwachstellen erkannt oder wirksam bekämpft worden wären. Sie waren nicht mehr positive »Andersorte«, sondern reproduzierten zunehmend gesellschaftliche Auffassungen und Praktiken im Umgang mit solchen Kindern. Theologisch gesprochen verloren sie ihre prophetische Kraft. Der Kontrast zu den staatlichen Heimen bestand nicht in besonderer emotionaler Liebe oder in innovativeren pädagogischen Ideen, sondern in einer streng katholisch-religiösen Erziehung.

3.2 Gründe Viele der Gemeinschaften, die sich in der Heimerziehung engagierten, erlebten Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen bemerkenswerten Zustrom an Mitgliedern und eröffneten oder übernahmen ständig neue Institutionen. Sie taten dies meist auf Wunsch und Einladung von Gemeinden, Städten oder Ländern und wurden so, zusammen mit katholischen Vereinen integraler Teil schon bestehender oder weiter aufzubauender Fürsorgestrukturen. Sie erhielten von Seiten der Gesellschaft aufgrund ihrer religiösen Lebensform, die sie mit einem grundsätzlich vorbehaltlosen Einsatz für soziale Anliegen verbanden, entsprechende Anerkennung und Würdigung. So gab es über lange Zeit keine Anreize, sich kritisch mit der eigenen Heimerziehungskultur auseinanderzusetzen und Innovationen zu suchen und durchzusetzen. Es gibt eine frappierende Entsprechung zwischen der damaligen Lebensform im Kloster und Strukturen der Heimerziehung. Ein Leben als Ordensfrau oder Ordensmann verlangte ständig geübte Selbstaufopferung, bedingungslosen Gehorsam und gemeinschaftliche Disziplin. Es gab kaum privaten Freiraum und das asketische Ideal verlangte, menschliche Spontaneität und Lebendigkeit als »weltlich« zu unterdrücken. Der Briefverkehr nach außen war oft der Zensur unterworfen. So genannte Partikularfreundschaften, d.h. besondere Freundschaften zwischen Ordensfrauen bzw. -männern waren, auch aus Angst vor sexuellen Beziehungen, verboten. Die Entfaltung von Religiosität war formalisiert und standardisiert (vgl. Isenring, 1996: 115-119). All das spiegelt sich in den Strukturen der Heimerziehung und in den Erinnerungen ehemaliger Heimkinder. Die Qualität der Ausbildung in den Gemeinschaften war, besonders in den weiblichen Kongregationen, mangelhaft, sowohl was die menschliche und spirituelle Entwicklung, wie auch was die fachliche Qualifikation anging. Konformität und Gehorsam waren wichtiger als die Entwicklung eigenständiger Urteilskraft und Kritikfähigkeit.

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Dazu kam eine schon erwähnte Selbstgewissheit, als Ordensfrau oder Ordensmann der »Welt«, die man »verlassen« hatte, überlegen zu sein. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil galt der Ordensstand innerhalb der Kirche als der »vollkommenere« Stand. Dieses Standesbewusstsein mag dazu beigetragen haben, dass sich in den Heimen ein zunehmend anachronistischer Erziehungsstil halten konnte und man blind dafür war, wie sehr dieser in Wirklichkeit den eigenen Idealen wie auch den realen Bedürfnissen der Kinder widersprach. Es gibt im Übrigen auch eindrückliche Parallelen im Prozess des Umbruchs. In der Kinder- und Jugendfürsorge wurde in den siebziger Jahren die Idee der Großheime fallengelassen, es wurden die Grenzen geöffnet und das klassische Strafregime aufgegeben. Unter dem Eindruck von Entwicklungen im Rahmen der Reformpsychiatrie begann man mit kleinen überschaubaren Wohngruppen unter qualifizierter Betreuung inmitten anderer Wohnungen im Stadtgebiet zu experimentieren (ausführlich Sieder & Smioski, 2012; Ralser et al., 2015). In den Ordensgemeinschaften lösten im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil ebenfalls kleine Gemeinschaften in normalen Wohnungen die bisherigen Großinstitutionen ab. Es kam insgesamt zu einer Umorientierung in Ausbildung und Lebensform, die von Zoe Isenring als »Humanisierung« und »Personalisierung des Ordenslebens« beschrieben wird und die auf menschlich individuelle Reife, authentische Spiritualität und Bildung setzte (Isenring, 1996: 115).

3.3 Über Erfolg und Kosten der Liebe Im Lukasevangelium wird in einer kleinen Erzählung davor gewarnt, einen Turm zu bauen, ohne sich davor hinzusetzen und nachzudenken, ob man überhaupt über die notwendigen Mittel dazu verfügt. Es könne ansonsten sein, dass der Turm halbfertig bleibt und die Leute zu spotten beginnen (Lk 14,28-30). In dem Gleichnis geht es um die Nachfolge Jesu und die ernüchternd wirkende Mahnung, man müsse sich diesen Schritt zuvor gut überlegen, weil es sein könne, dass die »Mittel«, über die man verfügt, dazu nicht reichen. Die Erzählung kann als hermeneutischer Schlüssel für das in diesem Beitrag diskutierte Problem dienen, dass das Ideal, die Liebe Gottes für Arme und Schwache einer Gesellschaft sichtbar zu machen und dabei eigenes Leid und Entbehrung nicht zu scheuen, in vielen Fällen offensichtlich nicht an sein Ziel gelangte, und dies, obwohl es mit Sicherheit die Lebensentscheidung vieler damaliger Ordensfrauen und -männer getragen hat. Was sind aus heutiger Sicht die Mittel, die gefehlt haben? Der Versuch, die intendierte Liebe im Heimkontext zu leben, war kompromittiert einerseits durch das Korsett der beschriebenen Formung im Orden, andererseits durch das Korsett des damaligen Erziehungsverständnisses inklusive der Rolle von Strafe, die – wie sich gezeigt hat – durchaus einander entsprachen. Dann wurde im Versuch, gesellschaftlicher Not zu begegnen, die Schwierigkeit der Herausforderung übersehen, die sich gerade in der Erziehung und Betreuung von Heimkindern ergibt, wenn man diese unter den Anspruch der Liebe stellt. Die Kinder, die betreut wurden, litten unter Trennungsschmerz von ihren Eltern, unter dem unsensiblen, gewaltsamen Zugriff der Fürsorge, waren oft schon traumatisiert, hatten ein negatives Vorverständnis von Heim und Heimerziehung und zeigten negative eingeschliffene Verhaltensweisen; sie waren schwierig und psychisch extrem vulnerabel zugleich.

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Die intendierte Liebe scheiterte aber vielen Berichten zufolge auch an Faktoren, die in Person und Charakter der Erzieherinnen und Erzieher selbst lagen. Es waren immer bestimmte Personen mit einer besonderen Geschichte und einem besonderen Charakter, wo die Gewalttätigkeit sich exzessiv Bahn brach und in manchen Fällen wohl bewusst sadistisch kultiviert wurde. Aus welchen Gründen auch immer wurde dies hingenommen und es wurden keine strukturellen Gegenmaßnahmen gesetzt um persönliches Versagen zu neutralisieren. Unter Voraussetzung der Tatsache, dass Gewaltmissbrauch in allen Heimen stattfand, besteht das eigentliche Versagen darin, dass Bedingungen, Zwänge und Muster dieser Art nicht früher kritisch und innovativ durchbrochen wurden. Da äußere Anreize dazu fehlten, hätte es hier der Liebe als einer empathischen und solidarischen Reaktion im Hinblick auf Angst und Leid der Kinder im Inneren der Institutionen bedurft, um die herrschenden Konzepte und Praktiken wirksam in Frage zu stellen. Dort, wo dies doch geschah, gab es zu wenig Mut, alternative Konzepte aufzubauen und damit das symbiotische System von staatlicher Kinder- und Fürsorge, Jugendgerichtsbarkeit und Heimfürsorge zu durchbrechen. Es kam im Gegenteil oft dazu, dass man sich – in verschiedenen Heimen verschieden – mit je schwächeren Standards einer humanen und die Würde der Kinder respektierenden Erziehung begnügte. Wie in vielen menschlichen Kontexten hat Liebe also auch auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung Bedingungen, die gesehen werden müssen, will diese Liebe als Gesinnung (Vermittlung von Anerkennung und Bejahung) und als Tat (reale Ermöglichung von Lebenschancen) erfolgreich sein. Blickt man auf die hier vorgelegte Analyse zurück, so geht es hier zum einen um äußere Strukturen und Rahmen, nämlich um ein verfügbares, professionelles Wissen um kindliche Bedürfnisse, kindliche Entwicklung und entsprechende Erziehungskonzepte, um definierte und kontrollierte Verhaltensstandards, die subjektive Willkür, Fehleinschätzungen und individuelles Versagen kompensieren, und schließlich um Strukturen, die vor Überforderung schützen. Zum anderen geht es um persönlichkeitsimmanente Faktoren, die gegeben sein müssen, will eine Grundhaltung der Liebe sich auch unter schwierigen Bedingungen bewähren und nicht an sich selbst, d.h. der eigenen Person scheitern. Dazu zählen allgemein eine angemessene Persönlichkeitsentwicklung, konkret etwa die Fähigkeit, Aggressivität und Gewaltimpulse kontrollieren zu können, der Versuchung zu Machtausübung über Kinder widerstehen zu können wie auch die Fähigkeit, narzisstische und idealistische Vorstellungen von Liebe und Hingabe, religiöser oder nicht religiöser Natur, zu durchschauen, die nicht mehr den/die konkrete/n und reale/n Andere/n im Auge haben, sondern diesen zur Projektionsfläche eigener Vorstellungen von Liebe machen. Damit Liebe als individuelles und gemeinschaftliches Ideal nachhaltig erfolgreich gelebt werden kann, braucht es nicht nur das Ideal sondern auch Wissen, Professionalität, Realitätssinn und Kritikfähigkeit.

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Pädagogische Verantwortung zwischen Eros und Ethos Von Missbrauchsfällen, Normalisierungsprozessen und einer genuinen Wahrnehmungssensibilität Evi Agostini

1. V er ant wortung im S pannungsfeld von se xualisiertem E ros und pädagogischem E thos – E ine H inführung »Liebe kennt keine Moral«, heißt es im Volksmund. Aber kennt pädagogische Verantwortung auch kein Ethos? Geht man dieser Frage am Beispiel der Odenwaldschule, dem einstigen reformpädagogischen Vorzeigeprojekt Deutschlands nach, so muss sie auf den ersten Blick mit »Nein« beantwortet werden. In mindestens 132 Fällen wurde Missbrauch an Schülerinnen und Schülern betrieben. Niemand schritt ein, obgleich es im Umfeld der Schule ausreichend Anzeichen für sexuelle Übergriffe gab (vgl. Dehmers, 2011). Gerold Ummo Becker, ehemaliger Schulleiter und über die Schulwelt hinausgehend bekannt für seine fortschrittlichen und aufgeklärten Ideen, verstand es gekonnt, unangenehme Fragen sofort unter Verweis auf den »pädagogischen Eros« zum Schweigen zu bringen. Die pädagogischen Ideale, die er predigte, passten vorzüglich zum damaligen Zeitgeist: Erziehung war wichtiger als Unterricht, Nähe und Beziehung waren die entscheidenden Kriterien für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (vgl. Oelkers, 2011: 73). Erst 2010 fand eine öffentliche Aufarbeitung des Skandals statt, die stark durch Momentaufnahmen vonseiten der Printmedien instrumentalisiert wurde und von internen Konflikten und gegenseitigen Schuldzuweisungen bestimmt war. Doch die Odenwaldschule blieb kein Einzelfall. In Zeiten bedeutsamer Modernisierungen und Demokratisierungen des Bildungs- und Sozialsystems sorgen Missbrauchsvorwürfe in kirchlichen und außerschulischen, aber auch sozialpädagogischen und schulischen Institutionen immer wieder für weitere öffentliche Aufschreie und lassen die Frage nach pädagogischer Verantwortung wiederholt laut werden. Und wieder stellt die Öffentlichkeit dieselben Fragen: Wie kann es passieren, dass minderjährige Schülerinnen und Schüler jahrelang Opfer sexueller Übergriffe werden? Wie lässt sich erklären, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen, aber auch die nicht direkt involvierten pädagogischen Fachkräfte Stillschweigen bewahren? Becker ist im Jahr 2010 verstorben, erst kurz vor seinem Tod bat er seine Opfer um

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Verzeihung. Sein langjähriger Lebensgefährte, der bekannte Pädagoge Hartmut von Hentig, lebt – und er schweigt, obwohl ihm mehrfach eine Mitverantwortung am Missbrauch vorgeworfen wurde. Nach langem Schweigen bittet er die Opfer schließlich, sie mögen dem toten Becker verzeihen – ohne sich jedoch von seinem Freund loszusagen. Ist Verzeihen das Gegengift für mangelnde pädagogische Verantwortung? Kann man »der« Reformpädagogik die Schuld für die allgemeine Verantwortungslosigkeit geben (vgl. z.B. Oelkers, 2011) bzw. den Normalisierungen, mit denen auch die Reformpädagogik operiert (vgl. z.B. Montessori, 1992), in dem Sinne, dass die Kinder lediglich so lange berührt wurden, bis sie es als »normal« empfanden? Welche Form der Thematisierung ist möglich, um solche Normalisierungsprozesse wahrnehmbar zu machen? Welche Nähe-Distanz-Verhältnisse können Lehrpersonen überhaupt verantworten? Oder muss viel eher danach gefragt werden, wie Strukturen von Personen zugerichtet werden, um Missbrauch zu begünstigen, und wie sie dazu führen, dass kritische Fragen nicht gehört, vergessen oder überhaupt nicht gestellt wurden? Diese und weitere Fragen werden im vorliegenden Beitrag aufgeworfen und u.a. unter Rekurs auf Begriff und Subjekt der Verantwortung sowie Felder des verantwortlichen Handelns einer Diskussion zugeführt. Dass dabei insgesamt mehr Fragen als Antworten generiert werden, ist ein Fazit, das im Durchgang durch die Arbeit gezogen werden muss. Indem Verantwortung vor dem Hintergrund dieser Implikationen im Spannungsfeld von Eros und Ethos verortet wird, können neben der übergeordneten Themenstellung unterschiedliche Facetten von pädagogischer Verantwortung in ihrer je spezifischen Bedeutung zum Vorschein kommen: Selbstbzw. Eigenverantwortung, Mitverantwortung, Verantwortungsgefühl, Verantwortungslosigkeit, Verantwortlichmachen, Verantwortungsübernahme und ein (Nicht-)zur-Verantwortung-gezogen-Werden. Dabei geht es nicht nur um die Taten, welche vollzogen wurden, sondern auch um das, was nicht getan wurde, ganz im Sinne von Hannah Arendt (vgl. 1981: 155), die davon ausgeht, dass auch ein Unterlassen Handeln bedeutet oder Bernhard Waldenfels (vgl. 1992: 140), der von einer Verantwortung spricht, der man sich auch dann nicht entziehen kann, wenn man weghört oder wegschaut. Erschwerend kommt hinzu, dass die Folgen einer Handlung in der Zukunft nicht vollständig antizipierbar sind (vgl. Arendt, 1981: 228), denn: »Das ursprünglichste Produkt des Handelns ist nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke, sondern die von ihm [dem Menschen, E. A.] ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen.« (Ebd.: 174)

Menschen setzen mit ihren Handlungen Folgen in Gang, die nicht absehbar sind, sodass der »Alptraum einer unfreiwilligen Verantwortung« (Merleau-Ponty, 1966: 32, zit.n. Meyer-Drawe, 1992: 16) stets mitschwingt und präsent bleibt. Die Gedankengänge werden in fünf Schritten durchlaufen: Zunächst wird der Terminus der Verantwortung umrissen und im Feld der Pädagogik verortet. Darauf folgt ein historischer Abriss zum Entstehungskontext der Landerziehungsheime, wobei deren allgemeine Strukturmerkmale erläutert werden. Am Beispiel der Odenwaldschule werden diese konkretisiert sowie vor dem Hintergrund eines »pädagogischen Eros« diskutiert. Weiterführend wird in der Umdeutung der Be-

Pädagogische Verantwor tung zwischen Eros und Ethos

grifflichkeit der Verantwortung die Perspektive eines genuinen Ethos eingenommen, der mehr und anderes zu sehen und sichtbar zu machen erlaubt, nicht zuletzt die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen. Abschließend wird der Frage nachgegangen, welche Merkmale ein professionelles Lehrer/innenSchüler/innen-Verhältnis aufweist und warum Liebe weder Voraussetzung noch Kennzeichen von Professionalität darstellen kann.

2. V er ant wortung – ein pädagogischer B egriff ? »Weil sich der Handelnde immer unter anderen, ebenfalls handelnden Menschen bewegt, ist er niemals nur ein Täter, sondern immer auch zugleich einer, der erduldet. Handeln und Dulden gehören zusammen, das Dulden ist die Kehrseite des Handelns; die Geschichte, die von einem Handeln in Bewegung gebracht wird, ist immer eine Geschichte der Taten und Leiden derer, die von ihr affiziert werden.« (Arendt, 1981: 182)

Der Begriff der Verantwortung wird aktuell als Grundbegriff ethischen Denkens und Handelns diskutiert und erfährt damit einhergehend seit einiger Zeit sowohl politisch-programmatisch als auch gesamtgesellschaftlich eine neue Konjunktur. Dies gilt für individuelle und kollektive Verantwortung gleichermaßen und ist mit weitreichenden epistemologischen und normativen Grundannahmen verbunden: So hat die Zuschreibung von Verantwortung sowohl etwas mit den gesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen als auch mit dem gesellschaftlichen Status von Individuen, aber auch Kollektiven wie Gruppen oder Institutionen wie Organisationen und Netzwerken zu tun. Verantwortung kann somit als ein Gestaltungs- und Denkprinzip gesellschaftlicher Praxis verstanden werden, in dem sich im Hinblick auf die Konstitution und Weiterentwicklung von Institutionen wie formale Bildungskontexte personale und institutionelle Dimensionen des Handelns verschränken. Innerhalb der Erziehungswissenschaften ist der Begriff erst relativ spät als eine Kategorie pädagogischer Theoriebemühungen bekannt geworden. Vorher kam Verantwortung lediglich als Norm- oder Erwartungsverletzung in einem juridischen oder ausschließlich pädagogisch normativen Kontext in den Blick. Traditionellerweise gehört es deshalb immer noch zur Idee der Verantwortung, dass jemand einsteht für etwas Vergangenes, das sie bzw. er gesagt oder getan hat, indem sie bzw. er sich vor jemandem, d.h. vor einer dritten, »neutralen« Instanz rechtfertigt oder Irrtum und Schuld eingesteht. Nach dieser Idee der Verantwortung wird eine vernünftige Begründung mit subjektiver Zuschreibung verknüpft, d.h. einem Individuum wird Vernunft und in der Folge auch Selbst- bzw. Eigenverantwortung zugeschrieben. In dieser Bedeutung ist die Verantwortung nach wie vor tief verankert in der Grammatik unseres Redens und Handelns (vgl. Waldenfels, 1992: 139). Lange Zeit schien sich keine Veranlassung zu ergeben, der pädagogischen Verantwortung einen Ort einzuräumen, weder als Voraussetzung noch als Strukturmerkmal oder Gütekriterium (vgl. Fischer, 1996: 181-183). Erst ab 1920 beginnt die »Karriere des Verantwortungsbegriffs […] in der Erziehungswissenschaft« (H. E.

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Tenorth, zit.n. Fischer, 1996: 183), wobei pädagogische Verantwortung vorwiegend als Korrelat zwischen »richtiger« Grundeinstellung und Erziehungswirklichkeit gefasst wurde (vgl. Fischer, 1996: 183). Von Anfang an muss Verantwortung in der Pädagogik daher nicht als feststehender, sondern als relationaler Terminus verstanden werden, der bestimmten wandelbaren Norm- und Zielvorstellungen unterworfen ist. Nach einem inflationären und teilweise unreflektierten Gebrauch des Wortes »Verantwortung« in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebt der Begriff auch aktuell wieder einen Aufschwung. Der Verdacht drängt sich auf, dass es heute wieder verstärkt ein Problem gibt, für das die (pädagogische) Verantwortung die Lösung sein soll. Fragen wie »Was können wir verantworten?«, »Wo beginnt, wie weit reicht unsere Verantwortung?« oder auch »Ist nicht auch deshalb so viel von Eigen- oder Selbstverantwortung die Rede, weil Politik und gesellschaftliche Institutionen versagen?«, drängen sich sowohl der pädagogischen Theorie als auch ihrer Praxis auf. Pädagoginnen und Pädagogen übernehmen – trotz dieser grundsätzlichen Fragen – im alltäglichen Handeln Verantwortung und werden für die Folgen »zur Verantwortung gezogen«. Dabei ist ihr Handeln vielfältig verstrickt in unabsehbare zwischenmenschliche Beziehungen und einzigartige Kontexte, für deren Folgen sie selbst nicht aufkommen können (vgl. Meyer-Drawe, 1992: 14). So betont auch Hannah Arendt (1981: 228) in ihrer Handlungstheorie: »Und dieser Unfähigkeit, Getanes ungeschehen zu machen, entspricht eine fast ebenso große Unfähigkeit, seine Folgen vorauszusehen oder seine Motive verlässlich zu ergründen.« Gleichwohl können Pädagoginnen und Pädagogen der Verantwortung und damit einhergehend dem Problem der Verantwortung nicht ausweichen. Käte Meyer-Drawe (vgl. 1992: 14-16) führt die Problematik der Verantwortung auf unterschiedlichen Feldern aus u.a. auf dem Feld der Pädagogik, in der sich ihrer Ansicht nach alltägliche, politische, soziale und philosophische Perspektiven kreuzen. Verantwortung taucht nach ihr im pädagogischen Verhältnis zumindest in zweierlei Hinsicht auf: »Einmal als Grundstruktur des erzieherischen Verhältnisses und das andere Mal als Erziehungsziel« (Meyer-Drawe, 1992: 15). So seien die Erziehenden verantwortlich – oder zumindest mitverantwortlich – für ihre Zöglinge, weil sie Repräsentantinnen und Repräsentanten deren virtueller Existenz sind. In diesem Sinne gewähren sie ihnen einen Vorschuss an Selbst- bzw. Eigenverantwortung, weil sie stellvertretend für die Folgen ihres Tuns (mit-)verantwortlich gemacht werden können. Indem sie jedoch die Antworten vorwegnehmen, deutet sich bereits an, dass Verantwortung niemals unschuldig ist und damit zusammenhängend die Grenzen personaler Verantwortung oft überschritten werden (vgl. ebd.). Verantwortung als Erziehungsziel richte sich hingegen darauf, dass diese Stellvertreterfunktion im Erziehungsprozess an Gewicht verlieren soll. Die Zöglinge sollen in den Stand versetzt werden, Eigenverantwortung zu übernehmen. Indem ihnen Verantwortungsgefühl als die Fähigkeit zugesprochen wird, ihr Handeln in einer ursächlichen Beziehung zu den Konsequenzen ihres Handelns zu begreifen (vgl. ebd.: 15) und autonom Verantwortung vor anderen zu übernehmen, werden sie nun selbst für die Folgen ihres Handelns verantwortlich gemacht (vgl. Waldenfels, 1992: 140). In diesem Zusammenhang macht Meyer-Drawe (vgl. 1992: 15-16) einerseits darauf aufmerksam, dass Verantwortungsgefühl nicht nur als reflexiver Akt gefasst werden dürfe, weil aufgrund der zahlreichen Unwägbarkeiten und Bedingungen des Handelns Personen eigentlich nicht Verantwortung übernehmen könnten. Zudem werde das Handeln wirkungsvoll bestimmt durch Dimensionen,

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die nicht im Handeln aufgehen, sodass Appelle an die Vernunft nicht unbedingt zu verantwortungsvollem Handeln führen. Andererseits warnt sie davor, mit dem Schlagwort der Eigenverantwortung soziale Verhältnisse zu vereinfachen und gesellschaftliche Institutionen damit zu entlasten. Umgekehrt könne wiederum der radikale Verzicht auf den Gesichtspunkt der Verantwortung Entmündigung begünstigen und undurchschaubare Herrschaftsverhältnisse protegieren. In Ansätzen zeichnet sich bereits ab, dass die Rede von der Verantwortung keineswegs neutral ist, weshalb diese immer in Bezug auf die sie bestimmenden Kontexte und in Zusammenhang stehenden Umstände geprüft werden muss. Diesem Anliegen soll in einem ersten Schritt unter Rekurs auf die Historie der Landerziehungsheime nachgekommen werden. Diese Diskurse rund um Verantwortung werden weiterführend am Beispiel der Odenwaldschule diskutiert. Jürgen Dehmers (2011) alias Andreas Huckele, in den 1980er Jahren Schüler der Odenwaldschule und während seiner Schülerzeit selbst Betroffener von sexualisierter Gewalt, wirft in seinem Buch »Wie laut soll ich denn noch schreien?« wiederholt die Frage nach Verantwortung auf und kämpft für eine öffentliche Verantwortungsübernahme vonseiten der Schule (vgl. z.B. Dehmers, 2011: 10). Nach Waldenfels (vgl. 1992: 139) tönt der Ruf nach Verantwortung umso lauter, je weniger feststeht, wer sich vor welcher Instanz wofür zu verantworten hat. »Das Anklagen und Einklagen geht ins Leere; wo nichts und niemand ist, da hat die Verantwortung ihr Recht verloren« (Waldenfels, 1992: 139). Wer oder was kann für etwas also wie aus welcher Sicht verantwortlich (oder auch nicht verantwortlich) gemacht werden?

3. L anderziehungsheime – »L abor atorien der Z ukunf t« oder »Z auberberge « eines berühmt - berüchtigten E ros ? »Als erstes, meine ich, ist [im Anschluss an den Nationalsozialismus, E. A.] zu folgern, daß niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, weiterhin behaupten kann: Das Moralische versteht sich von selbst […]. Dieser Anspruch […] hatte nur dann einen Sinn, wenn wir all jene Erscheinungen für selbstverständlich halten, an die wir gewöhnlich denken, wenn wir vom menschlichen Gewissen sprechen.« (Arendt, 2016: 26)

Welche Aufgaben erfüllen formale Bildungsinstitutionen? Oder normativ gefragt: Welche Aufgaben sollten sie erfüllen? Mit Blick auf diese Fragen fallen meist sehr schnell die Schlagworte »Bildung« oder »Erziehung«. Was genau jedoch mit diesen Begrifflichkeiten gemeint ist, fällt häufig aus der Ordnung der Diskurse. Dabei unterliegen Vorstellungen über Bildungs- und Erziehungsziele und damit zusammenhängende Menschenbilder insbesondere geschichtlichen und gesellschaftlichen Einflüssen. So sind die Erziehungsziele und Bildungsideale vom Menschen in der Antike andere als jene im Mittelalter, der Renaissance, der Klassik, der Moderne oder der Gegenwart. Die jeweilige Attraktivität eines bestimmten Bildungsoder Erziehungsgedankens beruht dabei häufig auf Überzeugungen und Meinungen, von denen man glaubt, aktuelle gesellschaftliche Visionen in die Praxis umsetzen zu können.

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Die Diskurse rund um den »Neuen Menschen« und die damit verbundenen Bildungs- und Erziehungsziele hatten insbesondere Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur: Neben dem Nationalsozialismus und dem Sowjetkommunismus auch im Faschismus, wobei die Versuche, einen »Neuen Menschen« zu kreieren, einer Radikalisierung unterworfen waren (vgl. Diehl, 2003: 41-43). So gingen diese Anstrengungen mit der Ausgrenzung und Vernichtung von »alten« und als minderwertig betrachteten Menschen einher (vgl. Haring, 2016). Auch die Pädagogik, beispielsweise die aus diesem Zeitgeist hervorgegangene Reformpädagogik1, griff die Diskurse rund um den »Neuen Menschen« auf und brachte vielfältige sozialdarwinistische und eugenische Ideen in Umlauf (vgl. hierzu insbesondere die Dissertationen von Reiß, 2012 und Grabau, 2013). Seit der Aufklärung wird auf die Mündigkeit der Person, also darauf verwiesen, dass die Menschen den Maßstab der Vernunft und Moral in sich selbst auffinden und deshalb eine autonome, eigenverantwortliche Stellung zu den habitualisierten Verhältnissen wie zu den bestehenden Institutionen einnehmen können. Dies bedeutet aber auch, dass sich ihr ethisch orientiertes Fragen und Antworten nicht nur auf den Binnenraum eingespielter Konventionen beschränkt (vgl. Fauser, 1992: 7). Zugleich wird in pädagogischen Einrichtungen immer wieder stillschweigend darauf vertraut, dass Pädagoginnen und Pädagogen sich einer nicht explizit diskutierten pädagogisch-ethischen Grundauffassung entsprechend verhalten würden (vgl. Thole, 2012: 5-6). Formale Bildungsinstitutionen wie die Schule erfüllen ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag als Tradierung von gesellschaftlichen Normen und Werten über die Sozialisation der heranwachsenden Generation. Dabei spielt der inhaltlich-fachliche Lehrplan nur eine untergeordnete Rolle. Sowohl Erziehung als auch Bildung ereignen sich in dichten Interaktionsprozessen (mit Menschen und Dingen) im Klassenzimmer, aber auch auf informellen Wegen auf dem Schulhof, dem Schulweg, im Ferienlager oder in der Familie und zwar vermittelt über Anerkennungsund Distinktionsprozesse, über die explizite und implizite (zum Beispiel durch Gesten und Kleidung) Artikulation von Wertungen und in unzähligen praktischen Erfahrungen, die u.a. die Ausbildung eines ethisch-moralischen Bewusstseins zur Folge haben. So sorgen Techniken der Disziplinierung wie die Strukturierung von Raum und Zeit, die hierarchisierte Verteilung von Rollen sowie die exklusive Vergabe von Zertifizierungen für die Ausbildung des »Richtigen« oder »Falschen«, des »Normalen« oder »Abnormen«. Als dem offiziellen Lehrplan entzogen, strukturiert dieser »heimliche Lehrplan« (vgl. Bernfeld, 2000) die (Bildungs-)Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler und schreibt sich in deren Leib ein. Unter dem Stichwort der »List der pädagogischen Vernunft« weist der Soziologie Pierre Bourdieu (vgl. 1997: 128) darauf hin, dass in der pädagogischen Praxis in Form einer so genannten stillen Pädagogik durch scheinbar unbedeutende Ermahnungen wie 1 |  Die »Reformpädagogik« lässt sich verstehen als internationale Allianz von historisch langgezogenen Schul- und Erziehungsreformen, sodass eine große Vielfalt und Heterogenität der Konzepte angenommen werden muss, die zusammen kein Gesamt »der« Reformpädagogik ergeben (vgl. Oelkers, 2011: 16). Reformpädagogische Bestrebungen als Teil der »Lebensreformbewegung« richten sich gegen die industrialisierte Moderne (vgl. DäschlerSeiler, 2016: 144). Deren Impulse lassen sich zusammenfassen als die »Einheit von Leben und Lernen versus funktionale Differenzierung« (ebd.: 136, i. Orig. in Anführungszeichen).

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»Halt dich gerade« oder »Nimm das Messer nicht in die linke Hand«, gekoppelt mit Emotionen, Normen und Werte wirkungsvoll als Haltungen verinnerlicht werden. Auch die Dinge des Alltags, ihr zeitgemäßer Gebrauch dienen dazu, den Leib der Schülerinnen und Schüler zu formen, sodass diejenigen Praktiken ausgebildet werden, die der jeweiligen Institution angemessen sind und »natürlich« erscheinen. Diese Sozialisationserfahrungen lagern sich beiläufig und unmerklich im leiblichen Gedächtnis ab, d.h. sie schreiben sich dem Intellekt ein, aber ohne, dass dieser es (be-)merkt. Somit bleiben diese Erfahrungen dem rationalen Bewusstsein großteils entzogen. Jürgen Oelkers (vgl. 2011: 23-129) beschreibt, wie der Lehrplan in privaten Internatsschulen mit reformpädagogischer Ausrichtung wie den Landerziehungsheimen, der offizielle wie auch der inoffizielle, in Form von Lebensgemeinschaften organisiert und auf »Ganzheitlichkeit« hin ausgerichtet wurde. Landerziehungsheime hatten fernab von den als schädlich angesehenen städtischen Einflüssen in einer ländlichen Umgebung vor allem die Erziehung im Blick. In solchen Internatsschulen als Lebensform konnte diese »Ganzheitlichkeit« umfassend gelebt werden. Die Abgeschiedenheit des Ortes, ein genau geregelter Tagesablauf und soziale Nähe in Form einer besonderen Beziehung im Sinne eines pädagogischen Einfühlungsvermögens sollten – im Vergleich zu den staatlich organisierten Schulen – die »bessere« Erziehung hervorbringen (vgl. ebd.: 19-23). Dabei können die Idealisierung der Natur bzw. die Aufforderung, durch eine alternative Lebensführung zu ihr zurückzukehren, als eine Flucht aus der kritisierten modernen Welt gedeutet werden. Die Natur diente im Anschluss an Jean-Jacques Rousseau als Metapher für ein Heilsversprechen im Sinne einer Erlösung von zivilisatorischen Schäden und als Befreiung zu ganzheitlichen Erfahrungen. Befreiung und »Ganzheitlichkeit« im Lichte der Natur bildeten den Schlüssel zur neuen sozialen und individuellen Lebensführung. Dabei wurde gerade im Kontext der Pädagogik nie dargelegt, was man sich genau unter »Ganzheitlichkeit« vorzustellen habe (vgl. Andresen, 2013: 233). Die Landerziehungsheime wurden in Deutschland um 1900 als Alternative zum staatlichen Schulsystem, als »wahre« Kultur- und Gesellschaftskritik inszeniert (vgl. Oelkers, 2011: 14). Das pädagogische Konzept geht zurück auf die Idee der englischen Lebensreformbewegung Ende des 19. Jahrhunderts. »Zurück zur Natur«, könnte man die Idee frei nach Rousseau pointiert beschreiben, gekoppelt mit dem starken Anspruch, ein »pädagogisches Labor« zu sein (vgl. ebd.: 24). Neben einem starken Interesse an Lebensreform sowie der Kritik der viktorianischen Sexualmoral und der Inszenierung der Nacktheit als Natürlichkeit stand die praktische und damit körperliche Betätigung mit dem Ziel eines gesunden Körpers im Vordergrund (vgl. ebd.: 214). Kratzt man am Lack der Rhetorik rund um »Ganzheitlichkeit« und »Natürlichkeit«, so lassen sich unterschiedliche Strukturelemente erkennen, die nicht zufällig an das Panoptikum bzw. Kontrollhaus denken lassen, ein architektonisches Konstruktionsprinzip konzipiert im Zeitalter der Aufklärung vom britischen Sozialreformer Jeremy Bentham (vgl. 2013: 7). Diese Strukturelemente üben eine machtvolle und umfassende Kontrolle über Raum und Zeit aus, sodass Menschen an eine soziale Zeit- und Ortswahrnehmung, bestimmte soziale Ordnungen der Dinge und der zwischenmenschlichen Beziehungen gewöhnt und so »normalisiert« werden, um aus ihnen gesellschaftlich nützliche Menschen zu machen. So waren in den Landerziehungsheimen die Tage und Wochen schematisch durch-

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organisiert, die Arbeits- und Schlafräume wurden penibel überwacht und Rückzugsmöglichkeiten waren nicht vorgesehen (vgl. Oelkers, 2011: 19). Als machtvolle Praktiken der Disziplinierung und Kontrolle werden Schlafen bei weit geöffneten Fenstern, Morgenlauf, gemeinschaftliches kaltes Duschen, überwachte Freizeit, Mehrschlafräume sowie demütigende öffentliche Strafsysteme mit hierarchischen Straftechniken bei moralischem Fehlverhalten beschrieben (vgl. ebd.: 59-65). Ausgehend von Michel Foucaults These der Übersichtlichkeit analysierte auch Jun Yamana (1996) exemplarisch die räumliche Struktur des Landerziehungsheimes Haubinda zur Zeit von Hermann Lietz. Obgleich der Begründer von insgesamt drei Landerziehungsheimen die reformpädagogischen Leitmotive – etwa die Anerkennung des Eigenwerts des Kindes, seine selbstständige Entwicklungsfähigkeit und die hohe Bedeutung seiner Selbsttätigkeit – in seinem theoretischen Konzept betonte, weisen die räumlichen Strukturen von Haubinda in einer Variation des typisch modernen Raumes sowohl die Strukturelemente der Übersichtlichkeit als auch jene der hierarchischen Strukturierung auf (vgl. Yamana, 1996: 408). Glanz verlieh den Landerziehungsheimen mit reformpädagogischer Ausrichtung insbesondere die moralische Abstraktion und die dazu passende »innovative« Sprache, mit der Zustimmung erzeugt werden konnte. Dafür sorgte ein moralischer Code, der das »Gute« und »Zukunftsträchtige« propagierte und Kritik mit dem Gestus eines überlegenen »pädagogischen Ethos« abwehrte. Dabei wurden neben versteckten auch offene Herrschaftstechniken angewandt (vgl. Oelkers, 2011: 16-18, 130). Eine besonders wirkmächtige Herrschaftsform war der »pädagogische Eros«. Das Konzept des »pädagogischen Eros« wurde an Platon und die antiken griechischen Ideale anschließend verbreitet, allerdings in einer radikalen Umdeutung (vgl. Meyer-Drawe, 2013: 130). Die pädagogische Liebe im Sinne Platons bezieht sich auf die symmetrische Machtbeziehung zweier freier Partner, die einen nach bestimmten Gesichtspunkten gestalteten Umgang miteinander pflegten. Die streng reglementierte Knabenliebe dient nach Platon der Übung im maßvollen Umgang mit dem Begehren zugunsten eines tugendhaften Lebens in der Polis (vgl. ebd.). In den Landerziehungsheimen stand der Ausdruck der pädagogischen Liebe für Nähe, Empathie und pädagogischen Idealismus bzw. Zuwendung, für eine persönliche Beziehung zwischen den Erwachsenen und den Kindern, sowie für soziale Nähe in kleinen Gemeinschaften, die »Familien« oder »Kameradschaften« genannt wurden. Als »Familie« wurden die Wohneinheiten bezeichnet, in denen Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler miteinander unter einem Dach wohnten, wobei es bei dieser Form wenig Transparenz nach außen gab. Bei den so genannten Kameradenfamilien übernahmen Oberstufenschülerinnen und -schüler Erziehungsaufgaben gegenüber ihren jüngeren Kameradinnen und Kameraden, indem je eine ältere Schülerin/ein älterer Schüler, zusammen mit zwei jüngeren eine Kleinfamilie bildete, für die sie/er zuständig war. Offiziell wurde der »pädagogische Eros« von manifesten sexuellen Handlungen abgegrenzt. In Anlehnung an das Ideal Platons ging es vor allem um eine empathische Beziehung, die ein älterer Knabe oder Jugendlicher zu seinem Vorteil eingeht, wobei der Erwachsene sich an der ästhetischen Schönheit des jungen Körpers erfreuen kann (vgl. Oelkers, 2011: 130-131, 139). Inoffiziell verbargen sich hinter diesen intentional herbeigeführten freundschaftlichen Beziehungen häufig asymmetrische Herrschaftsformen (vgl. ebd.: 38), die zu emotionaler und intellektueller Abhängigkeit der Jugendlichen sowie sexuellen Übergriffen führten (vgl. ebd.: 253-283). Die Form der »Familien«

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bzw. das an der Odenwaldschule 1931 kurzzeitig eingeführte so genannte Wartesystem, bei dem gewählte Kameradinnen und Kameraden aus der Schüler/innengruppe, die Funktion des Familienvorstandes übernahmen, brachte neben der sozialen Nähe auch den Vorteil der direkten Überwachung und Kontrolle mit sich. Die Sozialform der Kameradschaft wurde in der Odenwaldschule ausgeweitet auf die Idee der (triebfreien) Koedukation. Eine Propagierung der Männlichkeit in Form einer männlichen Kodierung und nationalistische Einflüsse waren jedoch weiterhin die vorherrschende Sprache. Der neue »Typus Mensch« war nach wie vor an einen elitären Griechenkult gebunden und sollte hart, tapfer, soldatisch und entsagend sein (vgl. ebd.: 114). Am Beispiel der Odenwaldschule, einem Landerziehungsheim im Stadtteil Ober-Hambach der hessischen Stadt Heppenheim, werden die damit verbundenen Implikationen weiter ausgeführt.

4. D er F all O denwald . O der : (A mbivalente) Tabuisierungen »Öffentlichkeit ist das einzige Mittel gegen ungewollte Intimität.« (Reemtsma 1997, zit.n. Dehmers, 2011: 230)

Siegfried Däschler-Seiler (vgl. 2016: 135), Erziehungswissenschaftler und ehemaliger Schulleiter der Odenwaldschule kritisiert, dass die Odenwaldschule als Steinbruch dient, aus dem man das herausbrechen kann, was für die eigene Argumentation von Nutzen erscheint. Zugleich komme es in der Diskussion häufig zu einem »gelehrten ›Diskurs aus der Ferne‹« (ebd.: 136), der in einer belehrenden Außensicht moralische Urteile fällt (vgl. ebd.). Seiner Ansicht nach sind »die Konstellationen deutlich banaler strukturiert: Das Misslingen ist geprägt von Inkompetenz und ›Menschlich-Allzumenschlichem‹: Intrigen, Narzissmus und Machtbedürfnissen« (ebd.). Um der Gefahr entgegenzuwirken, die Zusammenhänge unzulässig zu vereinfachen, werden konträre Positionen aufgezeigt. Auf der einen Seite steht eine Sichtweise, in der sowohl die Reformpädagogik als auch die Odenwaldschule als Systeme beschrieben werden, die Missbrauch hervorbringen (vgl. v.a. Oelkers, 2011, 2013; Füller 2011, 2015; aber auch Dehmers, 2011: 203, 220). Die Verantwortung geht dabei von den Personen auf die Institution über, eine aus rechtsstaatlicher Sicht nicht haltbare Position. Auf der anderen Seite werden Standpunkte angeführt, die das Geschehene vorwiegend auf ausgewählte Personen und ihr persönliches Fehlverhalten zurückführen, wobei dies sowohl Einzeltäterinnen und -täter als auch die Opfer selbst sind (vgl. z.B. Dehmers, 2011: 219). Der vorliegende Abschnitt changiert zwischen diesen unterschiedlichen Perspektiven, da weder nur die eine, noch nur die andere Polarität der vielgestaltigen Wirklichkeit Rechnung trägt.2 In der polaren Figur von System- und Eigenverantwortung werden zudem Formen von pädagogischer Verantwortung übersehen, die man Schülerinnen und Schülern gegenüber noch einnehmen kann. Jürgen Oelkers (vgl. 2011: 56) beanstandet, dass die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler in der reformpädagogischen Literatur so gut wie nicht vorkommt, 2 |  An dieser Stelle möchte ich Käte Meyer-Drawe für die kritische Lektüre des Textes und wertvolle Literatur- und Korrekturhinweise danken.

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sodass auch der Blick darauf fehlt, wie sie in dem Internat, das ein »pädagogisches Laboratorium« (Geheeb, vgl. Hermann, 2010: 10) sein sollte, tatsächlich gelebt haben bzw. was sie dort erleben mussten. Die ländliche »Erziehung vom Kinde aus« sei eine Projektion der Erwachsenen, die nichts darüber aussagt, was die Kinder und Jugendlichen erfahren haben, wenn sie einem solchen Beziehungsverhältnis, orientiert am »pädagogischen Eros«, ausgesetzt waren (vgl. Oelkers, 2011: 56). Inzwischen gibt es vielfältige Aussagen und praktische Erfahrungsberichte vonseiten Betroffener, die von ganz unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Erfahrungen an der Odenwaldschule berichten: Für einige war die Schule ein Ort des Aufwachsens, in der sie eine Heimat fanden und ihre Potenziale entfalten konnten, sodass die positiven Erfahrungen überwiegen bzw. sowohl positive als auch negative Erfahrungen gemacht werden konnten (vgl. z.B. Jens, 2011: 7-30). Für andere war die Odenwaldschule vor allem ein Ort schlimmster pädophiler Übergriffe (vgl. z.B. Dehmers, 2011: 28-110). Eröffnet wurde die Odenwaldschule am 14. April 1910. Gerüchte über die Odenwaldschule in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch gab es spätestens nach dem Ersten Weltkrieg. Selbstheroisierungen und Selbstinszenierungen versuchten von Anfang an das Schlimmste abzuwehren, häufig begründet mit dem angeblichen Charisma der Schulleiter, angefangen bei dem Gründer der Odenwaldschule, Paul Geheeb (vgl. Oelkers, 2011: 197) bis hin zu Gerold Ummo Becker, der wiederholt mit Missbrauchsfällen in Zusammenhang gebracht wurde (vgl. Dehmers, 2011: 64). Folgt man dieser ersten Position genauer, die ein »System Odenwaldschule« (Däschler-Seiler, 2016: 139) postuliert, so zeigen sich eine Reihe systemimmanenter Ambivalenzen: Die erste Ambivalenz besteht darin, dass aufgrund der Einheit von Leben und Lernen an der Odenwaldschule jede Schülerin bzw. jeder Schüler eine »Heimfamilie« bzw. ein »Familienoberhaupt« (Lehrkraft oder ältere Schülerin, älterer Schüler) hatte, in deren bzw. dessen Wohnung bzw. zugeordnetem Flur sie bzw. er wohnte. Je nach Größe des Hauses – diese trugen so symbolträchtige Namen wie »Platon-Haus« und »Goethe-Haus« – wohnten darin ein bis vier Familien, welche sich gemeinsam offene Duschräume im Keller und Toiletten auf den Treppenabsätzen teilten. Die Kinder und Jugendlichen bewohnten meist zu zweit ein Zimmer. Ausgenommen waren lediglich die Schülerinnen und Schüler aus der 12. und 13. Klasse. Die Strukturen waren so angeordnet, dass die Kinder und Jugendlichen ihrem Familienoberhaupt in jeglichen Weisungsbelangen vollkommen unterlagen. Diese Nähe zwischen Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften war damit nicht nur räumlicher Natur, sondern brachte auch die emotionalen Grenzen zwischen Lehrkräften und den ihnen Anvertrauten gänzlich zum Verschwimmen (vgl. Dehmers, 2001: 30). Diese Strukturierung wurde anhand von Initiationsritualen verfestigt (vgl. z.B. Oelkers, 2011: 216) und verfolgte seit den Anfängen der Landerziehungsheime das vorherrschende Ziel, nämlich im Sinne des »pädagogischen Eros« eine Erwachsene/einen Erwachsenen, als Freundin/Freund zu haben, zu der/dem die Schülerinnen und Schüler dann eine vertrauensvolle Beziehung auf bauen konnten. Mit dieser erzwungenen Nähe sollten Heimlichkeiten, auch sexueller Natur, vermieden werden. So sollte diese Form der Beziehung ambivalenterweise laut Geheeb den einzigen Schutz vor anrüchigen sexuellen Gewohnheiten der Schülerinnen und Schüler bieten (vgl. ebd.: 192). Dass sich diese Gewohnheiten bei den Lehrpersonen zeigen und diese in der Folge ihre hierarchische Machtposition

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verantwortungslos ausnutzen könnten, wurde keineswegs bedacht. So wurde einerseits bereits in den Anfängen der Landerziehungsheime alles Sexuelle verteufelt, andererseits jedoch gut sichtbar dargestellt (z.B. durch erotische Bilder an den Schulwänden). Erotische Reizhaftigkeit wurde dabei jedoch nicht mit Nacktheit, sondern mit Verhüllung gleichgesetzt, sodass Sauberkeit mit dem Ziel der Tilgung von Schmutz und Nacktheit als Synonym für gesunde Erziehung und seelische Reinheit mit dem Ziel der Austreibung von lustvoller Sexualität praktiziert werden konnten (vgl. ebd.: 207-215). Trotz der Erziehungsmaxime von Nacktheit und Enthaltsamkeit zu sozialpädagogischen Zwecken (vgl. ebd.: 181) wurde aufgrund des Regimes des Freikörperkults auch sexuelle Perversität Teil des Erziehungsprogramms. Offen diskutiert wurde dies jedoch nie (vgl. ebd.: 214), so sollte ja genau der »pädagogische Eros« vor Übergriffen bewahren. Jene Fälle, die auftraten und an die Öffentlichkeit drangen, galten von jeher als persönliches Fehlverhalten einer Einzelperson (vgl. ebd.: 219), beispielsweise des Schulleiters Becker. Becker, der 1969 nach Ober-Hambach kam, die Schule seit 1972 leitete und 1985 verließ, gilt als Haupttäter in den 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsfällen rund um die Odenwaldschule. Er konnte für seine nachgewiesenen schweren Verbrechen an Kindern und Jugendlichen jedoch strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden, da sie zum Zeitpunkt der Ermittlungen gegen ihn bereits verjährt waren. Darüber, woher er kam und was er vor seiner Zeit an der Odenwaldschule machte, ist wenig bekannt. Anscheinend hatte er sich zunächst dem Studium der Theologie gewidmet. Später soll er in Göttingen Pädagogik und Psychologie studiert haben. Am dortigen Seminar traf er auf Hartmut von Hentig, der später sein Lebensgefährte wurde. Becker selbst trat ambivalent in Erscheinung: Einerseits als angesehener Pädagoge und Menschenfreund, andererseits als gefürchteter Narzisst und Gewalttäter. Ambivalent, im Sinne eines eigentümlichen Schwankens zwischen Angst und Bewunderung, Schrecken und Faszination, sind auch die Beschreibungen einiger Betroffener, die mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gingen. So führt Tilman Jens beispielhaft eine Aussage eines Altschülers von Becker an mit den Worten: »Er hat mich wie kein zweiter Lehrer verstanden.« (Jens, 2011: 48, Hervorhebung i. O.) Der Öffentlichkeit erschien Becker keineswegs als Verbrecher. Als ein anderer Betroffener, Jürgen Dehmers (2011), schließlich für sein Leben als Missbrauchsopfer Worte fand, wollte ihm jahrelang niemand Glauben schenken, weder Behörden, Jugend- oder Schulamt, noch die Medien. Wiederholt wurde er selbst von Angehörigen der Odenwaldschule und der Öffentlichkeit für seine erschütternden Erfahrungen verantwortlich gemacht und als Verführer bezichtigt. In seinem Buch spricht er von einem »System Becker« (2011: 203), das Schülerinnen und Schüler entmachtete und einer Tabuisierung unterwarf, sodass es ihnen nicht möglich war, gegen die von ihm nun angeprangerten Täterinnen und Täter bereits früher vorgehen zu können. »Die Machtlosigkeit war zu groß, weil man an Becker nirgends vorbeikam.« (Dehmers, 2011: 207) Ein anderer Betroffener, der in Dehmers Buch ebenso zu Wort kommt, beschreibt dies folgendermaßen: »Dadurch, dass so viel Illegales lief, gab es so viel Erpressbarkeit, nach dem Motto: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Es herrschte ein Zustand absoluter Gesetzlosigkeit, den viele für sich zu nutzen wussten.« (Ebd.: 205-206) Dehmers drängt als Betroffener insbesondere auf Aufklärung und Verantwortungsübernahme durch die Bildungsinstitution (vgl. ebd.: 167). Doch nur Individuen können Verantwortung übernehmen und Systeme entbinden auch

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nicht von der individuellen Verantwortlichkeit, so auch die Einsicht von Hartmut von Hentig. Die institutionelle Organisation der Erziehung mache die persönliche Verantwortung nicht überflüssig, sondern habe diese im Gegenteil zur Voraussetzung (vgl. Hentig von, 1992a: 114; 1992b, 87-89). Peter Fauser (1992: 7) stimmt dem zu und führt weiter aus: »Die Verantwortung findet in den Institutionen keinen verläßlichen Ankerplatz, sondern bleibt im Guten wie im Schlechten auf die Person verwiesen. Die Rationalität von Institutionen bleibt zwiespältig wie die einer Haftpflichtversicherung: Einerseits schützt sie mögliche Opfer. Andererseits fordert sie den Leichtsinn möglicher Täter heraus.«

Haben Täterinnen und Täter in Institutionen, in denen die Selbst- bzw. Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler großgeschrieben wird, ein besonders leichtes Spiel? Welche Formen der Verantwortlichkeit den Lehrkräften sowie der Schulleitung zukommen bzw. welche Folgen eine intentionale erzieherische »Rücknahme« von Verantwortung auf die sozialen Beziehungen der Schülerinnen und Schüler haben kann, wird nicht thematisiert. Auch das Umfeld, das nicht aufmerksam war, vieles überging oder nicht ernst nahm, bleibt in einer solchen Sichtweise unberücksichtigt.

5. V er ant wortung weder nur abgeben noch nur übernehmen : E in P ar adoxon ? »Es scheint das Schicksal der Rede von der Verantwortung zu sein, in Paradoxien zu führen.« (Meyer-Drawe, 1992: 14)

Verantwortung spielt immer dort eine Rolle, wo Menschen zusammenleben und miteinander interagieren (vgl. Meyer-Drawe, 1992: 14). Diesen Beziehungen geht nach Hannah Arendt (vgl. 1981) ein Bezugssystem voraus, sodass Handlungsziele nie planmäßig umgesetzt werden können. »Da Menschen nicht von Ungefähr in die Welt geworfen, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, sodass sowohl die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren. […] Weil dies Bezugsgewebe mit den zahllosen, einander widerstrebenden Absichten und Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen, immer schon da war, bevor das Handeln überhaupt zum Zug kommt, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in Reinheit verwirklichen.« (Arendt, 1981: 174)

Gerade im Bezugsgewebe liegt nach Arendt (1981: 174) jedoch auch die Freiheit, nämlich in der Möglichkeit, den eigenen Faden »in ein bereits vorgewebtes Mus-

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ter« bzw. »in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat« und »das Gewebe so [zu] verändern«. Verantwortung kann, je nach eingenommenem Standpunkt, unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Bereits mit Arendt und Meyer-Drawe wurde deutlich, dass in jedem verantwortlichen Handeln die eigenen personalen Grenzen und Möglichkeiten stets überschritten werden. Zugleich werden dadurch andere Möglichkeiten eröffnet. Mit Waldenfels können diese Möglichkeiten im Anschluss an Emmanuel Lévinas (vgl. z.B. Lévinas, 1992: 274) verstärkt vom Anspruch des Fremden und Anderen her gedacht und ausgelotet werden. Indem das Wort »Antworten« im Begriff »Verantworten« ernst genommen wird und in Zusammenhang mit Ethos gebracht wird, wird abschließend den unterschiedlichen Auffassungen und damit einhergehenden Bedeutungen eine weitere hinzugefügt. Diese deutet sich an, wenn man die Grenzen der traditionellen Idee der Verantwortung beachtet und in der Verantwortung ein Antworten freilegt, »das noch nicht auf die Bahnen der Retrospektion geraten und den Richtlinien eines Dritten unterworfen ist« (Waldenfels, 1992: 140). Diese Form der Verantwortlichkeit ist nicht auf ein vernünftiges Subjekt zentriert und berücksichtigt im Antworten die von den Handlungen »Betroffenen«. Dies wird möglich, indem Verantwortung auf fremde Ansprüche antwortet, ohne im Vornherein einer festgelegten Ordnung unterworfen zu sein. Dabei geht es zunächst noch vor jeglicher Moral oder Ethik um einen Anspruch des Anderen, aber auch um den appellativen Charakter der Dinge, die an die Wahrnehmenden eine Art Aufforderung richten – eine Aufforderung zumindest zu einer Wahrnehmung, die nicht auf Schweigen, Wegschauen, Herunterspielen oder Vertuschen basiert. Dieser fremde Anspruch des Anderen wird bei Waldenfels (1992) zu einem Vorläufer ethischer Ansprüche, resultierend daraus, dass uns der verwundbare Andere berührt, anspricht und angeht, sodass wir in dieser Erfahrung nicht nicht-antworten können, denn schon »das Aufmerken, mit dem der Blick auf etwas oder jemanden antwortet, hat mit Verantwortung zu tun« (ebd.) bzw. »noch die Verweigerung einer Antwort ist eine Form der Erwiderung« (ebd.: 141). Antwort ist dabei »nicht länger die Initiative des einzelnen, der sich auf der Seite des Richtigen weiß, sondern eine fragile Beziehungsstruktur, die die Form einer engagierten Passivität angesichts der Andersheit des Anderen annimmt« (MeyerDrawe, 1992: 16). Ein genuines »pädagogisches Ethos« liegt nach diesen Ausführungen gerade darin, hinzuhören und hinzuschauen um diese Andersheit in all ihrer Verletzlichkeit wahrnehmen zu können (vgl. Agostini, 2018a; 2018b). Für ethische Verantwortlichkeit bzw. Verbindlichkeit ist es nie zu spät: Auch jetzt können die Diskurse rund um die Odenwaldschule, die Betroffenen und ihre Empfindungen wahrgenommen werden und dadurch eine Form der Verantwortung erfahren. Damit sind jedoch immer auch Wagnisse verbunden: Die Herausforderung der Verantwortung besteht vor diesem Hintergrund einerseits in der unfreiwilligen Verantwortungsübernahme, welche sich der Verletzlichkeit des Anderen immer wieder bewusstwerden muss (vgl. Merleau-Ponty, 1966: 33, zit.n. Meyer-Drawe, 1992: 16). Andererseits liegt die Gefahr eines unsensiblen Umgangs bei der freiwilligen Verantwortungsübernahme und zwar in der Möglichkeit einer Gewaltanwendung, die zwar nach außen hin auf die Verantwortung für Andere plädiert, jedoch dabei zugleich nur auf eine Erweiterung eigener Ansprüche abzielt (vgl. ebd.: 128, zit.n. Meyer-Drawe, 1992: 16; Waldenfels, 1992: 140).

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Was bedeuten diese Ausführungen nun im Hinblick auf Bildung und Liebe, dem übergeordneten Thema des Sammelbandes? Bildungserfahrungen, in denen Schülerinnen und Schüler ein Verhältnis zur eigenen Verhältnishaftigkeit ausbilden (vgl. Lipps, 1941: 39), verlangen ein »Antworten«, das zu der oben ausgeführten Form der Verantwortung führt und nur dann wirksam wird, wenn in Schulen lebensbedeutsame und verbindliche Antworten gegeben, aber auch Fragen gestellt werden dürfen. So setzt auch Verantwortung in der Schule die Freiheit voraus und lässt sich nicht auf eine bloß funktionale Disziplinierung begrenzen. Nur dann kann auch in formalen Bildungsinstitutionen der Überschuss freibleibender Möglichkeiten eigenständigen Denkens und Handelns wahrgenommen werden. In der Chance, diese Möglichkeiten wahrzunehmen, um gegebenenfalls anders entscheiden, handeln oder urteilen zu können, liegt die Voraussetzung für Freiheit und zugleich diejenige der Verantwortung (vgl. Fauser, 1992: 8). Diese Bedingungen bleiben paradox und können ohne Risiko nicht angegangen werden. Nimmt man Verantwortung ernst, so sollte noch ein (letztes) Paradoxon bewusst gehalten werden: Man kann sich einerseits der Verantwortung nicht entziehen, aber man kann sie andererseits auch nicht vollends übernehmen. Dies gilt für Pädagoginnen und Pädagogen, die zur Verantwortung von professioneller Seite her verpflichtet sind, in besonderem Maße. Während Verantwortung damit einen Teil der Professionalität von pädagogischen Fachkräften ausmacht, gilt dies nicht für die Liebe. In ihrem Aufsatz Liebe ist ein schönes Wort thematisiert Meyer-Drawe (2013: 129) »die Liebe zum Kind als pädagogisches Problem« und kritisiert in diesem Zusammenhang jene Positionen, die Liebe als grundlegend für erzieherische Verhältnisse erachten. Liebe, verstanden als ein nicht steuerbares Gefühl bzw. Widerfahrnis, ist ihrer Ansicht nach unvereinbar mit jedem Professionalisierungsanspruch. So stellt Meyer-Drawe die Unvereinbarkeit von Professionalisierung und Liebe heraus und entkräftet zugleich die polarisierende Figur von Wissensvermittlung und personaler Neigung, indem sie stattdessen Beziehungsformen wie Respekt, Achtung, Wertschätzung und Anerkennung ins Feld führt (vgl. Meyer-Drawe, 2013: 129). Diesen möchte ich eine weitere hinzufügen, nämlich die sensible Wahrnehmung des Anderen im Rahmen pädagogischer Antinomien, wie z.B. zwischen Freiheit und Zwang oder zwischen Distanz und Nähe.

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Pädagogische Verantwor tung zwischen Eros und Ethos

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Viktimisierungssensibilität als Voraussetzung der Verwirklichung einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen Karin Peter

1. A nliegen und E inordnung »[und – ach –] alle lieben!« (Serm 340,3)

Die von Bischof Augustinus von Hippo (354-430) in einer Auflistung unterschiedlichster Tätigkeiten als letzte beschriebene, umfassendste Herausforderung seiner Leitungsaufgabe scheint auch eine selbstverständliche Anforderung an verantwortliche Personen im Bildungssystem – Lehrerinnen und Lehrer, Direktorinnen und Direktoren, aber auch Therapeutinnen und Therapeuten sowie Expertinnen und Experten – zu sein. Dabei gibt es unterschiedliche Beschreibungen und Unterscheidungen von dem, was unter ›Liebe‹ zu verstehen ist. Stendhal (1971: 27) unterscheidet vier Arten der Liebe – wobei er sich wesentlich auf die partnerschaftliche Liebe konzentriert –, weist aber darauf hin, dass man »sehr wohl acht oder gar zehn [Arten] annehmen« könnte. Als Gemeinsamkeit der verschiedensten Annäherungen an dieses grundlegende Phänomen kann die klassische Definition von Aristoteles aus seiner Rhetorik gelten: »Lieben bedeute: jemandem alles zu wünschen, was man für gut hält, und zwar um jenes willen, nicht um seiner selbst willen, und dies auch nach Kräften in die Tat umsetzen.« (II, 4, 80b) Thomas von Aquin (II–II, 27,2) ergänzt diese grundlegende Beschreibung um den Aspekt der unio affectus, den Wunsch, sich mit dem Gegenüber zu verbünden und zu identifizieren (vgl. Pieper, 1972: 7780). Diesen Gedanken greift Erich Fromm (1979: 37) auf, indem er Liebe als eine menschliche Grunderfahrung, durch die eine »reife« Form von Vereinigung bzw. Zugehörigkeit unter Menschen möglich wird, skizziert. Er sieht Liebe weniger als spezifische Zuwendung zu konkreten Personen, sondern vielmehr als »eine Haltung, […] die das Verhältnis einer Person zur Welt als Ganzes, nicht aber zu einem einzigen ›Objekt‹ der Liebe bestimmt.« (Fromm, 1979: 69) Diese Bestimmung der Liebe kennt zwar unterschiedliche Intensitätsformen persönlicher Beziehungen (vgl. Fromm, 1979: 70-111), geht aber grundlegend von einer »Orientierung« aus, »die sich auf alle und nicht nur auf einen bezieht« (Fromm, 1979: 70). Sie ist des-

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halb als Ausgangspunkt für das Nachdenken über den prinzipiellen Zusammenhang von Liebe und Bildung besonders lohnend. Verschiedene Diskurse im Bildungskontext können unter dieser Rücksicht als Überlegungen zur Konkretisierung der Verwirklichung einer liebenden Haltung bzw. der systemischen Voraussetzungen zur Ermöglichung derselben im pädagogischen Feld identifiziert werden. Besonders deutlich zeigt sich dies im Aufgreifen des Anerkennungsdiskurses1 und der Intensivierung der Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit 2 . In diesem Beitrag wird im selben Anliegen ein konträrer Ansatzpunkt gewählt. Ausgegangen wird von Erfahrungen, die dem Vorherrschen einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen, von der in einer (Lern-)Gruppe jede und jeder einzelne profitiert, diametral entgegenstehen. In den Blick kommen negative Erfahrungen innerhalb einer (Lern-)Gruppe, v.a. Viktimisierungserfahrungen von Ausgrenzung und Ausschluss. Ausgehend von einer Analyse dieser Phänomene werden Überlegungen zu deren Vermeidung – und damit zu Voraussetzung und Basis für eine positive Form der Zugehörigkeit aller Beteiligten in Bildungsinstitutionen – angestellt. Auf diese Weise soll auch die Gefahr möglicher überfordernder Erwartungen der Verwirklichung von Liebe für die im Bildungsbereich Tätigen auf ein realistisches Maß minimiert und die Erwartungen konkretisiert werden. Der auf den ersten Blick vielleicht etwas bescheiden wirkende Ansatz eröffnet gleichzeitig Zugänge für sehr grundlegende Überlegungen. Theoretischer Rahmen für dieses Nachdenken bietet die Mimetische Theorie des Kulturtheoretikers René Girard. Seine Theorie sensibilisiert dafür – auch wenn man ihr nicht in allen Punkten oder ihrem umfassenden Anspruch folgen mag –, dass Ausgrenzungs- und Ausschlussphänomene nicht einfach als falsches Verhalten oder Versagen einzelner Individuen abgetan werden können, sondern konstitutiv für sich etablierende (Lern-)Gruppen sind und stabilisierend wirken. Im Nachdenken über Bildungsprozesse, die sich dem Ideal einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen verpflichtet wissen, ist eine Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen deshalb nicht nur gewinnbringend, sondern Voraussetzung und geradezu unumgänglich. Nach Girard stellt friedliches Zusammenleben in einer Gruppe alles andere als eine Selbstverständlichkeit dar. Der Mensch ist für ihn entscheidend ein begehrendes Wesen, das dabei aber im Unterschied zum Tier nicht (allein) von seinen Instinkten geleitet wird. In Abgrenzung zu der in der Neuzeit stark betonten Autonomie des Einzelnen geht Girard von einer wesentlich mimetischen – durch Nachahmung strukturierten – Prägung des Menschen aus. Durch diese werden nicht nur äußerliche Verhaltensweisen eines Gegenübers, sondern wird auch dessen Begehren imitiert und übernommen. Entscheidend für Entwicklung und Steigerung eines Begehrens ist also nicht das Aufspüren der der einzelnen Person inhärenten Wünsche, sondern der Blick auf ein Modell und dessen Begehren. Diese trianguläre Begehrensstruktur des Menschen, die sich zwischen dem einzelnen Subjekt, dem Modell bzw. Mittler und dem Objekt des Begehrens 1 |  Vgl. Hafeneger, Henkenborg & Scherr, 2002; Stojanov, 2006; Schäffter, 2009; im religionspädagogischen Bereich auch: Jäggle, Krobath, Stockinger & Schelander, 2013; Krobath, Lehner-Hartmann & Polak, 2013. 2 |  Vgl. Brenner, 2010; Stojanov, 2011; Eckert & Gniewosz, 2017; für den religionspädagogischen Bereich auch: Könemann & Mette, 2013a; Grümme, 2014.

Viktimisierungssensibilität in Bildungsinstitutionen

entwickelt, birgt die Gefahr, Rivalität zwischen Subjekt und Modell zu entfachen. Sie hat die Tendenz, in einer »doppelte[n] Vermittlung« (Girard, 1997: 30, im Original kursiv) wechselseitig zu werden: Das Subjekt nimmt sich das Modell zum Vorbild, darauf aufmerksam geworden entdeckt umgekehrt das Modell im Subjekt einen Mittler für eine Steigerung seines eigenen Begehrens. Darüber hinaus werden tendenziell immer mehr Menschen in dieses Vermittlungs- und Rivalitätsgeschehen involviert, was schließlich innerhalb einer Gemeinschaft zu einer mimetischen Krise führt. Das Auflösen dieser Krise erfolgt wiederum auf mimetische Weise: durch die gemeinschaftliche Fokussierung aller Rivalitäts- und Gewalttendenzen auf ein Individuum. Dieses wird relativ willkürlich gewählt, wobei Menschen mit von der Norm abweichenden physischen, kulturellen, sozialen und/ oder religiösen Auffälligkeiten besonders gefährdet sind, zum Opfer zu werden. Die Kanalisierung, die in der Ausgrenzung – bzw. am Beginn der Entstehung aller Kultur in der Tötung – des Opfers aus der Gemeinschaft endet, bewirkt das Ende der Feindseligkeiten und gewährt eine friedliche Neukonstituierung der Gruppe (vgl. Girard, 1987: 119-122, 214f; Girard, 1997: 37f; Girard, 1998: 30-35; Girard, 2002: 31f, 38-42, 54). Das sozialpsychologische Phänomen der Viktimisierung innerhalb einer Gruppe erfüllt in dieser Perspektive einen doppelten Zweck: Es stiftet und stabilisiert soziale Gemeinschaften und fördert die Gemeinschaftsidentität (vgl. Münkler & Fischer, 2000: 355) – allerdings auf Kosten eines/einer Einzelnen, der/ die geopfert wird. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wer im Bildungssystem bzw. in konkreten Bildungsinstitutionen und Lerngruppen auf welche Weise zum Opfer wird und wie dies möglichst vermieden werden kann. Stark gemacht wird ein viktimisierungssensibler und -vermeidender Zugang als Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung einer liebenden Haltung in Bildungsinstitutionen.

2. V ik timisierungen durch das B ildungssystem Bildungsinstitutionen produzieren immer auch Opfer. Mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler sind es Kinder und Jugendliche, die nicht ins System passen, die den Anforderungen nicht oder zu wenig gerecht werden, die entweder früh aus der Institution – freiwillig oder unfreiwillig – ausscheiden oder sie ohne die angestrebte Qualifikation verlassen. Eine eigene, durchaus breite Auseinandersetzung im Kontext des Inklusionsdiskurses wird in diesem Zusammenhang darüber geführt, ob auch jede äußere Differenzierung in einem Schulsystem als negative Segregation und Viktimisierung zu gelten hat.3 Sie kann hier, angesichts der für die Beantwortung erforderlichen Differenzierung allerdings nicht weiter vertieft werden. Trotz der evidenten Bedeutung der einzelnen konkreten Lehrperson in der einzelnen konkreten Klasse (Hattie, 2009: 22: »what teachers do matters«) lassen sich doch auffallende Gemeinsamkeiten, ja Muster hinsichtlich sogenannter ›Bildungsverlierer‹ identifizieren, die offenkundig ›Opfer des Bildungssystems‹ werden. Das 3 |  Siehe die exemplarische Einschätzung eines institutionell differenzierten Schulsystems als »sozialdarwinistische Härte« (Wocken, 2011: 47) bzw. als »unverdünnte Hölle« (Demmer, 2009: 26); zu möglichen blinden Flecken hinsichtlich (neuer) Exklusionen in solch radikalen Einschätzungen und deren Konsequenzen (vgl. Peter, 2018a).

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Ausmaß des Schulerfolgs korreliert mit (1) sozialer Herkunft, mit (2) Migrationserfahrung bzw. -hintergrund, z.T. auch mit (3) Geschlechtszugehörigkeit. Verschiedene Faktoren werden als Indikatoren für die (1) soziale Herkunft herangezogen. Dazu zählen der Bildungshintergrund der Eltern, der sozioökonomische Status der Familie (in Verbindung mit dem beruflichen Status der Eltern), der Besitz von Kulturgütern und Bildungsressourcen der Familie, der Migrationsstatus und die im Elternhaus gesprochenen Sprachen (siehe exemplarisch die Untersuchung im Nationalen Bildungsbericht von Österreich zur Chancengleichheit im Kompetenzerwerb: Oberwimmer et al., 2016: 178-185). In Österreich ist die soziale Herkunft besonders prägend für den Bildungsverlauf. So können beispielsweise 25 % der Leistungsunterschiede der 15-/16-Jährigen im Bereich Lesen auf sie zurückgeführt werden. Damit befindet sich Österreich unter den acht europäischen Ländern, deren Bildungssysteme die Nachteile familiärer Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler in diesem Bereich am schlechtesten auszugleichen vermögen (vgl. Oberwimmer et al., 2016: 178-180). Besonders deutlich wirkt sich die soziale Herkunft an den Schnittstellen verschiedener Schultypen im differenzierten Schulsystem aus. Bereits die Entscheidung über den Besuch des weiteren Schultyps nach der Volksschule ist in Österreich nur zu 30 % durch Leistungsunterschiede zu erklären (vgl. Bruneforth et al., 2016: 120-122). Während in der Volksschule der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Alltagssprache 26 % beträgt, sinkt dieser in der Sekundarstufe II auf 17  % (vgl. Vogtenhuber, Lassnigg, Bruneforth, Edelhofer-Lielfacher & Siegle, 2016: 42-44). Eine OECD-Studie weist für Österreich eine auch im internationalen Vergleich insgesamt äußerst schwache Aufwärtsmobilität im Bildungsbereich nach. Nur 21 % der jungen Erwachsenen zwischen 25 und 34 Jahren, die sich nicht mehr in Ausbildung befinden, erwerben einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern. Besonders eklatant fällt dies im tertiären Sektor aus. Nur 11  % der jungen Menschen gelingt es im Unterschied zu schlechter qualifizierten Eltern, einen Hochschulabschluss zu erwerben (vgl. OECD, 2015: 6f). Ein solcher Zusammenhang ist aber nicht nur in Österreich zu beobachten. Für Deutschland beispielsweise konstatiert eine Studie eine »ausgeprägte Abhängigkeit zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft« (Bertelsmann Stiftung, Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung & Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2014: 17). Durch Aufmerksamkeit in Bezug auf die Alltagssprache teils bereits als Faktor der sozialen Herkunft berücksichtigt, wird ein möglicher (2) Migrationshintergrund in verschiedenen Untersuchungen als eigene Größe betrachtet. Dieser tritt in seiner Auswirkung allerdings hinter den Einfluss elterlicher Bildung zurück (vgl. Oberwimmer et al., 2016: 180). Die Auswirkungen fallen je nach Herkunftsland auch deutlich unterschiedlich aus. In einer Erhebung für Deutschland zeigt sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund aus einzelnen Nationen im Durchschnitt über deutlich niedrigere, aus anderen Ländern über höhere Bildungsabschlüsse als Deutsche ohne Migrationshintergrund verfügen. Eine Differenz hinsichtlich des Bildungsverlaufs je nach Herkunftsland findet sich auch unter Kindern, die sich noch im Bildungssystem befinden (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006: 147f, 151f). Insgesamt zeigt sich für Deutschland u.a. eine Überrepräsentanz von Kindern mit Migrationshintergrund in Sonder-

Viktimisierungssensibilität in Bildungsinstitutionen

schulen sowie ein signifikant geringeres Erreichen der Studienberechtigung von Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit (11  % gegenüber 30  % bei deutschen Schülerinnen und Schülern) (vgl. Karaksagoglu & Neumann, 2011: 62). In Österreich erreicht jedes vierte Kind mit Migrationshintergrund am Ende der Volksschule die Bildungsstandards nicht, weitere 18 % erreichen sie nur teilweise. Am Ende der Sekundarstufe I fällt die Bilanz noch schlechter aus: Nur ein Drittel der betroffenen Schülerinnen und Schüler beherrscht die Bildungsstandards, ein Drittel nicht einmal teilweise (vgl. Oberwimmer et al., 2016: 182). Auch hinsichtlich des (3) Geschlechts lassen sich Disparitäten im Bildungserfolg feststellen. Jungen stellen z.B. in Deutschland den weitaus größeren Anteil von Kindern und Jugendlichen in Sonderschulen für Verhaltensauffälligkeiten (85,5 %), Schulen für Sprachbehinderungen (72,2 %) und Schulen für Lernbehinderungen (62,2 %). Sie wiederholen öfter eine Jahrgangsstufe als Mädchen und verlassen die Schule häufiger ohne Abschluss als diese (vgl. die verschiedene Studien zusammenfassende Bilanz von Motakef, 2007: 109). Die internationalen Studien TIMMS, PIRLS und PISA sowie nationale standardisierte Tests zeigen deutliche Kompetenzunterschiede zwischen den Geschlechtern in verschiedenen Fächern. Im EUSchnitt weisen die Jungen in Mathematik einen praktisch unbedeutenden Vorteil gegenüber den Mädchen auf, im naturwissenschaftlichen Bereich lässt sich bei den 15-/16-Jährigen insgesamt ein nicht signifikanter Vorsprung der Jungen – bei sehr disparaten einzelnen Länderresultaten – festmachen. Die größten Unterschiede finden sich im Kompetenzbereich Lesen, in dem durchgehend die Mädchen bessere Resultate erzielen. In Österreich sind die Geschlechtsunterschiede in Mathematik und den Naturwissenschaften im Unterschied zu anderen EU-Ländern recht deutlich ausgeprägt (vgl. Oberwimmer et al., 2016: 188-190). Europaweit erwerben im tertiären Bildungssektor mittlerweile mehr Frauen als Männer einen Abschluss, bei den Promotionen ist es allerdings umgekehrt. Frauen sind – offensichtlich als Konsequenz der Unterschiede in den schulischen Kompetenzbereichen – nach wie vor in naturwissenschaftlichen und technischen Studienbereichen unterrepräsentiert, in Studienfeldern, die sich mit Bildung und Gesundheit auseinandersetzen, überproportional vertreten (vgl. OECD, 2016: 29, 63-66). Eine zusätzliche Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen, auf die die beschriebenen Faktoren zutreffen, ergibt sich außerdem, gerade in sehr differenzierten Schulsystemen, durch den nur wenig ausgeprägten konstruktiven Umgang mit herausfordernden Normabweichungen (vgl. Radtke, 2004: 156-159), konkret z.B. durch die oft mangelnde Bereitschaft des Lehrpersonals zur Auseinandersetzung mit – in irgendeiner Form – schwierig erscheinenden Kindern. Als eine systeminterne Problembearbeitung lässt sich so eine »Delegation von Problemen bzw. Problemkindern an die nächst niedrigere Schulform« (Radtke, 2004: 159) beobachten. Die kurz angerissenen, für den Schulerfolg ausschlaggebenden Faktoren dynamisieren sich häufig wechselseitig, was die Bedeutung einer intersektionalen Betrachtung hervorstreicht.4 So weist in Österreich jedes dritte Kind mit Migrationshintergrund mehrere soziale Risikofaktoren gleichzeitig auf (vgl. Vogtenhuber, Siegle & Lassnigg, 2016: 30). Auffallend ist z.B. auch, dass Kinder mit Beeinträchti4 |  Für einen kleinen Überblick zur aktuellen Intersektionalitätsforschung, deren Grundüberzeugungen und Auseinandersetzungen siehe Meyer, 2017.

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gungen, die einen Armuts- und Migrationshintergrund aufweisen, in Sonderschulen bzw. auch der Vorschulstufe überproportional vertreten sind – es so zu einer »doppelten Behinderung« (nach Hohmeier, 2003: 24) kommt (vgl. Bruneforth et al., 2016: 98; Hedderich, 2016: 413-415; Vogtenhuber et al., 2016a: 42-44). Auch der frühe Bildungsabbruch lässt sich als Zusammenwirken mehrerer der beschriebenen Risikofaktoren beobachten (vgl. Steiner, Pessl & Bruneforth, 2016: 198, 202, 204f).

3. … und V ersuche , diese zu vermeiden Innerhalb des Schulsystems gelingt es in vielen Ländern offensichtlich wenig – im Kontext der theoretischen Überlegungen von Girard allerdings auch wenig überraschend –, Viktimisierungen von Schülerinnen und Schülern mit spezifischen Voraussetzungen zu vermeiden. Angesichts des komplexen Zusammenwirkens verschiedener Faktoren ist es alles andere als banal, eindeutige Gründe für diese Viktimisierungen bzw. Maßnahmen zur systemischen Viktimisierungsvermeidung im Bildungssystem zu erheben bzw. zu entwickeln (vgl. Karaksagoglu & Neumann, 2011: 61-65). Neben Mahnungen, die vor einer immer stärkeren Ökonomisierung der Bildung warnen (vgl. Bedford-Strohm, 2010: 22), der Opfer dann zunehmend mehr und selbstverständlicher inhärent zu sein drohen, zeigt sich im bildungswissenschaftlichen Diskurs das Anliegen, den Zusammenhang von »Homogenitäts-Sehnsucht und Selektionspraxis« (Tillmann, 2010: 38) in Bildungsinstitutionen zu problematisieren und diesem entgegenzuwirken. Überlegungen auf der (1) Makroebene beinhalten Reflexionen zur Vermeidung von Selektionspraktiken und -strukturen, die sich oft im Vorschlag einer Reduktion der äußeren Differenzierung des Schulsystems konkretisieren. Darüber hinaus ist m.E. auch die Möglichkeit für Differenzierungen innerhalb der einen ›gemeinsamen Schule‹, also größere strukturelle und organisatorische Flexibilität vonnöten, die von den einzelnen Schulen zu gestalten ist. Um auch kleinere Lernkontexte im Rahmen einer gemeinsamen Schule zu gewährleisten, sind die Ermöglichung flexibler Strukturen vor Ort und genügend Personal erforderlich. Entscheidend ist, dass maßgeschneiderte Settings als Teil eines gemeinsamen, inklusiven Schulsystems verstanden werden, die den Aspekt der Differenzierung vom einzelnen Schüler/von der einzelnen Schülerin her stark genug mitdenken und die Realisierung verschiedener organisatorischer Möglichkeiten zulassen – um Viktimisierungen aus systemischen Gegebenheiten und Prozessen heraus möglichst zu vermeiden (vgl. Peter, 2018a). Auf der (2) Mesoebene der einzelnen Schulen sind innerhalb des grundlegenden Rahmens kreative Lösungen zugunsten des einzelnen Schülers/der einzelnen Schülerin zu entwickeln. Aktuell passende Settings – also u.U. auch ein Arbeiten in einer längerfristig bestehenden Kleingruppe – sollten nach Absprache mit den Eltern und allen Lehrpersonen bzw. zusätzlich eingebundenen Expertinnen und Experten (Psychologinnen und Psychologen, Therapeutinnen und Therapeuten etc.) ermöglicht und nach einer festgesetzten Zeit evaluiert werden. Aufgabe der einzelnen Schule ist es auch, Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung zu verwirklichen (vgl. die vorgeschlagenen Schritte zur Reflexion bzw. Vermeidung von Selektionspraktiken und -strukturen zur Verhinderung von frühen

Viktimisierungssensibilität in Bildungsinstitutionen

Bildungsabbrüchen nach Steiner et al., 2016: 212f). In diesen Prozessen konkreter Schulentwicklung, in denen die Schule als Ganzes (Organisationsentwicklung), die Lehrerinnen und Lehrer (Personalentwicklung) und die Unterrichtsgestaltung (Unterrichtsentwicklung) in den Blick genommen werden (vgl. Rolff, 2010), sind Diversität und der Umgang mit ihr als entscheidender Faktor mitzubedenken. Neben Überlegungen zur Entwicklung einer diversitätssensiblen Schulkultur5 findet zunehmend auf der (3) Mikroebene die konkrete Unterrichtsgestaltung Beachtung. Überlegungen zu einer genderspezifischen Unterrichtsgestaltung stellen gerade in Reaktion auf die unterschiedlichen Leistungen von Mädchen und Jungen in den verschiedenen Kompetenzbereichen – nicht nur in Österreich – ein »wichtiges Aufgabenfeld der Bildungspolitik und -forschung sowie der pädagogischen Praxis zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit« (Oberwimmer et al., 2016: 188) dar. In didaktischen Reflexionen steigt das Bewusstsein, dass Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Autorinnen und Autoren von Schulbüchern und didaktischen Unterlagen in erster Linie Kinder aus bildungsnahen Milieus im Blick haben, denen sie selbst entstammen: Mit der Sinus-Jugendstudie gesprochen sind das v.a. das konservativ-bürgerliche, sozialökologische und das adaptiv-pragmatische Milieu (bei den Milieubezeichnungen der Erwachsenen entspricht dies dem konservativ-etablierten, dem traditionellen sowie dem bürgerlichen Milieu) (vgl. Calmbach, Thomas, Borchard & Flaig, 2012: 27-43, 60-67). Das Lernangebot ist meist auf diese Zielgruppe ausgerichtet und ästhetisch sowie sprachlich so gestaltet, dass Kinder und Jugendliche mit anderen Voraussetzungen nicht selbstverständlich Berücksichtigung finden. Bei einer bewussten Zuwendung zu bisher wenig beachteten Milieus gilt es, diese ohne neue Ausgrenzungen zu gestalten, schließlich kann »Milieuanpassung hier […] Milieuabstoßung dort erzeugen.« (Ebertz, 2014: 14). Dabei scheint es durchaus möglich, »durch eine milieusensible Gestaltung des […] Materials überflüssige Barrieren für einzelne Lebenswelten« zu vermeiden. Entscheidend sind »milieusensible Gestaltungselemente, durch die Materialien eine größere Offenheit besitzen« (Gärtner, 2015: 137) bzw. »konzeptionelle Überlegungen für eine milieubezogene ›[…] literacy‹« (Vieregge, 2013: 267). Im religionsdidaktischen Kontext beispielsweise ist das allerdings nach wie vor ein Desiderat. Das Gros der religionsdidaktischen Zugänge und Materialien – gerade ab der Sekundarstufe  I – zielt stark auf reflexive, kognitive und verbale Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern des bildungsnahen Milieus ab. Gängige religionspädagogische Handbücher bieten zwar Modelle der weltanschaulichen Entwicklung und teils auch genderspezifische Überlegungen, milieuspezifische Unterscheidungen fehlen aber durchgängig (exemplarisch dafür vgl. Hilger, Leimgruber & Ziebertz, 2010). Es wird zwar die prinzipielle gesellschaftliche Pluralität in Weltanschauungsfragen thematisiert, auf Auswirkungen für die konkrete Unterrichtsgestaltung aber kaum eingegangen (vgl. Hilger & Ritter, 2006). Der Fokus liegt, wenn milieuspezifische Überlegungen angestellt werden, meist auf einem in sich einigermaßen kohärenten »bildungs- und religionsfernen« Milieu (Büttner & Kraft, 2014). Für diese Gruppe wird durchaus nach einer Adaptierung von offensichtlich stark kognitiv geprägten Methoden gesucht (vgl. Fricke, 2014: 5 |  Siehe dazu die Beiträge mit Aufmerksamkeiten für Gender (vgl. Horstkemper, 2010), Migration (vgl. Hornberg, 2010) und Integration bzw. Inklusion (vgl. Preuss-Lausitz, 2010).

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66-68). Weniger im Blick ist die Heterogenität innerhalb einer Klasse. Angeregt durch die rechtlich verbindliche Vorgabe der Verwirklichung von inklusiver Pädagogik entsteht hier allerdings ein neues Bewusstsein, das konkrete erste Früchte trägt – sowohl in Form von differenzierten Planungskonzepten (exemplarisch vgl. Kahlert, 2014), als auch in Form von didaktischen Unterlagen und Materialien6 –, aber auch klare Desiderate zum Vorschein bringt: Gerade diagnostische Konzepte als Voraussetzung für fruchtbares binnendifferenziertes Arbeiten fehlen (einen Vorschlag dazu bietet: Reis, 2018). Für den Religionsunterricht bekräftigen Könemann & Mette (2013b: 11) die Forderung, die Gerechtigkeitsthematik – bzw. weitergedacht und umgekehrt gewendet Viktimisierungszusammenhänge und deren Vermeidung – zu thematisieren und für diese zu sensibilisieren. Eine Forderung, die m.E. über den Religionsunterricht hinaus im Fächerkanon von Bedeutung ist. Auch die im Kontext von Inklusion großteils präferierten offenen, individualisierten, konstruktivistischen Didaktikformen, die Verwirklichung in entdeckendem, eigenverantwortlichem und selbstorganisiertem Lernen finden, scheinen vor der Gefahr sozialer Benachteiligung wider der grundlegend gegebenen Intuition nicht gefeit zu sein: Die wenigen Forschungen dazu geben Hinweise darauf, dass die entsprechenden Lernformen sozial durchaus sehr selektiv sind (vgl. Rabenstein & Reh, 2013: 241-244; Pongratz, 2009: 150). Es gilt jedenfalls, auch kooperativen Elementen konstitutive Bedeutung einzuräumen. Wocken unterscheidet dabei vier Lernformen mit unterschiedlichem Gehalt an kommunikativen und inhaltsbezogenen Interaktionen, wobei je nach Ausmaß der Verwirklichung dieser Interaktionen das Inklusionspotential steigt (vgl. Wocken, 2016: 124-128). Am ausgeprägtesten ist es bei Lernsituationen, die Feuser mit der »Kooperation am gemeinsamen Gegenstand« (vgl. Feuser, 2003: 17) detailliert beschreibt. Mit dem gemeinsamen Gegenstand ist nicht eine Sache, die zum Lerngegenstand wird, sondern der Prozess gemeint, der sich hinter den beobachtbaren Erscheinungen verbirgt und Lerngegenstände überhaupt hervorzubringen ermöglicht. Für Feuser werden Sachstruktur – die inhaltlichen Dimensionen einer Thematik – und Tätigkeitsstruktur – die Bearbeitungsmöglichkeiten der Thematik durch jede/n einzelnen Lernende/n hinsichtlich des nächsten Entwicklungsschrittes – so aufeinander bezogen, dass sich eine Handlungsstruktur – die möglichen Handlungsformen, anhand derer eine Entwicklung der Schülerinnen und Schüler möglich ist – ergibt. Es kristallisiert sich so ein vielschichtiger, aber logisch zusammenhängender Themenkomplex als gemeinsamer Gegenstand heraus (vgl. Feuser, 20052: 174-178; Feuser, 2011: 93-97). Die Vorbereitung und Begleitung der Lehrpersonen für einen inklusiv-differenzierten Unterricht ist in allen Fachbereichen noch deutlich ausbaufähig. Hinweis darauf gibt eine Befragung von knapp über 1.000 Lehrpersonen an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland. Die Mehrheit der Befragten steht einer inklusiven Unterrichtsgestaltung positiv gegenüber, wenn die erforderlichen personellen und finanziellen Ressourcen dafür bereitgestellt werden, sieht sich dafür aber schlecht

6 |  Am ausgefeiltesten ist dabei wohl die Reihe: Schweiker, 2012; Müller-Friese, 2012; Schweiker, 2014; Müller-Friese, 2017, obwohl es auch hier noch deutliches Entwicklungspotential gibt (siehe Peter, 2018b).

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vorbereitet und begleitet – sowohl im unmittelbaren Schulkontext als auch durch das bestehende Fortbildungsangebot (vgl. Forsa, 2015: 11, 19f, 24). Insgesamt bedarf es verstärkter Bemühungen sowohl der am Unterricht Beteiligten als auch der in der wissenschaftlichen Reflexion Tätigen, um Viktimisierungssensibilität und -vermeidung auf verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen und zu konkretisieren.

4. V ik timisierungen innerhalb von B ildungsinstitutionen Nach einem eher systematischen und von außen angelegten Blick sollen nun die Erfahrungen und Deutungen von Jugendlichen mit Viktimisierungen, besonders mit solchen, die sich innerhalb konkreter Bildungsinstitutionen abspielen, im Zentrum stehen: Es geht um eine (Binnen-)Perspektive auf das Viktimisierungsphänomen aus der Sicht junger Menschen. Auffallend ist, dass die Opferbegrifflichkeit neu Eingang in Liedtexte von angesagten Rappern und den Alltagswortschatz von Jugendlichen gefunden hat 7 – allerdings nicht, um Mitleid zu bekunden, sondern um Ablehnung und Abwertung auszudrücken: »›Opfer‹ sind hier die, mit denen ›man es machen kann‹. […] Dies sind die, die keinen Wert mehr darstellen, keine Aufmerksamkeit mehr verdienen, auf der sozialen Leiter ganz unten stehen und auf die man somit ganz und gar verzichten kann.« (Schlag, 2009: 179) Wie Erwachsene sind Jugendliche eingebettet in eine Welt, in der polemische Auseinandersetzungen auf Kosten von bestimmten Feindbildern geführt, gleichzeitig aber auch Opfernarrative bewusst eingesetzt werden (exemplarisch vgl. Franzen & Schulze Wessel, 2012). Die Präsenz von Opfererfahrungen und die Auseinandersetzung mit ihnen lassen sich an vielfältigen künstlerischen Neu-Inszenierungen des Opfermotivs und modernen Opfermythen ablesen (vgl. Gutmann, 1995). Phänomene von Selbststilisierungen als Opfer lassen sich sowohl individuell als auch kollektiv finden, da der Opferstatus im Kontext westlicher Kultur oft einen Vorteil – zumindest moralischer Qualität – mit sich zu bringen vermag. So lässt sich für unsere Gesellschaft geradezu eine »Opferversessenheit« konstatieren (vgl. Breitenfellner, 2013: 13; vgl. auch Dusini & Edlinger, 2012: v.a. 17-61) – die allerdings in einem eigenartigen Kontrast zu den Beschimpfungen unter Jugendlichen steht. Auf vielfältige Weise sind gerade Jugendliche mit Opfern in Familie, Freundeskreis und Medien konfrontiert oder machen die Erfahrung, selbst zum Opfer zu werden (vgl. Schlag, 2009: 180-181). Das Wissen um alltägliche Opferungen bzw. deren Wahrnehmung kann geradezu als »gemeinsame[r] Erfahrungsbestand« der gegenwärtigen Jugendgeneration (Schlag, 2009: 182) gelten. Mit der Fokussierung auf den Schulkontext wird immer wieder erforscht, inwiefern Jugendliche in diesem Raum Opfererfahrungen machen bzw. zu Tätern und Täterinnen werden. Dies geschieht in erster Linie im Rahmen der elaborierter

7 |  Vgl. Schlag, 2009: 179; diesem Phänomen wird auch in verschiedenen Beiträgen nachgegangen und es spiegelt sich exemplarisch in Überschriften unterschiedlicher Zeitschriften und Zeitungen wider: Vgl. Encke, 2006; Redfield, 2008; Wendel, 2012; Rosbach, 2015.

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werdenden Mobbing- bzw. Bullying-Forschung.8 Seltener wird danach gefragt, wie Jugendliche solche Situationen, in denen einzelne oder kleine Gruppen viktimisiert werden, erfahren und deuten.9 Gerade deshalb sollen Erfahrungen mit und Deutungen von Viktimisierungssituationen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hier ins Zentrum gerückt werden. Konfrontiert mit dem Opferbegriff und den im Deutschen damit verbundenen Bedeutungen von ›Opfer bringen‹ und ›zum Opfer gemacht werden‹, war eine Klasse von Maturantinnen und Maturanten (12. Jahrgangsstufe) ohne vorausgehende inhaltliche Beschäftigung unter der Anleitung einer befreundeten Lehrerin aufgefordert, eine schriftliche Reflexion mit Assoziationen aus der persönlichen Lebenswelt zum Thema zu verfassen. Von den 22 Schülerinnen und Schülern stellten mehr als die Hälfte Überlegungen zu beiden Deutungsaspekten an, jeweils fünf beschränkten sich auf eine der beiden Ausprägungen. Auffallend ist, dass die Ausführungen zu Viktimisierungsphänomenen eher allgemeiner und abstrakter gehalten sind als die Ausführungen zum Phänomen der Hingabe. ›Zum Opfer gemacht werden‹ ist öfters einfach als Ausschluss oder Mobbing beschrieben. Vielleicht, weil von den Jugendlichen diese Ausprägung als selbsterklärend angesehen wird. Vereinzelt sind Hinweise auf Ereignisse im Bekanntenkreis oder eigene Beteiligungen an Ausgrenzungen bzw. Mitleid mit den Opfern zu finden. In einem Aufsatz wird dezidiert eine Inszenierung einer Person als Opfer geschildert. Auch der Schulkontext kommt – was in diesem Kontext von besonderem Interesse ist – vereinzelt zur Sprache. Ausdrücklich bei S.-J.: »Meist sind die Mobbingopfer in der Schule. | Die Mitschüler suchen sich einen Schüler aus | der Klasse aus, der zu vielleicht ein wenig | schwächer ist als die anderen. Die anderen | haben keine Angst, ihn zu mobben, da sie | in einer größeren Gruppe sind und viel stärker | sind. Viele sind auch einfach nur Mitläufer. | Sie finden es lustig mitanzusehen, wie einer | gemobbt wird, aber sie sind selbst zu feige, | mit zu mobben.« (Orthographische Besonderheiten übernommen; Erhebungsunterlagen einsehbar bei der Autorin)

In verschiedensten qualitativ-empirischen Untersuchungen, die sich viktimisierten Jugendlichen widmen, wird deutlich, dass Schule – und dabei in erster Linie die konkrete Schulklasse – von nicht wenigen Jugendlichen als ›Ort der Opferproduktion‹ erlebt wird. Sie erweist sich in einer Studie, in der ›gescheiterte‹ Bildungsund Ausbildungsverläufe von jungen Erwachsenen aus Interviews rekonstruiert werden, »im Prozeß der beruflichen und sozialen Marginalisierung« als eine der »zentralen Institutionen« (Helsper et al., 1991: 237). Gerade in ihr werden Vikti8 |  Einen Überblick über Definition, die unterschiedlichen Rollen, den typischen Verlauf und die Auswirkungen eines solchen Geschehens auf der Basis verschiedener empirischer Untersuchungen bieten alle einschlägigen Publikationen, z.B. Scheithauer, Hayer & Petermann, 2003: 13-123; Smith, 2014: 10-27, 67-139; Teuschel & Heuschen, 2013: 3-238; Wachs et al., 2016: 12-98; auch in der Öffentlichkeit wird das Thema breit behandelt, z.B. Link, 2016. 9 |  Kurze schriftliche Beschreibungen von Schülerinnen und Schülern zu Faktoren, die Mobbing aus ihrer Erfahrung ausmachen, bietet z.B. Gourneau, 2012; Definitionen aus Schüler/ innen- und Lehrer/innenperspektive zu Bullying erheben Naylor, Cowie, Cossin, de Bettencourt & Lemme, 2006; jugendliche Erklärungsversuche für Viktimisierungen in multikulturellen Klassen sichten Strohmeier, Atria & Spiel, 2005: v.a. 214-216.

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misierungen von Jugendlichen manifest. Auch in der Studie von Berwig (2004) wird Schule von allen in biographischen Interviews befragten jungen Menschen mit Außenseitererfahrungen, z.T. sehr ausführlich und zentral, eingebracht. Entscheidend sind, wie sich in den Fallstudien konkret zeigt, sowohl die Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern als auch das Verhältnis der Peers untereinander (vgl. Helsper et al., 1991: 224-236). Die besondere Bedeutung der Gleichaltrigengruppe erweist sich in einer Untersuchung von Fiechter-Alber unter Maturantinnen und Maturanten (12. Jahrgangsstufe), in der er im Rahmen des größeren Themas ›Martyrium‹ Viktimisierungszusammenhängen im Schulkontext nachgeht. Ausgangspunkt bildete für die Schülerinnen und Schüler zweier Klassen am Ende ihrer Schullauf bahn ein von befreiungstheologischen Ansätzen inspirierter Martyriumsbegriff, der für Verfolgung aufgrund struktureller und systemischer Zusammenhänge sensibilisiert. Auf diesem Hintergrund waren die jungen Erwachsenen angehalten, Erfahrungen zu beschreiben, die sie mit ›Martyrium im Schulkontext‹ in Verbindung bringen. Dabei zeigte sich, »dass die beschriebenen Beziehungen sich ausschließlich auf diejenigen in der Peergruppe – also der konkreten Klasse – bezogen, Lehrer(innen) höchstens Nebenrollen einnahmen und die Beschreibungen von Martyriumssituationen in keinem Fall mit fachlichen Leistungsanforderungen bzw. -beurteilungen in Verbindung gebracht wurden« (Fiechter-Alber, 2011: 378).

Als Grund für diese starke Konzentration auf Erfahrungen mit Gleichaltrigen vermutet der Autor neben der auf den Schullalltag fokussierten Fragestellung die im Schulkontext existentielle Bedeutung der Klasse für den/die Einzelne/n , die »viel bedeutsamer und zum Teil viel bedrohlicher erlebt wird als alle anderen Beziehungen in der Schule« (Fiechter-Alber, 2011: 378). Viktimisierungskonstellationen innerhalb der Peergroup werden von den mündlich und schriftlich Befragten der verschiedenen Studien z.T. sehr eindrücklich und klar beschrieben. In der Studie von Berwig, in der Außenseitererfahrungen in biographischen Interviews aus einer – überwiegend, aber nicht ausschließlich rückblickenden – Perspektive erhoben und ausgewertet werden, beschreibt Hanna eine solche Situation: »da hatten wir dann auch irgendwie so nen Opfer, das war ganz schlimm. Die hat die Bettina hat die immer verarscht in der Pause und und ähm entweder man stand dabei und hat nichts gesagt oder man hat halt auch noch was gesagt manchmal und einfach das war einfach ganz schrecklich« (Berwig, 2004: 185).

Zum Teil erfolgt eine explizite Analyse der systemstabilisierenden Funktion eines solchen Opfers. Julian verdeutlicht die Bedeutung eines Ausgegrenzten für eine Gruppe am Beispiel eines Neuankömmlings in seiner Klasse, der zum zweiten Außenseiter neben ihm selbst wurde:

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Karin Peter »blöde Theorie aber ist wirklich so dass halt ähm dann alle sich sozusagen auf ein schwarzes Schaf stürzen und dann sozusagen dadurch dann irgendwie eine bessere Gemeinschaft entsteht« (Berwig, 2004: 114).

Um sich aus seiner eigenen viktimisierten Rolle etwas befreien zu können, beteiligt sich Julian zunächst an der Ausgrenzung: »aber letztendlich hab ich am Anfang ziemlich stark mitgemacht, weil mir des so ziemlich willkommen war und dann später hab ich mich halt zwar dann davon distanziert aber ich hab ihn halt auch nicht in Schutz genommen, und dadurch ist sozusagen – die diese, ähm Feind die Rolle ähm diese dieses Feindbild oder ja besser gesagt, halt was, was irgendwie – worüber man total gelästert hat des ist halt alles so auf ihn abgedrängt worden und dadurch hatt ich so nen bisschen meine Ruhe irgendwie« (Berwig, 2004: 115).

Auch in der Erzählung von Xaver findet sich der Verweis auf ein Mädchen, das »noch anderserser« (Berwig, 2004: 213) als er selbst und dadurch dem kollektiven Ausschluss der Klasse ausgesetzt war. Eine Viktimiseriungskonstellation aus einer aktuellen Betroffenheit heraus, in der die Willkürlichkeit der Opferwahl deutlich wird, schildert Robert: »Ja die sind halt alle so zusammen und so und – ja die die gehen halt alle dann auf einen los immer und das bin ich ja ich glaub ich glaub auch, wenn ich das nicht wär würden die sich irgendeinen aussuchen.« (Berwig, 2004: 143)

Auch einem der Aufsätze der Maturantinnen und Maturanten in der Untersuchung von Fiechter-Alber (2011: 378) ist dies explizit zu entnehmen: »Sie war neu und schon am ersten Schultag des zweiten Schuljahres war uns klar, den Mädchen zumindest: Wir mögen sie nicht. Doch bis heute weiß ich nicht so recht, warum. Vielleicht, weil sie neu war und das vorige Jahr nicht mit uns verbrachte oder weil sei [sic!] die Kleinste war, sich so nett und brav anzog, ganz anders als wir, weil sie nicht die gleichen Interessen hatte, sich nicht die gleichen Dinge kaufte und weil sie immer in der ersten Reihe saß. Jedenfalls wurde sie von uns kleinen Mädchen gehänselt, und sie war das Gesprächsthema Nr. 1, wenn es darum ging, zu lästern und hinter dem Rücken schlecht über sie zu reden. Sie war einfach immer unser Opfer!!!«

Ausgrenzung zeigt sich in den beschriebenen Fällen – in deutlicher Übereinstimmung mit den theoretischen Überlegungen von Girard – eindrücklich als integrativer Bestandteil des sozialen Systems Schulklasse, wobei die Auswahl eines Opfers weitgehend zufällig erfolgt. Aus der bewussten oder unbewussten Angst, selbst zum Opfer zu werden, resultiert wohl auch die Bereitschaft, hart gegenüber denen, die von anderen viktimisiert werden, vorzugehen. Schlag hält fest: »Extreme Aburteilungen und Ausgrenzungen lassen sich als extreme Versuche interpretieren, selbst auf keinen Fall zur Gruppe der Ausgegrenzten gehören zu wollen. Radikal provozierende Opferhandlungen lassen sich als intensivste Form der Suche nach Sinn, Identität und stabiler Gruppenzugehörigkeit deuten – sie sind aber unter Umständen auch einfach

Viktimisierungssensibilität in Bildungsinstitutionen Ausdruck der als massiv empfundenen Wert- und Sinnlosigkeit des eigenen Lebens und anderer Existenzen.« (Schlag, 2009: 184)

Interviews in einem geschützten Rahmen oder anonyme Befragungen scheinen einige der wenigen Gelegenheiten zu sein, an solche Opfererfahrungen von Jugendlichen – sowohl aus der Opfer- als auch aus der Täterperspektive – überhaupt heranzukommen: »Vieles tragen sie [die Jugendlichen] mit sich selbst aus oder vertrauen es allerhöchstens der besten Freundin oder einem anonymen Chat an. Was dann doch an die Öffentlichkeit dringt, stellt insofern nicht selten nur die Spitze des realen Eisberges dar.« (Schlag, 2009: 182)

Mit Schlag kann deshalb konsequenterweise eingemahnt werden, Viktimisierungserfahrungen nicht »einfach als kulturelles, männliches oder Unterschichtenproblem« (Schlag, 2009: 182) abzutun, sondern von einer »erheblichen Erfahrungskompetenz der jungen Generation hinsichtlich von Opfern und Opfererfahrungen« (Schlag, 2009: 186) auszugehen.

5. … und V ersuche , diese zu vermeiden Im Kontext der angesprochenen Mobbing-Forschung gibt es verschiedene Ansätze, dieses Phänomen präventiv zu verhindern bzw. interventiv zu bearbeiten (vgl. bei den bereits genannten Werken: Scheithauer, Hayer & Petermann, 2003: 125-190; Teuschel & Heuschen, 2013: 241-315; Wachs et al., 2016: 99-202). Anstelle der Präsentation einzelner konkreter Konzepte werden hier einige grundlegende Aspekte erörtert, die sich v.a. aus der evidenzbasierten Bedeutung von Opferzusammenhängen als stabilisierendem Gruppenphänomen ergeben. Aus der Analyse verschiedenster empirischer Untersuchungen resümiert Bödefeld (2006: 64-67), dass es sich bei Viktimisierungskonstellationen um ein »variablenunabhängiges Phänomen« (Bödefeld, 2006: 64, im Original kursiv gesetzt), um den Regelfall des Verhaltens von Menschen in institutionalisierten Gruppen wie Schulklassen handelt. Dies bedeutet aber weder eine Bagatellisierung solcher Situationen, noch dass es keine Begrenzungen, Aufhebungen oder Modifikationen derselben geben könnte. Es verschärft allerdings die Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Viktimisierungszusammenhängen und gibt nicht nur die Dringlichkeit, sondern auch inhaltliche Kriterien für die Auswahl von Präventions- und Interventionsmaßnahmen vor. Ausgegangen wird unter dieser Rücksicht im Kontext des Schulsystems nicht vom einzelnen Schüler/der einzelnen Schülerin als Täter/in oder Opfer, sondern vom sozialen System, also der konkreten Schule bzw. der Schulklasse. Dabei bedarf es einer erhöhten Aufmerksamkeit der Lehrpersonen, weil die Tabuisierung von Viktimisierungskonstellationen konstitutiver Bestandteil des Phänomens ist (vgl. Bödefeld, 2006: 241). Bei (1) Interventionen in einem akuten Viktimisierungsfall kommt einem eindeutigen und klaren Opferschutz erste Priorität zu, der auch Sanktionen bei neuerlichen Übergriffen zu umfassen hat. In der Arbeit mit der ganzen Klasse gilt es, die gewalttätigen Erfahrungen und Dynamiken transparent zu machen, um den

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Schülerinnen und Schülern Einsicht in Dynamik und Zusammenhänge des Geschehens zu ermöglichen. Begleitend zur Arbeit mit der Gesamtgruppe ist auch eine individualisierte Auseinandersetzung mit den einzelnen Kindern und Jugendlichen erforderlich, bei der diese aus dem Gruppenkontext und der Rolle, die sie in diesem einnehmen, herausgelöst werden. Die individuellen und in der Gruppe stattfindenden Auseinandersetzungen bilden die Basis für eine Neuorganisation des Gruppenlebens. Im Idealfall werden auch in der Folge bewusst Anlässe geschaffen, die dazu dienen, dass die Schülerinnen und Schüler immer wieder in neuen Konstellationen miteinander arbeiten und neue und ungewohnte Seiten aneinander kennenlernen können. Auch für die Lehrpersonen bietet dies die Möglichkeit für einen andauernden (Kennen-)Lernprozess (vgl. Bödefeld, 2006: 264269). Als spezifisch theologischer Beitrag in diesem Feld kann der Aspekt der Versöhnung gelten, wenn bereits eine Viktimisierungssituation erfolgt ist – und diese zur Bearbeitung ansteht (vgl. Schlögel, 2007: v.a. 29-53). (2) Präventive Maßnahmen sind auf unterschiedlichen Ebenen zu setzen. Bedeutsam ist die Wahrnehmung und Förderung der Schülerinnen und Schüler in ihrer Individualität. Gerade innerhalb vereinheitlichender Tendenzen der Jugendkultur gilt es, Kinder und Jugendliche zum Wahrnehmen gegenseitiger Unterschiede zu ermutigen und Möglichkeit(en) zur Entfaltung und Stärkung von persönlichen Stärken und Talenten zu schaffen (vgl. Bödefeld, 2006: 270). Als Fortsetzung dieser differenzierten Wahrnehmungsschulung ist auch das Einüben anderer Perspektiven von entscheidender Bedeutung. Durch solche wird angezielt, dass Viktimisierungssituationen nicht nur aus der meist vorherrschenden Täter/ innen-, sondern auch aus der Opferperspektive beschrieben werden können; eine Option, die eine Verwirklichung des biblischen Ethos darstellt (vgl. Palaver, 1999: 360-362). Das Einüben einer solchen Perspektive soll es Schülerinnen und Schülern in konkreten Situationen, in die sie involviert sind, ermöglichen, nicht die Sichtweise der Mächtigen, sondern diejenige der verfolgten Opfer zu übernehmen (vgl. Fiechter-Alber, 2011: 381f). In weiterer Folge ist die Einübung und Förderung verschiedener Maßnahmen zur Verantwortungsübernahme und Zivilcourage angestrebt. Viktimisierungsvermeidend in einer konkreten Klasse wirkt auch die Sicherheit durch soziale Umgangsregeln, die sich in der Etablierung von positiven Umgangsformen, ausreichender Rollenklarheit der Lehrpersonen und einem klaren, wertschätzenden Leitungsstil manifestieren. Eine konstruktive Leistungsbeurteilung, deren Grundlage Anerkennung für jede Schülerin und jeden Schüler unabhängig von ihrer/seiner Leistung darstellt und die maßgeblich an individuellen Fortschritten orientiert ist, unterläuft die Gefahr, dass Rivalitäten durch soziale Vergleichsnormen noch verschärft werden. Das Schulen von Frustrationstoleranz kann einen Beitrag dazu leisten, dass Kinder und Jugendliche auch bei Rückschlägen und Niederlagen keine viktimisierenden Bewältigungsformen suchen, sondern einen konstruktiven Umgang damit entwickeln können. Die Erkenntnis, dass Wünsche vielfach das Ergebnis von mimetischen Prozessen sind, mag die Bereitschaft erhöhen, zu Objekten des Begehrens auch Distanz zu gewinnen. Die reflexive Form der Auseinandersetzung mit dem Entstehen von Wünschen und Zielen führt auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen, historischen oder fiktiven bzw. medial vermittelten Lebensentwürfen, Biographien und Persönlichkeiten (zu

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prinzipiellen Überlegungen des Lernens an Modellen, Vorbildern und Leitfiguren siehe Mendl, 2015). Gestützt werden können diese Bemühungen durch ein von der Schulgemeinschaft insgesamt getragenes Schulprofil, das ein verbindendes positives Menschenbild, gemeinsame Vorstellungen über einen wertschätzenden Umgang sowie ein klares Konzept von Erziehungs- und Bildungszielen umfasst (vgl. Bödefeld, 2006: 271-278).

6. V ik timisierungssensibilität, V ermeidung und B e arbeitung von V ik timisierungsmechanismen Liebe im Bildungssystem in Form von Viktimisierungssensibilität zu verstehen, bedeutet eine differenzierte Perspektive und erhöhte Sensibilität dafür einzubringen, wer in Bildungsinstitutionen warum und weshalb zum Opfer wird. Beobachtung, Analyse und die klare Benennung von viktimisierenden Zusammenhängen sollen Aufmerksamkeit für diese Mechanismen auf verschiedenen Ebenen schulen – als Voraussetzung für die Entwicklung entsprechender präventiver und interventiver Maßnahmen zur Vermeidung bzw. produktiven Bearbeitung dieser Zusammenhänge. Dabei gilt es besonders aufmerksam auch dafür zu sein, im Bemühen um Viktimisierungsminimierung nicht strukturell analog neue ›blinde Flecken‹ für Marginalisierungen zu entwickeln und so neue Opfer zu produzieren. Ein mehrperspektivischer Blick – aus der Sicht verschiedener Beteiligter – kann hier ein Korrektiv dafür darstellen. Auf struktureller Ebene gilt es, einen viktimisierungssensiblen Blick zur Beurteilung verschiedener systemischer Abwägungen und Entscheidungen zu etablieren und Viktimisierungsverminderung als Kriterium zu implementieren. Gleichzeitig scheinen für viktimisierungsvermeidende Lösungen flexible, individuelle Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb eines einheitlichen strukturellen Rahmens unverzichtbar. In der geforderten Einzelfallabwägung sind alle beteiligten Akteure – Kinder, konkretes Lehrer/innen/team unter Einbeziehung externer Expertinnen und Experten, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Eltern – und deren Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung. Auf der Ebene konkreter Bildungsinstitutionen, Schulen und Schulklassen sind alle darin Beteiligten für die Viktimsierungsdimension zu sensibilisieren. Das Entwickeln einer Schul- und Klassenkultur, in der mit solchen Mechanismen gerechnet wird und die Beteiligten für diese besonders aufmerksam sind, ist Voraussetzung dafür, Viktimisierungen zu vermeiden oder zumindest so gering wie möglich zu halten. Es ist allerdings eine bleibende Herausforderung. Für das Verwirklichen einer ›liebenden Haltung‹ im Bildungssystem ist mit diesen Anregungen natürlich nicht vollumfänglich gesorgt. Aber mit erhöhter Viktimisierungssensibilität und der Verwirklichung konkreter Maßnahmen zur Opferminimierung ist die Voraussetzung dafür geschaffen, Viktimisierungen durch das und im Bildungssystem zu verringern. Das ist ein entscheidender Anfang.

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Zwischen Liebe und Verachtung Die Ambivalenz mimetischen Begehrens und ihre Bedeutung im Bildungskontext Petra Steinmair-Pösel

Die Begriffskombination »Bildung und Liebe«, die dem vorliegenden Band ihren Titel gibt, eröffnet ein schillerndes Feld an Fragen und Themenstellungen. Was verstehen wir unter Liebe, was unter Bildung? Ist Liebe die Voraussetzung für Bildung? Und wenn ja: Welche Form bzw. welche Ausdrucksformen der Liebe sind die Voraussetzung für Bildung? Sind Bemühungen um Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen selbst Ausdruck einer Form von Liebe, die – mehr oder weniger selbstlos – das Wohl des anderen im Blick hat, wie dies beispielsweise der Anspruch jener christlichen Ordensgemeinschaften war, die sich lange vor staatlichen Bildungseinrichtungen darum bemühten, jungen Menschen durch Bildung eine (bessere) Zukunft zu eröffnen bzw. sie als Nachwuchs für die eigenen Gemeinschaften heranzubilden? Und wie sind jene Fälle zu verstehen, in denen »Liebe« im Bildungskontext offensichtlich scheitert, weil Lehrende ihre Macht über die zu Bildenden missbrauchen, entweder in Form von psychischer oder physischer Gewalt oder von sexuellem Missbrauch? Das sind nur einige wenige Fragen, die sich aus dem Themenkomplex »Bildung und Liebe« ergeben. Und je nach fachwissenschaftlicher Perspektive, aus der das Thema betrachtet wird, werden sich zahlreiche weitere Fragen nahelegen. Der vorliegende Beitrag wählt einen Zugang zum Themenfeld, der bei der mimetischen Theorie des franko-amerikanischen Kulturanthropologen und Literaturwissenschaftlers René Girard ansetzt und von einer mimetischen Anthropologie her fragt: Welche bedenkenswerten Aufmerksamkeiten und Einsichten ergeben sich aus der anthropologischen Theorie Girards für das Verständnis des Themenkomplexes »Bildung und Liebe«? Dabei wird – nach einem einleitenden kursorischen Rückblick auf die philosophiegeschichtlichen Wurzeln des Mimesis-Verständnisses (1) – zunächst in Girards Theorie bzw. Anthropologie des ambivalenten mimetischen Begehrens und seiner kulturanthropologischen Konsequenzen eingeführt  (2). Sodann werden Verbindungslinien zur Spiegelneuronen-Forschung aufgezeigt, welche der mimetischen Theorie nicht nur auf neurobiologischer Ebene »Rückendeckung« gibt, sondern sich auch mit den biologischen Grundlagen sowohl der Empathie (als Voraussetzung und Erscheinungsform der Liebe) als auch der Nachahmung und des Ler-

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nens (als Aspekte von Bildung) beschäftigt. (3) In einem weiteren Schritt werden auf der Grundlage einer mimetischen Anthropologie ausgewählte Phänomene aus dem Bereich der Bildung beleuchtet.  (4) Zur Sprache kommen sollen die Frage nach Kriterien guten Lehrer/in-Seins angesichts der Fallstricke mimetischer double binds, das Phänomen Bullying in Schulklassen – gedeutet als Sündenbockphänomen – sowie die Notwendigkeit von Herzensbildung in einer Welt globalisierten mimetischen Begehrens, in der die alten Mechanismen zur Eingrenzung mimetischer Begehrlichkeiten und Konflikte nicht mehr greifen und die sich deshalb selbst zu zerstören droht.

1. D er M ensch als mime tisches W esen – P hilosophische A nnäherungen … der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist … (Aristoteles, 2006: 4)

1.1 Platon – Mimesis zwischen Bildungsanreiz und Gefahr Das Verständnis des Menschen als mimetisches1 Wesen und das Wissen um die Bedeutung von Nachahmung für Erziehung und Bildung sind keineswegs neu, sondern gehen weit in die Philosophiegeschichte zurück. Bereits Platon und Aristoteles haben – trotz nicht zu vernachlässigender Unterschiede zwischen ihren jeweiligen Zugängen – »immer wieder die anthropologische Bedeutung der Mimesis für die Entstehung und Weiterentwicklung von Kunst, Musik und Literatur, für die Erziehung und Bildung von Menschen, für die Dynamik der sozialen Lebenswelt sowie für die Erhaltung und Transformation von Gesellschaften betont« (Gebauer & Wulf, 2003: 8).

Bei Platon, der »der Nachahmung eine maßgebliche Bedeutung für das menschliche Verhalten« (Palaver, 2003: 67) einräumt, zeichnet sich dabei ein vielschichtiges und schillerndes Verhältnis zur Mimesis ab: Einerseits betont er in der Politeia2 die herausragende Rolle der Nachahmung für Erziehung und Bildung – und das sowohl im Positiven als auch im Negativen: Da der junge Mensch Vorbildern nacheifere, um diesen ähnlich zu werden, sei es von größter Bedeutung, Jugendlichen – vor allem den jungen Wächtern – gute Vorbilder vor Augen zu stellen, von

1 |  Der Begriff der Mimesis leitet sich ab vom griechischen mimesis, was soviel wie »Nachahmung« bedeutet. Das linguistische Stammwort ist mimos (Plural: mimetes). Es bezeichnet »Personen, die nachahmen oder darstellen, wobei mimos auch auf den Kontext dramatischer Handlungen verweist« (Gebauer & Wulf, 2003: 13). Das Verb dazu lautet mimesthai und trägt die Bedeutungen »nachahmen«, aber auch »darstellen« oder »porträtieren«. 2 |  Die wesentlichen Aussagen zur Mimesis finden sich in Platons Buch über den Staat, der Politeia.

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denen diese lernen und an deren Beispiel sie durch Angleichung wachsen können.3 Gefährlich und deshalb strikt zu kontrollieren und vom Staat zu reglementieren sei dagegen jene Dichtung, welche »Unzulänglichkeiten der Götter und großen Männer« darstelle, da »Mimesis, wenn sie sich auf Negatives bezieht, eine Gefahr [darstellt], die den Menschen schwächt und ihn von der Erfüllung seiner gesellschaftlichen Aufgaben abhält« (Gebauer & Wulf, 2003: 17). Freiheitsmöglichkeiten gegenüber Modellen gibt es nach Gebauer und Wulf (2003: 30) bei Platon kaum, zu stark erscheine dem Philosophen deren Aufforderungscharakter. Neben seiner Warnung vor der Nachahmung schädlicher Vorbilder gibt es darüber hinaus bei Platon einen Zug zur Verachtung der Nachahmung im Kontext seiner philosophischen Ideenlehre: Insofern die Nachahmung nämlich – im Zusammenhang mit Malerei und Dichtung – nicht Dinge selbst, sondern nur Bilder der Dinge und damit Erscheinungen hervorbringen könne, sei »der durch Mimesis erzeugte Schein täuschend, fehlerhaft und daher minderwertig.« (Gebauer & Wulf, 2003: 18) Basierend auf der vielschichtigen Verwendung des Mimesis-Begriffs bei Platon arbeitet Wolfgang Palaver im Blick auf Platons Politeia drei ideengeschichtlich zentrale Züge des platonischen Mimesis-Verständnisses heraus: Erstens zeichne sich bereits in diesem Werk Platons die für die gesamte westliche Tradition typische Tendenz ab, »den Begriff der Mimesis vorrangig auf Äußerlichkeiten wie Gestik und Mimik zu beziehen« (Palaver, 2003: 67), was jedoch – wie sich später im Blick auf die mimetische Theorie René Girards zeigen wird – eine reduzierte Sichtwiese darstellt. Zweitens finde sich bei Platon die gängige Meinung, »dass die zentrale ethische Dimension der Mimesis in der Unterscheidung zwischen der erlaubten Nachahmung guter Vorbilder und der verbotenen Nachahmung schlechter Beispiele liege« (Palaver, 2003: 67-68), was Palaver mit dem bereits erwähnten Beispiel der Erziehung der Wächter illustriert. Als dritten und interessantesten Zug bezeichnet Palaver Platons »panische Angst vor der unkalkulierbaren Macht der Mimesis« (Palaver, 2003: 68), die Platon dazu veranlasst, die Dichtkunst, die ja durch Nachahmung darstellt, aus dem Staat verbannen zu wollen. In der Politeia schreibt Platon dazu: »Auch in den Liebesgenüssen, im Zorn, kurz, in allen begehrenden Erregungen der Seele, den schmerzlichen wie freudigen, die jede unserer Handlungen begleiten, wirkt die nachahmende Dichtkunst in gleicher Weise auf uns. Denn sie nährt und begießt, was ausdörren sollte, setzt als Herrscher ein, was beherrscht werden sollte, damit wir besser und glücklicher statt schlechter und unglücklicher werden.« (Plato, 1982: 606c)

Palaver (2003: 68) weist darauf hin, dass Platon »Gefahren der Mimesis im Zusammenhang mit dem Begehren« erahnt, »ohne allerdings wirklich erklären zu können, warum Mimesis gerade im Bereich des Begehrens so gefährliche Wirkungen haben kann«. Wir werden auf diese Frage im weiteren Verlauf zurückkommen.

3 |  »Wenn sie aber etwas nachahmen, dann von klein auf nur solche Vorbilder, die zu ihrem Berufe passen, tapfere, vernünftige, ehrfurchtsvolle, freie Männer und anderes dieser Art; knechtische Taten dürfen sie weder selbst ausführen noch nachzuahmen fähig sein oder anderes häßlicher Art, damit sie nicht aus Nachahmern zu Genießern dieses Wesens werden.« (Plato, 1982: 395c)

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1.2 Aristoteles – Die kathartische Wirkung der Mimesis Bei Aristoteles ist die bei Platon festzustellende Angst vor der Mimesis wieder verschwunden. Aristoteles betont in seiner Poetik positiv die Nachahmungsfähigkeit des Menschen als jenen Zug, der ihn von anderen Lebewesen unterscheidet, und hebt die Freude des Menschen an Nachahmungen als Ursache der Dichtkunst hervor. Explizit lobt er die mimetische Anteilnahme in der Tragödie. Deren Handlung solle so aufgeführt werden, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer mimetisch in die Handlung miteinbezogen werden und dadurch das »Schauererregende« und »Jammervolle« (Aristoteles, 2006: 14) miterleben können, was in ihnen selbst »Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt« (Aristoteles, 2006: 6). Auf diese Weise führe die Tragödie zu einer Reinigung der Leidenschaften im Sinne einer kathartischen Erfahrung, die den Charakter stärke. Ganz anders als noch Platon, der die Darstellung negativer Vorbilder durch die Dichtkunst als für die Zuschauenden verderblich fürchtete, sieht Aristoteles somit im kathartisch-mimetischen Mitvollzug der Handlungen negativer Vorbilder eine Möglichkeit, ihre Wirkung zu verringern. Allerdings liefert auch Aristoteles – wie Gebauer und Wulf (2003: 21) festhalten – keine umfassende Theorie der Mimesis, die Begriffsverwendung bleibt über weite Strecken unbestimmt, eine Definition bleibt aus, Mimesis wird »in den Bereich der nicht diskutierbaren Voraussetzungen des Menschen« verlagert. Palaver (2003: 70) resümiert: »Geblieben ist für die westliche Tradition die Reduzierung der Mimesis auf äußerliche Darstellungen und die Einsicht, dass Gutes nachgeahmt, Schlechtes aber gemieden werden soll.«

1.3 Wiederentdeckung der Mimesis im 20. Jahrhundert In ihrem Buch Mimetische Weltzugänge diagnostizieren der Philosoph Gunter Gebauer und der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf eine Wiederentdeckung der Mimesis als grundlegendes menschliches Vermögen im 20. Jahrhundert. Dabei rücke die anthropologische Dimension der Mimesis ins Zentrum des Interesses (vgl. Gebauer & Wulf, 2003: 16). »Der Mimesisbegriff hat Eingang in die Theorie vom Menschen gefunden […]. Unter dem Gesichtspunkt von Mimesis wird eine andere Sichtweise auf das menschliche Handeln gesucht, die die Handlungspraxis und den Bezug auf andere Menschen in den Mittelpunkt rückt.« (Gebauer & Wulf, 2003: 17)

Als wichtige Denker in diesem Kontext erwähnen sie unter anderem Walter Benjamin, der ein »mimetisches Vermögen« (vgl. Benjamin, 1991) postuliert, »mit dessen Hilfe Menschen eine besondere Art von Ähnlichkeiten erkennen können« (Gebauer & Wulf, 2003: 23), sowie Theodor W. Adorno, der den Mimesisbegriff verwendet, »um die Doppeldeutigkeit des Verhältnisses des Menschen zur Natur, der äußeren und der inneren, zu beschreiben und eine Chance der Befreiung von Herrschaft aufscheinen zu lassen« (Gebauer & Wulf, 2003: 24). Elias Canetti kommt das Verdienst zu, die Bedeutung mimetischer Ansteckung in der Bildung von Massen herausgearbeitet zu haben. So beziehen sich die vier in Masse und

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Macht (vgl. Canetti, 1986) genannten Eigenschaften menschlicher Massen auf die mimetische Verfasstheit des Menschen: »Das Wachstum der Masse vollzieht sich über Ansteckung. Gleichsam von Körper zu Körper werden Erregung und Ekstase übertragen; bewusste Abgrenzung gegenüber der sich ausbreitenden Erregung gelingt nicht; der Strudel der Gleichheit reißt den Einzelnen mit. Differenzen werden aufgelöst; bezogen auf ein Ziel erfolgt die Nivellierung aller Unterschiede.« (Gebauer & Wulf, 2003: 33)

Der vermutlich wichtigste Denker der Mimesis im 20. Jahrhundert war jedoch René Girard, »in dessen fundamentalanthropologischer Deutung [… die Mimesis] zu einem konstitutiven Mechanismus der menschlichen Ordnung und des Heiligen wird« (Gebauer & Wulf, 2003: 16). Seiner Theorie wollen wir uns im nächsten Schritt zuwenden.

2. D er M ensch als mime tisch begehrendes W esen – D ie mime tische Theorie R ené G ir ards »Durch das mimetische Begehren entkommen wir dem Animalischen. Dieses Begehren ist für das Beste wie für das Schlimmste in uns verantwortlich, verantwortlich für das, was uns unter das Tier herabsinken lässt, wie für das, was uns über es hinaushebt.« (Girard, 2002: 32)

Soll Girards mimetische Theorie auf kürzest mögliche Weise erklärt werden, kann das in drei Schritten – durch drei zentrale Konzepte – geschehen: mimetisches Begehren (vgl. Girard, 1999), Sündenbockmechanismus (vgl. Girard, 1994) und die Rolle der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Girard, 2002).4

2.1 Das mimetische Begehren Die Grundlage des Denkens von Girard bildet – sowohl chronologisch als auch systematisch betrachtet – die Einsicht, dass Menschen zutiefst mimetische Wesen sind.5 Dabei geht es nicht nur um die – schon Platon und Aristoteles bekannte – Tatsache, dass Menschen durch (äußerliche) Nachahmung lernen, was beispiels4 |  Für eine ausführliche Einführung in das Denken René Girards sowie Verbindungslinien zu einer Reihe von kulturtheoretischen und gesellschaftspolitischen Fragen vgl. Wolfgang Palavers umfassendes Werk René Girards mimetische Theorie (vgl. Palaver, 2003). Eine Zusammenstellung zentraler Texte bietet Williams’ Girard Reader (vgl. Williams, 1996); zahlreiche weiterführende Beiträge aus verschiedenen Disziplinen finden sich im Sammelband For René Girard. Essays in Friendship and in Truth (vgl. Goodhart, Jorgensen, Ryba & Williams, 2009); eine handbuchartige Darstellung zentraler Begriffe bietet The Palgrave Handbook of Mimetic Theory and Religion (vgl. Alison & Palaver, 2017). 5 |  Ausführlich analysiert René Girard (1999) diese mimetische Verfasstheit des Menschen basierend auf der Lektüre zahlreicher bedeutender literarischer Werke, die eben diese mime-

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weise sehr leicht am kindlichen Spracherwerb beobachtet werden kann. Das Mimesis-Verständnis Girards setzt noch wesentlich tiefer an: bei der menschlichen Erfahrung eines fundamentalen, aber inhaltlich unbestimmten Wünschens, eines existentiellen Mangels, der sich gerade dann zeigt, wenn die grundlegenden physischen Bedürfnisse gestillt sind. In seinem Werk Das Heilige und die Gewalt schreibt er: »Sind seine Primärbedürfnisse einmal gestillt – zuweilen sogar schon vorher –, ist der Mensch von intensiven Wünschen beseelt, weiß aber nicht genau, was er wünscht: Er begehrt das Sein – jenes Sein, das ihm seinem Gefühl nach fehlt und von dem ihm scheint, ein anderer besitze es. Das Subjekt erwartet von diesem anderen, dass er ihm sagt, was gewünscht werden muss, um dieses Sein zu erlangen.« (Girard, 1994: 215)

In dieser Situation unbestimmten Begehrens wenden wir uns also anderen Menschen zu in der Hoffnung, dass deren Begehren uns zeigt, wonach wir streben sollen, um den empfundenen Mangel zu beseitigen und die Leere in unseren Herzen zu füllen.6 Auf diese Weise beginnen wir, uns mimetisch das zu wünschen – bzw. wie Girard sagt: das zu begehren –, von dem wir sehen oder auch nur glauben, dass andere es begehren. Anders als die auf Platon und vor allem Aristoteles zurückgehende Mimesis-Tradition stellt Girards Konzept somit »das Begehren ins Zentrum der Nachahmung. […] Zentral sind nicht die [äußerlichen] Worte oder Gesten eines anderen Menschen, sondern dessen Begehren, dessen Objektwünsche.« (Palaver, 2003: 71) Diese mimetische Orientierung am anderen führt jedoch rasch zu Rivalität und Konflikt: Wo nämlich zwei Menschen dasselbe begehren 7, wird aus dem zunächst oft bewunderten und verehrten Vorbild und Modell rasch ein Hindernis bzw. ein Rivale. Wieder ist ein Beispiel aus der Welt der Kinder hilfreich: Man stelle sich vor, eine Gruppe von kleinen Kindern spielt in einem Raum. Jedes der Kinder bekommt einen identischen Ball – und doch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es schon bald zu Streitigkeiten um einen ganz bestimmten Ball kommen wird, weil zwei oder mehrere Kinder eben mit genau diesem Ball spielen wollen. Was Girard durch diese kleine Begebenheit veranschaulicht, ist die Tatsache, dass wir Objekte meist nicht aufgrund ihres intrinsischen Wertes (die Bälle im Beispiel sind alle identisch), sondern aufgrund ihrer sozialen Bedeutung (weil ein anderer sie besitzt oder begehrt) begehren.8 Mimesis, welche die Objektwünsche eines Modells nachahmt mit dem Ziel, selbst in den Besitz des Objekts zu kommen – die sogenannte »Aneignungsmime-

tische Verfasstheit des Menschen in ihren unterschiedlichen Spielarten und Ausprägungen zum Inhalt haben. 6 |  Dies wird beispielsweise von der Werbung erfolgreich aufgegriffen, um Menschen zu »guten« Konsumentinnen und Konsumenten zu machen (vgl. Steinmair-Pösel, 2005: 71-74). 7 |  Relevant ist dies vor allem, wenn es sich um begrenzte, nicht beliebig teilbare Güter handelt. 8 |  Dies betrifft keineswegs nur Kinder – die gesamte Werbebranche basiert letztlich auf der mimetischen Natur des menschlichen Begehrens (vgl. dazu weiterführend Steinmair-Pösel, 2005).

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sis« (vgl. Girard, 2009: 35; Palaver, 2003: 71) – erweist sich damit in vielen Fällen9 als »konfliktuelle Mimesis« (vgl. Girard, 1994: 274; Palaver, 2003: 71) und entwickelt sich leicht zur »Gegenspielermimesis« (vgl. Palaver, 2003: 179-181). Was ist mit letzterem gemeint? Ahmt ein Subjekt ein Modell nach, so führt das nicht nur dazu, dass dem Subjekt das vom Modell begehrte oder besessene Objekt umso begehrenswerter erscheint, je mehr das Modell selbst dieses für sich haben will und dem als »Konkurrent« oder »Rivalen« erscheinenden Subjekt deshalb zunehmend feindschaftlich begegnet. Vielmehr wird rasch auch das ursprüngliche Vorbild in den mimetischen Konflikt hineingezogen: »Da alle Menschen vom mimetischen Verhalten gekennzeichnet sind, bleibt auch das Modell davon nicht ausgespart. Gerade im fortgeschritteneren Stadium der Begierde, im Bereich des metaphysischen10 Begehrens, ist das mimetische Verhalten äußerst ansteckend. Es pflanzt sich in Form einer ontologischen Krankheit […] schier unaufhaltsam fort. Die zunehmende Nähe zwischen Subjekt und Modell, die eine Voraussetzung für das Entstehen der metaphysischen Begierde ist, macht es wahrscheinlich, dass auch das Modell in den mimetischen Sog hineingezogen wird. Es beginnt selbst das Streben seines Nachahmers nachzuahmen. Dadurch kommt es zur doppelten Nachahmung bzw. zur doppelten Vermittlung.« (Palaver, 2003: 176)

Diese doppelte Nachahmung ist nach Girard eine grundlegende Form der Erzeugung von Begierde. Denn beim Dreiecksmodell, bei dem das Subjekt ein Objekt begehrt, weil dieses von einem Modell/Vorbild begehrt wird, stellt sich immer noch »die Frage, wonach sich das Begehren des Vorbilds richtet. Wenn man die Möglichkeit eines genuinen und autonomen Begehrens des Modells – gemäß der mimetischen Theorie – ausschließt, so richtet das Modell sein Begehren entweder an einer weiteren, dritten Person aus oder eben wie im Beispiel der doppelten Nachahmung an der ihn nachahmenden Person« (Palaver, 2003: 178).

Ausgehend von diesem Verständnis hat Girard gemeinsam mit dem französischen Psychiater Jean-Michel Oughourlian eine interdividuelle Psychologie11 entwickelt, die der Einsicht Rechnung trägt, dass Menschen niemals vollkommen eigenständige Individuen sind, sondern immer schon durch die Beziehungen zu anderen Menschen mitkonstituiert werden.

9 |  Vor allem dann, wenn das begehrte Objekt begrenzt und/oder nicht teilbar ist. 10 |  Girard spricht vom »metaphysischen Begehren«, wenn im Zentrum des Begehrens nicht mehr wie ursprünglich ein konkretes Objekt steht, sondern im Zuge der Eskalation eines mimetischen Konflikts die beiden Rivalen zunehmend so sehr aufeinander fixiert sind, dass sie das Objekt ganz aus den Augen verlieren und in diesem Sinne Rivalität und Gewalt das Zentrum bilden. (Vgl. Palaver, 2003: 174) 11 |  Der Begriff »interdividuelle Psychologie« wurde eingeführt, »to express our conviction that the monadic subject doesn’t exist, that the self is formed only in relations with the other, and that psychology cannot focus on individuals but only on rapports and relationships« (Oughourlian, 2016: 33-39, hier: 33, vgl. auch Oughourlian, 2010: 17-42).

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2.2 Der Sündenbockmechanismus Angesichts der epidemisch »ansteckenden« Wirkung der Mimesis hätte nach Girard diese konflikthafte Seite des mimetischen Begehrens menschheitsgeschichtlich rasch zu einer zerstörerischen Eskalation der Gewalt geführt, hätte es nicht auch einen die Gewalt eindämmenden Mechanismus gegeben. Girard bezeichnet diesen als Sündenbockmechanismus und findet Spuren davon an den Wurzeln unterschiedlichster Religionen und Kulturen. Immer gibt es ein einzelnes Opfer, auf das die Aggression und Gewalt einer ganzen Gruppe in einer Art von mimetischem Furor unbewusst projiziert wird. In der Folge erscheint dieses Individuum monströs und verantwortlich für all das Böse, das die Existenz und den sozialen Zusammenhalt der Gruppe bedroht, es wird ausgeschlossen oder getötet. Da zuvor die gesamte Aggression auf dieses Individuum projiziert wurde, erfährt sich die Gruppe nach dessen Ausstoßung oder Tötung auf wundersame Weise auch von der eigenen Gewalt befreit, wodurch das Opfer rückblickend plötzlich nicht mehr nur als monströser Übeltäter, sondern zugleich als göttliche Erlösergestalt wahrgenommen wird: Es hat offensichtlich Frieden in die ehemals konfliktbeladene Gemeinschaft gebracht. Dies ist nach Girard die Geburtsstunde des archaischen Heiligen und erklärt, warum dieses immer zugleich tremendum et fascinosum, furchterregend und faszinierend, erscheint und von Mythen, (Opfer-)Riten und Tabus begleitet wird. Die Opferriten zielen auf eine Wiederholung jenes auf unerklärliche Weise friedensstiftenden Ursprungsereignisses, das Girard auch als Gründungsmord bezeichnet. Mythen sind die Erzählungen über dieses Geschehen aus der notwendigerweise verzerrten Perspektive der Überlebenden, die ihre eigene Rolle im gewaltsamen Geschehen nicht erkennen.12 Und die Tabus stellen schließlich archaische Schutzwälle gegen die mimetisch ansteckende Gewalt dar.13 Auf diese Weise entstanden nach Girard alle archaischen, sakrifiziellen Religionen und mit ihnen die Kulturen und ihre sozialen und juridischen Ordnungssysteme. Ohne die gewalteindämmende Funktion des Sündenbockmechanismus bzw. der daraus hervorgehenden Religionen hätte die Menschheit nicht überlebt.

2.3 Die Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition Eine besondere Rolle schreibt er nun der jüdisch-christlichen Tradition zu: Während nämlich in den archaischen Religionen die Verfolger immer an die Schuld ihrer Opfer glaubten – faktisch wurden diese gar nicht als »Opfer« wahrgenommen

12 |  Girard spricht oft auch von den Verfolgern, um deren – von ihnen selbst nicht erkannte – Rolle im Sündenbockgeschehen deutlich zu machen. 13 |  Tabus erscheinen manchmal absurd, denn sie richten sich auf alles, was zu viel mimetische Nähe erzeugen könnte. In Das Ende der Gewalt schreibt Girard: »Ein gutes Beispiel für ein scheinbar absurdes Verbot ist das in vielen Gesellschaften geltende Verbot imitatorischen Verhaltens. Man soll die Gesten eines anderen Mitglieds der Gemeinschaft nicht kopieren, seine Worte nicht wiederholen. Das Verbot, Eigennamen zu gebrauchen, entspricht zweifellos derselben Art von Sorge; ebenso die Angst vor dem in traditionellen Gesellschaften häufig mit dem Teufel in Verbindung gebrachten Spiegel.« (Girard, 2009: 35)

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sondern zunächst dämonisiert und nach ihrem Tod divinisiert14 –, beschreibt die Bibel die Opfer als unschuldig: vom unschuldig verfolgten Betenden in den alttestamentlichen Klagepsalmen über den leidenden »Gottesknecht« im Buch Jesaja bis zu dem unschuldigen Opfer par excellence: Jesus von Nazareth. Im Unterschied zu den Mythen stellt sich der biblische Text nicht auf die Seite der Verfolger, sondern auf die Seite des Opfers. Er macht das ganze Ausmaß der Gewalt sichtbar, benennt die Sündenbocklogik15, entschleiert so den Sündenbockmechanismus und setzt ihn damit außer Kraft, denn: »Ein Sündenbock ist so lange ein probates Mittel, wie man an seine Schuld glaubt. Einen Sündenbock haben, heißt, nicht zu wissen, dass man ihn hat. Herauszufinden, dass man einen hat, heißt, diesen Sündenbock auf immer zu verlieren und sich den unlösbaren Konflikten auszusetzen.« (Girard & Chantre, 2014: 17)

Das Funktionieren des Sündenbockmechanismus setzt also die »Verkennung« dessen voraus, was tatsächlich vor sich geht. Insofern die jüdisch-christliche Tradition den Mechanismus entlarvt und die Opfer in ihrer Unschuld als Opfer ausgrenzender Gewalt sichtbar macht, führt sie langfristig zur Destruktion der auf Sündenböcken und Opfern basierenden sakrifiziellen Religionen und Kulturen. Obwohl es in der Geschichte Zwischenformen wie das sakrifizielle Christentum gibt, das Jesu Tod und Auferstehung analog zu archaischen Religionen deutet, bringt die biblische Offenbarung auf lange Sicht das Ende der Möglichkeit einer gewaltsamen Kanalisierung der Gewalt. Damit verurteilt sie aber nach Girard auch alle anderen sozialen Institutionen, welche im Sündenbockmechanismus wurzeln, wie das juridische oder ökonomische System,16 zum Untergang. Das Zusammenbrechen des Sündenbockmechanismus und der darauf auf bauenden sozialen Ordnungen erfolgt jedoch nicht ohne einen eklatanten Anstieg der Opfer, denn je weniger effektiv der Mechanismus wirkt, umso mehr Opfer verlangt er, um seine Funktion noch halbwegs zu erfüllen. Dies wird rasch konkreter, wenn man an die aktuellen Opfer unseres entfesselten Konsum-Begehrens denkt: Im kaum noch gebremsten Streben danach, möglichst den aktuellsten Trends der Mode zu folgen, sich Prestige-Objekte anzueignen und so gegenüber unseren Peers (auch eine Form von Rivalen bzw. Modell-Hindernissen) gut dazustehen, nehmen wir allzu oft in Kauf, dass andere diese Konsumgüter auf ausbeuterische Weise herstellen müssen oder natürliche Ressourcen auf unverantwortliche Weise verbraucht werden. Im einen Fall werden die unter unmenschlichen Bedingungen Produzierenden (nicht selten Kinder), im anderen Fall Klima und Umwelt, zum Opfer unserer zunehmend weniger durch äußere Regeln und Normen eingeschränkten mimetischen Bedürfnisse.

14 |  Eine Vielzahl solcher Mythen analysiert Girard in seinem grundlegenden Werk Das Heilige und die Gewalt (vgl. Girard, 1994). 15 |  Vgl. dazu die im Johannesevangelium dem Hohenpriester Kajaphas zugeschriebene Aussage, welche die Sündenbocklogik auf den Punkt bringt: »Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt.« (Joh 18,14) 16 |  Zum juridischen System vgl. die Ausführungen Girards in Im Angesicht der Apokalypse (vgl. Girard & Chantre, 2014: 190).

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3. N eurobiologische »R ückendeckung « für eine kultur anthropologische Theorie 3.1 Emotionale Ansteckung Seit Mitte der 1990er Jahre liefert die neurobiologische Forschung interessante naturwissenschaftliche Grundlagen für die kulturwissenschaftlichen Analysen Girards (vgl. dazu ausführlich auch Garrels, 2011). So schreibt beispielsweise der deutsche Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer in seinem Buch Warum ich fühle, was du fühlst über die fundamentale und »ansteckende« Kraft der Mimesis: »Nicht nur der Ausdruck unserer Mimik, auch die mit ihr verbundenen Gefühle können sich von einem Menschen auf den anderen übertragen. […] Wie bei einer seltsamen Infektionskrankheit kann eine Person in anderen Personen spontan und unwillkürlich gleich gerichtete emotionale Reaktionen auslösen. Dem Grund für diese als ›emotionale Ansteckung‹ (in der Fachsprache als ›emotional contagion‹) bezeichneten Übertragung werden wir im Weiteren nachgehen. […] hier sind die Spiegelneurone im Spiel.« (Bauer, 2009: 11-12)

Die Erkenntnisse der Neurobiologie über die Funktion der sogenannten Spiegelneuronen präsentieren gleichsam das biologische und physiologische Fundament für unser mimetisches Verhalten. Damit wird deutlich, dass Nachahmung ein Phänomen darstellt, das den Menschen bis hinein in seine Physiologie prägt und formt, und für unsere geistige, emotionale und kulturelle Entwicklung unerlässlich ist. Joachim Bauer spricht von Spiegelungs- und Resonanzphänomenen, die für unser tägliches Leben notwendig sind, z.B. weil sie uns ein intuitives und sofort verfügbares Wissen über den weiteren Ablauf eines Geschehens liefern: »Ohne ein intuitives Gefühl für die zu erwartenden Bewegungen anderer würden wir nicht ohne Kollisionen durch eine volle Fußgängerzone gelangen.« (Bauer, 2009: 14) Durch die Entdeckung der Spiegelnervenzellen wurden diese Phänomene zum ersten Mal auch neurobiologisch erklärbar. Auch der amerikanische Psychologe Scott R. Garrels betont die fundamentale Bedeutung der auf Spiegelneuronen-Tätigkeit basierenden mimetischen Prozesse, wenn er schreibt: »Convergent evidence across the modern disciplines of developmental psychology and cognitive neuroscience demonstrates that imitation based on mirrored neural activity and reciprocal interpersonal behavior is what guides and scaffolds human development from the beginning of life, significantly effecting the emergence and functioning of mental representation, communication and language, empathy, self-other differentiation and a theory of mind. Imitation not only functions powerfully in the mother-infant dyad to bring about experience-dependent neurocognitive development, but it is thought to thrive in adulthood as one of the most organizing characteristics of human social relations.« (Garrels, 2006: 49)

3.2 Entdeckung der Spiegelneuronen Entdeckt wurden die Spiegelneuronen Anfang der 1990er Jahre von einer Forschungsgruppe um Giacomo Rizzolatti. Es ging damals um die Erforschung jener Neuronen des Gehirns, mit denen Lebewesen ihre Handlungen steuern. Dabei lassen sich – so die Erkenntnisse der Forschungsgruppe – zwei Arten von Nerven-

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zellen unterscheiden: einerseits die Handlungsneuronen: intelligente Zellen, die über Programme verfügen, mit denen sich zielgerichtete Aktionen ausführen lassen, die also den gesamten Ablauf einer Handlung kennen; andererseits die Bewegungsneuronen: weniger intelligente Zellen, welche die Muskelbewegungen kontrollieren und das ausführen, was die Handlungsneuronen ihnen sagen. Wichtig ist dies insofern, als nicht jedes Mal, wenn Handlungsneuronen aktiv werden, tatsächlich auch die entsprechende Handlung folgt – es kann auch bei einem Handlungsgedanken bleiben.17 Was Rizzolatti nun im Experiment mit Affen entdeckt hat, war folgendes: Es zeigte sich, dass Handlungsneuronen, die zu diesem Zweck an Messfühler angeschlossen wurden, dann und nur dann ihre Signale abfeuerten, wenn der Affe eine bestimmte, ihnen zugeordnete Aktionen ausführte – wenn er z.B. mit der Hand nach einer Nuss griff. »Genau dafür, und für nichts sonst, hatte diese Zelle den Plan.« (Bauer, 2009: 22) Dann machten die Forscherinnen und Forscher eine erstaunliche Entdeckung: dieselbe Zelle feuerte auch dann, »wenn der Affe beobachtete, wie jemand anders nach der Nuss auf dem Tablett griff. […] Die Beobachtung einer durch einen anderen vollzogenen Handlung aktivierte im Beobachter, in diesem Fall dem Affen, ein eigenes neurobiologisches Programm, und zwar genau das Programm, das die beobachtete Handlung bei ihm selbst zur Ausführung bringen könnte. Nervenzellen, die im eigenen Körper ein bestimmtes Programm realisieren können, die aber auch dann aktiv werden, wenn man beobachtet oder auf andere Weise miterlebt, wie ein anderes Individuum dieses Programm in die Tat umsetzt, werden als Spiegelneurone bezeichnet.« (Bauer, 2009: 23)

3.3 Spiegelneuronen und zwischenmenschliche Beziehungen Was Rizzolatti bei Affen experimentell erforschen konnte, wurde in der Folge auch bei Menschen nachgewiesen und vertieft: auch sie verfügen über Spiegelneuronen. Beim Menschen kommen allerdings – vor allem durch die Sprache – noch weitere Möglichkeiten hinzu: Was Menschen bei anderen beobachten, aber auch, wovon sie nur sprechen, wird gleichsam auf der eigenen neurobiologischen Tastatur nachgespielt, am intensivsten in jenen Fällen, wenn eine Handlung simultan imitiert wird, grundsätzlich aber bereits dann, wenn nur ein Teil einer Handlungssequenz beobachtet oder angesprochen wird.18 Interessant ist in unserem Kontext weiter, dass beobachtete Handlungen, vor allem eine erstmals beobachtete Handlung, intensive Vorstellungen von ihr hervorrufen und als potenzielles Handlungsprogramm in den Bestand der handlungssteuernden Nervenzellen aufgenommen werden. Wird eine Handlung häufig beobachtet, erhöht sich dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass der Beobachtende sie 17 |  Allerdings gilt: »Handlungsvorstellungen, über die häufig nachgedacht wurde, haben eine bessere Chance realisiert zu werden, als solche, die vorher nicht einmal als Idee vorhanden waren. Was sich auch experimentell beweisen lässt.« (Bauer, 2009: 21) 18 |  Hier sind freilich auch Irrtümer bzw. Fehlinterpretationen möglich: Diese können durch die Mehrdeutigkeit von Alltagsszenen, durch einseitige, durch individuelle Vorerfahrungen entstandene Interpretationsschemata aber auch durch bewusste Täuschung hervorgerufen sein. (Vgl. Bauer, 2009: 33-34)

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irgendwann selbst ausführen wird. Mit anderen Worten: Durch das, was bei anderen Menschen beobachtet wird, werden neurologische Handlungsbereitschaften gebahnt, was einerseits das Lernen erleichtert – wie bereits Plato ahnte –, was im negativen Fall aber auch problematische Verhaltensweisen begünstigt.19 Die auf den Spiegelneuronen basierenden Resonanzphänomene beschränken sich jedoch – wie von Bauer angesprochen – nicht nur auf Handlungen, sondern erstrecken sich auch auf Gefühle und körperliche Empfindungen. Deshalb kann die Aktivierung von Spiegelneuronen einen Menschen verändern: so kann sich beispielsweise die gute oder schlechte Laune eines Menschen auf einen anderen übertragen. Als besonders beglückend werden intensive zwischenmenschliche Resonanzphänomene erlebt, wenn zwei Menschen sich ineinander verlieben und sich vom jeweils anderen als zutiefst gesehen und verstanden erleben – dann ist das intuitive Spiegelungsverhalten auch äußerlich besonders deutlich sichtbar (ebenso wie bei gelingender Kommunikation zwischen Mutter und Kind). Die gegenteilige Erfahrung ist die des sozialen Todes: Aus dem sozialen Resonanzraum ausgestoßen zu werden, hat massive neurobiologische Effekte, die zu Krankheit und in Extremfällen sogar zum physischen Tod führen können. Die systematische Verweigerung spiegelnder Verhaltensweisen, körpersprachlicher Resonanzreaktionen oder die Verweigerung reziproker Reaktionen im Gesprächsverhalten bedeuten für die/den Betroffene/n eine psychologische Katastrophensituation, die sich bis auf die Biologie des Körpers durchschlägt. Die Schmerzzentren im Gehirn werden aktiviert, Stresshormone steigen sprunghaft an, die Regulation des Herz-Kreislauf-Systems kann vollständig entgleisen. Die tödlichen Folgen des Ausschlusses aus dem sozialen Resonanzraum zeigen sich bei Phänomenen wie dem »Vodoo-Tod« ebenso wie bei Kindern, denen die Zuwendung entzogen wird und die in der Folge sterben. (Vgl. Bauer, 2009: 105-116) In etwas abgeschwächter Form sind sie aber auch dort zu beobachten, wo Menschen in Mobbing und Bullying-Konstellationen aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

4. F ace t ten mime tischen B egehrens im B ildungskonte x t Welche Einsichten lassen sich nun aus diesen – kursorisch dargestellten – Erkenntnissen der mimetischen Theorie Girards und deren neurobiologischer Untermauerung durch die Spiegelneuronenforschung für das vielschichtige Thema »Bildung und Liebe« gewinnen? Drei besonders naheliegende Themen, welche jeweils eines der drei zentralen Konzepte der mimetischen Theorie ins Zentrum stellen, sollen im Folgenden herausgegriffen werden.

19 |  Diesen Effekt haben übrigens nur biologische Akteurinnen und Akteure (bzw. Darstellungen von lebenden Personen in Filmen und Computerspielen), nicht jedoch »Handlungen« bzw. Abläufe, die durch technische Apparaturen oder die Natur verursacht werden. (Vgl. Bauer, 2009: 38-39)

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4.1 Lehrer/in sein angesichts der Fallstricke mimetischer Double Binds Ein erstes Thema schließt an die Theorie Girards vom ambivalenten mimetischen Begehren an. Auch wenn Girard (2002: 31) davon ausgeht, dass das mimetische Begehren intrinsisch gut ist und den Menschen von den Tieren unterscheidet, deren Begehren weitestgehend durch Instinkte gebunden ist, hat er sich doch so intensiv mit dem konfliktiven mimetischen Begehren auseinandergesetzt, dass die positive Seite über weite Strecken deutlich in den Hintergrund rückte. (Vgl. Steinmair-Pösel, 2014; Steinmair-Pösel, 2017) Dies hängt u.a. damit zusammen, dass in der von ihm in Figuren des Begehrens analysierten Literatur konflikthafte mimetische Zusammenhänge eine große Rolle spielen und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen detailliert analysiert werden. Eine wesentliche Facette betrifft dabei die – auch für den Bildungskontext relevante – Beziehung zwischen Vorbild 20 und nachahmendem Subjekt. Je nach der Größe des Abstands zwischen Vorbild und Nachahmendem spricht Girard von externer oder interner Vermittlung: Um externe Vermittlung handelt es sich, »wenn die Distanz so groß ist, daß die beiden Möglichkeitssphären, die einmal den Mittler21, einmal das Subjekt zum Zentrum haben, sich nicht berühren« (Girard, 1999: 18). Von interner Vermittlung spricht er hingegen, »wenn eben diese Distanz so gering ist, daß sich die beiden Sphären mehr oder weniger überschneiden« (ebd.). Die Distanz zwischen Mittler und Subjekt darf dabei selbstverständlich nicht als (rein) physische Kategorie missverstanden werden: »zwar kann die geographische Entfernung eine Rolle spielen, doch die Distanz zwischen Mittler und Subjekt ist vorab geistiger Natur« (ebd.). Im Fall der externen Vermittlung wird die Nachahmung offen gelebt, das mimetische Subjekt verehrt offen sein Vorbild, wobei jede Rivalität mit dem Mittler ausgeschlossen ist, thront dieser doch »in einem unerreichbaren Himmel« (Girard, 1999: 19). Nicht selten wird in dieser Konstellation das Vorbild verklärt – der literarische Inbegriff solch externer Mimesis ist für Girard Don Quijotes Nachahmung des Ritters Amadis. Anders verhält es sich im Falle der internen Vermittlung: Hier ist der »Mittler auf die Erde hinabgestiegen«, das heißt: er ist dem Subjekt so nahegekommen, dass er »seine Rolle als Vorbild nicht mehr spielen [kann], ohne zugleich die Rolle eines Hindernisses zu übernehmen« (Girard, 1999: 17). Das nachahmende Subjekt wiederum deutet das Hindernis, welches das Vorbild ihm entgegensetzt, als Ablehnung, fühlt sich zurückgesetzt und »empfindet folglich seinem Vorbild gegenüber ein peinigendes, in sich widersprüchliches Gefühl, das ergebenste Verehrung und heftigste Rachsucht« (Girard, 1999: 20) – wir könnten in Anlehnung an den Titel des vorliegenden Beitrags auch sagen »Liebe und Verachtung« – in sich vereint. Das Vorbild wiederum wird – wie bereits erwähnt – selbst in den mimetischen Sog 20 |  Girard spricht auch vom Modell oder vom Mittler, weil das Vorbild dem/der Nachahmenden sein Begehren »vermittelt«. 21 |  Girard spricht durchgehend von »Modell« und »Mittler«, ohne zu gendern. Da es sich um Fachtermini der mimetischen Theorie handelt, wurden diese unverändert belassen. Selbstverständlich sind hier jeweils männliche und weibliche Personen gemeint.

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hineingezogen. Es erfährt sich auf der einen Seite geschmeichelt durch die Bewunderung des nachahmenden Subjekts, zugleich aber auch von ihm bedroht. Auf diese Weise entsteht, was Girard einen mimetischen double bind nennt, vermittelt das Vorbild doch zwei Botschaften zugleich: ahme mich nach und ahme mich nicht nach. Diese Konstellationen sind auch für den Bildungskontext relevant: Wo der Abstand zwischen Modell und Nachahmendem, wir könnten auch sagen zwischen Lehrer/in und Schüler/in groß ist, sich also die Möglichkeitssphären kaum überschneiden, ist Nachahmung ein wichtiger und weitestgehend unproblematischer Weg des Lernens. Wird dieser Abstand jedoch – z.B. aufgrund der wachsenden Kompetenzen der Schüler/innen geringer, kann das zunächst unproblematische Nachahmungsverhältnis »kippen«. Girard beschreibt dies in seinem Buch Das Ende der Gewalt unter der Überschrift »Lernmimesis und Rivalitätsmimesis« folgendermaßen: »Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: den Meister und seine Schüler. Entzückt sieht der Meister, wie die Schar seiner Schüler zunimmt; er ist entzückt, weil er zum Modell genommen wird. Doch ist die Nachahmung zu vollkommen und droht der Nachahmende das Modell zu übertreffen, ändert sich die Haltung des Meisters gründlich und er beginnt, sich misstrauisch, eifersüchtig, feindselig zu gebärden. Er wird alles tun, um den Schüler herabzusetzen und ihn zu entmutigen. Des Schülers einzige Schuld ist es, der beste Schüler zu sein. Er bewundert und achtet das Modell, sonst hätte er es nicht zum Vorbild genommen. Zwangsläufig fehlt es ihm an jenem ›Abstand‹, der es ihm erlaubt hätte, das, was ihm geschieht, einzuordnen. Er erkennt im Verhalten des Modells die Anzeichen von Rivalität nicht, und zwar gerade deshalb, weil das Modell alles daransetzt, diese Verblendung zu verstärken. Das Modell verschleiert so gut es kann den wahren Grund seiner Feindseligkeit.« (Girard, 2009: 344)

Je näher sich Lehrer/in und Schüler/in also kommen, umso größer ist die Gefahr, dass ein mimetischer double bind entsteht und – bei zunehmendem Selbstbewusstsein des Schülers oder der Schülerin – in die problematischen Formen konfliktueller Mimesis bis hin zur Gegenspielermimesis eskaliert. Solche Phänomene lassen sich naturgemäß nicht selten in höheren Bildungsinstitutionen beobachten, wo die Möglichkeitssphären von Lehrenden und Lernenden sich immer mehr überschneiden. Dennoch scheint es für alle Lehrenden und Lernenden im Bildungskontext sinnvoll, sich dieser Gefahr bewusst zu sein. Und es stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, ob die mimetische Theorie hier nur Problemanzeiger ist oder auch Lösungswege nahelegen kann. Tatsächlich gibt Girard immer wieder Hinweise, wie die Eskalation von Rivalität und Konflikt verhindert oder gestoppt werden kann. Da der Kulturanthropologe selbst immer wieder mit literarischen Beispielen arbeitet, sei an dieser Stelle ebenfalls auf ein literarisches Beispiel verwiesen, das speziell das Lehrer-Schüler-Verhältnis in den Blick nimmt: In ihrem Roman über den islamischen Dichter und Mystiker Rumi und dessen Lehrer und Freund Schams-e Tabrizi arbeitet die türkisch-britische Schriftstellerin Elif Shafak ein wichtiges Unterscheidungskriterium zwischen guten und schlechten Lehrer/innen, Mentor/innen und Gurus heraus, wenn sie schreibt:

Zwischen Liebe und Verachtung »There are more fake gurus and false teachers in this world than the number of stars in the visible universe. Don’t confuse power-driven, self-centered people with true mentors. A genuine spiritual master will not direct your attention to himself or herself and will not expect absolute obedience or utter admiration from you, but instead will help you to appreciate and admire your inner self. True mentors are as transparent as glass. They let the Light of God pass through them.« (Shafak, 2011: 88)

Ein gutes Vorbild, eine gute Lehrerin bzw. ein guter Lehrer ist demnach ein Mensch, der seine Schüler/innen nicht in einer egozentrischen Weise von sich abhängig macht und deren Bewunderung als Bestätigung braucht, sondern einer, der fähig und demütig genug ist, nicht auf sich selbst, sondern über sich selbst hinauszuweisen; jemand, der/die durch eigene gute Vorbilder und »kreativen Verzicht« (vgl. Girard, 1999: 295-322; Palaver, 2003: 279-281) zumindest anfanghaft gelernt hat, sich frei zu machen von konflikthaftem mimetischem Begehren, und sich so »selbst als Hindernis beseitigt hat« (Girard & Chantre, 2014: 374). Dazu gehört eine gewisse »Selbstlosigkeit«, ein Sieg über die »Eigenliebe« im negativen Sinn 22, die Girard folgendermaßen beschreibt: »Die Eigenliebe besiegen heißt, sich von sich selbst zu entfernen und sich den anderen zu nähern; in einem anderen Sinn aber heißt es, sich sich selbst zu nähern und sich von den anderen zu entfernen. Eigenliebe vermeint, sich selbst zu wählen, doch verschließt sie sich sowohl sich selbst als dem anderen. Ein Sieg über die Eigenliebe ermöglicht es uns, tief in das Ich einzudringen und bietet uns in ein und derselben Regung die Einsicht in den Anderen. Auf einem gewissen Niveau der Innerlichkeit unterscheidet sich das Geheimnis des Anderen nicht vom eigenen Geheimnis.« (Girard, 1999: 305)

Ein Mensch, der diesen inneren Weg gegangen ist, ist – wie Shafak schreibt – »durchsichtig« geworden für das »Licht Gottes«, das in unserem Kontext als die liebevolle und bedingungslose Annahme des Schülers/der Schülerin gedeutet werden kann. Ein solch gutes Vorbild wird nach Girard angesichts der Tendenz zur Rivalität »die Möglichkeit des Zurückweichens und der Distanznahme«23, das heißt »kreativen Verzicht« lehren. Dadurch eröffnet er/sie die Möglichkeit zu einer positiven Form der Nachahmung, die sich der Ambivalenz der Mimesis bewusst ist und den »Übergang von der [gewaltverhafteten] Reziprozität zur Beziehung, von der negativen Ansteckung zu einer Form der positiven Ansteckung« (Girard & Chantre, 2014: 191) ermöglicht. 22 |  Mit Eigenliebe ist natürlich nicht Selbstliebe gemeint, sondern eine Form der Egozentrik, die überwunden werden muss, um zu wahrer Selbst- und Nächstenliebe zu gelangen. 23 |  Ob ein Mensch zu einer solchen Distanznahme fähig ist, hängt nach Girard wesentlich von den Vorbildern ab, denen ein Mensch folgt: »Wir sind in die Mimetik verstrickt. Manche hatten das Glück, in den Genuss guter Modelle, guter Vorbilder gekommen zu sein, und haben so gelernt, dass die Möglichkeit des Zurückweichens und der Distanznahme besteht; andere hatten das Pech, an schlechte Vorbilder geraten zu sein. Nicht wir verfügen über die Entscheidungsmacht. Die Vorbilder entscheiden an unserer Stelle. Das eigene Vorbild kann einen umbringen« Die Fähigkeit zur Distanznahme »setzt eine Erziehung voraus, die sich auf solide und transzendente Vorbilder gründet.« (Girard & Chantre, 2014: 177)

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4.2 Bullying in Schulklassen als Sündenbockphänomen Ein zweites Thema, das sich von der mimetischen Theorie her im Blick auf die Bildungsthematik nahelegt, ist das Thema Mobbing in Schulklassen (»Bullying«). Axel Bödefeld (2006) hat in seiner Dissertation mit dem Titel »… und du bist weg!« Bullying als Sündenbock-Phänomen analysiert und aufgearbeitet. Seiner Darstellung sei deshalb im Weiteren gefolgt. Basierend auf der Auseinandersetzung mit anderen pädagogischen und psychologischen Erklärungsmodellen fragt Bödefeld, welchen Mehrwert die mimetische Theorie für das Verständnis und die Bearbeitung von Bullying-Situationen in Klassen bieten kann und arbeitet folgende sechs Aspekte heraus, die im weiteren Verlauf nachgezeichnet werden sollen: Bullying als Ergebnis eines Prozesses, Ursache und Prävalenz von Bullying, Schulklassen ohne Bullying, Rollen und Prädikatoren, schul- und klassenbedingte Faktoren, Schweigen.24 Bullying als Ergebnis eines Prozesses. Der Erkenntniszugewinn durch die Mimetische Theorie beginnt bereits beim Blick auf die Entstehung von Bullying-Konstellationen. Während frühere Forschungsansätze vor allem auf Risikofaktoren einzelner Schüler/innen fokussiert waren, legt Bödefelds Untersuchung nahe, dass Bullying nicht selbst der grundlegende Konflikt ist, »sondern nur Symptom einer älteren und tief liegenden Irritation, die in und aus der Gruppe heraus entstanden ist, die gesamte Gruppe erfasst hat und gewaltförmig bewältigt wurde« (Bödefeld, 2006: 243). Der Schlüssel zu einem angemessenen Verständnis von Bullying ist deshalb im Blick auf Gruppenprozesse vor der manifesten Bullying-Konstellation zu finden.25 Diese wird somit als nicht individuell bedingt und auf bestimmte Variablen im Blick auf Bully oder Opfer rückführbar, sondern als »anthropologische Disposition des Verhaltens in Gruppen« verstanden: »Jenseits aller individuellen und sozialen Prädikatoren liegt der Ausgangspunkt der dramatischen Dynamik, in deren Verlauf sich Bullying-Konstellationen verfestigen, in der Zusammenführung mimetisch strukturierter Individuen zur verbindlichen Gruppe einer Schulklasse.« (Bödefeld, 2006: 244-45)

Als Sündenbockmechanismus hat Bullying die Funktion, »unvermeidliche Konflikte und Gewalt aus der Mitte der Gruppe herauszuschaffen und zu beseitigen« (ebd.: 245). Bödefeld entwirft dabei ein Szenario, in dem er Bullying in Schulklassen »als Erscheinungsform einer mimetischen Krise interpretiert« (ebd.: 223): »Eine Schulklasse ist, wie jede andere Gruppe von Menschen auch, eine Ansammlung von Individuen, die in sich die drängende Frage vorfinden, wer sie sind und was sie wollen. Die Antwort auf diese Frage suchen die Schüler im Blick aufeinander: Zumeist in der produktiven Nachahmung, aber auch im Gegenentwurf, probieren und erlernen sie eigene Handlungsvollzüge: Sie erschließen sich selbst und die Welt mit Hilfe der Mimesis. Dieser Weg ist erfolg24 |  Vgl. dazu auch neuere Literatur wie die Beiträge von Volk, Veenstra & Espelage (2017) sowie von Zych, Ortega-Ruiz & Del Rey (2015). 25 |  »Die Mimetische Theorie zeigt hingegen, dass bereits viele individuelle, bipolare und soziale Prozesse und Konflikte abgelaufen sind, bis es zum ausgeprägten Phänomen des Bullying kommt.« (Bödefeld, 2006: 243)

Zwischen Liebe und Verachtung reich, weil er viele Risiken aufgrund der Erfahrung anderer vermeiden und durch bewusste oder unbewusste Modifikationen bei der Nachahmung ständig Innovationen erzeugen kann. Dieser Weg ist zugleich gefährlich, weil er Individuation durch Imitation ersetzen und darüber hinaus Anlass für Rivalitäten sein kann. […] Eine Schulklasse zeigt sich also als eine Gruppe von Menschen, die sich in ihren Konflikten um begehrte Objekte [z.B. Aufmerksamkeit der Lehrkraft, Schulerfolg, eine besondere Position in der Klasse, Freundschaft eines Mitschülers, PSP] zugleich in Rivalität und tiefster Bewunderung gegenüberstehen. Diese extreme Spannung wird durch die reziproke Mimesis zusätzlich und ständig verschärft.« (Ebd.: 235, 237)

Wie in Abschnitt 2.2 schematisch vorgestellt, kann sich diese Konstellation zu einem »mimetischen Furor« – einem »alle gegen alle« – hochschaukeln, der an einem gewissen Punkt in eine Konstellation »alle gegen einen« umschlägt, was für alle außer dem einen, dem Opfer, eine wesentlich angenehmere Situation darstellt: »In einem die gesamte Klasse erfassenden Schneeballeffekt erkennen nach und nach alle Schüler ihren gefährlichen Rivalen in diesem einen Mitschüler: Er trägt die Verantwortung und die Schuld für alle Rivalität und für die daraus erwachsene konfliktuöse Situation in der Klasse: Er wird zum Sündenbock.« (Ebd.: 239)

Allerdings zielt das Bullying in der Folge nicht darauf ab, diesen Sündenbock auszustoßen und zu beseitigen, sondern vielmehr seine Außenseiterposition gegenüber der Klasse zu festigen und so dauerhaft einen »anderen« verfügbar zu haben, der gleichsam als »Blitzableiter« die Gruppe stabilisiert. Dabei ist die Einmütigkeit der restlichen Klasse unerlässlich, da jede Solidarisierung mit dem Opfer bzw. dessen Verteidigung die Eintracht der Gruppe (und damit die Wirkung des Sündenbocks) gefährdet: »Darum wird in der Klasse, ausgesprochen oder unausgesprochen, jedweder Kontakt mit dem Opfer verboten und mit der Bedrohung, selbst zum Opfer zu werden, sanktioniert. Die Einmütigkeit der Gruppe wächst auf Kosten der Isolation des Mitschülers: Niemand kommt ihm zu Hilfe.« (Ebd.: 241)

Diese Einmütigkeit begünstigt das Entstehen von Mythen über die Schuld des Bullying-Opfers, die eine solche Macht gewinnen können, dass nicht selten sogar das Opfer selbst diese übernimmt – allen voran die Behauptung, »der ausgegrenzte Schüler habe durch irgendeine Verhaltensweise oder Auffälligkeit selbst Schuld an seiner Situation« (ebd.: 241). Ursache und Prävalenz. Da es sich beim Sündenbockmechanismus um ein nicht-bewusstes anthropologisches Grundmuster handelt, liefert die Mimetische Theorie auch eine Begründung für die aus der empirischen Forschung folgende These, »dass Bullying in jeder Schulklasse vorkommt, wenn auch nicht zu jeder Zeit und in unterschiedlicher Intensität« (ebd.: 245) bzw. »dass Bullying als Regelfall im Sinne der natürlichen Ausgangsposition des menschlichen Verhaltens in Gruppen betrachtet werden kann« (ebd.). Bödefeld (ebd.) resümiert: »Die Mimetische Theorie kann also sowohl die Variablenunabhängigkeit wie die Ubiquität des Auftretens von Bullying begründen.«

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Schulklassen ohne Bullying. Dem widerspricht nicht, dass es Schulklassen gibt, in denen aktuell kein Bullying stattfindet bzw. sichtbar ist. Dafür gibt Bödefeld folgende fünf Erklärungsmöglichkeiten: 1.) Die Gruppe besteht erst seit kurzer Zeit, sodass die mimetischen Prozesse sich noch nicht konfliktiv hochgeschaukelt haben. 2.) Die Klasse spielt für die Schüler/innen keine so große Rolle, da sie anderweitig stärker mimetisch gebunden sind. 3.) In der Klasse gibt es ausreichend viele einflussreiche Schüler/innen, welche durch ihre Kenntnisse über mimetische Prozesse ein Entstehen der mimetischen Krise verhindern. 4.) Die Klasse hat bereits Sündenbock-Erfahrung und wurde durch externe Hilfe geschult, ein erneutes Auftreten zu verhindern. 5.) Bullying findet faktisch statt, wird aber so gut verborgen, dass es für Außenstehende nicht sichtbar ist. (Vgl. ebd.: 246) Rollen und Prädikatoren. Eine Deutung von Bullying im Kontext der Mimetischen Theorie führt konsequenter Weise auch zu einem neuen Verständnis der unterschiedlichen Rollen: Die Frage nach dem Bully verliert an Bedeutung, da die Gewalt eben nicht als individuell begründete, sondern als »gruppenevozierte Gewalt« verstanden wird, »der in der riskanten Situation einer mimetischen Krise grundsätzlich und unterschiedslos jeder verfallen kann, ohne dass dabei persönliche Voraussetzungen eine Rolle spielen« (ebd.: 247). Denn »beim SündenbockMechanismus wird die Gewalt nicht von Einzelnen in die Gruppe hineingetragen, sondern alle werden von der Gewalt, die in der Mitte der Gruppe entsteht und von dort herkommt, erfasst« (ebd.: 248). Das bedeutet freilich nicht, dass es nicht einzelne Schüler geben kann, welche eine erhöhte Gewaltbereitschaft an den Tag legen oder ein problematisches Verhalten zeigen und deshalb besondere Aufmerksamkeit benötigen. Allerdings reicht es vor dem Hintergrund eines mimetischen Verständnisses nicht, bei diesen einzelnen anzusetzen im Glauben, durch eine solche Intervention sei das Problem als Ganzes zu beseitigen. Im Blick auf das Opfer wird »die geringe Aussagekraft der empirischen Untersuchungen über Prädikatoren für die Opferrolle« (ebd.: 250) verständlich: »Es gibt nämlich tatsächlich keine Faktoren, die für die Rolle des Sündenbockes Voraussetzung sind oder dazu prädestinieren« (ebd.: 50). Die Wahl des Opfers erfolgt vollkommen zufällig, alles andere entpuppt sich nach Bödefeld als Mythos, den es zu entschleiern gilt, zumal das Opfer dadurch zusätzlich belastet wird, indem ihm zur erlittenen Ausgrenzung und Gewalt auch noch die Verantwortung für seine Situation zugeschrieben wird. Hinsichtlich der weiteren Rollen26 ergibt eine mimetische Sichtweise, dass es sich dabei nicht um grundsätzlich verschiedene Rollen handelt, sondern lediglich um ein durch verschiedene Faktoren der Persönlichkeit der Schüler/innen bedingtes, unterschiedlich starkes Ausmaß, durch das die Schüler/innen von der mimetischen Ansteckung betroffen sind. (Vgl. ebd.: 251-53) Letztlich ist jedoch aus Sicht der mimetischen Theorie zentral, dass es eine kollektive Verantwortung für das Bullying und im strengen Sinn keine Außenstehenden gibt, wobei jene, die um die Gefahren mimetischer Ansteckung wissen oder wissen könnten, eine größere Verantwortung trifft. Im Klassenkontext sind dies »die Lehrkräfte und alle, die an der Strukturierung und Gestaltung des Schullebens beteiligt sind« (ebd.: 255). 26 |  Gemäß dem Participant Role Approach von Salmivalli (1999) sind dies: Assistent, Verstärker und Verteidiger.

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Schul- und klassenbedingte Faktoren. Darüber hinaus gibt es schul- und klassenbedingte Faktoren, wie Objektknappheit (z.B. Freundschaft, Respekt, Bestätigung etc.), Rivalität und Entdifferenzierung (Reduzierung auf die Rolle des Schülers/der Schülerin), welche die Gefahr für Bullying erhöhen. (Vgl. ebd.: 255-258) Schweigen. Fatal ist schließlich die entstehende Schweigespirale bestehend aus Nicht-Bewusstheit mimetischer Prozesse, Ansteckungskraft der Gewalt, gruppeninternen Verboten, kollektiver Verstrickung und zunehmender Hoffnungslosigkeit des Opfers. (Vgl. ebd.: 258-259) Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus dem vorgelegten mimetischen Verständnis für den pädagogischen Umgang mit Bullying-Phänomenen? Als unmittelbare Maßnahmen legen sich nach Bödefeld Opferschutz im Sinne einer sofortigen Beendigung jeglicher gewaltsamen Übergriffe, instruktive Entlarvung und Sanktionierung aller neuen Gewalthandlungen, Individualisierung im Sinne einer Herauslösung der einzelnen Schüler/innen aus der mimetischen Masse und eine Neuorganisation des Gruppenlebens nahe. Im Blick auf den Opferschutz ist die unbedingte Solidarität aller Lehrkräfte mit dem Opfer, die auch in die Öffentlichkeit der Schulklasse hinein sichtbar wird, entscheidend, denn: »Jede Überlegung nach Mitschuld auf der Seite des ausgegrenzten Schülers hilft, die eigentliche Gewalt zu verschleiern. Sie führt nur zu vermeintlichen, weil verzerrten Erklärungen und zur Rücknahme des Engagements für Wahrheit und Gerechtigkeit.« (Ebd.: 264) Instruktive Entlarvung und Sanktionierung bedeutet, allen Schülerinnen und Schülern die verborgenen Kräfte von Mimesis und Rivalität und die sich daraus ergebenden Dynamiken aufzuzeigen, so einen Prozess des Verstehens anzustoßen und konsequent und nachdrücklich neue Übergriffe auf eine Weise zu sanktionieren, die sowohl die Würde des betroffenen Schülers/der Schülerin nicht verletzt als auch ein tieferes Verstehen der Prozesse ermöglicht bzw. zumindest nicht verhindert. Individualisierung als weitere Maßnahme zielt darauf, jedem einzelnen »Schüler deutlich zu machen, dass er an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Bullying-Konstellation beteiligt ist und Verantwortung trägt« (ebd.: 267) und die einzelnen Klassenmitglieder aufzufordern, Vorschläge zu machen, wie sie jeweils persönlich zur Beendigung des Bullying und zur Verbesserung der Situation des isolierten Mitschülers bzw. der Mitschülerin beitragen können. Die Neuorganisation des Gruppenlebens – beispielsweise durch regelmäßige, unsystematische Veränderung der Sitzordnung und verstärkte Integration von Partner- und Gruppenarbeiten sowie Projektarbeit in den Unterreicht – soll es schließlich ermöglichen, dass sich sowohl die Schüler/innen untereinander besser und von einer neuen Seite kennenlernen als auch, dass die Lehrpersonen verstärkt die Individualität ihrer Schüler/innen entdecken und fördern. Über diese unmittelbaren Maßnahmen hinaus benennt Bödefeld auch mittelbare Maßnahmen, die sich aus einem mimetischen Verständnis von Bullying als Sündenbockphänomen nahelegen: Eine erste Maßnahme liegt – wie soeben angedeutet – in der Wahrnehmung und Förderung der Individualität der einzelnen Schüler/innen, die einer mimetisch-konfliktiven Entdifferenzierung entgegenwirkt und es ermöglicht, die einzelnen als spezifische Persönlichkeiten mit entsprechenden Begabungen und Belastungen

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sowie einem inhärenten Wert und einer unverlierbaren Würde wahrzunehmen. (Vgl. ebd.: 217) Für die Bedeutung von Vorbildern zu sensibilisieren, ist eine zweite Maßnahme, welche sowohl durch die kritische Auseinandersetzung mit physisch oder medial präsenten Lebensentwürfen und Persönlichkeiten als auch durch das Zur-Verfügung-Stellen konstruktiver Vorbilder und Modelle im Schulkontext erfolgen kann. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Unterscheidung »zwischen blinder Nachahmung und innovativer Orientierung« (ebd.: 271). Eine weitere Maßnahme besteht darin, für die Sicherheit sozialer Umgangsregeln zu sorgen, was »ausreichende Rollenklarheit und -sicherheit auf der Seite der Lehrkraft« verlangt. Ein solch klarer, von gegenseitigem Respekt getragener und gewaltfreier Leitungsstil ermöglicht ein Lernklima, »das von Sicherheit und Vertrauen gekennzeichnet ist« und dadurch dazu beiträgt, »die von Angst getriebene Dynamik eines mimetischen Furors zu vermeiden«. (Ebd.: 271) Eine konstruktive Form der Leistungsbeurteilung, welche nicht durch eine Überbetonung des interindividuellen Maßstabs (sprich: des klasseninternen Vergleichs) Rivalitäten anstachelt, sondern dialogische Prozesse über den individuellen Lernfortschritt und Selbstreflexion anregt, verringert ebenso die Gefahr für Bullying. Die Förderung der Frustrationstoleranz und der Fähigkeit zu schöpferischem Verzicht erweisen sich als weitere entscheidende Faktoren, welche die Eskalation mimetischer Rivalität einzudämmen in der Lage sind. Da es sich um eine grundsätzlich für die Gegenwart essentielle Fähigkeit handelt, soll darauf im folgenden Abschnitt noch genauer eingegangen werden. Damit zusammenhängend nennt Bödefeld weiters Solidarität und Zivilcourage, wobei er die Schule in der Verpflichtung sieht, neue Wege der Werteerziehung zu beschreiten. Als vielversprechende Beispiele nennt er das Service Learning sowie die im Praxishandbuch Alltagshelden. Aktiv gegen Gewalt und Mobbing – Für mehr Zivilcourage (vgl. Zitzmann, 2010) präsentierten Zugänge. Last but not least haben sich alle diese Einzelmaßnahmen in einem in sich konsistenten Schulprofil zu verdichten, dem sich die Lehrer- wie die Schülerschaft verpflichtet weiß und das getragen ist von einer demokratischen Grundhaltung und einer Pädagogik der Menschenrechte.

4.3 Die Bedeutung von »Herzensbildung« in einer Welt globalisierten Begehrens In der heutigen Friedlosigkeit der Völker offenbart sich im Grunde der friedlose Zustand der einzelnen Herzen. Das bedeutet: nur von innen her kann die Friedlosigkeit der Welt überwunden werden. (Gertrud von Le Fort)

Dass es einer Art »innerer Transformation« bedarf, um der Ansteckung durch die mimetische Rivalität zu entgehen, ist an dieser Stelle mehrfach angeklungen. Bereits in seinem ersten Buch Figuren des Begehrens, aber noch viel eindringlicher in seinem letzten großen Werk Im Angesicht der Apokalypse hat René Girard auf die Bedeutung dieser Transformation – er spricht auch von Bekehrung – hingewiesen. Jenseits des vielleicht für die Ohren vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen reli-

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giös und moralistisch verstaubt klingenden Begriffs geht es dabei um das, was das zugrunde liegende griechische Wort aus dem Neuen Testament – metanoia – zum Ausdruck bringt: ein Sich-Umwenden, eine grundlegende Veränderung der Geisteshaltung. In Figuren des Begehrens beschreibt Girard dieses Geschehen im Blick auf die großen, von ihm analysierten Romanfiguren folgendermaßen:27 »Die großen romanesken Schöpfungen sind immer die Frucht einer überwundenen Faszination. Der Held des Romans erkennt sich im verabscheuten Rivalen: er entsagt den vom Haß suggerierten ›Unterschieden‹. Er erkennt auf seine eigenen Kosten das Vorhandensein des psychologischen Zirkels. […] Man muß ›vor allem seine liebsten Illusionen ablegen‹.« (Girard, 1999: 307)

Es handelt sich also um einen Ausstieg aus der ambivalenten Bindung an das Modell-Hindernis, um die durchaus unbequeme und anspruchsvolle Erkenntnis, dass der Rivale, der Sündenbock, das Bullying-Opfer, der/die scheinbar ganz andere in Wirklichkeit so ist wie ich und ich so wie er/sie und dass wir alle mimetisch von anderen abhängig sind, »denn jedermann lebt von Nachahmung, jedermann lebt vor dem Mittler kniend« (Girard, 1999: 305). Und was sind die Folgen dieser Erkenntnis und der damit zusammenhängenden metanoia? Girard beschreibt sie folgendermaßen: »Sämtliche Lebensentwürfe werden auf den Kopf gestellt, sämtliche Wirkungen des metaphysischen Begehrens werden durch gegenteilige Effekte ersetzt. Die Lüge macht der Wahrheit Platz, die Angst der Erinnerung, die Rastlosigkeit der Ruhe, der Haß der Liebe, die Demütigung der Demut, das Begehren gemäß dem Anderen dem Begehren gemäß dem Selbst, die fehlgeleitete Transzendenz der vertikalen Transzendenz.« (Girard, 1999: 301) 28

Diese metanoia erscheint heute umso wichtiger, ja im wahrsten Sinne des Wortes »Not-wendig« als wir in einer Zeit leben, in der die alten Sündenbockstrukturen nicht mehr in der Lage sind, den mimetischen Krisen Herr zu werden, weil der Sündenbockmechanismus – wie eingangs beschrieben – ein für alle Mal offengelegt wurde29, dadurch seine Wirkkraft immer mehr verliert und in der Folge auch 27 |  Girard geht davon aus, dass die großen romanesken Romane auf der Basis einer genuinen Bekehrung der entsprechenden Romanschriftsteller (konkret sind das: Cervantes, Flaubert, Stendhal, Proust und Dostojewski) mehr über die tatsächliche Verfasstheit des Menschen aussagen als manche philosophische Reflexion: dass sie nämlich eine tiefe Einsicht in das trianguläre Begehren vermitteln. Im Gegensatz dazu verschleiern romantische Werke dieses, sodass Girard im Originaltitel die romantische Lüge der romanesken Wahrheit gegenüberstellt (Mensonge romantique et vérité romanesque). 28 |  Unter »fehlgeleiteter Transzendenz« meint Girard die Quasi-Vergöttlichung des ModellRivalen in eskalierten mimetischen Konflikten, als vertikale Transzendenz beschreibt er die Ausrichtung des Begehrens auf die echte Transzendenz, d.h. letztlich auf Gott. 29 |  Das Verbrechen des Holocaust kann als ein Versuch der Nationalsozialisten verstanden werden, noch einmal eine soziale Krise mit Hilfe eines Sündenbocks – in diesem Falle vor allem des jüdischen Volkes – zu überwinden. Auch hier wurde alles Negative, alle Aggression einer Gesellschaft auf eine Gruppe von Menschen projiziert. Ähnliches geschieht vielfach dort, wo Völkermorde stattfinden.

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alle anderen, auf das Opfer zurückgehenden Ordnungen bröckeln, ja zusammenbrechen. (Vgl. Girard & Chantre, 2014: 190) Mit anderen Worten: Eine gewaltsame Kanalisierung und Bändigung von Begehren, Rivalität und Gewalt im großen Stil ist immer weniger möglich. Unter den Bedingungen des global village und vermittelt durch facebook, pinterest & Co, wo potenziell jede/r zum Modell-Rivalen für jede/n werden kann, kommt es so zu einer noch nie dagewesenen Entfesselung der Begehren. Diese bleibt nicht ohne Folgen, vielmehr tritt das ein, was sowohl in den Mythen als auch in biblischen Texten als apokalyptisches Szenario beschrieben wird, was jedoch gerade aufgrund seiner mythologisch anmutenden Vermischung von Umweltkatastrophen (Überschwemmungen, Seuchen etc.) und sozialen Katastrophen (Krieg und Gewalt) lange beiseitegeschoben und nicht ernst genommen wurde: »eine Gemengelage von Naturkatastrophen und hausgemachten Katastrophen, eine Vermischung von Natürlichem und Künstlichem«. Doch genau das können wir gegenwärtig beobachten: »Globale Erwärmung und Ansteigen des Meeresspiegels sind heute keine Metaphern mehr« (Girard & Chantre, 2014: 11). – Vielmehr handelt es sich um Szenarien, die angesichts von Klimawandel, Überflutungen und Dürren und dadurch hervorgerufener Migrationsbewegungen und entsprechender sozialer Spannungen durchaus realistisch sind und nach einem grundlegenden Wandel verlangen: nach einer »großen (gesellschaftlichen) Transformation« (vgl. WBGU, 2011), aber auch nach einer »inneren (persönlichen) Transformation« jedes und jeder einzelnen. Diese innere Transformation beschreibt Papst Franziskus in seiner Ökologieenzyklika Laudato Si´ als Folge einer Art der Herzensbildung, die zu einer neuen Haltung und zu einer neuen Qualität zwischenmenschlicher Begegnung führt und damit gleichzeitig auf die großen Herausforderungen unserer Zeit in den Bereichen Ökologie, internationale und intergenerationelle Gerechtigkeit antwortet: »Wir sprechen von einer Haltung des Herzens, das alles mit gelassener Aufmerksamkeit erlebt; das versteht, jemandem gegenüber ganz da zu sein, ohne schon an das zu denken, was danach kommt; das sich jedem Moment widmet wie einem göttlichen Geschenk, das voll und ganz erlebt werden muss. Jesus lehrte uns diese Haltung, als er uns einlud, die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels zu betrachten, oder als er in der Gegenwart eines unruhigen Mannes diesen ansah und ihn liebte (vgl. Mk 10,21). Ja, er war jedem Menschen und jedem Geschöpf gegenüber ganz da, und so zeigte er uns einen Weg, die krankhafte Ängstlichkeit zu überwinden, die uns oberflächlich, aggressiv und zu hemmungslosen Konsumenten werden lässt.« (LS 226)

Er nennt dies auch eine »Kultur der Achtsamkeit« (LS 231), die für eine ganzheitliche Ökologie unverzichtbar ist und »aus einfachen alltäglichen Gesten gemacht [ist], die die Logik der Gewalt, der Ausnutzung, des Egoismus durchbrechen«, während »die Welt des wütenden Konsums zugleich die Welt [ist], in der das Leben in all seinen Formen schlecht behandelt wird« (LS 230). Wie aber kommt man zu einer solchen Kultur der Achtsamkeit? Immer wieder sind wir bei Girard auf den Begriff des »kreativen Verzichts« als Schlüssel gestoßen und auch Papst Franziskus legt nahe, dass es einer gewissen, heilsamen Reduktion bedarf: Er spricht von einer »Genügsamkeit«, die – bewusst gelebt – befreiend wirkt, denn:

Zwischen Liebe und Verachtung »Sie bedeutet nicht weniger Leben, sie bedeutet nicht geringere Intensität, sondern ganz das Gegenteil. In Wirklichkeit kosten diejenigen jeden einzelnen Moment mehr aus und erleben ihn besser, die aufhören, auf der ständigen Suche nach dem, was sie nicht haben, hier und da und dort etwas aufzupicken: Sie sind es, die erfahren, was es bedeutet, jeden Menschen und jedes Ding zu würdigen, und die lernen, mit den einfachsten Dingen in Berührung zu kommen und sich daran zu freuen. So sind sie fähig, die unbefriedigten Bedürfnisse abzubauen, und reduzieren die Ermüdung und das versessene Streben. Man kann wenig benötigen und erfüllt leben, vor allem, wenn man fähig ist, das Gefallen an anderen Dingen zu entwickeln und in den geschwisterlichen Begegnungen, im Dienen, in der Entfaltung der eigenen Charismen, in Musik und Kunst, im Kontakt mit der Natur und im Gebet Erfüllung zu finden. Das Glück erfordert, dass wir verstehen, einige Bedürfnisse, die uns betäuben, einzuschränken, und so ansprechbar bleiben für die vielen Möglichkeiten, die das Leben bietet.« (LS 223)

Auf diese Weise lädt Franziskus zu einer Art der Herzensbildung ein, die sich einem »leeren Aktivismus« und einer »zügellosen Unersättlichkeit« (LS 237) widersetzt. Denn diese führen nur zu einer »tiefe[n] Unausgeglichenheit«, welche die Menschen »dazu bewegt, alles in Höchstgeschwindigkeit zu erledigen, um sich beschäftigt zu fühlen, in einer ständigen Hast, die sie wiederum dazu führt, alles um sich herum zu überfahren« (LS 225). Stattdessen gelte es, Räume und Zeiten der kontemplativen Ruhe zu schaffen, in der sich das Blickfeld weiten kann und wir erkennen können: »Alles ist miteinander verbunden.« (LS 240) Auf der Basis dieser Einsicht in die universale Verbundenheit kann »eine Spiritualität der globalen Solidarität heranreifen« (LS 240), die letztlich – dem würde wohl auch Girard zustimmen – der einzige Ausweg aus den Sackgassen mimetischer Rivalität darstellt.

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Kapitel IV Lieben(d) lernen

Die Ethologie der Kooperation Tit for Tat, Liebe, Geschenk und Gegengeschenk Gregor Kastl Dieser Beitrag möchte Grundlinien des Gebens und Nehmens, kooperativer Verhaltensweisen und Beispiele damit assoziierter physiologischer Konzepte vorstellen. Handlungen des Gebens und Nehmens unterliegen bestimmten Regeln, ja sogar Ritualen, und lassen Verbindlichkeiten und Verpflichtungen entstehen. Die in der Spieltheorie beschriebene Strategie Tit for Tat, was so viel bedeutet wie »wie du mir so ich dir«, zeichnet sich durch auf Gegenseitigkeit (Reziprozität) beruhendes Verhalten aus. Sie ist bei der initialen Begegnung mit einem Interaktionspartner freundlich, d.h. sie kooperiert. In den Folgebegegnungen imitiert sie das Verhalten der Spielpartnerin bzw. des Spielpartners in der jeweils vorangegangenen Begegnung. So wird kooperatives Verhalten gefördert und es können sich stabile Beziehungen bilden. Auch in der Biologie treten kooperative Strategien in Form von Symbiosen vielgestaltig auf. Beim Menschen und bei Säugetieren mediiert das Hormon Oxytocin den Geburtsvorgang und spielt eine wichtige Rolle im Hinblick auf soziale Beziehungen und kooperatives Verhalten. Bestimmte Verhaltensweisen, so auch kooperatives Verhalten, stellen sich oft als komplex dar und korrelieren nicht notwendigerweise zu neuronaler Aktivität in (nur) einer bestimmten anatomischen Gehirnregion. Als Beispiel für die Bahnung von Emotionen, die in sozialen Beziehungen, in der Liebe und bei Bildungsprozessen eine Rolle spielen, wird das limbische System als ein Teil des Gehirns vorgestellt. Die Begriffe Kooperation, Reziprozität, Vertrauen und Emotion sollen in diesem Beitrag im Sinne von Assoziationen zum Begriff Liebe verstanden werden. Dabei besteht nicht der Anspruch, den Begriff Liebe zu definieren. Vielmehr wollen die Überlegungen aus Spieltheorie, Humanethologie und Biologie illustrierend wirken und stellvertretend für Elemente reziproker und kooperativer Strategien stehen. Nach Martin Hähnel sieht der Philosoph Martin Buber Reziprozität als ein Element der Liebe, indem er ein symmetrisch oder reziprok zu denkendes Ich-Du-Verhältnis im Beziehungscharakter der Liebe konstruiert (vgl. Hähnel, 2015: 215). H. S. Becker stellt Reziprozität sogar als für das Menschwerden essenziell heraus: »Man becomes human in reciprocity.« (Becker, 1956: 94) Könnte nicht der Weg zur Menschwerdung und zur Liebe begleitet werden von einer Entwicklung, einem Bildungsprozess? Das Erlernen probater Strategien im Zusammenleben mit anderen, etwa kooperativer, auf Reziprozität beruhender Verhaltensweisen wie z.B. Tit for Tat, kann im Rahmen einer individuellen oder

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Gregor Kastl

kollektiven Subjektentwicklung geschehen, d.h. als Bildungsvorgang verstanden werden. Bildung als bewertetes und bewertendes Lernen ist ein offener Prozess freiheitlicher und selbstbewusster Aneignung lebensnotwendiger Kenntnisse, sprich: menschlicher Verhaltensmöglichkeiten mit einer besonderen Qualität informierter, kritischer Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbst (vgl. Meueler, zit.n. Lederer, 2011: 74).

1. G eben , N ehmen und B esit znorm Freunde laden uns zum Essen ein, wir genießen die Gastfreundschaft und bringen ein Geschenk mit, etwa eine Flasche Wein. Warum tun wir das ganz selbstverständlich, etwa in Verbindung mit einer baldigen Gegeneinladung? Marcel Mauss diskutiert die Frage, warum man Geschenke erwidert. Im Essai sur le don gibt er eine Erklärung: In Form der Gabe mischen sich Person und Sache, man gibt also beim Geben einen Teil von sich und rezipiert symbolhaft beim Nehmen einen Teil des Gebenden. Das Geben erfüllt also eine soziale Funktion und es besteht eine Pflicht des Gebens, des Annehmens und der Gegengabe. In modernen wie in archaischen Gesellschaften existieren bestimmte Regeln und Vorstellungen zum Geschenkeaustausch. Sie müssen nicht unbedingt schriftlich oder in anderer Form festgehalten sein. Der wichtigste dieser geistigen Mechanismen ist ganz offensichtlich jener, der uns dazu zwingt, das empfangene Geschenk zu erwidern (vgl. Mauss, 1990: 25). Es handelt sich also um ein Reaktionsmuster, welches typisch für das menschliche Verhalten ist. Die Verpflichtung zum Erwidern von Geschenken wurde von Indianerstämmen an der Nordwestküste Nordamerikas in aggressiver Weise auf die Spitze getrieben. Beim Potlatch, was so viel wie »ernähren« oder »verbrauchen« bedeutet, werden wertvolle Gegenstände wie etwa Kupferbleche in verschwenderischer Weise verschenkt oder sogar zerstört. Teures Tranöl wird ins Feuer geschüttet, um den eigenen Wohlstand zu demonstrieren. Das hat den Sinn, einem rivalisierenden Häuptling, der zugleich ein Verwandter, etwa Großvater, Schwager oder Schwiegersohn sein kann, den Rang abzulaufen und den eigenen sozialen Status zu erhöhen. Sich weigern, etwas zu geben, es versäumen, jemanden einzuladen, sowie es ablehnen, etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet, die Freundschaft und die Gemeinschaft zu verweigern. Bevor es jedoch zum Austausch von Geschenken kommen kann, muss eine anerkannte Besitznorm gelten. Hier liefert Gerhard Medicus angelehnt an Hans Kummer folgende Erklärung in einem fünfstufigen Modell (vgl. Medicus, zit.n. Schiefenhövel et al., 1993: 166-170): Jede Stufe repräsentiert einen neuen Entwicklungsschritt. Auf der ersten Stufe stehen Reptilien, wobei das Stärkere seinen Besitzanspruch auf Nahrung durch körperliche Überlegenheit geltend macht. Darüber stehen niedere Säugetiere und Vögel. Hier hat sich stammesgeschichtlich eine Rangordnung entwickelt. Der Ranghöhere hat Anspruch auf Besitz in Form von Nahrung. Auf der dritten Stufe finden sich Affen, hier gilt das Besitzrecht des zuerst Gekommenen, welches sich auf Nahrung, Territorien und teilweise auch Artgenossen, etwa zu Paarungszwecken, bezieht. In der Entwicklung darüber stehen Menschenaffen, die Besitz abgeben und unter erwachsenen Tieren betteln. Es findet Rückgabe von Besitz in Form von Nahrung und möglicherweise auch

Die Ethologie der Kooperation

Werkzeug statt. Auf fünfter Stufe befindet sich in dem Modell der Mensch. Besitzansprüche, beispielsweise auf Nahrung oder diverse Güter, werden auch in Abwesenheit des Besitzers respektiert.

2. D er K ul a -R ing der Trobriander In den 1920er Jahren stellte Marcel Mauss die These auf, dass Schenken in archaischen Gesellschaften die Aufgabe habe, mit Fremden einen sozialen Vertrag zu schließen. Es war kein Staat vorhanden, welcher den Frieden hätte sichern können. Geschenke übernahmen diese Funktion (vgl. Ridley, 1997: 169ff). Als eindrucksvolles Beispiel für ein System, welches politische Stabilität und Frieden schafft, gilt der Kula-Ring der Trobriand-Inseln, d’Entrecasteaux-Inseln und Marshall-BennetInseln. Malinowski (vgl. 1922: 81ff) beschrieb den Kula-Ring 1922 ausführlich: Auf den annähernd kreisförmig angeordneten Inseln östlich von Neuguinea findet zwischen den räumlich weit entfernten Stämmen ein Geschenkeaustausch statt. Im Uhrzeigersinn werden Halsketten aus rotem Perlmutt (soulava) ausgetauscht. In entgegengesetzter Richtung kreisen Armreifen aus weißen Muscheln (mwali). Magische Rituale und öffentliche Zeremonien begleiten den Tausch der Gegenstände. Auf jeder Insel und in jedem Dorf ist eine bestimmte Anzahl von Männern dafür zuständig, am Kula teilzunehmen. Sie empfangen die Kula-Gegenstände, behalten sie eine gewisse Zeit und geben sie dann weiter. Sowohl für die teilnehmenden Männer als auch für die Tauschgegenstände gilt die Regel »einmal im Kula – immer im Kula«. Daraus entstehen lebenslange Partnerschaften und Freundschaften zwischen den Beteiligten, die durch mehrere hundert Meilen Wasserweg voneinander getrennt leben. Sie kennen sich, tauschen Dinge aus und begegnen sich bei Treffen, welche zwischen den Stämmen stattfinden (vgl. Malinowski, 1922: 92). Dabei ist festzuhalten, dass die Kula-Partner die Gegenstände zwar eine Zeit lang besitzen (höchstens zwei Jahre), aber kein Eigentumsbewusstsein entwickeln. Vielmehr sehen sie sich als Bewahrer von Leihgaben auf Zeit. Es besteht dabei eine strikte Reziprozität, d.h. ein Armreif wird gegen eine Halskette gleichen Wertes getauscht. Sollte dies nicht der Fall sein, entsteht Zwist (vgl. Malinowski, 1922: 96). Begleitend werden Gegenstände des Alltags getauscht, welche nicht im großen Kreis zirkulieren. Man treibt gewöhnlichen Handel. Die Geschenkübergabe findet mit betonter Bescheidenheit statt. Begleitend werden Zaubersprüche vorgetragen und man schwört Feindseligkeiten und Krieg ab. Auch werden Lieder, Kunst, Bräuche und kulturelle Einflüsse auf der Kula-Route weitergegeben (vgl. Malinowski, 1922: 92). Einerseits ist der Kula-Ring ein Stimulus, größere Strecken zu segeln und Handel zu treiben. In diesem Zusammenhang wird die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie Flintsteinen, Steinbeilen und Tontöpfen sichergestellt (W. Schiefenhövel, mündl. Mitteilung). Andererseits, und das macht das Besondere am Kula aus, enthält er ein Moment, welches auf diplomatische Verständigung und politische Stabilität abzielt. So wird eine beträchtliche Zahl von Stämmen durch die Tauschrituale miteinander verbunden. Malinowski (vgl. 1922: 83) vertritt die Ansicht, dass die Eingeborenen keine klare Vorstellung davon hätten, wie groß das Kula-System ist und welche soziale Funktion und soziologische Tragweite es hat. Jedoch existiert der Kula-Ring nicht mehr in der Weise, wie ihn Malinowski beschrieb. Ingrid Bell-Krannhals (vgl. 1990: 184) berichtet, dass die Tawema auf der

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Insel Kaile’una seit zwei Generationen keine Kula-Partner mehr sind. Sie besitzen keine Kula-Kanus und Kula-Gegenstände mehr. Auf ihrer Insel sind lediglich noch zwei Männer aus dem Dorf Kaduwaga im Kula aktiv.

3. Tit for Tat In der Spieltheorie findet sich ein viel diskutiertes Problem: das Gefangenendilemma. Es besteht in folgender Konstruktion: Zwei Gefangenen wird ein gemeinschaftlich begangenes Verbrechen vorgeworfen. Die Höchststrafe betrage fünf Jahre. Schweigen beide, reichen Indizienbeweise lediglich für eine Verurteilung beider zu je zwei Jahren aus. Gestehen jedoch beide, so erwartet sie eine Strafe von je vier Jahren. Man bietet nun jedem Gefangenen an, sein Schweigen zu brechen, den anderen zu belasten und dafür straffrei auszugehen. Dabei dürfen sich die Gefangenen nicht absprechen. Somit ergibt sich für beide ein Dilemma: Entweder schweigen beide (Kooperation) und erhalten die zweijährige Strafe. Oder der eine hofft darauf, dass der andere schweigt, und verrät diesen (Defektion). Dabei geht er das Risiko ein, dass der andere in derselben Absicht handelt. Beide müssten dann als überführte, jedoch nicht geständige Täter die Höchststrafe von fünf Jahren absitzen. Abstrahiert man die Situation und wiederholt das Experiment mehrfach, so spricht man von einem iterierten Gefangenendilemma: Es entsteht ein Schatten der Zukunft. Man ist also gezwungen, sich längere Zeit mit dem Gegenüber auseinanderzusetzen und hat nicht die Möglichkeit, dem anderen, nachdem man ihn etwa verraten hat, aus dem Weg zu gehen. Man muss also mit Konsequenzen rechnen. Tit for Tat ist hier ein brauchbarer Lösungsansatz. Es bedeutet so viel wie »wie du mir, so ich dir«. In den 1960er Jahren griff Anatol Rapoport an der Universität Toronto das Tit-for-Tat-Prinzip auf. Es hat folgende Eigenschaften: Es ist freundlich, d.h. es erfolgt Kooperation beim ersten Spielzug und in allen folgenden Spielzügen imitiert es das, was der andere Spieler im vorangegangenen Spielzug getan hat. Tit for Tat ist eine Strategie, die auf Reziprozität fußt. Kooperation muss auf Gegenseitigkeit beruhen und es muss ein ausreichend großer Schatten der Zukunft existieren, d.h. die Bedeutung der nächsten Interaktion der Spielpartner muss gewichtig genug sein. Dadurch erfolgt die Stabilisierung der Gegenseitigkeit. Hat sich nun Kooperation auf der Basis von Reziprozität in einer Population etabliert, dann ist sie auch vor Invasion durch ausbeutende Strategien geschützt. Dabei erlaubt die Evolution auch Individuen, deren Entscheidungen nicht rational sind, erfolgreiche reziproke Strategien zu entwickeln. Die Teilnehmer müssen keine Nachrichten austauschen und benötigen keine bindenden Verträge. Ein Überwachungsorgan wie etwa in einem Staat die Exekutive, wird obsolet, da sich Reziprozität selbst überwacht. Altruismus ist nicht Bestandteil der Strategie, weil auch unter Egoisten eine Strategie der gegenseitigen Kooperation zum Erfolg führen wird. Die Robustheit und der Erfolg von Tit for Tat basiert darauf, dass es freundlich, provozierbar, nachsichtig und verständlich ist (vgl. Axelrod, 1987: 156ff). Gewiss gibt es viele Elemente und Facetten eines iterierten Gefangenendilemmas im Zusammenleben mit anderen Menschen, d.h. im »echten Leben«. Doch es sind oft mehr als zwei Interaktionspartner im Spiel und die Situation ist kompliziert. Emotionen und viele andere Faktoren kommen hinzu. Tit for Tat ist folglich mehr als Modell als im Sinne einer Universalstrategie zu verstehen.

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4. K ooper ation beim M enschen Ein wichtiger Moment bei der Lösung spieltheoretischer Modelle ist die Bildung eines Gleichgewichts. Ein solches Gleichgewicht tritt ein, wenn die Kombination der Strategieentscheidungen derart aussieht, dass ein Abweichen davon den einzelnen Spieler schlechter oder maximal gleich gut stellt. Als Folge hat kein Spieler Interesse, von dem erreichten Gleichgewicht abzuweichen (vgl. Mueller, 1990: 1). So stellt sich etwa für Erdbeerfarmer die Frage, wie hoch ihre Erntemenge sein soll, um den Gewinn zu maximieren. Diese Frage stellt sich für alle beteiligten Konkurrenten. Je mehr sie ernten, desto niedriger wird der Preis. Erntet man aber wenig, kann der Konkurrent mehr verkaufen. So entsteht durch Angebot, Nachfrage und die Einschätzung des Verhaltens des Konkurrenten ein Gleichgewicht. Nach dem Mathematiker John Forbes Nash wird es auch Nash-Gleichgewicht genannt (vgl. Holler & Illing, 2006: 59). Allerdings kann durch Absprachen unter Konkurrenten auch unzulässige Kooperation entstehen, etwa im Sinne einer Kartellbildung. Ein weiteres Beispiel für menschliche Kooperation stammt aus einer Situation im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges: Ein britischer Stabsoffizier berichtet von einem erstaunlichen Ausmaß an Kooperation zwischen verfeindeten Truppen. Gegenüberliegende deutsche Soldaten würden sich in Schussweite der britischen Soldaten frei bewegen und die Briten schienen davon keine Notiz zu nehmen. Der Offizier setzte sich daraufhin zum Ziel, die »paradoxen« Handlungsweisen zu beenden (vgl. Dugdale, zit.n. Axelrod, 1987: 67). Dieses Verhalten war jedoch keine Ausnahme. Ein ›Leben und leben lassen‹ kam im Stellungskrieg häufig vor. Analog zu den Spielern betrachtet man die verfeindeten Frontlinien. Schießen mit Tötungsabsicht bedeutet nach Axelrod, zu defektieren. Kooperation hingegen bedeutet Schießen, wobei Verletzungen explizit vermieden werden. Größere Verbände lagen sich längere Zeit gegenüber. Das bedeutet, dass bestimmte, etwa aggressive Verhaltensweisen der einen Seite Konsequenzen durch die Gegenseite nach sich ziehen konnten. Es entstand also ein Schatten der Zukunft (vgl. Axelrod, 1987: 53). Dadurch ergab sich die Situation eines iterierten Gefangenendilemmas. Es ist anzunehmen, dass der Mensch Kooperation und Fairness über Millionen Jahre in kleinen Gruppen entwickelt hat. Dazu passend haben sich nach Sigmund Emotionen entwickelt, die ein Verhalten fördern, das der Gruppe und somit auf lange Sicht auch dem Einzelnen Vorteile bringt (vgl. Sigmund, 2002: 54).

5. K ooper ation in der B iologie Eine prominente Form der Kooperation ist die Symbiose, genauer Eusymbiose, etwa Pilze und Algen, welche Flechten bilden. Oder Feigenbäume und Feigenwespen, wobei Feigenwespen Schutz und Nahrung in den Blüten finden, andererseits die einzige Möglichkeit zur Bestäubung für den Baum darstellen. Der Erfolg beruht auf Gegenseitigkeit. Für das langfristige Bestehen von Kooperation ist es förderlich, wenn sich die Interaktionspartner in Zukunft erneut begegnen. Dabei ist vorauszusetzen, dass sich die Individuen erkennen und sich an Aspekte der früheren Interaktionen erinnern können. Diese Konstellation würde den Boden für ein iteriertes Gefangenendilemma darstellen. Ist dagegen die Zahl der Interaktionen begrenzt, so kann

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gegebenenfalls die letzte Interaktion Anlass zu unkooperativem Handeln sein. Defektion kann sich hier behaupten, weil kein Schatten der Zukunft mehr existiert und man mögliche negative Konsequenzen in der Zukunft nicht befürchten muss. Defektion zahlt sich somit beim letzten Zusammentreffen der Individuen aus. Hoch entwickelte neurale Systeme, wie man sie beim Menschen und bei Menschenaffen antrifft, erweitern die spieltheoretischen Möglichkeiten. Folgende Eigenschaften spielen dabei eine wichtige Rolle: ein leistungsfähiges Gedächtnis, aufwendige Informationsverarbeitung, die Fähigkeit zum Abschätzen von Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Interaktionen mit bestimmten Individuen und die Fähigkeit, Individuen zuverlässig wiedererkennen zu können. Menschen können sich gegenseitig an ihren Gesichtszügen wiedererkennen. Fällt diese Fähigkeit aus, spricht man von Prosopagnosie. Diese Störung korreliert mit Läsionen an den Unterseiten der Okzipitallappen des Gehirns, fortschreitend bis zur inneren Oberfläche der Schläfenlappen. Daraus schloss Geschwind (vgl. 1979: 162), dass die Fähigkeit zum Wiedererkennen einen beträchtlichen Aufwand für das Gehirn darstellt und deren Entwicklung unter starkem Selektionsdruck stattgefunden haben muss. In Anbetracht der sozialen Bedeutung des Wiedererkennens sieht er diesen neurobiologischen Aufwand jedoch durchaus gerechtfertigt. Das Problem des Wiedererkennens wird von Krustentieren und kleineren Fischen folgendermaßen gelöst: Sie treffen einen größeren Fisch, welchen sie von Parasiten (zum Teil auch an der Innenseite des Mauls) befreien, immer am gleichen Ort im Riff. So wird die Gefahr der Verwechslung minimiert und es entsteht ein Schatten der Zukunft. Dabei kann der gesäuberte Fisch durchaus ein potenzieller Feind des Putzer-Fischs sein (vgl. Trivers, 1971: 39f). Erwähnenswert ist eine Symbiose, die aus einer Rispengrasart (Dichanthelium lanuginosum), einem Schimmelpilz (Curvularia protuberata) und einem Virus (Curvularia thermal tolerance virus) besteht. Sie wurde in der Nähe von heißen Quellen entdeckt, wo die Bodentemperatur annähernd 70 °C beträgt. Das Gras allein, wie auch der Pilz allein kann bei der Hitze nicht fortbestehen. Nur durch die Symbiose, und zwar zusätzlich mit dem Virus, das den Pilz befällt, entsteht die Hitzebeständigkeit (vgl. Márquez et al., 2007: 513). Dieses Beispiel zeigt, dass Kooperation in biologischen Systemen auch mit mehr als zwei Partnern möglich ist und Spezies unterschiedlichster Art, ja sogar Viren, daran beteiligt sein können. Sollte es für Mikroben unattraktiv werden, mit ihrem Wirtsorganismus in einer Symbiose zu leben, weil dieser etwa eine geringe Lebenserwartung hat, so können sie zu Parasiten werden. Bakterien der physiologischen Keimflora können sich in einem Wirt mit Darmperforation oder einer gefährlichen Verletzung aggressiv und ausstreuend vermehren und damit zu einer Sepsis führen. Da der Wirt in so einem Fall eine verringerte Lebenserwartung aufweist, besteht für die Bakterien in ihrer parasitär-invasiven Form eine bessere Möglichkeit, sich zu vermehren und eventuell auf neue Wirte überzugehen. Dabei werden bevorzugt Formen gebildet, die zu Infektion und Ausstreuung fähig sind. Analog dazu verhalten sich Organismen der physiologischen Hautflora, etwa der Hefepilz Candida albicans. Sie können besonders bei immungeschwächten, kranken und alten Menschen gefährlich werden (vgl. Savage, 1977: 298-299).

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6. E in H ormon , das soziale und physiologische V orgänge mediiert : O x y tocin Bei der Geburt, im Sexualverhalten, bei der Bildung von Vertrauen und in vielen Facetten des Sozialverhaltens spielt das Hormon Oxytocin eine wichtige Rolle. Es soll im Folgenden genauer vorgestellt werden: Oxytocin wird im Hypothalamus gebildet, zur Neurohypophyse (Teil der Hirnanhangsdrüse) transportiert und gelangt von dort als Peptidhormon in den Blutkreislauf. Eine wesentliche Funktion nimmt das Hormon Oxytocin bei seiner Wirkung auf die Uterusmuskulatur ein. Die Kontraktionskraft der Gebärmutter wird gesteigert und die Frequenz der Kontraktionen nimmt zu. Durch Estrogene wird die Ansprechbarkeit des Uterus auf Oxytocin gesteigert, durch Gestagene dagegen vermindert. Somit ist der Uterus während der Schwangerschaft für Oxytocin unempfindlich. Ebenfalls wirkt Oxytocin an der Brustdrüse. Hier werden Kontraktionen ausgelöst, welche zur Milchejektion führen. Bei Oxytocinmangel unterbleibt das Ausschießen der Milch. Durch die Wirkung von Oxytocin wird die Spermatozoenaszension im weiblichen Genitaltrakt begünstigt (vgl. Kunz et al., 2007: 32). Oxytocin wird als Medikament zur Weheninduktion bzw. Wehenverstärkung, Verkürzung der Nachgeburtsperiode, Behandlung von Plazentalösungsstörungen und Uterusatonie angewandt (vgl. Stauber & Weyerstahl, 2007: 677). Die Applikation erfolgt als Nasenspray oder intravenös. Das Hormon mediiert Sexualverhalten und Bindungsphänomene: Uteruskontraktionen entstehen sowohl bei der Geburt als auch während des weiblichen Orgasmus. Hieraus werden bindungsstiftende Elemente der Mutter-Kind-Beziehung und der Beziehung zwischen Frau und Mann abgeleitet. Die zentrale neuroendokrine Bedeutung könnte sich erst in jüngerer Zeit entwickelt haben, um selektiv die Bedeutung sozialer Bindungen zu fördern (vgl. Insel, 1992: 4). Oxytocin hat auch Einfluss auf gastrointestinale und kardiovaskuläre Vorgänge, ebenso sind angstlösende, sedierende und schmerzstillende Wirkungen bekannt (vgl. Uvnäs-Moberg et al., 2005: 61). Oxytocin in Gehirn oder Nervengewebe wirkt als Neuropeptid, dabei werden angstlösende und bindungsstiftende Wirkungen in der Amygdala (Mandelkern) verortet. Oxytocin kommt nur bei Säugern vor. Tiere, welche eine Defizienz im Oxytocin-Gen aufweisen, sind nicht in der Lage, andere Individuen wiederzuerkennen. Dieser Effekt kann durch Applikation von Oxytocin in die Amygdala ausgeglichen werden. Stressniveau und Ängstlichkeit sinken hierauf (vgl. ebd.). Wird Oxytocin fünfmal täglich gespritzt, so können bis zu drei Wochen lang folgende Wirkungen beobachtet werden: Senkung des Blutdrucks, angstlösende Effekte, Sinken von Corticosteronspiegeln im Plasma und Erhöhung von Schmerzgrenzen. Auch Lerndefizite als Folge erhöhter Stresspegel können verbessert werden und im Tiermodell werden sogar antidepressive Eigenschaften genannt (vgl. ebd.).

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7. O x y tocin und V ertr auen Vertrauen spielt eine Schlüsselrolle in allen Bereichen der Gesellschaft. Aus Liebe, Freundschaft, Ökonomie und Politik ist Vertrauen nicht wegzudenken. Doch der Begriff Vertrauen verlangt nach Fassbarkeit. Ernst Fehr stellt einen verhaltenswissenschaftlichen Ansatz nach Coleman vor (vgl. Fehr, 2009: 2). Vertrauen ist danach eng verwoben mit Grundhaltungen wie Vorlieben und Überzeugungen. Neurobiologische, genetische und verhaltenswissenschaftliche Gründe sprechen dafür, dass Vertrauen nicht allein an Annahmen über die Vertrauenswürdigkeit oder Risikobereitschaft anderer festgemacht werden kann. Vielmehr spielen soziale Präferenzen eine wichtige Rolle. Die Abneigung gegen Vertrauensbrüche hemmt vertrauensvolles Verhalten (vgl. Fehr, 2009: 2). Kosfeld, Heinrichs, Zak, Fischbacher & Fehr (vgl. 2005: 673ff) wiesen nach, dass Oxytocin bei der Bildung von Vertrauen beteiligt ist. In ihren Versuchen gibt ein Investor einen Geldbetrag an einen Treuhänder. Der Betrag wird vom Spielleiter verdreifacht und dem Treuhänder übergeben. Dieser zahlt nun eine bestimmte Summe, deren Höhe er willkürlich bestimmt, an den Investor zurück. Dabei hat der Treuhänder auch die Möglichkeit, gar nichts an den Investor auszuzahlen. Er hat auch keinen Schatten der Zukunft zu befürchten, da die Interaktion der Spieler in diesem Versuchsauf bau auf ein einziges Mal beschränkt ist. Folglich befindet sich der Investor in einem Dilemma. Je höher die Investition, desto höher der mögliche Gewinn. Gleichzeitig besteht das Risiko, auf einmal alles zu verlieren. Eine Oxytocingruppe (nasale Oxytocinapplikation) wurde mit einer Placebogruppe verglichen. In der Oxytocingruppe investierten 21 % der 29 Investoren Beträge von unter 8 monetären Einheiten (Monetary Units – MU) von möglichen 12 MU, während in der Vergleichsgruppe 45 % der Teilnehmer Investitionen unter 8 MU tätigten. 45 % der Oxytocingruppe zeigten maximale Vertrauensniveaus, während lediglich 21 % der Placebogruppe diese Maxima erreichten. Damit konnte ein signifikanter Zusammenhang von Oxytocingabe mit gesteigertem Vertrauen gezeigt werden. Oxytocin fördert auch menschliche Kooperation. Dies gilt aber nicht uneingeschränkt. Declerck, Boone & Kiyonari (vgl. 2010: 369ff) untersuchten dies anhand zweier Versuchsanordnungen. Zum einen wurde das Gefangenendilemma (Prisoner’s Dilemma, s.o.) betrachtet, zum anderen ein sog. Koordinationsspiel (Coordination Game), welches wie folgt funktioniert: Zwei Jäger planen, gemeinsam auf Hirschjagd zu gehen. Dies stellt mehr Erfolg in Aussicht, als einzeln auf die Jagd nach Hasen zu gehen. Die Jäger sind dabei auf gegenseitiges Vertrauen angewiesen. Wenn der eine nun trotz Übereinkunft zur gemeinsamen Hirschjagd allein auf Hasenjagd geht, wird der andere als einzelner bei der Hirschjagd leer ausgehen. Im Unterschied zum Gefangenendilemma ist es im Koordinationsspiel nützlich, zu kooperieren, wenn man vom Gegenspieler Kooperation annimmt. Im Gefangenendilemma würde man bei Kooperation des Partners am besten fahren, wenn man defektierte. Somit ergeben sich, mathematisch gesprochen, im Koordinationsspiel zwei Nash-Gleichgewichte. Anders ausgedrückt: Kooperieren beide Spieler, so ist dies ein gutes Ergebnis. Defektieren beide, so ist dies auch noch ein durchaus akzeptables Ergebnis. Die beiden Versuchsanordnungen wurden nun unter Gabe von Oxytocin bzw. Placebo durchgespielt. Ein weiterer Parameter wurde dabei betrachtet: Kennen sich die interagierenden Spieler bereits oder sind sie sich noch nie

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begegnet? Die Gabe von Oxytocin verändert nur im Koordinationsspiel die Kooperation signifikant. Dies gilt lediglich für Spielerpaare, welche sich schon vor dem Spiel kannten. Kannten sich die Spieler im Koordinationsspiel zuvor noch nicht, war kooperatives Verhalten in der Oxytocingruppe seltener zu beobachten als in der Placebogruppe. Das Forscherteam um Declerck vermutet, dass Oxytocin nicht nur kooperatives Sozialverhalten erleichtert, sondern auch das Bewusstsein über die Beschaffenheit der Interaktion schärft. Fehlt es dagegen an Information über den sozialen Bezug der Spielpartner zueinander, z.B. wenn sie sich nicht kennen, so steigert Oxytocin signifikant Abneigung und vorsichtiges Verhalten (vgl. Declerck et al., 2010: 373). So bemerken auch Zak, Kurzban & Matzner (vgl. 2005: 526), dass der Oxytocinspiegel mit der Art zusammenhängt, wie die Probanden kommunizieren. Es macht einen Unterschied, ob sie sich von Angesicht zu Angesicht sehen, oder ob die Interaktionen zu spieltheoretischen Versuchen anonym geschehen.

8. D as limbische S ystem und O x y tocin Als ein entwicklungsgeschichtlich älterer Teil des Gehirns spielt das limbische System in der Verarbeitung von emotionalen Inhalten eine wichtige Rolle. Es bildet ein anatomisch einheitliches System und stellt gleichzeitig ein physiologisches Konzept dar. Dabei versorgt es phylogenetisch neuere Anteile des Gehirns mit Informationen und ist an der Steuerung komplexer Verhaltensweisen beteiligt. Viele neurale Systeme arbeiten hier im Sinne eines Netzwerks zusammen, überschneiden sich und tragen zur Bildung emotionaler und motivationaler Verhaltensweisen bei. Strukturen des limbischen Systems sind in Prozesse des Lernens involviert und spielen für das Gedächtnis eine Rolle. Zum limbischen System zählt man folgende Strukturen: präfrontaler Cortex, Gyrus cinguli, Amygdala, limbischer Thalamus, Hippocampus, Nucleus accumbens, vorderer Hypothalamus, Area tegmentalis ventralis und die Raphekerne des Mittelhirns (vgl. Morgane et al., 2005: 143). Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI) untersuchten Rilling, Gutman, Zeh, Pagnoni, Berns & Kilts (vgl. 2002: 395ff) weibliche Probanden, welche mithilfe eines Computerprogramms die Situation iterierter Gefangenendilemmata durchliefen. Besondere Aktivität konnte dabei im anteroventralen Striatum, dem rostralen anterioren Gyrus cinguli und dem orbitofrontalen Cortex beobachtet werden. Rilling et al. (vgl. 2002: 403) sehen hier eine Verknüpfung zu kooperativem Verhalten einschließlich reziprokem Altruismus, die möglicherweise mit dem Anregen von Belohnungssystemen oder aber mit der Inhibition egoistischer Verhaltensweisen einhergehen. Präriewühlmäuse (Microtus ochrogaster) führen monogame Beziehungen. Dabei scheint Oxytocin ausschlaggebend für den Bezug sozialer Signale zu ventromedialen Belohnungskreisen zu sein. Im Labor beobachtete man, dass die Wahl eines bestimmten Partners durch vorher stattgefundene Paarung begünstigt werden kann. Hat keine Paarung stattgefunden, kann ein ähnliches Ergebnis durch zentrale Applikation von Oxytocin und ADH (Antidiuretisches Hormon, ein dem Oxytocin strukturell verwandtes Peptidhormon) erreicht werden. Es verwundert daher nicht, dass bei Präriewühlmäusen im Nucleus accumbens eine hohe Dichte an Oxytocinrezeptoren vorhanden ist. Oxytocin gilt auch hier als partnerbinden-

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des Hormon. Dagegen können diese hohen Oxytocinrezeptor-Dichten im Nucleus accumbens bei den polygynen Bergwühlmäusen (Microtus montanus) nicht nachgewiesen werden (vgl. Lim et al., 2004: 63f). Applikation von Oxytocin führt zu einer verringerten Aktivität in der Amygdala, einem Kerngebiet im limbischen System, das mit der Bahnung von Angst assoziiert ist. Dabei projizieren Oxytocin produzierende Zellen im Hypothalamus auf hemmende Interneurone (Neurotransmitter: GABA = γ-Aminobuttersäure) in der zentralen Amygdala. So wird der Output aus der Amygdala zum Hirnstamm gebremst, wodurch angstassoziiertes Verhalten wie etwa Frieren verringert werden kann (vgl. Fineberg & Ross, 2017: 21). Ebenso führt Oxytocin zur Anpassung von Verhaltensweisen in Situationen mit unbekanntem Ausgang, d.h. die Bereitschaft, Risiken einzugehen, steigt. Dabei ist der Nucleus caudatus beteiligt. Diese Erkenntnisse könnten zu einem besseren Verständnis von psychischen Störungen wie sozialer Phobie oder Autismus beitragen. Soziale Phobie stellt die dritthäufigste geistige Störung dar und ist mit sozialen Defiziten assoziiert. Persistierende Angst und das Vermeiden sozialer Interaktionen sind dabei kennzeichnend (vgl. Baumgartner, 2008: 646).

9. A utismus Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die durch beeinträchtigte soziale Interaktion und Kommunikation und durch restriktive und repetitive Verhaltensmuster charakterisiert ist (vgl. American Psychiatric Association, 2013). Wenn man von Erkrankungen aus dem Formenkreis des Autismus spricht, werden heute meist Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) genannt. Dazu gehören der frühkindliche Autismus (Kanner-Syndrom), welcher sich definitionsgemäß vor dem dritten Lebensjahr manifestiert und das Asperger-Syndrom. Letzteres tritt spätestens im Vorschulalter auf und beinhaltet im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus keine Minderung der allgemeinen Intelligenz. Als Oberbegriff wird die Bezeichnung tief greifende Entwicklungsstörungen verwendet. Darin enthalten ist auch das Rett-Syndrom (vgl. Dodd, 2007: 6ff). Modahl, Green, Fein, Morris, Waterhouse, Feinstein & Harriet (vgl. 1998: 272f) wiesen bei einer Gruppe von sechs- bis elfjährigen männlichen Autisten nach, dass ihr Oxytocinspiegel im Plasma signifikant niedriger war als bei einer Vergleichsgruppe. Waterhouse, Fein & Modahl (vgl. 1996: 464) machten eine Dysregulation im Oxytocinhaushalt von Autisten verantwortlich für deren verringertes Interesse an Menschen in ihrer Umgebung und vermindertes Verlangen, soziale Bindungen einzugehen. Ob repetitive Verhaltensweisen als zentrales Element des Autismus durch die Gabe von Oxytocin verändert werden können, untersuchten Hollander, Novotny, Hanratty, Yaffe, DeCaria, Aronowitz, Bonnie & Mosovich (vgl. 2003: 196). Das Ergebnis war eine Abnahme repetitiver Handlungsweisen in Schweregrad und Häufigkeit. Hollander, Bartz, Chaplin, Philipps, Sumner, Soorya, Anagnostou, & Wasserman (vgl. 2006: 500) spielten erwachsenen Autisten verschiedene Sätze vor, die in unterschiedlicher emotionaler Intonation vorgelesen und aufgenommen worden waren. Es handelte sich um Sätze mit neutralem Inhalt, etwa »Der Junge ging zum

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Laden« oder »Das Spiel endete um vier Uhr«, »Fische können aus dem Wasser springen« oder »Er warf Brot zu den Tauben«. Die Sätze wurden jeweils in folgenden emotionalen Qualitäten gelesen: Froh, indifferent, böse und traurig. Den einen Probanden war zuvor intravenös Placebo, den anderen Oxytocin (hier das synthetische Oxytocin-Präparat Pitocin) verabreicht worden. Sie wurden daraufhin aufgefordert, den Sätzen die entsprechende emotionale Verfassung des Sprechers zuzuordnen. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Gabe von Oxytocin das Verarbeiten und Speichern von Informationen, welche von Bedeutung für das soziale Umfeld sind, vereinfacht. Allerdings ist für die Anwendung von Oxytocin bei Autismus durch Studien mit Menschen nur eingeschränkte Evidenz vorhanden. Es bleiben u.a. nicht vollständig beantwortete Fragen zu Anwendung, Dosierung und Pharmakodynamik (vgl. Fineberg & Ross, 2017).

10. A usblick Wir beschenken jemanden, zu dem wir eine besondere Beziehung pflegen, mit dem wir in Zukunft gut auskommen möchten. Ja vielleicht jemanden, den wir lieben. Sind nicht Symbiosen, Formen des Zusammenlebens verschiedener Arten mit Vorteilen für alle Partnerinnen und Partner, mitunter schöne Bilder für langfristigen, aufrichtigen Zusammenhalt und tiefe Freundschaft? Emotionen bilden sich im Zusammenspiel verschiedener Gehirnanteile, wobei das limbische System hierfür als ein emotionales Machtzentrum angesehen wird. Arthur et al. interpretierten die durch Dopaminausschüttung vermittelte Aktivierung des medialen Nucleus caudatus sogar als Zeichen sich anbahnender romantischer Liebe (vgl. Arthur et al., 2005: 333) Der Nucleus caudatus zählt zu den dem limbischen System benachbarten Basalganglien. Bedenkt man die große Vielfalt, in der sich Kooperation zeigen kann, könnte man folgern, dass eine gleich große Vielfalt von Mechanismen derartige Vorgänge reguliert (vgl. Soares et al., 2010: 2742). Das Hormon Oxytocin mit seinen verschiedenen physiologischen, unter anderem Kooperation vermittelnden Funktionen, ist in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel. Als Hormon, welches die Einleitung der Wehen und damit der Geburt vermittelt, wirkt es an einem bedeutenden Punkt der Mutter-Kind-Beziehung und der Mutterliebe. Womöglich wäre die Definition der Begriffe Kooperation, Reziprozität, Vertrauen und Emotion etwa aus psychologischer und philosophischer Sicht eine wertvolle Ergänzung zu diesem Beitrag und könnte so die Diskussion bereichern und weitertragen. Hier wurde jedoch bewusst darauf verzichtet, um den dargestellten Assoziationen aus Spieltheorie, Verhaltenswissenschaften, Biologie und Medizin Raum zu geben. In Zukunft wird die biomedizinische Forschung vielleicht weitere Parameter finden, die Korrelate zu kooperativem Verhalten oder sogar zur Liebe bilden. Aber am Ende wohnt der Liebe doch ein Zauber inne, der für sich steht und nicht erklärt sein will, der verblasst, sobald man ihn analysiert. Der Autor dieses Beitrags, selbst Mediziner, blickt mit Interesse auf die Fortsetzung einer interdisziplinären Diskussion zum Thema Bildung und Liebe.

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Aufwachsen in einem Raum von Resonanz Ein entwicklungspsychologischer Zugang Helga Kohler-Spiegel Gesehen und gespiegelt werden, Geborgenheit, Sicherheit, Halt und Orientierung sind für die Entwicklung eines Menschen von zentraler Bedeutung. (Vgl. Kohler-Spiegel, 2010, 2013, 2017a)

Die Wurzeln für die Fähigkeit des Menschen zur Empathie liegen in den ersten Lebensjahren. Am Beginn des Lebens sind soziale und emotionale Entwicklung miteinander verbunden, Affektsozialisation und Affektabstimmung ermöglichen es dem Baby, sich in einem Resonanzraum mit den primären Bezugspersonen zu erleben und sich darin zu entwickeln. Aspekte aus der Säuglingsforschung und aus der Bindungsforschung zeigen, wie in diesem Resonanzraum über die Gefühlsansteckung Empathie gelernt werden kann. Zugleich ist auch die Verletzlichkeit und Verletzbarkeit des Menschen in Beziehungen sichtbar. Dies führt zur Frage, wie mit der Empathie auch die Resilienz vor allem bei Kindern gefördert werden kann. Kurze Überlegungen dazu im schulischen Kontext runden den Beitrag ab.

1. B asics in der E nt wicklung des M enschen 1.1 Gefühle, Emotionen, Affekte – erste Differenzierungen Emotionen haben sich im Verlauf der Evolution als hilfreich herausgebildet, sie werden genetisch weitergegeben. Emotionen werden durch Wahrnehmung und körperliche Empfindungen ausgelöst; der Körper reagiert z.B. auf ein Erschrecken, Sekunden später erst wird Angst empfunden. Emotionen werden aufgrund des Denkens wahrgenommen, eingeordnet und auch bewertet. »Gefühle« beschreiben ein subjektives Erleben, unterschiedlich in Qualität, Intensität und Dauer; sie können nach Valenz, Aktivierung und Potenz eingeteilt werden. »Emotionen« bezeichnen einen komplexen Prozess, eine Bewegung, »eine plötzliche Reaktion unseres gesamten Organismus […], die physiologische (unsere Körper betreffend), kognitive (unseren Geist betreffend) und Verhaltenskomponenten (unser Handeln betreffend) enthält« (Lelord & André, 2005: 13; vgl. auch Lelord, André & Ekman, 2010).

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Helga Kohler-Spiegel »Zur Wahrnehmung der körperlichen Veränderungen […] muss noch eine entsprechende kognitive Interpretation […] hinzukommen, damit eine Emotion von bestimmter Qualität entstehen kann. Dabei bestimmen die wahrgenommenen körperlichen Veränderungen die Intensität der Emotion, die kognitive Interpretation dagegen die Qualität der Emotion.« (Mees, 1997: 332)

Emotion benennt also ein komplexes Muster körperlicher und mentaler Veränderungen auf eine persönlich als bedeutsam wahrgenommen Situation. Affekte werden verstanden als nicht mehr bewusst steuer- und kontrollierbare Emotionen, als ein Zustand kurzfristiger und intensiver emotionaler Erregung, der das Verhalten leitet. »Affekt« stammt vom Lateinischen affectus, d.h. Zustand, Leidenschaft, Begierde, und vom Griechischen pathos, d.h. Leiden, Leidenschaft. Mit dem Begriff »Stimmung« wird ein unspezifisches Erleben beschrieben, wie eine »milde Tönung« im Hintergrund des Erlebens, die Ursache ist oft nicht eindeutig erkennbar. (Vgl. Kohler-Spiegel, 2018)

1.2 Aspekte aus der Säuglingsforschung Am Beginn des Lebens kennt ein Mensch allgemein Wohlbehagen und Distress sowie erste spezifischere Emotionen wie Interesse, Ekel und Erschrecken. Basisemotionen sind nicht von Geburt an vorhanden, sie haben eine Lerngeschichte und entwickeln sich deshalb im Verlauf der ersten Lebensmonate (vgl. Wertfein, 2011). »Komplexere Emotionen sind erst im zweiten Lebensjahr zu beobachten. Stolz und Scham sind selbstbezogene Emotionen, die ein Selbstkonzept sowie Kenntnisse von gewissen Normen und Werten voraussetzen.« (Bischof-Köhler, 2000: 144, vgl. 142-158). Der Zusammenhang zwischen emotionaler und sozialer Entwicklung ist offensichtlich, denn »Gefühle haben ihre Wurzeln im sozialen Diskurs, in früheren Beziehungen und vielleicht sogar in der Konstruktion des Selbst« (Saarni, 2002: 3). Auf dieser Affektsozialisation bauen Interaktionsformen zwischen Bezugsperson und Kind auf (vgl. Brauchle, 2015), z.B. wenn sich ein Kind krabbelnd von Mutter oder Vater entfernt und zugleich wieder, vor allem in unvertrauten Situationen, die Nähe, die »Affektabstimmung« mit Mutter oder Vater sucht: »Dabei begleitet z.B. die Mutter die Aktivitäten des Kleinkindes mit Lautäußerungen, die dem Rhythmus der Bewegungen des Kindes folgen. Ohne Abstimmung versiegt die Aktivität des Kindes. Beim ›social referencing‹ (Emde, 1983) beobachtet das spielende Kind gezielt den Affekt der Mutter, wenn ihm seine Situation unklar ist, und gleicht seinen Gefühlsausdruck dem der Mutter an, was natürlich auch seine Unternehmungslust beeinflusst.« (Baumgart, 1997: 278)

Das von Giacomo Rizzolatti entdeckte System der »Spiegel-Nervenzellen« erklärt die schon längere Zeit bekannte, kurz nach der Geburt einsetzende Fähigkeit des Säuglings, empfangene Signale aufzunehmen und durch Imitation zurück zu spiegeln, auch neurobiologisch. (Vgl. Bauer, 2006: 64f ; vgl. auch Bauer, 2005) Martin Dornes betont, dass diese Fähigkeit bereits beim Säugling die Erfahrung ermöglicht, »daß innere Zustände keine privaten Ereignisse sind, sondern soziale und Beziehungsangelegenheiten« (Dornes, 1993: 159). Es ermöglicht die Erfahrung:

Aufwachsen in einem Raum von Resonanz

Andere sehen, was ich fühle, ich bin in meinem Gefühlszustand wahrgenommen und anerkannt. Diese frühen Muster entwickeln sich über Blickkontakt mit dem Baby mit passender Affektabstimmung, über das Verbalisieren, d.h. über Ankündigen und Kommentieren der Handlungszusammenhänge, über die wechselseitige Fein-Abstimmung in der Interaktion, in der Berührung und im Körperkontakt. Das Baby lernt dadurch auf kognitiver Ebene, dass sein Verhalten eine Reaktion bei der Mutter, dem Vater bzw. der primären Bezugsperson verursacht und herbeiführt, dass es vorhersehbare Zusammenhänge zwischen Ereignissen gibt, was die Welt durchschaubar, steuerbar und sicher macht. Es lernt emotional, dass die Bezugsperson ihre Reaktion auf den Erregungszustand des Babys abstimmt und diesen reguliert, das Baby erlebt, dass seine Gefühle verstanden werden, dass es Trost spendet, wenn man die eigenen Gefühle mitteilt und teilt. (Vgl. Diem-Wille, 2007)

1.3 Aspekte aus der Bindungsforschung So entsteht Bindung: Zurückgehend auf John Bowlby (vgl. Holmes, 2002: 86ff) nennt Mary Ainsworth (zit.n. Grossmann & Grossmann, 2004: 29; vgl. auch Grossmann & Grossmann, 2009) Attachment »die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen«. Es ist ein »imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet« (Grossmann & Grossmann, 2004: 72). Bindung ist ein Grundbedürfnis des Menschen, um Sicherheit zu erlangen, sich zu orientieren, um Angst zu mindern und Werte aufzunehmen. Die Qualität von Bindung beschreibt das »Ausmaß, mit der eine Bindungsbeziehung Sicherheit aus der Sicht des ›Schwächeren‹ in der Beziehung vermittelt. […] Die Hauptqualitäten sind: sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent« (Grossmann & Grossmann, 2004: 72). Bindungsverhalten wird gezeigt, wenn Gefahr für den Erhalt der Bindung besteht. Im Kontext seiner Bindungserfahrungen lernt das Kind vor allem in den ersten sechs Lebensjahren sprachlichen und nonverbalen Emotionsausdruck, Wissen über Auslöser von Emotionen bei sich und bei anderen sowie innere und äußere Strategien im Umgang mit Emotionen, also deren Regulation. Das Kind lernt, eigene Gefühle zu äußern und emotionale sowie emotionsrelevante Äußerungen der Bezugspersonen zu erkennen. Auf sich allein gestellt, lernt das Kind Bewältigungsstrategien, um seine Gefühle zu steuern und sich zu stabilisieren. Exemplarisch genannt seien das Daumenlutschen oder Schaukeln, später auch die Beschäftigung mit einem Kuscheltier, Ablenkungen im Spiel oder das Führen von Selbstgesprächen. Das Sprechen über Gefühle erweitert die Möglichkeit, Wissen über Auslöser von Emotionen aufzubauen und dieses Wissen auf neue Situationen anzuwenden. Indem Kinder lernen, welche Situationen bei ihnen welche Gefühle hervorrufen, entwickeln sie auch ein Verständnis für die Emotionen anderer. So werden Empathie und prosoziales Verhalten entwickelt. (Vgl. Petermann & Wiedebusch, 2003) »Kinder, die […] konstruktive Bewältigungsstrategien anwenden, ihr Verhalten flexibel an neue Situationen anpassen können und aufgrund guter Emotionsregulation und geringer Erregbarkeit wenig negative Emotionen äußern, sind bei Gleichaltrigen beliebter und gel-

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Helga Kohler-Spiegel ten auch bei Lehrern und Eltern als prosozialer, kooperativer und sozial kompetenter […]. Diese Zusammenhänge zwischen emotionalen und sozialen Kompetenzen bleiben im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren weitgehend stabil (Murphy et al., 2004) und können sich auch auf den Schulerfolg auswirken.« (Wertfein, 2011)

2. E mpathie lernen 2.1 Gefühlsansteckung Dieser Terminus geht auf Max Scheler (1923: 25ff) zurück, seit 1994 wurde er bekannter, als er als Übersetzung des Buchtitels Emotional contagion von Elaine Hatfield (1994) publik wurde. Gefühlsansteckung ist eine angeborene Fähigkeit des Menschen (und höherer Tierarten), sie geschieht nicht bewusst gesteuert, ohne Kontrolle durch Einsicht. Gefühle einer Person lösen bei anderen Menschen unwillentlich Imitationen aus, deshalb ist von »Ansteckung« die Rede. (Vgl. BischofKöhler, 1989) Elaine Hatfield sieht das Entstehen von Gefühlsansteckung in zwei Schritten: »Schritt 1: Wir imitieren andere Menschen – wenn der/die Andere lächelt, lächeln wir unwillentlich zurück. Im ›social referencing‹ orientieren sich Säuglinge ab dem 8. Monat in unvertrauten Situationen am emotionalen Gesichtsausdruck der Bezugsperson. Schritt 2: Unsere Stimmung ändert sich, wenn wir Andere nachahmen – wenn wir lächeln, ist auch unsere Stimmung positiver, wenn wir ›finster sehen‹, fühlen wir uns schlechter.« (Hatfield, 1994: 48)

2.2 Empathie Empathie ist keine Emotion, sondern eine Reaktion auf die Emotion eines anderen Menschen. Empathie ist die Fähigkeit, Emotionen und Absichten einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und darauf zu reagieren. Oder – kurz gesagt: mitzufühlen, was andere fühlen. D.h., die Gefühlslage wird als die Gefühlslage der anderen Person erkannt. Empathie setzt sich somit aus unterschiedlichen Kompetenzen zusammen: aus der Gefühlsansteckung, der Fähigkeit Gedanken und Gefühle anderer nachzuvollziehen (Theory of mind) sowie der Fähigkeit, den Kontext sozialer Situationen zu verstehen. Empathie ist die Fähigkeit, uns in den anderen hineinzuversetzen und zu verstehen suchen, was in ihm vorgeht. Sie hilft zu erfassen, wie sich eine bestimmte Erfahrung für die jeweils andere Person anfühlt. »Uns in den anderen hineinzuversetzen und zu verstehen zu suchen, was in ihm vorgeht, ist nicht dasselbe wie zu überlegen, wie es uns selber ginge, wenn wir in der gleichen Situation wären. Es erfordert ein hohes Maß an Selbstbeobachtung, um diese wesentliche Unterscheidung nicht aus den Augen zu verlieren; man muß wissen, welche Begriffe und Wahrnehmungen zum eigenen Bezugsrahmen gehören, um das Risiko zu vermindern, ihn dem anderen aufzuzwingen.« (Schwaber, 1995: 178f)

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Empathie erfordert und ermöglicht, zwischen der eigenen Welt und jener anderer Menschen zu unterscheiden, und zugleich eine menschliche Ähnlichkeit zu entdecken. Konkret: Ich nehme wahr, wie es der anderen Person geht, ohne zu vergessen, wie es mir selbst geht. Denn meine Empfindungen sind nicht die Empfindungen der anderen Person, ich kann mit jemandem mitfühlen, ohne diese Gefühle der anderen Person zu übernehmen. »Empathisch sein heißt nicht, sachlich begründete Antworten zu geben. Empathie heißt vielmehr, daß man die subjektive Bedeutung einer Frage suchen sollte. […] Empathie erfordert, daß wir zwischen der eigenen Welt und jener, die unsere Patienten erleben und wahrnehmen, eine menschliche Ähnlichkeit entdecken können.« (Schwaber, 1995: 176)

In der Empathie stimmen wir uns also auf die Erfahrungen eines anderen Menschen und auf seine Welt ein, ohne ganz aufzugehen in dieser Welt. Empathie wurzelt in der Fähigkeit des Menschen, die in unseren »Spiegelneuronen« angesiedelt, also angeboren ist. Jedoch muss diese Fähigkeit frühkindlich entwickelt und trainiert werden, sie kann bei Verwahrlosung und Gewalt auch zerstört werden. Konkret: Wenn wir als Kinder gestürzt sind, dann hilft ein Moment des Mitgefühls und des Trostes – so lernt ein Kind, seine Gefühle wahrzunehmen, sie überhaupt zu spüren und zu benennen. Wir wissen aus den Forschungen von Joachim Bauer rund um die Spiegelneuronen (vgl. 2005), dass wir »Asterix- und Obelix-Neuronen« haben, die »Asterix-Neuronen«, die eine Handlung planen, und die »ObelixNeuronen«, die sie durchführen. Diese werden im Tun angeregt. Interessanterweise werden sie auch dann angeregt, wenn wir anderen zuschauen, wie sie diese Handlungen ausführen. Deshalb gähnen wir, wenn jemand gähnt, wir schlucken mit, wenn jemand isst… Wenn ein anderes Kind geschimpft wird, macht dies auch den zusehenden Kindern Mitgefühl und Angst, ebenso wie Freude und positive Erfahrungen im Gehirn der Zusehenden mit vollzogen und erlebt werden.

3. Z ur V erle t zbarkeit des M enschen 3.1 Die tiefsten Wunden sind Beziehungswunden Um zu verstehen, was mit einem Menschen passiert, wenn er nicht gesehen und beantwortet wird, hilft das Still Face Experiment von Edward Tronick (vgl. Tronick, 2017). Innert zwei Minuten zeigt sich, wie das Kind reagiert, wenn die primäre Bezugsperson, z.B. Mutter oder Vater, keine Reaktion auf das Baby zeigt: Das Kind wird misstrauisch und unruhig, und – je länger es dauert oder je häufiger diese Erfahrung gemacht wird – ängstlich und verzweifelt. Still Face meint übersetzt ein erstarrtes, bewegungsloses Gesicht. Beziehungswunden sind Verletzungen, die Menschen erleben, wenn sie sich zurückgewiesen, abgelehnt, ausgeschlossen oder verachtet fühlen. Häufig als »Kränkung« wahrgenommen, ist es eine Verletzung des Selbstwerts und des Selbstwertgefühls. (Vgl. Wardetzki, 2012)

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3.2 Und wenn das Leben zu sehr fordert… – Was bei Übererregung passiert Krisen (auf der Basis des altgriechischen Wortes krinein) sind Situationen oder Phasen im Leben eines Menschen, in denen sich etwas neu entscheidet, unterscheidet, in denen das Leben eine entscheidende Wendung nehmen kann. Vom Lateinischen crisis abgeleitet, meint Krise die sensibelste, gefährlichste Phase, ursprünglich bei Krankheiten, später auch im psychischen Sinn übernommen. Der teilweise benachbart verwendete Begriff »Trauma« stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet im medizinischen Bereich übersetzt: Verletzung oder Verwundung, entstanden aufgrund einer Gewalteinwirkung von außen. Dieser Begriff wurde im psychologischen Bereich übernommen und beschreibt ein massiv belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes (kurz oder länger andauernd, einmalig oder sich wiederholend). Dabei sind für Menschen »man-made-disaster« schwerer zu verarbeiten als »nature-made-disaster«. (Vgl. Kohler-Spiegel, 2017b)

Traumaverursachte Veränderungen im Gehirn »Gerät die Amygdala in Übererregung, blockiert der Hypocampus. Und dann ist kein situationsangemessenes Empfinden und Verhalten mehr möglich.« (Weinberg, 2015: 25)

Die Amygdala (Mandelkern) ist Teil des Limbischen Systems, sie verknüpft Ereignisse mit Emotionen und speichert diese. Die Amygdala verarbeitet externe Impulse und leitet die vegetativen Reaktionen dazu ein, sie kann innerhalb Bruchteilen von Sekunden Situationen wahrnehmen, emotional bewerten und wiedererkennen, auch gefahrvolle Situationen. Solange die Erregung der Amygdala in einem zuträglichen mittleren Bereich liegt, sind wir wacher, aufmerksamer. Wenn aber die Gefahr-Rückmeldung der Amygdala über die verträgliche Grenze geht, dann werden extreme Affekte wie Panik, Todesangst, totale Hilflosigkeit ausgelöst. In dem Moment wird der Hippocampus blockiert, damit die motorischen Stressreaktionen komplett ungehindert und ungehemmt ablaufen können. (Vgl. Siebert & Pollheimer-Pühringer, 2016: 18) Der Hippocampus ist eine zentrale Schaltstation des limbischen Systems. Im Hippocampus fließen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen, die verarbeitet und von dort zum Cortex (Hirnrinde) zurückgesandt werden. So kommt es zur Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Der Hippocampus »gibt den ins Gehirn einströmenden Reizen eine sinnvolle Ordnung in Raum, Zeit und Bedeutung. Was durch den Hippocampus solchermaßen sortiert und geordnet wurde, kann dann so gespeichert werden, dass alle Sinneseindrücke, Gefühle und Gedanken, die man miteinander erlebt hat, auch miteinander vernetzt gespeichert werden. Später können sie dann auch geordnet und im Zusammenhang aller Sinnesqualitäten, Raum, Zeit, Handlungen, Gefühle und Gedanken erinnert werden.« (Weinberg, 2015: 27)

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Daraus folgende Reaktionen Die Übererregung in der Amygdala mit den Affekten von Panik, Todesangst oder Tötungslust führt zur Blockade des Hippocampus; archaische Kampf-, Fluchtoder Täuschungsreaktionen, ohne Hemmung und Kontrolle, übernehmen die Steuerung. Wenn der Hippocampus durch Hochstresserleben blockiert ist, ist ein Mensch weder durch Zureden noch durch Drohungen erreichbar. Erst wenn der Hippocampus wieder aktiv wird, kann die Person und ihre Vernunft wieder die Steuerung übernehmen. Diese wird nur aktiv, wenn die Amygdala sich wieder beruhigt – und die wird sich nur beruhigen, wenn sie die Situation nicht mehr als »gefährlich« bewertet. Also braucht es zuerst Beruhigung, Sicherheit und manchmal auch Schutz. In bildhafter Sprache könnte man sagen: Wir bestehen aus zwei Teilen, dem Säugetier in uns, zum Beispiel ein Häschen, und dem Denker, der überlegt und entscheidet, was er tun und lassen will. Wenn alles gut läuft, wenn wir entspannt sind, tauschen Denker und Häschen, Kopf und Körper, sich aus, dann arbeiten der Denker und das Häschen gut zusammen. Das Häschen ist schneller, weil es nicht nachdenken muss, der Denker hat die besseren Ideen. (Vgl. Hantke & Görges, 2012: 37f, 263) Im Notfall aber wird die Verbindung zur Großhirnrinde unterbrochen, damit das Häschen sehr schnell reagieren kann. Die Einordnung fehlt dann noch. Das Häschen reagiert ganz alleine ohne Denker. Der Denker bräuchte viel zu lange, deshalb wird er einfach abgeschaltet, wenn es ums Überleben geht. Der Denker muss hinnehmen, was passiert. (Vgl. Hantke & Görges, 2012: 77; vgl. auch Krüger, 2011: 44ff, 55) Das Häschen hat für den Notfall, für diese Übererregung zuerst die beiden zentralen Möglichkeiten von Kampf und/oder Flucht. Innert Bruchteilen von Sekunden entscheidet ein Mensch in extremer Übererregung, ob Kämpfen möglich oder ob Verstummen und Rückzug bzw. Fliehen angesagt ist. Wenn beides im Erleben der betroffenen Person nicht möglich ist, bleibt die Lähmung als ein Versuch, die Situation, die Bedrohung zu überstehen. Lähmung meint, dass sich die Person innerlich in Hochspannung befindet, aber äußerlich nicht reagieren kann. Im Englischen ist deshalb von den »drei Fs«, von »Fight or Flight or Freeze« die Rede. Hinzu kommt als letzte Möglichkeit eines so bedrohten Menschen eine Art Ohnmacht, ein Totstellreflex. Ohne Traumaerfahrungen zu verharmlosen, sei ergänzend erwähnt, dass Ansätze von Fight or Flight auch ohne Traumatisierung grundlegende Reaktionsmöglichkeiten für den Menschen sind. Manche Menschen reagieren auch in nicht traumatischen Belastungssituationen auf brausend, gehen in massive Auseinandersetzungen und Machtkämpfe. Andere wiederum ziehen sich in schwierigen Situationen eher zurück und verstummen: immer wieder beschreiben Menschen, dass sie biografisch früh gelernt haben, in Konfliktsituationen nichts zu sagen, nicht zu widersprechen, sich nicht zu wehren. Sie beschreiben auch, dass ihnen auch heute in solchen Situationen keine Widerrede einfällt, ihnen aber nach etwas Zeit und vor allem Beruhigung wieder Formulierungen in den Sinn kommen, die in der eben erlebten Situation hilfreich gewesen wären.

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Und bei Kindern… All das kann Kinder betreffen. »Eine traumatische Situation bedeutet für ein Kind eine extreme, existentielle Bedrohung. Dabei kann das Kind entweder sich selbst sowie seine körperliche und seelische Einheit oder andere Menschen als bedroht erleben. Entscheidend ist, dass das Kind das Gefühl hat, ohnmächtig zu sein und nichts tun zu können, um sich oder den anderen aus der extremen Not herauszuhelfen. Dies ist die eigentliche ›Traumafalle‹: Es gibt bei aller Bedrohung keinen Ausweg. Daraus entsteht ein Gefühl extremer bedrohlicher Hilflosigkeit. Das sich gerade erst entwickelnde Selbstbewusstsein bzw. Selbstvertrauen und das Vertrauen in die Welt (Urvertrauen) werden durch eine derartige Erfahrung nachhaltig erschüttert oder gehen verloren.« (Krüger, 2015a: 19)

Damit ist klar: Für Erwachsene auch scheinbar unbedeutende Ereignisse können für ein Kind traumatisch erlebt werden, z.B. die Mama im Kauf haus längere Zeit zu verlieren, oder in einen dunklen Keller gesperrt werden, oder auch notwendige ärztliche Behandlungen, die mit »Gewalt« (z.B. Festhalten) verbunden sind. Angst ohne Verbindung zu einem sichernden Menschen, keine Hilfe von außen und selbst keine Möglichkeit, die Situation zu verändern – das meint Bedrohung ohne Chance auf die beiden sonst möglichen Notfallreaktionen, nämlich Kampf oder Flucht. Wenn beides nicht geht, müssen Körper und Seele auf das dritte Programm umschalten: Erstarrung. Mit allen Konsequenzen. (Vgl. auch Weinberg, 2015: 50) Zahlreiche Traumatisierungen führen nicht zu einer länger anhaltenden Belastung, weil eine ältere meist erwachsene Person intuitiv oder bewusst das Kind in seiner Überforderung und Erstarrung wahrnimmt, das Kind zeitnah beruhigt durch Nähe und Sicherheit, von Herz zu Herz. Bei familiären Bezugspersonen wie Eltern oder Großeltern, Geschwistern oder einer Freundin, geht dies häufig körpernah, mit Halten und Wärmen, mit Versorgen und Wiegen. Im pädagogischen Bereich von Kindergarten, Kita und Schule sind hier Stimme und Blick, das Halten der Hand u. ä. wichtige »Enttraumatisierungsprogramme« (Hof bauer, 2016). Dann kann sich die Übererregung beruhigen, die Ohnmacht lösen und die Botschaft kann ankommen: »Du kannst dich beruhigen.« »Ich bin da und schütze dich.«

4. M enschen stärken . R esilienz einüben 4.1 Begriff und Entstehung »Wenn wir hinfallen, tut uns der harte Boden weh; aber wir brauchen ihn gleichzeitig, um wieder aufstehen zu können.« (Pozatek, 2014: 85)

Der Begriff »Resilienz« stammt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet in der Werkstoff kunde die Fähigkeit eines Werkstoffes, sich verformen zu lassen und dennoch in die ursprüngliche Form zurückzufinden. Die Wurzel des Wortes findet sich im Lateinischen resilire, was soviel meint wie »zurückspringen, abprallen«.

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Resilienz meint also die Fähigkeit einer Person oder einer Familie bzw. Gruppe, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen umzugehen. Sie beschreibt die psychische Widerstandsfähigkeit von Menschen gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken. (Vgl. Wustmann, 2004) Resilienz ist wie ein »Schutzschirm der Seele«. Die Forschungen zur Resilienz werden meist auf Emmy Werner und Ruth Smith zurückgeführt, auch wenn bereits davor erste Arbeiten zu dieser Frage vorliegen. Emmy Werner legte 1971 eine Studie über die Kinder der Insel Kauai vor, in deren Rahmen 698 Kinder des Jahrgangs 1955 aus schwierigen Verhältnissen von ihrer Geburt an über 40 Jahre beobachtet wurden. Ein Drittel dieser Kinder wuchs trotz erschwerter Bedingungen zu lebenstüchtigen Erwachsenen heran, wobei die Resilienz sich im Zeitablauf und unter verschiedenen Umweltbedingungen veränderte. Werner zog daraus den Schluss, dass Resilienz erlernbar ist. (Vgl. Werner, 1971) Resiliente Kinder haben als Basis »zumindest eine enge Bezugsperson, die sich liebevoll um sie kümmerte und auf ihre Bedürfnisse reagierte, die Grenzen setzte und Orientierung bot« (Berndt, 2013: 67; vgl. auch Werner, 2011: 37). Darüber hinaus sind Handlungsfelder zu beschreiben, die erlernbar und in der Entwicklung zu unterstützen sind.

4.2 Die sieben Säulen der Resilienz Sieben Stichworte (vgl. Gruhl, 2010: 23ff) zeigen auf, was zu entwickeln und zu stärken hilfreich ist, um psychische Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Die Stichworte können in Handlungen übersetzt werden: • Optimismus: »Ich sehe auch in schwierigen Situationen das Stärkende.« Damit ist die Fähigkeit gemeint, auch in schwierigen Zeiten Stärkendes, Kräftigendes, Erfreuendes sehen können. • Akzeptanz: »Ich akzeptiere, was nicht zu ändern ist.« Beschreibt die Fähigkeit, Dinge anzunehmen, die nicht zu verändern sind. Es bedeutet nicht, diese gutheißen zu müssen. • Lösungsorientiert: »Ich suche nach Lösungen bzw. nach einem nächsten Schritt.« Häufig ist nicht der direkte Weg zur Lösung möglich, sehr wohl aber sind Schritte in diese Richtung möglich. • Opferrolle verlassen: »Ich kann etwas tun.« Eine besondere Herausforderung ist es, wieder ins Tun, ins Gestalten zu kommen. • Verantwortung: »Ich ›antworte‹ auf die Situation.« Die Situation ernst zu nehmen und darauf sinnvolle »Antworten« zu finden, ist mit dem Begriff »Verantwortung« beschrieben. • Netzwerk: »Ich habe andere Menschen, mit denen ich verbunden bin bzw. mit denen ich mich verbinden kann.« Ich benenne, was mich beschäftigt, und suche Verbindung zu Menschen, denen ich davon mitteilen kann. Ich suche Menschen, denen ich mich anvertrauen kann, mit denen gemeinsam nächste Schritte zu einer Verbesserung der Situation möglich sind. • Zukunft planen: »Ich mache mir Bilder von meiner Zukunft, ich plane meine Zukunft.« Ich entwickle Vorstellungen und Bilder einer besseren Zukunft. Ich stelle mir vor, wie es gut weiter gehen könnte, wohin eine positive Entwicklung möglich wäre, was dafür notwendig und hilfreich ist.

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4.3 Resilienzförderung Drei Bereiche stehen im Vordergrund, die mit Erfahrungen und Ressourcen verbunden sind: • »Ich habe« (soziale Ressourcen, Familie, Freunde, Unterstützungssysteme etc.): »Ich habe Menschen um mich, die mir vertrauen und die mich bedingungslos lieben, die mir Grenzen setzen, an denen ich mich orientieren kann und die mich vor Gefahr schützen, die mir als Vorbilder dienen und von denen ich Neues lernen kann, die mich dabei unterstützen und bestärken, selbstbestimmt zu handeln, die mir helfen, wenn ich krank oder in Gefahr bin.« (Wustmann, 2004: 118)

• »Ich bin« (personale Ressourcen, Gefühle, Verhaltensweisen etc.): »Ich bin eine Person, die von anderen wertgeschätzt und geliebt wird, froh, anderen helfen zu können und ihnen meine Anteilnahme zu signalisieren, respektvoll gegenüber mir selbst und anderen, verantwortungsbewusst für das, was ich tue, zuversichtlich, dass alles gut wird.« (Wustmann, 2004: 118)

• »Ich kann« (soziale und interpersonale Fähigkeiten, von und mit anderen gelernt): »Ich kann mit anderen sprechen, wenn mich etwas ängstigt oder mir Sorge bereitet, Lösungen für Probleme finden, mit denen ich konfrontiert werde, mein Verhalten in schwierigen Situationen kontrollieren, spüren, wann es richtig ist, eigenständig zu handeln oder ein Gespräch mit jemandem zu suchen, jemanden finden, der mir hilft, wenn ich Unterstützung brauche.« (Wustmann, 2004: 118; vgl. auch Grotberg, 2011: 51ff; Welter-Enderlin & Hildenbrand, 2008)

Konkret beschreibt dies die Fähigkeit des Menschen zur: • Selbstwahrnehmung: Resiliente Menschen kennen die verschiedenen Gefühle und können sie adäquat ausdrücken (mimisch und sprachlich). Sie können Stimmungen bei sich und anderen erkennen und einordnen. Und sie können sich, ihre Gefühle und Gedanken reflektieren und in Bezug zu anderen setzen. (Vgl. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2014: 45) • Selbststeuerung und Selbstregulation: Resiliente Menschen können sich und ihre Gefühlszustände selbständig regulieren bzw. kontrollieren. Sie können innere Anforderungen bewältigen und wissen, wo sie sich ggf. Hilfe holen können. Sie kennen Handlungsalternativen und Strategien zur Selbstberuhigung. (Vgl. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2014: 46) • Selbstwirksamkeit: Resiliente Menschen können ihre Erfolge auf ihr Handeln beziehen. Sie wissen, welche Strategien und Wege (Stärken) sie zu diesem Ziel gebracht haben. Sie können diese Strategien auf andere Situationen übertragen, und wissen, welche Auswirkungen ihr Handeln hat und v.a., dass ihr Handeln auch etwas bewirkt. (Vgl. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2014: 48)

Aufwachsen in einem Raum von Resonanz

Dies führt zur zentralen Frage, was in Bildungsprozessen getan werden kann, um Kinder in dieser Entwicklung zu unterstützen.

5. W as hilf t… – K onkre tisierungen im S chulbereich Entwicklungspsychologische Ergebnisse zeigen, dass Resonanz und Zuwendung, dass die Erfahrung, gesehen und sicher gebunden zu sein, die Basis für die Entwicklung der eigenen Person bedeutet. (Vgl. grundlegend Rose, 2016) Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie Gelegenheit zur Beteiligung und Eigenleistung stärken diese Grundfähigkeiten von Selbstwahrnehmung und Selbstwertgefühl, von Selbststeuerung, von Umgang mit Stress und negativen Emotionen und Problemlösen, von Selbstwirksamkeit und sozialer Kompetenz. Alle Lernangebote, alle Übungen, die diese Fähigkeiten stärken, dienen den Kindern – im familiären, im schulischen und im außerschulischen Kontext.

5.1 Konkretisierungen für die Lehrperson Exemplarisch seien als Möglichkeiten für Lehrpersonen genannt: • Die Lehrperson als Modell. Die Lehrperson ist Vorbild, ist Modell für die Wahrnehmung und den Umgang mit eigenen Gefühlen und mit den Gefühlen anderer, sie ist Modell für den Umgang mit Herausforderungen und Krisen, sie ist Modell mit ihren Verarbeitungs- und Konfliktlösungsmustern. • Awareness und Präsenz. Die Lehrperson ist im Besonderen Modell in ihrer Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, in ihrer Präsenz bzgl. eigenen Empfindungen und denen des Gegenübers. Sie ist Modell im Ausdrücken und Benennen von Gefühlen (vgl. Reeder, 2005: 22-34) und zeigt sinnvolle Strategien im Umgang mit den eigenen Gefühlen. »Präsenz« meint, in der Gegenwart zu sein, aufmerksam zuzuhören ohne zu werten, im Kontakt zu bleiben. »Präsenz« meint auch, emotional mitzuschwingen, die Gefühle des Gegenübers wahrzunehmen, ohne sie zu übernehmen, die Achtsamkeit bzgl. Emotionalem öffnet auch die Tür zur Empathie. Konkret werden auch Lehrpersonen durch stärkende Gedanken, stärkende Handlungen, stärkende Rituale und Rhythmisierungen im Alltag, stärkende Menschen sowie Stille, Ruhe, Zeit für sich selbst unterstützt.

5.2 Konkretisierungen für Schülerinnen und Schüler Ergebnisse der Entwicklungs- und Bindungsforschung machen deutlich, dass die Erfahrungen, sich geborgen zu fühlen, ausreichend Zuwendung zu bekommen und sich sozial akzeptiert zu fühlen sowie die eigenen Fähigkeiten selbstständig entwickeln und lernen zu können, förderlich sind für Kinder und ihre Entwicklung. Sicherheit sowohl gegenüber der Lehrperson als auch untereinander im Klassenverband ist nötig, um sich ungestört auf eine Sache konzentrieren und emotional frei lernen zu können; wechselseitige Beziehung, im Kontakt sein, Resonanz stärkt die Kompetenzentwicklung junger Menschen. Dies ist verbunden mit Auf-

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merksamkeit auf die Lernatmosphäre und die Qualität des Miteinanders in der Lerngruppe. Diese wertschätzende Haltung untereinander erfordert Lernangebote im Bereich von Selbstwertstärkung, Selbstwirksamkeit, sozialem Lernen, Managen von Stress-Situationen etc. Kurz gesagt: Schülerinnen und Schüler müssen frei sein von Angst vor Bloßstellung, vor Abwertung, vor Ausgrenzung, vor Missachtung, um gut lernen zu können. • Sich ausdrücken, Sprache entwickeln. Wahrnehmung von Gefühlen, deren Erkennen und Benennen muss von der Grundschule an geübt werden. Arbeit mit Gefühlskarteien, das Erraten nonverbaler Darstellungen von Gefühlen, das Entwickeln von Begriffen für Emotionen als Wortfelderschließungen und als Vokabular für die damit verbundenen körperlichen Reaktionen und ihrer gedanklichen Deutung seien exemplarisch genannt für den Anspruch, sprachliche Differenzierungen für Emotionen zu entwickeln. Darüber hinaus bieten sich Formen des Philosophierens und Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen an, entlang der großen Fragen der Menschen nach Leben und Tod, nach Gnade und Gerechtigkeit, nach Erlösung und Leid. Dies kann verbunden werden mit Übungen zur Achtsamkeit. • Ritualisierungen geben Sicherheit. Rituale schaffen »Ordnung«, eine »Grundordnung«, so die begriffliche Bedeutung; wiederkehrende Rituale unterstützen das Vertrauen, sie lassen darauf vertrauen, dass im wiederholenden Tun Sicherheit liegt. Kinder zeigen in ihren spontanen Ritualisierungen, wie unverzichtbar diese sind, um sich im Alltag zu orientieren, sie reagieren häufig auf Abweichung mit Irritation. Wo Worte an Grenzen stoßen, können Rituale Hilfe sein, den Wahrnehmungen und Empfindungen nicht ausgeliefert zu sein, nicht sprachlos und handlungsunfähig zu werden. • Einfühlung und Empathie lernen. In handlungsorientierten Lernarrangements, im projektorientierten Lernen kann es gelingen, Schülerinnen und Schüler an Einfühlung und Empathie heranzuführen. Das Erleben selbst bewirkt dies nicht, sondern die mit dem Erleben einhergehende und dem Erleben folgende Deutung ermöglicht die Erfahrung.

6. S chluss Gegenwärtig nehmen Forschungen zu gratitude einen zentralen Raum ein. In ihnen wird aufgezeigt, dass Übungen zur Dankbarkeit mit Fragen wie: Wofür bin ich heute dankbar? und vor allem: Wem bin ich heute dankbar? zu höherer Stabilität und Zufriedenheit führen sowie die psychische Widerstandsfähigkeit und die Empathie stärken. (Vgl. Spenst, 2017) Eine Geschichte aus dem Kulturraum der indigenen nordamerikanischen Bevölkerung bringt diese Selbstwirksamkeit und die Notwendigkeit, dies immer wieder einzuüben, in ein Bild. Die zwei inneren Wölfe Ein Großvater sitzt mit seiner Enkelin am Lagerfeuer und erzählt ihr folgende Geschichte: »In jedem von uns tobt ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Der eine Wolf ist geprägt von

Aufwachsen in einem Raum von Resonanz Neid, Eifersucht, Gier, Arroganz, Selbstmitleid, Lügen, Überheblichkeit, Egoismus und Missgunst. Der andere Wolf ist geprägt von Liebe, Freude, Frieden, Hoffnung, Gelassenheit, Güte, Mitgefühl, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Vertrauen und Wahrheit. Das Mädchen schaut eine Zeitlang ins Feuer, dann fragt sie: »Und welcher der beiden Wölfe gewinnt?« Worauf der Großvater antwortet: »Der, den du fütterst.« (Vgl. Wolf, 2017)

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Leid im Bild Medienethische Impulse zur Notwendigkeit ikonografisch hervorgebrachten Mitgefühls im Kontext des Kriegsjournalismus Nadja M. Köff ler

1. Z u einer E thik des Z eigens und B e tr achtens von L eid im z weidimensionalen B ildr aum »Nur Kriege, die massenmediale Bildzeugnisse hinterlassen, sind Kriege, die im Gedächtnis haften bleiben.« (Müller & Knieper, 2005: 7)

Seit dem Aufkommen der Druckmedien im 15. Jahrhundert erreichen Katastrophen und Kriege eine breite Masse an Menschen und wurden stets zum beliebten Sujet erklärt. Kriegerische Austragungsorte waren folglich nicht mehr territorial begrenzt, sondern konnten sich »schnell internationalisieren oder gar globalisieren – und damit den Verlauf von Konflikten reflexiv beeinflussen« (Löffelholz, 2004: 16). Für den Literaturwissenschaftler Martin Sexl sind Kriege in diesem Sinne immer auch »imagined wars« (Sexl & Gisinger, 2010: 7) – folglich »mediale Konstrukte« (ebd.), die die Realität nicht nur wiedergeben, sondern bedeutend mitgestalten. Seit etwa 150 Jahren verkörpern sich Kriege auch als fotografische Bilder, beispielsweise in Form verstümmelter Kriegsgefangener und technoider Präzisionswaffen, die an den entlegensten Orten und zu den verschiedensten Zeiten ›konsumiert‹ werden (können). Bilder von kriegerischen Auseinandersetzungen mutierten folglich in gleicher Weise wie Schusswaffen und Sprengkörper zu Hilfsmitteln strategischer Kriegsführung (vgl. Frohne, 2006: 176). So verfolgten Medienkonzerne gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Kontext der Irak-Kriege (z.B. Erster Irak-Krieg/Zweiter Golfkrieg und Zweiter Irak-Krieg/Dritter Golfkrieg) eine instrumentalisierende und an politischen und wirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Bilderpolitik und erzeugten und fundierten auf ikonografischem Wege eine begrenzte Vorstellung des Krieges (vgl. Butler, 2009: 31). Das visuelle Feld sah sich so mit Formen taktischer Ausblendung ›menschennaher‹ Kriegsszenarien konfrontiert und entartete »zum Kontrollfeld strategischer Waffennavigation« (Frohne, 2006: 165). Durch die damit erzeugte Illusion perfekter Kriegsführung sollte die moralische Legitimität militärischer Aktionen unterstrichen werden (vgl. ebd.: 176).

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Etliche Untersuchungen zur internationalen Krisenberichterstattung der letzten Jahrzehnte (vgl. Hafez, 2002; Klaus et al., 2002; Savarese, 2000) bekräftigen den vorliegenden Verdacht einer medialen Positionierung. So gaben Massenmedien im Zuge der Darstellung von Kriegsgeschehen zumindest partiell immer wieder ihre Wächterfunktion auf (vgl. Eilders & Lüter, 2000) und wurden zu Sprachrohren für Regierungen (vgl. Löffelholz, 2004: 35). Judith Butler (vgl. 2009: 53f) problematisierte in diesem Zusammenhang wiederholt die Einführung des embedded journalism, der sich insbesondere während des Zweiten Irak-Krieges im Jahr 2003 als journalistische Praxis etabliert hatte und seit damals als neuer Terminus in den journalistischen Sprachgebrauch aufgenommen wurde. Gemeint ist darunter eine kontrollierte und vorstrukturierte Form der Kriegsberichterstattung, bei der ein/e Journalist/in einer kämpfenden Militäreinheit zugewiesen wird und sich gemäß Butler (2009: 53) »damit einverstanden erklärt, nur aus der von den Militärs und der Regierung vorgegebenen Perspektive zu berichten«. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang die Beschränkung journalistischer Berichterstattung auf das Wahrnehmungsfeld eines Kriegsgegners, wodurch keine neutrale Informationsvermittlung mehr möglich scheint. Trotz der häufig postulierten Notwendigkeit der Berichterstattung über kriegführende Truppen (vgl. Veit & Schäfer-Hock, 2016: 159) wurden dieser Form der journalistischen Praxis zudem Tendenzen einer glorifizierenden Darstellung und »Hollywoodisation« (Knight, 2003) von Kriegsszenarien zum Vorwurf gemacht und damit als moderne Form der Medienmanipulation ausgewiesen. In Anlehnung an Lambert Wiesings (2013) kulturtheoretische Gedanken zur Phänomenologie des Zeigens steht mediale Informationsvermittlung stets in Verbindung mit instrumentellen Techniken und Praktiken des Sehen-Lassens. Bilder von Kriegsszenarien sind damit »Zeigzeug« (Heidegger, 1984: 78), die immer etwas Bestimmtes ins Blickfeld rücken und daher die Frage aufwerfen, wer wem was womit zeigt bzw. zu zeigen gewillt ist (vgl. Wiesing, 2013: 14). In Anbetracht der Möglichkeiten der fotografischen Visualisierung und der technischen Reproduzierbarkeit von Bildern mit Kriegssujet stellt sich damit die wissenssoziologische Frage, was seit Anbeginn des fotografischen Kriegsjournalismus jeweils in den Blick massenmedialer Diskurse geriet und welche sozialen Praktiken der Visualisierung und damit Deutung und Konstruktion von Kriegsszenarien zur Anwendung kamen (vgl. Tuma & Schmidt, 2013: 11). Damit in Zusammenhang steht die Überzeugung, dass mit der öffentlichen Zirkulation von Bildern eine in Teilen politisch gelenkte Herausbildung von Sehordnungen und Sehpraktiken verwoben ist, die erkennen lässt, welchen Prozessen der »Objektivierung, Institutionalisierung und Legitimierung« (ebd.: 18) visuelles Wissen unterliegt. Unter dem Aspekt einer Praktik des Sehen-Lassens und damit verbundenen Verfahrensweisen des Sichtbar-Machens und -Werdens der Ausmaße und Auswirkungen des Krieges haben sich Susan Sontag und Judith Butler gegen Ende des 20. Jahrhunderts in ihren philosophischen Gedanken zur Bildrhetorik von Kriegsfotografien einer Ethik des Zeigens und Betrachtens ebendieser verschrieben und werfen in ihren Essays Fotografie, Krieg, Wut (2009) und Das Leiden anderer betrachten (2013) die Fragen auf, welchen Machteinflüssen die visuelle Wahrnehmung im Kontext der Kriegsberichterstattung ausgesetzt ist und inwiefern uns Bilder des Leides und Leidens unter ethischen Gesichtspunkten heute noch affizieren, an unser Mitgefühl appellieren oder gar ein Gefühl globaler Verantwortung hervorrufen können und müssen.

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Ausgehend von Sontags und Butlers Kritik an einer gelenkten Kriegs- und Krisenberichterstattung drängt sich der Verdacht auf, dass das, was uns in Form visueller ›Dokumentation‹ des Krieges fernab unseres gewohnten Lebensradius täglich am Papier und Bildschirm entgegenblickt, eine besondere Form der Apathie und Gleichgültigkeit erzeugt. Wir nehmen Bilder des Krieges wahr, sie berühren uns jedoch nicht. Sie rühren nicht an unser menschliches Mitgefühl. In Anlehnung an Roland Barthes’ (vgl. 2016: 53) Ausführungen zum fehlenden punctum einförmiger Fotografie (z.B. Reportagefotos) könnte man behaupten, dass Kriegsfotografien uns zwar interessieren, »aber sie bestechen uns nicht. Wir registrieren sie zwar, aber sie machen uns nicht betroffen, kein Detail hält uns fest und unterbricht unsere Lektüre« (ebd.). Woran mag das liegen, wenn bereits der Gedanke an Krieg ein unangenehmer ist; Bilder des Krieges es jedoch nicht mehr schaffen uns zu affizieren? Haben wir es eventuell mit einer besonderen Form von Kriegsdarstellungen, folglich einer bewusst eingesetzten Bildrhetorik zu tun, die unsere ethische Empfänglichkeit förmlich paralysiert? Oder (be-)rühren uns Kriegsbilder doch, eventuell im Zuge eines pornografischen und damit sexualisierten Sehaktes, der uns Lustgewinn beim Anblick menschlicher Erniedrigung verschafft und sich fernab einer humanitären Bildrhetorik und ethischer Sensibilität für das Leiden anderer abspielt? Oder lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Welche Art von Kriegsdarstellungen werden heute benötigt, damit sich jenseits eines pornografischen Bildkonsums ein Mit-Fühlen mit dem Leiden anderer entfalten kann? Der vorliegende Beitrag spürt diesen Fragen nach und versteht sich damit als Weiterführung der von Susan Sontag und Judith Butler angetriebenen ethischen Diskussion um die selektive und kulturell verankerte Rahmung von Krieg und Gewalt und ihrer (Aus-)Wirkungen. Ausgehend von der kritischen Stellungnahme zur Bildrhetorik von Kriegsfotografien im Kontext des embedded journalism möchte dieser Beitrag herausfinden, wie sich ethische Empfänglichkeit über das fotografische Bildmedium ausbilden kann und im Sinne der globalen Verantwortungsübernahme das Gefühl erwachsen lässt, dass Krieg uns alle angeht, unabhängig unseres nationalen, religiösen oder kulturellen Zugehörigkeitsempfindens. In diesem Sinne gilt es einerseits das Gespür für instrumentalisierte Sehordnungen und -praktiken zu schulen und andererseits eine besondere Form des ›Schauens‹ und ›Geschaut-Werdens‹ zu fördern, die dem Gegenüber ethisch sensibel, prosozial und in Verbundenheit begegnet. Den Ausgangspunkt prosozialen Empfindens und Handelns bildet mitunter das menschliche Mitgefühl als eine besondere Form von Menschenliebe, bei der dem Mitfühlenden daran gelegen ist, an den Nöten seines Gegenübers teilzuhaben. Mitfühlend zu sein bedeutet daher einen ›sozialen Blick‹ auszubilden, aus dem Motive erwachsen, sich mit dem Leiden anderer und den Hintergründen und Ursachen dieses Leidens auseinanderzusetzen, und ist, wie sich im Nachfolgenden herausstellen wird, sowohl Fundamt wie auch Bildungsideal ethischer und interkultureller Bildungsprozesse. Da Kriegsleid u.a. über Bildmedien kommuniziert wird, stellt sich daher die Frage, wie fotografische Bilder, die an unsere soziale Empfänglichkeit appellieren, gestaltet sein müssen und welcher politische und kulturelle Umgang damit zu pflegen ist. Damit stehen in vorliegendem Beitrag einerseits bildimmanente Merkmale und ihre Wirkungen zur Diskussion, wie die Diskurse, in denen Kriegsbilder eingewoben sind. Der Arbeit ist folglich daran gelegen, Bildung wie auch Liebe aus den formalisierten und institutionalisierten Kontexten (Hoch-) Schule oder Kirche herauszuheben und ihre alltägliche Präsenz und ihr Zusam-

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menspiel am Beispiel des Medienkonsums zu thematisieren und damit als lebensweltliche und allumfassende Phänomene greifbar und diskutierbar zu machen. An mehreren Stellen wurden im Nachfolgenden Kriegs- und Leiddarstellungen visuell in die Argumentation eingewoben. Der Leser/die Leserin ist damit zum Zwecke der Selbstreflexion dazu aufgerufen, sich bei seinem/ihrem ›Schauen‹ stets selbst zu beobachten. Diese Form der visuellen Konfrontation dient damit nicht nur der Veranschaulichung, sondern folgt auch einem pädagogischen Zweck. Vielleicht kann die Konfrontation mit dem fotografischen Bild im Kontext der vorliegenden Argumentation trotz oder gerade wegen seiner medialen Ausbeutung eine »Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen« (Sontag, 2013: 136) sein, um die »Rationalisierungen für massenhaftes Leiden, die von den etablierten Mächten angeboten werden, kritisch zu prüfen« (ebd.). Der in dieser Arbeit vollzogene Akt des Zeigens und die nahegelegte Form einer Ethik des Betrachtens leidender Menschen widersetzt sich folglich dem insbesondere im Kontext der Holocaust-Fotografie geforderten Ikonoklasmus (vgl. Lanzmann, 1985; 2000) und folgt sowohl George Didi-Hubermans (2007) wie auch Susan Sontags (2013) Plädoyer für eine visuelle Thematisierung von Kriegsleiden, vor allem dann, wenn vorliegende Bilder (z.B. Folterfotografien von Abu Ghraib) in Umlauf geraten sind. Damit in Verbindung steht der Versuch, der in der Vergangenheit wiederholt praktizierten Bildlenkung entgegenzutreten und damit ein Zeichen des Widerstandes gegen den Versuch der visuellen Ausblendung kriegerischer Gewalt zu setzen.

2. G elenk ter J ournalismus , politisches F raming und der erhabene B lick der B ildbe tr achter /innen »Und Fotografien […] sind selbst eine Art von Rhetorik. Sie insistieren. Sie vereinfachen. Sie agitieren. Sie erzeugen Illusionen eines Konsensus.« (Sontag, 2013: 12)

Mediale Kriegsberichterstattung folgt(e) stets interessensgeleiteten Mustern, die Medienwissenschaftler Martin Löffelholz in seinem Band Krieg als Medienereignis II (2004) zu fassen suchte. Kriege sind nach Löffelholz (vgl. 2004: 15) komplexe Beziehungsgeflechte, sodass deren Berichterstattung von den Verstrickungen aus politischen, militärischen und medienspezifischen Interessen geprägt wird. Löffelholz (vgl. ebd.: 25) benennt in diesem Zusammenhang beispielsweise ökonomische Profitinteressen, sicherheitspolitische Instrumentalisierungsabsichten und die Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums als wichtige Einflussfaktoren. Inhaltsanalytische Untersuchungen zur Art und Qualität des Kriegsjournalismus zeugen von einer großen Bandbreite an Mitteln, denen sich Medien für unterschiedliche Zwecke in der Vergangenheit wie auch heute noch bedien(t)en. In Anlehnung an Löffelholz (vgl. ebd.: 33) sind exemplarisch Formen von Stereotypisierung, Ritualisierung, Personalisierung, Simplifizierung, Kollektivtypisierung, Emotionalisierung, die Konstruktion von Feindbildern oder die einseitige Orientierung an Informationsquellen und die Ausklammerung von Hintergründen gewaltsamer Konflikte zu verzeichnen. Dies impliziert, dass mediale Kriegsberichterstattung nie nur zu dokumentarischen Zwecken eingesetzt wurde und wird, sondern

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Medienkonzernen in gleicher Weise daran gelegen war und ist, Krieg – oder zumindest dessen Wahrnehmung – mitzugestalten (vgl. Gleich, 2003; Shinar, 2000). Löffelholz (vgl. 2004: 34) problematisiert in diesem Zusammenhang beispielsweise die Beobachtung, dass Medien aus kriegführenden Ländern tendenziell weniger kritisch über ihr Kriegsgeschehen berichten als Medien in Ländern, die eine Beobachterperspektive einnehmen. Exemplarisch verweist er auf die Kriegsberichterstattung deutscher Qualitätszeitungen zur Beteiligung Deutschlands am Kosovo-Konflikt in den 90er Jahren, bei denen in rund der Hälfte der Beiträge positiv über die Kriegsbeteiligung berichtet wurde. Im Kontrast dazu äußerten sich lediglich 14 % der Qualitätszeitungen kritisch. Damit wurde einer friedvollen Lösung des Konflikts medial gar nicht erst Raum geboten. Tendenziell wurde darauf geachtet – dies eröffnete eine diskursanalytische Studie von Beiträgen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel (vgl. Klaus et al., 2002) – das nationale Zugehörigkeitsgefühl zu betonen, indem eine Dichotomie zwischen dem ›Eigenen‹, bezogen auf nationale Bedürfnisse, und dem ›Fremden‹, der in den Konflikt involvierten anderen Nation(en), hergestellt wurde. Eine Analyse der Berichterstattung über den Ruanda-Konflikt (1994) amerikanischer und deutscher Qualitätszeitschriften verdeutlichte beispielsweise die Fallstricke einer stereotypisierenden Darstellung, die in diesem Fall sogar eine rassistische Färbung erhielt. In seiner Ausweisung als »archaischer Konflikt« (Löffelholz, 2004: 34) wurde der Völkermord in Ruanda gemäß Schmoll (vgl. 1998) massenmedial durch brutal mordende Afrikaner visualisiert, während den ›Weißen‹ die Helferrolle zugeschrieben wurde. Durch die gezielte und wiederholte Verwendung von Fotografien mit dem Sujet des mordenden Afrikaners wurde vordergründig die Gewaltbereitschaft der afrikanischen Bevölkerung in das visuelle Feld wahrnehmbarer Realität aufgenommen. Der visuelle Rahmen schaffte damit einen diskursiven Rahmen, der aufgrund der vermittelten Dichotomie zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹ von der von Butler (vgl. 2010: 65f) wiederholt kritisierten Normierung der Wertigkeit von Menschenleben zeugte und festlegte, was als lebens- und anerkennungswürdiges Leben zu gelten habe. Ein weiteres Beispiel der visuellen Lenkung und damit verwobener Legitimierung von Kriegsverbrechen liefern Aufnahmen aus den Irak-Kriegen. Damit sind in vorliegendem Fall die 1991 (Erster Irak-Krieg, Zweiter Golfkrieg) und 2003 (Zweiter Irak-Krieg, Dritter Golfkrieg) ausgetragenen Kriegshandlungen zwischen dem Irak und der US-geführten Militärkoalition gemeint. Die Kunsthistorikerin Ursula Frohne (2006) erkennt in den medienstarken Bildern dieser Kriegsschauplätze (insbesondere des Ersten Irak-Krieges) in Analogie zu Butler (2009) eine Panorama-Ästhetik. Darunter fasst Frohne die »elektronisch gesteuerte und technologisch optimierte Sichtkontrolle der Waffenwirksamkeit« (Frohne, 2006: 168), bei der ein »visuell hergestellter panoramaartiger Überblick über die schematisch dargestellten Ziele, in Verweigerung des Sichtkontakts zum Schicksal der kollektiv und individuell Betroffenen […] hermetisch« (ebd.) bleibt. Medienkonsumierende wurden in diesem Sinne mit visuellen Inszenierungen gelungener Schuss-Operationen konfrontiert (z.B.: Abb. 1), die von der optischen Funktionstüchtigkeit und Zielsicherheit der eingesetzten Präzisionswaffen zeugten und damit eine ordnungsgemäße bzw. taktisch ›saubere‹ Kriegsführung suggerierten. Durch die Veröffentlichung von Bildern einer ferngesteuerten Kriegsführung wurde die Gestalt des menschlichen Gegenübers aufgelöst. Zerstörungsfolgen, die menschliches Leid wie auch

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die Tötung des kriegführenden Soldaten visualisierten, wurden zu ikonografischen Leerstellen – im Zentrum stand die Ausführung der Kriegshandlung, die einer spielerischen Codierung unterworfen war, wie man sie heute von Kriegscomputerspielen kennt. Frohne entlarvt in diesen rationalisierenden Visualisierungsstrategien in Form einer rechnergesteuerten Optik eine bewusst erzeugte »Präzisionsästhetik der Waffenperspektive« (ebd.), die Bilder personenbezogener Kriegsschrecken aus der Berichterstattung verdrängte. Selten in Umlauf gerieten damit Aufnahmen, bei denen aus der Bodenperspektive fallende Sprengkörper und Raketen und deren Auswirkungen gezeigt wurden und die Betrachter/innen folglich dazu aufgefordert waren, Krieg aus Sicht der ›Opfer‹ wahrzunehmen. Indem die Bildbetrachter/innen mit einem elektronisch gesteuerten Trackingsystem konfrontiert wurden, positionierte man sie als diejenigen, »die über allem stehen, die das Geschehen zwar produzieren, aber selbst eigentümlich immun dagegen zu sein scheinen – als ob wir selbst nicht am Boden lebten« (Butler, 2009: 79). Abb. 1: Bombardement Bagdads, © AFP (2003)

Dem Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz (1994: 10) zufolge lösen immaterielle Pixelkonfigurationen im Zuge eines bildgesteuerten Weltbezugs »den Schein einer stabilen Gegenständlichkeit« auf und die »Frage nach einer Referenz [wird] sinnlos«. Zugleich verweisen abstrakte Bilder automatisch aktivierter Waffen auf einen »subjektlosen Automatismus« (Frohne, 2006: 168), bei dem keine Menschenhand für die verursachten Kriegszerstörungen zu verantworten war und damit im Sinne der »gezielte[n] Verharmlosung der Gewaltsamkeit der militärischen Aktionen« (ebd.) die Rechtmäßigkeit von Kriegshandlungen »als die Erfüllung einer auf technologische Präzision verpflichtenden Zielordnung« (ebd.) legitimiert werden sollte. Am Beispiel der medialen Visualisierung der Irak-Kriege zeigen sich damit umgreifende hegemoniale Kontrollversuche einer kollektiven Sichtperspektive, die nach Frohne dazu führten, dass nur jene Aufnahmen an die Öffentlichkeit gelangten, die »das fehlerfreie Funktionieren der Waffensysteme als scheinbar ›unblutige‹ Kampfhandlungen dokumentierten« (ebd.: 169). Die an diesen Beispielen verdeutlichten Visualisierungspraktiken unterstreichen die allumfassende Wirkmacht des fotografischen Bildes, dem aufgrund seiner besonderen Framing-Kapazitäten augenscheinlich stets eine besondere Stellung in der

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Kriegsberichterstattung zuteilwurde. Bereits um 1922 schrieb der amerikanische Publizist und Medienkritiker Walter Lippmann (zit.n. Sontag, 2013: 33), dass »Fotos für unsere Vorstellungskraft jene Autorität [besäßen], die gestern noch dem gedruckten Wort und davor dem gesprochenen Wort zukam« (ebd.), denn sie erschienen für Lippmann »über die Maße wirklich« (ebd.). Lippmanns Verweis auf den fotografischen Realismus blieb über Jahrzehnte hindurch wohl aufgrund der indexikalischen Referenzialität und Ikonizität fotografischer Bilder gültig. Neben der Zuschreibung ihrer außerordentlichen Realitätsnähe erwies sich auch die Rezeptions-Universalität von Fotografien als besonders attraktiv für die massenmediale Informationsverbreitung. So richtet sich ein Foto im Unterschied zu einem geschriebenen Beitrag beispielsweise nie nur an einen bestimmten Leserkreis, sondern verfügt nach Sontag (2013: 27) »über eine einzige Sprache und ist im Prinzip für alle bestimmt«. Zudem, so behauptet Sontag an späterer Stelle, bleiben Standbilder, im Vergleich zu Nonstop-Bildern (Fernsehen) in einer Ära der Informationsüberflutung länger im Gedächtnis und hinterlassen eine tiefere Wirkung (vgl. ebd.: 29). Die Macht des fotografischen Bildes formiert sich nach Judith Butler (2009) zudem aus der Kraft des Affekts, denn nach Butler kann eine durch ein Bild ausgelöste »entsprechende Empörung die öffentliche Meinung gegen den Krieg« (Butler, 2009: 21) wenden oder im umgekehrten Fall, Kriegsführung als unausweichliche Dringlichkeit herausstellen. Je eher Bilder des Krieges daher an unsere moralische Verpflichtung appellieren, die sich auf das Urteilsvermögen der Betrachter/innen durchschlagen und nicht im Interesse der politischen Meinungsbildung stehen oder ein nationales Zughörigkeitsgefühl zu verunstalten drohen, desto eher scheinen sie zu viel zu sprechen und werden zumindest partiell der massenmedialen Verbreitung entzogen. So drangen beispielsweise Fotografien des Folterskandals in Abu Ghraib, die auf mehrfache Misshandlungen (z.B.: Abb. 2), Vergewaltigungen und Hinrichtungen irakischer Insassen durch amerikanisches Wachpersonal verwiesen, 2004 (1. Teil) und 2006 (2. Teil) erst zeitverzögert an die Öffentlichkeit. Abb. 2: Irakischer Gefangener in Abu Ghraib, © DPA (2004)

Die Freigabe der Fotografien war zur Zeit des Wissens um ihre Existenz höchst umstritten. Etliche Fernsehleute, darunter auch der amerikanische Fernsehsprecher Bill O’Reilly, sprachen sich gegen die Veröffentlichung der Bilder aus. Sie bezeichneten die Fotografien als eine Gefährdung für das Image der Vereinigten Staaten (vgl. Butler, 2009: 20). Donald Rumsfeld wies den Akt des Zeigens vorliegender

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Folter-Bilder sogar als anti-amerikanisch aus (vgl. Mitchell, 2005). Butler (2009: 21) sieht darin den Versuch, den Beweis menschenunwürdiger Erniedrigung und Folter aus dem Wahrnehmungsraum auszuschließen und folglich ungeschehen zu machen. Damit könnte man in Anlehnung an Butler behaupten, dass die »demokratische Tradition von Partizipation und Deliberation« (Butler, 2010: 97) gebrochen wurde, indem mediale Berichterstattung in vorliegendem Beispiel sowohl das »sinnliche Begreifen des Krieges als auch die Bedingungen eines sinnlichen Widerstandes gegen den Krieg« (ebd.) zu untergraben versuchte. Heute erkennt Frohne in der US-amerikanischen Kriegsberichterstattung jedoch eine sich allmählich einstellende Abkehr von Verfahren und Visualisierungsstrategien der »Entbildlichung« (désimagination) (Didi-Huberman, 2007: 36) und Ästhetisierung klinischer Präzisionskriegsführung der 90er Jahre. Zurückzuführen ist die Tendenz einer zusehends stärker werdenden menschenfokussierenden Berichterstattung vermutlich auf die Auswirkungen der weltweiten Terroranschläge, die insbesondere durch Ground Zero die Verwundbarkeit einer der machtvollsten Nationen der Welt herausstellten. Frohne wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob »die Unmittelbarkeitsemphase der Katastrophenbilder vom 11. September möglicherweise ihre Auswirkungen auch darin [zeigt], dass der ›War against Terrorism‹ nach einer physisch manifestierten Form der Kriegsführung verlangt, die, im Golfkrieg ins Reich der Fiktion verbannt, nun einen affektiv nachvollziehbaren Vergeltungsschlag und eine entsprechend plastische Bilderpolitik verlangt?« (Ebd.: 177) Vielleicht ändert sich die Semantik von Kriegsbildern, so führt Frohne an späterer Stelle fort, aufgrund der Erfahrung und Bewusstwerdung der eigenen Verwundbarkeit und die »Inanspruchnahme des eigenen Opferstatus [motiviert] eine Rückkehr zu klassischen Formen der Kriegsfotografie […]« (ebd.: 177f)? Es bleibt zu hoffen, dass diesem von Frohne beobachteten Trend der Hinwendung zu ›menschennaher‹ Berichterstattung weiterhin gefolgt wird, denn letzten Endes sind und bleiben es Menschen, die Kriege führen und in Kriegen ihr Leben lassen. Im Anschluss wird nun – ausgehend von der bereits erfolgten Problematisierung medialer Kriegs- und Leidberichterstattung – der Frage der Gelingensbedingungen für ein ›entgrenztes‹ Mitfühlen nachgespürt, das in diesem Falle mit und durch Fotografien hervorgebracht werden soll und damit auch Butlers und Sontags Überzeugung folgt, dass uns visuelle Zeichen durchaus zu affizieren vermögen. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage nach bildimmanenten Merkmalen auf, die, vorerst ungeachtet des Visualisierungskontexts, das Potenzial in sich tragen, an unser menschliches Mitgefühl zu appellieren. Zunächst ist daher der Begriff des Mitgefühls klärungsbedürftig, um letztlich besser zu verstehen, welche Haltung im Zuge der Rezeption von Kriegsfotografien sowohl von Sontag als auch Butler vehement eingefordert wurde. Damit wird sich herausstellen, dass Mitgefühl als wesentliches Fundament wie auch Ziel interkultureller und ethischer Bildung weit mehr als nur ein affektiver Zustand ist, wie fälschlicherweise oft angenommen wird.

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3. D ie L iebe im M itgefühl – F ace t ten des M itgefühlsbegriffs und A nknüpfungspunk te für die e thische B ildung Die Sozialethikerin und Friedenspädagogin Elisabeth Naurath thematisiert in ihrer Habilitationsschrift Mit Gefühl gegen Gewalt (2007) die Wirkungen des Mitgefühls im Kontext ethischer Bildung und plädiert unter theologischen Gesichtspunkten für eine differenzierte Verwendung der im Alltagsgebrauch häufig als Synonym verwendeten Begriffe »Empathie«, »Mitgefühl« und »Mitleid«. Auch die Schriften von Judith Butler und Susan Sontag zeugen von dieser begrifflichen Unschärfe, was vermutlich der nach wie vor fehlenden definitorischen Eindeutigkeit in wissenschaftlichen Diskursen zu schulden ist. Sowohl eine etymologische Betrachtung der Bedeutungsgenese der vorliegenden drei Termini, wie auch deren Verwendungszusammenhänge verlangen nach einer Thematisierung möglicher ›feiner‹ Unterschiede, auch wenn klare Linien einer terminologischen Verortung vermutlich nie vollends hervortreten werden. Für Entwicklungspsychologin Jutta Kienbaum (2003: 9) ist Empathie in Anlehnung an Erkenntnisse emotionspsychologischer Studien eine »übergeordnete Kategorie des Sich-Einfühlens in einen anderen«, folglich »ein Prozess, aus dem sich so unterschiedliche Gefühle wie Mitgefühl, aber auch Schadenfreude […] entwickeln können«. Dieses Hervorrufen von Gefühlen vor dem Hintergrund des Sich-Einfühlens hebt die kognitiven Konnotationen des Empathiebegriffs hervor, der mitunter begrifflich mit »Perspektivenübernahme« (Naurath, 2007: 67) gleichgesetzt wird. So betont der Ethiker Hanspeter Schmitt (vgl. 2003: 159) in seiner Bestimmung des Empathiebegriffs ebenso den kognitiven Aspekt des Sich-Einfühlens. Für ihn ist Empathie als »Akt des differenzierten Erkennens« (ebd.) auszuweisen, der für die »stellvertretende Übernahme des anderen Erlebensausdrucks« (ebd.) steht, »gleichsam für das erfassende Fühlen eines am anderen wahrnehmbaren Gefühls, das aber – wohl wissend – dem anderen gehört und nicht zu meiner originär-eigenen Empfindung wird« (ebd.). Definitionen des Mitgefühlsbegriffs betonen hingegen vordergründig die affektive Komponente, indem damit ein Gefühl des Bedauerns und der Betroffenheit bezeichnet wird, das »im Mitfühlenden realiter […] entsteht, das er aufgrund der Situation empfindet« (Naurath, 2007: 67). Für Max Scheler ist Mitgefühl jedoch nicht mit dem Phänomen der Gefühlsansteckung in Form der unbewussten und imitierenden Übernahme eines Gefühls des Gegenübers gleichzusetzen, wie wir es aus dem Tierreich kennen. Für Scheler kann das Gegenüber nie »den Schmerz oder die sinnliche Lust einer Speise, die ein anderer hat, wahrnehmen. Ich kann allein eine selbst erfahrene ähnliche Empfindung reproduzieren und schließen, dass der Andere bei analogen Reizen ein Ähnliches wie ich selbst erlebe. Die wechselnden Zustände des Leibes in Empfindung und Gefühl sind eben schlechthin gebunden an den bestimmten Leib des Individuums. […] Genau in dem Maße, als ein Mensch vorwiegend in seinen Leibzuständen lebt, muß ihm daher das seelische Erleben seiner Mitmenschen verschlossen bleiben […].« (Scheler, 1931: 35)

Somit gehe es trotz des originären Gefühls des Bedauerns und der Betroffenheit um eine aufrechtzuerhaltende »Distanz der Personen und ihr einseitiges wie gegenseitiges Verschiedenheitsbewusstsein« (Koffler, 2001: 143). Dieses Verständ-

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nis impliziert auch Schmitts Definition des Empathiebegriffs. Auf affektiver Ebene wird zwar eine identifikatorische Nähe zum Gegenüber verspürt, folglich ein Mit-sein gefühlt, die Personengrenzen bleiben jedoch gewahrt (vgl. Naurath, 2007: 70). Sich mit dem Leid seines Gegenübers zu identifizieren bedeutet damit keineswegs eine völlige Identitätsübernahme zwischen Leidendem und Mit-Leidendem (vgl. ebd.: 69). Vielmehr zeugt dies von dem Verständnis einer Identifikation in bleibender Differenz. Für Naurath (vgl. ebd.) erzeugt Mitgefühl damit eine Art der Verbundenheit, die dem Leidenden und Mit-Leidenden Subjektivität, Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit zugesteht: »Nur wenn die Grenzen zum anderen als einem Fremden gewahrt bleiben, ist der Gefahr einer Verobjektivierung Einhalt geboten. Diese Grenzen der Person verbieten eine wie auch immer geartete Teilhabe am Leiden des Gegenübers und damit eine ›wohlmeinende‹ Vereinnahmung, die den Anderen letztlich nicht mehr als Subjekt ernst nimmt.« (Ebd.: 70)

In ihrer Präferenz des Terminus »Mitgefühl« im Kontext der ethischen Bildung tritt Naurath damit einer Mitleids-Ethik entgegen. Aus ihrer Sicht haften dem von der Sprachwissenschaft als »Kirchenwort« (ebd.: 68) bezeichneten Begriff Vereinnahmungsvorwürfe und Überheblichkeitstendenzen an, insofern der zu bemitleidenden Person ein minderwertiger Status zugesprochen sowie seine Eigenständigkeit als Subjekt abgesprochen und ein hierarchisches Beziehungsgefüge vorausgesetzt wird (ebd.: 69f). Beim Verspüren von Mitgefühl hingegen geht es weniger um eine urteilende und wertende Haltung, als vielmehr um die Fähigkeit, »an den Gefühlen anderer (so wie sie von ihnen erfahren werden) teilzuhaben« (Gilligan & Wiggins, 1993: 83). Naurath (2007: 78) zieht in ihrer begriffsgeschichtlichen Abhandlung des Mitgefühlsbegriffs zudem eine Analogie zum biblischen Wort »Barmherzigkeit«, das sie zum »theologischen Ort des Mitgefühls« (ebd.) erklärt. Ist nach Naurath der »Ausgangspunkt des Mitgefühls eine Notlage, die zum einen zur emotionalen Betroffenheit des Mitansehenden und Miterlebenden führt und zum anderen zur aktiven Linderung des Geschehens initiiert« (ebd.), so erscheint der Begriff der Barmherzigkeit dem Verständnis von Mitgefühl sehr nahe zu kommen. In vorliegender Definition tritt an dieser Stelle eine neue Komponente hinzu, die das Handlungsmoment hervorhebt: Die emotionale Betroffenheit führt zu einer Handlung, die den aktuellen Zustand des Gegenübers verbessern soll. Hierbei ergeben sich Parallelen zum emotions- bzw. sozialpsychologischen Terminus »Prosozialität«, unter der »ein freiwilliges Handeln, das mit der Absicht ausgeführt wird, zum Wohlergehen eines anderen beizutragen« (Friedlmeier, 1993: 39) verstanden wird. Das Motiv für mein Handeln ist damit meine persönliche Betroffenheit vom Leid meines Gegenübers, die keiner argumentativen Rechtfertigung bedarf, keinem persönlichem Nutzen dient bzw. keinem Telos folgt, sondern letztlich von Nächstenliebe zeugt. Somit könnte man in Anlehnung an Scheler (1931) behaupten, dass das »Verständnis von Mitgefühl die Menschliebe fundiert« (Naurath, 2007: 77). Der Begriff »Empathie« verfügt diesem Gedanken folgend über ein deutlich umfassenderes Bedeutungs- sowie ambivalentes Gefühlsspektrum, das im Unterschied zum Begriff des Mitgefühls auch antagonistische Motive (z.B. Schadenfreude) umfassen kann. Das Verspüren von Mitgefühl als eine Form der Betroffenheit und des Sich-verbunden-Fühlens mit der Mit- und Umwelt weist jedoch in erster

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Linie eine prosoziale Färbung auf, und rückt vor allem den affektiven Gehalt in den Vordergrund. Mitgefühl beschreibt folglich ein Gefühl, das sich unter den Oberbegriff »Empathie« einordnen lässt, jedoch dezidiert mit positiven Konnotationen in Verbindung steht. Im Unterschied zum Mitleid, das einer hierarchischen Beziehung zwischen einem ›stärkeren‹ und ›schwächeren‹ Gegenüber entspringt, fußt das Mitgefühl auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl und dem Bewusstsein einer Verbundenheit zwischen allen Menschen. Die Thematisierung und Förderung menschlichen Mitgefühls erfordert damit die Bewusstwerdung über die eigene Integration in einem größeren Ganzen, das weit über meinen täglich erfahrbaren Radius an Begegnungen und Beziehungen hinausreicht. Für den Theologen Leonardo Boff (vgl. 1999: 29) ist das Mitgefühl für ›fremdes‹ Leiden somit eine Haltung, mit der ich Menschen ungeachtet ihrer Kultur, Religion oder Herkunft in Verbundenheit begegne und die sich folglich »dadurch auszeichnet, dass sie aufs Vortrefflichste alle Religionen, Kulturen und politischen Systeme miteinander verbindet, so unterschiedlich sie auch sein mögen« (ebd.). Eine Ethik des Mitgefühls ist folglich eng mit Facetten der interkulturellen wie auch interreligiösen Bildung verwoben. Zur Förderung ebendieser Haltung benötigt es insbesondere kollektive Denk- und Erfahrungsräume, in denen im Sinne eines humanistischen Bildungsverständnisses gemeinschaftlich das »Wissen um Vielfalt, Respekt vor Fremden und Zurücknahme der eigenen Person« (Lerch, 2010: 131) vermittelt wird. Damit wird einem Bildungsverständnis nachgekommen, das sich nicht auf solipsistisch anmutende Selbstbezüglichkeit und kontemplative Innerlichkeit beschränkt, sondern Bildung als »kooperatives Gut« (Lederer, 2011: 40) und als Ziel und Produkt gelingenden Miteinanders definiert. Bildung wird somit zur »Klammer zwischen Welt und Ich« (ebd.: 33). Diese dyadische Struktur von Bildung als Selbstbildung und reflexiv-aktiver weltbezogener Auseinandersetzung betonte auch der deutsche Pädagoge Klaus Mollenhauer (1982, zit.n. Lederer, 2011: 33), indem er davon ausgeht, dass der Mensch in seinem Bildungsprozess stets gebunden an andere bleibt – »er kann sich nur bilden im Hinblick auf diese anderen; er wird zum Subjekt in der Interaktion mit diesen, bildet deshalb nicht nur sich selbst, sondern wird auch in diesen Beziehungen gebildet« (ebd.). Der dialektische und transsubjektive Austausch zwischen dem »Ich« und der »Welt« verlangt demnach nach einer umfassenden Verantwortungsübernahme nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Mitwelt, weil das Gegenüber automatisch in meinen Prozess der Menschwerdung eingebunden ist. Bildung gewinnt nach Mertens (1989: 185) daher ihre Vollendung erst »in der wechselseitigen Anerkennung aller, in der gemeinsamen, vernunftmäßigen Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens« und umfasst Dimensionen von Solidaritätsfähigkeit. In diesem Sinne soll Bildung zur »Mehrung menschlicher Wohlfahrt« (Lederer, 2011: 35) beitragen und unterstreicht die Notwendigkeit eines handlungsleitenden Wertefundaments, das sich nach Lederer (vgl. ebd.: 40) an den universellen Menschrechten zu orientieren habe. Wenn Mitgefühl als Zusammengehörigkeitsgefühl definiert wird, »das einen evidenten gesellschaftspolitischen Bezug aufzeigt, wird es zur Energie für alle Kreaturen unter der Herausforderung der Schaffung von Gerechtigkeit« (ebd.: 94). In diesem Sinne muss es mir als sich bildender bzw. gebildeter Mensch stets ein Anliegen sein, dass mein Gegenüber werte- bzw. rechtskonform behandelt wird. Bezieht man nun die Relevanz menschlichen Mitgefühls auf das hier dargelegte Verständnis von

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Bildung, dann ist Mit-fühlen weit mehr als nur eine affektive Regung. Es ist gleichzeitig Bildungsideal und -ziel, wie Fundament für prosoziale Handlungen. Die in diesem Abschnitt herausgearbeiteten feinen Nuancen einer Unterscheidung führen letztlich zur Überzeugung, dass der Begriff »Mitgefühl« im Kontext der Förderung von Prosozialität und globaler Verantwortungsübernahme (vgl. Butler, 2009) vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit anderen Begriffen mit ähnlicher Semantik vorzuziehen ist. Im Nachfolgenden werden nun ausgehend von empirischen Erkenntnissen im Bereich der Medienwirkungsforschung bildbezogene Eigenschaften herausgearbeitet, die im Bildbetrachter/in der Bildbetrachterin eine Form des Mit-fühlens zu evozieren im Stande sind. An dieser Stelle kann aufgrund der Semantik des Mitgefühlbegriffs und der darin implizierten Notwendigkeit der Herstellung von identifikatorischer Nähe zum Gegenüber bereits gemutmaßt werden, dass insbesondere Bilder, die Leidtragende, folglich den Menschen selbst, ins Zentrum der Aufnahme rücken, derartiges Potenzial in sich tragen.

4. W elche B ilder rühren uns ? Z ur F r age emotionalisierender B ildelemente Als Gegenbewegung zum gelenkten Journalismus konnte sich in den letzten Jahren eine sozialkritische und an den Geschichten und Widerfahrnissen von Kriegsopfern orientierte Berichterstattung etablieren, die im Sinne des Friedensjournalismus (vgl. Kempf, 2010) die mehrdimensionale Komplexität des Krieges fernab einer Normierung von ›Gut‹ und ›Böse‹ darzustellen versucht und insbesondere den Leidtragenden des Krieges eine Stimme verleihen möchte. Durch die dadurch in Umlauf gebrachten Darstellungen der Auswirkungen gewalttätiger Konflikte sollte Mitgefühl im Bildbetrachter/in der Bildbetrachterin hervorgebracht werden, das wiederum auf die (politische) Urteilsfähigkeit wirken und eine kritische Haltung gegenüber jeglicher Form kriegerischer Auseinandersetzungen ausbilden und festigen soll. Insbesondere die jährlich von der World Press Foundation erwählten Siegerbilder für den World Press Foto Award sprechen eine auffallend emotionalisierende Bildsprache und sind als Zeichen eines sich zunehmend stark machenden Friedensjournalismus zu lesen (auch wenn dieser Kontext genauso wenig von Versuchen der Bildmanipulation gefeit blieb). Gerade jene Bilder journalistischer Praxis werden jährlich prämiert, die den ethischen Prinzipien fotografischer Berichterstattung wie »accuracy, impartiality, fairness, transparency, and accountability« (World Press Foto) entsprechen und in ihrem Versuch der Visualisierung menschlichen Leidens eine Gegenantwort zu massenmedial ausgeblendeten Leidfotografien darstellen. In der Kategorie »Spot News« werden vorwiegend jene Fotografien prämiert, die »menschlich geprägten Pathosformeln« (Frohne, 2006: 178) folgen und sowohl die Verwundbarkeit (z.B.: Abb. 3) wie auch Gewaltbereitschaft und Grausamkeit (z.B.: Abb. 4) von Menschen in Kriegssituationen visuell thematisieren. Wie an mehreren Stellen bereits eröffnet, wird zur Herstellung einer emotionalen Verbindung zwischen Kriegsopfer und Kriegsbetrachter/in bzw. Rezipient/ in häufig auf das fotografische Bild zurückgegriffen, mitunter weil Emotionalisierung nach Lobinger (2012: 32) »als eine der zentralen kommunikativen Leistungen von Bildern« gilt. Die Erforschung visuell vermittelter Botschaften und ihrer emotionalisierenden Wirkungen und Rezeptionsformen im Kontext der Medien-

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wirkungsforschung folgt im Gegenzug zur Medieninhalts- und Mediennutzungsforschung jedoch einer äußerst jungen Tradition (vgl. Gerth, 2015: 68). Wohl aufgrund der zunehmenden Problematisierung von Manipulationsstrategien im Feld der massenmedialen Kommunikation sowie des in Verruf geratenen gelenkten Journalismus und seiner auf das Bild bezogenen subversiven Tendenzen (z.B. Sabotage, Diversion) wurden im kommunikationswissenschaftlichen Kontext in den letzten Jahren jedoch zunehmend häufiger Untersuchungen zu den Effekten der Krisen- und Kriegsberichterstattung erhoben (vgl. Lobinger, 2012; Griffin, 2004; Fahmy & Kim, 2008). Zu diesen Forschungsarbeiten zählt u.a. die Studie des Medienwissenschaftlers Sebastian Gerth (2015), der sich der Frage widmete, welche Bildelemente von Kriegsfotografien aus welchen Gründen emotionalisierend auf den Bildbetrachter/die Bildbetrachterin wirken. Abb. 3: Medics Assist a Wounded Girl, © ABand Doumany (2016, WPA 2017)

Abb. 4: Interrogation, © Emin Özem (2012, WPA 2013)

Auch wenn Gerth (2015: 76) in seiner Untersuchung mit dem psychologisch geprägten Begriff der Emotion operiert und darunter »affektive Zustände eines In-

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dividuums« fasst, »welche durch die Rezeption medialer Inhalte hervorgerufen werden und sich auf einer kognitiven, konativen und physiologischen Ebene manifestieren« (ebd.: 76), ist eine Verbindung zum Begriff des Mitgefühls nicht von der Hand zu weisen. Emotionale Regungen, sei es beispielsweise in Form von Angst oder Ärger, bilden das Fundament bzw. den Ausgangspunkt für die Entfaltung von Mitgefühl, indem sie diesem vorgelagert sind. Auf der Basis verspürter Emotionen nehmen Gefühle und Haltungen somit erst Gestalt an. Damit sind emotionalisierende Bildelemente grundlegende Voraussetzung, um einen sozialen Blick in Form des ›geschauten Mit-Fühlens‹ ausbilden zu können. In seiner explorativen Interviewstudie (N= 30) zur Wirkung von Kriegsfotografien des Fotojournalisten James Nachtwey (z.B.: Abb. 5, Abb. 6) konnte Gerth herausfinden, dass sowohl inhaltliche (Bildmotiv) wie auch gestalterische Bildelemente eine emotionalisierende Wirkung erzielen können. Folgende bildspezifischen Einflussfaktoren konnte Gerth (vgl. 2015: 96-98) als bedeutsam herausarbeiten: • Nahaufnahmen lösten wesentlich häufiger Emotionen aus als Panoramabilder. • Aufnahmen in häuslicher Umgebung führten zu einer stärkeren Emotionalisierung als Bilder, die in neutraler Umgebung aufgenommen wurden. • Kinderbilder wirkten emotionalisierender auf den Bildbetrachter/die Bildbetrachterin als Bilder, die erwachsene Zivilisten/Zivilistinnen zeigten. • Die Mimik und Gestik der abgebildeten Personen erwiesen sich als zentrales Merkmal für eine emotionalisierende Wirkung. • Der Blick einer Person bewirkte nur dann eine Emotionalisierung, wenn er direkt auf den Bildbetrachter/die Bildbetrachterin gerichtet war. • Die verspürten Emotionen waren vornehmlich negativ konnotiert (z.B. Traurigkeit, Angst, Ärger). Für Gerth erwiesen sich zusammenfassend der/die dargestellte Protagonist/in als Hauptmotiv und seine sich im Bild artikulierende Mimik und Gestik als besonders wirkungsstark. Die genannten Motive für die Auswahl bzw. Einordnung der Bilder nach Emotionalisierungsgrad lassen zudem vermuten, dass bildimmanente Merkmale, die den Betrachter/die Betrachterin dem Schicksal und der Geschichte des Bildprotagonisten/der Bildprotagonistin ›näher‹ kommen (z.B. häusliche Umgebung, Nahaufnahme, Blickkontakt) und folglich mehr am Einzelschicksal teilhaben ließen, eine starke emotionalisierende Wirkung erzielten. Ergebnisse der vorliegenden Interviewstudie treten folglich den von Butler kritisierten Panorama-Kriegsbildern entgegen und plädieren für eine personen- bzw. schicksalsnahe Fotografie im Feld kriegsjournalistischer Darstellung. Ursula Frohne (vgl. 2006: 176) sieht gerade in dem je spezifischen Aufnahmestil von Fotografien die Ursache einer tendenziell emotionalen Verarmung medialer Kriegsberichterstattung und spricht sich daher für eine Abkehr von neutralisierendem Event-Journalismus mit der Bemühung um ein überdeutliches und klinisch gereinigtes Bild (graphic image) aus. Um Emotionen im Bildbetrachter/in der Bildbetrachterin erzeugen zu können, benötigt es auch nach Frohne (ebd.) einen Blick für die Schicksale von Kriegsopfern, der sich als sozialer Blick nicht durch klinisch sterile Bilder technoider Kriegsführung, sondern erst durch die (im Bild hergestellte) Nähe zum Menschen herausbilden kann. Ich möchte an dieser Stelle vor dem Hintergrund eigener Beobachtungen Parallelen zu Gerths Ausführungen ziehen und diese in die nachfolgende Argumen-

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tation aufnehmen. Im Zuge der Durchsicht des Bildbandes Der gelbe Stern, der bereits um 1960 erstmalig den Leidensweg von Millionen von Menschen jüdischer Abstammung – angefangen bei den Auswirkungen von Hasspropaganda und ihrer Entrechtung über ihre Deportation bis hin zum Massenmord visualisierte – konnte ich vier Merkmale als wirkungsvoll im Hinblick auf den Aufforderungscharakter (»Sieh her!«) von Kriegsfotografien und ihr Affizierungspotenzial identifizieren: a) die Blickrichtung und -intensität des abgebildeten menschlichen Sujets und das sich darin zumindest in Ansätzen offenbarende menschliche Antlitz b) der Grad der Lebendigkeit des Bildprotagonisten/der Bildprotagonistin, c) die Synchronizität von als oppositär wahrgenommener Begebenheiten unter besonderer Berücksichtigung der Sichtbarwerdung des ›Täters‹/der ›Täterin‹ bzw. der ›Tat‹ sowie die d) Hervorhebung des Einzelschicksals. Im Nachfolgenden werden diese vier Merkmale unter Berücksichtigung philosophischer Konzepte und Gedanken von Emmanuel Lévinas und Roland Barthes einer näheren Betrachtung unterzogen. Abb. 5: Aufnahme Kinderheim von Saesa, Rumänien (1997), © Nachtwey (2004: 44f)

Abb. 6: Aufnahme Bosnien (1993), © Nachtwey (1997: 12f)

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Emmanuel Lévinas‹ (1987) Ansichten nachsinnend steht das Antlitz für weit mehr als ›nur‹ für das Gesicht, das sich in Form einer objektivierenden Annäherung als Konglomerat von Nase, Mund, Augen, Stirn und Kinn definieren ließe. Das Antlitz lässt sich nicht auf Einzelheiten von Körpermerkmalen reduzieren, sondern verweist auf das Gewahrwerden der schutzlosen Darbietung von Nacktheit (z.B.: Abb. 7, Abb. 8). Wenn das Antlitz eines Menschen geschaut wird, dann eröffnet sich uns das Bild seiner Armut, das uns in gewisser Weise verbietet, diesem Menschen Gewalt anzutun, zeitgleich jedoch gerade aufgrund dieser Exponiertheit menschlicher Schutzlosigkeit gemäß Lévinas zum Gewaltakt einlädt. Das Antlitz eines Menschen zu entdecken ist folglich nicht das Resultat einer ›reinen‹ bzw. einfachen Wahrnehmung, sondern kann als ethischer bzw. sozialer Blick ausgewiesen werden – als ein Akt der sich entgegenblickenden Rezeption und zeitgleichen Ausbildung von Verantwortungsbewusstsein für den Anderen. Das bedeutet, dass ein Bild nicht von selbst das Antlitz einer Person eröffnet, wenn man die vorliegende Wahrnehmung als ethischen Blick versteht, sondern erst durch den Akt des Schauens und damit verbundener Reaktionen entfaltet werden kann. Wenn nun das Antlitz eines Menschen gesucht wird, sofern es überhaupt gefunden werden kann, so scheint es am ehesten im Blick des Gegenübers Gestalt anzunehmen, der damit über seinen Zustand der Zerbrechlichkeit informiert. In seiner etymologischen Bedeutung verweist das Wort »Antlitz« auf etwas, was einem entgegenschaut. So ist es der auf mich gerichtete Blick, der mich auffordert, entgegenzublicken und an mich und meine Menschlichkeit appelliert, in irgendeiner Form auf das für mich sichtbare Geschehnis zu antworten. Gerade Kriegsfotografien, in denen mich ein leidender Mensch über das Medium des Bildes mit seinen Augen trifft (z.B.: Abb. 7), fragen mich, warum ich das Leid in voyeuristischer Manier beobachte und nicht einschreite. Diese Auseinandersetzung zwischen dem ›Ich‹ und dem erblickten ›Du‹ in Form der Blickaufnahme lässt mich den Menschen in seiner Lebendigkeit und Lebenswürdigkeit erkennen. Bilder toter Menschen berühren zwar, dennoch ist der Betrachter/die Betrachterin nicht mehr Teil einer menschlichen Blickkommunikation. Der Appellcharakter des Blickes verliert sich, denn Tote blicken niemanden an. Für Judith Butler (2009: 66) »suchen [sie] unseren Blick nicht«. Der Betrachter/die Betrachterin, dessen/deren Reaktion im Zuge des sozialen Erblickens hier maßgeblich wäre, gerät folglich aus dem Blickfeld. Wenn Roland Barthes (vgl. 2016: 31) vom Abenteuer der Fotografie spricht, bezieht er sich unter anderem auf eine im Bild erkennbare Art von Dualität, die er auf die gleichzeitige Präsenz von Elementen unterschiedlicher Weltzugehörigkeit zurückführt. Im Fall von Kriegsfotografien sind es gerade die Bilder, die synchron auf die Existenz zweier als ungleich wahrgenommener Entitäten bzw. Qualitäten verweisen, die uns ansprechen und genauer hinsehen lassen. Die gleichzeitige fotografische Rahmung von andersartigen und letztlich doch aufeinander bezogenen Phänomenen menschlicher Existenz, wie Leben und Tod, Macht und Ausgeliefertsein, Jagd und Flucht, amalgamiert in einem Bild, erweist sich insbesondere daher als interessant, weil sie das Unheilbringende oder den ›Täter‹/die ›Täterin‹, folglich das Agens, nicht mehr ausspart bzw. ›ausrahmt‹, ignoriert oder wegrationalisiert. Die Abbildung eines ermordeten Menschen im Kontext der Kriegsfotografie verrät, dass es noch jemanden gibt bzw. gab, der gemordet hat, jedoch häufig aus dem Bildraum ausgegrenzt wird. Uns als Betrachter/innen wird damit suggeriert, dass ein abstraktes Kollektiv wie ›Die Nationalsozialisten‹, ›Die Terrorattentäter‹, ›Die

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Islamisten‹ hier zugeschlagen haben, jedoch kein einzelner Mensch mit Namen und Geschichte diesen Akt vollführt haben kann. Diese Form des Verweises auf ein Abstraktum im Kontext visualisierter Tötungsdelikte bricht in diesen Fotografien der Dualität bzw. Synchronizität (Ermordete/r und Mörder/in treten im Bild in Erscheinung) auf und zeigt uns den Menschen hinter der Tat (z.B.: Abb. 9). Die Auseinandersetzung mit den manipulativen Strategien im Hinblick auf die Rezeption von Kriegsfotografien führt in Rekurs auf Sontags und Butlers Ausführungen zudem zur Überzeugung, dass die seit Jahren zur Anwendung kommende Abbildungslogik von Leid im Bild darauf abzielt, menschliche Anonymität zu wahren und den leidenden Menschen in seinem eigentümlichen Menschsein aufzulösen. Tote Menschen, sofern diese massenmedial visuell vorgeführt werden, sind zunehmend gesichtslos, auffallend häufig wie ein Fremdkörper am Bildrand positioniert und aus Obersicht-Perspektive aufgenommen oder sie treten als totes Kollektiv in Erscheinung, welches mit den in Bildunterschriften oder Begleittexten zur Anwendung kommenden Worten ›Die Juden…‹, ›Die Kriegsgefangenen…‹ oder ›die Flüchtlinge…‹ vom Betrachter/von der Betrachterin abgegrenzt wird. Abb. 7: Menschenjagd in Kowno, Fotograf unbekannt (Schoenberner, 2013: 108)

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Abb. 8: Menschenjagd in Lijepaja, Fotograf unbekannt (Schoenberner, 2013: 109)

Abb. 9: Exekution einer kommunistischen Widerstandsgruppe, Fotograf unbekannt (Schoenberner, 2013: 125)

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Einzelporträtierungen, die Details und Eigenheiten eines Menschen und seines Leidens zeigen, ihm eine sozial (an-)erkennbare Identität verleihen und ihn folglich in seinem Menschsein und seiner menschlichen Würde zu fassen vermögen, lassen den Leidenden aus seiner Anonymität heraustreten, auch wenn er namentlich nicht bekannt sein mag. Das Einzelschicksal lässt den Betrachter/die Betrachterin näherkommen, mehr sehen, mehr erkennen, mehr verspüren. Der Leidende erhält ein ›Gesicht‹. In diesem Zusammenhang ist jedoch ebenso auf die Wirkung einer bewusst inszenierten »ikonoklastischen Geste der Verweigerung« (Maeger & Baum, 2011: 1) im Kontext der Konfrontation von Leid zu verweisen. Vielleicht ist das fehlende Gesicht in Anlehnung an Butler (2010: 92) »gerade als verborgenes viel wirksamer […], es wirkt auf uns vielleicht gerade wegen der und durch die Mittel seiner nachträglichen Verhüllung«. Wenn Butler (2010: 92) davon spricht, dass ein verdecktes Gesicht eine »Lücke in das visuelle Feld« reißt, verdeutlicht sich an dieser Stelle, dass dem Gesicht eine besondere Rolle im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit menschlicher Identität eingeräumt wird. Gleichzeitig wird damit die Frage virulent, ob gerade, weil man Visualisierungen des Gesichtes oder gar eines leidenden Menschen in seiner Ganzheit aus dem medialen Diskurs ausspart, heutzutage ein Zeichen gesetzt wird und dadurch die Würde des Menschen womöglich eher gewahrt bleibt als im umgekehrten Fall – der visuellen »Exposition« (ebd.: 93) von Kriegsopfern. Dennoch wirkt das Gesicht; es trägt etwas in sich, das uns den Menschen in seinem Menschsein und seiner Verwundbarkeit und Hilfsbedürftigkeit erkennen lässt und damit im Stande ist, ein Gefühl der Identifikation und Verbundenheit zu erzeugen, wodurch wir wiederum unserer eigenen Verwundbarkeit gewahr werden. Es ist damit im Zuge der Herausbildung von Mitgefühl als wesentlich anzuerkennen. Wie in vorliegendem Abschnitt herausgearbeitet, sind bildimmanente Merkmale, wie beispielsweise die Abbildung einer von Leid gezeichneten Mimik, die Nahaufnahme eines affirmativen Blicks oder die synchrone Abbildung von Tod und Leben in der Lage, uns affektiv und emotional anzusprechen. Damit wird zwar das Fundament für Emotionen gelegt, es ist jedoch noch nicht gesagt, dass diese zu Mitgefühl erwachsen, sofern das Mit-fühlen in Anlehnung an Boffs Definition als Haltung bzw. ethischer Blick aufgefasst wird. Dies impliziert, dass es (Erfahrungs-) Räume benötigt, in denen am Bewusstsein menschlicher Verbundenheit, dem globalen Zusammengehörigkeitsgefühl und der Verantwortungsübernahme für andere Menschen gearbeitet werden kann. Ein Zusammenspiel aus wissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen, journalistischen und bild(ungs)spezifischen Verfahrensweisen kann dabei behilflich sein, sich diesem wesentlichen Bildungsideal und -ziel gemeinschaftlich und auf unterschiedlichstem Wege anzunähern.

5. I nterdisziplinäre I mplik ationen für die F örderung ikonogr afisch hervorgebr achten M itgefühls Auch wenn die Ausbildung von Mitgefühl immer gebunden an das (›schauende‹) Subjekt bleibt, müssen dennoch ausreichend Möglichkeitsräume zu seiner Förderung geschaffen werden. Ausgangspunkt dafür ist, dass die Auswirkungen des Krieges und menschlichen Leidens überhaupt in den Blick geraten und damit in

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unseren Wahrnehmungsraum eindringen können, »denn in der globalen Mediengesellschaft hängt die öffentliche Wahrnehmung von der Zirkulation und dem Identifikationskontext ihrer Bildprägungen ab« (Frohne, 2006: 176). Für Butler (vgl. 2010) sind wir demzufolge dazu aufgerufen, uns die Begrenzung (Framing) des jeweils Sichtbaren bewusst zu machen sowie die Bedingungen der Wahrnehmbarkeit und die bewusste Setzung epistemologischer Raster zu thematisieren, aus denen bestimmte Leben herausfallen und damit zumindest im zweidimensionalen Bildraum als niemals gelebt verzeichnet werden. Da wir uns täglich mit gelenkten, massenmedial in Umlauf gebrachten Kriegsund Gräuelbildern konfrontiert sehen, müssen wir nach Butler visuelle Normierungen als Machtdifferenzial entziffern und einschätzen lernen, damit wir »gegen Kräfte und Neutralisierung oder Auslöschung anarbeiten können, die uns die Kenntnis und die Reaktionen auf das Leid verbauen« (Butler, 2010: 77). Im Zuge der Rezeption und Deutung von Kriegsfotografien ist daher tunlichst auf ihren Entstehungskontext und das Ausmaß ihrer Einschränkung im Sinne des embedded framings zu achten, denn jede Fotografie »ist eine Art festzulegen, was in das Feld der Wahrnehmung aufgenommen wird und was nicht« (Butler, 2009: 54). Nun ist es jedoch nach Butler gerade das, was uns Schwierigkeit bereitet und vielleicht sogar an den Grenzen des Unmöglichen kratzt – »den Rahmen sehen zu lernen, der uns blind macht gegenüber dem, was wir sehen« (Butler, 2010: 97). Um sich dieser Herausforderungen annehmen zu können, erweisen sich gemeinsame Denk- und Diskussionsräume – sei es im Kontext der (formalen) Bildung, der Wissenschaft, des Journalismus, der Religion oder der Kunst – als hilfreich, die dem (fotografischen) Bild und seiner Thematisierung dezidiert Raum gewähren und sich der Frage annehmen, welches Wissen durch mediale Bilder weitergeben wird und zu welchen Wirkungen es führt bzw. führen soll. Eventuell könnten im wissenschaftlichen Diskurs bildinterpretative Verfahren wie beispielsweise die auf der Wissenssoziologie Karl Mannheims basierende Dokumentarische Bildanalyse nach Ralf Bohnsack (2010) durch ihre besondere Berücksichtigung ikonischer Bildelemente wichtige Erkenntnisse über habitualisierte bzw. inkorporierte Wissensbestände und Ordnungsmuster im Zuge der Bildanfertigung und massenmedialen Distribution von Kriegsbildern liefern. Das Spektrum des durch ein Bild vermittelten proportionalen und ikonologischen Wissens wird durch die eingehende Analyse der Formalstruktur des Bildes um die Facette des impliziten Wissens ergänzt. Auf diese Weise könnte ein Pfad zu eingesetzten Framing-Strategien eröffnet werden, die ansonsten häufig vorbewusst bleiben. Unter medienethischen Gesichtspunkten könnte in formalen Bildungskontexten eine Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Auswirkungen von Mediatisierungsprozessen (vgl. Krotz, 2007) erfolgen, indem der Einfluss von Medien auf unsere Wahrnehmung einer kritischen Diskussion unterzogen wird. Insbesondere der Charakter des fotografischen Bildes (folglich des fotografischen Aktes und der Rezeption fotografischen Bildmaterials) und die ihm nach wie vor zugeschriebene Realitätsnähe und damit verwobene Manipulationskraft sind herauszustellen. Lenkende und einschränkende Visualisierungsweisen und -strategien müssen im Sinne der Ausbildung einer visual literacy bzw. visuacy (vgl. Hug, 2012) erkannt und eingeordnet werden, was aufgrund der Allgegenwärtigkeit medialer Produkte bei gleichzeitiger Zunahme des Einsatzes von Bildmaterial zur Informationsvermittlung eine möglichst frühe Auseinandersetzung mit

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medienethischen Ansätzen in Bildungseinrichtungen erforderlich macht. Zudem wäre es ratsam, sich immer wieder selbst beim Betrachten von Kriegsfotografien zu beobachten und sich zu fragen, welche Regungen der Anblick von Kriegsbildern der Massenmedien in uns auslöst und ob wir uns mit der visuellen Norm, der wir ausgesetzt sind, arrangieren können. An diesen Regungen kann beispielsweise in (formalen) Bildungskontexten weiter angesetzt werden. Aus humanistischer Perspektive dienen Bildungsprozesse der sozialen und emotionalen Sensibilisierung sowie der Herausbildung von Urteils- und Handlungsfähigkeit im Spannungsfeld von Individualität und Kollektivität. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer Förderung menschlichen Mit-Fühlens ist damit ebenso unsere Wahrnehmung zu schulen: »eben zu fühlen, zu erkennen und zu benennen, dass ›hic et nunc‹ eine Situation von Gewalt (auch im weiteren Sinne) vorliegt« (Naurath, 2007: 224). Wichtig ist für Naurath, diesbezüglich eine Perspektive der Einfühlung zu übernehmen, die sowohl affektive wie auch kognitive Elemente einbezieht sowie Acht auf eine mögliche Verantwortungsverlagerung oder Selbstentschuldigung gibt, denn bei zu starker kognitiver Durchdringung können aus emotionspsychologischer Sicht mitfühlende Regungen mitunter verdrängt werden (vgl. ebd.). Gerade die Bedeutung der emotionalen Dimension von Bildungsprozessen im Kontext der (ethischen) Bildung wurde Naurath (vgl. 2007: 285) zufolge in jüngster Zeit jedoch vernachlässigt. Und das, obwohl Einigkeit darüber herrscht, dass eine Marginalisierung der emotionalen Anteile von Bildung zugunsten der Rationalität unter Rekurs auf Pestalozzi immer zu kurz greift. Erkenntnis benötigt das Zusammenspiel und ausgewogene Verhältnis von beiden Komponenten: Des Gefühls und der Kognition – denn es gibt »kein Erkennen ohne Gefühl, keine Handlung ohne Gefühl, keine Erinnerung ohne Gefühl – doch jedes menschliche Gefühl beinhaltet entweder schon als Gefühl das Moment der Kognition oder es ist zumindest mit der Kognition, mit den Zielen und Situationen verbunden« (Heller, zit.n. Haker, 2001: 449). Naurath fordert folglich die Bereitstellung von Settings, in denen nach Kraemer & Spinner (2012: 12) »emotional getönte, sinnliche Erfahrungen initiiert werden, die eine intensive, auch kognitive, Verarbeitung anregen und unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten freilegen«. Mitgefühl kann nämlich erst dann entstehen, wenn die Herstellung einer emotionalen Beziehung und Anteilnahme möglich wird. Dabei könnte sich die gemeinschaftliche Analyse und Diskussion von Kriegsbildern und ihrer Wirkungen vor allem in Bezug auf ihr emotionales Wirkungspotenzial als hilfreich erweisen. Kunsthistoriker Kai Artinger (vgl. 2006: 99) setzt an Nauraths Einschätzung an, indem er ausgehend von Annegret Jürgens-Kirchhoffs Studie Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert zur Einsicht kommt, dass affirmative Kriegsfotografie, die Angst oder Schrecken auszulösen vermag, erst dann ihre ganze Wirkkraft entfalte und zur Erkenntnis werde, wenn emotionale Regungen zu Motiven erwachsen, sich mit den Hintergründen und den Ursachen und Verursachern von Kriegen auseinanderzusetzen. Für ihn bleibe »Schrecken ohne Wissen« (ebd.) blind, jedoch sei »das Wissen ebenso auf die emotionale Kraft des Schreckens angewiesen« (ebd.). Ausgehend von dieser Erkenntnis plädiert er neben der Veröffentlichung und Verwendung aufrüttelnder bzw. emotionalisierender Kriegsdarstellungen daher ebenso für die Konfrontation mit analytischem Bildmaterial, das gezielt Entstehungsmotive bzw. die vielschichtige Geschichte des Krieges aufgreift und in den Blick nimmt. Exemplarisch diskutiert er in diesem Zusammenhang

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Gert Arntz’ Holzschnitt Krieg (1931, 30x21 cm) sowie John Heartfields Fotomontagen Krieg und Leichen – die letzte Hoffnung der Reichen, die als »Lehrbilder« (Artinger, 2006: 94) Erklärungen und Argumentationshilfen zu kriegerischen Auseinandersetzungen im Ersten Weltkrieg lieferten und zur Wachsamkeit aufriefen. Arntz war dabei daran gelegen, die Ursachen des Massentodes der Soldaten im Ersten Weltkrieg als »Folge eines komplexen, reziproken Gesellschaftsprozesses« (ebd.: 93), geprägt von den Interessen gesellschaftlicher Gruppierungen, darzustellen. Mit seinem Werk zeichnete er damit ein modernes Bild der Ursachen und Auswirkungen eines totalen Krieges. Heartfield folgte vorliegendem Tenor und porträtierte Krieg in seinen Montagen als Folge von Unterdrückung und Ausbeutung. Visuell kritisierte er den antisozialen Einfluss faschistischer Parteien und Monopole unter Einsatz der Tierallegorie »Hyäne«, die als Symbol für die antisoziale Kraft kapitalistischer Verhältnisse stehen sollte (vgl. ebd.: 93). Wie diese zwei Beispiele veranschaulichen, nahm die Kunst zum Zwecke der Aufklärung im Kontext der Darstellung und Deutung von Krieg stets einen wichtigen Stellenwert ein. Nach Ralf Schneider (vgl. 2006: 22) haben künstlerische Arbeiten seit dem frühen 20. Jahrhundert die Auffassungen und Praktiken des Militärs, der Politik oder der Massenmedien im diskursiven Feld »Krieg« vehement kritisch gedeutet und bewertet. So sahen sich künstlerische Herangehensweisen im Kontext der Kriegsdiskurse als »Inhaber einer Gegenposition« (ebd.: 22), die »durch die Verfremdung der Wirklichkeit die Bedingungen dieser Wirklichkeit ins Bewusstsein« (ebd.) rückten und damit Zensur, Protest, Meinungsfreiheit sowie Fragen der Kriegsrechtfertigung thematisierten. Die Hinwendung zu künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Verfahrensweisen visueller Kriegsberichterstattung und der medialen Konstruktion von Krieg im Allgemeinen konnte damit auf die Gefahren und Instrumentalisierungsweisen vorliegender Konstruktionsprozesse und ihrer Wirklichkeitsmodelle hinweisen und diese sichtbar und damit diskutierbar machen. Diese Form der Anteilnahme ist als Signal zu verstehen, »dass die Künste um die Konstruktivität des Kriegsdiskurses und die Abhängigkeit der Konstruktion von der Beschaffenheit der Medienprodukte« (ebd.: 23) stets wussten. Künstlerische Verfahrensweisen sahen und sehen sich demzufolge dazu angehalten, an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit und in diesem Fall der Kriegswirklichkeit teilzunehmen und Gegenentwürfe anzubieten. In diesem Sinne ist sowohl formalen Bildungseinrichtungen wie auch den Wissenschaften anzuraten, ihre Tendenzen zur Grenzziehung und damit auch zur erkennbaren Abschottung von anderen Disziplinen zu hinterfragen, Grenzen zu weiten, wenn nicht gar aufzuweichen und Erkenntnisse künstlerischer Praktiken wie diese selbst im Zuge ihrer Verfahren des Erkenntnisgewinns einzubinden. Auch im Feld journalistischer Praktiken entfalteten sich Gegenentwürfe zu gelenkten Formen der Kriegs- und Krisenberichterstattung. In den Anfängen des 21. Jahrhunderts machte sich allmählich der Begriff des Friedensjournalismus breit, der in gleicher Weise wie wissenschaftliche und künstlerische ›Stellungnahmen‹ die differenzierte Darstellung der Komplexität von Kriegsgeschehen fernab von Parteilichkeit, der Kriegsprovokation durch Feindbilder sowie medialer Korruption vorsieht. Ausgehend von Johan Galtungs Modell (vgl. 1998) für eine allparteiliche und konfliktanalytische Berichterstattung formulierte Redakteurin Nadine Bilke (vgl. 2007: 139) vier große Ziele des Friedensjournalismus, der sich der Friedfertigkeit, Wahrhaftigkeit (im Sinne der Diskursethik als Annäherung an Wahrheit),

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der Empathie sowie Kompromiss- und Gesprächsfähigkeit anzunähern habe. Um einen empathischen Blick ausbilden zu können, benötigt es nach Bilke die Thematisierung menschlicher Betroffenheit, und zwar auf allen Seiten, auch aufseiten vermeintlicher Gegner, die in gleicher Weise als Betroffene in komplexen Konfliktgefügen zu Opfern des Krieges werden. Einfache Stereotypisierungen oder Kategorisierungen im Spannungsfeld dichotomer Zuweisungen greifen ins Leere und zeugen von einem friedensverkennenden Journalismus mit kriegspropagandistischen Zügen. Wie sich am Beispiel der technoiden Nüchternheit der Kriegsberichterstattung im Irak-Krieg an vorheriger Stelle gezeigt hat, braucht die Ausbildung von Empathie bzw. Mitgefühl eine Hinwendung zu den Schicksalen und Nöten aller Kriegsbeteiligten, folglich zu menschennaher Berichterstattung. Wer nach Bilke versucht, »im Angesicht von Gewalt sachlich zu bleiben, läuft Gefahr, in einen unmenschlichen Zynismus abzugleiten« (ebd.: 141). Daraus lässt sich ableiten, dass die Bereitstellung und Rezeption von Bildern, die menschliche Not visualisieren, einen wichtigen Bestandteil friedensjournalistischer Herangehensweisen darstellen. Da Journalismus in demokratischen Gesellschaften immer schon Orientierung bot und ihm als Grundlage für die Meinungs- und Willensbildung damit große Verantwortung zuteil wurde, ist Kriegsberichterstattung dazu angehalten sich einer journalistischen Ethik zu verschreiben und sich in Anlehnung an Publizist Freimut Duve (vgl. 2007: 34f) immer wieder aufs Neue den Fragen auszusetzen, wo die Grenzen zwischen Information, Unterhaltung, Manipulation oder Korruption liegen, welchen Mechanismen Kriegsjournalismus im Allgemeinen unterworfen ist und was dies für die Rezipienten/Rezipientinnen von Medienprodukten bedeuten kann, insbesondere unter Berücksichtigung des Realitätspostulats fotografischer bzw. vermeintlich dokumentarischer Medienbilder. Summa Summarum: Kriegsbilder trotz allem einer kritischen Diskussion zu unterziehen – trotz des Bewusstseins, dass Bilder immer nur Fetzen der Wirklichkeit sind und nie im Stande sein werden, das Reale in all seiner Vielfalt zu enthüllen, trotz der zunehmend voyeuristisch-pornografischen Ausbeutung von Leiddarstellungen und trotz des Vorwurfs einer Fetischisierung und Kommerzialisierung von Kriegsbildern in kapitalistischen Gesellschaften (vgl. Didi-Huberman, 2007: 106), – ist aufgrund der Tatsache, dass es sie gibt und dass sie in Umlauf gebracht werden, als dringliche Notwendigkeit auszuweisen. Denn nur dann können sie uns lehren, um hier mit Butlers Rekurs auf Sontag abzuschließen, »wie über weite, über globale Entfernungen hinweg mit anderen gefühlt werden kann« (Butler, 2009: 58); sie können und müssen »durch den visuellen Rahmen eine Nähe zum Leiden erzeugen, das durch Krieg, Hungersnot und Zerstörung an Orten entsteht, die uns geografisch und kulturell fern sein mögen« (ebd.). Damit warten Bilder, sofern sie den hier herausgearbeiteten Aspekten ›menschennaher‹ Visualisierung entsprechen, zumindest mit der Chance auf, dass sich ein Bedürfnis nach globaler Verantwortungsübernahme für das Wohlergehen der Menschheit in uns ausbilden kann und sind uns im Sinne eines humanistischen Bildungsansatzes damit im eigenen Prozess der Menschwerdung und Liebesfähigkeit dienlich.

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»Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« Anmerkungen zur Liebe in pädagogischen Beziehungen Cathrin Reisenauer & Nadine Ulseß-Schurda

1. »to feel myself beloved « Als der Dekan der Harvard Graduate School of Education, James E. Ryan1, am 26. Mai 2016 bei der akademischen Abschlussfeier eine Rede zu den fünf wichtigsten Fragen des Lebens hält, spricht er auch über die Liebe in pädagogischen Beziehungen. Dazu verwendet Ryan in seiner Rede ein Gedicht des US-amerikanischen Schriftstellers und Dichters Raymond Carver, das den Titel »Late Fragment« trägt, um die Wichtigkeit von Liebe zu betonen. Das Gedicht beginnt mit einer Frage und vollzieht sich im Dialog zwischen lyrischem Ich und Du: And did you get what you wanted from this life, even so? I did. And what did you want? To call myself beloved, to feel myself beloved on the earth. Ryan (vgl. 2017: 134) hebt dabei besonders die Bedeutung des Wortes beloved hervor und versteht das Wort als wertschätzen, anerkennen und respektieren. In seiner Rede an die Lehramtsstudierenden, die kurz davorstehen, ihre Alma Mater zu verlassen und ihre Aufgaben als Lehrerinnen und Lehrer in Schulen verteilt über den nordamerikanischen Kontinent anzunehmen, hat er noch eine wichtige Botschaft an sie. Ryan (2016) sagt: »[…] let me just say that when I read these lines [Damit bezieht er sich auf das Gedicht.], it’s hard for me not to think about students. We spend a lot of time, here and elsewhere, thinking about how we might improve student performance, which is how it should be. Yet I can’t help but think that schools, and indeed, the world, would be better places if students didn’t simply perform well but also felt beloved – beloved by their teachers and by their fellow classmates. […] if you never stop asking and listening for good questions, you will feel beloved on this earth, and, just as importantly, you will help others, especially students, feel the same.« 1 | Nachdem sich Dekan Ryans Rede im Netz sehr großer Popularität erfreute, arbeitete er seine Rede im Jahr 2017 zu einem Buch aus.

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Was sind die Kernaussagen seiner Rede? Zum einen räumt Ryan ein, dass es die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer ist, Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, ihre Leistungen und Performanzen zu verbessern. Zusätzlich hält er auch einen sehr wichtigen Punkt fest, der nicht den Fokus der Aufmerksamkeit in der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern besitzt, den er haben sollte: Ryan führt explizit aus, dass Schulen sich zu »besseren« Orten entwickeln, wenn Schülerinnen und Schüler nicht nur gute Leistungen erbringen, sondern sich auch geliebt, wertgeschätzt, anerkannt und respektiert fühlten – von ihren Lehrerinnen und Lehrern und den Mitschülerinnen und Mitschülern. Ryan (vgl. ebd.) entlässt die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer mit dem Wissen, dass es eine ihrer wichtigsten Aufgaben sei, dass sich ihre Schülerinnen und Schüler geliebt fühlen. Auch Goethe würde den Ausführungen von Ryan sicherlich zustimmen, denn von ihm stammt der berühmte Satz, der für diesen Beitrag titelgebend war: »Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« Von besonderem Interesse ist, dass sich Ryan (vgl. 2016; 2017) die Mühe macht, genau zu erläutern, was er unter dem Wort beloved versteht, neben Wertschätzung und Respekt spricht er von Anerkennung. Gerade die Betrachtung von Anerkennung, wenn sie von einem bloßen Wertschätzungshandeln befreit wird, scheint für die vorliegende Diskussion von Bildung und Liebe interessant und fruchtbringend zu sein. Durch eine qualitative Studie zu Anerkennungspraktiken im schulischen Alltag, die die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Alter von 10 bis19 Jahren in den Mittelpunkt stellt, konnte ein Verständnis von Anerkennung entwickelt werden, das auf die pädagogische Begegnung fokussiert und Anerkennung als dem pädagogischen Handeln inkorporiert betrachtet (vgl. Reisenauer & UlseßSchurda, 2018). Das Ergebnis dieser Studie stellt ein Ensemble bedeutsamer Anerkennungspraktiken dar, durch die pädagogische Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, dass sich Schülerinnen und Schüler anerkannt, respektiert und geliebt fühlen, beschrieben werden können.

2. A nerkennung und L iebe Was ist eigentlich Anerkennung? Wie kann man Anerkennung beschreiben? Warum brauchen wir Anerkennung? Macht es einen Unterschied, ob wir mehr oder weniger Anerkennung bekommen? Sind Loben und Trösten anerkennende Handlungen? Sind Anbrüllen, Lächerlich-machen, Beschämen oder Ignorieren keine anerkennenden Handlungen? Der Begriff »Anerkennung« wurde in den letzten Jahren in unterschiedlichen Disziplinen so häufig verwendet, dass eine Entleerung des Begriffes droht. Bezugnehmend auf unterschiedliche Autorinnen und Autoren, wird in diesem Beitrag ein Anerkennungsbegriff entfaltet, der sich von der Gleichsetzung von Anerkennung mit Wertschätzung distanziert und dabei verschiedene Facetten von Anerkennung, die für pädagogisches Handeln bedeutsam sind, fokussiert. Um Anerkennung grundlegend zu verstehen, schreibt Ballreich (2009: 52): »Wenn das Kind immer wieder erfahren hat, dass es von den wichtigen Bezugspersonen geliebt und angenommen ist, so wie es ist, dann entwickelt sich ein Grundvertrauen, in die eigene Kraft, in das eigene Lebendigsein. Das ist die grundlegende Bestätigung des eigenen

»Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« Seins, die jeder Mensch braucht, um sich gesund entwickeln zu können. Der Kern der Seele ist dann ein stabiler Stamm, der nicht so schnell ins Wanken gerät.«

Darüber hinaus betont Ricken (2009: 84) allerdings, dass Anerkennung »aus der Engführung und Identifizierung mit bloß bestätigenden, wohlwollenden oder gar liebevollen Handlungen befreit werden muss, denn auch Indifferenz oder gar Ablehnung sind nicht nur mögliche Weisen intersubjektiver Wahrnehmung, sondern ihrerseits bereits notwendige Momente von Anerkennung.«

Auch Jessica Benjamin (vgl. 1990) stimmt mit Ricken überein und zeigt auf, dass Anerkennung zu erhalten heißt, für jemanden von Bedeutung zu sein, der von einem selbst unabhängig ist und diese Unabhängigkeit dadurch zeigt, dass sich das Gegenüber entzieht und versagt. Philosophinnen und Philosophen wie Charles Taylor (1995), Tzvetan Todorov (1996), Nancy Fraser (2000), Judith Butler (2001) und Axel Honneth (1992, 2012) beispielsweise beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema Anerkennung und teilen die Annahme, dass das Streben nach Anerkennung durch die Anderen die wichtigste Quelle der normativen Integration in die Gesellschaft und die zentrale Triebkraft der Selbstentwicklung ist. Anerkennung wird in diesem Beitrag als Adressierungsgeschehen verstanden, das sich zwischen mindestens zwei Akteurinnen und Akteuren vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Normen, Konventionen, Machtverhältnissen und kulturellen Diskursen abspielt. Dieses Geschehen ist an eine Form von Interaktion gekoppelt und vollzieht sich wechselseitig, wobei auch die Anwesenheit dritter Personen einflussnehmend wirkt. Diese dreistellige Struktur der Anerkennung ist besonders im schulischen Umfeld bedeutend. So werden Adressierungen hier nicht nur als eine Relation zwischen Zweien beschrieben, sondern diese Adressierungen laufen häufig vor Dritten, den Mitschülerinnen und Mitschülern ab, die ebenfalls angesprochen werden und die pädagogische Szene maßgeblich mitbeeinflussen. Das Anerkennungsgeschehen zeigt sich pädagogischem Handeln inkorporiert. So ist pädagogisches Handeln ohne Adressierungen nicht vorstellbar. Jemand wird also von jemandem als etwas anerkannt, somit liegt eine Unterscheidung zwischen dem einfachen Er-kennen und dem An-erkennen zugrunde. Eine besondere Rolle spielt in diesem Geschehen auch das als etwas. Dieses als etwas zeigt sich als bedeutsam für meine weitere Entwicklung. Die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« wird sichtbar dadurch, als wer ich von anderen gesehen und adressiert werde. Wenn Anerkennung im deutschsprachigen Diskurs betrachtet wird, stellt die Theorie von Axel Honneth die wichtigste Referenztheorie dar. Honneth (vgl. 2012) geht in seiner Anerkennungstheorie, die er als Kampf um Anerkennung entfaltet, von den Thesen Hegels aus und bearbeitet dabei eine Dreiteilung der Anerkennung: Liebe als Anerkennung wichtiger Bezugspersonen, Solidarität als Anerkennung innerhalb von Gruppen und Recht als juristische und politische Anerkennung. Auch bei Honneth (vgl. ebd.) ist der Gedanke der Identitätsbildung von anderen und vom anderen her ein fester Bestandteil, gleichzeitig benennt Honneth (ebd.) mit der Feststellung, dass »Anerkennen dem Erkennen vorausgeht«, die Anerkennung als »Bedingungsmöglichkeit eines jeden Weltverhältnisses überhaupt« (Ricken, 2009: 82). Für Honneth ist Anerkennung die elementare Erfahrung der Fürsorge und Anteilnahme.

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Honneth (vgl. 2012: 153f) schließt sich Hegel an und geht davon aus, dass sich in der Liebe Subjekte wechselseitig in ihren Bedürfnissen bestätigen und sich so als bedürftige Wesen anerkennen, deshalb stelle die emotionale Zuwendung für Hegel die erste Form der wechselseitigen Anerkennung dar. Die Anerkennung, die durch emotionale Zuwendung passiert, hat laut Honneth (vgl. ebd.) einen positiven Charakter und ist durch affektive Zustimmung und Ermutigung geprägt. Das emotionale Anerkennungsverhältnis sei auch an »die leibhaftige Existenz konkreter Anderer gebunden, die einander Gefühle besonderer Wertschätzung entgegenbringen« (ebd.). Liebe wird überdies als ein Interaktionsverhältnis verstanden, dem ein besonderes Muster der wechselseitigen Anerkennung zugrunde liegt. Zusätzlich hebt Honneth (vgl. 2012: 154) im Anschluss an Hegel die schwierige Balance zwischen Selbstständigkeit und Bindung hervor und verwendet dabei eine von Hegel geprägte Formulierung, in der er Liebe als ein »Seinselbstsein in einem Fremden« (ebd.) beschreibt. Durch die Ergänzung der Hegelschen Idee mit psychologischen Analysen kommt Honneth (2012: 170) zu dem Schluss, dass Liebe als Anerkennungsform keinen intersubjektiven Zustand beschreibt, sondern vielmehr »einen kommunikativen Spannungsbogen, der die Erfahrung des Alleinseinkönnens kontinuierlich mit der des Verschmolzenseins vermittelt; die ›Ich-Bezogenheit‹ und die Symbiose stellen darin sich wechselseitig fordernde Gegengewichte dar, die zusammengenommen erst ein reziprokes Beisichselbstsein im Anderen ermöglichen.«

Um diesen Schlussfolgerungen ihren – so wie Honneth es nennt – »spekulativen Charakter« zu nehmen, bezieht er sich in seinen weiteren Ausführungen auf die psychoanalytischen Überlegungen Jessica Benjamins. Benjamin beschreibt laut Honneth (vgl. 2012: 170f) auch die Interaktionsstruktur einer geglückten Bindung im Erwachsenenalter durch Rückschlüsse aus der Trennung von Mutter und Kind. Wenn man Liebe in pädagogischen Settings betrachtet, ist es sehr interessant, die Arbeiten Jessica Benjamins (1990) näher zu betrachten. Benjamin hebt hervor (vgl. ebd.: 20f), dass Menschen soziale Wesen sind, die den Wunsch haben, mit anderen in Beziehung zu treten. Aus dieser Beziehung würden Menschen nicht herauswachsen, sondern durch sie würden wir aktiver und selbstständiger werden. In diesem Zusammenhang liegt es noch einmal nahe, auf Honneth (vgl. 2012: 172) zu verweisen, denn er betont, dass das eben kurz umrissene Anerkennungsverhältnis der Liebe jeder anderen Form der Anerkennung vorausgeht, weil die Liebe, so wie sie von Honneth verstanden wird, »einer Art von Selbstbeziehung den Weg bereitet, in der die Subjekte wechselseitig zu einem elementaren Vertrauen in sich selbst gelangen« (ebd.). Eine weitere und genauere Bestimmung des Begriffs der Liebe findet sich im Artikel Liebe und Moral. Zum moralischen Gehalt affektiver Bindungen (vgl. Honneth, 2000). Hier beschreibt Honneth Liebe als »Akte […], die wie die bedingungslose Fürsorge oder das verständnisvolle Verzeihen zu erkennen geben, dass sie allein um des individuellen Wohlergehens eines konkreten Anderen willen geschehen« (ebd.: 235f). Eine wichtige und interessante Erweiterung der Liebe als Anerkennung findet sich unter den zahlreichen Kritikern Honneths. Ikäheimo (vgl. 2014: 320) beispielsweise wirft die Frage auf, was es denn genau heißen würde, wenn die Mutter ihr Kind liebt, Freunde oder Paare einander lieben. Ikäheimo (2014: 321) verwendet, an Honneth angelehnt, eine andere Formulierung für die genaue Beschreibung liebevoller Handlungen: »Akte, deren Motiv eine nicht-instru-

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mentelle bzw. ›bedingungslose‹ Sorge um das Wohlergehen des Anderen ist.« Die Liebe setzt also die unbedingte Sorge um das Wohlergehen des Anderen voraus, diese Idee findet sich auch bei Hegel. Wie lässt sich nun die von Honneth genau ausgeführte und hier nur kurz angerissene Unterscheidung zwischen affektiver, kognitiv-moralischer und sozialer Anerkennung auf pädagogische Zusammenhänge übertragen?

3. S chule und L iebe Wenn Liebe in pädagogischen Kontexten gedacht wird, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass ein Kind mit dem Schuleintritt zunehmend ein Adressat bzw. eine Adressatin gesellschaftlicher Erwartungshaltungen wird. Kinder und Jugendliche agieren, je älter sie werden, immer mehr auch in sozialen Anerkennungsverhältnissen außerhalb der Familie. Die Beschaffenheit dieser Anerkennungsverhältnisse gewinnt auch für ihre persönliche Entwicklung zunehmend an Bedeutung. Für Oevermann (vgl. 1996: 146f) beziehen sich die sozialisatorischen Anteile in der Rolle des Lehrers oder der Lehrerin auf pädagogische Handlungen und Beziehungen, in der sich rollenförmige Beziehungsanteile mit diffusen Beziehungsanteilen, die an die ganze Person gerichtet sind, mischen. Kinder und Jugendliche sind noch keine voll sozialisierten Gesellschaftsmitglieder, weshalb generell die Gefahr besteht, dass sich Missachtungserfahrungen destabilisierend auf die gesamte Person auswirken (vgl. Sandring, 2013; Helsper, 1994; Wiezorek, 2005). So konnten beispielsweise Helsper & Wiezorek (2006) zeigen, dass eine stark personenbezogene Schulkultur, die sich durch individuelle Förderung zeigen kann, dazu führt, dass Schülerinnen und Schüler sich persönlich angenommen fühlen und so erst in der Lage sind, sich positiv auf schulische Angebote zu beziehen.

3.1 Schule als emotionaler Anerkennungsraum Wenn Sandring (2013: 30) Schule als Anerkennungsraum beschreibt, dann hebt sie professionelle pädagogische Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden hervor, die »auf gegenseitigem Respekt vor dem Anderen als Träger von Rechten und Pflichten beruhen und dabei Elemente emotionaler Anerkennung sowie sozialer Wertschätzung enthalten«. Nach Helsper & Lingkost (2013: 132) ist für eine Schulkultur entscheidend, »in welcher Form sich Lehrer auf die emotionale, sinnliche Basis der Schüler beziehen«. Eine positive emotionale Grundeinstellung gegenüber Schülerinnen und Schülern bildet die Grundlage für ein Arbeitsbündnis, das auf gegenseitigem Vertrauen basiert und gleichzeitig in pädagogischen Interaktionen immer wieder erarbeitet werden muss (vgl. auch Sandring, 2013: 30). Helsper & Lingkost (2013: 132f) attestieren, dass die »Ermöglichung einer positiven, interessierten, freundlichen und offenen Haltung gegenüber Jugendlichen« in der Schule im Mittelpunkt stehen soll. Gegenseitiges Vertrauen wird in Interaktionen erzeugt und durch Begegnungen fortwährend erhalten. So kann davon ausgegangen werden, dass Vertrauen nicht als psychische Disposition einfach einforderbar ist, sondern in pädagogischen Beziehungen erarbeitet und aufrechterhalten werden muss (vgl. dazu auch Helsper & Lingkost, 2013: 133). Die strukturellen Bedingungen der Schule nehmen aber Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, Leh-

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rerinnen und Lehrer ihres Vertrauens zu wählen oder durch Misstrauen geprägte Verhältnisse zu lösen. Jessica Benjamin (1990) stellt in ihren Ausführungen dar, was es heißt, Beziehungen aufzubauen und zu erhalten und dadurch eine bedeutsame Andere/ ein bedeutsamer Anderer zu werden und zu sein. Wie schon kurz angesprochen versteht Benjamin (vgl. 1990: 21f) Menschen als soziale Wesen, die den Wunsch haben, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Im Laufe ihrer Entwicklung wachsen Menschen aber nicht aus den Beziehungen heraus, sondern erreichen mit ihnen und durch sie fortwährend einen höheren Grad an Selbstständigkeit und Autonomie (vgl. ebd.). Anerkennung stellt deshalb ein konstantes Element dar, das alle Ereignisse und Phasen des Lebens durchzieht. Interessant für die Betrachtung von Liebe und Bildung ist ein kurzer Exkurs zu Benjamin (vgl. 1990: 53), wenn es um ihre Bemühungen geht, Anerkennung in Bezug zu Herrschaft und Differenz aufzuarbeiten. Für Benjamin (ebd.) beginnt Herrschaft »mit dem Versuch, Abhängigkeit zu leugnen. Niemand kann sich der Abhängigkeit von anderen oder dem Wunsch nach Anerkennung entziehen. In der ersten Abhängigkeitsbeziehung – zwischen Eltern und Kind – ist dies eine besonders schmerzhafte und paradoxe Lektion.« Auch pädagogische Verhältnisse sind immer geprägt von diesen »Abhängigkeitsbeziehungen«, die sich beispielsweise zwischen Lehrenden und Lernenden zeigen. Für Benjamin (1990: 54) kann an diesem Punkt »vieles schiefgehen«. Darum ist es von großer Bedeutung zu überlegen, wie in der von Abhängigkeit geprägten Beziehung zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen, der/die Andere als eine/ein für die Entwicklung bedeutsame Andere/bedeutsamer Anderer entdeckt werden kann. Benjamin greift dabei – wie auch Honneth – auf Winnicotts Ausführungen zurück, dass wir, »um das Objekt ›verwenden‹ zu können, es zuerst einmal ›zerstören‹ müssen« (Benjamin, 1990: 39), damit wir anerkennen können, dass das Objekt nicht unserer Kontrolle unterworfen ist. Benjamin (1990: 40) formuliert es treffend folgendermaßen: »Im Anerkennungskampf muß jedes der Subjekte sein Überleben aufs Spiel setzen, muß versuchen, den anderen zu negieren – und wehe, wenn es obsiegt: Denn wenn ich den anderen völlig negiere, existiert er ja nicht mehr; und wenn er nicht überlebt, ist niemand mehr da, der mich anerkennt.«

Zerstörung wird hier also als ein Versuch zu überleben betrachtet. Der Wunsch nach Anerkennung ist der Grund für die Abhängigkeitsbeziehung zu anderen und mündet im Kampf. Benjamin (1990: 41) führt eine wichtige Schlussfolgerung an: »Wenn also die Mutter dem Kind keine Grenzen setzt, wenn sie sich und ihre Interessen verleugnet, wenn sie sich völlig kontrollieren läßt – dann ist sie für das Kind keine lebendige Andere mehr.« Die Frage, die hier für die Schule als emotionalen Anerkennungsraum von Bedeutung ist, ist, wie dieser Kampf um Kontrolle schließlich in gegenseitige Achtung und ein Miteinander münden kann. Um diesen Gedanken genauer zu untersuchen, wird hier beispielhaft eine mögliche Situation im Klassenzimmer angeführt: Eine Schülerin äußert sich abfällig über die Arbeit im Klassenzimmer und sagt zu ihrer Lehrerin aber auch an die anderen Schülerinnen und Schüler gerichtet: »Das bringt doch hier alles gar nichts!«. Nun hat die angesprochene Lehrerin drei Möglichkeiten zu reagieren: Sie kann sich gekränkt zeigen, weil die Schülerin die Arbeit und die Vorbereitungen der Lehrerin

»Überall lernt man nur von dem, den man liebt.«

nicht erkennt und wertschätzt. Sie kann es aber auch der Schülerin freistellen zu gehen und sie somit aus der Klasse verweisen. Wenn die Äußerung der Schülerin aber als zerstörerischer Akt interpretiert wird, der vom Wunsch nach Anerkennung geprägt ist, dann bleibt nur eine mögliche Reaktion, um nicht zerstört und negiert zu werden. Der Schülerin müssen Grenzen gesetzt werden, die eigenen Interessen als Lehrerin sollen dabei nicht verleugnet werden. Als bedeutsame Andere kann die Lehrerin auftreten, indem sie sagt: »Ich sehe das anders, gleichzeitig interessiere ich mich für deine Meinung und möchte mit dir darüber sprechen.« Nur im letzten Fall zeigt sich die Lehrerin als Andere, eine Differenz wird sichtbar. Das Setzen von Grenzen geschieht dabei immer unter der Prämisse, dass sich die Schülerinnen und Schüler – obwohl eine Differenz besteht – immer der Liebe und Geborgenheit der Lehrerinnen und Lehrer sicher sein können. Für Schule als emotionalen Anerkennungsraum ist es dabei die Voraussetzung, Differenz nicht als Ablösung, sondern als Verbindung zu definieren (vgl. Benjamin, 1990: 45). Damit stellt sich die Frage, auf welche Weise Lehrerinnen und Lehrer ihren Schülerinnen und Schülern von Anfang an die Möglichkeit geben, selbstständig zu sein. Zudem können durch die Liebe als Form der Anerkennung, wenn man sie auf pädagogische Verhältnisse bezieht, Gleichheit und Differenz nebeneinander bestehen. Durch das Bewusstsein von Unterschieden entsteht die Erfahrung der Gemeinsamkeit – und das prägt einen emotionalen Anerkennungsraum, wie er sich in der Schule finden lässt: »Das ›Zusammen-sein‹ überwindet die Gegensätze zwischen mächtig und hilflos, zwischen aktiv und passiv und wirkt der Tendenz entgegen, andere zu verdinglichen und all denen, die anders oder schwächer sind, Anerkennung zu versagen. Solch ein Zusammen-sein ist die Grundlage allen Mitleids, allen ›Mitfühlens‹, […], der Fähigkeit, Gefühle und Intentionen mit anderen zu teilen, auch ohne die Kontrolle übernehmen zu wollen. Es befähigt uns, Gleichheit zu erleben, ohne die Unterschiede zu verleugnen.« (Benjamin, 1990: 50)

3.2 Lernen und Liebe Aus den vorigen Ausführungen wird klar, dass ein vom Blick auf Anerkennung geprägtes Lernverständnis das Ziel hat, dem Anderen ein Gegenüber zu sein und ihm dadurch zu ermöglichen, selbst ein Gegenüber zu werden. Diese Prämisse impliziert auch, dem sich bildenden Gegenüber zu widersprechen, sich ihm zu versagen und zu entziehen. Zusätzlich ist zu bedenken, dass das Subjekt im Lernen so involviert ist, dass es aus einem Lernprozess immer verändert hervorgeht. So erlernt sich ein Subjekt im Lernen auch immer selbst und der Lernende/die Lernende wandelt sich. Lernen passiert in einem Kontext, der von gesellschaftlichen Strukturen, Normen und Werten geprägt ist. Lernen findet in der Auseinandersetzung mit der Welt statt, diese Welt wird uns durch Andere vermittelt. Wenn man das Lernen im Kontext Schule betrachtet, dann darf nicht vergessen werden, dass das Begehren nach Anerkennung auch ein Streben nach Entwicklung, Lernen und »Anderswerden« ist. Dieses Streben erfordert einen Vor- und Überschuss an Vertrauen aufseiten derer, die streben, denn wie Balzer & Künkler (2007: 105) treffend formulieren »die Bitte nach einem Anderswerden-dürfen und -können [… impliziert] ein ›Sich-den-anderen-Aussetzen‹, das – umso mehr – verletzbar und ›ausbeutbar‹ macht«. Ein (lernendes) Subjekt kann sich niemals sicher sein, dass

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sich der/die Andere so verhält, wie das Subjekt es möchte oder es für sein Anderswerden und seine Entwicklung notwendig ist. Damit gehen beispielsweise Schülerinnen und Schüler als lernende Subjekte ein Risiko und eine Gefahr ein, denn das lernende Subjekt zeigt sich in Lernverhältnissen als ein Noch-nicht-Könnendes oder Noch-nicht-Wissendes, was für das Subjekt riskant ist. Für den Blick auf die Schule lässt sich aus diesen Überlegungen folgendes Postulat ableiten: Lernen zu ermöglichen heißt auch, über das grundsätzliche Ausgesetztsein des Menschen bzw. das Ausgesetztsein der Lernenden gegenüber den Lehrenden zu wissen, es zu verstehen und darüber zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden das pädagogische Handeln betrachtet.

4. A nerkennung und pädagogisches H andeln Für Ricken (2009: 87) zeichnet sich das pädagogische Handeln dadurch aus, dass »Lehrer/innen Schüler/innen in bestimmter Weise ansprechen und adressieren, darin diese als jemanden wahrnehmen und zu jemandem machen sowie auch sich selbst – zumeist in Komplementärrollen – als jemand zeigen, zu jemand machen bzw. werden«. Damit sei »pädagogisches Handeln grundsätzlich mit Fragen und Problemen der Anerkennung verbunden« (Balzer & Ricken, 2010: 35). Max Weber (1984: 19) beschreibt Handeln als »ein menschliches Verhalten […], wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden«. Einfaches Handeln wird zu einem pädagogischen Handeln, wenn es sich auf Lernen bezieht (vgl. Prange & Strobel-Eisele, 2006: 13). Bei der Betrachtung von schulischen Anerkennungsverhältnissen ist es von großem Interesse, auf die Handlungen der Lehrerinnen und Lehrer zu blicken. Wenn Handlungen anstatt der Personen betrachtet werden, eröffnet sich die Möglichkeit, dass sich die Personen auch von ihren Handlungen distanzieren können. Es wird also immer das, was eine Person in einer konkreten Situation (nicht) getan oder (nicht) gesagt hat, in den Mittelpunkt gestellt, nicht eine Person oder gar eine ganze Gruppe von Personen. Eine solche Betrachtung ermöglicht, dass die – in unserem Fall – Lehrenden in einer anderen Situation anders handeln können. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Anlässe, Abläufe und Wirkweisen von pädagogischen und anerkennenden Praktiken. Anerkennende Praktiken vollziehen sich stets wechselseitig, da sowohl die Lehrenden die Lernenden adressieren und die Lernenden die Lehrenden wiederum in der re-adressierenden Antwort als jemanden ansprechen. Grundlegend soll in diesem Zusammenhang noch angemerkt werden, dass sowohl Lehrende als auch Lernende gleichzeitig anerkennungsgebend und anerkennungsbedürftig sind und die wechselseitige Abhängigkeit aller Beteiligten von der Anerkennung des jeweilig anderen als konstitutiv für pädagogisches Handeln und mit Ricken (2009: 87) als »Boden pädagogischen Handelns überhaupt« zu sehen ist. Anerkennung wird damit als Adressierungsgeschehen interpretiert, das dem pädagogischen Handeln inkorporiert und nicht mit Wertschätzungshandeln zu verwechseln ist. Zusätzlich passiert anerkennendes pädagogisches Handeln vor anderen und ist geleitet und geprägt von Normen, gesellschaftlichen Konventionen, Machtverhältnissen und kulturellen Diskursen. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Menschen sich von anderen her und durch andere etwas erlernen (vgl. auch Ricken, 2009). Vor allem im schulischen Umfeld wohnt

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dem Anerkennungshandeln ein identitätsstiftender und transformierender Charakter inne. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Lehrende sich in einer Paradoxie bewegen, sie haben die Aufgabe, ihre Schülerinnen und Schüler als jemanden anzuerkennen, die sie schon sind, und zugleich als jemanden zu adressieren, die sie noch nicht sind. Mit Martin Buber gesprochen, sei nicht die pädagogische Absicht, sondern die pädagogische Begegnung pädagogisch fruchtbar. So zeigt sich, dass pädagogische Praktiken außerordentlich bedeutsam für den Auf bau oder den Abbruch pädagogischer Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden sind und das Lernen der Kinder und Jugendlichen, ihre Selbstachtung und ihren Selbstwert sowie ihre persönliche Entwicklung zu jungen Erwachsenen maßgeblich bedingen. Im Folgenden werden solche pädagogische Handlungen als Anerkennungspraktiken genauer betrachtet und beschrieben, um zu zeigen, welche Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern vollzogen werden können, damit sich ihre Schülerinnen und Schüler anerkannt, respektiert und geliebt fühlen.

5. A nerkennungspr ak tiken In der pädagogischen Begegnung werden Lehrende zu Handelnden. Anerkennungspraktiken vollziehen sich dabei als »ein Ensemble miteinander verknüpfter, regelmäßiger [Adressierungs]Aktivitäten der Körper, die durch implizite und geteilte Formen des Verstehens und Wissens zusammengehalten werden« (Reckwitz, 2008: 151). Diese werden praktiziert, häufig ohne dass sich Lehrerinnen und Lehrer ihrer bewusst sind oder sie reflektieren. In einer qualitativen Studie (vgl. dazu Reisenauer & Ulseß-Schurda, 2018) wurden Anerkennungspraktiken im schulischen Alltag rekonstruiert und ihre Anlässe, Abläufe und Wirkweisen untersucht. Dazu wurde ein Datensatz verwendet, der aus ca. 250 Erinnerungsszenen besteht, die Schülerinnen und Schüler im Alter von 10 bis 19 Jahren verfasst haben, und der mithilfe der Grounded Theory (vgl. Strauss & Corbin, 1996) und der Situationsanalyse nach Clarke (2012) ausgewertet wurde. Geschrieben haben die Schülerinnen und Schüler dabei über für sie bedeutsame Begegnungen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern, die ihnen positiv oder negativ in Erinnerung geblieben sind. Bei der Rekonstruktion und Analyse von Anerkennungspraktiken ist es zentral, diese Praktiken nicht isoliert, sondern vor dem Hintergrund von Normen, Konventionen, Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Diskursen zu denken. Durch diese Studie konnten die offensichtlichen und viel geforderten Praktiken »Anerkennen« und »Anerkannt-Werden« genauer beschrieben und analysiert werden. Dem Imperativ der Anerkennung, den auch Ryan (2016) – wie eingangs diskutiert – in seiner Rede einfordert, kann durch die genaue Betrachtung pädagogischer Handlungen Rechnung getragen werden. Mittels der Rekonstruktion und Analyse bedeutsamer Praktiken im schulischen Alltag und der Beschreibung systemimmanenter, wirkmächtiger Elemente, können Anerkennungsprozesse leichter der Bewusstwerdung und der Reflexion zugänglich gemacht werden. Durch das Aufheben der Dichotomie von Anerkennung-Geben und Anerkennung-Empfangen konnten sechs unterschiedliche Anerkennungspraktiken mit ihren spezifischen Ausprägungen im Feld beschrieben werden, die manchmal zwar als »höfliche« oder offensichtliche Verhaltensweisen erscheinen, aber für den Auf bau pädagogischer Beziehungen bewusst eingesetzt werden können. Diese Praktiken ermögli-

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chen, dass sich Schülerinnen und Schüler geliebt – beloved – und anerkannt fühlen und ein positives Verhältnis zu sich selbst und ihrer Umgebung ausbilden können. So zeigen sich die Praktiken des Wahrnehmens, des Begegnens, des Gegenübertretens, des Ansprechens im Sinne eines Stiftens oder Transformierens, des Rückmeldens im Sinne eines Bestätigens oder Negierens, und des Versagens, sichtbar als GrenzenSetzen oder Sanktionieren als für die Schülerinnen und Schüler von großer Bedeutung (siehe Tabelle 1). Entscheidend ist bei der Betrachtung dieser Praktiken, dass beispielsweise das Wahrnehmen bei den Schülerinnen und Schülern als ein Gesehen- und Gehörtwerden ankommen muss, um erst zu einer Anerkennungspraktik zu werden, das Begegnen und Ansprechen erst als ein solches verstanden werden, um seine Wirkung zu entfalten und ein Antworten, eine Gegenadressierung zu ermöglichen. Wird die Adressierung erkannt, sei es bewusst oder unbewusst, entfaltet sie ihre Wirkung – erst durch die Verkettung in ihrer spezifischen Art werden die Einzelpraktiken zur Praxisform der Anerkennung. Tabelle 1

Anerkennen

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als

tritt in Erscheinung als

Wahrnehmen

Gesehen-Werden Gehört-Werden

Begegnen

Zusammentreffen Begrüßen

Gegenübertreten

machtvolles Gegenübertreten egalitäres Gegenübertreten

Ansprechen

Stiftung Transformation

Rückmelden

Bestätigung Negation

Versagen

Grenzen-Setzen Sanktionieren

5.1 Anerkennen als Wahrnehmen Wahrnehmen als Anerkennungspraktik findet ihre Ausprägung im Sehen und Hören und bedeutet mehr als mit den Augen sehen oder mit den Ohren hören. Beim Wahrnehmen geht es immer um ein Erfassen und Erkennen der Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Durch das Sehen wird die Aufmerksamkeit, das Interesse oder die Erwartung auf jemanden gerichtet, dadurch legt man auf etwas oder auf jemanden besonderen Wert und achtet ihn oder sie. Um zu verdeutlichen, was das Wahrnehmen als Anerkennungspraktik bedeutet, sei hier ein Zitat von Max van Manen (1986: 21) angeführt: »Being seen is more than being acknowledged. For a child it means experiencing being seen by the teacher. It means being confirmed as existing, as being a person and a learner. Not

»Überall lernt man nur von dem, den man liebt.« all seeing has this quality, of course. Lucky is the child who is being seen regularly with pedagogic discernment.«

Die Anerkennungspraktik des Wahrnehmens zeigt sich in der folgenden Erinnerungsszene von einem 11-jährigen Schüler besonders wirkmächtig. Der Schüler befindet sich in einer Prüfungssituation, die für ihn neu und ungewohnt ist. In seiner Unsicherheit ist der Schüler auf die Zuwendung seines Lehrers angewiesen. »Es war in der 1. Klasse. Es war das Fach Mathe. Wir hatten unsere erste Mathe-Schularbeit. Es ging so los: Der Lehrer hatte die Schularbeit ausgeteilt und ich begann sofort zu schreiben. Ich war so nervös, dass meine Hand richtig gezittert hatte. Herr Prof. XY [Hier wird der Name des Lehrers genannt.] merkte es sofort und kam auf einmal auf mich zu. Er fragte mich, wieso ich zittere und ich sagte ihm eben, dass ich sehr nervös sei. Er sagte zu mir, ich sollte einfach nicht an die Note denken, die ich vielleicht bekomme. Ich sagte »OK«, aber leider brachte es nichts. Nächste Woche bekamen wir die Schularbeit zurück und ich hatte einen 1 [Ziffer wurde eingekreist.].«

Die Anspannung des Schülers zeigt sich körperlich: »Ich war so nervös, dass meine Hand richtig gezittert hatte.« Der Lehrer sieht den Schüler nicht nur und sieht vielleicht dabei durch ihn hindurch, sondern er nimmt »sofort« wahr, dass etwas mit seinem Schüler nicht stimmt und reagiert. Auf die Reaktion des Lehrers kann der Schüler eingehen und dem Lehrer von seiner Nervosität erzählen. Zwar kann der Lehrer dem Schüler in der Situation selbst nicht helfen, denn die Nervosität und Unsicherheit des Schülers bleiben bestehen, dennoch wird in dieser Erinnerungsszene der Lehrer als handelnd dargestellt, als jemand, der die Nervosität und Verzweiflung des Schülers in einer neuen Situation bemerkt und entsprechend seiner Interpretationen reagiert. Dass dem Schüler der Ratschlag des Lehrers in der Situation nicht hilft, ist nicht ausschlaggebend. Vielleicht auch, weil das Ergebnis der Schularbeit für den Schüler sehr zufriedenstellend ist. In dieser Situation kommt das Wahrnehmen beim Schüler als Gesehen-Werden an, und die Praktik des Sehens lässt sich hier klar als Anerkennungspraktik beschreiben.

5.2 Anerkennen als Begegnen Mit dem Begegnen als Anerkennungspraktik wird das Zusammentreffen von Lehrenden und Lernenden beschrieben. Vor allem in Begegnungen zeigt sich die emotionale Zuwendung in Anerkennungsverhältnissen. In Anfangssituationen und den ersten Begegnungen zwischen Lehrenden und Lernenden beziehen sich Lehrerinnen und Lehrer auf die emotionale und sinnliche Basis ihrer Schülerinnen und Schüler. Die positive emotionale Grundeinstellung gegenüber den Lernenden bildet dabei die Grundlage für ein Arbeitsbündnis, das auf gegenseitigem Vertrauen basiert und gleichzeitig in pädagogischen Interaktionen immer wieder erarbeitet werden muss (vgl. auch Sandring, 2013: 30). Durch eine positive, offene, freundliche, interessierte und auf die Lernenden hin orientierte Gestaltung von Anfangssituationen, sei es der erste Schultag oder die erste Stunde, kann diese positive Grundeinstellung in Erscheinung treten und dadurch für die Schülerinnen und Schüler spürbar werden. In der folgenden Erinnerungsszene wird der An-

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fang einer Vertretungsstunde beschrieben. Darin lassen sich die Auswirkungen der Gestaltung der ersten Begegnung beispielhaft rekonstruieren: »Ich erinnere mich nicht gerne an die Englischstunde vor ein paar Wochen! Als ich sah, wer uns in Englisch supplierte, war ich schon nicht glücklich, denn jeder wusste, dass diese Lehrerin SEHR STRENG ist! Als sie uns die Tür zum Klassenzimmer aufmachte, setzten wir uns schon alle einmal hin und legten die Englischsachen auf den Tisch, während die Lehrerin sich noch mit jemand anders außerhalb der Klasse unterhielt. Noch niemand hatte einen Stift oder so etwas Ähnliches in der Hand, denn jeder dachte, sie würde sich vorstellen oder so. Doch als sie in die Klasse kam, sagte sie nur: »Ich habe gehört, dass ihr ganz genau wisst, was ihr machen sollt! Deshalb wundert es mich, wieso ihr noch nicht arbeitet.« Ich nahm schockiert meine Englisch-Sachen heraus und begann zu arbeiten. Die Lehrerin schlich die ganze Zeit im Raum herum und keiner traute sich nur einen Laut zu geben. Sogar bei der Partnerarbeit flüsterte jeder, was sonst nie der Fall war! Ich traute mich nicht einmal, die Lehrerin etwas zu fragen, solche Angst hatte ich vor ihr! Ich hoffe, ich habe sie NIE WIEDER in einer Supplierung!«

In der beschriebenen Situation gestaltet sich die erste Begegnung mit der Lehrerin für die Schülerinnen und Schüler sehr negativ. Hervorzuheben ist, dass die Schülerinnen und Schüler eine klare Vorstellung von der Begegnung haben: Sie hoffen auf eine Vorstellung oder eine Begrüßung der Lehrerin. Die Lehrerin macht den Schülerinnen und Schülern stattdessen einen Vorwurf. Darauf reagieren die Schülerinnen und Schüler mit Schock und Angst. Der Schock und die Angst resultieren weiter in Schweigen: »[…] keiner traute sich nur einen Laut zu geben«. Überdies zeigt sich, wie durch die Handlungen der Lehrerin auch das Lernen gestört wird, denn die Autorin dieser Szene traut sich nicht einmal mehr Fragen zu stellen, »[…] solche Angst hatte ich vor ihr!«. Die Szene endet mit dem Wunsch der Schülerin, dieser Lehrerin nicht noch einmal ausgesetzt sein zu müssen: »Ich hoffe, ich habe sie NIE WIEDER in einer Supplierung!« Der Wunsch der Schülerinnen und Schüler nach dem Gefühl des Willkommenseins, dem durch positive, offen und freundlich gestaltete Anfangssituationen entsprochen werden kann, wird klar erkennbar.

5.3 Anerkennen als Gegenübertreten Die Anerkennungspraktik des Gegenübertretens beschreibt, wie Lehrerinnen und Lehrer jemandem gegenüber auftreten können. Anerkennung wird, wie in den vorhergehenden Abschnitten ausgeführt, in diesem Beitrag grundsätzlich als ein Geschehen verstanden, bei dem sich die Anerkennenden und die Anzuerkennenden gegenübertreten, wobei Normen, Machtverhältnisse oder andere Personen auf dieses Gegenübertreten einwirken. Die Herausforderung im Gegenübertreten besteht vor allem darin, den Schülerinnen und Schülern auf Augenhöhe zu begegnen, mit ihnen zu kooperieren und dabei die Wechselseitigkeit nicht zu verleugnen. Zugleich ist es wichtig, Autorität auszuüben, ohne Schülerinnen und Schüler zu beschädigen (vgl. Honneth, 2016). Das Gegenübertreten passiert oft in Situationen, die mit der schulischen Norm der Leistung verbunden sind, und zeigt sich dann als machtvolles Gegenübertreten. Es passieren im schulischen Alltag aber auch immer wieder Situationen, in denen die Art und Weise des Gegenübertretens auf Augenhöhe passiert und die Rollen Lehrer/in und Schüler/in für die Situation nicht

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ausschlaggebend sind beziehungsweise das Verlassen der Rollen für einen kurzen Moment Schülerinnen und Schülern besonders positiv in Erinnerung bleibt. »Meine »Geschichte« ist am Freitag, 6.3.2015, in Steinach am Brenner bei den Landesmeisterschaften ›Turn 10‹ passiert. Meine Teamkameradinnen und ich haben gerade das Reck verhaut und ein paar von uns sind heruntergefallen. Unsere Frau Professor hat uns daraufhin wieder gestärkt und einige auch in den Arm genommen. Das hat sich sehr gut angefühlt und es war so, als wäre sie eine von uns – keine Lehrerin!«

5.4 Anerkennen als Ansprechen Beim Ansprechen als Anerkennungspraktik wird der retrospektive aber vor allem auch der prospektive Charakter von Adressierungen sichtbar. Das Ansprechen der Schülerinnen und Schüler richtet sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern in besonderem Maße in die Zukunft und hat eine Transformation und die Stiftung eines neuen veränderten Subjekts zur Folge. Anerkennung besteht also aus zwei unterschiedlichen Elementen: die »voraussetzende Bestätigung« und »die entwerfende Stiftung« des Anzuerkennenden (Düttmann, 1997: 52). Für die Schule könnte man das Postulat deshalb umformulieren und sagen, dass die Lernenden nicht dort abgeholt werden sollen, wo sie gerade sind, sondern dorthin begleitet werden sollen, wo sie noch nicht sind, wohin sie sich aber bewegen können. Durch die Adressierung, das Ansprechen wird nicht nur eine bereits existierende Realität beschrieben, sondern eine Realität eingeführt, die noch nicht existiert: »Meine Erinnerung spielte in der 3. Klasse Volksschule. Ich, mein Freund Markus, meine Klasse und unsere Lehrerin Frau XY [Hier wird der Name der Lehrerin genannt.] waren beteiligt. Die erste Mathe-SA hatten wir geschrieben. Ich saß ganz normal auf meinem Stuhl. Plötzlich stürmte mein Freund Markus zu mir und sagte: ›Komm mal mit.‹ Ratlos ging ich mit ihm hinaus. Ich sah aus der Tür und es stand tatsächlich die ganze Klasse vor mir und sang: ›Happy Birthday to you!‹ Ich war überrascht. Es gratulierte mir jeder einzelne, auch die Lehrerin, sie sagte: ›Alles Gute du großer Bursche!‹ Ich glaube dieser Spruch meiner Lehrerin war der Anfang meiner Jugend.«

Durch die Schilderung dieser Situation wird deutlich, wie sehr eine positive Stiftung Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Hier wird auch aufgezeigt, wie sehr Lehrerinnen und Lehrer als bedeutsame Andere über die Institution Schule hinauswirken und auf die Subjektwerdung des Kindes einwirken.

5.5 Anerkennen als Rückmelden Das Rückmelden als reaktives Zeigen stellt eine der Grundformen pädagogischen Handelns dar (vgl. Prange, 2012: 84). Dabei bezieht sich das Rückmelden auf Ergebnisse und das Lernverhalten: Vergangenes Lernen wird in den Mittelpunkt gerückt, Lernergebnisse und Performanzen werden thematisiert. Schule zeigt sich hier als Anerkennungsraum, in dem Schülerinnen und Schüler Anerkennung über Leistung erfahren. Je jünger die Lernenden sind, desto mehr beziehen sie diese Anerkennung auf sich als ganze Person (vgl. Wiezoreck, 2005: 328), auch wenn sich die Rückmeldung auf spezielle Fertigkeiten oder Kenntnisse bezieht. In den

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250 untersuchten Erinnerungsszenen zeigt sich, dass im Zentrum aller beschriebenen Rückmeldungen in der Schule geltende Normen stehen. Zu diesen Normen zählt in besonderem Maße die erbrachte Leistung der Schülerinnen und Schüler, aber auch das Arbeitsverhalten wie beispielsweise Selbständigkeit oder Fleiß sowie das Sozialverhalten stehen im Mittelpunkt der Adressierungen. Die Praktik des Rückmeldens lässt sich in Rückmelden als Bestätigung und Rückmelden als Negation unterteilen. Rückmeldungen als Bestätigungen bleiben Menschen oft ihr ganzes Leben lang in Erinnerung und lassen sie über die eigenen Grenzen hinauswachsen. Durch das Rückmelden als Anerkennungspraktik finden Schülerinnen und Schüler ihren Selbstwert, weil sie aufgrund ihrer Leistungen, ihrer Eigenschaften und ihrer Selbstdarstellung von bedeutsamen Anderen adressiert werden. In der Schule werden Kinder und Jugendliche – zumindest dem erzieherischen Auftrag entsprechend – nicht nach Lebensformen und Lebensstilen beurteilt, im schulischen Leistungsprinzip zeigt sich allerdings eine prekäre Dynamik, weil die Leistungsbewertung durch Lehrer/innen oder Mitschüler/innen eine schulische Abwertung spezifischer Lebensformen mit sich bringen kann. An dieser Stelle soll ein Beispiel für das Rückmelden als Negation angeführt werden, um zu zeigen, wie sehr Schülerinnen und Schüler dadurch die Liebe und Geborgenheit, die sie brauchen, verwehrt bleiben: »Meine Geschichte ist letztes Jahr nach der letzten Latein-Schularbeit passiert. Das alles passierte im ›GT2 Saal‹ in der Schule. David, Nora, Kilian und Berti waren daran beteiligt. Aber auch Flo. Es ging so los, dass wir in die Klasse kamen und Herr Professor XY [Hier wird der Name des Lehrers genannt.] teilte uns die Schularbeit aus und ich bekam meinen ersten ›Fünfer‹. Ich musste anfangen zu weinen, da ich sonst nicht so schlechte Noten schreibe. Auch Flo fing leicht an zu weinen. David, Berti, Nora und Kilian setzten sich zu mir, um mich zu trösten und Herr Professor XY sagte zu Flo, der genau neben mir saß: ›Flo, ich weiß, dass du das kannst, bemüh dich das nächste Mal einfach ein bisschen mehr und dann wird das schon. Ich weiß, dass du das kannst.‹ Und zu mir sagte er nur: ›Emma, hör auf zu weinen!‹ Und zu meinen Freunden: ›Kommt, lasst sie in Ruhe, sie braucht kein Mitleid. Sie muss sich einfach einmal anstrengen.‹ Und das hat mich sehr gekränkt. Seitdem kann ich unseren Latein Professor nicht mehr wirklich leiden.«

Die Praktik des Rückmeldens zeigt sich hier als Negation, der Schülerin wird der Trost ihrer »Freunde« nicht zugestanden, es wird ihr dabei etwas genommen. Die Schülerin fühlt sich »gekränkt«, vor allem auch vor den anderen Schülerinnen und Schülern. Der Lehrer handelt in dieser Szene auf zwei unterschiedliche Arten: Der Schüler Flo wird motiviert und ermutigt und dadurch als jemand adressiert, der bei der nächsten Schularbeit eine bessere Note bekommen kann. Die Autorin der Szene wird vor den anderen erniedrigt. Die Schülerin beschreibt zusätzlich, welchen Schaden ihr Verhältnis zum Lehrer genommen hat (»Seitdem kann ich unseren Latein Professor nicht mehr wirklich leiden.«).

5.6 Anerkennen als Versagen Die Bedeutung des Verbs »versagen« ist vielfältig, als Anerkennungspraktik meint das Versagen jemandem etwas verweigern. Besonders in den Arbeiten von Jessica Benjamin (1990) wird das Versagen als wesentlicher Bestandteil von pädagogischen

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Handlungen herausgearbeitet. Auch Balzer & Ricken (2010: 65) verstehen die Versagung als Facette von Anerkennungspraktiken: »Sich dem anderen entziehen, ihm (etwas) zu versagen und zu widerstreiten ist nicht Gegenteil, sondern – nicht weniger als Bestätigung – notwendiges Moment von Anerkennung«. In den für die Studie analysierten Erinnerungsszenen nimmt das Versagen zwei unterschiedliche Ausprägungen an: das Grenzen-Setzen und das Sanktionieren. Das Setzen von Grenzen umfasst Handlungen, in denen Lehrende den Lernenden entgegentreten, ohne die eigenen Interessen zu verleugnen, und dennoch die Schülerinnen und Schüler als Individuen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen verstehen und adressieren. Gerade in der Praktik des Versagens steckt das Potential, dass Lehrerinnen und Lehrer als pädagogisch Handelnde zu bedeutsamen Anderen für Schülerinnen und Schüler werden können: »Es war einmal ein schöner Sommermorgen, als ich die Schule betrat, es war am Anfang eines neuen Herbstsemesters, im Jahre 2013. Es sollte ein sehr angenehmer Tag werden, da wir unsere erste Geschichtestunde hatten. Da ich immer sehr früh aufstehen muss, war ich sehr müde. Als es zur 4ten Stunde klingelte, ging ich auf meinen Tisch zu und fiel sofort in tiefen Schlaf. Als ich aufwachte, bemerkte meine Lehrperson dies und zwinkerte mir zu und sofort wusste ich, dass das unser kleines Geheimnis war.«

Hier wird eine Situation beschrieben, in der ein Schüler während der Unterrichtszeit einschläft und der Lehrer ihn dabei bemerkt. Die Reaktion des Lehrers scheint auf den ersten Blick von einer unverständlichen Gleichgültigkeit geprägt zu sein, denn der Lehrer »zwinkerte« dem Schüler nur zu, ohne einen weiteren Kommentar zum Verhalten des Schülers abzugeben. Der Schüler interpretiert die Geste des Zwinkerns und fühlt sich vom Lehrer wahrgenommen. Dass dem Schüler bewusst ist, dass ihm hier vom Lehrer aber auch eine Grenze gesetzt wurde und sein Verhalten in der Stunde nicht angebracht war, lässt sich aus der Formulierung »[…] sofort wusste ich, dass das unser kleines Geheimnis war« schließen. Aus dieser Situation gehen Lehrer und Schüler als Verbündete hervor. Auch daran, dass sich der Schüler an dieses Ereignis auch noch drei Jahre später erinnert, zeigt sich, welche große Bedeutung er diesem geheimen Bündnis zwischen Lehrer und Schüler beimisst. Das Versagen als Sanktionieren ist gleichzusetzen mit bestrafen, mit einer Strafe belegen, strafen, maßregeln, ahnden. Interessant ist, dass alle vorliegenden Erinnerungsszenen, die der Kategorie des Versagens als Sanktionieren zugeordnet werden konnten, von den Schülerinnen und Schülern als negative Erinnerungen beschrieben wurden. Es wurden immer Situationen geschildert, in denen Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrerinnen und Lehrern eine Strafe auferlegt wurde, ohne dabei den Schülerinnen und Schülern wirklich entgegenzutreten und dadurch als bedeutsamer Anderer/als bedeutsame Andere hervorzugehen. »Ich erinnere mich noch an die 1. Klasse Gymnasium, als ich von der Lehrerin als Papagei bezeichnet wurde, weil ich so viel redete. Sie schickte mich hinaus und ich durfte erst nach 3 Minuten wieder hinein. Innerlich brodelte ich vor Wut. Im nächsten Jahr bekamen wir eine andere Lehrerin, die viel netter war.«

In der vorliegenden Erinnerungsszene bestraft eine Lehrerin einen Schüler für sein störendes Verhalten in der Klasse auf zwei verschiedene Arten: Zuerst bezeich-

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net die Lehrerin den Schüler als »Papagei« und schickt ihn im weiteren Verlauf für drei Minuten aus dem Klassenzimmer. Daraufhin beschreibt der Schüler seine negativen Gefühle – »Innerlich brodelte ich vor Wut.« – und seine Erleichterung darüber, dass er im nächsten Jahr »eine andere Lehrerin, die viel netter war« bekam. Interessant ist hierbei, dass die Lehrerin dem Schüler eindeutig für sein störendes Verhalten entgegentritt, es werden dem Schüler Grenzen aufgezeigt und es kommt damit zur Versagung. Anstatt mit dem Schüler im Anschluss an diese erste Handlung aber das Gespräch zu suchen und klar die eigenen Interessen zu vertreten, wird der Schüler weggeschickt. Die Lehrerin zeigt kein Interesse am Verhalten des Schülers, will nicht wissen, was mit ihm los ist oder warum er den Unterricht so stört. Durch den Verweis des Schülers aus dem Unterricht hat sich die Lehrerin in der Wahrnehmung des Schülers als bedeutsame Andere zerstört, die pädagogische Beziehung ist abgebrochen. Dieser Befund wird zusätzlich noch einmal dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es da jemanden gibt, der viel »netter« ist, nämlich die neue Lehrerin. Das Versagen als Grenzen-Setzen oder als Sanktionieren zeigt sich immer in den Handlungen der pädagogischen Akteurinnen und Akteure. Dem Grenzen-Setzen lässt sich eine positive Konnotation zuschreiben, da damit das Entgegentreten ohne das Verleugnen der eigenen Interessen gemeint ist. Dabei bleiben der Blick auf den anderen und das Interesse am anderen erhalten. Beim Sanktionieren treten Lehrende den Lernenden mit einer für die Schülerinnen und Schüler unverständlichen und nicht nachvollziehbaren Maßnahme entgegen und somit werden weitere Interaktionen unmöglich.

6. S chlussfolgerungen Eingangs wurde die Frage aufgeworfen, was Lehrerinnen und Lehrer tun können, welche Handlungen sie vollziehen können, damit sich Schülerinnen und Schüler geliebt, anerkannt und respektiert fühlen, damit sie in sicheren und positiv besetzen pädagogischen Beziehungen aufwachsen können. Um diese Frage zu beantworten, wurde der Blick auf Adressierungen gelegt. Eine Adressierung hat eine große Wirkmacht, das lässt sich auch durch die Irritation, die eine jede/ein jeder von uns fühlt, wenn sie/er mit dem falschen Namen angesprochen wird, zeigen. Man zuckt zusammen, fühlt vielleicht sogar eine körperliche Irritation – ganz egal, ob die falsche Adressierung ein Fehler oder eine absichtsvolle Handlung war. Eine Adressierung bestätigt eine soziale Existenz. Carolin Emcke (2016: 142) schreibt sogar: »Die Art und Weise, wie ich angesprochen werde, bestimmt meine Verortung in der Welt.« Jene Worte, die einem zugeschrieben werden, mit denen man angesprochen wird und jene Handlungen, die einem zuteilwerden, formen die eigene soziale Position. Durch die Betrachtung von Adressierungen im schulischen Alltag zeigt sich, dass pädagogisches Handeln immer ein Entwicklung ermöglichendes, bestätigendes, negierendes, belohnendes oder entgegentretendes Handeln sein kann. Die meisten Adressierungen sind im schulischen Alltag strukturell bedingt an Schülerinnen und Schüler gerichtet, Lehrerinnen und Lehrer können durch die Handlungen, die sie mit ihren Adressierungen vollziehen, als bedeutsame Andere für die Schülerinnen und Schüler wirksam werden, wenn sie die vorgestellten Anerkennungspraktiken bewusst voll-

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ziehen und eine durchgehend reflexive Haltung annehmen, indem sie sich die Frage stellen: Was macht das, was ich tue, mit meinen Schülerinnen und Schülern? Dabei muss stets bedacht werden, dass sich das pädagogische Handeln immer auf die Subjektwerdung der Schülerinnen und Schüler auswirkt, deshalb sind Gegenwart und Zukunft der Kinder und Jugendlichen von den Haltungen, Interpretationen, Entscheidungen und Handlungen ihrer Lehrerinnen und Lehrer abhängig – also von dem persönlichen Auftrag, den Lehrerinnen und Lehrer annehmen, wenn sie es sich – wie Dekan Ryan (vgl. 2016) es einfordert – zur Aufgabe machen, dass sich Schülerinnen und Schüler in der Schule geliebt fühlen.

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Die bildende (Wirk-)Kraft der Liebe Annäherungen an einen Bildungsbegriff im pädagogischen Kontext der Lehrer/innen/bildung Christine Scheuenpf lug

1. E inleitung Der öffentliche Diskurs über Bildung ist vielfältig und berührt nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens. Auf den ersten Blick scheint es so, als würde sich jedes Sprechen über Bildung auf eine allgemein anerkannte, gemeinsame Idee von Bildung und Gebildetsein beziehen. Ein zweiter Blick lässt jedoch erkennen, dass mit dem Begriff der Bildung mannigfaltige, zuweilen diffuse und vielfach auch konträr zueinanderstehende Bedeutungszuschreibungen verknüpft sind. Mit dem in der allgemeinen Bildungsdebatte oftmals zu verzeichnenden Verlust des Subjektbezugs durch eine inhaltliche Engführung des Bildungsbegriffs als »das Insgesamt der formell und informell angeeigneten Qualifikationen und Kompetenzen« (Hierdeis, 2007: o. S.) erfolgt auch eine Reduktion des Menschen auf jene Persönlichkeitsmerkmale, die sich im Hinblick auf ihre ökonomische Brauchbarkeit und Funktionalität bewerten lassen (vgl. ebd.). Die damit einhergehende »organisierte Entfremdung des Subjekts von sich selbst« (Hierdeis, 2007: o. S.) ist Ausdruck jener Bildungskultur, »die den heranwachsenden Menschen daran hindert, zu wissen, wer er ist, und zu entwickeln, wer er sein könnte« (ebd.). Damit wird der Mensch auch um ein wesentliches Element von Bildung gebracht: nämlich um die Erweiterung und Entfaltung von Lebensmöglichkeiten durch Selbstreflexion. Vor diesem Hintergrund mag der Titel dieses Sammelbandes Bildung und Liebe Erstaunen auslösen, werden damit doch zwei – zumindest im Hinblick auf die Häufigkeit ihrer Verwendung im öffentlichen Diskurs – unterschiedliche Kategorien unmittelbar nebeneinandergestellt. Was meint der Begriff der Liebe hier? Inwieweit und auf welche Weise lässt sich der Liebesbegriff im wissenschaftlichen Diskurs verorten? Wie hängen Bildung und Liebe zusammen? Und dennoch erfassen wir intuitiv, dass es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Bildung und Liebe gibt. Dass der Begriff der Liebe in pädagogischen Kontexten zumeist nur marginal behandelt wird, mag unter anderem im Wesen der Liebe selbst liegen, entzieht sie sich doch letztendlich einer allgemeingültigen, wissenschaftlichen Erklärungs-

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möglichkeit. Möglicherweise scheint das schlichte Wort »Liebe« im erziehungswissenschaftlichen Diskurs auch zu gewöhnlich, zu trivial und damit diskursunfähig – weil nicht eindeutig in Definitionen festlegbar – zu sein. Und doch ist spür- und erahnbar, was damit gemeint ist. Leichter zu fassen bekommen den Liebesbegriff Dichter, Musiker oder Maler, weil ihnen jene Mittel zur Verfügung stehen, mit denen die vielfältig schillernden Facetten der Liebe zum Klingen und Leuchten gebracht werden. In der Lyrik, der Musik, der Malerei oder etwa der darstellenden Kunst wird die Liebe in ihrer Vielschichtigkeit – wenn auch begrenzt auf die schöpferische Idee der jeweiligen Kunstschaffenden – zumindest ein Stück weit fühl- und sichtbar und damit (be-) greif bar gemacht. So ist etwa bei dem österreichischen Lyriker Erich Fried in seinem bekannten Gedicht mit dem Titel »Was es ist« über die Liebe zu lesen: »Es ist was es ist, sagt die Liebe«. Im Dialog mit den rationalen Argumentationsweisen der Vernunft sucht die Liebe weder zu überreden noch zu überzeugen. So bleibt auch Frieds Erklärung der Liebe – ergeben in die Aussichtslosigkeit aller Entschlüsselungsversuche, was die Liebe sei – tautologisch: Es ist was es ist… Die Liebe erklärt sich selbst ohne Pathos, ohne Erhabenheit, jedoch beharrlich und unverzagt (vgl. Hahn, 2006: o. S.). Wenn sich bereits der Liebesbegriff dermaßen schwer fassen lässt, wie komplex muss dann erst die Verwobenheit der beiden Begriffsfelder »Liebe« und »Bildung«, die Thema dieses Beitrages sind, sein? Gemein ist beiden Begriffen, dass sie sich letztendlich einer eindeutigen, allgemeingültigen Definition entziehen. In diesem Punkt sind sie wesensverwandt. Abseits von Dechiffrierungs- bzw. Dekodierungsversuchen wird in diesem Beitrag angestrebt, das wirkmächtige Zusammenspiel von Bildung und Liebe ein Stück weit zu erhellen. Als Schauplatz hierfür fungiert die Lehrer/innen/bildung.

2. Ü berlegungen zum B ildungsbegriff Diesen soeben skizzierten Grundgedanken nachgehend werden im Folgenden nun einige, für die Verknüpfung mit dem pädagogischen Begriff der Liebe wesentlich erscheinende Facetten aus dem Bedeutungsspektrum des Bildungsbegriffes herausgegriffen und beleuchtet. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, lässt Bernd Lederer im Zuge seiner Definitionsbemühungen um den Bildungsbegriff zunächst in ein – wie er es nennt – »Bedeutungspotpourrie« (2011: 11) an Bestimmungsversuchen von Bildung blicken, mit dem er vielseitige Einsichten in die Bedeutungspluralitäten und qualitativen Aspekte von Bildung gewährt. Resümierend stellt Bernd Lederer hierzu fest, »dass trotz oder gerade wegen seiner Vieldeutigkeit der Bildungsbegriff aus pädagogischer Sicht durch keinen anderen Fachbegriff adäquat zu ersetzen ist. So erweisen sich theoretische Äquivalente und denkbare Ersatzbegriffe, beispielsweise Intelligenz, Wissen, Lernen, Qualifikation, Kompetenz, Identität, Emanzipation oder auch Sozialisation, für den Bildungsbegriff wegen dessen originären pädagogischen Eigencharakter als unzureichend bis untauglich, auch weil diese teilweise in anderen Wissenschaftsbereichen und Lebenswelten

Die bildende (Wirk-)Kraf t der Liebe anzusiedeln sind und von daher auch solche Interessen, Themengebiete und Inhalte umfassen, die nicht allein pädagogischer Natur sind.« (Lederer, 2011: 17, Hervorhebung v. Verf.)

In diesem Sinne werden sämtliche Versuche, Bildung zu definieren und zu fassen, zu einem hochkomplexen Unterfangen, das je nach Perspektivenlegung immer auch unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen und Konzeptionen von Bildung hervorbringen wird. Mit der sich daraus ergebenden Vielfalt der Verwendungsweisen und Konnotationen des Bildungsbegriffs geht unweigerlich auch eine Vielzahl differierender Lesarten von Bildung und kontroverser Möglichkeiten des Sprechens über Bildung einher. So notiert Lederer zum Bestimmungsproblem von Bildung: »Definitionsbemühungen zusätzlich erschwerend, erstreckt sich Bildung auf praktisch alle Gebiete menschlicher Lebenswirklichkeit. Die denkbar breite Fülle von Lebenswelten, auf die sich Bildung bezieht und aus denen sie sich gleichsam speist, ist letztlich sowohl Mittel zum Zweck als auch Betätigungsfeld des obersten Bildungsziels überhaupt, nämlich, ganz im Sinne Wilhelm von Humboldts, der Entfaltung aller dem Individuum immanenten Begabungen und Potenziale.« (Lederer, 2011: 13, Hervorhebung. v. Verf.)

Möglicherweise entspringt das Dilemma, Bildung begrifflich zu bestimmen und inhaltlich zu erfassen, dem Wesen von Bildung selbst. Wird Bildung nämlich als ein dynamischer Prozess begriffen, der – wie Oelkers es ausdrückt – »nicht wie eine abschließende, sondern wie eine fortdauernde Initiation vorgestellt werden muss« (Oelkers, 2003, zit.n. Lederer, 2011: 6, Hervorhebung v. Verf.), so lässt sich Bildung als ein Kontinuum von Zielvorstellungen, vorläufigen Ergebnissen und Prozessen auffassen. Hiermit kommt der prozesshafte Charakter zum Ausdruck, mit dem Bildung nicht als lineares Resultat eines bestimmten Inputs gedacht wird. Für eine weitfassende begriffliche Erschließung des Bildungsgedankens liefert Helmwart Hierdeis folgende Definition: »Als Bildung bezeichnen wir den Prozess und das Ergebnis der Auseinandersetzung des Menschen mit ›der Welt‹ und mit der eigenen Person. Einerseits geht es also um die Umwandlung von Wahrnehmungen und Informationen in geordnetes Wissen, von geordnetem Wissen in geordnetes Denken und von geordnetem Denken in angemessenes Handeln. Andererseits geht es um die Fähigkeit zum begründeten Urteil und zur Übernahme von Verantwortung sich selbst und ›der Welt‹ gegenüber. Sie schließt die Aufklärung über die eigene Person ein.« (Hierdeis, 2007: o.S.)

Hiermit wird das auf subjektiven Wahrnehmungen basierende Einordnen von Wissen in Wissenszusammenhänge, das dem Subjekt auf der Basis eines reflexiven Umgangs mit diesen Wissensbeständen letztlich zu einer Erweiterung seiner Handlungsfähigkeiten und -möglichkeiten verhilft, als Resultat der Befassung des Menschen mit sich selbst in der Welt begriffen. In diesem Sinne denkt auch Kokemohr in seinen theoretisch-empirischen Annäherungen an eine Bildungsprozesstheorie Bildung nicht als einen Prozess, in dem sich »Subjekt und Welt als zwei Entitäten« (2007: 15) darstellen, sondern fasst Bildung vielmehr »als qualitativ spezifischen Prozess auf, der, anders als ein Lernprozess, die kategorialen Figuren betrifft, kraft derer sich das Verhältnis von Subjekt und Welt entwirft und modifi-

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Christine Scheuenpflug ziert. Diese Auffassung schließt ein, dass ein Bildungsprozess ›Subjekt‹ und ›Welt‹ in ihrer je gegebenen symbolisch typisierenden Konfiguration aufbricht und anders refiguriert. Dieser Bildungsbegriff hat den Vorteil, das Krisenhafte von Bildungsprozessen in den Blick zu bringen und das grundsätzlich Prekäre eines jeden Welt- und Selbstentwurfs gegenwärtig zu halten.« (Kokemohr, 2007: 16)

Bildung als Möglichkeit, sich selbst gewahr zu werden, bedeutet demnach etwas zutiefst Individuelles: Sie impliziert stets die Durchdringung der Welt und des eigenen Selbst; sie meint den Vorgang des Sich-Bildens durch Erfahrung, Scheitern, Erkennen und Verstehen. Mit der Selbst- und Weltbezüglichkeit des Menschen geht auch das Verantwortet-Sein des Menschen sich selbst und der Welt gegenüber einher, wobei Meueler Bildung im Sinne eines dynamischen Denkens auch als »Subjektentwicklung« im Wirkungskontext seiner gesamten Lebenswelt versteht: »Bildung bedarf immer des Wissens, aber es wird mittels kritischer Reflexion durchdrungen. So verstanden erscheinen Subjektivität und Bildung untrennbar miteinander verknüpft, auslegbar als Fähigkeit zur Selbstreflexion, als Mitmenschlichkeit und damit als soziales Ereignis, als Verantwortlichkeit für sich, seinen Lebenszusammenhang, die Gesellschaft und deren Fortentwicklung, wie für den Widerstand gegen die Zerstörung der Natur. Bildung zum Subjekt erfolgt immer dann, wenn es zum Wachstum all jener Kräfte, Fähigkeiten und Fertigkeiten, zur Zunahme von Kenntnissen, Einsichten und Einstellungen kommt, die die bloße Funktionalität des Subjekts in der totalen Marktwirtschaft übersteigen.« (Meueler, 2010: 982)

Vor dem Hintergrund dieser Begriffsbestimmungen von Bildung wird deutlich, dass Bildung sich stets auch als Bildung zum Subjekt, also als Identitätsfindungsund Selbstentfaltungsprozess in gleichzeitigem Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Welt darstellt. Im Sinne dieses Bildungsverständnisses, das dem vorliegenden Beitrag als Leitgedanke zugrunde liegt, entziehen sich solchermaßen verstandene Bildungsprozesse jenen Mechanismen der instrumentalisierenden Verwertbarkeit und Kontrollierbarkeit, die Bildung in den Bereich von Messbarkeit rücken. So gesehen stellt Bildung auch keine beliebige Handelsware dar, die sich an einem ökonomischen Marktwert messen lässt. Vielmehr folgt der hier vorgestellte Bildungsbegriff den Leitbildern eines an Wilhelm von Humboldt orientierten Anliegens humanistischer Bildung und spiegelt sich in Lederers (2013: 49) »Plädoyer für die Rückbesinnung auf ein humanistisches Verständnis von Bildung jenseits zweckfunktionaler Engführungen« folgendermaßen wider: »Nur Bildung steht – eben im Gegensatz zu Kompetenz/en – für die transutilitäre, selbstzweckhafte Dimension des Mensch-Seins, für das Unangepasste und Widerständige, das sich ggf. auch in reflektierter Dysfunktionalität zu äußern vermag und sich so fremdbestimmenden Einflüssen, Zwängen und Herrschaftsmechanismen wenn möglich verweigert und entzieht. Eine so verstandene Bildung weiß sich den Leitwerten und Zielbestimmungen beglückender Lebensführung, reflektierter Welt- und Selbsterkenntnis, freier, mündig-emanzipierter Selbstentfaltung im Modus der Selbstbestimmung und nicht zuletzt auch sozial-solidarischem Zusammenleben verpflichtet.« (Lederer, 2013: 51)

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In dem Maße, in dem Bildung im humanistischen Sinne als Sorge um den Menschen erscheint, der um seiner selbst willen be- und geachtet wird, wird deutlich, dass die Frage nach dem Wesen der Bildung zutiefst mit der Frage nach dem Wesen des Menschen selbst verbunden ist. Mit der Bestimmung des Menschen als vernunftbegabtes, – im Bildungsverständnis von Immanuel Kant – zur Selbstbestimmung, Selbstdistanzierung und Selbstreflexion befähigtes Wesen einerseits und mit der Verwiesenheit des Menschen auf die ihn umgebende Welt andererseits, verdeutlicht sich auch der bildende Wert der personalen Begegnung. In der Begegnung mit der Welt, dem Anderen und schließlich mit sich selbst entsteht jenes Wechselspiel, in dem »das Ich erst vom Verhältnis zum Du aus verstehbar« (Stöger, 2003: 11) wird. So schreibt Martin Buber: »Nur in der lebendigen Beziehung ist die Wesenheit des Menschen, die ihm eigentümliche, unmittelbar zu erkennen« (Buber, zit.n. Stöger, 2003: 113). Bildung erfährt demnach letztlich nur in der zwischenmenschlichen Begegnung ihre volle Entfaltung. Somit ereignet sich (Selbst-) Bildung stets in der Beziehung zu anderen und in einer entwicklungsförderlichen Begleitung durch andere – also in einer dialogisch gestalteten Beziehung zwischen einem gleichwertigen Ich und Du, die hier in einem erwachsenenpädagogischen Sinn mit dem Begriff der Erziehung gemeint ist. Hierzu eine Randbemerkung: Interessant erscheint in diesem Kontext zunächst der Umstand, dass der Begriff »Bildung« lediglich im deutschen Sprachraum existiert, während beispielsweise im Englischen oder Französischen dieser Begriff in dem Wort education seine Entsprechung findet (vgl. Lederer, 2013: 12). Als ein spezifisch deutschsprachiger Terminus gewinnt der Begriff der Bildung somit seine entsprechende Eigenständigkeit und Bedeutsamkeit, wobei er im Vergleich zum Begriff der Erziehung auch unterschiedliche Geschehnisse und Absichten bezeichnet. Diese Bedeutungsdifferenz zwischen den Begriffen Erziehung und Bildung ist in der deutschen Sprache kultur- und bildungsgeschichtlich begründet und wird von Helmwart Hierdeis folgendermaßen prägnant dargestellt: »Im Bildungsbegriff, wie wir ihn heute verwenden, steckt immer noch die in der idealistischen Literatur des 18. Jahrhunderts entwickelte Vorstellung von der ›Selbstverwirklichung des Menschlichen im Menschen‹ und damit eine philosophisch-religiöse Dimension, die sich bis auf Platons Ideenlehre und auf die Lehre des Christentums vom Menschen als Ebenbild Gottes zurückführen lässt. Die Abgrenzung zum Erziehungsbegriff hin erfolgte um die gleiche Zeit. Die Aufklärungspädagogik sagte ›Erziehung‹ und formulierte als Zielvorstellung den arbeitsfähigen, produktiven, sich selbst erhaltenden, für die Gesellschaft nützlichen Bürger; die idealistische Pädagogik sagte ›Bildung‹ und hatte die sprachlich kompetente, historisch und philosophisch informierte, urteilsfähige, ästhetisch genießende Persönlichkeit vor Augen.« (Hierdeis, 2003, zit.n. Lederer, 2013: 14)

Während Erziehung mit spezifischen Anliegen, Zielsetzungen, Vorstellungen bzw. konkreten Handlungsweisen innerhalb konkreter Umwelten, Beziehungen und Atmosphären verknüpft ist, verbindet sich nach Hierdeis mit dem Begriff »Bildung« – die Fähigkeit des Subjekts zur Weltaneignung voraussetzend – der »Prozess und das Ergebnis der Auseinandersetzung des einzelnen mit der Welt und ihren Repräsentanzen in Sprache, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Medien, die Verwandlung von Information in subjektiv bedeutsames Wissen« (Hierdeis, 2003, zit.n. Lederer, 2013: 14). Bildung im hier gemeinten Sinn bringt demnach immer

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auch Subjektkategorien des Selbstdenkens, der Selbstbestimmung und der Selbstaneignung ins Spiel und setzt sich nach Meueler (2009: 149) »über das Erzogensein hinaus fort. Sie kann von außen immer nur angeregt werden, nie aber bewusst hergestellt werden«. Mit der Orientierung an der individuellen Persönlichkeit des sich bildenden Subjekts und unter Einbezug der jeweiligen Biographizität kann die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit im Sinne von (Selbst-)Bildung – basierend auf im Dialog mit anderen durchlaufenen (Selbst-)Erkenntnisprozessen – angeregt und bereichert werden. Hierin ist die Doppelbezüglichkeit und das Proprium dialogischer Bildungsprozesse zu erkennen: Die sich in diesem Geschehen eröffnenden Handlungs-, Erkenntnis- und Erfahrungsspielräume tragen das Potential für die Weiterentwicklung aller an dem Dialog Beteiligten in sich. In den Blick gelangen dabei nämlich sowohl die Auszubildenden bzw. die Lernenden als auch die Ausbildenden bzw. die Lehrenden, die in diesem wechselseitigen Verhältnis der Lern-, Lehr- und Bildungsprozesse als Sich-Bildende zu begreifen sind. Somit ist das Bildungsverständnis des vorliegenden Beitrages stets auch als ein ineinander spielendes und ein sich gegenseitig bedingendes Wechselverhältnis von Erziehung und Bildung zu betrachten.

3. D er L iebesbegriff und der P ersonzentrierte A nsat z von C arl R ogers In welchem Zusammenhang – so lässt sich nun fragen – steht dieses soeben beschriebene Bildungsverständnis mit dem Begriff der Liebe? Dieser Frage folgend sollen im weiteren Verlauf jene Facetten und Konnotationen eines Verständnisses von Liebe aufgespürt werden, die dem Erkenntnisinteresse – nämlich der Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Kategorien der Bildung und der Liebe – zu einer tieferen Resonanz und einer weiterführenden Perspektivenöffnung verhelfen können. Einen hilfreichen Brückenschlag bietet hierfür der Personzentrierte Ansatz von Carl Rogers, dem Mitbegründer der Humanistischen Psychologie und Pädagogik. Dabei zielt dieser referenzielle Rekurs – in Orientierung an einem pädagogisch-humanistischen Denken – »auf ein, wenn nicht zeitloses, so doch übergeschichtliches Allgemein-Menschliches« (Zöller, 2009: 46), mit dem »Bildung […] nicht nur als unverzichtbarer Begriff, sondern als zentraler Maßstab für die pädagogischen Leit- und Letztziele (Selbst)Erkenntnis, Selbstbestimmung und Menschlichkeit« (Lederer, 2011: 19, Hervorhebung v. Verf.) geltend gemacht werden kann. Der Begriff »personzentriert« ist in zweifacher Hinsicht auszulegen: Zum einen meint er die Zentrierung der beratenden Person auf sich selbst, die eine unzensierte Wahrnehmung des eigenen Fühlens und Erlebens einschließt, und zum anderen eine auf das innere Erleben des Gegenübers zentrierte Haltung, die dazu befähigt, die Gefühle, persönlichen Sichtweisen, Wünsche und Ziele des anderen wahrzunehmen. Liebe ist bei Carl Rogers – auch wenn er diese in seinem Personzentrierten Ansatz nicht explizit als solche benennt – eine anthropologische Grundhaltung, die jeglichem pädagogischen Handeln vorgelagert ist. Sie entspringt einer spezifischen Betrachtung des Menschen, mit der die Vorstellungen über das erzieherische Handeln und die Gestaltung des dafür notwendigen Milieus, innerhalb dessen sich der

Die bildende (Wirk-)Kraf t der Liebe

Mensch bildet und gebildet wird, verbunden sind. Diese spezifische pädagogische Grundhaltung folgt einem Menschenbild, wie dieses die Humanistische Psychologie zeichnet. Es ist dies ein Bild des Menschen, in dessen Zentrum die Würde, Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der Person vor dem Hintergrund ihrer stets individuellen Biographie und sozialen Einbettung steht. Der Mensch wird darin als ein reflexives Wesen gesehen, das seine Existenz und sein Dasein sinnhaft in der Welt zu definieren aufgefordert ist (vgl. Kriz, 2001: 159). Damit einhergehend ist ihm »die Fähigkeit zur Bewusstwerdung und zur Reflexion der eigenen Person eigentümlich« (Schmid, 2001: 67). Nach Kriz (2001: 159) muss der Mensch dazu »hinreichend konsistente Beschreibungen seiner Vergangenheit und Entwürfe seiner Zukunft entwickeln, um im Hier und Jetzt sinnvoll leben zu können. Diese wesentlich menschlichen Eigenschaften sind zwar als biologische Möglichkeiten mitgegeben, jedoch lassen sie sich nicht isoliert entwickeln, sondern immer nur in der Begegnung mit relevanten Anderen«. In diesem Sinne befindet sich der Mensch stets auf dem Weg des Selbstwerdens hin zu seiner Authentizität, wobei sich jedoch erst in der Beziehung zum Du – also in einer dialogischen Begegnung – Entfaltung ereignet (vgl. Buber, 2009 [1923]: 15). Diesen Prozess der Entfaltung am Du drückt Buber in folgender Weise aus: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« (Ebd.) Während Buber in seinem dialogpädagogischen Ansatz »die Erfahrung des Mensch-Seins und letztlich auch die göttliche Erfahrung auf eine von ihm sogenannte ›Ich-Du-Beziehung‹ zurückführte« (Korunka, 2001: 41f) und somit der dialogischen Begegnung den zentralen Stellenwert für die menschliche Entwicklung zuspricht, postuliert Carl Rogers »darüber hinaus die – unabhängig von der Begegnung vorhandene – Tendenz zur Selbstaktualisierung […]. In dieser Tendenz erkennt Rogers die treibende Kraft, die überhaupt eine Begegnung im dialogischen Sinne ermöglicht.« (Ebd.: 42) Die menschliche Natur wird im humanistischen Sinne also im Grunde ihres Strebens als zutiefst positiv betrachtet. Dies gilt für die individuelle Entwicklung wie auch für die Auseinandersetzung in Beziehungen zu anderen Menschen. Nach Rogers ist das Charakteristikum der menschlichen Existenz die Suche nach Selbstverwirklichung und ganzheitlichem Wachstum. Dabei rückt er stets die Bedeutung der Verwiesenheit des Menschen auf Beziehung ins Zentrum, da wirkliche Entwicklung bzw. Veränderung beim Menschen nur »durch Erfahrung in einer Beziehung zustande kommt« (Rogers, 2004: 46). In diesem Sinne gestaltet sich der Personzentrierte Therapieansatz von Carl Rogers als Beziehungstherapie, innerhalb derer die Klientin bzw. der Klient jenem Ziel zustrebt, das Rogers in Anlehnung an Kierkegaards Existenzphilosophie wie folgt formuliert: »Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist.« (Ebd.: 164) Zentrale Hypothese seines Personzentrierten Ansatzes ist, dass der Mensch »potentiell über unerhörte Möglichkeiten [verfügt], um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte, seine Grundeinstellungen und sein selbstgesteuertes Verhalten zu verändern; dieses Potential kann erschlossen werden, wenn es gelingt, ein klar definierbares Klima förderlicher psychologischer Einstellungen herzustellen« (Rogers, 2007: 66).

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Rogers nennt drei Bedingungen für dieses wachstumsfördernde Klima in der Beziehung zwischen Therapeut und Klient bzw. Lehrer und Schüler: Die erste bezeichnet er als Echtheit, Unverfälschtheit oder Kongruenz. Dabei geht es darum, professionelles Gehabe und eine persönliche Fassade zu vermeiden und möglichst man selbst zu sein. Die zweite Bedingung nennt Rogers bedingungslose positive Zuwendung und meint damit ein Handeln nach den Prinzipien Akzeptieren, Anteilnahme und Wertschätzung. Die dritte Bedingung kreist um das einfühlsame Verstehen, d.h. um die Fähigkeit des Therapeuten, die Gefühle und persönlichen Bedeutungen des Klienten zu spüren und zu verstehen und dem Klienten dies auch mitzuteilen (vgl. ebd.: 66ff). Mit der Annahme der Beziehungsangewiesenheit des Menschen sowie des heilenden Potentials einer echten, existenziellen Begegnung werden Begegnung und Begegnungsfähigkeit in das Zentrum der Betrachtungsweisen der Humanistischen Psychologie und Pädagogik gerückt. Carl Rogers entwickelte seinen Personzentrierten Ansatz ursprünglich im Rahmen seiner Tätigkeit als Psychotherapeut. Dabei stellte er fest, dass die therapeutischen Prinzipien seines Ansatzes in ähnlicher Weise in Form von schüler/ innenzentrierten bzw. student/innenzentrierten Lehrmethoden anwendbar sind. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Beobachtung, dass therapeutische Veränderungsprozesse auf signifikantem Lernen beruhen. Dabei handelt es sich nach Rogers (2004: 274) um ein Lernen, »das mehr als nur Faktensammeln bedeutet. Es ist ein Lernen, das etwas verändert – im Verhalten des einzelnen, in den von ihm zukünftig einzuschlagenden Handlungsweisen, in seinen Einstellungen und in seiner Persönlichkeit. Es ist ein durchdringendes Lernen, nicht nur eine Zunahme an Wissen, sondern etwas, das jeden Teil seiner Existenz betrifft und durchdringt.«

Diese Art des Lernens schließt persönliches Engagement ein. Es ist selbst-initiiert, selbstgesteuert und für den Lernenden persönlich bedeutungsvoll. Als wichtigste Qualität für »die Förderung des Lernens (facilitation of learning)« (Rogers, 1974: 106, Hervorhebung v. Verf.) betrachtet Rogers die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrenden und Lernenden: »Wir wissen […], daß die Anregung solchen Lernens nicht mit der Lehrfähigkeit des Unterrichtenden steht und fällt. Sie gründet auch nicht darauf, wie gelehrt er ist, wie er sein Curriculum plant, wie er audiovisuelle Hilfen einsetzt, wie er programmiertes Lernen verwendet. Sie hängt nicht von seinen Vorlesungen oder seinen Vorträgen oder von einem Überfluß an Büchern ab, obwohl jeder dieser Faktoren das eine oder andere Mal als eine wichtige Hilfe eingesetzt werden kann. […] Die Förderung signifikanten Lernens hängt von bestimmten einstellungsbedingten Qualitäten ab, die in der persönlichen Beziehung zwischen dem ›facilitator‹ und dem Lernenden existieren.« (Rogers, 1974: 107)

Signifikantes Lernen beruht nach Rogers auf einer Beziehungsqualität zwischen Lehrenden und Lernenden, die von gegenseitiger Wertschätzung, Anerkennung, Vertrauen und Empathie geprägt ist. Jenes pädagogische Selbstverständnis, in dem das Wachstum und die Persönlichkeitsentfaltung der Lernenden im Mittelpunkt stehen, fasst Rogers schließlich in dem zentralen Begriff des Facilitators zusammen. Dabei versteht sich die Lehrperson als eine Person, die selbstinitiiertes und

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bedeutungsvolles Lernen ermöglicht und fördert. Die dem Menschen innewohnende »Kraft und dieser Wunsch zum Lernen, zum Entdecken, zur Erweiterung von Wissen und Erfahrung, kann unter angemessenen Bedingungen freigesetzt werden. Darin liegt eine Tendenz, auf die man vertrauen kann« (Rogers, 1974: 157). In diesem Sinne betrachtet Rogers Lehrerinnen und Lehrer als Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter, als Ermöglicherinnen und Ermöglicher signifikanter Lernprozesse, deren Haltungen – abgeleitet von dem Vorbild therapeutischer Beziehungen – sich durch die Eigenschaften der Kongruenz, der bedingungsfreien Wertschätzung sowie der Empathie auszeichnen. In diesem Sinne lässt sich die auf diesen drei Grundvariablen beruhende personzentrierte Haltung als eine Grundhaltung der Liebe zum Anderen fassen. In Anlehnung an Elisabeth Brandhofer (1989: 74) handelt es sich dabei um eine »nicht-besitzergreifende Haltung, welche die andere Person als eigenständiges Individuum achtet und so annimmt, wie sie ist oder sich gibt«. In diese warmherzigakzeptierende, nicht-possessive Zuwendung (vgl. ebd.) ist auch »der Verzicht auf wertende Stellungnahmen« (ebd.) miteingeschlossen; d.h. die Äußerungen und Reaktionen des Gegenübers »werden […] nicht gewertet oder gar diagnostiziert, alle Gefühle werden angenommen« (ebd.). Eine solche Haltung der Liebe entspringt auch einer Haltung der Demut, einem Sich-Beugen vor der unantastbaren Würde und Einzigartigkeit des jeweils anderen, die bzw. der »es wert ist, geschätzt zu werden. Die Annahme jedes Aspekts im anderen Menschen stattet die Beziehung aus mit Wärme und Sicherheit; als Mensch gemocht zu werden ist ein höchst wichtiges Moment einer hilfreichen Beziehung« (ebd.: 74). Das damit verbundene Vertrauen, dass »jeder Mensch von sich aus gut ist und alle Ressourcen in sich birgt für seine Weiterentwicklung« (ebd.), lässt sich schließlich auf alle Kontexte pädagogischen Denkens und Handelns übertragen.

4. F ace t ten von B ildung und L iebe im formalen B ildungskonte x t der L ehrer /innen /bildung Mit dem Versuch, die Liebe als ein fundamentales Konstrukt gelingender zwischenmenschlicher Kommunikation und Interaktion, d.h. einer auf bedingungsloser Wertschätzung, empathischer Fürsorge und kongruenter Zuwendung beruhenden Beziehungsgestaltung zu fassen, wird nun im weiteren Verlauf das wirkmächtige Zusammenspiel zwischen Liebe und Bildung am Bildungsort der Lehrer/innen/ bildung näher betrachtet. Gleichzeitig wird dabei auch verdeutlicht, wie sich die pädagogische Grundhaltung der Liebe in ihrer spezifischen Erscheinungsform in einem formalen Bildungskontext manifestiert. Auch wenn die Bedeutungsfülle des pädagogischen Liebesbegriffes sich damit nicht in ihrer Ganzheit erfassen lässt, so sollen vor dem Hintergrund der Wirkforschung des Personzentrierten Ansatzes nach Carl Rogers, mit dem auch eine Entmythologisierung des Liebesbegriffes einhergeht, einige ausgewählte Facetten beleuchtet werden, auf deren Basis das bildende Potential der Liebe aufgezeigt werden kann. Hierzu eine Anmerkung vorab: In der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist die Verwendung des Begriffes der Liebe beinahe selbstverständlich, was sich auch im alltäglichen Sprechen über den pädagogischen Umgang mit Kindern, etwa in Formulierungen wie »Man muss Liebe zu den Kindern und

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Jugendlichen verspüren…«, »Das wichtigste ist, dass man sie mag…«, widerspiegelt. Deutlich ungewöhnlicher erscheint der Gebrauch des Liebesbegriffes in der pädagogischen Beziehung zu erwachsenen Studierenden bzw. zu Lernenden in der Erwachsenenbildung. Hier von der »Liebe zu den Studierenden« oder von der »Liebe zu den lernenden Erwachsenen« zu sprechen, ist eher unüblich. Und dennoch stellt auch hier die Liebe – vor dem Hintergrund des im vorliegenden Beitrag diskutierten Denkansatzes – das Proprium pädagogischen Arbeitens dar. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die empirischen Ergebnisse meiner Langzeitstudie Ich werde am Du. Personzentrierung als wesentliche Komponente der Professionalisierung des Begleithandelns von Lehramtsstudierenden (Scheuenpflug, 2016) zu transformativen Bildungsprozessen, die Lehramtsstudierende im Kontext der Reflexion ihrer persönlichen pädagogischen Grundhaltung während ihrer Ausbildungszeit zur Lehrerin bzw. zum Lehrer durchlaufen haben. Die pädagogische Grundhaltung wird im Kontext dieser empirischen Studie als ein Konstrukt begriffen, das – eingebettet zwischen den Kategorien des Wissens, Könnens, Handelns und der Reflexion – auf den persönlichen Selbst-, Menschen- und Weltsichtweisen des Subjekts beruht. Sie ist als biographisch geprägte, individuelle Konstruktion des Subjekts zu betrachten, dessen verinnerlichte Bilder, Erfahrungs- und Wissensbestände den Ausgangspunkt seines pädagogischen Denkens und Handelns bilden. Auch wenn sich die pädagogische Grundhaltung als ein veränderungsresistentes – weil Halt und Orientierung gebendes – Konstrukt erweist, so bietet die Referenztheorie des Personzentrierten Ansatzes nach Carl Rogers bedeutsame Anhaltspunkte für die (selbst-)reflexive Vergegenwärtigung persönlicher Einstellungen und Haltungen und damit für mögliche Formen der Bearbeitungsweise subjektiver Denk- und Handlungsroutinen. Das maßgebliche Forschungsdesign zur Untersuchung jener Bildungsprozesse von Lehramtsstudierenden, in deren Zentrum die durch (Selbst-)Reflexion hervorgerufenen Veränderungsprozesse der pädagogischen Grundhaltung stehen, bildeten Einzelfallanalysen. So wurden vier Studierende des Lehramts für Primarpädagogik durch ihre gesamte Ausbildungszeit an der Pädagogischen Hochschule Tirol auf Basis des Personzentrierten Ansatzes von Carl Rogers forschend begleitet. Auf der Basis empirischer Interviewerhebungen wurden zu sieben verschiedenen Messzeitpunkten Daten erfasst und unter unterschiedlichen Perspektiven ausgewertet. In hermeneutischen Forschungsbewegungen wurden die Veränderungen der Selbst-, Menschen- und Weltbilder der Studierenden untersucht, die schließlich in die Generierung sogenannter einzelfalltypischer Bildungsgestalten mündeten. Darunter lassen sich jene Entwicklungsthemen subsumieren, die für die beforschten Studierenden (zumindest) während der Zeit ihres Lehramtsstudiums von zentraler Bedeutung waren. Die empirischen Ergebnisse zeigen auf, welche Lernwege die Studierenden im Laufe ihrer Ausbildung be- und durchschritten, welche persönlichen Einbrüche, Umbrüche und Auf brüche sie erlebten, welche Transformationen sich in ihren Selbst- und Weltsichtweisen vollzogen und welche Entfaltungsprozesse sich dabei ereigneten. Des Weiteren wurde in dieser Studie sowohl nach den personalen als auch den strukturellen Bedingungen der Lehrer/ innen/bildung gefragt, die eine Wandlung der Selbst- und Weltverhältnisse der Studierenden bewirken.

Die bildende (Wirk-)Kraf t der Liebe

In diesem Sinne gilt es nun, den Scheinwerfer auf diesen Bildungsschauplatz zu richten, um Einblicke in die bildende Wirkkraft einer personenzentrierten Begleitung von Lehramtsstudierenden zu gewähren. Dazu werden drei wesentlich erscheinende Aspekte aufgegriffen, die das enge Zusammenspiel von Bildung und Liebe in diesem Bildungskontext erhellen sollen.

4.1 Liebe als Erfahrung und Triebfeder Die Verortung des Personzentrierten Ansatzes in der Lehrer/innen/bildung, mit der der Fokus auf die Reflexion der pädagogischen Grundhaltung sowie des Lehrer/innenverhaltens gelegt wird, kann als Chance für die Verbesserung der Handlungsqualität zukünftiger Pädagoginnen und Pädagogen gedeutet werden. Die Implikationen, welche sich daraus für das Lernen und Lehren ergeben, stellen sowohl theoriebezogene als auch praxisleitende Elemente eines reflektierenden Lernens dar. Die damit verbundene Erweiterung der pädagogischen Handlungskompetenzen impliziert – mit den Worten Brandhofers (1989: 16) gesprochen – die Chance für viele Studierende, »sich zu erfahren und zu entwickeln – persönlich und fachlich – in einer Art und Weise, welche ihrer Individualität entspricht«. Somit liegen in einer personzentriert gestalteten schulpraktischen und allgemeinpädagogischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden vielfältige Möglichkeiten »der persönlichen Weiterentwicklung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer, die später – aufgrund der eigenen Weite – wahrscheinlich auch individuelle Lernwege ihrer Schülerinnen und Schüler begrüßen und fördern werden« (ebd.). Mit der Einnahme einer kongruenten Haltung durch die Mentorinnen und Mentoren, welche nach Rogers (2005: 92) »die Grundlage für das Zusammenleben in einem Klima der Glaubwürdigkeit« ist, sowie dem empathischen Verstehen, das für den Empfänger bedeutet, »daß jemand ihn schätzt, sich für ihn interessiert, die Person, die er ist, akzeptiert« (ebd.: 87), wird Selbstakzeptanz, Wandlung und Veränderung möglich. Damit kann ein Raum geschaffen werden, in dem die Studierenden Folgendes erfahren: »Ich stehe der Welt gegenüber, als ob ein Teil meiner Hauptverantwortung darin bestehen würde, mich um das kostbare Individuum zu kümmern, das ich selbst bin – das ich liebe« (ebd.). In diesem Sinne ist die in der Ausbildung erfahrene Haltung der pädagogischen Liebe und die damit einhergehende Selbsterfahrung der Studierenden jene Motivation – im Sinne von movere (lat.: [fort-]bewegen, antreiben, in Bewegung setzen) –, die Wandlung bewirkt. In Anbetracht der hier diskutierten Sichtweise von Bildung und Liebe wird nun auch deutlich, dass die Komponente »Zeit« eine zentrale Einflussgröße im Kontext von Bildungsprozessen darstellt. Dies spiegelt sich auch in den Forschungsergebnissen meiner Studie (Scheuenpflug, 2016) folgendermaßen wider: »Um biographische Erfahrungen durch Erinnerungsarbeit aus ihren subjektbezogenen Fixierungen zu lösen, um Selbstaufklärungsprozesse durch reflexive Vergegenwärtigung handlungsleitender Muster zu initiieren und um Entwicklungsprozesse durch die Gestaltung zukunftsoffener Lernerfahrungen zu ermöglichen, bedarf es Zeit. In diesem Sinne richtet sich die Zeit-Dimension sowohl an vergangenen, biographisch-determinierten Erlebnissen als auch an in der Gegenwart initiierten und in die Zukunft orientierten Prozessen aus. Die Kategorie der Zeit enthält damit die Ebenen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die Ebene der Vergangenheit bezieht sich auf die bereits gelebte Biographie mitsamt den

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Christine Scheuenpflug darin eingeschriebenen Erfahrungen innerhalb spezifischer struktureller Bedingungen, die Ebene der Gegenwart umfasst die subjektive Wahrnehmung aktueller Geschehnisse und die Ebene der Zukunft verweist auf biographisch bedingte Entwicklungsaufgaben.« (Ebd., Band II: 379)

Eine personzentrierte, an die spezifischen Entwicklungsrhythmen der Lernenden angepasste Begleitung von Bildungsprozessen ist somit immer auch flankiert von Aspekten wie Entschleunigung, Prozesshaftigkeit und Unvorhersehbarkeit. Den Lernbegleiterinnen und begleitern kommt dabei die Aufgabe zu, person- und professionsspezifische Entwicklungsthemen der Studierenden zu identifizieren. Dammer (2009: 47) spricht in diesem Kontext auch von der »Fruchtbarkeit des Umweges«. Für die Lehrer/innen/bildung bedeutet dies, das Augenmerk nicht vordergründig auf lineare Fortschritte der Studierenden zu richten, als vielmehr auf zirkuläre Entwicklungsprozesse, die auch Rückschritte und Umwege zur Erprobung eigener Denk- und Handlungsweisen beinhalten. Derartige Entwicklungsprozesse sind zukunftsoffen und geprägt durch Kontinuität und Diskontinuität, denn »Handeln sich bildender Menschen […] braucht Zeit, wenn es für einen Fortschritt nicht der technischen Mittel, sondern des humanen Zwecks fruchtbar werden soll, und diese Zeit lässt sich durch keine äußere Veranstaltung, geschweige denn durch Druck wirksam beschleunigen« (ebd.). Somit nimmt die Person der Mentorin bzw. des Mentors »einen bedeutsamen Einfluss auf die Gestaltung der Bildungsprozesse der Studierenden« (Scheuenpflug 2016, Band II: 370). Der aus der griechischen Mythologie stammende Begriff des Mentors wird in diesem Kontext als Synonym für einen Berater, Helfer oder gebildeten Menschen verwendet, der einen zumeist »jüngeren unerfahrenen Mentee während eines besonderen Lebensabschnittes« (Oettler, 2009: 14) begleitet. Damit ist Mentoring »ein personengebundener Lernprozess, der seine Stärke aus der Besonderheit und der Wechselseitigkeit einer persönlichen Beziehung bezieht« (Koch, 2001: 15, zit.n. Oettler, 2009: 14; kursiv im Orig.). In diesem Sinne wird durch die Erfahrung personzentrierter Begegnungen ein Raum für die persönlich-professionelle Entwicklung der Studierenden geöffnet, in dem es zum Dialog mit sich selbst und anderen kommt. Auf die positiven Auswirkungen des Personzentrierten Ansatzes nach Carl Rogers auf die Gestaltung eines hilfreichen, entwicklungsförderlichen Gesprächsklimas hinweisend, betonen Teml & Teml (2011: 64) im Kontext der Beratung von Unterrichtspraktikantinnen und -praktikanten Folgendes: »Die Bedeutung einer entspannten Lernatmosphäre wird heute durch zahlreiche Befunde aus der Gehirnforschung belegt. Jede Form von Angst oder Stress aktiviert Abwehr und lässt auf ›Überlebensstrategien‹ umschalten. Neues kann dann nicht gelernt oder in die Person integriert werden. In einer entspannten Atmosphäre fällt es hingegen leichter, Perspektiven zu wechseln, neue Antworthorizonte zu erschließen und eigenständige Neuinterpretationen vorzunehmen.«

Die »zweifache Haltung der achtsamen, personalen Präsenz« (ebd.: 65) im Personzentrierten Ansatz – die eine Zentrierung sowohl auf sich selbst und das eigene Erleben und Fühlen als auch auf sein Gegenüber und dessen Erleben und Fühlen bedeutet – setzt ein tiefes »Vertrauen in die konstruktiven Entwicklungspotentiale von Menschen« (ebd.) voraus. Somit kann »›Lernförderer‹ (facilitator) […] letztlich

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nur jemand sein, der dieses positive Menschenbild in seine Person integriert hat« (ebd.). Diese besondere, auf Wechselseitigkeit beruhende Beziehungsqualität lässt sich auch mit dem Begriff der pädagogischen Liebe fassen. Liebe kann in diesem Sinne als Kategorie verstanden werden, die Wandlung und Entwicklung bewirkt. Die Liebe wirkt – von sich aus – und ist flankiert von Merkmalen wie Prozesshaftigkeit und Zieloffenheit. Sie ist Erfahrung und Widerfahrnis, denn sie geschieht und ihre Wirkung ist unvorhersehbar und nicht kalkulierbar. Die Liebe wirkt ein und bildet, jedoch sind ihre Auswirkungen nicht linear auf sie zurückzuführen. Und dennoch bringt sie ihre spezifischen, unverwechselbaren Wirkmuster im sich bildenden Subjekt hervor.

4.2 Liebe als Verantwortetsein und Antwortgeben Die im Personzentrierten Ansatz von Carl Rogers beschriebene Grundhaltung der bedingungsfreien positiven Akzeptanz und Wertschätzung entspringt einer Einstellung, mit der den Lernenden mit einem tiefen Verständnis für ihre »Welten, aus denen ihre Gefühle, Bedürfnisse, Verhaltensweisen erwachsen« (Brandhofer, 1989: 75), begegnet wird. Sie ist nicht gleichzusetzen mit mangelnder Anteilnahme, mit »Gleichgültigkeit, passivem Gewährenlassen oder Einverständnis; im Gegenteil: diese Haltung ist Ausdruck von Anteilnahme, emotionaler Wärme und Sorge um den anderen Menschen, wobei die Differenz zwischen beiden, gerade ihr Anderssein, erhalten bleibt« (ebd.: 74). In diesem Sinne ist die solchermaßen verstandene pädagogische Liebe, die sich als ein Besorgtsein um die andere Person darstellt und ihren Ausdruck in der bedingungslosen Zuwendung zum Anderen findet, »eine Haltung, die bekanntlich Kreativität fördert – ein Klima, in dem neue Gedanken entstehen und fruchtbare Prozesse beginnen können« (Rogers, 2005: 93). Im formalen Bildungskontext der Lehrer/innen/bildung kann sich dieser Zusammenhang zwischen Bildung und Liebe folgendermaßen manifestieren: Die Lehramtsstudierenden befinden sich insbesondere zu Beginn ihrer Lehrtätigkeit in der Schulpraxis in einem Stadium des Zwischen: Sie verlassen die ihnen bislang vertraut gewesene Lernseitigkeit von Unterricht und beginnen auf der Lehrseitigkeit des Unterrichts Fuß zu fassen. Der von Michael Schratz (2009) geprägte Begriff »lernseits« betont in diesem Kontext »den pädagogischen Umgang mit den gelebten Erfahrungen von Lernen« (Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter, 2012: 25). Lern- und Lehrseitigkeit stehen in einem engen Verhältnis: »›Lernseits‹ setzt ein ›lehrseits‹ voraus, denn sie sind wie zwei Seiten einer Medaille. Werden durch das Wörtchen ›lernseits‹ die Scheinwerfer auf der Unterrichtsbühne auf das Lernen gerichtet, bleibt das Lehren im Schatten – und umgekehrt« (ebd.). Somit sind die angehenden Lehrerinnen und Lehrer von Beginn an, also bereits in der Phase ihrer ersten Lehrversuche, immer dazu angehalten, auch das Lernseits des Unterrichts im Blick zu bewahren, da es die Grundlage für ein taktvolles Lehren im Modus eines personzentrierten Lernens darstellt. In diesem Sinne bewegen sich die Lehramtsstudierenden zwischen der Lernseitigkeit und der Lehrseitigkeit des Unterrichts, zwischen dem lernseitigen Lehrseits und dem lehrseitigen Lernseits hin und her. Damit agieren sie in einem Zwischen von lehrenden Lernenden und lernenden Lehrenden, das immer auch mit Widerständen und Krisenerfahrungen einhergeht.

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Als Krise ist in diesem Kontext nach Oevermann (2008: 57) »das je Überraschende und Unerwartete zu verstehen, das sich aus der Zukunftsoffenheit des Ablaufs von Praxis und der damit verbundenen Ungewissheit« in Anbetracht der Widerständigkeit der Welt, der die Handelnden ausgesetzt sind, ableitet. Das in dieser positiven Konnotation des krisenhaft Erlebten und des als widerständig Erfahrenen enthaltene Neue kann als Kontrapunkt zu nicht mehr passenden und damit unstimmigen Einstellungen und Haltungen betrachtet werden und als Auslöser für die Veränderung bisheriger Selbst- und Weltsichten betrachtet werden. Somit sind mit dem Begriff der Krise auch mit Koller (2012: 71) »keineswegs immer dramatische oder gar katastrophische Entwicklungen gemeint, sondern lediglich solche Situationen oder Konstellationen, in denen die relative Stabilität eines etablierten Welt- und Selbstverhältnisses in Frage gestellt wird«. Bezogen auf die konkrete Situation der Lehramtsstudierenden bedeutet diese Definition Folgendes: In der Schulpraxis sehen sich die Studierenden immer wieder mit Handlungssituationen konfrontiert, in denen ihre vorhandenen Vorstellungen und Kategorien für die neuen Erfahrungen nicht mehr – da zumeist unreflektiert aus der eigenen Schulsozialisation übernommen – passend sind, neue Muster der Selbst- und Weltauslegung jedoch erst entwickelt werden müssen. Schrittesser (2004: 133) spricht in diesem Zusammenhang von einem Handlungstypus, der »innovationsorientiert auf die Brisanz der Praxis antwortet und – durch das in der Krise enthaltene Neue – eine Verunsicherung von Weltbildern und Geltungsansprüchen erzeugt«. Hiermit befinden sich Lehramtsstudierende in sogenannten Krisensituationen, in denen im Oevermann’schen Professionalisierungsverständnis die »ganz selbstverständlich geltenden Überzeugungen« (Oevermann, 1996: 101) einer grundsätzlichen Reflexion unterzogen werden müssen. An dieser Stelle, an der »das Lösen von Handlungsproblemen in noch unbestimmten, widersprüchlichen, risikoreichen Situationen zentral ist und Routinelösungen daher noch nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen« (Schrittesser, 2004: 132), ist jene Art professionellen Begleithandelns von Lehramtsstudierenden gefragt, welche jenseits vom Handlungsdruck der Praxis Raum für reflexive Formen der Krisenbewältigung und Bearbeitung von Entscheidungsmustern öffnet und Spielräume für die Erprobung alternativer Handlungsweisen zur Verfügung stellt. Die Beziehung zwischen den Professionellen und den Studierenden entwickelt sich dabei innerhalb jenes Arbeitsbündnisses, das Oevermann (1996) im Rahmen eines idealtypisch therapeutischen Beziehungsangebotes ansiedelt, auf dessen Basis ein offener Dialog über Selbst- und Weltbilder mit dem Ziel der Generierung neuer Sichtweisen ermöglicht wird. Da »die dazu erforderlichen Haltungen und Fähigkeiten allererst in einem pädagogischen Prozess zu erzeugen sind« (Helsper, 2011: 152), fungieren Praxisbegleiterinnen und -begleiter in ihrem professionellen Handeln immer auch als Kriseninitiatorinnen und -initiatoren: Sie sind darum bemüht, die biographisch geprägten Wissensbestände der Lehramtsstudierenden zu irritieren, um ihnen in positiv pädagogisch-anthropologisch gerahmten Bildungsprozessen aus der Doppelgestalt des Nichtwissens bzw. der noch nicht entfalteten pädagogisch-lebenspraktischen Autonomie und des Strebens nach Neuem und Transformation zur Entfaltung neuer Potentiale professionellen Handelns zu verhelfen. Dabei agieren nach Oevermann (2008) professionell Handelnde in einer spezifischen Handlungsgrammatik, die neben der routinierten Form der Krisenbewältigung auch »das Moment der Ungewissheit aufgrund der nicht verallgemeinerbaren

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Besonderheit jedes Einzelfalls, zugespitzt auf das Wissen um dessen Singularität und um die unüberbrückbare Differenz zum jeweils Anderen« (Schrittesser, 2011: 105) in sich trägt. Gleichzeitig werden hiermit auch routinierte Formen der stellvertretenden Krisenbewältigung bzw. Krisenbewältigungsinitiation aufgebrochen, wodurch – basierend auf dem rekonstruktiven Fallverstehen – auf Seiten der Mentorinnen und Mentoren nach neuen möglichen professionellen Handlungsweisen und -spielräumen Ausschau gehalten werden kann. Diese Möglichkeiten der »systematischen, das heißt nicht-zufälligen Erzeugung des Neuen durch Krisenbewältigung« (Oevermann, 1996: 81, Hervorhebung v. Verf.) stellen ein dynamisches Wechselspiel zwischen Verantwortetsein und Antwortgeben in gemeinsam durchlaufenen Bildungsprozessen dar. Im spezifischen Kontext der Lehrer/innen/bildung bedeutet dies: »Es bedarf personzentrierter, an den individuellen Entwicklungsaufgaben orientierter Lerngelegenheiten und -orte, die im Sinne von Reflexionsräumen zu selbsterhellender Erkenntnisbildung beitragen. Hierfür werden Mentorinnen und Mentoren benötigt, die den Aufbau dialogisch gestalteter Beziehungen, die Entwicklung von Reflexionsfähigkeit sowie die Initiierung individueller Bildungsprozesse ermöglichen. Entsprechende strukturelle Bedingungen können dazu beitragen, dass biographieorientierte Entwicklungen emergieren und sich nicht-linear planbare Bildungsprozesse vollziehen.« (Scheuenpflug, 2016, Band II: 388)

Auf der Basis der Verbalisierung persönlicher Selbst-, Menschen- und Weltbilder ist es nach Marotzki (1990) möglich, die hinter diesen Bildern liegende individuelle Sinnstruktur zu erschließen. Da mit Marotzki (1990: 142) jedoch davon auszugehen ist, dass sich das »jeweilige Subjekt […] seinen eigenen Entwurf nur bis zu einem gewissen Grade selbst durchsichtig machen [kann]«, bedarf es für die »Herausarbeitung des existentiellen Entwurfs […] – aus methodologischer Sicht – immer einer anderen Person als Ort des Verstehens« (ebd.). In diesem Sinne kommt den Praxisbegleiterinnen und -begleitern die Aufgabe zu, ebendiese biographisch geformten Selbst-, Menschen- und Weltbilder gemeinsam mit den Studierenden zu dechiffrieren. Aus biographietheoretischer Perspektive begreift Fuchs (2011: 255) in diesem Zusammenhang das lebensgeschichtliche Erzählen »als ›Interaktion‹ in den Dimensionen der Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt«. Das Nachdenken über Erfahrungen des eigenen Lebens wird hier »als ein Prozess allmählich wachsender biographischer Bewusstheit« (ebd.) angesehen, der keineswegs linear und konstant verläuft, sondern vielfältigen, sich verändernden Verlaufsformen unterworfen ist und – in Anlehnung an Marotzki (1990) – durch Krisen und Zufälle bzw. durch spontane Handlungen (vgl. u.a. Nohl, 2006) initiiert wird »oder aber auch in Form schleichender Entwicklung« (Fuchs, 2011: 255) geschieht. Wenngleich es in derartigen Gesprächen zu keinen Erzählungen der gesamten Lebensgeschichte kommt, so sind die darin enthaltenen erzählten Erlebnisse durchaus als biographische Erzählungen von Erfahrungen zu deuten, da sich in ihnen immer auch die im Laufe der Lebensgeschichte erworbenen Selbst-, Menschen- und Weltbilder widerspiegeln. So weisen nach Fuchs (2011: 255) selbstbezügliche Reflexionen stets über »jene Haltung, welche das Ich gegenüber sich selbst

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einnimmt«, hinaus. Damit »treten […] immer auch Fremd- und Weltverhältnisse hervor, die ebenfalls reflektiert, erinnert und präsentiert werden« (ebd.). Ziel ist es, das Verworrene, Verborgene und Unbewusste, das in den Erzählungen von als nicht zufriedenstellend erlebten Erfahrungen eingelagert ist, ins Bewusstsein zu heben, um es einer reflexiven Betrachtung zu unterziehen. Dieser Prozess kann als ein Lernraum betrachtet werden, den die Studierenden zusammen mit den Mentorinnen und Mentoren auf der Grundlage einer dialogischen Beziehung gestalten. Hierzu notieren Teml & Teml): »Anlässe für personbezogene Gespräche tauchen meist indirekt im Zusammenhang mit Schwierigkeiten in konkreten Praxissituationen auf. PraxisberaterInnen müssen gleichsam ein ›Gespür‹ dafür entwickeln, ob hinter ›vordergründigen‹ Aussagen persönlich bedeutsame Fragen stehen. Und sie müssen auch sensibel abwägen, ob es hilfreich ist, darauf näher einzugehen und die Selbstklärung von PraktikantInnen in die Praxisgespräche integrieren.« (Teml & Teml 2011: 120, Hervorhebung v. Verf.)

Dieses Gespür und diese Sensibilität, die nötig sind, um sich auf die Erzählungen seines Gegenübers einzulassen, mit ihnen mitzugehen und sie gemeinsam zu reflektieren, verweisen wieder auf den Aspekt der pädagogischen Liebe. Ein prinzipielles Verantwortetsein und die Bereitschaft, im Prozess der Krisenbewältigung den Lehramtsstudierenden bei der Suche nach Antworten zur Seite zu stehen, sind Teil der pädagogischen Grundhaltung – und die Voraussetzung dafür, dass sich die Lernenden in einer Atmosphäre der Wertschätzung und Empathie weiterentwickeln (wachsen) können.

4.3 Liebe als Haltung gegenüber dem Anderen und als Kategorie der Selbstreflexion Vor dem Hintergrund eines personzentrierten, pädagogischen Begriffes der Liebe ereignet sich Bildung stets in einem Dialog in zweifacher Hinsicht: in einem Dialog des Subjekts mit sich selbst und in einem Dialog des Subjekts mit anderen und der Welt. Innerhalb einer Beziehung, die von einer dialogischen Haltung getragen ist, können sich jene Bildungsprozesse vollziehen, die zu persönlichem Wachstum und zur Transformation individueller Sicht- und Denkweisen führen. Anders ausgedrückt: Transformatorisches Lernen vollzieht sich in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen Personen – zu Menschen, die unsere Erfahrungen prägen, Menschen, von, mit und an denen das einzelne Individuum innerhalb seiner sozialen Umgebung lernt. So weisen Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter (2012), rekurrierend auf Meyer-Drawes (2008) Diskurse des Lernens, darauf hin, »dass Lernen sich nicht selbst ermöglichen kann, sondern sich in der Verstrickung zwischen Lehrenden und Lernenden entfacht« (Schratz et al., 2012: 22). Hiermit wird ein pädagogisches Grundprinzip zentral gerückt, das besagt, dass »zur Annäherung an bildende Erfahrungen nur die Möglichkeit einer dialogischen Begegnung zwischen ›Ich‹ und ›Du‹ (Buber, 1923)« (Schratz et al., 2012: 27) bleibt. Nach Martin Buber stellt die Ich-Du-Beziehung jene besondere Welt dar, in der allein sich »wirkliches Leben« (Buber, 2009 [1923]: 15) ereignet. Diese Welt, die von Buber als das Zwischenmenschliche bezeichnet wird, ist lediglich den Beteiligten selbst zugänglich (vgl. Schmid, 2001: 71). Diese Welt des Zwischenmenschlichen, in dem

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die Liebe ihre konkrete Gestalt annimmt, erläutert Schmid im Kontext seiner Ausführungen zur personzentrierten Beziehungstheorie folgendermaßen: »In dieser Welt entfaltet sich, Buber zufolge, Begegnung im Dialog. Der echte Dialog ist ein Austausch, der auf Gegenseitigkeit zielt. Er geht von der existenziellen Mitte der Person aus, ist ›verstehende Konfrontation‹. In ihm geht es nicht um Informationsvermittlung, sondern um Teilnahme am Sein des Anderen. In der dialogischen Spannung von Ganz-auf-den-Anderen-Bezogensein (Solidarität) und Ganz-selbst-Sein (Autonomie) entsteht Selbstbewusstsein und geschieht Selbstverwirklichung – dialektisch als Verwirklichung der Möglichkeiten in der jeweiligen Beziehung.« (Schmid, 2001: 71, Hervorhebung v. Verf.)

Eine Haltung der Liebe, d.h. eine liebende Haltung einzunehmen, meint übertragen auf den Bildungsschauplatz der Lehrer/innen/bildung auch, die Richtungen, Rhythmen und Grenzen der Studierenden zu respektieren und diese als »terra incognita« (Rosenberg, 2005: 74) zu betrachten. Dies schließt mit ein, »dieser anderen Person den Prozeß des Fähigwerdens zur Selbststeuerung zu überlassen« (ebd.). So wird mit zunehmender Fähigkeit zur Selbstreflexion auch der Zugang zu jenen persönlichen Ressourcen geöffnet, welche auch die Entfaltung anderer begünstigen (vgl. ebd.). Pädagogisches Handeln ist »überall dort gefragt, wo Hilfen für Menschen bereitgestellt werden, deren Lebenssituation sich verändert« (Callo, 2002: V). Die dafür erforderlichen Fähigkeiten und Haltungen zur »Förderung individueller und gesellschaftlicher Ressourcen« (ebd.) beschreibt Callo in folgender Weise: »Ihr kognitives, instrumentelles und emotionales Können sowie ihre ethische Haltung bestehen darin, Lern-, Veränderungs- und Entfaltungsangebote für Menschen zu konzipieren und umzusetzen. Bei allen Realisierungen jedoch ist die pädagogische Verantwortung das Hauptprogramm, vor allem wenn es darum geht, Menschen zum eigenen und zum sozialen Wohl anderer in der richtigen Weise zu beeinflussen, wenn es notwendig ist, ihnen Lernangebote zu geben, die sie zu autonomem Mut und kritischer Distanz führen und zur Entdeckung eigener Ressourcen.« (Ebd., Hervorhebung v. Verf.)

Erziehung ist demnach – wie alles menschliche Tun – auf ethisch verantwortetes Handeln hin orientiert und auf dieses Verantwortet-Sein hin zu befragen. Nach Callo (ebd.) stellt die Praxis der Erziehung eine anteilnehmende und kritisch reflektierte Antwort »auf die Herausforderungen wechselnder Lebenswelten und Lebenslagen von Lernenden und durch Lernprozesse sich entwickelnden Menschen« dar. Die erzieherische Beeinflussung kann somit als »Enkulturations-, Emanzipations- und Identitätshilfe« (ebd.: VI) bezeichnet werden. In diesem Sinne markieren die »Anpassung an die Gesellschaft, die Befreiung von der Gesellschaft und die Entfaltung des Ichs […] die großen Denk- und Handlungspfade der Erziehung« (ebd.: V). Für den Entfaltungsprozess des Menschen im Lebenslauf meint dies Folgendes: »Die Möglichkeiten, in die Welt optimal hineinzuwachsen, um Fähigkeiten zu erlangen, gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, sind zunächst mit Anpassung verbunden. Denn sie bietet Orientierung und Sicherheit. Die Chancen, sich vom Druck der Anpassung zu befreien, eröffnen demgegenüber Freiräume zur Selbstbestimmung. Sie zeigen die Verände-

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Christine Scheuenpflug rungsperspektiven auf. Dazwischen steht die Entwicklungskraft des Individuums, die den natürlichen Weg zur Stabilität bereitet. Auf diese Weise sind alle drei Bereiche elementare Gegenstände jedweder pädagogischen Konzeption.« (Ebd.: VI)

Die Freiräume der Selbstbestimmung, die zwischen struktureller Anpassung und struktureller Selbstbefreiung liegen, können als jene Orte für Kreativität betrachtet werden, an denen Selbstreflexivität ihre subjektspezifische Bedeutung gewinnt: »Nicht nur dort, wo Themen wie lebenslanges Lernen, Chancengleichheit, Autonomie und kritische Distanz relevant sind, sondern vor allem auch dort, wo die liebevolle Zuwendung die emotionale Stabilität fördern soll, um eine sinnerfüllte und glückliche Lebensgestaltung praktizieren zu können, sind Bildung, Mündigkeit und Person die Schlagworte des pädagogischen Auftrags. […] Orientierung durch Bildung, Selbstverwirklichung durch Autonomie sowie Stabilität durch Selbstwerterfahrung markieren die entsprechenden programmatischen Wege.« (Ebd.: V, Hervorhebung v. Verf.)

Um diesen Ansprüchen und den damit verbundenen pädagogischen Zielsetzungen gerecht werden zu können, bedarf es der steten reflexiven Vergegenwärtigung des eigenen pädagogischen Handelns sowie der damit verbundenen Haltung. Mit Hierdeis kann die pädagogische Beziehungsgestaltung, die er als die Kernaufgabe pädagogischen Handelns bezeichnet, nur dann sinnvoll erfolgen, »wenn bei der Erfüllung der pädagogischen Aufgabe das Eigene im Blick bleibt«. In diesem Sinne steht der »Blick ins Selbst des Anderen und der Blick ins eigene Selbst […] für die Haltung des Pädagogen« (Hierdeis, 2009: o. S.). Demzufolge stellt die Fähigkeit zur Selbstreflexion ein bedeutsames Element pädagogischer Professionalität dar: »In der ›Selbstreflexion‹ richte ich, um die Analogie zum physikalischen Reflexionsvorgang zu bemühen, das Licht meiner Vernunft auf mich selbst und erhalte in der Rückspiegelung Informationen über mich. Ich stelle fest: da gibt es mich und das Andere (Menschen, Objekte, Kultur, ›Welt‹); da gibt es mich in einer Vielfalt an Beobachtenden, Wahrnehmenden, Denkenden, Erinnernden, Wollenden, Fühlenden, Lust und Schmerz Empfindenden, Bedürftigen, Lernenden, Handelnden, Phantasierenden; da gibt es mich als Geschlecht, als Körper im Raum; da gibt es mich in der Zeit: mit einer Vergangenheit, mit einer Fiktion einer Gegenwart, mit der Vision einer Zukunft; da gibt es mich als einen, der Zusammenhänge sucht und Erfahrungen ordnet; als einen, der inneren Aufträgen folgt, ohne zu wissen warum; der sich Normen von außen unterwirft, um sein soziales Leben [zu] sichern; es gibt mich als Abhängigen von Natur und Gesellschaft mit dem Bedürfnis nach Spielräumen; es gibt mich in der Spannung zwischen Bewusstem und Unbewusstem usw. Die Philosophie würde diesen Prozess der Zusammenstellung von Facetten eine reflexive Selbstvergegenwärtigung der Person nennen.« (Ebd.: o. S.)

Da praktische Pädagogik zunächst Beziehung und dann erst Handlung ist, sind unter der psychoanalytisch geprägten erziehungswissenschaftlichen Perspektive von Hierdeis »pädagogische Beziehungen, in denen es um die Befähigung zur Selbstbildung geht[,] […] nur fruchtbar, wenn der Pädagoge […] mit dem Blick auf den Anderen sich selbst im Blick behält, im Wissen darüber, dass beide Beziehungspartner ihre ›Dunkelstellen‹ haben« (Hierdeis, 2009: o. S.). In den Kontext der Lehrer/innen/bildung gestellt bedeutet dies, dass das professionelle hochschul-

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didaktisch-pädagogische Handeln der Lehrer/innen/bildnerinnen und -bildner auf der Basis ebendieser Fähigkeiten zu erfolgen hat, wenn die Lehrer/innen/bildung die Bildung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer als Initiierung von Selbstbildung begreifen will. Damit wäre mit Hierdeis in weiterer Folge auch danach zu fragen, wie dieser »Ort beschaffen sein muss, an dem eine so geartete Professionalität entstehen kann« (Hierdeis, 2009: o. S.). Als ein Leitbild für diesen Ort wäre die Haltung der Liebe zu sehen, die eine Reflexionskategorie für das erzieherische Denken und Handeln der in der Lehrer/ innen/bildung Tätigen markiert. In dieser pädagogischen Grundhaltung zu sein bedeutet zweierlei: Zum einen muss Entwicklungshilfe für die Professionalisierung des pädagogischen Handelns geleistet werden und dieses in einem akademisch vermittelten Wissenskorpus verankert werden. Zum anderen muss sich die »hochschulische Lehrerbildung […] als pädagogischer Kontext verstehen, der eben nicht nur wissenschaftliches Vorgehen oder wissenschaftliche Ergebnisse vermittelt, sondern er muss auch ›die Menschen stärken‹« (Neuß, 2009: 375). Praxisbegleitende Personen, die in einem in dieser Weise verstandenen Mentoringprozess tätig sind, kommen nicht umhin, theoriebasierte Reflexionen der pädagogischen Grundhaltung der Studierenden – begriffen als Selbstaufklärung persönlicher pädagogischer Bilder – zu initiieren. Nachdem »in der Pädagogik ›richtiges‹ Verhalten weder direkt vermittelbar noch antrainiert werden kann – auch wenn uns als Beobachter eine Lösung naheliegend erscheinen mag« (Teml & Teml, 2011: 127), erweist es sich – damit Beratungsgespräche nicht ›vordergründig‹ und verhaltensunwirksam bleiben (vgl. ebd.) – als unumgänglich, »die hinter dem Verhalten stehenden persönlichen Anteile der PraktikantInnen« (ebd.) zu klären und »konstruktiv in das Selbst« (ebd.) zu integrieren. In diesem Sinne bedarf es der Professionalisierung einer reflexions- und entwicklungsfördernden Praxisbegleitung, die sich nach Teml & Teml (2011: 74) im Rahmen eines Reflexiven Praktikums an den persönlichen Entwicklungsthemen und Zielsetzungen der Studierenden orientiert. Den Praxisbegleiterinnen und -begleitern obliegt dabei die Aufgabe, individualisierte persönliche und sachliche »Entwicklungsimpulse« (ebd.) zu geben. Damit ist auch die Fähigkeit verbunden, individuell unterschiedliche Dispositionen, Motive, Potentiale und Ressourcen der einzelnen Studierenden zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist Neuß (2009: 375) davon überzeugt, dass »subjektnahes Studieren […] auch subjektnahe Formen des Unterrichtens in den Blick von angehenden Lehrern bringt und diese ermutigt, die biographische Dimension« im Lern- und Lehrgeschehen reflektierend mitzudenken. In diesem Kontext spricht Alheit (1995: 298) von dem biographischen Hintergrundwissen als einem Potential im Leben, das durch die Weichenstellungen realisierter Handlungsvollzüge mit jenen Handlungsmöglichkeiten, die damit ausgeschlossen wurden, angereichert wurde. Im Falle von »transitorischen Bildungsprozessen« (ebd.) kommt es über den Prozess der Reflexion zu einer Entzifferung der »›Sinnüberschüsse‹ unseres biographischen Wissens« (ebd.: 300), womit auch die Wahrnehmung der »Potentialität unseres ungelebten Lebens« (ebd.) verknüpft ist. Die Möglichkeit, »›anders zu handeln‹, also aktiv in den Handlungsfluss einzugreifen« (Paseka, Schratz & Schrittesser, 2011: 18), erwächst »aus dem Vermögen des Individuums […], reflexiv zu (re-)agieren. Dieses Vermögen ist dem Subjekt

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inhärent und entfaltet sich in der konkreten Handlung, in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Situation« (ebd.). Bildung meint unter dieser Perspektive, mit Koller (2012: 122) gesprochen, die »Entstehung des Neuen« im Sinne der »Entstehung neuer Arten und Weisen, sich zur Welt, zu anderen und zu sich selbst zu verhalten« (ebd.). Nach Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter (2012: 30) wiederum bilden die »gelebten Erfahrungen zwischen Lehrenden und Lernenden […] die Grundlage für bildende Erfahrungen«. Ein dermaßen verstandener Bildungsbegriff, in dem die dialogisch-pädagogische Beziehungsgestaltung zwischen Lernenden und Lehrenden als zentrales Element im Lernprozess angesehen wird, entzieht sich jenen Ansätzen, die einem didaktischen Denken der Trainierbarkeit des Lernens und Lehrens verhaftet sind. »Diese Beziehung ist für den pädagogischen Raum konstitutiv, indem Lehrende kontinuierlich über die Lernenden und sich selbst lernen, um ihren pädagogischen Auftrag erfüllen zu können. Lehren ist genauso eine Erfahrung, in der die Lehrperson von der (Unterrichts-)Welt in Anspruch genommen wird, darauf respondiert und wirkmächtig wird. Die Wirkmächtigkeit des Lehrerseins und -handelns vollzieht sich erst in den Deutungen und Strebungen der Lehrperson in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, dem Lern-Lehr-Prozess und sich selbst. Unterricht ist somit der Ort, an dem sich das Lernen der Lehrenden und Lernenden in wechselseitigem Bezug abspielt.« (Ebd.: 28f)

Das Lernen und damit auch die Wirkmächtigkeit des Lehrens in den Blick zu nehmen, meint, sich seiner Wirkungen – also seiner Einwirkungen und Auswirkungen – als Lehrende bzw. Lehrender auf die Lernenden bewusst zu werden. Dies bedeutet, sich selbst wahrzunehmen, sein eigenes Denken und Tun zu reflektieren und sein Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt immer wieder neu zu bestimmen. Die Kompetenz, so gestaltete Reflexionsprozesse bei Lehramtsstudierenden zu initiieren, schließt demnach auch bei den Mentorinnen und Mentoren die Fähigkeit zur Selbstreflexion mit ein.

5. R esümee Im Lichte des hier diskutierten Bildungs- und Liebesbegriffes versteht sich pädagogisches Wirken niemals bloß als distanziert-professionelle Ausübung eines formalen Bildungsauftrages, sondern zuallererst als situativ-personales Verantwortetsein gegenüber den Sich-Bildenden. Die bildende Wirkkraft der Liebe lässt sich nicht auf die in diesem Beitrag vorgestellten Facetten reduzieren. Die Liebe übersteigt jegliches wissenschaftliche Sprechen und methodische Analysieren und durchdringt die Bildungswirklichkeit, ohne sich Utilitäts- und Normierungsansprüchen zu beugen oder sich in voneinander isolierte Teilaspekte herunterbrechen zu lassen. Die durch diesen Beitrag produzierten Sinn- und Bedeutungsüberschüsse und die im Prozess des Lesens ausgelösten Denkbewegungen können schließlich zu einem umfassenderen Verständnis des wirkmächtigen Zusammenspiels von Bildung und Liebe führen. Die dabei zutage tretenden Gedanken- und Erfahrungswelten werden somit in ihrer Wirkkraft letztendlich der Responsivität der Lesenden dieses Beitrages überlassen. Dass sich das Zusammenwirken von Liebe und

Die bildende (Wirk-)Kraf t der Liebe

Bildung letztendlich jeglichen wissenschaftlichen Erklärungsversuchen versagt, wurde mehrfach betont. Wer wissen will, »was es ist«, muss sich ihm schließlich selbst überantworten.

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Die bildende (Wirk-)Kraf t der Liebe

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We are often taught that philosophy is carried out through argument, analysis, distinctions, and objections seeking clarity and sense. In many ways, this philosophical approach is extended to thinking and study and the virtues of a good education. What is lost in this otherwise unobjectionable common sense is the power of the philosophical assertion. This power is not a rhetorical matter of style or presentation nor is it an empirical matter of stating the plain facts. The philosophical assertion operates from the authority of its primordial past, dwelling in the passion of song and story. Aristotle understood this well when he asserted that metaphysics begins in poesis. Ancient wisdom traditions recognize this in the priority of spiritual wind and breath and the orality of mythopoesis (story and song) before, and predeterminate of, the prosaic word. Philosophy today often neglects its muse, exchanging prose for poetry. Music, by contrast, has never stopped composing verses. Indeed, the common sense of philosophy’s technical and analytic relation to education exists today in sharp contrast to the enduring universal folklore of story and song.1 Sing to me first; maybe later we can talk. Even language must say goodbye to language, and in the philosophical assertion, we find a glimmer of the original harmony between philosophy and love. Philosophy is, we are told, love of wisdom. In this formulation, wisdom is not an object of analysis – it is a subject to be loved. After all, objects may hear sounds, but only a subject can listen to a song. Listen, then, dear reader. Open the eyes and ears of your heart so that your sight may hear what sings before and after so many arguments and disputations. I do not address you as a poet, but I seek to make my assertions as a philosopher who has not entirely abandoned the sacred muse. Melody is the only real authority here. The verse and line break will be our guide. In the song, we find clarity and sense capable of piercing and transcending the cloudy confusions of exactitude. These assertions must be tested upon the intelligence of your heart. I would like to assert that education is what Jean-Luc Marion has called a »saturated phenomenon« (cf. Marion, 2004). A phenomenon is an appearance. A saturated phenomenon appears in excess. This is the phenomenon that appears in ways that seem absent to the natural attitude. This absence, however, is not because of its 1 |  What I mean by folklore is not technical. When Louis Armstrong was asked what kind of music he played he called it »folk music, music for folks.« This is the kind of music Miles Davis later called »social music«. This is the music I hope to honour in this chapter.

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negative concealment but, instead, because of the saturated terms of its revelation. A total presence occludes and conceals, it hides and masks itself, and this hiddenness can seem to be an absence. But the distance of total presence is not because of its foreign externality but, rather, because of its intimate interiority. What is most radically hidden from us is not at the edge of the cosmos, expanding into nothing. No. What hides most deeply is always there, inside, surrounding all, in all. In this precise way, education is a saturated phenomenon. This is what I mean by the expression »the excess of education.« This is my first assertion. My assertion about the excessive appearance of education might seem to suggest that this phenomenological reduction of education must be cut off entirely from schooling. In some respects a categorical separation is necessary, but this should not close off school from education so much as open up the school to the overwhelming fullness of education that is always there to begin and end with. The phenomenological terms of education’s manifestation are not exclusive to the school, but they are also not abstract or hidden from it. In the school, as in any other place, there is something that guides us by the hand to the saturated phenomenon of education we are immersed in. This guide may seem to be love. But love is not enough. Love, in any and all of its forms, must be consummated in what Paulo Freire referred to as »praxis«. This is what is meant by the »praxis of love.« It is not enough to speak of love. The lover must ultimately love. It is also not enough to love; the lover must love again and again and again into infinity and oblivion. This praxical love is all-consuming. After all, love is born of loving. Loving begets love and from this birth philosophy and education take flight. The beloved is held by the lover’s loving, in the intentionality of that praxis of love, its active, specific insistence across and beyond time. The lover’s truest love is not the sign of their love; the only true love of the lover is their beloved. The sign of love can never point to love because the praxis of love requires no sign at all. Loving points to itself without intermediary signals. The beloved is not a site of a deposit of love. The beloved is what becomes of loving. In being loved, we are; we become in and through the praxis of love. Loving shows itself from itself, but it also exceeds itself in and through the beloved. The praxis of love through the loving that exceeds the sign of love, then, is the restless demand that loving makes upon the lover. The lover is called to loving, not simple love. The praxis of love demands repetition, but not through a primary notion of love. Loving alone can sing the radical refrain of the belovedness of the lover to the beloved. The praxis of love destroys the epistemological sign of love, leaving behind the demanding ontological call: the vocation to the praxis of love rings and resounds in its wake. This demanding call reveals a practical notion of love that is fundamentally erotic, as opposed to being a decorative erotic option among competing decorations of love (cf. Rocha & Burton, 2016; Rocha & Burton, 2017). The primordial dynamism and activity of eros powers the engine of the praxis of love. The erotic nature of the praxis of love points towards its constant need for incarnation and consummation, a need that demands the flesh and touch of the beloved, a need that arises from the fragility of loving that constitutes its universality. Whether there is ever actual flesh or touch is not as crucial here as its demand, its insistence from without, its fundamental poverty. The beloved is not won or conquered; the beloved is simply the praxis of love made flesh. In this way the beloved and the lover are not separated through action and reaction, impulse and response. Instead, the lover and the be-

The E xcess of Education, the Praxis of Love

loved are the unified pulse of life that verifies the praxis of love as real and present. This secondary notion of the praxis of love is a negation of the many well-known concepts of love and even of its conceptual apparatus that is bound by symbolic sign, time, and circumstance. The praxis of love is also the ultimate test of eros: it takes us from abstract desire to the desire for Desire itself, its longing to be flesh and bone, fiber and liquids, ashes and dust and soil. The praxis of love is the test of life and death that eros must never fail. After elaborating these two assertions, the first on the excess of education and the second on the praxis of love, I will further assert that they are related and even co-dependant. In other words, in what follows I will attempt to show how the excess of education conceals the praxis of love and how the praxis of love reveals the excess of education. Education is an excessive phenomenon. Whatever education might be under its many names in many languages, its many practices throughout many epochs and amongst countless peoples, its many concepts, senses, and notions in texts, teachings, and traditions, amidst all of these things the only stable mark of education is its overflow. The hints and guesses we find in the ways we speak about education all point to a common saturation. Unlike schooling, which can easily be confined to the broad work of schools of thought and the narrower institutions we call schools, education has a vast character that exceeds its many containers. It is not only a matter at scale. But the enormity of the scale of education carries a glimpse of insight: the appearance of education occurs in a way that is itself excessive and reveals itself as a saturated phenomenon within consciousness, time, space, death, and life. Like all things of this scale, there is a simple complexity that cannot be replaced by complicated oversimplifications. The only point we can recognize is that we are awash in it; we do not observe education from afar, we observe it from within, and we find ourselves within it. Where we find a total ubiquity like this, there we find a saturated phenomenon. In other cases of an inflated, cosmic scale we tend to lose all sense of specificity. In the case of the excess of education, even these words fail and risk too much specificity. Education exceeds generalization. Analogical examples, however loosely they attach themselves to the enormous thing that education is, amplify this reality. Try to confine education to psychology, and we quickly see that psychological theories and facts of the mind cannot entirely contain it without inventing an altogether new, and newly limited, idea of education. Notions of mind, brain, and other neurological and cognitive images beg their own assumptions and allow education to escape their popular grasp. Try to confine education to learning and human development, and we quickly see where education again escapes or bursts the mold. Try to restrict education to the political and soon these politics wear thin and tear at their seams. Try to limit education to epistemology, language, knowledge, or ethics – or any of the other well-known strategies of contemporary philosophical analysis – and while each will surely provide a unique and useful understanding of some portion of education, none of them can contain the whole. Try to restrict education to its linguistic family resemblances in teaching, curriculum, and other verbal cousins, and we quickly lose the associative significance and meaning we started with. A single serving cannot represent the banquet to the hungry stomach. A drawn and quartered sense of education will inevitably result in a person who is starved by their limited sense of education. Imagine a person who mistakes the moon with the cosmos. Imagine the person who mistakes

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a slight discomfort with real suffering. Imagine the person starving from plentiful malnourishment. Education exists outside even the broadest categories of human life and endures through every historical and prehistorical age, epoch, and era. Again, the first and last educational thing that seems clear is the overwhelming timelessness of education. Education as a phenomenon, as an appearance in the realm of human consciousness, cannot be shackled to a chronology. Even those who deny these claims cannot wholly deny them without appealing to what is beyond them. Objections to the whole are not so much wrong as they are partial, lacking the durability to be right in every season. The appearance of education can only be described in a way that points to the absurdity of the phenomenological task. One who tries to take a drink from a firehose or attempts to light a match from an exploding bomb would need to develop special means to accomplish these absurd tasks. In the same way, a traditional phenomenology cannot be accomplished for an excessive phenomenon like education. Education saturates our ability to grasp it directly and even indirectly. We cannot observe education as we would a rabbit frozen in position in a still thicket; we cannot find education through cunning or stealth; we cannot form a static picture of education in our mind without losing it in the process. This requires the phenomenological resources that have pushed its method from an idolatrous to an iconic reduction (cf. Rocha, 2015). Education requires movement. Education’s movement is the dance of its excess, it pierces through our experience of it and even transcends the reality that forms the basis of our dying ideas of lived experience. Time cannot measure education in units or credits nor can space place it into a particular geography or room. To try and imagine the reality of education is a feat. Like all vast realities, like all excessive things, education demands more than a set of faculties or instruments. The real calls out to us. The eternal song continues. How does one examine that which is the condition for the possibility of its own examination? »Physician heal thyself« is but another way to say »know thyself.« Here we find the inward interval of the monstrosity of education. It demonstrates itself by turning us inside out. Here we realize, perhaps, that education exceeds the very idea of education in the way that real pain does not hurt so much as it causes us to pass out. To accept the offering of education we cannot simply focus or look directly into the blinding sunlight. Perhaps we will need to fall asleep, to close our eyes in order to see with more clarity and feeling and vision. If you listen to the silence, it will roar. What does this series of assertions about education do aside from repeating itself? Perhaps it is serious and little more. Education demands a sense of seriousness about its excess. We do not walk through a puddle in the same way we dive into the deep sea. We do not hop down some steps in the same way we skydive or cliff jump. We do not say goodbye to the clerk at the store in the same way we bury our dead. Seriousness is the difference between a false and limited approach to education, an approach that denies its fundamental excess due to a fearful sense of confidence, and the truer one that concedes its poverty and yearns for an education that is beyond measure. If we are willing to take these assertions seriously – or, at the very least, if we are willing to take seriously the need for seriousness about education – then we

The E xcess of Education, the Praxis of Love

still may not agree out of hand with this limited and somewhat arbitrary account of the excess of education. After all, ›excess‹ and ›education‹ are words for things the words cannot and must not hold in full. When language satisfies, other appetites rightly distract and take hold. But when language fails and excuses itself from the table, we must move analogically, even allegorically, to another site of reality. Let us move then to the praxical site of love. There are many well-known distinctions about the many forms of love, but the only essential distinction is between love and loving. I am not truly in love if I do not dwell within it, if I am not living under the spell of loving. To be in love is to be loved by something that is loving me. To be held in an embrace is creepy and false if the one who holds me does not show signs of life. When I hold my beloved, I caress, I move, I breathe, I hold tight, I may even lift them off the ground. I remind them that this lover holding them is holding them and this act of holding them is a sign of loving them that must be renewed with movement. After the sign of loving is finished and exhausted, the praxis of love must be renewed not only in signs but most of all in the erotic poverty of loving from without. There is nothing abstract about the loving of being in love; the mark of this reality is not »love« so much as the lovingness of love. To be in love is to experience loving and to love it through loving. In the same way, to love someone is equally abstract and void without loving them. We can say or feel that we love, but the test of our love is at the time of loving and, most of all, at the time after loving when the beauty of the lover’s poverty is finally revealed and we are called to continue and persist loving. The world is not saved in this beauty nor does this loving conquer all. The praxis of love renews the face of the earth by removing the faceless idealism of love through the simple labor of loving. A labor like the woman who awakes early every morning, before the sun rises. She wets the floor with a hose to harden the dusty ground, then she sweeps it vigorously to a smooth surface, only to repeat the same task tomorrow and the next day. She has no floor inside or out. There is no hard surface that stands between her feet and the earth. She is forced to clear a surface for her standing and walking each day with the work of her aged hands. The hand guides the heart. The water from the hose is regulated by the thumb and fanned-out by the arm until the ground is saturated. Then the broom strokes and brushes the clay with short, quick bursts that fall into a rhythm. Her heart beats to the time of her hands at work. She hums a gentle song. The broom breathes across and spreads the water and clay in small spurts across the ground, evenly. The color darkens and the sun bakes it into a layered foundation. Over time the ground learns to become a floor with all the discipline and function of stone and concrete. Like the rich and expertly laid floors, this humble dirt is nothing natural or ordinary. Unlike the wooden or marble floor there is a simplicity and fundamental poverty that lays bare the real desire and need for a floor that is not a gardened landscape or a vain suburban lawn. In this way, she makes a home by loving. There are many houses that lack this sense of home, just as there are homeless people who live in it, who dwell in the praxis of love that their poverty affords them. The praxis of love is lived out in a radical way by those who make a home from the poverty that cannot afford to build a house. This reveals the excess of education in full operation in a pre-architectural way. The schoolhouse cannot contain education because a house is not a home and the home is not made by brick or mortar. The home is only made in the praxis of love, in the loving that is concealed by the

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excess of education. Where education appears in excess there we find a lover and a beloved that determine the transcendent portion of excess. Saturation is not the mere mode of a phenomenon. No. Saturation itself discloses that the reality of the appearance is offered in the loving that sings the primal song of being. The excess of education is only grasped in the fleeting weakness of the praxis of love. The praxis of love is our only guide towards realizing the absolute and total presence of the excess of education in our lives. There is nothing normative to say. There are no ethical lessons or practical implications. These are not the basic facts. There is no evidence to survey. There are no prescriptions or tips. There is only the philosophical assertion and its muse that sings on through the night into the heart that is willing to listen and, perhaps, to sing along. But there is something enormous at stake. At the very least there is a seriousness about the relation between this sense of education as a saturated phenomenon and the praxis of love that calls out to us. At most there is a question of our relation to the seriousness of the call of that relation and the suicidal risks that emerge from any and all substitutes for it. When I decided to study education as a master’s student, I did so mainly out of convenience and circumstance. I had no particular sense of purpose or reason. I did feel the need to study something for the larger purpose of something like getting an education or becoming educated. At the time, the degrees and credentials and opportunities seemed to be worthwhile. I was young and recently married. I wanted to make the people I love proud of me and, maybe, make something of myself. Education seemed to be the way to that end, but the study of education as a field or discipline was uninspired and routine. Halfway through my studies, a relative of mine – one of the most educationally and professionally distinguished people I knew – took his life. I travelled to the funeral and felt that I had somehow missed the point of education in any sense of the word. I felt cheated not only by the loss of a distant mentor and relative, but also by the ideal that their life meant to me. Gone was the redemption that education could bring. God was dead. In the aftermath of that event, as I contemplated taking my studies further towards a terminal degree in education, I realized that every notion of education I carried was a cheap substitute for the deeper desires of my heart. Losing these fake and plastic gods hurt and made me feel more exposed than ever, but I also became reckless. This recklessness led me to the power of the philosophical assertion, its music and its passion. I have nothing left of my foundations, my floor, my thick tiles of theory and practice that warmed my cold feet. All I have is the water hose and a straw broom, angled and worn from so many sweepings. Someday, I will be swept down to the very heart of the earth and there I will rejoin the eternal song.

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&-Epilog Peter Stöger »Wir essen vom Brot … aber leben vom Glanz«,

schreibt Hilde Domin, die ihren Namen als ein Danke von ihrem Fluchtort in der Dominikanischen Republik ableitete. Ist die Bildung nur das Brot und die Liebe der Glanz? Sind die beiden trennbar? Ist der Glanz der Liebe nicht jenes Etwas, das alles durchstrahlt, auch die Bildung, und ihr das Leben verleiht? Vielleicht kann man Domin, die durch Flucht vor den Nazis am Leben blieb, glauben, dass das Leben ihre Worte geeicht hat. Ist dieses Etwas nicht ein Durch-tönen, ein Per-Sonare? Bildung hat offenkundig mit »Per-Sönlichem« zu tun und die Liebe setzt dieser Dynamik »Glanzlichter« auf. Daneben stehen die Gefahren einer quasi scharnierten, depersonalisierten Bildung, einer durchkommerzialisierten Bildung »ganz ohne Glanz«. Wie lassen sich Wissensvermittlung, Lernen, Bewusstseinsbildung auf der einen Seite, Verbundenheit, Beziehung, Zugehören auf der anderen Seite in Verbindung setzen? Manche meinen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun, meinen, die beiden Seiten gehörten aseptisch getrennt. Sind aber nicht das InFluss-Sein, das Ausfalten von Innewohnendem, jene Schnittflächen, die beide Foren gleichermaßen berühren? Nach über fünfzig Jahren, damals am Beispiel »Programmierter Unterricht«, taucht sie am Beispiel von Didaktik-Roboterunterricht wieder auf, die Frage, ob die Liebe einen unterrichtlichen Faktor spielen solle, der über eine motivational-unterstützende Funktion des »Um-Zu« des »Fein-Habens« hinausgeht. (So als könnte Liebe nur zwecks Optimierung von Bildung tauglich sein dürfen und dosierbar zugelassen werden). Geradezu das alles leitende »Umzu«, das große Manipulationsregulativ hat Bildung takt-, kon-taktlos gemacht. Manches menschliche Maß ist ihr im Dienste der Maximierungsphilosophie verlorengegangen. Sie ist maß-los geworden. Eine Folge dieses steten »Um-Zu«. Aus dem Angemessensein (der Dignität sich, den Anvertrauten und dem Bildungsinhalt gegenüber) wurde Vermessensein. Der Fragebogen rund um Liebe und Bildung ist weit: Lässt sich Bildung von der Liebe entkoppeln? Lässt sich die Liebe von der Bildung entkoppeln? Kann soziales Lernen beispielsweise ohne Liebe Gestalt werden dürfen? Ist die Liebe Bildung »in Fülle«? Verträgt Bildung die Liebe in Fülle? Oder lenkt die Liebe ab? Wenn ja: Wovon? Und wohin ginge dann Bildung? Theodor Adorno schreibt in seinem 1962 erschienenen Aufsatz Philosophie und Lehrer, der in sein Sammelwerk Erziehung zur Mündigkeit aufgenommen wurde: »Fürchtete ich nicht das Missverständ-

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nis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe« (1971: 40). Damit korrespondierend steht das »&«, das Sie vom Cover kennen. Nicht ohne Zufall schreibt Martin Buber, dass das wichtigste Wort in »Ich und Du« das UND sei. »Der Mensch wird am Du zum Ich«. Dann wäre das »&« ein Und, das als ein Zwischen (eine Metaxis) interagiert. So berührte Bildung UND Liebe ein Zwischen-sein (ein Inter-esse). Sind es besagtes »UND« und besagtes »Zwischen«, daraus Dynamik und Vieltönigkeit von Bildung und Liebe rühren? Dem gilt das Zwischensein, gilt Interesse. Das »&« versinnbildlicht die existenzielle Verschränkung von Bildung und Liebe. In Zeiten der robot(er)haften Digitalisierung von Bildung und in Zeiten der drohenden Gefahr, dass der relationale Faktor der Bildung zugunsten der Automatisierung von Bildung verloren geht, bedarf es eines Innehaltens, einer Nachdenkpause. Ein besinnendes Nachdenken, ein schöpferisches Pausieren, eine LangeWeiligkeit wollen indes in die Akzelerierung des Bildungsalltages nicht so recht hineinpassen. Es gilt also die Bildung auf ihr innewohnendes Potential »Liebe«, zumindest auf eine solche gute Nachbarschaft hin zu befragen. Das heißt dann aber, nach dem Faktor Mensch zu fragen. Auch die Liebe kennt die Entfremdung. Sie gilt es ebenfalls auf Störvariablen hin zu untersuchen. Solche liegen oft in Verlieblichung, in caritativer (Bildungs-)Aggression und in allen Schattierungen von emotionalem Missbrauch. Liebe wird im Lichte der Missbrauchsdiskussionen von manchen besonders kritisch beäugt bzw. mit einem Tabu versehen. Aber es geht wohl auch darum, sich durch einen Missbrauch von Wörtern (wie Gott, Heimat, Liebe…, eine lange Liste käme dazu) diese Wörter nicht verunmöglichen zu lassen. Mit anderen Worten geht es wohl auch darum, die damit verbundenen Ideologien (das Wort Liebe zum Beispiel in das 19. Jahrhundert einsperren zu lassen) kenntlich zu machen und das Vokabel zum Wort hin zu befreien. Es geht nicht um die Beförderung von Ideologien sondern von Ideen. Es geht bei der Liebe um die Nüchternheit, die große Kehrseite von ein und derselben Medaille. Erst aus Nüchternheit heraus kann die Liebe wirksam werden, auch im Bildungsgeschehen. Sie erst bricht dem Fühlen, Denken und auch der Zärtlichkeit die Bahn. An so manchen Schnittflächen ist auch das berührt, was mit Weisheit umschreibbar ist. Verträgt die Bildung Wissen? Jeder, jede wird dies bejahen. Ist Wissen immer bildungsverträglich? Hier wird die Antwort vielleicht schwieriger. Verträgt die Bildung Weisheit? Und ist Weisheit Liebe? Oder ist Liebe in sich weise? Auf alle Fälle scheinen Bildung und Liebe sich für einen Nützlichkeitswettbewerb wenig zu eignen, wenngleich Effizienzrankings im Bildungsbereich doch nicht unbekannt sind. An solche Fragen rührt das Buch an, manchmal zaghaft, aber dennoch. Auf alle Fälle ist markiert, wohin sich ein Diskurs, auch im Lichte der von der neueren Physik angeregten Entropiediskussion, weiter entwickeln könnte. Es geht nicht zuletzt, im Sinne Paulo Freires, um die Befreiung von Begriffen hin zu Mutationen an Einsicht und Bewusstwerdung. Was wir in solchen Zusammenhängen in den Humanwissenschaften ganz generell beobachten, ist die Überängstlichkeit beim Gebrauch sogenannter »weicher Begriffe« aus der Angst heraus, dadurch unwissenschaftlich, »nackt«, dazustehen. Um die Wissenschaftlichkeit unter Beweis zu stellen, wurden und werden sie vielerorts als anstößig geradezu verpönt. Was nicht operationalisierbar ist und empirisch nicht in Beweis-

&-Epilog

führung gebracht werden kann, verbleibt für manche obsolet. So bleibt das weite Terrain der Bildungswissenschaften mechanizistisch und auffallend pragmatisch, bis hin zur (mitunter reich dekorierten und mit Fun garnierten) Sterilität. Die hier gesammelten Aufsätze spiegeln in Spruch und Widerspruch diese Dynamiken von Bildung & Liebe, weisen auch auf flirrende, phosphoreszierende, mitunter durchaus missbräuchliche Verwendungen beider Begriffe. Mit dem Buch in Ihren Händen ist der Versuch erbracht, bei aller Berücksichtigung der sich selbstverständlich ergebenden (und durchaus fruchtbaren) Spannungsverhältnisse, die beiden Begriffe sorgsam zu sichten, zu schichten und in neue inter- und intrarelationale Dimensionen zu bringen. Daraus entsteht ein Vielklang. In diesem Vielklang gibt es auch Dissonanzen. Die Einmündung all der Töne hin zu einem Schlussakkord, mag ein Orgelspiel, nicht aber ein Nachwort leisten. Was ist es, das die Sehnsucht in das Leben buchstabiert? Die Liebe? Ob dieses ABC-Aufsagen, ein Bildungsvorgang oder gar ein Bildungsauftrag ist? Und was hieße da Erfolg? Muss Bildung erfolgreich sein? Gibt es erfolgreiche Liebe? Was wäre deren Sinn? Gibt es eine erfolglose? Aber, warum danach fragen? Je werdend sind beide, Liebe wie Bildung, so fraktal persönliche, soziale bzw. institutionelle Rahmenbedingungen sein mögen. Mag sein, dass Bildung in eine Bildungsdatenbank zu bringen ist. Wäre das nun vollinhaltlich? Aber die Liebe? Und wohin mit den Hoffnungen und Nöten von Lehrer/innen wie Schüler/innen, inneren wie äußeren? Stehen solche außerhalb von Bildung? Manche religiösen Traditionen meinen die Liebe wäre gleichsam in uns eingesenkt. Mancher Alltag im Kleinen wie im Großen deutet auf Gegenteiliges. Es bleibt die Kernfrage: Darf die Bildung Liebe umfassen? Manche tun sich wie gesagt nicht leicht damit. Interessanterweise sind es kaum Physiker, oft aber Humanwissenschaftler. Zuviel ist im Namen der Bildung und im Namen der Liebe passiert, besagte caritative Aggression und Bildungsconquista gleichermaßen. Ich erinnere mich an ein Wandbild in Mexiko, das einen pädagogischen Missionar mit blutverschmierter ABC-Rolle zeigt. Aber auch von der Tarnung von Missbrauchsstrukturen als Liebe wissen wir. Eine Bildung als Wissensrüstungsindustrie darf suspekt erscheinen. Genauso wie Bildung als Recycling- oder Kompostierungsunternehmen. Es überrascht nicht, wenn sich Lehrer/innen nur mehr als Manager/innen ihres eigenen Pfandhauses vorkommen, oder als Mietlinge in einer mitunter durchaus freundlich angestrichenen Bildungs-Fabrikationshalle, für die die Liebe betriebsfremd ist. Ist dieses Bildungshaus nur Stätte für den künftigen homo consumens? Con-sumus statt consumens, müsste es lauten. »Wir sind – gemeinsam« und nicht bloß Konsumenten. Liebe wie Bildung sind indes nicht an Kippvarianten und Zerrbildern zu messen. Es gälte wohl auch aus dem Lieblingsmodus mancher Erziehungswissenschaftler/innen »Das Problem haben wir, dann wird sich der Inhalt schon finden lassen« auszubrechen. Bildung und Liebe stehen, bei allen unübersehbaren Klippen hin zum Scheitern, hin zu Versuchungen der Macht (zur Kapitalisierung von Gefühlen, zum Missbrauch von Bildung als Deponie bzw. als Förderband zur Konsumreife), für Werte, für Werte, die sich in ihrer Verschränkung zeigen dürfen. Auch dann, wenn Liebe manchmal »bloß« als Konstruktion oder als kaschierte Gewalttätigkeit taxiert wird. In diesem Verschränken sind Liebe und Bildung im Kern zeitgeist- und moden-unabhängig.

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Die Liebe ist unfassbar, sie ist wie ein Etwas, das zeit- und raumlos in Raum und Zeit fiel, das Sommersprossen, Sternenblinzeln, Wellenschlag und Flügelschlag, Infrarot und Obertöne und eben auch Menschen verbindet. Aber auch die Bildung ist letztlich unfassbar (zum Beispiel in Astrophysik, in den Universen des Wissens um die Seele). Beide nicht fassbar. Sie dürfen aber »zugleich« in den Kinderfragen »Warum ist der Mond rund?«, »Warum ist das Wasser durchsichtig?«, »Tut die Oma dort oben auch Äpfel schälen?« in einem »Etwas« bestehen.

Autorinnen und Autoren

Agostini, Evi, Univ.-Ass. Mag. PhD, ist Universitätsassistentin an der Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck. Veröffentlichungen sind u.a.: Lernen im Spannungsfeld von Finden und Erfinden. Zur schöpferischen Genese von Sinn im Vollzug der Erfahrung, Paderborn 2016; Lernseits denken – erfolgreich unterrichten. Personalisiertes Lehren und Lernen in der Schule, Hamburg 2018. In ihren wissenschaftlichen Projekten konzentriert(e) sie sich auf die (Phänomenologische) Lern- und Lehrforschung, Ästhetische Bildungsforschung, Ethik und Epistemologie sowie auf die Tabuforschung und war u.a. Gastwissenschaftlerin am Beit Berl College und der Hebrew University in Israel. Brenn, Hubert, Prof. Dr. phil., ist Emeritus der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Edith Stein und forscht und publiziert zu Fragen der Bildung für pädagogische Berufe (Lehrer/innen/bildung) und Berufsidentität, der Schulentwicklung, Schulqualität und Schüler/innen/befindlichkeit. Veröffentlichungen sind u.a.: Zur Plurizität von Deutsch als Muttersprache und ihre Auswirkungen auf die sprachlichen Gegebenheiten in Österreich, Drohobytsch 2017; Humanisierung der Schule durch Schulentwicklung (?) – Beispiel Neue Mittelschule, Drohobytsch 2016. Ernst, Hans, PD Dr. phil., ist Privatdozent und wissenschaftlicher Beamter am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Universität Bamberg. Zu seinen kürzlich erschienenen Publikationen gehört u.a.: Studien zur transzendental-phänomenologischen Pädagogik und Wertlehre: Phänomenologisch fundierte Pädagogik im Spiegel der philosophischen Hauptschriften des Karol Wojtyla, Bamberg 2017. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Auseinandersetzung mit der transzendentalphänomenologischen Pädagogik, die Werterziehung, die humanistische Psychologie und Didaktik und der Begriff des Lehrerethos. Getzberger, Daniel, StR, studierte an der Universität Konstanz Philosophie, Politikwissenschaften und Geschichte und schloss diese 2013 mit der Wissenschaftlichen Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien ab. Seit 2017 ist er Lehrer für Philosophie/Ethik und Gemeinschaftskunde am Gymnasium Trossingen. Im Rahmen seiner zweiten Staatsprüfung für die Lauf bahn des höheren Schuldienstes beschäftigte er sich mit der Didaktik eines verantwortungsvollen und reflektierenden Zugangs zu sich wandelnden Partnerschafts- und Beziehungsformen bei heranwachsenden Jugendlichen.

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Bildung und Liebe

Graf, Peter, Univ.-Prof. i.R. Dr. phil. habil., ist Emeritus für Interkulturelle Pädagogik an der Universität Osnabrück und Gründungsmitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Aktuelle Veröffentlichungen sind u.a.: (gem. mit A. Fernández-Castillo) Schüler auf dem Weg nach Europa. Interkulturelle Bildung und Mehrsprachigkeit in der Schule, Bad Heilbrunn 2011; Religiöse Bildung als Weg. Selbstfindung in einer Welt der kulturellen Vielfalt, Frankfurt a.M. 2016. Seine Arbeitsschwerpunkte sind frühe Zweisprachigkeit und natürlicher Spracherwerb sowie Interreligiöser Dialog. 2008 erfolgte durch ihn die Konzeption des Lehrfachs »Islamische Religionspädagogik« an der Universität Osnabrück. Fischer, Veronika, MA, studierte Philosophie und Deutsche Literatur in Konstanz. An der Humboldt Universität zu Berlin absolvierte sie den Masterstudiengang Philosophie. Ihre Abschlussthesis trägt den Titel »Ist Liebe erlernbar?« und ist Grundlage für ihre aktuelle Promotion zur Semantik der Liebe an der Universität Münster. Kürzlich erschien ihr Kinderbuch: Rudi Rakete und das Haus am Fluss. Mit zwanzig Geschichten und eigenen Illustrationen, Konstanz 2017. Kastl, Gregor, Dr. med. univ., ist Facharzt für Augenheilkunde an der Augenklinik Herzog Carl Theodor in München. Zu seinen kürzlich erschienenen Veröffentlichungen zählt u.a.: (gem. mit N. M. Köffler) Operative Erfahrung und Ausbildungszufriedenheit von Assistenzärzten in der Augenheilkunde in Bayern: Ergebnisse eines Onlinesurveys mit Evaluation der ophthalmochirurgischen Ausbildungsanteile, Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 2018. Seine Forschungsinteressen sind: Netzhaut- und Glaskörpererkrankungen, Bildgebung in der Medizin/den Naturwissenschaften, Humanethologie sowie die Aus- und Weiterbildung von Augenärzten. Kohler-Spiegel, Helga, Prof. Mag. phil. Dr. phil., ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg. Kürzlich erschienen sind u.a. folgende Publikationen: Traumatisierte Kinder in der Schule verstehen – auffangen – stabilisieren, Ostfildern 2017; Lebenswelten – Werthaltungen junger Menschen in Vorarlberg 2016, Innsbruck 2017; Wie ist das mit dem Sterben? Und was ist nach dem Tod? Kinder fragen – Forscherinnen und Forscher antworten, München 2017. Sie forscht im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften, insbesondere in der Entwicklungspsychologie, Kommunikation und multikulturellen und interreligiösen Pädagogik. Sie ist Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Lehrtherapeutin, Supervisorin in freier Praxis. Köffler, Nadja Maria, Univ.-Ass. Mag. MA PhD, studierte Medien-, Kultur- und Bildungswissenschaften und ist Post-Doctoral-Researcher an der Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a.: Entwicklungsaufgaben im Lehramtsstudium, Bad Heilbrunn 2015; Die Ikonographie des Weiblichen, Nordersted 2017; Vivian Maier und der gespiegelte Blick. Fotografische Positonen zu Frauenbildern im Selbstporträt, Bielefeld 2019. Sie forscht zu interkulturellen, medienethischen sowie bildepistemologischen Theorien bzw. Themen im Bereich der Visual Studies; Projektkoordinationen und -organisationen im Bereich der Filmbildung, Kunst- und Kulturvermittlung, Tabu- und Lernforschung sowie den Gender Studies; Gastwissenschaftlerin am Beit Berl College

Autorinnen und Autoren

(Israel) und der Hebrew University (Israel), sowie der KU University (Südkorea) und der Cheoungiu University (Südkorea). Mosser, Peter, Dipl.-Psych. Dr. phil., arbeitet als Psychologe in der Beratungsstelle KIBS sowie am Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München; Kürzlich erschienene Veröffentlichungen sind: (gem. mit Heiner Keupp et al.) Schweigen – Aufdeckung – Aufarbeitung. Sexualisierte, psychische und physische Gewalt im Benediktinerstift Kremsmünster, Wiesbaden 2017; (gem. mit W. Gmür & G. Hackenschmied) Sozialwissenschaftliche Studien als Instrument zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Institutionen, Basel 2018. Seine Forschungsinteressen richten sich auf (sexualisierte) Gewalt, Gender, Systemische Dynamiken in Institutionen und auf institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitungsprozesse. Peter, Karin, Univ.-Ass. Dr. theol., ist Universitätsassistentin (post doc) am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien. Zu ihren aktuellsten Veröffentlichungen zählt: (gem. mit A. Lehner-Hartmann, T. Krobath & M. Jäggele) Inklusion in/durch Bildung? Religionspädagogische Zugänge (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 15), Göttingen 2018. Forschungsschwerpunkte sind die Verbindung von Religionspädagogik bzw. -didaktik mit Systematischer Theologie sowie Inklusive Religionspädagogik und -didaktik.. Mitarbeit in der Initiative lebens. werte.schule. Rathgeb, Gabriele, Mag. phil. PhD, ist AHS-Lehrerin und Dozentin an der Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck. Sie wirkt(e) im Projekt Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen II an der Universität Innsbruck mit. Aktuellste Publikationen sind: Erfahrungen zum Ausdruck verhelfen. In M. Ammann, T. Westfall-Greiter & M. Schratz (Hg.), Erfahrungen deuten – Deutungen erfahren, Innsbruck 2017; (gem. mit S. Krenn & M. Schratz) Wissen begehren. Eine phänomenologisch orientierte Studie über die Bedeutung von Wissbegierde und Neu(be-)gierde für das Lernen, Innsbruck 2018. Forschungsschwerpunkt ist die Lehr- und Lernforschung. Reisenauer, Cathrin, MMag. Dr. phil., lehrt und forscht an der Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck. Zu den kürzlich erschienenen Veröffentlichungen zählt u.a.: Anerkennung in der Schule. Über Anlässe, Abläufe und Wirkweisen von Adressierungen, Bern 2018; aktuell ist sie Co-Leiterin des Projektes Partizipatorische und emanzipatorische pädagogische Diagnostik in inklusiven Klassen; ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind pädagogisches Handeln, Partizipation in Forschung und schulischer Praxis sowie Inklusion im Bildungsbereich. Rocha, Samuel D., Ass.-Prof. PhD, ist Professor für Philosophy of Education an der University of British Columbia. Ausgewählte Publikationen der letzten Jahre sind: Tell Them Something Beautiful: Essays and Ephemera, Eugene 2017; Folk Phenomenology: Education, Study, and the Human Person, Eugene 2016; A Primer for Philosophy and Education, Eugene 2014. Kürzlich erschienene Musikalben sind: A Todo Var, 2017; Fear and Loving, 2016; Late to Love, 2014; Freedom for Love, 2011. Seine Forschungsgebiete sind die Phänomenologie, Lateinamerikanische Bildungsphilosophie und Philosophie der Liebe.

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Bildung und Liebe

Schaupp, Walter, Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol., ist Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. Neuere Publikationen u.a.: Kontemplation und Freiheit. Geist und Leben 91/1 46-55, Innsbruck 2018; Moralische Reziprozität und Liebesgebot. In P.-C. Chittilappilly (Hg.): Horizonte gegenwärtiger Ethik, Freiburg i.Br. 2016; Moderne Reproduktionsmedizin – Liberalisierungsprozesse als Zumutung an die Freiheit. In Family Forum 5, Wien 2015. Er ist langjähriges Mitglied der österreichischen Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind medizinische Ethik/Bioethik und Spiritualität und Ethik. Scheuenpflug, Christine, PhD, ist Bildungswissenschaftlerin und unterrichtet als diplomierte Volksschullehrerin an der Praxisvolksschule der Pädagogischen Hochschule Tirol. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die empirische Lernforschung sowie die reflexive Lehrer/innen/bildungsforschung im hochschulischen Kontext. In ihrer Dissertation (2017) untersuchte sie unter der Perspektive des Personenzentrierten Ansatzes von Carl Rogers und systemisch-konstruktivistischer Theorieansätze jene personalen und strukturellen Bedingungen in der Lehrer/innen/bildung, welche die Vergegenwärtigung und reflexive Bearbeitung der als veränderungsresistent geltenden pädagogischen Grundhaltung ermöglichen. Schiel, Andreas, Dr. phil., leitet die Denkfabrik denkzentrum|demokratie und arbeitet freiberuflich in der Zukunftsforschung. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Fragen der politischen Kommunikation sowie die Zukunft der Arbeit. Ausgewählte Publikationen: (gem. mit S. Birk & J. Vitera) Vertrauen in digitalisierten Unternehmen. Voraussetzung für innovative Arbeitsmodelle, Berlin 2017; Liebe, Kommunikation und Ethik. Pragmatische Überlegungen zur kommunikativen Fundierung von Moral, Berlin 2014. Er forscht aktuell in Projekten zur Zukunft der (Wissens-)Arbeit sowie zur Rolle von Vertrauen in der digitalen Transformation. Schwarz, Johanna Franziska, PD Dr. phil. MA, Senior Scientist an der Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck; Veröffentlichungen sind u.a.: Zuschreiben als wirkmächtiges Phänomen in der Schule, Innsbruck 2018; (gem. mit M. Schratz & T. Westfall-Greiter) Lernen als bildende Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung, Innsbruck 2012. Arbeits- und Forschungsbereich: Phänomene des Lehrens und Lernens und Lehrer/innen/bildungsforschung. Operative Leitung des FWF-Projektes Lernen in heterogenen Gruppen I am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung (ILS) der Universität Innsbruck. Seichter, Sabine, Univ.-Prof. Dr. phil., Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg. Zu ihren einschlägigen Veröffentlichungen zählen: (gem. mit W. Böhm) Wörterbuch der Pädagogik, Paderborn 2017; (gem. mit W. Böhm & E. Schiefelbein) Projekt Erziehung, Paderborn 2017; Erziehung und Ernährung. Ein anderer Blick auf Kindheit, Weinheim 2016; Erziehung an der Mutterbrust, Weinheim 2014; Pädagogische Liebe, Paderborn 2007. Zu den Forschungsschwerpunkten gehören Geschichte und Theorie von Erziehung und Bildung, historisch-kulturwissenschaftliche und personalistische Konzeptionen pädagogischer Anthropologie.

Autorinnen und Autoren

Sojer, Thomas, Mag. theol., forscht zu Fragen der Kultur- und Sozialphilosophie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Simone Weil, sowie die Rezeptions- und Ideengeschichte. Er hat u.a. zu Simone Weil, René Girard und im Feld der HumanAnimal Studies publiziert. Steinmair-Pösel, Petra, HProf. Dr. theol. habil., leitet das Institut für Religionspädagogische Bildung der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Edith Stein in Feldkirch. Publikationen sind u.a.: Im Gravitationsfeld von Mystik und Politik. Christliche Sozialethik im Gespräch mit M. Maria Skobtsova, Dorothee Sölle und Chiara Lubich, Paderborn (in Vorbereitung); Gerechtigkeit in einer endlichen Welt – Ökologie – Wirtschaft – Ethik (gem. mit I. Gabriel), Mainz 2014; Gleichstellung in der Sackgasse?: Frauen, Männer und die erschöpfte Familie von heute, (gem. mit P. M. Zulehner), Wien 2014; Gnade in Beziehung: Konturen einer dramatischen Gnadenlehre, Wien 2009. Gastvorlesungen in Cluj (Rumänien) und Canberra (Australien). Stöger, Peter, Ao. Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. h.c., ist Emeritus für Interkulturelle Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Dialogpädagogik und Erinnerungskultur an der Universität Innsbruck. Publikationen sind u.a.: (gem. mit T. Krobath & A. Shakir) Buber begegnen: Interdisziplinäre Zugänge zu Martin Bubers Dialogphilosophie, Wuppertal 2017; Das Spiel – Ortungsversuche: Annäherungen zu einer integrativen Pädagogischen Anthropologie, Innsbruck 2008; Martin Buber: Eine Einführung in Leben und Werk, Wien 2003. Seine Forschungsschwerpunkte sind Martin Buber, Paulo Freire, Erinnerungskultur und Interkultureller Dialog. Er hielt Gastvorlesungen u.a. in Szombathely, Drohobytsch, Bangor, Osnabrück, Kampala und Puebla. Ulsess-Schurda, Nadine, Mag. phil. Dr. phil., Gymnasiallehrerin am BRG in der Au und Lehrbeauftragte an der Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck. Kürzlich erschienene Veröffentlichungen sind u.a.: Schülerkompetenzen im offenen und gebundenen Unterricht. Eine Untersuchung an zwei vierten Klassen einer AHS, Berlin 2008; Praxis konkret Englisch. I am a reader – I am a writer, Innsbruck 2016. Sie absolvierte eine Ausbildung zum Holocaust Educator am Olga Lengyel Institute und der City University of New York und ist Referentin und Workshopleiterin zu verschiedenen pädagogischen Themen.

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Pädagogik Anselm Böhmer

Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1

Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel

Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis 2016, 248 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)

Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7

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Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering

Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven (unter Mitarbeit von Linda Leskau, Kathrin Lohse, Arne Malmsheimer und Jens Schröter) 2017, 304 S., kart., zahlr. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3053-8

Ruprecht Mattig, Miriam Mathias, Klaus Zehbe (Hg.)

Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit Januar 2018, 292 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3688-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3688-2

Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter (Hg.)

Digitalität und Selbst Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse 2017, 268 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3945-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3945-6

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