Gewalt und Opfer: Im Dialog mit Walter Burkert 3110221160, 9783110221169

The volume presented here is a collection of the contributions to an author´s colloquium with Walter Burkert, which was

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Gewalt und Opfer: Im Dialog mit Walter Burkert
 3110221160, 9783110221169

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
VORWORT
Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle für eine moderne Gräzistik und kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft
Horror Stories.
Zwischen Biologie und Geisteswissenschaft.
Walter Burkert on Ancient Myth and Ritual.
Mystika, Orphika, Dionysiaka.
Haereditarium Piaculum.
Dionysos. Riten und Mythen im Werk von Walter Burkert
‘Vom geheimen Reiz des Verborgenen’.
Unschuldskomödie oder Euphemismus.
Religion und Gewalt.
Evolution, Analogien und Universalien.
Homo naturaliter religiosus.
Danae, Rapunzel und ihre Schwestern.
Verwandelnde Erfahrung.
Gewalt und Trauer.
Walter Burkert. Kulturtheorie und Poetik der Tragödie.

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Gewalt und Opfer

MythosEikonPoiesis Herausgegeben von Anton Bierl

Band 2

De Gruyter

Gewalt und Opfer Im Dialog mit Walter Burkert

Herausgegeben von

Anton Bierl und Wolfgang Braungart

De Gruyter

Dieser Band entstand mit Unterstützung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) (Universität Bielefeld) und der Universität Basel.

ISBN 978-3-11-022116-9 e-ISBN 978-3-11-022117-6 ISSN 1868-5080 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt VORWORT Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle für eine moderne Gräzistik und kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft ANTON BIERL

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Horror Stories. Zur Begegnung von Biologie, Philologie und Religion WALTER BURKERT

45

Zwischen Biologie und Geisteswissenschaft. Probleme einer interdisziplinären Anthropologie WALTER BURKERT

57

Walter Burkert on Ancient Myth and Ritual. Some Personal Observations JAN BREMMER

71

Mystika, Orphika, Dionysiaka. Esoterische Gruppenbildungen, Glaubensinhalte und Verhaltensweisen in der griechischen Religion ALBERT HENRICHS

87

Haereditarium Piaculum. Aspects of Ancient Greek Religion in the 17th Century RENAUD GAGNÉ

115

Dionysos. Riten und Mythen im Werk von Walter Burkert RENATE SCHLESIER

149

vi

Inhalt

‘Vom geheimen Reiz des Verborgenen’. Antike Mysterien, Mythen und Kulte zwischen anthropologischer Deutung und moderner Ritual- und Kommunikationstheorie EVELINE KRUMMEN

173

Unschuldskomödie oder Euphemismus. Walter Burkerts Theorie des Opfers und die Tragödie SUSANNE GÖDDE

215

Religion und Gewalt. Walter Burkert und René Girard im Vergleich WOLFGANG PALAVER

247

Evolution, Analogien und Universalien. Eine Systematik naturalistischer Modelle anhand von Walter Burkert CHRISTOPH ANTWEILER

267

Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Arguments ECKART VOLAND

293

Danae, Rapunzel und ihre Schwestern. Zu Walter Burkerts Konzept der Mädchentragödie MICHAEL NEUMANN

317

Verwandelnde Erfahrung. Die großen Mysterien in der Imagination des 18. Jahrhunderts JAN ASSMANN

343

Gewalt und Trauer. NIOBE-Tragödien EVA KOCZISZKY

363

Walter Burkert. Kulturtheorie und Poetik der Tragödie. Sophokles, Philoktet, Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame, Heiner Müller, Philoktet WOLFGANG BRAUNGART

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VORWORT Der vorliegende Band ist dem Gespräch mit dem großen Gräzisten Walter Burkert gewidmet. Walter Burkert hat wirklich Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Sein Werk wird weltweit intensiv rezipiert. Es hat zahlreiche Studien in den Altertumswissenschaften, den Religionswissenschaften, den Theologien, aber auch den Neuphilologien angeregt. Lange bevor die Geisteswissenschaften begonnen haben, sich kulturwissenschaftlich neu zu orientieren, hat Walter Burkert mit großer synthetischer Energie und in souveräner interdisziplinärer Offenheit Altphilologie als moderne Kulturwissenschaft verstanden und praktiziert. Er hat sich nicht gescheut, den Brückenschlag zu den Naturwissenschaften zu suchen. Anthropologische, soziologische, psychologische, ethologische und biologische Forschungen aufnehmend betont Burkert die unheimlichen und gewalttätigen Seiten des Griechentums. Dabei hat er immer auch unsere Gegenwart im Blick. Was heute unter Stichworten wie ‘Biopoetics’ oder ‘Anthropologie der Literatur’ neu diskutiert wird, hat Burkert schon vor mehr als 30 Jahren, beruhend auf intensiven eigenen Quellenstudien, in Angriff genommen. Mit Vorliebe geht Burkert den Ursprüngen menschlichen Zusammenlebens in Riten auf den Grund; Schulderfahrungen, Opferrituale und Todesszenarien sind zentrale Themen seines wissenschaftlichen Werkes. Er interessiert sich besonders für Forschungsfelder, die man gemeinhin weniger mit den seit Winckelmann und dem europäischen Griechenkult so sehr stilisierten Griechen assoziiert: für Sekten, verschiedenste religiöse Randphänomene, griechischen Schamanismus, Pythagoreismus, Orphik, für Dionysosriten, Mysterienkulte, grausame Initiationsrituale, Tricksterwesen, für eigenartige Kosmogonien und magische Praktiken. Pionierforschung leistet er auch, wenn er vorderorientalische, mesopotamische und ägyptische Einflüsse auf das Griechentum untersucht. So ist ein völlig neues und auf eigene Weise faszinierendes Bild der Hellenen entstanden. ‘Die Griechen’ sind durch Walter Burkert nicht mehr der isolierte Zenit einer einmaligen Geisteskultur, sondern hervorgegangen aus den unterschiedlichsten Einflüssen des Mittelmeerraumes. Die Erforschung ihrer Kultur eröffnet tiefe Einblicke in unsere menschliche Grundkonstitution.

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Vorwort

Die Beiträge zu diesem Band gehen auf ein internationales Autorenkolloquium mit Walter Burkert zurück, das im November 2007 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattgefunden hat.1 Wir danken dem ZiF für die Finanzierung und Ausrichtung der Tagung, den Beiträgern für ihre Mitwirkung, dem Verlag Walter de Gruyter, besonders Dr. Sabine Vogt und Dr. Elisabeth Schuhmann, für manchen Rat und die Unterstützung der neuen Reihe MEP, unseren Basler und Bielefelder Mitarbeitern, besonders Ellen Beyn, Saskia Fischer, Mareike Gronich, Markus Pahmeier und Xenja Herren, für ihre engagierte Unterstützung bei der Tagung und vor allem bei der Druckvorbereitung und Walter Burkert selbst für lebhafte Diskussionen, an die wir uns noch lange und mit großer Freude erinnern werden. Basel und Bielefeld im Herbst 2009 Anton Bierl und Wolfgang Braungart

1 In den Bibliografien, die jeweils den Beiträgen nachgestellt sind, kürzen wir für die Altertumswissenschaften nach L’Année Philologique ab. Griechische Quellen sind nach Liddell-Scott-Jones angeführt, lateinische nach Oxford Latin Dictionary.

ANTON BIERL Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle für eine moderne Gräzistik und kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft I. Einleitung Walter Burkert ist primär gräzistischer Religionswissenschaftler und Klassischer Philologe.1 Zugleich ist er einer der letzten Vertreter einer umfassenden Altertumswissenschaft. Sein Blick ist dabei neben spezialisierten Detailuntersuchungen oft aufs Große und Universale gerichtet, auf den Menschen schlechthin und seine psychisch-soziale Grundkonstitution. Hinter dem Philologen wird damit der Anthropologe sichtbar. Beide Tendenzen fließen in einem tiefgehenden Humanismus im wortwörtlichen Sinne zusammen. In seiner frühen Zeit ist er nach eigener Aussage geprägt worden von Otto Seel, Karl Meuli, Reinhold Merkelbach und Eric R. Dodds, die das Andere, das Irrationale und Religiöse am Griechentum betonten. In vielem erscheint er einer längst vergangenen Epoche zugehörig. Sein Werk kann sich vielleicht sogar mit deutschen altertumswissenschaftlichen Größen wie etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff oder Theodor Mommsen messen. Burkerts Schaffen gehört noch einer Zeit an, in der man sich ganz ohne Drittmittelanträge und Einschreibungen in Exzellenzinitiativen, Graduiertenschulen und Sonderforschungsbereiche individuell der Freiheit der Wissenschaft im besten Humboldtschen Sinne widmen konnte. Ähnlich wie Niklas Luhmann, der bei seiner Bielefelder Berufung gefragt wurde, was er an Ausstattung für seine Projekte benötige, nur erstaunt auf Bleistift und Zeit kam, gab er sich doch in Zürich neben seiner erfolgreichen Lehre ganz seinen ureigenen wissenschaftlichen Interessen hin. Dies alles ermöglichte wirkliche Exzellenz, 1

Direkter Schüler von Walter Burkert war ich selbst nie – dies mag auch dabei helfen, ihn hier vielleicht aus anderer Sicht und, bei allem Respekt, etwas unbefangener zu beurteilen. Nichtsdestotrotz bin ich von ihm tief geprägt, fast als wäre ich immer seinem Kreis zugehörig gewesen. Unvergesslich sind mir die erste Begegnung mit Homo Necans sowie die darauf folgende tiefe Faszination, als ich ihn zum ersten Mal in meiner Münchner Studentenzeit und dann auf der Dionysos-Konferenz in Virginia persönlich erleben durfte.

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Anton Bierl

die, wenn sie auch in Deutschland zunächst verkannt wurde, über Übersetzungen in andere Sprachen weltweit Anerkennung fand. Sein ganz eigener Ansatz ist zudem geprägt von der Herkunft und den historischen Entwicklungen, das heißt von der Nachkriegszeit und der allmählich einsetzenden geistigen Öffnung der BRD sowie von den kulturellen Umwälzungen um das Jahr 1968. Walter Burkert ist es gelungen, über seine eigentliche Disziplin der Gräzistik hinaus eine allgemeine Bekanntheit als Geisteswissenschaftler zu erzielen. Trotz einzigartiger Gelehrsamkeit vermag er offensichtlich etwas Grundsätzliches anzusprechen, was uns alle angeht, eine verdrängte Tiefenschicht unserer anthropologischen Existenz, die im Mythos und im (in einer mehr oder minder losen Beziehung dazu verlaufenden) Ritual ihren Ausdruck sucht. Burkert geht zum “wilden Ursprung” unserer westlichen, von den Griechen so beeinflussten Zivilisation zurück.2 Im geistigen Aufbruch der frühen 1960er Jahre und auf den vorausliegenden Erfahrungen des Schreckens des letzten Jahrhunderts basierend verlässt er die eingetretenen Pfade positivistisch-historistischer oder neo-humanistischer Forschung in den Altertumswissenschaften. Auf einer synthetischen Theoriebasis versucht er dabei zu den fundamentalen Zusammenhängen menschlichen Lebens vorzudringen. Wie ein roter Faden zieht sich die Überlegung durch sein Werk, dass für die menschliche Zivilisation nicht nur die Verdrängung des angeborenen Triebs zur Aggression und Gewalt, sondern auch deren konstruktive Einbindung vonnöten ist. In der kulturellen Verarbeitung durch letztlich auf biologische Handlungsprogramme zurückführbare Riten und Mythen kann nämlich die destruktive Energie für das Zusammenleben konstruktiv umgepolt werden. Nach Burkert ist es dadurch möglich, Krisen im individuellen und gesellschaftlichen Leben erträglich zu machen und zu überwinden. In den zentralen Praktiken wie Opfer, Initiation und Fest agiert man performativ die inhärente Energie aus, um sie für die dauerhafte Kohäsion fruchtbar zu machen. Es findet also laufend eine Art Rückversicherung bei den Ursprüngen statt; in der Rückkehr zu diesen kann das Chaos bewältigt werden. Damit wird eine Begründung und Legitimierung der bestehenden Ordnung gewährleistet.

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So der gelungene Titel, den Glenn Most (vgl. auch Most 1990) einer von ihm herausgegebenen Sammlung von einigen frühen Aufsätzen Burkerts (1990a) gab.

Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle

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II. Arbeitsfelder Bereits seine in Erlangen entstandene Dissertation (Burkert 1955) behandelt ein für Burkert typisches Thema, den altgriechischen Mitleidsbegriff. In der Habilitation Weisheit und Wissenschaft (Burkert 1962a) holt er schon zu seiner charakteristischen Weite aus, indem er vorsokratisches Denken und mathematische Theorie in religiöse Kontexte setzt und dabei das wichtige, von Meuli und Dodds stammende Konzept des griechischen Schamanismus aufgreift. Der wirklich große geistige Wurf gelingt ihm nach seinen Qualifikationsarbeiten in Homo Necans (Burkert 1972), wobei die zentrale These in wichtigen Aufsätzen seiner Frühzeit, die ihn vor allem auch nach USA und England brachte, vorgezeichnet ist. Die Bereiche seiner Wirkung sind nun schnell und gut in den von Christoph Riedweg initiierten und mit anderen Weggefährten aus Burkerts Schülerkreis herausgegebenen Kleinen Schriften erschlossen, wodurch viel in fern liegenden Sammelbänden verstreut Publiziertes leicht zugänglich ist.3 Die Themen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit kann man grob nach den Bänden zusammenfassen in: Homerica; Orientalia; Mystica, Orphica, Pythagorica; Mythica, Ritualia; Tragica, Historica; Philosophica. Sein Werk ist durch eine eigenartige Spannung geprägt: Neben der akribischen Analyse von Detailproblemen, die unbemerkt auch immer Fundamentales berühren, steht die explizite Behandlung des ganz Großen wie in Homo Necans. Dabei arbeitet er oft mit humanethologischen und naturwissenschaftlichen Ansätzen. Sein Ziel ist es dabei, zum Wesen des Menschen selbst vorzudringen. Obwohl er ganz im philologischen Gebiet zu Hause ist, gilt sein eigentliches Interesse einer neuen, am Grundsätzlichen orientierten Religionswissenschaft, die für ihn zum Kern der Gräzistik aus umfassender altertumswissenschaftlicher Perspektive wird. In seiner religionsgeschichtlichen Forschung hat er die lange in Deutschland fortbestehende ‘Kluft’ zwischen Ritual und Mythos geschlossen, auf der Grundlage von Jane Harrison und den Cambridge Ritualists ein Szenario von Beziehungen zwischen den beiden Bereichen eröffnet und diese Erkenntnisse auf einige wichtige Feste appliziert.4 Seine frühen Ritualstudien kreisen in einem eigentümlich klaren und kühlen, fast 3 Bisher veröffentlicht Burkert 2001; Burkert 2003b; Burkert 2006; Burkert 2007; Burkert 2008. 4 Vgl. Most 1990, bes. 10; vgl. auch Versnel 1993, 15-88.

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Anton Bierl

unheimlichen Stil, der Erkenntnisse der Soziologie und vor allem von Siegmund Freud und Konrad Lorenz aufnimmt, um die andere, eher anstößige Seite der Griechen. Der Mensch wird an der uns nahestehenden Kultur der Hellenen in seiner aus den paläolithischen Ursprüngen herkommenden Grundlage erklärt. Seine Forschungen sind zugleich von einem aktuellen Anliegen geprägt. Immer wieder weist er auf die Risiken hin, die das moderne Individuum durch die totale Befreiung von religiösen Sinnhorizonten eingeht, weil es damit seine eigene mentale Infrastruktur verleugnet. Rituale und damit verbundene mythische Traditionen sieht Burkert als theatrale und tiefe Erfahrungsmöglichkeit, sich mit Gewalt auseinanderzusetzen, um sie so in Schranken zu verweisen. Einem ‘rituellen Idiotentum’ versucht er durch Aufklärung Einhalt zu gebieten,5 zumal er die Gefahren des Untergangs der Religion zu sehen glaubt. Seiner Überzeugung nach hat nämlich der auf der Jagd mit Tod, Gewalt und möglicher Selbstvernichtung konfrontierte Mensch im evolutionären Prozess Praktiken wie den Opferbrauch und andere Riten und Mythen entwickelt, welche die Funktion haben, die Aggression zu bannen und zu verarbeiten. Hinter der Fassade stupender altertumswissenschaftlicher Gelehrsamkeit scheint in Burkerts Werk immer wieder ein handfestes, ganz reales kulturelles Anliegen durch: Haben wir uns in der gegenwärtigen Moderne durch den rasanten Verlust von Ritual und Mythos zentraler Dinge beraubt? Könnten wir durch die Bekanntschaft mit unseren Wurzeln, deren Inhalte durch das Zurückdrängen des Altgriechischen in den Lehrplänen unserer Schulen leider auch immer mehr verschwinden, nicht für unser heutiges Zusammenleben Grundsätzliches lernen? Und ist dies heute nach den Epochenschwellen von 1989 und 2001 nicht nötiger denn je? Krieg, Gewalt und religiöse Fanatismen kehren nach den künstlich ruhig gestellten Jahrzehnten des Kalten Krieges plötzlich auch für uns alle spürbar zurück. Ohne kulturelles Gedächtnis, ohne Mechanismen der Verarbeitung, Verdrängung und Umformung ist die Menschheit nach Burkert vielleicht plötzlich nicht mehr fähig, mit den Szenarien des Schreckens umzugehen, da sie alles, was mit Mythos und Ritual zu tun hatte, leichtfertig als irrational-primitive Diskurse über Bord warf. Damit geht auch ein Verständnis für deren Sinn verloren. Immer wieder mahnt Burkert davor, Mythos und Ritual einfach aufzugeben. Damit ordnet sich Burkert in eine Diskussion ein, die seit der späten Aufklärung bei5

Vgl. u. a. Burkert 1984a, 29, 32.

Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle

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spielsweise von Friedrich Hölderlin geführt wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Stichwort der “Dialektik der Aufklärung” seinen Höhepunkt erlebte. Die Darstellung der weniger “erbaulichen Aspekte”, um die Burkerts Darstellungen kreisen, entschuldigt er dementsprechend in der Vorbemerkung von Homo Necans (Burkert 1972, 7) mit dem delphischen Motto ƆƮːƪƫ ƴƣƶƵƽƮ (‘Erkenne dich selbst!’). Folgende Schlüsselthemen zeichnen unter anderen sein Frühwerk aus: Mythos/Ritual; Opfer; Blut; Fest; Schuld; Heiliges/Sakralisierung; Jagd; Mysterien; Schamanen/Trickster; Tod/Todeskult/Trauer; Ursprung; Auflösung der Ordnung; Schrecken/Angst/Schauder; Sexualisierung; Leid; Gewalt/Zerreißung/Aggression. Es liegt bei Burkert eine besondere Mischung von an Arthur Schopenhauer orientiertem säkularem Schulden- und Sündenbewusstsein, von wissenschaftlicher Durchdringung und von Glauben an Aufklärung und Fortschritt vor. Zudem ist ein Anliegen ersichtlich, das moderne Individuum mittels eines als “Schutzmacht” (Graf 1991) wirkenden religiösen Fundaments retten zu wollen. Dementsprechend herrscht in seinen Schriften ein Vokabular der Verschuldung und Entsühnung des sich am Leben vergreifenden Menschen. Hinter einem naturwissenschaftlich-atheistischen Selbstverständnis bleiben bei Burkert meist eine zutiefst christliche Sicht und ein Mitgefühl für die leidende Kreatur erkennbar. Es geht ihm kaum um das Ritual als bloße Lebenspraktik, etwa um Feier, Essen, Tanz und Heiterkeit, vielmehr interessiert er sich für heimliche Sekten, Mysten, vagabundierende Mantiker und Goeten, für Ursprünge, für menschliche Konstanten und urernste Erfahrungen. Bei allem war Burkert immer ein dezidierter Kulturwissenschaftler, noch bevor man von einer Kulturwissenschaft in der Geisteswissenschaft sprechen konnte. Durch einen bewussten Brückenschlag zur Naturwissenschaft wird bei ihm die Humanwissenschaft zu einer Kultur- und Lebenswissenschaft. Dabei leitet Burkert in der griechischen Religionswissenschaft einen deutlichen Paradigmenwechsel ein. In radikaler Abkehr von der Tendenz, alles rituelle Handeln aus der Idee der Fruchtbarkeitsförderung in einer Ackerbaugesellschaft abzuleiten, widmet er sich dem Menschen an sich in Wiederaufnahme von Trends einer an den Theorien Émil Durkheims und Siegmund Freuds geschulten Ritualforschung der Cambridger Schule. Friedrich Nietzsche sowie Rudolf Otto und Walter F. Otto stehen zudem Pate bei dieser Denkbewegung. Ferner ist er vor allem von Konrad Lorenz

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Anton Bierl

sowie allgemein von der modernen Humanethologie und Primatenforschung tief beeinflusst. Der vorzeitliche Mensch als naked ape findet zur Jagd und macht sich damit seine natürlichen tierischen Feinde untertan. Damit beginnt der Siegeszug des hunting ape aus den Steppen Afrikas über die Welt. Die paläolithische Errungenschaft führt nach Burkert zu Kulturtechniken der Gewaltverarbeitung, zum Ritual des Opfers und zur Entwicklung anderer komplexer Ritualsequenzen, die in der Auflösung der Ordnung und ihrer Wiederherstellung das unsagbare Geschehen des gewaltsamen Tötungsprozesses verarbeiten, das die Fleischnahrung garantiert. Jagd, ‘Sexualisierung’ und Totenkult stehen am Anfang der menschlichen Entwicklung und werden dann über die Evolution der Gattung hinweg in Ritualisierungen wie vor allem im Opferbrauch weitergeführt, wobei Transformationen stattfinden. Das Opfer und andere verwandte Rituale werden selbst in komplexeren Stadtkulturen bewahrt, da die in theatralen Inszenierungen freiwerdende Gewalt hilft, die Gruppenkohäsion der Gesellschaft herzustellen, und als Schutz gegen ungehemmte innergemeinschaftliche Aggression fungieren kann. Da die Zeit des Getreideund Pflanzenanbaus, der den Menschen erst von der Jagd und vom Fleischgenuss unabhängig macht, entwicklungsgeschichtlich nur die letzten 10.000 Jahre eines 600.000-jährigen Zeitrahmens umfasst, hat dieser Kurzabschnitt der Menschheitsgeschichte kaum Einfluss auf die genetisch geprägte Tiefenstruktur des Homo Necans.6 Neben dem zentralen Opfer entwickelt Burkert das sozialwissenschaftlich geprägte und schon von Jane Harrison aufgenommene Paradigma der Initiation weiter, das zur selben Zeit in Italien ebenfalls von Angelo Brelich (1969) aufgegriffen wird.7 Mit den komplexeren Szenarien der Auflösung und Wiederherstellung der Ordnung, die auch im Opferkult durchgespielt werden, assoziiert Burkert die sozialen Feste der Jünglingsweihe und des Neujahrs.8 Männerbünde und weibliche Gruppen bedürfen fester Einweihungsrituale, die feierlich inszeniert werden. Damit öffnet er den Blick auch auf die wichtige weibliche Initiation, die im antiken Griechenland oft nur mehr von wenigen Mädchen repräsentativ für die ganze Altersgruppe begangen wird. Davon ausgehend kommt er zum rituellen und mythischen Pendant der Mädchentragödie, das oft als Vorspiel oder 6

Vgl. Burkert 1972, bes. 8-96; vgl. auch Burkert 1984a; Burkert 1987a. Vgl. dazu Bierl 2007a, 23-24; Burkert 2004. 8 Vgl. Bierl 2007a, 28-29. 7

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Nachspiel zum Unsagbaren der totalen Gewalt eingesetzt wird. In Structure and History (Burkert 1979) dringt Burkert zu einer neuen Mythosund Ritualtheorie vor. Beide Bereiche sind ihm zufolge eng miteinander verwoben und basieren letztlich auf einem biologischen Konzept, das sich im “to get” als Grundbedürfnis manifestiert. Die These, dass jedes Ritual auf ‘biologischen Spuren’ gründet, wird in Creation of the Sacred (Burkert 1996a) fortentwickelt. Der große Wurf von Homo Necans trifft bald auf eigene Bedenken und ist wohl bereits zur Zeit seiner Abfassung in vielem, gerade in der Überbetonung von Lorenz’ Ansätzen, naturwissenschaftlich überholt. Im Nachwort zur zweiten Ausgabe (Burkert 1997a) relativiert Burkert angesichts der zeitlichen Differenz kräftig und nimmt dabei manches zurück. Im Bielefelder Autorenkolloquium kommt schließlich die starke Kritik an manchen biologisch-anthropologischen Annahmen ans Tageslicht und vieles wird vor und mit Burkert kontrovers diskutiert. Die in Homo Necans zugleich entworfene Ritual- und Mythengeschichte wird ferner zunehmend als Konstruktion angesehen. Burkert scheint die akribisch zusammengetragenen Quellen, die von der Früh- bis in die Spätzeit reichen, so montiert zu haben, dass sie zur modernen, von vielen Voraussetzungen und kulturellen Voreinstellungen geprägten These passen. Vor allem lässt sich dagegen fragen, wo die Kontrollinstanz über so disparate Texte unterschiedlicher Genres, Zeiten und Kontexte ist. Bei allen Bedenken und Einschränkungen ist die weltweite Wirkung von Homo Necans, der Frühschriften, die zum Teil in der schönen Sammlung Wilder Ursprung (Burkert 1990a) vereint sind, und der genannten, weiter in Richtung Biologie zielenden Bücher zu konstatieren, vor allem über die engen Kreise der Altertumswissenschaft hinaus. Burkert wird damit zu einem modernen Kulturkritiker, ja sogar zu einer Inspirationsquelle künstlerischer Auseinandersetzung mit der Antike, sei es in der Literatur, Malerei oder Populärwissenschaft. Dies gilt vor allem für die Bühne, insbesondere für die wachsende Konjunktur der Antikeproduktionen, das heißt für die vielen Performances, Installationen und Wiederaufführungen antiker Tragödien. Neben dieser wichtigen Rolle seines Werks als Heuristik für Altertums-, Geistes- und allgemeine Literaturwissenschaftler sowie frei schaffende Künstler ist seine Wirkung im engeren Bereich der griechischen Religion und Gräzistik zu betonen. Zu nennen sind hier neben den zahlreichen Aufsätzen vor allem seine weiteren Monografien. Die auf Vor-

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Anton Bierl

studien basierende griechische Religionsgeschichte Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (Burkert 1977) wird zum Standardwerk, das sämtliche neuen Paradigmen diskutierfähig macht und den bis dahin üblichen Rahmen wesentlich erweitert. Alles, was man als Interessierter schon immer wissen wollte, wird hier sehr präzise angesprochen: die Prähistorie und die minoisch-mykenische Vorgeschichte, zahlreiche Einzelrituale und Heiligtümer, die Götter, der Totenkult, die Polis und der Polytheismus, Feste und Festrhythmen, das Mysterienwesen und die Verwandlung in eine philosophische Religion. Nie hat man den Eindruck eines bloßen Handbuchs, sondern immer scheint die eigene und so anregende Burkertsche Handschrift durch. Im Jahr 1984 legt er Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (Burkert 1984b) vor, wo er wie Martin West und andere die Verbindung der griechischen Welt zu östlichen Hochkulturen aufzeigt. In Ancient Mystery Cults (Burkert 1987b) untersucht er die bekannten unterschiedlichen Mysterienkulte, die er bewusst nicht, wie bis dato üblich, als späte Mysterienreligionen bezeichnet, systematisch nach Gesichtspunkten. So geht er beispielsweise darin der Frage nach, wie mit Mysterienkulten persönliche Bedürfnisse im Leben und Jenseits befriedigt werden können, welche Organisationsstrukturen und theologischen Inhalte allen gemeinsam sind und welche außergewöhnliche Erfahrung in ihnen gemacht werden kann. Eleusis, das schon eine eigenwillige Interpretation in Homo Necans (Burkert 1972, 275-327) erfuhr, und orphisch-bakchische Inhalte, die durch Goldplättchenfunde auf eine neue Grundlage gestellt wurden, spielen darin eine besondere Rolle. Da Omero ai Magi (Burkert 1999a), wie vieles aus Vortragsreihen hervorgegangen – hier spezifisch aus im Jahre 1996 in Venedig gehaltenen Vorlesungen –, im Deutschen in erweiterter Form erschienen als Die Griechen und der Orient (Burkert 2003a), ist das bisher letzte Buch. Hier kommen unterschiedlichste Interessen zusammen, wie das für Alphabetisierung und Schriftkultur, für Homer als Dichter der orientalisierenden Epoche, für ostwestliche Weisheitsliteratur und Kosmogonie als Grundlage vorsokratischer Philosophie, für Orpheus und die Orphik, für neue Quellen, insbesondere für den Derveni-Papyrus, und für die persischen Magier. Klassisches Altertum und antikes Christentum (Burkert 1996b) fasst eine Jenaer Vortragsreihe zusammen, in der es dem Religionswissenschaftler vor allem um das Verhältnis von Antike zum Christentum der Spätantike, um Gnostik, Plutarch, Platon und Paulus sowie um den Manicheismus geht.

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III. Wirkung als Gräzist auf dem Gebiet der Literatur Burkerts Interesse gilt hauptsächlich der Erforschung der griechischen Religion. Selbst darin geht er häufig dem Obskuren, dem Abstrusen und Anstößigen nach, indem er das Magische, das Goetische, das Mysteriöse, das Fremde und auch das Dionysische immer wieder zum Gegenstand wählt. Falls er sich zu den Göttern äußert, haben Apollon und Dionysos eine bevorzugte Stellung inne.9 Angesichts Burkerts Konzentration auf Ernstes und Schreckliches, Blut, Wahnsinn, Ekel, Schauder und Opfer steht bei ihm vergleichsweise wenig zu heiteren Gesichtspunkten der griechischen Religion, zu ausgelassenen Feiern, zum Lachen, Scherz und Tanz. Wenn er überhaupt griechische Literatur interpretiert, dient sie ihm meist eher als Quellenmaterial zur Erklärung religionsgeschichtlicher Fragen als dass es ihm um literarische Auslegung im eigentlichen Sinne ginge. Nur in den seltensten Fällen tritt der Klassische Philologe als Interpret und Literaturwissenschaftler der großen griechischen Texte auf. Auf überraschende Weise macht er auch kaum den entscheidenden Schritt, seine faszinierenden Erkenntnisse und Modelle, die er zum Teil aus literarischen Quellen ableitet, als Konstruktionsprinzip und Basis der antiken Literatur selbst zu sehen. Oft erweckt es den Anschein, als schrecke Burkert vor einer solchen konsequenten mythisch-rituellen Lektüre zurück. Es stellt sich die Frage, ob der Antiklassiker hier doch noch zu sehr vom Klassizismus geprägt ist. Ich komme später auf diese neuere Erkenntnis einer mythisch-rituellen Poetik zurück, die Burkert selbst noch nicht ausformuliert. Die Generation seiner Schülerinnen und Schüler konnte hier anschließen. Erneut ist festzuhalten: Auch auf diesem Gebiet lässt sich Burkerts Werk hervorragend als heuristisches Instrumentarium verwenden. Im Bereich der literarischen Interpretation in diesem Sinne bieten sich zwei Wege an. Entweder man lässt sich von ganzen Burkertschen Theorieblöcken anregen oder man appliziert bestimmte, von ihm herausgearbeitete religionswissenschaftliche Detailkenntnisse. Für den ersten Fall muss man freilich Vorsicht walten lassen. Heute sieht man sehr deutlich die stark universalistischen und reduktionistischen Tendenzen in Burkerts Theoriegebäude, das in manchem nicht mehr dem Stand der Erkenntnis entspricht. Ritual wird von ihm als zu statisch und unveränderlich angesehen, während man heute 9

Zu Apollon vgl. u. a. Burkert 1975.

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gerade die Dynamik und Adaptionsfähigkeiten des Rituals erkennt.10 Literatur ist zudem nie nur ein Spiegel von lebensweltlichen Praktiken, sondern in mehr oder minderer Autonomie kann sie im freien Spiel von Variation, Kombination und Wiederholung Einzelbestandteile von Ritualsequenzen zu einem eigenen ästhetischen Produkt zusammensetzen. Auf dem Felde der gräzistischen Literatur beschäftigt sich Burkert einerseits mit den kanonischen Texten, andererseits auch mit Randgebieten. Auffallend gewirkt hat er in der Erforschung des Homerischen Epos, der Vorsokratik und der Tragödie. Gehen wir die Gebiete im zeitlichen Verlauf anhand ausgewählter Beiträge durch: III.1 Homer Zunächst bewegt er sich noch ganz in den traditionellen Bahnen der für Deutschland typischen Auseinandersetzung zwischen Analyse und Unitarismus. Ohne auf die Mündlichkeitsforschungen von Milman Parry (u. a. 1928; 1971) und Albert Lord (1960) einzugehen, interpretiert Burkert (1960) das Lied von Ares und Aphrodite im achten Gesang der Odyssee als literarische Referenz auf die Hephaistosszene in Ilias 1 und den Betrug des Zeus in Ilias 14, und bezieht auch hier religionswissenschaftliche Erkenntnisse ein. Später wird Homer das Territorium schlechthin, an dem er den orientalisierenden Einfluss, den Austausch zwischen Ost und West und die Abhängigkeit Homers von vorderorientalischen Modellen zeigt. Ferner behandelt er immer wieder Religiöses in Detailstudien. Zudem geht es ihm bei Homer zunehmend um die Einführung und den Reflex der Alphabetisierung sowie um die Datierung, die er ins frühe sechste Jahrhundert v. Chr. und damit relativ spät ansetzt. Das hunderttorige Theben in der Ilias bezieht Burkert (1976) auf die Eroberung durch Assurbanipal im Jahre 663 v. Chr., was zugleich als terminus post quem des Epos dienen kann. Die Tradition der Sieben gegen Theben betrachtet er ferner als Reflex eines babylonischen magischen Heilrituals zur Vertreibung des Bösen, nicht wie üblich als Spiegel realer geschichtlicher Ereignisse (Burkert 1981). Phantastische Tiefenschichten der Odyssee deutet er in Homo Necans (Burkert 1972, 148-152 und 178-181) an, die er nie detailliert am literarischen Text ausführt. Für die Kannibalengeschichte des

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Vgl. den SFB 619 “Ritualdynamik” zu Heidelberg und Harth/Schenk 2004. Vgl. auch den Beitrag von Eveline Krummen in diesem Band.

Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle

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berühmten Polyphem-Abenteuers postuliert er das Substrat der Werwolfgeschichte und des Menschenopfers. Der später geschlachtete Widder, der Odysseus vor dem Menschenfresser rettet, indem der Held sich am Fell unter dem Bauch des Tieres festkrallt, ist nach Burkert das Opfer, mit dem sich der Mensch identifiziert. Als nichtgriechische Figur reicht OdysseusOlytteus bis in Vorzeitliches zurück. Auf der Grundlage eines Scholions zu Apollonios Rhodios 1.917 bringt Burkert Odysseus mit den Mysterien von Samothrake zusammen, wo sich auch alles um ein Widderopfer drehte. Die Bekleidung mit einem Wollband als Symbol der Errettung vor dem Ertrinken assoziiert er mit dem Schleier, den ihm in größter Seenot Ino-Leukothea in der Odyssee zuwirft. Mythen verdeutlichen wie immer die rituelle Grundlage. Die Rückkehr des Dardanos, des Gründers von Troia, auf einem Floß zur Zeit der Ur-Sintflut setzt er mit Odysseus’ Floßfahrt von Kalypsos Heimat Ogygia in Parallele. Der Name dieser Insel steht nach Burkert mit Ogygos, dem Urkönig Böotiens, in Verbindung, der ebenfalls mit einer Urflut in Zusammenhang gebracht wird. Diese Deutung findet Unterstützung im böotischen Kabirenheiligtum. Unter den grotesken Figuren findet sich immer wieder “Olyteus” auf dem Floß treibend in einer Sintflut, welche die Inversion der Ordnung bedeutet; mit einem Filz-Pilos bekleidet erscheint er fast als Kabire, der in die Wolle seines Widderopfers gehüllt ist. Nach dem Werwolfschema isst er nämlich vom Menschenopfer – die Blendung des Ogers mit einem feuergehärteten Speer verweist auf uralte Härtetechnik vor der Erfindung des Eisens –, dann flieht er unter dem Widder beziehungsweise im Widderfell, was die Identifizierung mit dem geopferten Tier versinnbildlicht. Neun Jahre muss er auf Irrfahrten, bis er am Apollonfest nach Ithaka zurückkehrt. Die Auflösung der Ordnung an den Skira spiegelt sich in der Sagenversion wider, nach der Troia ebenfalls am 12. Skirophorion erobert wurde. Das troianische Pferd symbolisiert nach Burkert ein uraltes Pferdeopfer als Auflösungsopfer. Das Detail der berühmten Bogenprobe mit dem Schuss durch die zwölf aufgestellten Doppeläxte bringt er in einem anderen Beitrag (Burkert 1973) mit der Angabe zusammen, dass ägyptische Pharaonen des Neuen Reichs den Pfeil durch Kupferplättchen jagten. Anderswo erklärt Burkert (1984c) Hermes im Homerischen Hermeshymnos, der sich am Opfer vergreift, mit dem Modell des Tricksters.

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III.2 Vorsokratik Burkert (1962a; 1962b) bringt zudem den Goes in Verbindung mit den großen weisen Männern der Vorsokratik. Weisheit und Wissenschaft – so auch der Titel des gleichnamigen Buchs (Burkert 1962a) –, die im engen Austausch des Ostens mit dem Westen entwickelt werden, stehen als Wegbereiter der griechischen Philosophie im Zentrum seiner diesbezüglichen Beschäftigung. Gurus und Spezialisten spielen hier eine große Rolle.11 Seit seiner Habilitation fasziniert Burkert die Thematik der Pythagoreer, der frühen Mathematiker, die mit Orphischem und Mysteriensekten in engem Zusammenhang stehen. Bei der Aufbereitung und Analyse der spektakulären Neufunde in diesem Bereich, besonders bei der textlichen Rekonstruktion und Interpretation der orphischen Goldblättchen und des 1962 gefundenen Derveni-Papyrus, hat Burkert (u. a. 1968; 1997b) an vorderster Front mitgewirkt. Auch die Kosmogonie als Gattung möglicher Ritualtexte wurde von Burkert (u. a. 1999b) wiederholt in den Blick genommen. III.3 Platon Bei diesem zentralen Philosophen geht es ihm weniger um die Einzelanalyse von Dialogen, die zum Teil wiederum auf mythisch-rituellen Elementen basieren, als um die Überlieferung, den Erkenntniswert und den Beitrag für die weitere Entwicklung der griechischen Religion, die sich mit Platon zu einer nahezu philosophischen Religion wandelt.12 III.4 Herodot Zu diesem Historiker publiziert Burkert häufiger, da er wohl dessen Verankerung in mythisch-rituellen Schemata erkennt.13 Doch blickt er auch hier mehr auf Details als auf das Ganze. Demaratos’ fabulöse Abstammungsgeschichte (6.61-69), die sich am Amphitryonmythos anlehnt, betrachtet er beispielsweise mehr aus der Perspektive persischer Propaganda als in Erzählzusammenhängen (Burkert 1965). Wie bei mehreren anderen Figuren könnte man auch die Beschreibung des Demaratos deutlicher als 11

Vgl. Albert Henrichs in diesem Band. Vgl. u. a. Burkert 1993a und das eigene Kapitel in Burkert 1977, 452-495, bes. 473-495. 13 Vgl. u. a. Burkert 1965; Burkert 1985b. 12

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Leistung der symbolisierenden Figurenzeichnung beurteilen, die im Dienste der Gesamtaussage steht. Harpagos’ schreckliches Schicksal (1.108119) wird im Kontext der Atreusmähler relativ kurz in Homo Necans behandelt. Implizit spricht Burkert (1972, 125) davon, dass Herodot diese Zeichnung zur Markierung des Übergangs der herrschenden Völker von den Medern zu den Persern einsetzt, auch wenn er dies in der Anbindung an das Werwolfschema so gar nicht explizit macht. Wie gesagt fällt auf, dass Burkert hier meist in Einzelandeutungen stehen bleibt, die zu ausführlicheren Interpretationen auf einer mythisch-rituellen Grundlage anregen. III.5 Tragödie Die Tragödie ist seit dem berühmten Aufsatz zum Opferritual (1966b) die Gattung schlechthin, anhand derer Burkert der Thematik des unsagbaren und brutalen Opfers auf den Grund geht. Das Entsetzen über das schreckliche Geschehen findet sich künstlerisch verarbeitet in diesem ernsten Genre, das nach seiner Interpretation auf eine antike Tradition hin als “Gesang beim Bocksopfer” bzw. “um den Preis eines Bockes” aufgeführt wird.14 Das Opfer ist zudem für das weitere Verständnis der Gattung konstitutiv. Auch hier eignet sich Burkerts Werk erneut deutlich als heuristisches Instrumentarium nicht nur für antike, sondern auch für moderne Tragödien;15 kaum leistet er dies für die Antike in literarischen Analysen selbst. Doch im bereits genannten Artikel (Burkert 1966b, 117-121) kommt er ausnahmsweise auf einige Beispiele zu sprechen. Er geht nach Erwähnung offensichtlicher Fälle wie von Euripides’ Iphigenie in Aulis, Iphigenie auf Tauris, Bakchen, Herakliden, Hekuba, Phoinissen, Erechtheus und Phrixos deutlicher auf die Trachinierinnen des Sophokles, auf Euripides’ Medea und den Agamemnon des Aischylos ein. Nur in einem einzigen späteren Aufsatz (Burkert 1985a) kommt er nochmals darauf zurück und analysiert fast schon im Sinne einer mythisch-rituellen Poetik das Entsühnungsritual in Sophokles’ Oidipus auf Kolonos, erneut die Trachinierinnen mitsamt der “Verkettung von Schuld, Sühne und Rache” (ebd. 85) und dem entscheidenden Stieropfer am Kap Kenaion sowie die Perversion des Opfers in der Antigone. In einem anderen einflussreichen

14 15

Burkert 1966b, dt. Zitat in Burkert 1990a, 14. Vgl. Braungart 2007, bes. 440 zur Heuristik.

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Artikel spricht Burkert (1974) von der “Absurdität der Gewalt” im Orestes, die Euripides seiner Meinung nach offenlegt. Das Motiv der Reinigung wird in konkreten Ritualen von Selinus ausgemacht (Burkert 1999c). Reflexen attischer Feste geht Burkert (1993b) in Euripides’ Iphigenie in Aulis nach, wo er unter anderem das berühmte Apobates-Ritual der Panathenäen nachweist. In anderen Aufsätzen behandelt er zum Teil philologische Fragen wie die Datierung der Elektra des Euripides (Burkert 1990b) und die Bedeutung des Orakels im Oidipus Tyrannos des Sophokles (Burkert 1991; Burkert 2000). Hesiod, die Lyrik im engeren Sinne, die Komödie und das Satyrspiel, die hellenistische Poesie und der griechische Roman sind literaturgeschichtliche Felder, die Burkert nicht ausführlich behandelt, auch wenn er vereinzelt zu diesen Autoren und Gattungen beiläufige Bemerkungen macht. Beim Roman hat es fast den Anschein, als wolle er sich nicht auf das Territorium seines verehrten Vorbilds Reinhold Merkelbach begeben, der den Roman als Mysterientext liest.16 Obwohl sich das Genre trefflich zur Demonstration der Mädchentragödie und ihrer literarischen Verarbeitung eignet, geht Burkert (1996a, 69-79) nur einmal kürzer auf Apuleius und die darin eingelegte Erzählung von Amor und Psyche ein.

IV. Homo Necans, die frühen Aufsätze und das Tragische Homo Necans und die frühen Aufsätze, insbesondere derjenige zum tragischen Opfer (Burkert 1966b), sind in Bezug auf eine Anwendung auf die Literatur wohl am interessantesten. Es geht, wie gesagt, hier um eine größere anthropologische und universalistische Synthese. Literarische Texte fließen wiederholt in ein Konvolut von anderen Quellen ein. Das bis auf die altsteinzeitliche Periode zugreifende Modell einer Auflösung und Wiederherstellung von Ordnung im Opfer ist sehr nützlich, in seiner übergroßen Allgemeinheit allerdings nur in Bezug auf einzelne Riteme und mythische Muster wiederum fruchtbar auf Literatur anwendbar. Hierbei gelingt Burkert ein Paradigmenwechsel im Sinne der Soziologie und 16 Vgl. Merkelbach 1962; Merkelbach 1988; Merkelbach 1995; dazu positiv Burkert 1987b, 66-67. Zu einer Zurückweisung der Mysterienthese vgl. Bierl 2007b, bes. 250, 258-265 und zum Roman s. unten V.6.

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Psychologie von Gesellschaft, Gruppe und Individuum. Höchst produktiv ist die Einführung des Paradigmas der Initiation in Verbindung mit dem Jahresfest und Königsritual. Ursprünglich hätte Homo Necans eigentlich ein Buch über die Initiation werden sollen oder eine allgemeine, heortologische Religionsgeschichte. Herausgekommen ist ein viel eigenwilligeres Buch zum Opfer in der griechischen und menschlichen Kultur, wobei in der Einzelanalyse diese anderen Gesichtspunkte allesamt souverän eingeflochten werden. Nahezu jedes Detail, selbst bestimmte Festabläufe wie die idiosynkratische Rekonstruktion der Anthesterien und der Mysterien von Eleusis, wird dem Schema eines Aufbrechens der Ordnung im Opfer und der darauf folgenden Opferrestitution unterworfen. Heimlicher Akteur hinter allem wird Dionysos,17 der für Burkert interessanterweise in Aufnahme der damaligen communis opinio zu einem urtümlicheren griechischen Zustand hinzutritt und alles in seinem Sinne dramatisch auflädt.18 Dionysos wird für ihn zur später hinzugekommenen Chiffre eines Metaablaufs im Sinne eines Lebensdramas in einer deutlich von Nietzsche und Walter F. Otto geprägten Lesart. Mögliche Widersprüche, die dem pattern entgegenstehen, werden als Umschlagen und gegenseitiges Verschränken von Polaritäten wegdiskutiert. Spannungen zwischen Gegensätzen lösen sich ineinander auf, indem beide Seiten der in der Narration auseinander tretenden Pole im Dionysischen zusammenfallen.19 Besonders relevant wird dies im großen dritten Kapitel “Auflösung und Neujahrsfest”, in dem das Hereinbrechen der Gewalt im Opfer und die Wiederherstellung des Kosmos-Zustandes an Stadtfesten durchgespielt werden. Bei den Agrionia fließen Ritual und Mythos ineinander und sie erhalten gewissermaßen einen dionysischen Anstrich. Dabei werden die Erzählungen der Proitiden und Minyaden in Parallele gesetzt und die Geschichten von Tereus und der Nachtigall, von Antiope und Epopeus sowie von den lemnischen Frauen hinzugestellt. Das Kochen im Kessel assoziiert Burkert mit der berühmten Geschichte des Todes des Dionysosknäblein, der von den Titanen getötet und nach Kochen und Braten verspeist wird. Ebenso steht hinter den Atreusmählern im Dreifußkessel implizit Dionysos, besonders

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Vgl. auch Renate Schlesier in diesem Band. Zum Vordringen des Dionysos vgl. Burkert 1972, 205-206, 208, 218, 235. Zur alten communis opinio vgl. Bierl 1991, 19 mit der Zurückweisung. Dionysos ist ein uralter Polisgott; vgl. Bierl 1991, 45-54 und passim; Isler-Kerényi 2001. 19 Vgl. u. a. Burkert 1972, 108, 153, 196-197. 18

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in Delphi.20 Das Schema erinnert in manchem an strukturalistische Erzählung, bevor Burkert diese Theorie dann in Structure and History (1979) explizit aufgreift.21 Elemente werden variiert, vertauscht und neu kombiniert, Gottheiten als Motivationsfaktoren ausgetauscht. Gewissermaßen als ‘Übergottheit’ bringt Burkert immer wieder den tragischen Dionysos ins Spiel. Das konkrete Tieropfer wird damit grundsätzlich zum Zeichen der Auflösung: Die dionysische Gewalt bricht in die Gesellschaft hinein und schließlich wird über Ritual das Opfer wiederhergestellt und die Ordnung erneut aufgebaut. Das inhärent Theatrale und Dramatische dieser Rituale und der sie begleitenden Erzählungen wird als symbolisches drama gedeutet.22 Daher möchte ich als These formulieren: Der ganze Gedankengang von Homo Necans sowie sein implizites pattern beruht auf dionysischen und tragischen Vorstellungen, die mehr oder minder bewusst einer Nietzscheschen Lesart unterzogen sind. Alles wirkt bei genauerem Hinsehen dramatisch und tragisch ante festum. Außerdem erkennt man in Burkerts nüchterner und doch fast poetischer Darstellung durch die Betonung des Theatralen und Dramatischen ein Bewusstsein über die Performativität des Rituals. Und letztlich beruht das gesamte Konstrukt von Homo Necans auf der theoretischen Grundlage des berühmten Bocksopfer-Aufsatzes, der Tragödie als “Gesang beim Bocksopfer” bzw. “um den Preis eines Bockes” deutet.23 Die attische Tragödie wird damit für Burkert in gewisser Weise nur zu einer kulturellen Sonderleistung, die das dramatisch-tragische Potential des Mythos und Rituals dieses ganzen Komplexes als theatrales Produkt im Kontext eines Festes vor der Polis ausstellt, gewissermaßen eine kulturelle Wucherung eines uralten Schemas in neuen kulturellen Zusammenhängen. Hinter der Verschiebungsarbeit lauert das altsteinzeitliche Substrat, der ursprüngliche Kern des Tieropfers, das dem hochentwickelten attischen Theater wie dem Lebensdrama im Allgemeinen zu Grunde liegt. Das bedeutet in Burkerts Logik: Alle rituellen Gelegenheiten – seien es die eleusinischen Mysterien, die Anthesterien, der Zyklus von den Buphonia über die Skira bis zu den Panathenäen, die Agrionia, oder andere Stadtfeste, an denen Opfer stattfinden – und zahl20

Vgl. Burkert 1972, 140-142; zum zerrissenen Dionysos vgl. Burkert 1972, 249,

257. 21

Vgl. Riu 1999 mit der Rezension von Bierl 2002b. Vgl. u. a. Burkert 1972, 34, 35, 43, 52. 23 Burkert 1966b, dt. Zitat in Burkert 1990a, 14. 22

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lose mythische Reflexe, die den nämlichen Komplex im Öffentlichen wie im Privaten, d. h. im Bruch der Ehe, durchspielen, greifen ein uraltes, im paläolithischen Jägerritual gründendes Muster auf, das in sich ein großes narratives und theatrales Potential birgt. Die Auflösung der Ordnung findet ihre späte göttliche Konkretisation in Dionysos, zu dessen Ehre dann die Tragödie aufgeführt wird. Der Gott des Weins, der Mania, der Frauen, der Maske und des Lebens nach dem Tode ist dafür prädestiniert. Und im Opfer des Bocks, der den Weinstock bedroht, wird die ganze Gewalt gewissermaßen hereingelassen. Das Opfer ist also nach Burkert die eigentliche Basis jeglicher tragischer Produktion. Hinter seiner Behandlung der Proitiden und Minyaden im Homo Necans (Burkert 1972, 189-200) steht implizit das Modell der Euripideischen Bakchen. Denn hier wird ebenfalls von Dionysos eine sich ihm widersetzende Gruppe von Frauen von ihren Webstühlen in die Bergwelt und in den Wahnsinn getrieben. Die Anhängerinnen des Gottes unterteilen sich außerdem in vergleichbarer Weise in positive asiatische Bakchen und negative thebanische Mänaden. Die beiden Gruppen treten auseinander und stehen sich feindlich gegenüber, genauso wie Dionysos seinem Alter Ego Pentheus. Die Verfolgung wie auch das grausame Opfer am Widersacher, der damit ein bakchisches Ritual empfängt, gehören in der Logik Burkerts und anderer zu der für Dionysos charakteristischen Verschränkung gegenstrebig verschränkter Polaritäten. In der Zusammensetzung des zerrissenen Leichnams, einer Szene, die leider nur in einer Textlücke über den byzantinischen Christus patiens rekonstruiert werden kann, hätten wir demnach die Restitution des zum Tieropfer verschobenen Menschenopfers. Auch die Geschichte der Antiope wird dann erst in der Euripideischen Fassung zu einem dionysischen Drama des Lebens angesichts des Todes und der Gewalt.24 Hinter diesem impliziten Dionysos-Drama steht ein Gewebe von Ritualen und Mythen, die aufeinander bezogen bleiben. Das Opfer ist demnach für Burkert das Metaritual schlechthin, das Erzählungen und die Tragödie generiert. Daneben stehen die anderen Paradigmen, die Initiation, das Jahresfest zu Neujahr, das Königsritual, das Ausnahmefest und das Pharmakosritual. Lediglich vom Vegetationsfest will Burkert nichts wissen. Eingebettet sind der Agon, der im Todeskampf und im Wettkampf nach der Wiederherstellung seinen Ausgang hat, die Jagd in umschlagenden 24

Burkert 1972, 207-209.

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Bildern des Jägers, der zum Gejagten wird, Krieg, Klage, ‘Sexualisierung’, Mänadentum, Mysterien, Orphisches, die Aktaionsage und Zerreißungsmotive, sowie die Trennung der Geschlechter und ihre Wiederzusammenführung. Wir werden sehen, wie andere Forscher nach Burkert diese Übertragung auf die literarische Gattung der Tragödie, insbesondere auf die Bakchen, vollzogen. Nach dem Tragödienbeitrag (Burkert 1966b, 117-121) nimmt Burkert außer in einem weiteren Aufsatz (Burkert 1985a) keine weiteren Applikationen auf Tragödien und andere literarische Texte mehr vor. Vielleicht liegt der Grund darin, dass er einsieht, dass der Transfer auf die Literatur mit dem Opfer allein nur schwer funktioniert. Zudem fehlen ihm verständlicherweise noch die literaturwissenschaftlichen Kategorien, um solche Reflexe des religiösen Hintergrunds adäquat auszudrücken. In beiden Artikeln benutzt er die Opferthematik meist nur als Metapher und nicht im Sinne einer kreativen mythisch-rituellen Poetik. Mit Sicherheit geht es Burkert gar nicht um eine solche Übertragung. Oft bleibt er nur im Impliziten. Damit liefert er wohl, ohne es zu wollen, ein heuristisches Instrumentarium für die Interpretation der ihm am Herzen liegenden griechischen Literatur.

V. Burkerts Erkenntnisse als Ausgangspunkt für die Analyse einer mythisch-rituellen Poetik in der griechischen Literatur Burkert gibt entscheidende Anstöße, griechische Literatur auf der Grundlage eines mythisch-rituellen Substrats ganz anders zu lesen. Für diese Charakteristik der Texte prägte ich mit anderen den Begriff einer mythisch-rituellen Poetik.25 Entscheidend ist, dass griechische Autoren in Variation und Kombination einzelne Elemente von Ritualsequenzen und mythischen Erzählungen für ihre poietische Komposition zusammensetzen können. In einer solchen spezifischen Ästhetik entsteht ein freies Spiel von interrituellen und intertextuellen Bezügen.26 Vor allem wird das per-

25 Vgl. Yatromanolakis/Roilos 2003; Yatromanolakis/Roilos 2004; Bierl 2007a; Bierl/Lämmle/Wesselmann 2007a; Bierl/Lämmle/Wesselmann 2007b; zur Germanistik vgl. Braungart 1996; Braungart 2007. 26 Bierl 2001; Bierl 2007a; Bierl 2007b; Auffarth 2007; Bierl 2009a.

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formative Energiepotential, das diesen Elementen eignet, für den Aufbau effektiver und mitreißender Handlung eingesetzt. In einem solchen Konzept ist es, wie gesehen, essentiell, dass man nicht, wie dies die Cambridge Ritualists taten, nur ein einziges pattern anlegt. Burkert ist diesbezüglich Erbe dieser Schule, indem er in Homo Necans selbst nur ein solches Muster konstruiert, das er in altsteinzeitlichen Uranfängen verortet. Und vielleicht vermeidet er auch wegen der diesbezüglichen Kritik an der myth-and-ritual-school eine konsequente Anwendung auf die Literatur. Eine solche literarische Applikation geht einher mit einer in der Religionswissenschaft sich verbreitenden Tendenz, eine polyparadigmatische Interpretation an bestimmte Feste und Riten anzulegen.27 Auch hier sind Burkerts frühe Aufsätze und Homo Necans bereits trotz des einen synthetischen pattern richtungsweisend. Zudem sind Burkerts Einzelbeobachtungen, die er zum Teil aus der Literatur als Quelle ableitet, so reichhaltig, dass diese umgekehrt auch im Sinne einer mythisch-rituellen Poetik fruchtbar gemacht werden können. In der Folge kann ich nur einige Beispiele geben, wie in den letzten fast vier Jahrzehnten nach Homo Necans solche Übertragung geschah. Gerade auch aus Burkerts Schülerkreis sind in diesem Zusammenhang Eveline Krummen, Laura Gemelli Marciano und Christoph Riedweg zu nennen. V.1 Homerisches Epos Christoph Auffarth (1991) wendet das Schema des Jahresfests kombiniert mit dem Königsritual, der alle neunzehn Jahre rituell begangenen temporären Absetzung und Wiedereinsetzung des Herrschers, auf der Grundlage altorientalischer Vorbilder auf Homers Odyssee an und zeigt, wie der Zustand der Marginalität als verkehrte Welt dem experimentellen Durchspielen alternativer Möglichkeiten dienen kann. Gleichzeitig sieht er bei Telemach und Odysseus das Initiationsschema in Form einer Reaktualisierung ihres Übergangsstatus am Werk. Dabei identifiziert er die Anthesterien als Rahmenfest und geht von einer partiellen Überlagerung von Odysseus mit Dionysos aus. Apollon spielt als Gott der Initiation in seinem Jahresfest für die Wiedereingliederung in Ithaka eine entscheidende Rolle.28

27 28

Vgl. Versnel 1993. Zu Homer vgl. u. a. Forscher wie Papadopoulou-Belmehdi 1994; Cook 1995.

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V.2 Lyrik und Philosophie Eveline Krummen oder unter anderen schon früher Greg Nagy übertrugen den Ansatz im Bereich der Lyrik auf Pindar.29 Im Falle der Vorsokratik bezieht man sich bei der Suche nach ǰƲƸƣơ und ƣȜƵơƣƫ, wie auf der Grundlage von Burkert (1969) Peter Kingsley und die neuere Forschung zeigen, auf die Denk- und Verstehensfunktion des vorliegenden Mythos sowie zum Teil auf in der Orphik vorhandene mythisch-religiöse Ausdrucksformen und Wege der Reflexion.30 Mysterienkulte bestimmen vor allem die Denk- und Darstellungsweise von Parmenides und Empedokles.31 Desgleichen ist Heraklit von orphischen Einweihungsvorstellungen nicht unberührt.32 Platon setzt bekanntlich an zahlreichen Stellen Mythen ein und schafft zur Verständigung in dichterischem Verfahren neue Mythen.33 In einigen Dialogen, vor allem im Symposion, Phaidros und Phaidon, kann man nachweisen, wie die Mysterienterminologie die narrative Struktur prägt.34 V.3 Geschichtsschreibung Im Bereich der frühen griechischen Geschichtserzählung werden neuerdings die Analogien von Mythos, Ritual und Geschichte deutlicher erkannt. In der Suche nach Ursachen und Anfängen tritt, wo man Leerstellen zu füllen hat, die mythische Fiktion ein, die sich schließlich von Aitiologien löst und produktiv Erzählung fortspinnt. In freier Anverwandlung werden solche Elemente immer neu variiert, so dass mythisch-rituelle Bausteine auch die Historiografie bestimmen. Mythos und Historie greifen 29

Vgl. u. a. Nagy 1990, bes. 116-135; Krummen 1990; zu Sappho vgl. u. a. Bierl 2003; Yatromanolakis 2003; Yatromanolakis 2007; Nagy 2007. 30 Vgl. u. a. Kingsley 1995; Riedweg 1995; Cerri 1999; Morgan 2000, bes. 46-88; Kingsley 2000; Kingsley 2003; Bierl (in Vorbereitung); Gemelli Marciano 2007; Gemelli Marciano 2008. 31 Zu Empedokles vgl. u. a. Riedweg 1995; Kingsley 1995; Bierl (in Vorbereitung); zu Parmenides vgl. nach Burkert 1969 u. a. Kingsley 2000; Kingsley 2003; Gemelli Marciano 2008. 32 Vgl. Seaford 1986, 14-20; Schefer 2000 (mit älterer Literatur 46 Anm. 1), die Heraklits Fragmente allerdings in überzogener Weise als “echten Mysterienlogos” (73) deutet. Vgl. nun Gemelli Marciano 2009. 33 Vgl. u. a. Murray 1999; Janka/Schäfer 2002. 34 Vgl. Riedweg 1987, 1-69, der für einen metaphorischen Bezug plädiert. Zur strukturellen Verwendung von athenischem Fest- und Kultmaterial bei Platon vgl. auch Krummen 2002; Krummen 2007.

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symbolisch auf ein ähnliches kulturell-symbolisches Ausdrucksreservoir zurück und zielen auf den nämlichen Effekt.35 Gerade bei Herodot erkennt man zunehmend, dass er in besonderer Weise mit mythisch-rituellen Erzählmustern operiert. Das Burkertsche Atreusmahl im Kontext des Werwolfkomplexes wird beispielsweise im Fall des Harpagos (1.108-119) eingesetzt, um den Übergang der Dynastien zu markieren. Überhaupt scheint Herodot mit Vorliebe Geschichten des rite de passage als erzähltechnische Untermalung für Umbrüche und Wandel einzusetzen. Adrastos (1.24-45) erlebt beispielsweise in eigenartiger Montage eine Art ‘Knabentragödie’. Und die Geschichte des jungen Kyros (1.107-130) und die Aussetzungsgeschichte des Kypselos (5.92) dienen in bewusster Aufnahme von mythischen und rituellen Folien und Strukturen erneut der narrativen Betonung entscheidender Schlüsselstellen. Episoden des Wahnsinns und eine diesbezüglich spezifisch dionysische Zeichnung, die durch das Zusammenfallen und die wechselseitige Verschränkung von Polaritäten gekennzeichnet ist, finden sich bei Kambyses im dritten Buch und bei dem Spartanerkönig Kleomenes (6.75-84). Orphisch-Dionysisches sowie Initiationsmuster kann man im grausamen Ende von Anacharsis und Skyles erkennen (4.76-80). An zahlreichen Stellen wird deutlich, dass Herodot selten nur mit einem pattern operiert, sondern in polyparadigmatischer Weise Initiation, rite de passage, Neujahr, kosmisches Jahresfest, Königsritual, Opfer und Mysterien vermengt und unter Zugabe anderer paralleler mythischer Erzähltraditionen aufbereitet.36 V.4 Tragödie Im Bereich der Tragödie hat Burkert (1966b, 117-121; 1985a) den Schritt zur literarischen Interpretation gemacht. Sein anthropologisches Ursprungsmodell ist inzwischen auf vielerlei Art und Weise ergänzt worden. Burkert sieht das Opfermotiv in seinen Anwendungsversuchen lediglich

35 Dazu Alexiou 2002, 156-157. Allgemein dazu vgl. Calame 2003; zu Herodot vgl. u. a. Calame 2000, 145-167; Stadter 2004; Chiasson 2005; Wesselmann 2007; zu Thukydides, bei dem man dies aufgrund seiner vermeintlich objektiven Geschichtsschreibung am wenigsten erwartet hätte, vgl. schon Cornford 1907. 36 Unter anderem in Aufnahme Burkertscher Interpretationsschlüssel wird Katharina Wesselmann unter meiner Betreuung zu diesem Aspekt demnächst eine vielversprechende Dissertation einreichen, die sie dann auch bald in Buchform vorlegen wird.

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als Metapher und erkennt noch nicht das narrative und performative Potential für das Theaterspiel.37 Helen Foley hat fast zwanzig Jahre später diverse religionswissenschaftliche Opfer-Ansätze verbunden und die Eigengesetzlichkeit der Literatur, ihre Mittelbarkeit und ihr Abgelöstsein von der Realität, berücksichtigt.38 Schon zur gleichen Zeit wie Burkert hat Froma Zeitlin (1965; 1966) die Verwendung des Opfer-Motivs in der Tragödie als Perversion des Rituals analysiert. Ferner hat man nach Burkert vor allem den strukturbestimmenden Aspekt des Opfers in der literarischen Verarbeitung herausgearbeitet.39 Pierre Vidal-Naquet (1969) assoziiert fast zeitgleich mit Burkert (1966b; 1972, bes. 8-96) die Motive von Jagd und Opfer. Die Sündenbocktheorie in Verbindung mit dem Thargelien-Ritual des ijĮȡȝĮțȩȢ ist nach der Girardschen Analyse ein weiterer Schwerpunkt der Opferanalyse in der Tragödie.40 In der attischen Tragödie wird, wie nach Zeitlin nun beispielsweise Albert Henrichs (2000; 2004; 2006) und John Gibert (2003) zeigen, in der übersteigerten Verkehrung das Gewaltpotential des Tieropfers dramaturgisch umgesetzt. Mord und Totschlag der Figuren werden dabei mit Opferterminologie signalhaft aufgeladen und so performativ ausgespielt. Die Tragödie soll wie die Komödie aus dem Kult des Dionysos hervorgegangen sein und besitzt auf institutioneller Ebene eine enge Verbindung mit dieser Gottheit, die, wie betont wurde, für Burkert zur heimlichen Hauptfigur avanciert. Daher hat man dann bald jenseits der leidigen Frage des Tragödienursprungs seine besondere Funktion in den tragischen Texten selbst zu untersuchen begonnen.41 Manche sehen den Zusammenhang mit der Tragödie ähnlich wie Burkert in einer allgemeinen anthropologischen Beziehung, gerade auch in der Auflösung und Wiederherstellung der Ordnung.42 In Verbindung mit der modernen Literaturwissenschaft erkannte man in Dionysos auch eine metadramatische Dimension.43 37

Vgl. auch Susanne Gödde in diesem Band. Vgl. die gute Einleitung von Foley 1985, bes. 17-64. 39 Zum strukturbestimmenden Aspekt vgl. u. a. Pucci 1977; Seidensticker 1979; Henrichs 2004. 40 Vgl. Vernant 1972, 114-131, bes. 114-119 (in S. OT); Segal 1982, 36-54 (in E. Ba.). 41 Vgl. u. a. Bierl 1991; Aronen 1992. 42 U. a. Brelich 1975; Aronen 1992; Bierl 1991; des Bouvrie 1993. 43 Segal 1982, 215-271, 369-378; Bierl 1991, 111-218. 38

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Nach Burkert war zudem selbst eine ritualistische Lektüre der Tragödie in den Spuren der Cambridge Ritualists wieder möglich. Richard Seaford ist einer der wichtigsten Vertreter einer solchen Richtung. Er postuliert für die Tragödie im Vorkommen des Dionysos und des Dionysischen ein einheitliches Handlungsmuster politisch-gesellschaftlicher Provenienz, das die Zerstörung des königlichen Haushalts und die nachfolgende Herausbildung einer kollektivistischen Polisordnung zum Inhalt hat.44 Zudem zieht er besonders die Mysterien als Handlungssubstrat der Tragödie heran. Die Euripideischen Bakchen werden in solchen Konstrukten, wie es unbemerkt bei Burkert geschah, zum Schlüsseltext, aus dem man in einem Zirkelschluss die Theorie ableitet. Seaford deutet dementsprechend die Bakchen, die angeblich den Gattungsursprung aus bakchischen Einweihungsriten reflektieren, als Dramatisierung des Aition von thebanischen Dionysosweihen. Neben den in Pubertätsweihen wurzelnden Mysterien fließen laut Seaford in die Komposition der Bakchen unter anderem Jagdund Opferbräuche, Klage-, Trauer- und Hochzeitsriten, das Pharmakosritual und Vegetationsbräuche ein.45 Auf andere Riten neben dem für die Tragödie konstitutiven Opfer geht Burkert kaum ein, bespricht diese allgemeinen Riten freilich in seiner Griechischen Religion (Burkert 1977) auf dem neuesten Stand der Religionswissenschaft. Zunehmend erkennt man, dass die Tragödiendichter unter anderem Hochzeitsriten und ihre Verbindung mit Todeserfahrungen, ferner Hikesie- und Supplikationsszenen, Reinigungen, Segnungen, Beschwörungen, Verfluchungen, Jagdriten, Heilungen, Gebet und Gebetsreihen, Eide, magische Binderituale, Bestattungsbräuche, Klagen und Threnoi, Tanz, Agone und Prozessionen für ihre Texte transformieren.46 Das tragische Spiel, das selbst im rituellen Kontext aufgeführt wird, integriert diese Riten meist in Chorpartien als direkt am Körper ausagierte lebensweltliche Handlung, wobei performativ gewissermaßen ‘Ritual im Ritual’ entsteht.47 44

Seaford 1993; Seaford 1994; Seaford 1996. Seaford 1981; Seaford 1994; Seaford 1996. 46 Vgl. den Überblick mit Belegen bei Bierl 2007a, 30-33. Zu Prozessionen vgl. Bierl 2010a. 47 Vgl. u. a. die vorbildlichen Studien von Wolff 1992 und Krummen 1998. Einzelstudien, wie die von mir betreute Dissertation von Valentina Luppi zu Euripides’ Helena werden in der Zukunft das Zusammenspiel von einzelnen Riten und Paradigmen noch deutlicher aufweisen. 45

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V.5 Komödie – der neue Paradefall Aufgrund der Konzentration auf das Ernste und Erhabene verzichtet Burkert ganz darauf, seine Gedanken auf die Komödie oder das Satyrspiel anzuwenden.48 Freilich wirkt er durch die zahlreichen Verweise auf die Alte Komödie, die häufig als religionswissenschaftlicher Quellenbeleg in Homo Necans zitiert wird, erneut als Inspirationsquelle für spätere Arbeiten. Angus Bowie (1993), Christoph Auffarth (1994; 1999; 2004; 2007) und ich selbst (Bierl 1994; 2001; 2004) versuchten folglich Aristophanes als eine Art Musterfall einer mythisch-rituellen Poetik einzuführen. Gerade bei der Beschreibung des Opferverlaufs rekurriert Burkert (1972, 10-14) auf eine Szene im Aristophanischen Frieden. Dionysos als Gott des Theaters ist selbstverständlich auch in der Komödie wirksam. Das dunkle Szenario Burkerts hat selbst für diese heitere Gattung unterbewusst weitergewirkt. Xavier Riu (1999) leitet dementsprechend das Dionysische in der Komödie aus einer strukturalistisch-soziologischen Bakchen-Lektüre auf den Spuren der Pariser Schule ab, die trotz aller Gegensätze zu Burkert sich mit ihm in einer von Nietzsche beeinflussten lebensdramatischen Deutung trifft, und überblendet es mit dem alten Schema Cornfords (1914).49 In der Aufnahme des Dionysos als Prinzip des Anderen in die Polis wird nach Riu die Auflösung der Ordnung ganz im Sinne Burkerts durchgespielt. Das Dionysische ist allerdings nicht nur Chiffre für Gewalt, Ekstase, Sparagmos, Opfer und Brutalität, sondern beinhaltet auch positive Werte, insbesondere die Einheit der Polis in Gemeinschaft stiftender Festfreude.50 Gerade im Satyrspiel und in der Komödie ist Dionysos als Zeichen des liminalen Anderen zudem Ausdrucksmittel der ebenso das dionysische Rahmenritual beherrschenden Atmosphäre von heiterer Ausgelassenheit in Tanz und Spiel sowie von berauschter Stimmung bei Wein. Das für Burkert so zentrale Opfer und Störungen im kanonischen Ablauf des Rituals bestimmen durchaus auch die Struktur der Alten Komödie. Ich denke dabei beispielsweise an die Acharner, den Frieden und

48 Zum Satyrspiel vgl. Seaford 1984; Bierl 2006; Lämmle 2007 und die Dissertation mit dem Titel “Poetik des Satyrspiels”, die Rebecca Lämmle unter meiner Betreuung in Basel abgeschlossen hat und demnächst in Buchform erscheint. 49 Zu Dionysos in den Fröschen vgl. Bierl 1991, 27-44; Lada-Richards 1999. 50 Vgl. Bierl 1991, bes. 18-20, 45-110, bes. 49-54; Isler-Kerényi 2001.

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die Vögel des Aristophanes.51 Durch verkehrte Gründungsopfer kann die Inversion der Ordnung ausgedrückt werden. Umgekehrt kann der Vollzug eines Opfers gegen Ende einer Komödie als Zeichen der Rückkehr zur Ordnung gelesen werden.52 Neuerdings wendet man sich zunehmend von den vorherrschenden dunklen Szenarien der Gewalt, Angst und Schuld ab, die Burkerts Opferanalyse bestimmen, und bewertet auch auf der Grundlage ikonografischer Darstellungen das Opfer im Festkontext positiver. Dabei geraten die ausgelassene Freude am Fleischkonsum, das Lachen und die komischen Elemente in den Blick, die häufig auf Vasenbildern zum Ausdruck kommen.53 Dies hat vor allem Auswirkungen auf die Interpretation der Komödie, die sich insbesondere durch diese heiteren Aspekte des Dionysosfestes auszeichnet. Die Alte Komödie ist freilich nicht nur von Heiterkeit bestimmt, sondern das in Homo Necans entwickelte Modell der dionysisch gefärbten Auflösung und Wiederherstellung der Ordnung erweist sich auch für diese Gattung als ein zentrales Konzept. Die grundsätzliche Andersartigkeit der dort inszenierten Gegenwelten ist nicht notwendigerweise auf das dionysische Rahmenritual zurückzuführen, sondern lässt sich allgemeiner mit der Festlichkeit, dem Spiel, der verkehrten Welt und mit Ausnahmeritualen der Lizenz erklären.54 Im Hintergrund stehen ethnologische Vorstellungen von brauchtümlichen Festen und theatralen Formen, in denen die Gesellschaft kurzfristig die etablierte Ordnung verlässt und in Phantasien eine groteske Anderwelt im Rückfall auf Atavismen experimentell durchspielt, um dadurch im Kontrast die bestehenden Werte und Normen letztendlich zu bestätigen.55 Mittels eines Sturzes in primordiale Kulturstufen und urtümliche Vorstellungen wird ein nicht auf das Reale bezogenes groteskes Leben der Dystopie und Utopie im Funktionellen inszeniert.56 Solche karnevalesken Formen der verkehrten Welt kann man in der Antike am besten vom pragmatischen Bezug auf bestimmte Ausnahmefeste ableiten. Die Kennzeichen der temporären Auflösung der Ordnung (u. a. Tod, Obszönität, Wildheit, tierisches Verhalten, Tanz, Utopie, Alt-Neu, Absetzung der Götter, Sklavenfreiheit, Gewalt) lassen sich mit 51 52 53 54 55 56

Vgl. auch Sfyroeras 2004. Vgl. u. a. Bowie 1993, Index s. v.; Riu 1999, Index s. v. Vgl. u. a. Peirce 1993. Hoffman 1989; Farioli 2001. Vgl. Bierl 2002a. Vgl. Bierl 2002a; Bierl 2004 mit Verweis auf Münz 1998, bes. 99-101, 282.

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den drei großen religionswissenschaftlichen Paradigmen (Initiation, Neujahr und Fruchtbarkeit) erklären. Der dionysische Zusammenhang wurde zum Teil heortologisch durch eine referentielle Verbindung mit den in vielen Details exzeptionellen Anthesterien gesucht.57 Derartige Bezüge können selbstverständlich von der Rahmung her auch den Inhalt des Spiels als ‘Mythos’ beeinflussen. Die Anthesterien, die in Burkerts Homo Necans (1972, 236-269) einen so herausgehobenen Platz haben, wirken dann in zahlreichen Einzelbezügen auf den Plot zurück. Der Rückfall in die phantastische Anderwelt wird dann als Rückkehr der Anderen, der Toten und Barbaren, der grotesken Masken und der schrecklichen Weiber ausgespielt. Bowie (1993), Auffarth (1994; 1999; 2004; 2007) und ich selbst (Bierl 1994; 2001) gehen auf die mythisch-rituelle Durchdringung ein, wobei Burkert immer wieder Anstöße gibt. Bowie und ich greifen dabei vor allem wiederholt auf das in Aufnahme von Jane Harrison und Angelo Brelich von Burkert weit vertretene Paradigma der Initiation zurück. In der Literatur wird dieser Motivkomplex häufig durch die Reaktualisierung und die Umkehrung des Initiationsablaufs verarbeitet.58 Am Beispiel der Thesmophoriazusen habe ich selbst (Bierl 2001, 105-299) ausführlich gezeigt, wie die Frauen am Thesmophorienfest konzeptionell den Status der jungen Mädchen an der Schwelle zur Frau wiederholen und Aristophanes auf diesem Schema sein komplexes Stück aufbaut. Burkerts Aufsatz (1970) über das Jahresfest auf Lemnos und seine entsprechenden Ausführungen in Homo Necans (1972, 212-218) haben zudem die Deutung der Lysistrate und der Ritter des Aristophanes inspiriert;59 die Ekklesiazusen werden ferner auf Anregung Burkerts (1972, 164) in Verbindung mit den Skiren und Panathenäen gesehen, welche den Festzyklus des attischen Jahresübergangs mitbestimmen.60 Anhand des Konzepts einer mythisch-rituellen Poetik erkennt man, dass Komödienautoren ganze Abläufe mitsamt Einzelritualen zur spielerischen Konstruktion von Handlungsstrukturen verwenden, wie beispielsweise den Festrhythmus von den Skiren bis zu den Panathenäen, der von Burkert (1972, 153-177) so deutlich als Neujahrskontext herausgearbeitet 57

Vgl. u. a. Auffarth 1994; Bierl 1994. Zur Reaktualisierung vgl. Bierl 2001, u. a. 267, 276-287, 313, 318 Anm. 48, 341 Anm. 105; zur Umkehrung vgl. Bowie 1993, 78-101, 102-112. 59 Zur Lysistrate vgl. Martin 1987; Bowie 1993, 178-204; zu den Rittern vgl. Bowie 1993, 66-74. 60 Vgl. Bowie 1993, 254-267. Vgl. auch Auffarth 2004. 58

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wurde.61 Gerade das dort vorkommende Arrhephoren-Ritual sowie andere repräsentative weibliche Initiationskulte spielen für die Interpretation der Lysistrate eine wichtige Rolle, in der sich erneut die älteren Frauen in den Status der Mädchen vor der Hochzeit zurückversetzen. Burkerts Aufsatz Kekropidensage und Arrhephoria (1966a) erweist sich mit dem geschilderten Szenario am Nordhang der Akropolis als wahre Fundgrube für eine mythisch-rituelle Deutung der Lysistrate. Für die attische Komödie sind besonders Kulte der eponymen Polisgöttin Athene von Bedeutung, ebenso Kulte der Artemis und des Dionysos. Erwartungsgemäß sind Elemente der dionysischen Feste, wie zum Beispiel der Anthesterien, Lenäen, der Großen und der Ländlichen Dionysien, die in die Handlung projiziert werden, häufig spielbestimmend. Spezifische Jahres-, Einweihungs- und Fruchtbarkeitsfeste können ebenso für die Plotgestaltung herangezogen werden. Hier ist besonders an die Mysterienfeiern in Eleusis, die Thesmophorien, das Adonisfest oder die Panathenäen zu denken. Zudem können strukturelle Zusammenhänge mit Mysterienkulten, insbesondere mit Eleusis und orphisch-bakchischen Einweihungskulten, um deren Erforschung sich Burkert so verdient gemacht hat, in das Gewebe der Komödie einfließen, wie es z. B. im Fall der Frösche geschieht.62 Selbst in der politischen Komödie kann der Mythos – beispielsweise die Sage der Sukzession der Göttergeschlechter, der Gigantomachie oder der Herrschaft der Amazonen – eine konstitutive Funktion erhalten, wodurch der Rückfall in die Anderwelt unterstrichen wird.63 Für die Vögel spielt natürlich der Mythos von Tereus-Epops mitsamt seinem von Burkert (1972, 201-207) herausgehobenen Gewaltpotential eine große Rolle. Das Fruchtbarkeitsparadigma ist seit den 1960er Jahren vor allem unter dem einflussreichen Diktum Burkerts fast ganz außer Mode gekommen, obwohl der bäuerliche Hintergrund als ökonomische Basis gerade in der archaischen und klassischen Zeit die Lebenswelt Athens weitgehend bestimmt. Doch verspricht eine Rückkehr zu Wilhelm Mannhardt, James Frazer oder Francis Cornford für die Interpretation der Alten Komödie einige Ergebnisse,64 selbstverständlich nur auf dem Niveau heutiger 61 62

Zur Lysistrate vgl. Bierl 2007d. Vgl. Lada-Richards 1999, bes. 45-122; Riu 1999, bes. 92-94, 102-103, 136-139,

141. 63 64

Vgl. Bowie 1993; bes. zu den Vögeln vgl. Hofmann 1976; Zannini Quirini 1987. Vgl. Bierl 2007a, 29-30.

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Methoden. Aristophanes bietet sich erneut für die Anwendung des agrikulturellen Interpretationsmodells besonders an – auch in Verbindung mit den Mysterien von Eleusis –, zumal viele seiner Komödien voll von Fruchtbarkeitsmotiven sind. Ich denke vor allem an die Acharner, den Frieden, die Frösche und den Plutos. In diesem Zusammenhang ist das Anodos-Schema hervorzuheben, also die Hervorholung einer unterirdischen Göttin als symbolischer Ausdruck einer nahezu utopischen Rückkehr zur Fruchtbarkeit, zu Reichtum und Gesundheit.65 Die von Karl Meuli, Eric Dodds und Burkert angestoßenen Überlegungen zum griechischen Schamanismus sind in der Religionswissenschaft und in der Verbindung von Literatur und Religion wichtig geworden, wobei man bisher den Begriff meist auf charismatische Weise und auf Vorsokratiker anwandte.66 Trotz skeptischer Stimmen67 ließ sich Burkert hier kaum beirren und betonte weiterhin die Gültigkeit des anthropologischen Konzepts, ganz gleich, ob es wirklich einen institutionellpragmatischen Bezug zu solchen Figuren gab oder nicht. Richtigerweise bezeichnet er den griechischen Schamanen mit dem griechischen Terminus ƥƽƩƳ (Burkert 1962b). Die Forschungen, die auch nach Burkert ‘schamanistisches’ Gedankengut in der archaischen Dichtung aufdecken, zielen weiterhin eher auf die Erklärung des Ursprungs als darauf, die besonderen Strukturprinzipien und die generische Funktion von Texten damit zu verdeutlichen. Bowie (1993, 112-124) deutet auf Anregung Burkerts die Gestalt des vorsokratisch-sophistischen Weisen Sokrates in Aristophanes’ Wolken als ƥƽƩƳ.68 Ich selbst (Bierl 2007c) ging hingegen der Frage nach, wie sich anhand ‘schamanistisch’ gezeichneter Figuren im attischen Theater ein Spiel mit dem Anderen und dem Selbst einstellen kann. Damit verstehe ich ‘Schamanismus’ in der Komödie als theatrales Gedankenexperiment. Die Alte Komödie greift, so meine These, im komischen Rückfall in ein vorzivilisatorisches Stadium auf dieses uralte 65 Zum Motiv: in den Thesmophoriazusen vgl. Bierl 2001, 139 mit Anm. 85; in den Fröschen vgl. Lada-Richards 1999, 81-84, 106-108, 114; im Frieden vgl. Bowie 1993, 143-146. 66 Vgl. Meuli 1935; Dodds 1951, 135-178; Burkert 1962a, 98-142, 324-325 (zu frühen Wanderpriestern, Sehern, Dichtern und Philosophen wie z. B. Pythagoras, Abaris, Aristeas, Epimenides, Orpheus, Parmenides, Empedokles); West 1983, 3-7, 49, 143-150 (bes. Orpheus); Kingsley 1995 (zu Empedokles). 67 Vgl. u. a. Bremmer 1983, 25-48, 52; Graf 1987; Zhmud 1997, 107-116. 68 Vgl. auch Guidorizzi 1996, 220, 224, 229 und zum ‘Schamanismus’ der initiatorischen Riten im Umfeld der Denkerstube des Sokrates 199, 206, 222, 229, 235.

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Konzept zurück, das gleichzeitig als Substrat in der Volkskultur und im einfachen Brauchtum weiterlebt. Die ‘Reminiszenz’ solcher atavistischer Verhältnisse auf der komischen Bühne stellt demnach ein artifizielles poetisches Konstrukt dar, womit das Barbarische der magoi in die Polis hereingeholt wird, um ihr komplementäre Welten zu eröffnen. Im Vergleich zum Schamanismus stößt die von nordamerikanischen Mythen stammende Vorstellung des Tricksters in der Gräzistik auf relativ große Akzeptanz. Neben Versuchen Burkerts (1984c, 840-845), der das Konzept auf Hermes und Prometheus in der literarischen Darstellung anwandte, findet es im Bereich der Komödien-Forschung breite Zustimmung. Wie Hermes, der beispielsweise im Frieden und im Plutos dementsprechend agiert, parallelisiert man insgesamt den komischen Helden in seiner grotesken Körperlichkeit gerne mit dem Trickster.69 V.6 Roman Burkert ist wohl immer noch von der Mysteriendeutung seines Mentors Reinhold Merkelbach überzeugt.70 Einen eigenen Akzent für diese Gattung kann er setzen, indem er Apuleius’ Psyche in der berühmten Geschichte von Amor und Psyche ausführlich mit seinem Konzept der “Mädchentragödie” in Beziehung rückt.71 In eigenen Beiträgen (Bierl 2007b; Bierl 2010b) gehe ich einem bio-rituellen Ansatz der Gattung auf der Grundlage einer initiatorischen Deutung mit literaturwissenschaftlichen Methoden nach. Auch der antike Roman kann deutlich in einer mythischrituellen Poetik interpretiert werden, wobei besonders die Initiation in Form der Pubertätskrise der beiden blutjungen Helden in den Blick genommen wird. Initiatorische Riten und der Roman, der wiederum auf mündlich überlieferten traditionellen Wundererzählungen basiert, thematisieren und umspielen den zentral empfundenen Lebenseinschnitt der Hochzeit und die Krise der erwachenden Sexualität. Burkert hat diese Thematik auf eindringliche Weise in seinem Aufsatz Kekropidensage und Arrhephoria (1966a) gezeigt. Diese Zusammenhänge werden auch im Roman häufig aus der Perspektive des jungen Mädchens beschrieben. Romane, volkstümliche Geschichten und entsprechende Riten verarbeiten diese Themen in traumartigen Sequenzen in positiver und negativer 69

Vgl. u. a. Brelich 1975, 114-117; Zannini Quirini 1987, 19; Riu 1999, 3, 244-245. Vgl. Burkert 1987b, 66-67. 71 Vgl. Burkert 1996a, 69-79. 70

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Weise. Ängste, Alpträume von monströsen Erscheinungen und Szenarien von Blut und Opfer sind mit euphorischen Phantasien vermengt. Liebe ist insgesamt für die Gattung des Liebesromans konstitutiv. Von Beginn an finden sich die beiden Helden in einer Schlaufe destabilisierender Gedanken und in marginalen Räumen, am Ende steht das Ziel der Hochzeit.72 Hinter den Romanhandlungen und hinter den volkstümlichen Geschichten steht meiner Meinung nach eine Art “biologische Spur”, eine psychoanthropologische Grundlage. Diese bildet also wirklich eine “Mädchentragödie”, freilich weniger im Sinne eines biologisch geprägten Handlungsprogramms, wofür Burkert (1996a, 69-79) plädiert, als vielmehr im Sinne eines losen Clusters von Erzählmotiven, die in freier Variation und Kombination zusammengesetzt werden können.73 Wie beispielsweise Achilleus Tatios schon über den Namen seiner Heldin Leukippe das unsagbare Geschehen einer Mädchentragödie sowie die Auflösung der Ordnung als Schreckensphantasie inszenierte, fast als hätte er die tragisch-dionysische Interpretation Burkerts bereits vor sich liegen, habe ich an anderer Stelle dargestellt.74 Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie der Roman das Szenario von Mythen und damit verbundener Riten für seine Plotgestaltung produktiv verwendet. In einer faszinierenden Passage malt Burkert in Homo Necans (1972, 189-197) die Geschichte der Minyastochter Leukippe in Orchomenos aus, die sich zusammen mit ihren Schwestern Arsippe und Alkathoe zunächst Dionysos widersetzt. Aufgrund der Rache des Gottes zerreißen sie in einer an die Bakchen erinnernden Konstellation gemeinsam Leukippes Sohn Hippasos – schon über den Namen erkennt man den Reflex eines Pferdeopfers. Plutarch (Quaest. Graec. = mor. 299e-f) assoziiert den Mythos mit einem Verfolgungsritual, wobei die ‘Schwarzen’ (ƚưƭƽƧƫƳ), welche die trauernden Gatten der Minyaden verkörpern, die ‘Mörderinnen’ (ȲƭƧʴƣƫ) verfolgen. Zuletzt werden die Frauen in Nachtvögel verwandelt. Manches erinnert an die grausamen Kämpfe zwischen den ägyptischen Räuberbanden um das Mädchen bei Achilleus Tatios. Die Minyaden werden auch bei Burkert mit der weiteren Mädchentragödie der Proitiden parallelisiert. Lysippe entspricht in diesem Falle Leukippe: Das ‘entfesselte Pferd’ tritt mit Iphinoe

72 Vgl. Bierl 2007b, bes. 265-276. Zu Apuleius vgl. Bierl 2009b; Bierl 2010b. Zu einer Biopoetik der Mädchentragödie vgl. auch Michael Neumann in diesem Band. 73 Zu Longos vgl. nun auch Bierl 2009a. 74 Vgl. dazu schon Bierl 2007b, 267-269.

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und Iphianassa auf, mit Mädchen, die an der Grenze zum Frausein mit männlicher Kraft handeln. Unmittelbar vor ihrer Hochzeit werden sie von Hera verfolgt. In totaler Auflösung der Ordnung treiben sie Unzucht in allen erdenklichen Formen. Sie rasen im Wahn nackt durch die Peloponnes, und halten sich in ihrer Geilheit für Kühe. Hera bedeckt ihre Gesichter mit einer weißen Substanz und sie bekommen einen hässlichen Ausschlag. Zudem lässt sie ihnen das Haar ausfallen. Die schrecklichen Weibergruppen bestreuen sich im Ritual oft mit Mehl. Manches erinnert an groteske Masken alter, die Herrschaft kurzzeitig an sich reißender Vetteln im Umfeld der Artemis Orthia. Nach einer anderen Version versagen die Proitiden Dionysos die Ehre. Der ebenfalls dionysische Priester Melampus, der ‘Schwarzfuß’, verfolgt in ekstatischen Tänzen die Rasenden zusammen mit den Epheben der Polis und heilt schließlich die wild gewordenen Frauen. Dafür erhält er ein Proitos-Mädchen zur Frau und wird König. Bei der ungestümen Verfolgung kommt allerdings Iphinoe ums Leben, der zu Ehren die Agrionia eingerichtet werden. Allein über den Namen Leukippe wird also das ganze Spektrum der Initiationsphantasie aufgerufen. Zentral ist die polare Spannung zwischen dem keuschen und dem sexuell-entfesselten Mädchen, das die Ehegöttin Hera beleidigt. Dionysos als alternativer Auslöser der Entwicklungen ist ebenso im Roman des Achilleus Tatios verankert. Die Pole zwischen dem reinen Weiß und dem befleckten Schwarz schlagen ineinander um und sind miteinander verschränkt. Der Heiler Melampus, der ‘Schwarzfuß’ im Bereich des ‘Anderen’, ist sowohl gut als auch schlecht. In tänzerischer Verfolgung versucht er das Mädchen als wildes Fohlen unter das Joch der Ehe zu führen. Damit bringt er den aufgelösten Zustand in die rechte Ordnung. Doch als jagender Mann bedroht er zugleich die Keuschheit des Mädchens. Dies entspricht exakt der Rolle der Männer im Roman. Selbst Kleitophon trachtet zunächst im Roman des Achilleus Tatios ständig danach, sein geliebtes Mädchen sexuell zu bedrohen oder mit anderen Frauen Liebesabenteuer einzugehen, bis es zuletzt zum Happy-End einer Hochzeit mit Leukippe kommt. Kleitophon stellt zudem die weitere Gefährdung ihrer intakten Jungfräulichkeit dar. Das ‘Selbst’ und das ‘Andere’, der griechische Held Kleitophon und die männlichen Dritten, fallen damit partiell zusammen. Die sexuelle Aggressivität des Mannes, die nach der Logik des Liebesromans immer wieder auf andere Figuren verschoben wird, stellt die Gewalt dar, die zur Liebe charakteristischerweise gehört. Doch wie der Heiler Melampus kann der ‘wilde Mann’ Leu-

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kippe von der Mania mit einem Gegengift lösen, in Gestalt des zuletzt in sie verliebten Sklaven des ägyptischen Magiers Gorgias. Leukippe war nämlich durch die ungemischte Dosis des Liebestranks, den Gorgias’ Diener ihr für seinen Herrn eigentlich in gemischter Form mittels des Weingottes Dionysos hätte verabreichen sollen, wie ihr mythisches Modell wahnsinnig und lasziv geworden. In diesem Zustand hat die Heldin sogar ihre Scham entblößt (4.9.2). Gleichzeitig ist sie jedoch eigentlich der Inbegriff der Keuschheit. Diese Haltung nimmt sie darauf in Ägypten an, was durch die Signifikanten des Weißen und Kahlen symbolisiert wird. Sie wird Opfer der Gewalt und Sexualität, die sie zum Teil selbst verkörpert. Das unsagbare Opfer des Mädchens wird durch mehrere grausame Scheintode in Szene gesetzt. Es wird also an diesem Beispiel deutlich, wie im Liebesroman widersprüchlich-paradoxe Signifikantenketten generiert werden, die das Thema der aufkommenden Sexualität und der einschneidenden Krise der Hochzeit aufschieben, umspielen, durcharbeiten sowie die gesellschaftlichen Normen gleichzeitig in Frage stellen und bestätigen. In einer relativ späten Literaturgattung wird eine mythisch-rituelle Poetik in besonderer Weise wirksam, wobei der Komplex der Burkertschen Mädchentragödie sowie nahezu tragisch-dionysisch gezeichnete Szenarien aus dem dritten, mit “Auflösung und Neujahrsfest” betitelten Kapitel von Homo Necans in der spezifischen Verknüpfung mit dem weiblichen Initiationsparadigma für eine literarische Interpretation fruchtbar gemacht werden können.

VI. Würdigung, Geburtstagskolloquia und Zusammenfassung Walter Burkert hat sich als Klassischer Philologe auf dem Gebiet der exemplarischen griechischen Religionswissenschaft vielleicht zum bedeutendsten noch lebenden Geisteswissenschaftler der letzten zwei Generationen entwickelt, vor allem auch deshalb, weil er die Brücke zur Naturwissenschaft schlägt. Wie nur ganz wenige hat er den Dialog zwischen diesen Forscherwelten beflügelt. Vor allem hat er eine ungeheure Wirkung in weiten gebildeten Kreisen erzielt, da seine Studien den Menschen in seinem Fundament zu erklären versuchen. Immer wieder kreisen Burkerts Forschungen um die Fragen der Humanität schlechthin, um die Erklärung und Bewältigung von Gewalt und Krieg. Kaum ein anderer Kultur- und Geisteswissenschaftler hat es zu solchen Auszeichnungen und zu so gro-

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ßer öffentlicher Anerkennung gebracht. Überall wird er zitiert, seine Erkenntnisse gehen ein in Theaterprogramme, in künstlerische Produktionen und Performances. Im Blick auf die ihm gewidmete Festschrift zum fünfundsechzigsten Geburtstag mit dem Titel Ansichten griechischer Rituale (Graf 1998) wird das faszinierende Spektrum seiner Wirkung deutlich. Rituale und die Verbindung zur Tragödie und Philosophie stehen dabei zu Recht im Mittelpunkt. Burkerts Schüler und enge Weggefährten reflektieren hier seine wissenschaftlichen Errungenschaften. Die Acta des Kolloquiums zum fünfundsiebzigsten Geburtstag am Istituto Svizzero in Rom (2006) sind eben in dem von Christoph Riedweg (2009) herausgegebenen Band Grecia Maggiore erschienen. Dieser fokussiert ganz spezifisch die kulturellen Verflechtungen zwischen Ost und West, die Burkert so am Herzen liegen. Das sogenannte Magna Grecia, wo östliche Einflüsse bei von orphisch-bakchischen Inhalten bestimmten Figuren wie Parmenides und Empedokles wirkmächtig werden, wird durch einen konsequenten Einbezug des Vorderen Orients zu einem noch größeren Griechenland, eben zu “Grecia Maggiore”, dem einheitlichen multiethnischen Kulturraum des gesamten Mittelmeergebiets. Die gegenseitigen kulturellen Vernetzungen zwischen Ost und West, nicht nur in fernen Zeiten dunkler Jahrhunderte, sondern konkret in der archaischen Epoche, stehen im Mittelpunkt. In einer sich neuen Themenfeldern öffnenden Gräzistik ist es ein lohnenswertes Projekt, die diesbezüglichen Forschungsanstöße Burkerts aus heutiger Perspektive zusammenzufassen und Revue passieren zu lassen. Antonio Panaino (2009) zeigt, wie dem Begriff magos zunächst nichts Negatives anhaftet und wie er erst in der Begegnung mit dem Fremden pejorative Konnotationen des Gauklers, Hexers und Aufschneiders erhielt. Wissenschaftlich bedeutend ist vor allem die intensive Behandlung der rituellen Kolumnen im DerveniPapyrus, zu dessen Deutung Burkert so viel beigetragen hat. Entgegen der mittlerweile erschienenen offiziellen Edition (Kouremenos/Parássoglou/ Tsantsanoglou 2006), wo zu den dort genannten magoi ein sehr einseitig negatives Bild gezeichnet und die Meinung vertreten wird, der DerveniAutor würde sich damit kritisch von ihren unwissenschaftlichen Praktiken distanzieren, legt Panaino dar, dass ihre Erwähnung durchaus das konkrete Auftreten iranischer Spezialisten im Kontakt mit Göttern implizieren könnte. Ivo Hajnal (2009) widmet sich einem weiteren Forschungsinteresse Burkerts, der Auswirkung der im achten Jahrhundert v. Chr. wie-

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derentdeckten Schriftlichkeit für die griechische Kultur. Hajnal präsentiert ein faszinierendes und sehr aktuelles Bild zur mykenischen Schriftkultur des Linear B und zu den Gründen ihres Untergangs in den sogenannten Dunklen Jahrhunderten. Er zeigt, dass die Schriftlichkeit dort nur partiell gelten kann, der Textbegriff im Vergleich zur vorderorientalischen Schriftkultur nur eingeschränkt ist und komplementär dazu den pragmatischen Kontext sowie eine mündliche Rezitation benötigt. Dies sei auch der Grund des totalen Verschwindens dieser frühen griechischen Literarizität in nuce. Selbst mit dem Aufkommen der Alphabetschrift im achten Jahrhundert v. Chr. war diese wiederum zunächst in ihrer Textlichkeit noch nicht völlig von Oralitätsmerkmalen losgelöst, konnte sich dann aber aufgrund eines panhellenischen Identitätsverständnisses und einer polyzentrischen Gesellschaft, die individuelle Kommunikation benötigt, schnell ganz verselbstständigen. Burkert (2009) selbst liefert ein wunderbares Panorama des interkulturellen Austausches zwischen Griechen und Persern von den Perserkriegen bis in das dazu bisher eher vernachlässigte vierte Jahrhundert v. Chr. Burkerts Schülerin Laura Gemelli Marciano (2009) weist anhand der Fragmente 14 und 15 DK nach, wie der frühe, in Milet wirkende Philosoph Heraklit persische rituelle Spezialisten, eben auch magoi, die dort auch real präsent waren, als Folie für seine ‘griechische’ Philosophie verwendet. Diese beruht freilich ebenfalls auf religiösen Ideen und Bildern, zumal Heraklit aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen eng mit Eleusis und dem dortigen Mysterienkult verbunden ist. Zuletzt gibt Giovanni Casadio (2009) ein durchaus kritisches Bild des geistigen Kontexts, in dem Burkert sich in seinen Forschungen bewegt, wenn er sich der Methode des ex oriente lux bedient, das heißt wenn er für griechische kulturelle Phänomene konkrete Anregungen und Vorlagen aus vorderorientalischen Kulturen auszumachen versucht. Unser Unternehmen des Bielefelder Autorenkolloquiums (2007) hatte wenig später das ambitionierte Ziel, die Wirkung Burkerts insgesamt zu beleuchten. Auf dem beschränkten Gebiet der Gräzistik will ich die Ergebnisse nochmals wie folgt zusammenfassen: Walter Burkert ist entweder mit ganz großen Würfen, die den Menschen an sich erklären, oder mit Detailstudien hervorgetreten. Hauptsächlich ist er an der Erforschung der griechischen Religion in allen Facetten interessiert, wobei er souverän alle altertumswissenschaftlichen Teildisziplinen einbezieht. Sein ureigenes Feld, die philologisch-literaturwissenschaftliche Deutung der großen griechischen Texte, wird für ihn hingegen nur zum wichtigen Nebenschau-

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platz. Selbst im kleinsten Detail geht es ihm meist um die wichtigste Frage, um den Menschen schlechthin. Homo Necans entfaltet vor allem deswegen so große Wirkung, weil Burkert letztlich einen tragischen Weltentwurf über das Leben angesichts des Todes unternimmt. Der Aufsatz über das Opfer und die Tragödie (Burkert 1966b) liegt dem Drama des Rituals und Mythos implizit zu Grunde. In seiner Lektüre, die Lorenz, Freud, aber auch Nietzsche und W. F. Otto vereint, stößt Burkert schon zum Performativen des Rituals vor. Mit diesem anthropologisch-philosophischen Rüstzeug versucht er anhand der exemplarischen griechischen Kultur und Religion über die psycho-ethologische Verfasstheit des Menschen aufzuklären. Er zögert jedoch, die in seiner frühen Schaffensperiode erzielten Ergebnisse in größerem Stil auf die bedeutenden Texte der griechischen Literatur im Einzelnen anzuwenden. Doch dient er zugleich als Inspirationsquelle, Fundgrube und Anregung für andere Literaturwissenschaftler, die mit einer kulturwissenschaftlich geprägten Methode das mythisch-rituelle Substrat aufdecken. In der Gräzistik ist es erst seit Burkert wieder legitim, sich nach den einseitigen Auswüchsen der von den Cambridge Ritualists angestoßenen Forschungen mit Mythos und Ritual in der griechischen Literatur zu beschäftigen. Zu einer neuen reflektierten Methodologie kommt diese Richtung zuletzt, seitdem man systematisch die mythisch-rituelle Poetik griechischer Texte untersucht. Hier geht man der Fragestellung nach, wie Autoren im freien ästhetischen Spiel von Variation und Kombination Elemente des Mythos und des Rituals für die Schaffung von Literatur zusammenstellen. Der Stellenwert des Burkertschen Werks als literarische Heuristik bleibt freilich keineswegs auf die Klassische Philologie beschränkt, sondern erstreckt sich heute beinahe auf alle Literaturen und Zeiten. Burkerts Kultstatus und Potential als Inspirationsquelle erklärt sich wohl auch aus der Tatsache, dass von seiner eigentümlichen, nahezu poetischen Prosa der frühen Schriften bis Homo Necans, wo das Unheimliche und Unabgegoltene des Griechentums auf kongeniale Art abgehandelt wird, ein ganz besonderer Reiz ausgeht. Inhalt und Form treffen den damaligen Zeitgeist – das Hehre und Klassische wird mit seiner anderen Seite konfrontiert. Mit Burkert ist ein ganz neues Bild der Griechen entstanden.

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WALTER BURKERT Horror Stories. Zur Begegnung von Biologie, Philologie und Religion

Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression (1963) war das Buch, durch das Konrad Lorenz weit über die Fachgrenzen hinaus berühmt geworden ist.1 Konrad Lorenz verstand Tiere und konnte mit Tieren umgehen wie kaum ein anderer Mensch. Er blickte auf zu kreisenden Dohlen und hörte “ihre hellen Rufe, deren Bedeutung ich bis ins einzelne verstehe.”2 Kommunikation gelingt weit übers Menschliche hinaus. Biologische Verhaltensforschung in der Art von Konrad Lorenz erwies sich als erhellend bis weit ins Menschliche hinein. Dass Konrad Lorenz seither fast versunken ist, liegt am Fortschritt und Methodenwandel der Biologie, freilich auch an politischen Trends, die die gewiss notwendige Kritik gesteuert haben. Nur einer einzelnen Beobachtung von Konrad Lorenz sei hier nachgegangen: dem ‘heiligen Schauer’. Konrad Lorenz bemerkte dazu: Es gibt eine Reaktion des Menschen, die besser als jede andere geeignet ist, zu demonstrieren, wie völlig unentbehrlich eine eindeutig ‘tierische’, von den anthropoiden Ahnen ererbte Verhaltensweise sein kann ... . Diese Reaktion ist die sogenannte Begeisterung ...; dazu läuft einem ein ‘heiliger’ Schauer über den Rücken und, wie man bei genauer Beobachtung feststellt, auch über die Außenseite der Arme ... . Der Tonus der gesamten quergestreiften Muskulatur erhöht sich, die Körperhaltung strafft sich, die Arme werden etwas seitlich abgehoben und ein wenig nach innen rotiert, so dass die Ellenbogen etwas nach außen zeigen. Der Kopf wird stolz emporgehoben, das Kinn vorgestreckt und die Gesichtsmuskulatur bewirkt eine ganz bestimmte Mimik, die wir alle aus dem Film als das ‘Heldengesicht’ kennen. Auf dem Rücken und entlang der Außenseite der Arme sträuben sich die Körperhaare ... . An der Heiligkeit dieses Schauers sowie an der Geistigkeit der Begeisterung wird derjenige zweifeln, der je die entsprechende Verhaltensweise eines Schimpansenmannes gesehen hat ... . Auch ihm sträuben sich die Haare, was eine gewaltige und sicher einschüchternd wirkende Vergrößerung der Körperkonturen bei Ansicht von vorne bewirkt ... . Die ganze Kombination von Körperstellung und Haaresträuben dient ... einem Bluff, nämlich der Aufgabe, das Tier größer und gefährlicher erschei-

1 2

Zur Auseinandersetzung mit Konrad Lorenz (1903-1989) vgl. Bischof 1991. Lorenz 1964, 18.

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Walter Burkert nen zu lassen, als es tatsächlich ist. Unser ‘heiliger Schauer’ aber ist nichts anderes als das Sträuben unseres nur mehr in Spuren vorhandenen Pelzes.3

Dies war damals, 1963, Entlarvung einer noch jungen Vergangenheit, des Nazi-Heldentums mit dem Helden-Gesicht, das die wertlosen ReichsmarkScheine zierte, mit der Melodie auch von Heilig Vaterland. Was wir körperlich fühlen, ist Relikt von Imponiergehabe durch ‘Umriss-Vergrößerung’, Bluff eines nackten Affen, dem die Mähne abhanden gekommen ist. ‘Gute’ Begeisterung und ‘böse’ Aggression zeigen sich vereint, samt der merkwürdigen Tatsache, dass dies in besonderer Weise mit dem ‘Heiligen’ verbunden wird. Das Verhältnis von Zoologie und Anthropologie ist eher feindlich, von Polemik belastet. Man kann es zum Sinn der Anthropologie machen, die Unterschiede zum sogenannten Tier herauszuarbeiten. Man kann aber auch die Chance nutzen, menschliches Verhalten und Erleben von einfacheren und deutlicheren Erscheinungsformen her zu erklären, die im ‘Tierischem’ zu fassen sind. Dies bedeutet nicht Reduktion im Sinne einer unstatthaften Vereinfachung. Aber es macht aufmerksam auf Charakteristika im Kontext des Erlebens, die man sonst übersehen würde. In diesem Fall ist es die Ambivalenz zwischen Schreck und Aggression, in einer Situation des ‘Alarms’: ‘Zu den Waffen!’, mit einem letzten Innehalten; man kann das gesträubte Fell auch als Verhandlungsvorschlag interpretieren. Die biologische Wirklichkeit ist vielschichtig: Wie ist das Verhältnis des ‘heiligen Schauers’ zum Kälte-Schauer, den wir auch alle kennen und sehen, samt der ‘Gänsehaut’, dem kümmerlichen Relikt des Haaresträubens? Die primäre Funktion von Behaarung bei Warmblütlern ist wohl doch, vor Kälte zu schützen, was für die Priorität des Kälteschauers spricht. Ganz zu trennen sind beide offenbar nicht. Im Grimmschen Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen versagen alle die nächtlichen ‘schauerlichen’ Geistererscheinungen im verwunschenen Schloss samt rasselnden Totenknochen gegenüber der zupackenden Sicherheit des Helden. Aber zuletzt ist es der kalte Wasserguss, der ihn dann doch das Gruseln lehrt.4

3

Lorenz 1963, 375-377. Brüder Grimm 1984, 41-51; von Bruno Snell herangezogen für die These, dass die Griechen ‘das Gruseln verlernt haben’, vgl. Snell 1946, 30. 4

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‘Heilige Schauer’ sind uns markant von der deutschen Klassik vorgegeben, durch Goethe zumal: Mit ‘schauderndem Gefühl’ betritt Iphigenie den alten “heiligen Hain…” (I. 2-4). Wenn der uralte Heilige Vater Mit gelassener Hand Aus rollenden Wolken Segnende Blitze Über die Erde sä’t, Küss’ ich den letzten Saum seines Kleides, Kindliche Schauder Treu in der Brust.5

Der Gott, dessen Epiphanie Schrecken und Segen paart, wird aus Ferne und Nähe zugleich erlebt, ‘letzter Saum’, doch ‘kindlich’, ‘treu’. Reflektierter fasst es Faust, als Mephistopheles die ‘Mütter’ nennt (Faust II 6271-6274): Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil, Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.

Erstarren, das wäre wie eine Panzerung, die abschließt; der Mensch, im Alarm, will ausgesetzt bleiben. Darum stellt sich Faust dem Schauder. Ungeheures wird im Gefühl erfasst. Schlichter ist es bei Schiller in der Ballade Die Kraniche des Ibykus (11-12),6 doch eben darum wie selbstverständlich: Ibykus, noch ohne Kraniche, ist auf der Reise nach Korinth, Und in Poseidons Fichtenhain Tritt er mit frommem Schauder ein.

‘Heilige Schauder’ – dies verknüpft Äußerliches und Innerliches, Körperliches und ‘Höheres’. Angst und potentielle Aggression übersteigen das Alltägliche. Drei Charakteristika sind kenntlich: Zum einen sind subjektives Erleben und beobachtbares Verhalten untrennbar verschränkt. Seeli5 Goethe 1987, 332 (Grenzen der Menschheit). Die diffizilen, leicht divergierenden Bedeutungsnuancen vom deutschen ‘Schauer’ und ‘Schauder’ zu analysieren, sei hier nicht versucht. 6 Schiller 1992, 91.

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sches manifestiert sich in körperlich sichtbarer Weise; das Körperliche wird zugleich innerpsychisch wahrgenommen. Man sieht die Gänsehaut, das Haaresträuben ist zumindest sprachlich immer präsent. Dabei ist solche Reaktion dem bewussten Willen nicht unterstellt.7 Zum anderen ist diese Erfahrung ambivalent, insofern das Erschrecken eben nicht mit dem Totstell-Reflex beantwortet wird noch mit panischer Flucht, sondern mit gesteigerter Aktivität in einem Imponier-Gehabe, im ‘Aufstand’ von Einsatzmut und Haar. Drittens aber, und darauf hat Konrad Lorenz aufmerksam gemacht: Was in Vorstellung und Sprache als Aufruf und Ziel erscheint, was sogar als Höheres, ‘Heiliges’ verinnerlicht sein kann, setzt ein eindeutig vormenschliches, tierisches Verhalten fort. Der Mensch hat die sich sträubende Mähne nicht mehr, und doch funktioniert sein Körper so und hält das seelische Erleben auf einer Bahn, als ob sich Haare gewaltig sträuben ließen, als ob demonstrierte Größe Kraft garantiere. Das Verhalten bis zum todesmutigen Einsatz ist vorgespurt. Die antike Literatur verwendet in diesem Bereich die Klaviatur von griechisch phrike, lateinisch horror, sie verwendet sie souverän als Mittel sprachlicher, zumal poetischer Wirkung. Diese kann im Besonderen auf die militärische Sphäre einerseits, die religiöse Sphäre andererseits weisen. Schiller und Goethe standen in einer längst entwickelten literarischen Tradition, auch beim Schauder im heiligen Hain. Das entscheidende griechische Wort ist phrike, samt zugehörigen verbalen Ausdrucksweisen. Das semantische Feld ist ‘Furcht’ und ‘Schrecken’, doch mit charakteristischer Besonderheit: Der häufigste Wortstamm im Bereich des Fürchtens, d(w)eid-, bezeichnet – als Aorist-Stamm – den Anfall der bleichen Furcht, die sich tot zu stellen oder zu verstecken sucht; der andere Stamm, phobos, drückt die panische Flucht aus, mit fliegenden Haaren – phobe ist die Pferdemähne; phrike dagegen verweist aufs Haaresträuben, im Augenblick von Alarm und Schreck, wobei die Reaktion noch offen ist und aggressive Optionen durchaus im Blick stehen. Die griechische Fachliteratur, von Hippokrates über Aristoteles bis Galen, bietet allerlei Beobachtungen und Erklärungen zum ‘Schauder’ als biologischem Phänomen. Die Schauer gehen, heißt es, von ‘Hals und Rücken’ aus, laufen aber durch den ganzen Körper; sie werden vor allem an der Außenseite des Körpers, an Armen und Schenkeln empfunden – 7

Vgl. Sen. Dial. 4.2: Omnes enim motus qui non voluntate nostra fiunt invicti et inevitabiles sunt, ut horror frigida aspersis.

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dies entspricht der Lorenzschen Beschreibung.8 Das Haaresträuben gehört dazu. Galen weist darauf hin, dass Kälte nicht der einzige Auslöser von Schaudern ist, ‘denn auch Hören und Sehen von etwas Schrecklichem erregt gelegentlich Schauder und Kältegefühl’.9 Galen fügt hinzu, dass auch ein plötzlicher Spritzer mit warmem Wasser Schauder erregen kann.10 Kurzum, ob körperliche oder vorstellungshafte Anregung, Erlebnis und Körperreaktion sind untrennbar verbunden. Im literarischen Bereich wird haarsträubendes Entsetzen besonders in der Tragödie beschworen, im Geschehen auf der Bühne und in der vorgesehenen Reaktion des Zuschauers, wie sie vom Chor orchestriert wird. So in den Sieben gegen Theben des Aischylos (720-723): ‘Schauder fühle ich vor der hausvernichtenden Gottheit ... der im Fluch des Vaters wirkenden Erinys’. Solcher Schauder markiert den Höhepunkt der Tragödie auch bei Sophokles, etwa im König Ödipus (1306): ‘Was für Schauder erregst Du in mir’, singt der Chor, als der König, geblendet und bluttriefend, aus dem Palast kommt. Aller Schauder im Drama freilich lässt dem Zuschauer die Gewissheit, dass er selbst nicht direkt gefährdet ist; er kann die Schauder vom Theatersitz aus genießen, als Alarm, der volle Aufmerksamkeit fordert, aber zugleich selbstgewisse Kraftentfaltung durchaus in sich schließt. Ein früher theoretischer Text bringt das auf den Punkt. Der Sophist Gorgias schreibt in seinem spielerischen Loblied auf Helena (VS 82 B 11.9) über die Wirkungsmacht des logos, zumal der poetischen Rede: ‘Da dringt in den Hörer Schauder voll Furcht, Jammer voll Tränen, Sehnsucht voll Trauer’. Dies ‘erleidet’ die Seele, formuliert Gorgias, als Wirkung der Sprache; und doch sind Zittern, Haaresträuben, Tränen spezifisch körperliche Symptome. Auch einen Rhapsoden namens Ion, einen Virtuosen der Homer-Rezitation, lässt Platon (Ion 535c) mit solchem Effekt seiner Kunst prahlen: ‘Wenn ich etwas Jammervolles sage, füllen sich meine Augen mit Tränen, und wenn etwas Angsterregendes oder Schreckliches, stehen mir die Haare zu Berge vor Schreck und das Herz klopft wild’. Selbstverständlich werden die Zuhörer solchen Emotionen folgen, mit Herzklopfen, Tränen, gesträubten Haaren – Zustand einer Erregung, die sich zugleich genießen lässt.

8 Hp. Epid. 7 (V, 418 Littré); Flat. VI, 100 Littré; Morb. 4 (VII, 572 Littré). Interessantes und Kurioses bei Arist. Pr. 886b9-887a3; 889a26. 9 Galen, De tremore, palpitatione, convulsione et rigore (VII, 628 Kühn). 10 Galen, De symptomatum causis 2 (VII, 187 Kühn).

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Dichter können das ‘Haaresträuben’ auch in ausgesprochen aggressive Kontexte rücken, zunächst und vor allem bei der Beschreibung kämpfender Tiere: In der Odyssee (19.446) ist es ein Keiler, der aus seinem Waldversteck hervorbricht und auf die Jäger losgeht, ‘trefflich sträubend seine Mähne, Feuer blickend mit den Augen’. Ein hesiodeischer Text (Aspis 171, vgl. 391) lässt Wildschweine und Löwen aufeinander losgehen, ‘und beide sträubten ihre Nackenmähnen’. Das ist kaum direkt beobachtet – wer hat damals Löwen zu Gesicht bekommen? –, es ist Bestandteil eines bereits fixierten Bildes. Bei einem hellenistischen Dichter muss sich darum auch der Nemeische Löwe des Mythos so verhalten: ‘Sein ganzer Nacken füllte sich mit Energie, die rötlichen Haare sträubten sich in seinem Grimm’.11 Bei Aristophanes (Ra. 822-825) stürzt sich der parodierte Aischylos in den Kampf mit Euripides, ‘sträubend die zottige Mähne des nackenumwallenden Haupthaars, runzelnd die borstigen Brauen ... schnaubend mit Titanenwut.’ Im heldischen Bereich ist das Haaresträuben ersetzt oder vielmehr restituiert durch den ‘schrecklich nickenden Helmbusch’, wie das in der Homerübersetzung von Johann Heinrich Voss heißt. Das Wort für den Helmbusch, lophos, ist dabei eben das gleiche wie für die Mähne bei Pferd, Wildschwein und Löwe. Die handwerklich gefertigte Ausstattung macht den homerischen Helden zum Kämpfer mit dauernd gesträubtem Haupthaar; andere ‘schaudern vor dir, wie meckernde Ziegen vor einem Löwen’ (Il. 11.383). Nur ein kleines Kind fängt vor dem drohenden Helm zu weinen an. Das gesträubte Haar wird zum Gesamtbild des Kämpfens: ‘Es sträubte sich die Schlacht, die menschenvernichtende, mit langen Lanzen’, heißt es in Homers Ilias (13.339; 4.282; 7.62). So kämpft man mit Begeisterung. Merkwürdigerweise verbindet sich das Schaudern nun auch mit religiöser Begegnung. Aufhorchen lässt ein Fragment des Aischylos (Fr. 387 Radt): ‘Ich erschaure; doch es verlangt mich nach diesem mystischen Ziel’. Leider fehlt uns der Kontext, nur dass es um eine Mysterienweihe gehe, sagt der zitierende Autor.12 Ein ‘doch’ verbindet den Alarm, den ‘Schauder’, mit dem Vorwärtsdrängen aufs Ziel hin. Mysterien lieben das schaudervolle Dunkle und haben mit einer ‘Schaurigen Göttin’ zu tun. 11

[Theoc.] 25.244 (die Autorschaft ist kontrovers). Merkwürdig ähnlich Sophokles Aias 693, vom ‘Schauer’ des Eros, doch ist der Aischylostext nicht zur vollen Entsprechung abzuändern. 12

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Eine Mysteriengöttin ist auch die ägyptische Isis, die sich rühmt, sie habe von Hermes-Anubis die Zeichen der Schrift übernommen, ‘mit denen ich die den Mysten Schauder einflößende Lehre aufgezeichnet habe’.13 ‘Schauder’ des Eros stellt Platon in seinem Dialog Phaidros (250a) dar: Der Mensch, der die jenseitige Vollkommenheit geschaut hat und dadurch ein ‘eben Geweihter’ der Schönheit ist, wird beim Anblick irdischer Schönheit ‘zuerst erschauern, und etwas von der Furcht, die mit jener Schau verbunden war, kommt ihn an ...’; dann sollte sich aus dem Erschauern ein Wandel ergeben, ‘Schweiß, ungewohnte Wärme überkommt ihn’, denn die Flügel der Seele fangen an zu wachsen. Das Erleben des Schönen ist ‘Befeuchtung’, Befruchtung eines inneren Wachstums. Doch am Anfang steht ein Schock, schon bei jener jenseitigen Schau, an die hier erinnert wird, ‘Alarm’, der höchste Aufmerksamkeit erzwingt – harmlos ist solcher Eros nicht, und doch vielleicht ‘des Menschen bestes Teil’. Eine merkwürdige Geschichte, wie ‘Schauder’ das Heilige verteidigt, erzählt Herodot (Hist. 6.134-135): Als Miltiades, der Sieger von Marathon, Paros erobern wollte, versuchte er, gemäß dem Rat einer lokalen Priesterin der ‘Chthonischen’ Götter, vom Bezirk der Demeter Thesmophoros aus Macht zu gewinnen. Nur Frauen war dieses Heiligtum zugänglich. Gerade darum hätte offenbar der Bruch des Tabus sowohl das Demeter-Heiligtum als auch die Stadt dem Eroberer geöffnet. ‘Er konnte die Türen nicht öffnen, so sprang er über die Einfriedung und ging zu dem Megaron, was immer er da tun wollte’; ‘er sei also bis an die Tür gekommen, da habe ihn plötzlich ein Schauder überfallen, er sei den Weg zurückgestürzt, und beim Sprung über das Gehege verrenkte er seinen Schenkel’; daran ist er dann gestorben. Der Alarm schlug um in panische Flucht, die in den Tod führte. Positiv zeigt sich die Gottheit im ‘Schauder’ bei Xenophon. In der Kyrupädie (4.2.15), seinem staatstheoretischen Roman, lässt Xenophon den Perserkönig Kyros und die Seinen auf dem Weg zur entscheidenden Schlacht einen nächtlichen Marsch unternehmen, ‘und man erzählt, ein Licht sei dem Kyros und dem Heer vom Himmel her erschienen, so dass in allen Schauder sich regte gegenüber dem Göttlichen, guter Mut aber gegenüber den Feinden’. Hier ist die Ambivalenz der phrike auseinander genommen: Die Schauder gelten dem ‘Göttlichen’, das sich im Wunder zeigt, eben diese von oben erregte Furcht aber geht zusammen mit ‘gutem 13

Isis-Aretalogie von Andros 11-12, Totti 1985, 5; vgl. auch Call. Fr. 75.6 Pfeiffer.

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Mut’ auf der menschlichen Ebene; ‘heilige Schauer’ geben Schwung zum Kampf, ‘Enthusiasmus’ ist durchaus militant – wie bei Konrad Lorenz beschrieben. Ein Blick noch auf die lateinische Literatur: Hier geht es um die Wortfamilie horror, horrere, horridus. Auch horror verbindet Kältegefühl mit Haaresträuben; dies wird auf ähnlichen Bahnen verwendet wie phrike, zumal in der Poesie: Ein Feld mit Ähren ‘erstarrt’ in Stacheln, aber auch leicht bewegte See ‘erschauert’ in der Brise;14 wie bei Homer kann von den aggressiv erhobenen Speeren einer Armee die Rede sein, die da ‘erschauern’; auch die gesträubte Mähne des angreifenden Wildschweins fehlt nicht.15 Horrere kann entsprechend sogar von einer erzürnten, aggressiven Gottheit gesagt sein: Iuno ‘erschauert von den Stacheln ihrer eigenen Zornesregungen’ und versucht so, in den Krieg einzugreifen.16 Horrida sind Szenen und vielerlei Einzelheiten der Tragödien, wie sie Seneca gestaltet. So greift er in seinem Thyestes (743) nicht nur die Schauergeschichte auf, wie Atreus die Kinder des Thyestes ermordet und dem eigenen Vater, seinem verhassten Bruder, zum Mahl vorsetzt, Seneca erfindet dazu die geeignete ‘schaurige’ Szenerie, malt einen besonderen Hain in der Burg von Argos aus, wo Opfer an blutigem Altar stattfinden: Hier ‘opfert’ Atreus die Kinder in einem pervertierten Ritual. ‘Hat dich ein Schauder gepackt?’, fragt der Bote, der dies schildert, und kündigt an, dass noch Schauerlicheres folgt, eben das kannibalische Mahl. Freilich läuft Seneca Gefahr, den Effekt des Schaurigen durch Häufung zunichte zu machen. Doch ohne Schauer geht Religion kaum je einher. Horror ist den Menschen eingepflanzt worden, meint Lukrez (5.1165-1166), und deswegen errichten denn die Menschen den Göttern ihre Heiligtümer und feiern Götterfeste. Vergil stellt in seiner Aeneis (8.349-350) dar, wie der Gott des Capitols, Juppiter Capitolinus, schon vor der Gründung Roms sich manifestiert habe: Der Hügel ist ‘schaurig von waldigem Gestrüpp’ – wieder der ‘schaurige’ Hain –; ‘schon damals schreckte die harte Heiligkeit des Ortes die ängstlichen Bauern, schon damals zitterten sie vor Wald und Fels’; vierfach ist hier die religiöse Angst ausgedrückt, horrere, pavere,

14

Verg. G. 1.151. – mare coepit horrescere Cic. Rep. 1.63. Lucr. 5.21; Verg. A. 1.634. 16 Stat. Theb. 10.75. 15

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terrere, tremere, Zeichen einer dira religio; das ganze besagt: ‘diesen Hain bewohnt ... ein Gott’. Dabei werden auch im Römischen ‘Heilige Schauer’ keineswegs bloß negativ empfunden. In einer Szene bei Statius findet Adrastus ein altes Orakel in überraschender Weise erfüllt; als ihm dies klar wird, ‘preßt er die kalten Lippen zusammen, ein freudiger Schauder geht durch seine Glieder’.17 Hier ist einmal ausdrücklich von einem ‘frohen Schauder’, laetus horror die Rede. Lukrez, der doch den Kampf gegen die religio sich zur Aufgabe gemacht hat, erlebt die Epiphanie der ‘Natur’ mit ‘göttlicher Freude und Erschauern’ (3.28-29): ‘Dort’, in der durch Epikur ermöglichten und von Epikur geleiteten Schau des Alls, ‘ergreift mich eine gewisse göttliche Lust und Schaudern’. Wäre pure Lust, ohne Schauder, selbst einem Epikureer verdächtig? Der begleitende horror, als Alarm, hält den absoluten Ernst des Erlebens fest. Solcher Art ist auch göttliche Epiphanie in traditionell-mythischer Erzählung, etwa bei Livius (1.16.6): Nach dem Verschwinden des Romulus meldet sich ein Mann beim römischen Senat, dem der vergöttlichte Romulus in Person erschienen ist. Der Zeuge stand, laut seinem Bericht, überwältigt, oder vielmehr ‘von Schauder durchdrungen, Verehrung bezeugend’ (perfusus horrore venerabundus) vor dem höheren Wesen. Man empfindet Ungeheures und verhält sich entsprechend, wobei das Körperliche mit ‘durchdrungen, durchströmt’, perfusus horrore, in besonderer Weise festgehalten ist. Gesteigerte Düsternis umgibt die berühmte Schilderung des Semnonenhains in Tacitus, Germania (39.2). Dies ist sozusagen das non plus ultra des schaurigen heiligen Hains: ‘Zu festgesetzter Zeit kommen die Volksgruppen, die gleichen Blutes sind, vertreten durch Gesandtschaften in einem Wald zusammen, der durch die Rituale der Väter und durch alten Schrecken heilig ist; sie erschlagen in öffentlicher Gemeinschaft einen Menschen und feiern so des alten Ritus schaurige Anfänge’.18 Tacitus’ Rhetorik tut ihre Wirkung. Man glaubt der religio gern, dass solcher Ritus uralt sei. Dem Philologen bleibt unsicher, was genau mit den ‘schaurigen 17

Stat. Theb. 1.493-494: laetusque per artus horror iit. In silvam auguriis patrum et prisca formidine sacram omnes eiusdem sanguinis populi legationibus coeunt caesoque publice homine celebrant barbari ritus horrenda primordia; Rives 1999, 93 (vgl. 186-189) fasst primordia als “beginning of ritual” auf; Norden 1920, 127-128 Anm. 3 versteht unter primordia Mysterienweihe (= initia); Verweis auf Edda bei Perl 1990, 116-117, vgl. 236-237. 18

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Anfängen des Ritus’ (ritus horrenda primordia) gemeint ist: Ist es einfach der Beginn des Rituals? Aber der Menschenmord ist wohl kaum Anfang, sondern Höhepunkt. Dann wäre der ‘schaurige Urbeginn des barbarischen Rituals’ eher doch ein mit dem ‘Beginnen’ überhaupt, mit dem Ursprung der Welt und des Stammes befasster Inhalt des Rituals. ‘Von dort sind die Anfänge des Stammes, dort ist der Herrscher über alle, der Gott’, fügt Tacitus hinzu. Daher komme auch das seit langem bewährte ‘Glück’ des mächtigen Stamms; diese Bewährung steigere die ‘Autorität’ des Festes. Solch ein Menschenopfer nach uraltem Brauch ist also ‘schrecklich’ und begründet doch, als Ausgangspunkt von Energie, das Selbstbewusstsein der Semnonen. Die Überlebenden sind es, die stolz und wie gestählt aus dieser Zeremonie hervorgehen. Längst hat man darauf hingewiesen, dass es im indischen Veda einen Text gibt, wonach die ganze Welt aus der Tötung und Zerstückelung eines Menschenwesens hervorgegangen ist, und die Edda kennt einen ähnlichen Text.19 Kann man damit bis auf eine indogermanische Urzeit in Ritus und Mythos zurückgreifen? Gelangen wir gleichsam zu den ‘Müttern’? Das Schaurige ist das Begründende. Der Religionswissenschaftler weiß, wie vielfach Angst, Furcht, Schrecken mit Religion vielerorts und immer wieder verbunden sind. ‘Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang’, beginnen die Weisheitssprüche Salomons; ‘Angst war das erste auf der Welt, was Götter geschaffen hat’, formulieren Römer aus der Distanz antiker Aufklärung.20 Der Vorrang des Heiligen beruht auf ‘Gottesfurcht’, auf Angst, eben weil diese prägend wirkt. Die ambivalenten Schauer, die ungewollt und unkontrollierbar sich einstellen, werden zum Kennzeichen von Religion. Die jeweils individuelle Erfahrung wird freilich erst durch Interpretation übertragbar und überindividuell verstehbar gemacht. Insofern ist es nie bloße Biologie, was das menschliche Erleben ausmacht. Es gibt, Einzelkulturen übergreifend, die ‘heiligen Schauer’ als ein Sich-Aufraffen, Sich-Stellen, Entgegentreten in einer Situation des ‘Alarms’. Der Bezug zum Körperlichen, das Haaresträuben, ist dabei in verschiedenen Sprachen durchaus festgehalten. Die biologisch-körperliche Grundlage geht in den Metaphern der Texte kaum verloren. Die vorchristlichen Religionen in ihrer bunten, unsystematischen Art können festhalten und aufzeigen, was sonst eher tendenziös verhüllt wird, einschließlich der 19 20

Rg-Veda 10.90; Snorra-Edda, Gylfaginning 8. Prov 1.1; Petr Fr. 27; Stat. Theb. 3.661.

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untergründigen Bereitschaft zur Aggression. Den philologischen Interpretationen können die biologischen Analysen von Konrad Lorenz durchaus zustatten kommen; sie tragen darüber hinaus vielleicht auch allgemein zur Selbsterkenntnis bei. ‘Begeisterung’ versucht, sich auf uralten Bahnen Herausforderungen des Lebens zu stellen, mehr als biologischer Automatismus denn als überlegter ‘Geist’.

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WALTER BURKERT Zwischen Biologie und Geisteswissenschaft. Probleme einer interdisziplinären Anthropologie

Eigentlich ist unser Interesse doch immer ein anthropologisches, sagte mein Lehrer Otto Seel, der doch selbst ganz in der Literatur, der deutschen wie der antiken, zuhause war. Mich selbst hat, während ich das Handwerk der Gräzistik bei Rudolf Pfeiffer und Reinhold Merkelbach lernte, eben Reinhold Merkelbach sehr in der Zuwendung zur Religionsgeschichte und insbesondere zu E. R. Dodds und Karl Meuli bestärkt, die je in ihrer Weise Philologie in Richtung einer allgemeineren Anthropologie vorantrieben.1 Karl Meuli zumal rückte die antiken Texte in einen weiten Zusammenhang von Volkskunde und Ethnologie – im Englischen sagt man anthropology – und fand dabei doch immer im Zentrum etwas elementar Menschliches, direkt Verständliches, so dass er bereits die Jagdrituale des paläolithischen Menschen als Ausdruck einer ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ deuten konnte. Epoche machte dann das Buch von Konrad Lorenz Das sogenannte Böse (1963) über die notwendige Funktion und die durchaus positiven Wirkungen der Aggression. Für das, was uns an Verhaltensweisen und Aktionen im Menschenbereich schwer verständlich und oft erschreckend begegnet, schuf Konrad Lorenz einen viel weiteren, positiv ausgeleuchteten Rahmen. Es war vor allem der Begriff des Rituals,2 dem einerseits Reinhold Merkelbach in seinen Studien über Roman und Mysterium (1962) nachging und dem von anderer Seite her Konrad Lorenz einen biologischen Sinn gab. ‘Ritual’ bot sich als Verbindungsbrücke zwischen tierischem und menschlichem Verhalten an. Die biologischen Funktionen, die Lorenz aufzeigte, führten zugleich zu menschlich-sozialen Interaktionen und insbesondere zur Religionswissenschaft. In ihr war ‘Ritual’, eigentlich ein Wort der katholischen Kirche, seit etwa 1890 zum zentralen Phänomen

1 Vgl. Dodds 1951; Meuli 1975, darin II, 907-1021 “Griechische Opferbräuche”, ursprünglich 1946. 2 Studien zum Ritual sind inzwischen unübersehbar vielfältig geworden. Vgl. Burkert 1972, 31-45; Burkert 1979, 35-58; Gladigow 1998, 442-460.

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erhoben worden,3 das die zuvor fast ausschließlich beachteten ‘Glaubensvorstellungen’ samt ‘Mythologien’ in den zweiten Rang verwies. Biologen ihrerseits konnten als ‘Rituale’ tierische Verhaltensweisen beobachten, die aus eigentlich pragmatischen Funktionen eine Zeichenfunktion entwickelten und eben in dieser ihre Erfüllung fanden. Konrad Lorenz’ Standardbeispiel war das Triumphgeschnatter eines Graugänse-Paares, das auch in Abwesenheit eines Gegners Solidarität demonstriert und begründet. Aggressives Verhalten erscheint als biologisch notwendig und durchaus lebensförderlich. Menschliche Rituale, ja religiöse Feste lassen sich in durchaus ähnlicher Weise als Verhalten betrachten und verstehen, das Zeichen setzt, Zeichen der Solidarität und des Ausschlusses. Dies heißt, über verbale Erklärungen hinauszugehen, vom Spiel der ‘Vorstellungen’ abzusehen und die soziale Kommunikation als wesentlich ins Auge zu fassen. Dass Rituale ältere, vorsprachliche Weisen der Verständigung fortsetzen, ist eine naheliegende Vermutung. Das befremdliche Ritual antiker Religionen, dem ich mit Lorenzscher Perspektive beizukommen suchte, ist das Tieropfer – das als Möglichkeit immer auch das Menschenopfer mit einschließt –; es ist eine paradoxe Verbindung von Destruktion und Heiligung, ein ‘Böses’, aus dem Frömmigkeit sich erbaut. Homo Necans erschien 1972. Ausgangspunkt war Karl Meulis große Studie über Griechische Opferbräuche (1975, II, 9071021), in der die Opfer-Rituale von frühmenschlicher Jagd und Fleischverzehr hergeleitet werden und ihr Zeichengehalt dann letztlich als eine Form von ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ entziffert wird. Weite Resonanz fand besonders Meulis Begriff der ‘Unschuldskomödie’. Konrad Lorenz schien sich gleichsam als Kommentar zu Meuli zu bewähren: Das ‘Böse’ zeigt sich als ‘gut’ in der notwendigen Beförderung des Lebens; das Töten wird eingefangen und eingegrenzt im ‘heiligen’ Ritual. Freilich wird zugleich das ‘Gute’, das Heilige, entzaubert als ein wie immer umkleideter zerstörerischer Akt von Aggression im Dienst elementarer Körperlichkeit. Es ist ein düsteres Licht, das von hier aus aufs ‘Heilige’ fällt. Religion wird in dieser Weise nicht auf ‘Glauben’ reduziert, sondern als ein sinnvoller Komplex von Ritualen in ihrer sozialen Funktion betrachtet. Erleben steht in Korrelation zur Kommunikation. Da ließen, 3 Vgl. Nilsson 1941, 10: “Der Umschwung war vollendet: statt der Mythen waren die Riten in den Vordergrund getreten. ... Seitdem ist keine durchgreifende oder grundsätzliche Änderung der Methode und der Richtung der Forschung eingetreten.”

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neben Konrad Lorenz, auch Durkheims Soziologie und Sigmund Freuds Psychoanalyse sich durchaus einbringen.4 Aus der griechischen Tradition, aus der Poesie der Griechen, der Mythografie und den Notizen zu antiken Ritualen ließ sich eine Struktur herausarbeiten, die sich in Variationen wiederholt und im Zentrum das Bewirken und Erleben des Todes im Opfer, im Vollzug des Tötens umschließt, mit labyrinthischem Zugang und nachträglicher Sorgewaltung. Die Rolle des Opferrituals in der Metaphorik der griechischen Tragödie erweist sich als besonders aufschlussreich.5 Der Ansatz von Homo Necans wurde weitergeführt in den Sather Lectures mit dem Titel Structure and History in Greek Mythology and Ritual (1979). Sie gehen besonders der Prägekraft historischer Traditionsketten nach, in denen Komplexe von Ritual und Mythos in ihren Variationen sichtbar werden; dies bringt zugleich eine Abgrenzung zu rein formalen Ansätzen des ‘Strukturalismus’. Ein allgemeinerer Versuch, biologische Ansätze zu Religion zu erfassen, mit Impulsen der ‘Sociobiology’ von Edward O. Wilson,6 folgte in den Gifford Lectures von 1989 unter dem Titel Creation of the Sacred (1996). Der eigentlich intendierte Titel war Tracks of Biology and the Creation of Sense, was der Verlag ins Allgemeinere gewendet hat. Diese Vorlesungen haben Begriff und Phänomen des ‘Opfers’ ergänzt, indem das Ritual des ‘Gebens’ in den Vordergrund tritt, das als – aufwendiges – rituelles Zeichen in den meisten Formen der Religion eine tragende Rolle spielt: ‘Geben’ in seinem doppelten Aspekt, als Ablösung von Bedrohung und als Postulat eines Ausgleichs von Gabe und Gegengabe. Fitness oder Opium? Die Fragestellung der Soziobiologie im Bereich alter Religionen (1997) ist ein ergänzender Aufsatz in jenem Sammelband, den mein verstorbener Freund Fritz Stolz zu meiner Emeritierung herausgebracht hat.7 Die griechische Religionswissenschaft konnte in den letzten Jahrzehnten erfreuliche Neufunde zur Kenntnis nehmen, wie das ‘Heroon’ von Lefkandi für die ‘Dunklen Jahrhunderte’, die Befunde von Kalapodi für die Kontinuität vom Spätmykenischen bis zur klassischen Epoche, die Funde von ‘orphischen’ Texten – Goldblättchen und Papyrus von Derveni – für

4

So bereits Harrison 1912, 476-477, 486-487 (zu Durkheim); Harrison 1921, xxiii (zu Freud). 5 Vgl. Burkert 1966. 6 Vgl. Wilson 1975. 7 Vgl. Stolz 1997; der genannte Aufsatz: 13-38.

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Jenseitsglauben und -rituale. Grundstürzendes haben sie nicht gebracht. Für die Perspektive von Homo Necans waren einige Funde außerhalb des Fachbereichs fast wichtiger: Neu publiziert wurde ein sumerischer Mythos über die Erfindung des Opfers, der ‘Lugalbanda’-Text (1983), der allen in Homo Necans behandelten Texten weit vorausliegt: Lugalbanda, von Freunden verlassen, erfindet das Feuer und die Jagd, und ein Gott erteilt im Traum die Anweisung, wie die Tiere zu schlachten sind. Darum lädt Lugalbanda die großen Götter zum gemeinsamen Mahl, und sie erhalten die besten Stücke.8 Die Botschaft ist klar: Die Fleisch-Nahrung des Menschen ist ein Problem, das die überlegene Autorität der Götter löst. So versteht weit später auch der Islam die Geschichte vom Opfer Abrahams als die Ermächtigung für den Menschen, Tiere zu essen, und feiert das mit einem jährlichen Opferfest. Von ganz anderer Seite erscheint das gleiche Problem in einer Version der Buddha-Legende: Der junge Königssohn soll, entsprechend seiner Position in der Familie, zum Fest ein Schaf schlachten. Dies sei keine Schuld, will man ihm einreden. Ein rechter Mann existiert als homo necans. Buddha aber bringt es fertig, statt des Schafs nur sich selbst zu verwunden.9 Der Religionsstifter, entgegen den Regeln von Rang und Rolle, verweigert das Töten. Von einem triumphalen Abschluss dieser Studien ist nun allerdings nicht zu berichten. Statt finaler Synthese stehen wir in der Situation, dass vermeintliche Sicherheiten hinweg schmelzen. Die Kulturwissenschaften erfahren die Erosion der Globalisierung, die Naturwissenschaften durchbrechen alle Grenzen einer menschlich vorstellbaren und benannten Welt, der Begriff des Geistes ist in Auflösung begriffen. Vervielfältigt und intensiviert stehen Fragen und Fragezeichen im Blick. Sie drängen an vom Bereich der Biologie, der Psychologie, der sogenannten Geisteswissenschaften überhaupt. Was die Entwicklung der Biologie betrifft, so scheint Konrad Lorenz rascher und deutlicher als erwartet zu versinken. Widerspruch war zu erwarten; dass er politisiert wurde, ist bedauerlich, zumal dies auch die objektiv fortbestehenden Leistungen verdunkelt.10 Als widerlegt kann Konrad Lorenz’ These von der ‘Spontaneität der Aggression’ gelten, die sich angeblich staut und regelmäßig entladen muss. Dagegen scheint mir der 8

Vgl. Hallo 1983; Hallo 1996. Hallo verweist bereits auf Homo Necans. Vgl. Gimaret 1971, 81-83. 10 Stellungnahme eines Lorenz-Schülers zu Lorenz-Problemen: Bischof 1991. 9

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Ritualbegriff von Konrad Lorenz, die zum Zeichen gewandelte Handlungssequenz, nach wie vor erhellend und brauchbar. Zweifeln allerdings unterliegt die Annahme, wonach Rituale zeitbeständig, kontinuierlich, insofern uralt sind, ja als Manifestationen vormenschlicher Biologie zu nehmen sind. Die gewaltig vorangetriebene Primatenforschung führt nicht auf stabile Rituale, sondern zeigt ein buntes Puzzle möglichen Verhaltens, das keine einheitliche Entwicklungslinie erkennen lässt. In dem doch besonders einer Ritualisierung unterworfenen Sexualverhalten sind Gorillas, Bonobos, Schimpansen untereinander verschieden und je anders als der Mensch. Es gibt einige Homologien, besonders etwa im Umgang mit sozialen Hierarchien, mit Grüßen und ‘Respekt’-Bezeugungen. Dergleichen ist uns leicht verständlich und führt direkt hinein auch in religiöses Verhalten.11 Doch die durch kulturelle Erziehung fixierten Rituale der Menschen in ihrer offenbaren Buntheit sind gewiss eine neue Stufe. Dass Rituale als Auslesefaktoren in der Menschheitsgeschichte anzusetzen sind, ist darum nicht zu beweisen; dass extrem lebensfeindliche Rituale absterben, ist banal. Die Versuche der ‘Soziobiologie’, soziale Regeln und Bräuche auf ihren Wert für biologische Fitness, d. h. für den Fortpflanzungserfolg zu prüfen und quasi-darwinistisch daraus zu begründen, haben nicht weit geführt. Das ‘Gute’ im ‘Bösen’, das Lorenz im Aggressionsverhalten fand, findet immer weniger Sympathie. Dass Solidarität in erster Linie durch gemeinsam vollzogene oder demonstrierte Aggression gestiftet wird, findet kaum mehr Zustimmung. Aggression liegt quer zu zeitgenössischen Trends und wird eher fortschreitend tabuisiert. Im Herrschaftsbereich der Bilder-Medien hat ein ‘böses’ Gesicht eine abstoßende Wirkung, als zeige es nur den Angreifer und nicht auch den schützenden Verteidiger. Die Jugend-Gewalt, bei welcher Solidarität durch Aggression eine unübersehbare Rolle spielt, hofft man mit sozialpädagogischen Maßnahmen abzustellen. Flachem Optimismus entgegen besteht andererseits die Tendenz, das ‘Böse’ qua ‘Schurkenstaaten’ und Terrorismus zu verabsolutieren und der eigenen unreflektierten Aggression zu überantworten. Vom ‘Guten im Bösen’, wie Lorenz es zeigte, machten besonderen Eindruck die Tötungshemmungen bei verschiedenen Tierarten, vor allem den jeweiligen Jungen gegenüber; das ‘Kindchen-Schema’ und seine Wirkung hat sich weitum eingeprägt. Im Widerspruch dazu ist inzwischen die 11

Vgl. Burkert 1998, 102-125.

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Fachbiologie zunehmend den Ausnahmen nachgegangen, die so außergewöhnlich gar nicht sind, etwa dem systematischen Kindermord in Tierfamilien, wenn das potente Männchen Platz für den eigenen Nachwuchs schafft. Harmonie des Lebens tritt zurück gegenüber einem radikaleren Darwinismus. Einen prinzipiellen Durchbruch stellte das Buch The Selfish Gene (1976) von Richard Dawkins dar. Es macht, mit überlegener Wissenschaft, besonders in Bereichen von Statistik und Spieltheorie, der Idee der ‘Gruppenselektion’ den Garaus, einer naiven Version des Sozialdarwinismus, der man seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch in der allgemeinen Religionswissenschaft zugeneigt war,12 als ob im Auslesekampf die solidarischen Gemeinschaften, und so auch religiöse Gruppen, im Vorteil seien. Dagegen stellte Dawkins den Erfolg des einzelnen, ja des ‘selbstsüchtigen Gens’ in den Vordergrund, dessen Reproduktion keiner moralisch-solidarischen Definition unterliegt. Man sieht die Entsprechung zum modernen gesellschaftlichen Wandel, von einer korporativ gebundenen zu einer atomisierten, auf individuelle Interessen ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaft. So ist die ‘Fitness’ der Religion als Gemeinschafts-Phänomen in Frage gestellt. Freilich gilt das Problem der Gruppenselektion als noch nicht definitiv erledigt. Warum und wie überhaupt sich Gruppen bilden und durchsetzen, zumal Gesinnungs-Gruppierungen, das ist, vorschnellen Erklärungen zum Trotz, rätselhafter als gemeinhin angenommen. Über alles Frühere hinaus geht der markante Fortschritt, der gerade im Jahr 2000 mit der Entzifferung des menschlichen Genoms – und vieler anderer Genome seither – markiert ist. Parallel damit geht ein nicht weniger atemberaubender Fortschritt der Gehirnforschung. Hier wird eine Präzision der Feststellungen erreicht, die noch vor kurzem kaum denkbar erschien, Molekülbildungen einerseits, elektrochemische Wechselwirkungen in ungezählten Nervenzellen andererseits, in deutlicher Verbindung mit Bewusstseinsphänomenen, mit Denken und Empfindungen. Das Ergebnis ist vorderhand eine neue Unübersichtlichkeit, die in Unverständlichkeit mündet. Milliarden von Synapsen in ihrem Zusammenspiel zu erfassen ist gerade unserem eigenen Gehirn unmöglich. Das Ich, die Person, der Geist sind so nicht aufzufinden. Fortgeschrittene mathematische Methoden im Bund mit Computern mögen weiterführen – die verstehende 12

Vgl. Gruppe 1921, 243: “Vorsprung im Kampf ums Dasein mit anderen Gesellschaftsgruppen”.

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Anthropologie gerät in eine Krise, wie sie seit Jahrtausenden nicht bestanden hat; es wird Generationen dauern, damit fertig zu werden. Zwischen unserer naiven Erlebens-Psychologie und der Komplexität eines funktionierenden Gehirns auf dem Hintergrund genetischer Programmierung ist kaum zu vermitteln. Ein sokratisch-platonischer Dialog oder ein demokratischer Diskurs darüber erscheint ebenso unmöglich wie eine altmodische Predigt. Unsere herkömmlichen Auffassungen, in denen wir geistig zu leben glauben, samt unserer traditionellen Art, darüber zu sprechen, erscheinen als ungeheuerliche, vielleicht irreführende Vereinfachungen. Die Entwicklung der Biologie schlägt durch auf die Psychologie. Die Arbeit an Homo Necans stand im Zeichen der Freudschen Psychoanalyse, die in Deutschland erst nach 1945 als das Neue, Revolutionäre zur Entfaltung kam; im persönlichen Bereich kam die Verbindung mit Georges Devereux dazu, einem genial-erratischen Psychoanalytiker und Kulturhistoriker, den E. R. Dodds in die Klassische Philologie hineingezogen hatte.13 Dass die in faszinierenden Büchern vorgetragenen Theorien Freuds doch eigentlich Mythen sind, die gerade darum ihre Wirkung taten, diese Einsicht scheint sich mehr und mehr durchzusetzen, zumal in der Praxis konkurrierende Methoden und vor allem die Erfolge von Chemotherapeutika hervortreten. Die Mythen haben den Vorteil, dass sie erzählbar und scheinbar begreifbar sind. Jane Harrison hat Freuds Totem und Tabu begeistert begrüßt:14 Wir Wissenschaftler leben auch weiterhin in Mythen. Doch wissenschaftliche Psychologie, wie sie sich international entwickelt hat, ist anderer Art, gestützt auf Experimente und Statistik; sie gewinnt partielle Einsichten, hat auch Heilerfolge, hält sich aber fern von einer allgemeinen Kulturtheorie, wie sie Freud skizziert hatte. Wie also kann der Kulturwissenschaftler die Psychologie noch nutzen? Lassen sich aus dem, was wir an Erlebensweisen und Emotionen intuitiv als ‘allgemein menschlich’ oder ‘spezifisch menschlich’ annehmen, überhaupt objektive Aussagen gewinnen, oder projizieren wir damit immer nur ein kulturell gesteuertes Selbstbild? Äußerlich werden wir ‘globalisiert’: alles mögliche Fremde ist in medialer Aufbereitung zugänglich, freilich so, dass die kulturellen und individuellen Tabu-Strategien, die Verhüllungen und Sprachregelungen der anderen dabei kaum zu durchdringen sind.

13 14

Vgl. Devereux 1976; Duerr 1987. Vgl. Harrison 1912, xxiii.

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Gibt es ein Humanum? “There is no human nature apart from culture” (Geertz 1973, 35-36). Im Falle von Homo Necans heißt dies: Was lässt sich generell fassen etwa über Entstehung und Verarbeitung von Angst- und Schuldgefühlen im Tiere-Töten bei ganz verschiedenen Individuen, Regionen, Epochen? Hat die These, dass in Opferritualen etwas wie Schuldgefühle und Wiedergutmachungsversuche zum Ausdruck kommen, noch einen allgemeinen Sinn? Die Interaktion von Jagdverhalten, Aggression und Angst- oder Schuldgefühlen kann von der Gehirnforschung im Einzelnen problematisiert, aber im Ganzen bis auf Weiteres weder bestätigt noch widerlegt werden, zumal ‘Jagdverhalten’ doch wohl recht verschieden funktioniert, je nachdem ob man einen Hasen mit einer Wurfkeule zu treffen sucht, ein Reh in einer Schlinge fängt oder an den Abzug einer Feuerwaffe rührt. Einstweilen können wir uns zurückziehen auf die auf uns zulaufende kulturelle Tradition: Hier finden wir, verbreitet und zeitbeständig, eine Ritualpraxis, die den Umgang mit dem Tod ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, indem sie das Tiere-Schlachten als ‘Heiliges’ zelebriert oder auch, in der Reform-Religion eines Buddha, radikal ablehnt. Beim Jagdverhalten der Schimpansen gibt es dergleichen nicht. Ob sich bei Menschen dergleichen fortsetzen wird und fortsetzen soll, ist eine andere Frage. Die Kulturwissenschaften, traditionell Geisteswissenschaften genannt, sind seit langem in der Reaktion auf den Erfolg der Naturwissenschaften befangen. Sie suchen die eigene Autonomie zu sichern durch Loslösung von der sogenannten ‘Natur’; und so insistiert man auf der scheinbar freien Vielfalt kultureller Konfigurationen. Wie gesagt: “There is no human nature apart from culture”.15 Point de résistance ist die unzweifelhaft biologisch eingerichtete Geschlechterdifferenzierung; doch sie wird mit modernisierendem Gestus möglichst ganz zum gesellschaftlichen Konstrukt erklärt. Biologische Prägungen werden zur Erklärung kaum mehr zugelassen. Ebenso wenig wird Vergangenes als Maßstab für Gegenwärtiges anerkannt. Gerade zu der Zeit, als Homo Necans zum Abschluss kam, fingen die Kulturwissenschaften und insbesondere Ethnologie und Volkskunde an, sich explizit von ihrer Rolle als Hüter der Tradition zu emanzipieren und sich, statt für alte Kontinuitäten, für Kontinuitätsbrüche zu interessieren, für Modernisierungen und illegitime Restituierungen, für zeitlose 15

Geertz 1973, 35-36.

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Kulturanalyse.16 In der Tat, menschliches Ritual ist vielgestaltiger, formbarer und kurzlebiger als die aufs ‘Wesen’ ausgerichteten Idealisten früherer Generationen annehmen mochten. Eine Zeitlang erschien der Strukturalismus, ein ahistorischer, an formaler Logik orientierter Umgang mit Mythen und Riten, als neue, spezifische Methode der Geisteswissenschaft, wobei der Gehalt sich auf die Antithese Natur-Kultur konzentrierte.17 Der eigentliche Wandel freilich liegt darin, dass der Ethnologie und Volkskunde ihr Gegenstand abhanden kommt, insofern der globale Zivilisationsbrei allenthalben sich durchsetzt. Keine unberührte Insel ist geblieben, die zusätzliche anthropologische Modelle beibringen könnte. So bleibt vor allem Selbstkritik innerhalb der Wissenschaft, samt der Kritik an bedeutenden Vorgängern, deren Interpretationen auf ideologische Einfärbung geprüft werden. Am reinsten mag Geisteswissenschaft sich verwirklicht sehen, wenn sie sich ganz von der Ausrichtung auf objektive Sachverhalte emanzipiert und in Interpretation von Interpretationen erfüllt. Hermeneutik kann sehr geistvoll sein; sie ist sich selbst genug: Hier erst recht wird alles zu Konstruktion, es gibt kein Finden, nur Erfinden und Weitergeben. Genauer sei dies hier nicht diskutiert. Dass naives gegenständliches Interesse ganz unterdrückt wird, steht trotz allem nicht zu erwarten. Religion begreiflich zu machen, ist in dieser Weise immer schwieriger geworden. Religion steht vor uns in Gestalt sehr alter Traditionen, die uns bald allzu fern und dann wieder fast allzu nah erscheinen. Auf der einen Seite ist in der heutigen Wohlstandsgesellschaft Religion im Begriff, definitiv zu verschwinden. Dies fällt etwa in den ‘neuen Bundesländern’ Deutschlands auf. Andererseits fordert die nicht-europäische Religion des Islam einzigartige Aufmerksamkeit durch wachsendes Selbstbewusstsein und besonders durch das Glaubens-Extrem der suizidalen Attentäter. Die Frage, ob Religion schlechthin als ‘gut’ gelten könne, wird darum mit neuer Dringlichkeit diskutiert.18 Ein stetiger Fortschritt der ‘Menschheit’ im Sinne humaner Aufklärung ist in globaler Sicht keineswegs selbstverständlich. Die historische Wissenschaft, die der Aufklärung verschrieben ist, kann die Vorstufen des Gegenwärtigen Stück für Stück erhellen.

16

Symptomatisch Bausinger/Brückner 1969; Bausinger 1971. Vgl. Burkert 1979, 10-18. 18 Vgl. Kippenberg 2008. An sich ist das Problem nicht neu: tantum religio potuit suadere malorum; Lucr. 1.101. 17

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Dass so geklärtes Bewusstsein zum gegenseitigen Verstehen und damit zur Entspannung beitragen könnte, ist eine fast verwegene Hoffnung. Trotzdem werden wir weiterhin unsere Aufgabe darin sehen, die Diskussion lebendig zu erhalten und weiter zu führen. Motto kann noch immer die Formulierung des Siebten platonischen Briefs (344b) sein: ‘Argumente vorbringen und annehmen mit gegenseitiger Kritik, die mit Wohlwollen einhergeht’, ƭƽƥưƮ Ʀư˃Ʈƣơ ƵƧ Ƭƣɚ ƭƣƤƧʴƮ ȀƮ ƧȸvƧƮƟƴƫƮ ȀƭƟƥƸưƫƳ. Festhalten möchte ich, manch modernen Tendenzen zum Trotz, an einem aufs Objektive gerichteten ‘Realismus’,19 und insbesondere an dem Blick auf die historischen Bezüge. Wenn wir sehr vorsichtig darin geworden sind, ‘Wahrheit’ schlechthin zu behaupten, kann man doch dem von Karl Popper gegebenen Rat folgen,20 sich zunächst einmal auf das Negative zu einigen: Was es zu vermeiden oder zu beseitigen gilt; das heißt für Wissenschaft vor allem: Falschheit, Lüge, Täuschung, einschließlich der Selbsttäuschung. Hierfür hat die Wissenschaft seit langem kritische Methoden entwickelt. In der Beschäftigung mit Literatur ist Objektivität in doppelter Brechung gefordert, auf der Ebene des Textes, der zu sichern ist, und der in ihm intendierten Wirklichkeit, ein Bild, das mit all seinen Bedingungen, Vorprägungen, Verzerrungen, Verhüllungen, Absichten und Ideologien in den Blick zu nehmen ist. Gefordert ist ein gewisser Respekt vor Wirklichkeit. ‘Das Seiende zu sagen’, so formuliert man auf Griechisch den Gegensatz zu Irrtum und Täuschung. Griechische Bildung liefert auch noch immer einfache Beispiele für Richtigkeiten der ‘Natur’: Dass eine Mondfinsternis der Erdschatten ist, der den Widerschein der Sonne auf der Mondoberfläche wegnimmt, das ist, auf Beobachtung und Überlegung gebaut, eine ‘richtige’ Feststellung, die aufräumt mit anderen Deutungen, als ob da böse Geister den Mond bedrängten oder thessalische Hexen am Werke seien. Die griechische Erklärung ist eingeordnet in ein raum-zeitlich bestimmtes Weltmodell, das berechenbar, nicht aber durch gezieltes Ritual, durch Magie beeinflussbar ist. Dieses Natur-Modell ist kritisierbar, verbesserbar, ist aber nicht durch ein ‘anything goes’ zu ersetzen. Gerade in Sachen Religion wird man von einem ‘Sich Verwundern’ im Sinne des Aristoteles (Met. 982b12) nicht loskommen. Und schon dieses ‘Verwundern’ führt über bloße Selbst-Explikation hinaus. ‘Verstehen’ 19 20

Vgl. Burkert 2000; Burkert 2003. Vgl. Popper 1945, 158-159.

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heißt nicht sich einzuschließen, abzuriegeln, zu salvieren, sondern dem ‘Verwunderlichen’ mit dem Risiko eigener Metamorphose nachzugehen. Das historische Wissen ist besonders wichtig zur Vermeidung von kurzschlüssigen Meinungen, voreiligen Verallgemeinerungen, ja Ahnungslosigkeit. Ein Vorteil des klassischen Altertums besteht darin, dass es ausgezeichnet erschlossen und überschaubar ist und doch weitgedehnte zeitliche Perspektiven eröffnet. Es zeigt, wenn nicht immer Fortschritt, so doch nicht umkehrbare Entwicklungsschritte, und zwar im Nahbereich der eigenen Tradition. Die griechische Basis unserer Kultur ist oft bedacht worden; die vorangehenden ‘altorientalischen’ Kulturen mit einzubeziehen, ist eine seit langem anstehende Aufgabe. Gerade vom Aktuellsten sollte ein besonderer Impuls ausgehen: Wenn Geläufiges, scheinbar Selbstverständliches wie Seele, Geist, Person sich heutzutage eher als inzwischen alte, doch durchaus wirkungsvolle Mythologie erweist, wenn Kants Postulate Gott, Freiheit, Unsterblichkeit als kaum mehr einlösbar erscheinen, ist die Analyse des Zustandekommens solcher Begriffe und Überzeugungen wichtig; der Philologe kann die Prägung des Denkens am Wandel der Ausdrucksweisen verfolgen. Mehr als zuvor sind wir darauf angewiesen, zu verstehen, woher die Formulierungen kommen, in denen wir uns heimisch fühlen, auch welche Lücken bleiben, wenn das Neue sich nicht zusammenschließt. Insofern bleibt die griechische Antike aktuell. Wir betreiben dabei, meine ich, nicht bloß Interpretation von Interpretationen. Immer sprechen wir zugleich auch über uns selbst, arbeiten wir auch an unserer eigenen Wirklichkeit. ‘Creation of Sense’ inmitten biologischer Tatbestände war in der Entwicklung von Religionen intendiert. Umringt vom Fortschritt der Wissenschaften verharren wir in einer traditionellen, sprachlich gedeuteten Welt, mit dem Bedürfnis nach Verdichtung, nach Reduktion von Komplexität, selbst wenn man metaphysische Bezugspunkte streichen möchte. Um nochmals auf die Griechen zurückzugreifen: Sie definierten den Menschen als zoon logikon thneton, das denkende, aber sterbliche Lebewesen. Wir bleiben, was immer wir denkend vollbringen, dem Tod ausgesetzt und kommen nicht davon los, ihn zu bedenken. Insofern bleibt gerade auch in der Praxis des ‘heiligen’ Tötens im religiösen Ritual ein Stachel, der vielleicht sogar tiefer dringt als bloße ‘Verwunderung’. Dies heißt weder Schlachtfeste zu inszenieren noch Todesmeditationen christlicher oder islamischer Provenienz zu verabsolutieren. Bleiben wir bescheiden. Die Zeichen der Zeit stehen wohl

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nicht auf eine große neue Synthese in den Geisteswissenschaften allgemein und in der Religionswissenschaft im Besonderen. Wir stehen bestenfalls am Anfang des Begreifens.

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Walter Burkert

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JAN BREMMER Walter Burkert on Ancient Myth and Ritual. Some Personal Observations Two weeks before the conference on Walter Burkert took place,1 the United Kingdom, as usual, celebrated Remembrance Sunday, the day on which Britans originally remembered the dead of both World Wars but now have included those killed in action in Iraq and Afghanistan. In Edinburgh, where I was a guest professor at the time, the university had organised a Remembrance Service in the Playfair Library, one of the most beautiful libraries of the United Kingdom. At the beginning of the Service, the top of the local universities entered the Library in solemn procession, dazzling with their multi-coloured gowns. A female minister led the service and spoke a brief ‘Reflection’ with some lip service to other religions. We sang two hymns, listened to several readings from the Bible and prayed together for peace. Afterwards, there was a laying of wreaths in the quadrangle of Old College with the public standing at the edges and with the Armed Forces (of which young women constituted a considerable part) occupying the square along with a small army band, in kilts of course. A trumpeter played the Last Post and a lonely bag piper the Flowers of the Forest. I was impressed, and the ritual reminded me of Durkheim’s idea of ritual as an integrating force, as we had here the general public, the great and the good of Edinburgh’s universities, and the Armed Forces. All through the ceremony, though, I could hear traffic outside the quadrangle streaming past us, apparently indifferent to the death of past and present compatriots. The ritual looked traditional, but at the same time it had become marginalised, and the introduction of women and professional soldiers had gradually changed the nature of its protagonists compared to earlier celebrations. Moving from the ritual of remembering war victims to Walter Burkert is not a great step, as he has been the leading inspiration for the study of myth and ritual in my generation, and he himself has had a lifelong fasci1

I have kept the oral character of my contribution but added notes. Suzanne Lye kindly corrected my English.

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nation with death and sacrifice. Yet when we look at his list of publications it seems fair to say that his most influential contributions in the field of ritual, with or without myth, date to the period of 1966 to 1979. In Structure and History (1979) we can already notice the shift to an interest in the relations between Greece and the Ancient Near East,2 and these will become a prominent part of Burkert’s work in the 1980s and 1990s, even though sacrifice will remain an enduring topic of fascination in his work. It fits this trend that his most interesting study of myth and ritual in later years is called: “Kronia-Feste und ihr altorientalischer Hintergrund”.3 Focussing then on this earlier work, I will first make a few general observations on Burkert’s developing approach to myth and ritual and then look at one particular analysis of a Greek festival, the Anthesteria, and compare his approach in the Homo Necans to another recent one by Robert Parker. In the years under discussion Burkert usually combined his approach to ritual with myth.4 In fact he regularly returned to this combination: in the studies of the Athenian festival of the Arrephoria (1966b) and of the new fire at Lemnos with the explicit subtitle “A Study in Myth and Ritual” (1970); in Homo Necans (1972, 39-45 = 1983, 29-34), and in Structure and History (1979, 56-58). In the world of Greek religion of the time, there was relatively little attention for mythology and hardly any at all for the combination of myth and ritual. Understandably, therefore, Burkert’s road to the combination was a slow one. As he tells us himself (2002, 5-7), via Dodds’s classic study The Greeks and the Irrational (1951) he came to Meuli’s famous essay Scythica on Greek shamanism,5 which showed him that ritual can give rise to fantastic stories. Then, in 1958, he met Reinhold Merkelbach (1918-2006), who told him that in the case of the mysteries it was possible to go from Erzählmotive to their ritual background. A journey to Southern Italy brought him to the Villa dei Misteri in Pompei, which had been connected by Merkelbach with Apuleius’ Amor and Psyche, and to the nightly procession on Good Friday in Sorrento. This 2

Note that the oldest article in Burkert 2003 is also from 1979. Burkert 2003, 154-197 (19931); see now also Bremmer 2008, 73-99 (“Greek Fallen Angels. Kronos and the Titans”, 20041). 4 For the historiography of ‘myth and ritual’ see most recently Bremmer 2005, Bierl 2007a and Kowalzig 2007, 13-55. 5 Meuli 1935; first used in Burkert 1962. I (1983, 25-48 and 2002, 27-40) have repeatedly argued against the existence of a Greek shamanism, but clearly not convinced Burkert (2006, 189-190); see now also Bierl 2007/9. 3

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close combination of raw ritual and erotic images made a profound impression on him. In these years there also appeared Konrad Lorenz’ book Das sogenannte Böse (1963), whose studies of the communication character of animal ritual proved to be inspirational. At the same time, Burkert also studied the history of the myth and ritual complex, going back to Jane Harrison’s Themis (1912) and Sigmund Freud’s Totem und Tabu (1913). The apogee of these interests was Homo Necans (1972 = 1983), a book that he later defined as “im Grund eine Studie über Mythos und Ritual in der altgriechischen, vorchristlichen Religion” (1997, 333). We can see some of the contours of Burkert’s thinking already very clearly in a passage of “Greek Tragedy and Sacrificial Ritual” of 1966, which I will quote in full: But we must not overestimate the importance of beliefs and explanations in religion. Down to the beginnings of Christianity and even farther on, the justification of religion is tradition. Rites are performed kata ta patria, and this is the reason why so little change took place in these rites between Palaeolithic times and the Greeks, during tens of thousands of years. So the essential matter cannot have been what a hypothetical heuretês came to feel or believe, owing to his private experience or associations, but rather it was the effect of the rite on society according to the structure of the human psyche. Instead of asking which incident could bring forth some special form of religion, we should ask why it succeeded and was preserved. The answer can be seen in its function in human society. We may still speak of ‘ideas’ inherent in the rites, but we must discard the rationalistic preconception as if there had been, first, a concept or belief, which led in a second step to action. Behavior is primary, but its form is correlated to typical human situations, and, therefore, understandable. In this respect rites may make sense. To some extent, even biology can contribute to understanding; animals, too, have their rites which control mutual recognition and cooperation. The contrast of man and animal will emerge immediately. (Burkert 1966a, 110 = 2007, 21-22)

The passage demonstrates some of the innovative qualities Burkert brought to the study of Greek ritual: a bold chronological vision that connected Greece to the Palaeolithicum and the possibility of a biological contribution to the better understanding of Greek ritual. At the same time, we can now perhaps see clearer than in the 1960s and 1970s that this approach is not without difficulties. To start with, we have virtually no information about Palaeolithic ritual. That is perhaps why in the more recent, German version of this article it is now said that “anscheinend” there were little changes between the Palaeolithic and the Greeks.6 6

Compare Burkert 1966a, 110 with Burkert 1990, 23.

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This fascination with the Palaeolithic can sometimes even lead to, in my view, debatable claims. In his Creation of the Sacred Burkert mentions one Palaeolithic ritual. He notes that “in some of the famous Paleolithic caves there are handprints of people apparently trying to come into contact with the sacred or to leave the mark of their presence. In one cave some of these hands clearly are mutilated, and it has been assumed that some form of finger offering occurred even at this epoch. In other words, finger sacrifice is a Paleolithic ritual that has survived into the twentieth century, over more than 20,000 years” (1996, 39). The transition from “it has been assumed” to the statement of a fact is rather striking here, the more so as there is no proof of continuity. Should we not rather say that the body provides possibilities that are used in different cultures at different times without claiming the persistence of ritual? In the Roman Empire males cut off fingers to dodge the draft (Cracco Ruggini 1998), but in February 2003 a man in the Indian state of Tamil Nadu cut off one of his fingers and dropped it in an offering box at a temple dedicated to the Hindu god Ayyappa as an offering for the state’s chief minister. The year before, another supporter of the chief minister had cut off his tongue.7 In what way can we call these incidents a ritual? Is that not stressing the term too much? That does not mean to say that his observations on the importance of ritual are off the mark. Although recent studies of Greek religions tend to revalue ‘belief’ again,8 the locus of Western religion has always been more in the public than in the private sphere until the later eighteenth century, when we can see an accelerating development of empathy and a general shift towards locating religion in the inner feelings rather than in dogma and ritual, as exemplified in the work of Friedrich Schleiermacher (1767-1834).9 What developments can we now observe in this respect? The first thing we notice is that in his article on the Arrephoria, Burkert (1966b, 46, 50) still speaks about the connections between a myth and the relevant Kult or Ritus: his later use of the term ‘ritual’ is clearly influenced by the Anglophone literature. In other words, in this article, he still uses the typi-

7

See http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/south_asia/2796777.stm. See especially Harrison 2000. 9 See the important studies of Hunt 2007 (empathy) and van Rooden 1996, 200-202 (location of religion), respectively. 8

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cally nineteenth-century vocabulary, as we can find it in Friedrich Gottlieb Welcker (1784-1868), Carl Otfried Müller (1797-1840), and HeinrichDietrich Müller (1823-1893).10 Persuasively, Burkert sees myth here as a commentary on the ritual, but also as a means to reconstruct the ritual, as the myth has to offer a comprehensive story whereas ancient erudition often offers only membra disiecta (1966b, 46, 50). The latter idea also occurs in Burkert’s study of new fire on Lemnos, where the term ‘ritual’ has now replaced older German terms.11 On the level of ritual, every nine years the Lemnians extinguished their fires during nine days.12 During this period, they sacrificed to the chthonic gods, and women chewed garlic to keep their men away. After the fire-less period, a ship arrived from Delos to kindle new fire and thus to restore the normal social order. According to the corresponding myth, Aphrodite had penalised the Lemnian women so that they developed a foul smell. Understandably, their husbands looked therefore to their Thracian slave-girls for sexual comfort. In reaction, the women murdered their husbands except for the king, who could escape with the help of his daughter Hypsipyle. This celibate period lasted until the Argonauts landed on Lemnos on their return from capturing the Golden Fleece. They were much welcomed by the women in a rather licentious festival and thus the normal sexual (and social!) order was restored again.13 Burkert uses this myth to come back to the problem of the relation between ritual and belief. Commenting on Nilsson’s observation that it is a widespread belief that fire loses its purity through frequent use, he first asks the question from where this ‘ubiquitous belief’ comes. “The obvious answer is”, thus Burkert, “from the rituals. People, living with their festivals from childhood, are taught their beliefs by these very rituals, which remain constant as against the unlimited possibilities of primitive associations” (1970, 4 = 1990, 62). However, this begs the question, as we must now ask: where do the rituals come from? In this case, probably, not so much from beliefs but 10 For the development of the modern notion of ‘ritual’ see Bremmer 1998; a contribution in the Festschrift for Burkert. 11 Burkert 1970, reprinted with a few addenda in Buxton 2000, 227-249; German translation in Burkert 1990, 60-76. 12 Unfortunately, the manuscript evidence for the Greek of ‘every nine years’ is uncertain here. I follow Adolf Wilhelm’s emendation, which is rejected by Burkert and Grossardt (2006, II, 718), but see now Löschhorn 2007, 277-279. 13 For such licentious festivals see now Bremmer 2008, 261-265.

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from the pragmatic experience that lack of fire is fatal for the continuation of life. The ritual of new fire, then, is a dramatization of a daily experience. Moreover, it is hardly true that this ritual always remained constant. The fact that new fire is brought from Delos surely points to a relatively late stage in the history of the Lemnian festival. Like the ritual from the beginning of this article, Greek ritual must have also been continuously in flux, even if we can rarely follow its transformations in detail. In his actual discussion of the myth and ritual of the Lemnian ritual, Burkert followed the course set out by Georges Dumézil (1898-1986) in one of his first books, even though the latter was still very much influenced by the Frazerian fertility paradigm.14 In most aspects Burkert’s analysis is still very much a model of analysing a complex of myth and ritual, even if, as in many of his older studies of ritual, the prominence of sacrifice is overrated. Yet in one aspect I cannot follow him. He states: But the more we learn about the ritual, the closer the correspondence with myth turns out to be. The uprising of the women, the disappearance of the men, the unnatural life without love, the blood flowing – all this people will experience in the festival, as well as the advent of the ship which brings the joyous start of a new life. So far Jane Harrison’s formula proves to be correct: ‘The myth is the plot of the dromenon’ (1970, 13-14 = 1990, 69-70).

Yet this is not wholly true. One aspect is clearly lacking in the myth, viz., the fire: the element that guarantees the continuation of life is nowhere mentioned in the myth. And when we read Burkert’s summary of the ritual at the end of the article we again notice that fire is lacking (1970, 16), even though the myth is declared to be the essence of the ritual. This seems to me wrong. Myth can concentrate on specific features of the ritual but should not be equated with the ritual. In the end there are important differences between the two, as Burkert himself illuminatingly notes in Homo Necans: “[Myth] names that which the ritual intends” (1972, 44 = 1983, 34). I would rather formulate it differently: myth names what the Greeks found noteworthy, if not sometimes odd, about the ritual. Moreover, the claim of unchangeability is historically also hardly acceptable as we can see in the case of sacrifice. Before the domestication of cattle there was no sacrifice of animals, as Jonathan Smith (1987, 202205) has persuasively argued, and the domestication of cattle took place 14

Dumézil 1924. For the birth and development of the fertility paradigm see now Humphreys 2004, 179-222.

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about 8.000 years BC in the Near East, probably from the local aurochs, as DNA analysis has now shown (Edwards 2007). Moreover, Greek sacrifice, as we know it, had been influenced by Near Eastern practices and still developed in the course of the Archaic and Classical Age (Bremmer 2007). There is in Burkert’s approach, then, a tendency to privilege origin and the traditional above the synchronic and the dynamic. Burkert’s biological interest will become more prominent in the following years and reach its height in his Gifford lectures of 1989, later published as Creation of the Sacred (1996), even though as regards ritual this book is perhaps more a restatement and expansion of older views than a new beginning. In his biological approach we can distinguish at least two directions. First, there is the connection with specific acts, such as the association of phallic representation with the erection of herms, of mammals peeing to mark their territories with libations (1979, 35-45), or of people kneeling down with rituals of submission. Yet however helpful these combinations are, they are clearly not the keys which unlock the doors of more complicated rituals. His second direction is much more ambitious as can be seen from analyses in Structure and History, where Burkert introduces the term ‘program of action’. His new position can perhaps be best illustrated by his study of a type of story that is analysed by Vladimir Propp in his well-known study of the morphology of the folktale.15 Burkert summarizes this story as follows: (1) there is an instruction, a task to go in search of something (something lost); (2) to achieve its goal, the hero gathers relevant information, decides to set out upon the quest, starts on his way, meets with others (either helpers or enemies) and experiences a change of scenery; (3) the object is found, seized by force or cunning, and brought back; (4) the hero, after being chased by the adversary, succeeds in triumph.16 According to Burkert, we can summarize this scheme in one verb, ‘to get’, and find here a ‘program of action’ based on biological drives but translated into a story. Mutatis mutandis, it is the same scheme that we find in nature when a rat starts his search for food and escapes capture by cats or humans (the monsters of fairy tales!).17

15 Propp 1958. On Propp’s ideas about the structure of the fairytale see most recently Kafalenos 1997 and Dundes 1997. 16 I paraphrase the summary by Versnel 1993, 76-77. 17 Burkert 1979, 14-18 (Propp), 56-58 (myth and ritual).

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Burkert has applied the same approach to a type of myth that he calls ‘the girl’s tragedy’, found in the myths of maidens like Io, Danaë, and Kallisto. All these myths display the same plot: (1) the maiden leaves home and hearth, (2) she withdraws into an isolated place, be it a sanctuary or the wilderness, (3) she is raped or seduced by a god, (4) she has to undergo a series of tribulations, (5) she gives birth to a son and is rescued from her misery (1979, 6-7). Burkert argues that this pattern can be interpreted as reflecting initiation rituals; but these, in turn, are demonstrative accentuations of biologically programmed crises, menstruation, defloration, pregnancy, and birth ... The roots of the tales go back to verbalized action, whether ritualized or not. (1979, 57)

As such, myth and ritual go back to the same ‘action programs’ although they cannot be reduced to one another.18 Once again, one must be careful. Initiation festivals are undoubtedly connected with biological events, but the rituals have often moved away from the immediate physical maturation, as they have to comprise a whole cohort of youths. Moreover, whereas Propp could postulate a fixed sequence of motifemes in the fairy tales he studied, it is clear that in Greek myth the sequence is flexible, as Auge and Danaë give birth before their tribulations but Io and Kallisto after (Csapo 2005, 201). The notion of ‘programs of action’ may be helpful with a few rituals; it leaves us in the dark with many other ancient festivals. In the end, biology is not the key to ritual for which Burkert perhaps had hoped.19 Even if the earlier articles and Structure and History are known to most classicists with an interest in Greek religion, there can be little doubt that it is Homo Necans that soon became the book that established his international fame outside the circle of classicists. Let me therefore concentrate on his analysis of one particular festival in order to illustrate Burkert’s approach to ritual in greater detail. There can be little doubt that the Athenian Anthesteria is one of the most complex of that city’s festivals (Parker 2005, 291 with n. 9). By comparing Burkert’s analysis with the recent one of Robert Parker, we can get a good insight in some recent de-

18 For a more detailed discussion of what I call the ‘mother’s tragedy’ see my observations in Bremmer/Horsfall 1987, 26-30; see now also Bierl 2007b, at 265-276, 279, 318. 19 For a more positive discussion see Versnel 1993, 74-87.

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velopments in the field as well as in what I consider some of the enduring strengths of Burkert’s approach.20 It is typical for Burkert’s approach that he starts with the origin of the festival, whereas Parker starts with the ‘synchronic’ emotional appeal of the festival by comparing it to Christmas.21 The latter argues that the festival must have been celebrated in private houses and local sanctuaries in the demes throughout Attica. The persuasive observation fits this excellent historian of Athenian religion, who in his books has paid much attention to the local performance of religion in Athens. Parker (2005, 290) situates the most important sanctuary of the festival, the Limnaion of Dionysos, on the outskirts of Athens, but the exact place is unknown; we only know that it lay south of the Acropolis (Th. 2.15.4). Burkert notes the absence of swamps in Athens in historical times, but we simply do not know when the sanctuary was founded and the observation that “it must have (therefore) come from a more ancient, alien tradition” seems rash. Certainly, it hardly justifies the conclusion: “There is no such thing as an autochthonous origin for religion” (1972, 239 = 1983, 216), however true in itself that observation is. Burkert gives us a splendid description of the beginning of the ritual, of the “strangers and friends with great pithoi, ‘jars’, loaded on clattering carts drawn by donkeys”, who, “after holding out for months, despite longings and anxious curiosity, finally broke the resinated seals” (1972, 241 = 1983, 218). Even though we may wonder whether this is true, as many Athenians in the outlying districts may well have opened their jars at home (Parker 2005, 292), such descriptions form part and parcel of Burkert’s discussions of ancient rituals, and they surely are one of the attractive parts of his scholarship. Parker (2005, 293) adds that “the need for cautious and civilized drinking was emphasized”, but this is mentioned only by Plutarch and the need for such proper behaviour in the classical era is hardly supported by the drunken revelers of Aristophanes’ Ranae (217-219). At the second day of the festival there was a drinking contest, whereby the Athenians were sitting at separate tables and drinking in silence. Although the detail does not receive any attention from either Burkert or 20

For other recent studies see also Maurizio 2001 and Humphreys 2004, 223-275. Bremmer 1994, 50 also compares Epicurus’ celebration of the Choes and his advice to his pupils to do like wise; cf. Phld. Piet. 806-808, 865-869 Obbink. 21

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Parker, we may perhaps observe that the ritual here had likely preserved or, less likely, introduced, the old custom of eating and drinking while sitting, which we still find in Homer, instead of the later reclining. This custom was perceived as strange by the ‘loquacious Athenians’ and called out for an explanation. That is why it was connected with the return of the matricide Orestes. Similarly, at the neighboring island of Aegina, there was a festival for Poseidon at which they were also dining at separate tables in silence. Here the custom was explained by the return of the survivors of the Trojan War: not wanting to hurt the feelings of those whose relatives had not returned, the survivors remained very quiet during their feasting, evidently in contrast with the normal boisterous gatherings. Given the geographical proximity, the two customs must have been related in one way or another.22 In any case, there is no question of guilt in the ritual of Aegina. This should make us reticent with accepting Burkert’s claim of guilt for the Anthesteria. The introduction of Orestes can only be fairly late and almost certainly postdates tragedy: it belongs to the phase in which Athens appropriated all kinds of mythological figures, such as Iphigeneia, Deukalion, and Oedipus. Moreover, it is also hard to accept his idea that “the socalled drinking competition bears the stamp of a sacrifice: not just the silence, but the individual tables and the distributions of portions as equal as possible; above all the atmosphere of pollution and guilt”. Similarly, the idea that “by eating food, one incurs guilt which must be distributed equally among all” (1972, 244 = 1983, 220-221) seems not substantiated by our evidence. In fact, Burkert even says that “the rite of the Anthesteria implies a somewhat different, though largely analogous, myth of the god torn apart (i. e. Dionysos and the Titans), whose blood is represented in the sacramental drinking of wine” (1972, 249 = 1983, 225). Once again, this goes much too far and finds no support in our sources. The problem, it seems to me, is Burkert’s fascination with sacrifice and guilt, which colours much of his earlier studies, and which, it seems fair to say, is hardly accepted any more by most historians of Greek religion. On the other hand, Burkert has given a very attractive interpretation of a proverb ‘Get out, you Carians, it is no longer Anthesteria’. In analogy to other folkloristic festivals, he has interpreted the reference to mummers

22

Burkert 1972, 120 = 1983, 105; Bierl 1994; Bremmer 1994, 46-47.

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who made fun of other revellers from wagons.23 Such mockery was typical of Athenian ritual and is also well attested for the procession to Eleusis for the initiation into the Mysteries, where the young mocked the old,24 at the bridge over the Athenian river Kephisos a prostitute hurled mockery at the passers by (Burkert 1972, 307 n. 19 = 1983, 278 n. 19), and the wealthier women who rode in buggies reviled one another.25 The recent scepticism of Parker (2005, 297) regarding its reference to the Anthesteria seems to be going too far. On the other hand, he has rightly argued that the ‘queen’ and the god did not perform a sexual act during the festival, despite Burkert’s vivid evocation of the event (1972, 262 = 1983, 237). The relevant Greek notice by Aristotle (Athen. Pol. 3.5) should be translated as ‘the king used to occupy what is now the Boukoleion, near the Prytaneum. There is proof of this; even now it is here that the meeting and marriage of the wife of the king (i. e. the archon basileus) with Dionysus takes place’ (Parker 2005, 303). This also means that we are left in the dark regarding this part of the ritual and its meaning. The same is true for the so-called Lenaea vases, which display women ladling wine and a pillar with masks, once even of Dionysus himself. Burkert has made a splendid attempt at bringing the vases in connection with the ritual wedding of the ‘queen’ with Dionysus. Typically, he also connected them with hunting rituals and sacrifice (1972, 255-263 = 1983, 230-238). Yet the much more sceptical analysis of Parker (2005, 306-312) persuasively points out that the connection of these vases with the Anthesteria is rather slight. In fact, there is no proof at all, and we can do no more than speculate here. Moreover, the connection between visual representations and ritual is rather complicated and certainly not as direct as Burkert made out in his analysis.26 Parker (2005, 297-301) has rightly accepted Burkert’s (1972, 245 = 1983, 221) argument about the Choes being a kind of initiation of the little boys in Athens, but he also pointed out in his discussion of the Lenaea vases that women do not seem to have a role at the Anthesteria, unless we accept its connection to the Lenaea vases (2005, 312). Regarding women,

23 Parker 2005, 315 says that “the rowdy god’s presence licensed young men to cheek their elders ‘from the wagons’”, but the sources do not specify the mockers. 24 Ar. Ra. 374-375, 389-393; V. 1362-1365. 25 Schol. ad Ar. Pl. 1014; Suda Ƶ 19. 26 See now the important reflections of Klöckner 2006.

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Burkert has regularly a good eye for the antagonism of the sexes (1972 = 1983, index), but I think that we are not far wrong in saying that Parker’s observation is typical of the generation of the post-feminism era. The last day was a kind of ‘remembrance service’ for the survivors of the Flood. Theopompus tells us that the survivors called the day Chytroi after a pot with primitive food. On that day they sacrifice to none of the Olympian gods but only to Hermes Chthonios, whom the survivors appeased on behalf of the dead. Moreover, none of the priests ate from that pot.27 Burkert (1972, 266 = 1983, 240), followed by Parker (2005, 295296), sees in the myth of the Flood “a structurally appropriate caesura between the sacramental sacrifice at the Choes and the new start on the day of the pots”. At the same time, though, there is still something odd about the day, as the Olympian gods are not honoured and their representatives, the priests, were not allowed to eat from the new food. Apparently, as more often in ancient ritual, the transition to the new order was not abrupt but had to take its course. It is time to sum up. With his studies from the middle of the 1960s onward, Walter Burkert breathed new life into the study of Greek ritual. He brought new insights to bear on the subject by his attention to ethology, functionalism, and structuralism. Through him we have become attentive to the rhythm of rituals and their moods, and his stress on the connection between myth and ritual has opened up the native, ‘emic’, exegesis and commentary. By doing so, Burkert’s approach completely swept away the old ‘fertility paradigm’ with its neglect of myth. This approach was not immediately accepted. In fact, the German edition of the Homo Necans was not reviewed by a major classical journal, and I remember vividly how difficult I sometimes found that book at first reading and how even with Structure and History I had to get used to the connections with the Ancient Near East. The tide had already turned with the English edition of Homo Necans, which was reviewed relatively widely in English journals, although still not in Gnomon or other Germanophone journals. At the same time, with its attention to Greek religion and mythology, Burkert’s writings inspired a whole generation of younger scholars, as was seen for the first time in 1986 in, as I may perhaps immodestly say, a collection of studies edited by me (Bremmer 1986). 27

Theopompus FGrH 115 F 347a, b; note the new text of its source, Schol. ad Ar. Ra. 218, in Chantry 1999.

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One of the colleagues from the School of Divinity at Edinburgh University, who was raised in an orthodox Protestant milieu, once proudly told me that his first letter of reference stressed that he was “neither a captive of his tradition nor in reaction to it”. It is in the same spirit that I have tried to make some observations on Burkert’s ideas about myth and ritual, which have been a constant source of inspiration for me for nearly four decades.

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ALBERT HENRICHS Mystika, Orphika, Dionysiaka. Esoterische Gruppenbildungen, Glaubensinhalte und Verhaltensweisen in der griechischen Religion

Der Schleier des Geheimnisses liegt bis heute über den Mysterien und Teletai der Griechen, ihren Einweihungs- und Initiationsriten, die sich im 6. Jh. v. Chr. erstmals nachweisen lassen, im Laufe des 5. und 4. Jh. gewaltig an Boden gewinnen und seit der hellenistischen Zeit in der ganzen griechischen Welt so weit verbreitet sind, dass sie ihre Spuren in einer nahezu unüberschaubaren Vielzahl von Monumenten, Inschriften und literarischen Texten hinterlassen haben.1 Die Götter, an deren Namen und Kulte sich diese Riten knüpften, waren ursprünglich Demeter und Dionysos, zu denen noch in vorhellenistischer Zeit aus Kleinasien eingeführte ‘neue’ Gottheiten wie Kybele und Sabazios traten.2 Das sind die Götter, auf die ich mich hier beschränken werde. Die Isis- und Osirismysterien, die bereits bei Herodot anklingen und dann seit der frühen Ptolemäerzeit von Alexandrien ausgehend ihren Siegeszug antraten, klammere ich ebenso aus wie die Mithrasmysterien der römischen Kaiserzeit, die eigene Wege gingen und unter den antiken Mysterien eine Sonderstellung einnehmen.3 Allen Mysterien ist gemeinsam, dass sie religiöse Gruppen bildeten, deren Mitglieder sich als Auserwählte verstanden, einer strikten Arkandisziplin unterworfen waren und an ein persönliches Leben nach dem Tode glaubten, das man sich je nachdem als Erlösung, Wiedergeburt oder Vergöttlichung vorstellte.4 Die Benutzung von sakralen Texten in schrift1 Zu Definition, Wesen und Funktion von ‘Mysterien-Initiationen’ (vƶƴƵƠƲƫƣ ƵƧƭƧƵƣơƵƟƭƩ) vgl. Burkert 1985, 276-304; Burkert 1990; Burkert 1995; Zeller 1994. Eine kommentierte Sammlung der wichtigsten auf die Mysterien bezüglichen Text- und Bildzeugnisse findet sich bei Burkert 2004b. 2 Versnel 1990, 102-123; Parker 1996a, 152-198; Allan 2004. 3 Hdt. 2.171. Zur Herodot-Stelle und zur interpretatio graeca ägyptischer bzw. ägyptisierender Mysterien vgl. Burkert 2002. Literatur zu Mithras unten Anm. 9. 4 Zur Arkandisziplin vgl. unten Anm. 6. Zum Leben nach dem Tode vgl. Burkert 1990, Index s. v. ‘Erlösung’, ‘Jenseitshoffnungen’ und ‘Wiedergeburt’; Burkert 1995, 9597; Schlesier 2001; Bremmer 2002; Parker 2005, 359-368. Zu dionysischen Gruppenbildungen vgl. Henrichs 1982, 138-151; Burkert 1993; Schlesier 1998; Jaccottet 2003.

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licher und mündlicher Form, zum Beispiel von aitiologischen Mythen, Hieroi Logoi, Aretalogien, Ritualvorschriften und Losungsworten, ist für diese Geheimkulte ebenfalls charakteristisch.5 Die erstaunlich streng eingehaltene Arkandisziplin hat dazu geführt, dass sich unsere Kenntnis der Mysterienkulte in relativ engen Grenzen bewegt.6 So können wir nicht einmal sicher sein, was im Telesterion bzw. Weihgebäude von Eleusis im Augenblick der höchsten Weihe, der epopteia (ȀƱưƱƵƧơƣ, ‘Anschauen’), den Mysten gezeigt wurde.7 Die Hinweise in antiken, meist christlichen Texten sind widersprüchlich – die einen reden von einem Abbild eines Phallos bzw. der weiblichen Scham, Hippolytos dagegen glaubt zu wissen, dass den Mysten eine Kornähre gezeigt wurde.8 Wie dem auch sei, unser Wissensstand reicht nicht aus, um den Ablauf auch nur einer geheimen Mysterienhandlung selbst in Umrissen zu rekonstruieren. Erst die Isis- und die Mithrasmysterien der

5 Baumgarten 1998; Henrichs 2003; Burkert 1990, 57-66; Burkert 2006, 321 s. v. ‘Buch’; Graf/Johnston 2007. Gattungsspezifische und wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen zur Aretalogie (‘Wundererzählung’) bei Henrichs 2006, 64-66. Zu den Mysterien als ‘Geheimkulte’ mit exklusivem ‘Wissen’ vgl. Burkert 1990, Index s. v. ‘Geheimnis’; Kippenberg/Stroumsa 1995, darin bes. Bremmer 1995, 71-78 und Burkert 1995. Hermann Diels war felsenfest davon überzeugt, dass es im Athen der Peisistratiden “Geheimlehren der Orphiker” und eine “orphische Sekte” gab, deren “Leben vom Schleier des Geheimnisses umhüllt” war (Diels 1907, 41-42). 6 Zum Problem vgl. Burkert 1983, 249-256 (“Documentation and Secret” im Kontext der eleusinischen Mysterien). Die antike Arkandisziplin ist der Hauptgrund für die Informationslücke in Sachen Mysterien, die ihrer Erforschung enge Grenzen setzt. Vgl. Burkert 2003, 115: “Mystéria sind per definitionem geheim, nur über ein persönliches Weiheritual erschlossen; das Wesentliche ist darum in unseren Quellen nicht augesprochen.” Folglich sind die Mysterien “uns weit entrückt und, da geheim, auch weithin unbekannt” (114). 7 Zu den eleusinischen Mysterien vgl. Burkert 1983, 248-297; Parker 2005, 342368; Bremmer 2010a. Zum ‘Sehen’ bzw. ‘Anschauen’ der Mysten (h.Cer. 480-482; S. fr. 837 Radt; E. Ba. 469-472) im Kontext der Dynamik des rituellen Verbergens und Enthüllens vgl. Burkert 1985, 287-289; Burkert 1995, 14-15; Burkert 2002, 12. ‘Selig, wer das geschaut hat unter den sterblichen Menschen’, heißt es im homerischen Demeterhymnus von der Einweihung in die eleusinischen Mysterien (h.Cer. 480 ȰƭƤƫưƳȯƳƵƞƦˡ ȰƱƺƱƧƮȀƱƫƸƪưƮơƺƮǰƮƪƲƿƱƺƮ, übers. Burkert 2003, 115). 8 Getreideähre: Hippol. Haer. 5.8.39-40, aus der sogenannten ‘Naassenerpredigt’ (Reitzenstein 1904, 81-102, bes. 95; Burkert 1996, 29). Pudenda: Tert. Adv. Valent. 1.3 (simulacrum membri virilis); Theodoret, Graec. aff. cur. 7.11 (ƬƵƧơƳ). Vgl. Nilsson 1941, 658-659; Burkert 1983, 286-291; Burkert 1990, 79; Burkert 2003, 115; Parker 2005, 357360; Bremmer 2010a.

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Kaiserzeit sind uns besser bekannt, weil die einschlägigen Texte oft ausführlicher sind und bildliche Darstellungen ergänzend hinzutreten.9 Das Mysteriengeheimnis, das uns den Blick verstellt, hat in der modernen Forschung nicht selten zu methodischen Engpässen und Fehlurteilen geführt. In den Augen von Skeptikern und Minimalisten wie Christian August Lobeck im frühen 19. Jh. bis hin zu Ivan Linforth um die Mitte des 20. Jh. ist jeder Versuch, den antiken Mysterien auf den Grund zu gehen und sich in den Mysterienglauben hineinzuversetzen, notwendigerweise zum Scheitern verurteilt, weil die antiken Mysterien ihr Geheimnis partout nicht preisgeben. Forscher wie Richard Seaford dagegen erweitern unser Mysterienwissen bei jeder Gelegenheit, indem sie bisher unentdeckte Anklänge an tatsächliche oder vermeintliche Mysterienrituale finden und sich hinter der antiken Arkandisziplin verschanzen, wenn man ihnen zu sehr auf die Finger schaut und explizitere Texte bzw. Kontexte verlangt.10 Zu den Gräzisten und Religionswissenschaftlern der letzten 200 Jahre, die sich um die Erforschung der antiken Mysterien verdient gemacht haben, gehören illustre Namen wie Friedrich Creuzer, Albrecht Dieterich, Jane Harrison und zuletzt Reinhold Merkelbach.11 Kein anderer Gelehrter hat jedoch so viel zum wirklichen Verständnis des Problemkreises, der sich von den eleusinischen Mysterien über die sogenannte Orphik bis zu den Dionysosmysterien der hellenistischen und selbst der Kaiserzeit erstreckt, beigetragen wie Walter Burkert. Die stattliche Reihe von klärenden und oft grundlegenden Arbeiten zum Thema beginnt mit den programmatischen, erstmals im kalifornischen Berkeley zur Diskussion gestellten Arbeitsthesen zur Orphik und zu den Dionysosmysterien, die vor mehr als drei Jahrzehnten als Aufsatz unter dem Titel “Orphism and Bacchic Mysteries. New Evidence and Problems of Interpretation” erschienen sind (Burkert 1977). Den Anstoß gab das drei Jahre zuvor veröffentlichte Goldblättchen aus Hipponion, das zur Überraschung so mancher Forscher diese bis dahin dem orphischen Bereich zugeordneten Texte zum ersten 9

Zu den Mysterienkulten von Isis, Sarapis und Mithras vgl. Merkelbach 1984; Merkelbach 1995; Burkert 1990; Beck 2006. 10 Seaford 1981; Seaford 1986; Seaford 1997. Zu dieser Kontroverse vgl. Burkert 2004a, 74-76, der von einem “battlefield between rationalists and mystics since the beginning of the nineteenth century” spricht. Herrero 2007, 24-40 konstatiert eine vergleichbare Polarisierung unter den derzeitigen Erforschern der Orphik. 11 Zu den ersten drei Namen vgl. Graf in Graf/Johnston 2007, 50-57; zu Merkelbach vgl. Henrichs 2006; Henrichs 2008.

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Mal mit dem Namen des Dionysos verband und damit die bis heute andauernde Debatte um das Wesen der Orphik und ihren Sitz im Leben in ein neues Licht rückte, ja auf eine völlig neue Grundlage stellte.12 Ein Jahr später wurden die dionysischen Graffiti auf den Knochentäfelchen aus Olbia am Schwarzen Meer bekannt, zu denen auch Burkert wiederholt Stellung genommen hat.13 Auf allen drei Täfelchen findet sich der Name des Dionysos in abgekürzter Form zusammen mit Gegensatzpaaren wie Leib/Seele, Frieden/Krieg, Wahrheit/Lüge, Leben/Tod.14 Die Wortfolge ‘Leben – Tod – Leben’ (ƅƌƒƕƋƄƐƄƖƒƕƅƌƒƕ) auf einem der drei Exemplare weist über den Tod hinaus und deutet auf konkrete dionysischorphische Jenseitsvorstellungen, und zwar eher auf eine rituelle Wiedergeburt bzw. ein Leben nach dem Tode als auf Seelenwanderung.15 Burkert versteht es wie kein zweiter, neugefundene Mysterientexte auf ihren religiösen Aussagewert zu befragen, sie schlüssig in den Gesamtzusammenhang unseres Wissens einzuordnen und der Forschung frische Impulse zu geben. Seine jahrzehntelange Beschäftigung mit den Mysterien trug dann 1987 in der englischen Originalfassung der Antiken Mysterien

12 OF 474 Bernabé 2005 (um 400 v. Chr.); Graf/Johnston 2007, 4-5 Nr. 1; Erstausgabe Pugliese Carratelli in Foti/Pugliese Carratelli 1974. Vgl. Burkert 1975, 84-92; Burkert 1990, 27-28; Burkert 1998a, 391-395; Burkert 2004a, 76-87; Cole 1980; Calame 2009, 181-203. Mit ‘Goldblättchen’ (so z. B. Burkert 1995; Burkert 1998a; Burkert 2003), ‘Goldtäfelchen’ (z. B. Diels 1907, 43 und 48; Merkelbach 1975; Merkelbach 1999, 10) bzw. ‘Goldlamellen’ (z. B. Schwabl 2005, 50) werden die auf ausgewalzten und rechteckig zugeschnittenen “Goldfolien” (Diels 1907, 43 und 45) eingeritzten Jenseitstexte aus dem 5. Jh. v. Chr. bis 3. Jh. n. Chr. bezeichnet, von denen sich bisher mehr als zwei Dutzend gefunden haben (unten Anm. 32). 13 OT 463-465 Bernabé 2004 (500-450 v. Chr.) = Dubois 1996, 154-155, Nr. 94a-c = SEG 28.659-661. Dazu Burkert 1980, 36-38; Burkert 1982, 1-2 und 12; Burkert 1998a, 395-396; Burkert 2004a, 83; West 1982; West 1983, 17-19 mit Abb. 1; Vinogradov 1991; Zhmud’ 1992. Zu den auf einem der Knochentäfelchen genannten ‘Orphikern’ (ʠƒƲƷƫƬươ) vgl. unten Anm. 63-64. 14 Die paläografische Entscheidung zwischen den Abkürzungen ƇƌƒƐ(Ɨƕƒƕ) bzw. Ƈƌƒ(ƐƗƕƒƕ) ist nicht immer einfach. Ƈƌƒ ist als Namensabkürzung weniger transparent als ƇƌƒƐ; vgl. jedoch Burkert 1998a, 396: “Ƈƌƒ(Ɛ) kann, nach zahlreichen anderen Belegen abgekürzter Götternamen in den Graffiti von Olbia, mit hinlänglicher Sicherheit als Abkürzung von ‘Dionysos’ verstanden werden.” 15 OT 463 Bernabé 2004. Zu möglichen Deutungen der Abfolge ‘Leben-Tod-Leben’ vgl. West 1982, 18-19, 26-27; Cole 1993, 277-278; Bremmer 2002, 23; Burkert 2004a, 83 (mit Berufung auf den einschlägigen Text aus Pelinna; unten Anm. 39); Edmonds III 2004, 82-99, bes. 83 (“The new life may be only one of many new lives in a series of reincarnations or the final life after death for the blessed initiate.”); Detienne 2007, 25-29.

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reiche Frucht.16 Alle früheren Behandlungen der griechisch-römischen Mysterien teilten den Stoff so ein, dass jede Mysterienreligion in einem separaten Kapitel behandelt wurde. Burkert brach mit dieser Tradition, in dem er nicht die einzelnen Mysterien als solche, sondern deren innere und äußere Strukturen zum Gliederungsprinzip erhob. So finden sich Kapitel über “Persönliche Bedürfnisse – in dieser und in jener Welt”, “Organisation und Initiation”, “Die Theologia der Mysterien: Mythos, Allegorie und Platonismus” sowie über die “Verwandelnde Erfahrung”. Das hat den Nachteil, dass sich der Leser die für die Demeter-, Dionysos-, Isis- oder Mithrasmysterien relevanten Informationen oft mühsam zusammensuchen muss. Dieses Manko fällt aber gegenüber dem neuen Gesamtverständnis, das mit der thematisch-diachronischen Behandlung erreicht wird, kaum ins Gewicht. Burkerts Aufsätze zu Orpheus, Dionysos und den mit diesen beiden Namen verbundenen Mysterientexten und Riten sind in dem 2006 erschienenen dritten Band seiner Kleinen Schriften gesammelt, dem Fritz Graf als Herausgeber den esoterischen, dem Inhalt entsprechenden Titel Mystica, Orphica, Pythagorica gab.17 Daran lehnt sich der Titel meines Beitrags bewusst an, wobei ich “Pythagorica” mit der religionsgeschichtlich und mysterienterminologisch relevanteren Bezeichnung ‘Dionysiaka’ ersetzt habe. Stattdessen hätte ich auch ‘Bakchika’18 sagen können, womit ich feine Unterschiede zwischen den beiden Begriffen nicht leugnen will. Das Gros all der Figuren und Phänomene, welche die Griechen als ‘bakchisch’ bezeichneten, hing eng mit dem Dionysoskult zusammen und war per Definition ‘dionysisch’. Umgekehrt kann nicht alles, was in den Bereich des Dionysos fällt, automatisch auch als ‘bakchisch’ gelten.19 Die Bezeichnung ‘dionysisch’ fungierte im antiken Gebrauch als Oberbegriff für alle Erscheinungsformen des Dionysos in Mythos und Kult, Texten und Bildern, Theater und Mysterien. Der moderne Wortgebrauch seit Nietzsche geht allerdings weit über den antiken Usus hinaus und schließt umfassendere kulturelle und geistesgeschichtliche Vorstellungen ein, die ein Produkt neuzeitlichen Denkens sind. Dagegen kann ‘bakchisch’ innerhalb des dionysischen Bereichs spezielle Erscheinungsformen diony16 Burkert, Ancient Mystery Cults, Cambridge, MA/London 1987; dt. Übers. Burkert 1990. 17 Burkert 2006. 18 Vgl. Burkert 1998b. 19 Burkert 1975, 89-91 (“‘Bacchos’ non è identico a Dioniso”).

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sischer Religiosität wie z. B. die Mysterienweihen und den ekstatischen Kult bezeichnen.20 Entsprechend nannten sich die ekstatischen Verehrer des Dionysos Bakchai (ƅƞƬƸƣƫ) bzw. Bakchoi (ƅƞƬƸQƫ), nicht aber Dionysiakoi (ƇƫưƮƶƴƫƣƬươ) oder Dionysiakai (ƇƫưƮƶƴƫƣƬƣơ), obwohl sie in bestimmten Zusammenhängen auch Dionysiastai (ƇƫưƮƶƴƫƣƴƵƣơ) heißen konnten.21 Nonnos gab seinem spätantiken Superepos, in dessen Mittelpunkt Dionysos steht, den universalen Titel Dionysiaka, nicht Bakchika. Im Gegensatz zu Dionysiakos (ƇƫưƮƶƴƫƣƬƽƳ) konnte Orphikos (ȲƲƷƫƬƽƳ) für Personen oder Sachen stehen, die sich ausdrücklich auf Orpheus bezogen. Es gab nämlich ȲƲƷƫƬươ (‘Orphiker’) wie auch ȲƲƷƫƬƞ (‘Orphisches’ bzw. ‘Orphik’), eine Unterscheidung, die längst nicht mehr kontrovers ist.22 Weiter umstritten ist jedoch, was mit ‘Orphikern’ und ‘Orphik’ im Einzelfall gemeint ist – “die Etikette ‘orphisch’ ... bleibt auch heute noch problematisch”.23 Erschwerend kommt hinzu, dass sich antike und moderne Definitionen dessen, was ‘orphisch’ ist und wer die ‘Orphiker’ waren, nicht immer auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Mit ‘Mystika’ fasse ich alles zusammen, was mit den Mysterien zu tun hat, vor allem den Mysterien von Eleusis und den dionysischen Mysterien. Diejenigen, die in Mysterien eingeweiht sind, heißen mystai (ȝȪıIJĮȚ), nicht mystikoi (ȝȣıIJȚțȠȓ), was eine spätere Wortbildung ist. Mysten und Mystiker haben kaum mehr als die Namensähnlichkeit gemeinsam, wenn auch nicht grundsätzlich auszuschließen ist, dass Mysten im Sinne der antiken Mysterien in bestimmten Erfahrungsmomenten visueller Natur, etwa der Gottesschau, auch zu Mystikern werden konnten.24 Zwischen den mit den Termini ‘Mystika’, ‘Orphika’ und ‘Dionysiaka’ bezeichneten Bereichen esoterischer Religiosität bestehen enge Beziehungen. So ist auch die bekannte Herodot-Stelle zu verstehen, an der Orphika und Bakchika nebeneinander gerückt sind und mit ‘Ägyptischem und Pythagoreischem’ verglichen werden.25 Dionysische Mysterien bzw. Mys20

Burkert 1985, 290-293. Zu den rituellen Konnotationen von ƤƣƬƸƧƾƧƫƮ vgl. Henrichs 1994, 47-51. 21 Jaccottet 2003, II 350 Index s. v. ‘Dionysiastai’. 22 ȲƲƷƫƬươ werden erstmals auf einem der Knochenplättchen von Olbia (unten Anm. 63-64) erwähnt. 23 Zitat nach Burkert 1980, 34. Zur Definition von ‘Orphism’ vgl. Parker 1995. 24 Burkert 2003. Zur Unterscheidung von Mysterien und Mystik vgl. Krech 2001. 25 Hdt. 2.81.2 ȭvưƭưƥƟưƶƴƫ Ʀɖ Ƶƣ˃Ƶƣ Ƶưʴƴƫ ʠƒƲƷƫƬưʴƴƫ ƬƣƭƧưvƟƮưƫƴƫ Ƭƣɚ ƅƣƬƸƫƬưʴƴƫȀư˃ƴƫƦɖƄȜƥƶƱƵơưƫƴƫƬƣɚƓƶƪƣƥưƲƧơưƫƴƫ, übers. Burkert 2002, 13: “Dies stimmt überein mit dem, was ‘orphisch’ und ‘bakchisch’ genannt wird, (in Wirklichkeit)

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terienkulte gab es in großer Zahl seit dem 5. Jh. v. Chr., vermutlich schon seit der spätarchaischen Zeit.26 Dass es auch orphische Mysterien gab, die sich von den dionysischen grundsätzlich unterschieden, ist dagegen keineswegs sicher, zumal Orpheus spätestens seit dem 5. Jh. v. Chr. als der Urvater aller Mysterien galt.27 Dionysos, Orpheus und alles Orphische gehören eng zusammen. Kein Gott erscheint häufiger in den orphischen Fragmentsammlungen von Otto Kern und Alberto Bernabé, in denen alle Texte gesammelt sind, die sich auf ȲƲƷƫƬƞ und ȲƲƷƫƬươ beziehen.28 Bernabé hat sich um die Sammlung und Ordnung der einschlägigen Texte große Verdienste erworben. Bei ihm wächst das orphische Corpus jedoch ins Uferlose aus, weil für ihn ‘orphisch’ letztlich gleichbedeutend ist mit ‘dionysisch’ und ‘mystisch’ und damit seinen spezifischen Eigenwert verliert. Im Gegensatz etwa zu Burkert ist Bernabé ein Panorphiker, der alles, was in der griechischen Religion einen Anhauch von Esoterik und Mysterien hat, in einen Topf wirft, dem er den Aufkleber ‘orphisch’ gibt. In dem bereits genannten bahnbrechenden Aufsatz von 1977 zum Thema “Orphism and Bacchic Mysteries” gibt Burkert den für gewisse Texte immer wieder herangezogenen Kategorien ‘eleusinisch’, ‘bakchisch’, ‘orphisch’ und ‘pythagoreisch’ einen flexibleren Stellenwert, indem er ihr Beziehungsverhältnis neu definiert. Laut Burkert schließen sich diese vier Termini weder gegenseitig aus noch lassen sie sich scharf voneinander abgrenzen, sondern sie gehen im antiken Gebrauch häufig ineinander über und stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis zueinander: aber ägyptisch und pythagoreisch ist.” Dazu Burkert 1977, 4: “‘Orphic’ and ‘Bacchic’ were current designations, used either in common or alternatively, for certain forms of ritual.” Mit Dodds 1951, 169 Anm. 80 und Burkert 1972, 127-133 halte ich die hier wiedergegebene Langfassung von Hdt. 2.81.2 für authentisch (anders Zhmud’ 1992, 164). Vgl. Burkert 1975, 86-87; Burkert 2004a, 165 Anm. 118. 26 Zu den Dionysosmysterien vgl. Burkert 1985, 290-295; Burkert 1990, Index s. v. ‘Dionysos, Mysterien’; Burkert 1993; Burkert 2004a, 71-98; Burkert 2004b, 96-101 (“Bakchika”, mit Lit.); Merkelbach 1988; Jaccottet 2003, I, 123-146; Seaford 2006, 4975; Graf in Graf/Johnston 2007, 137-164; Levaniouk 2007. Parker 2005, 368 spricht seltsamerweise von “weakly attested Bacchic Mysteries”. 27 Robertson 2003 trägt den irreführenden Titel “Orphic Mysteries and Dionysiac Ritual”. Hier wird nicht einmal der Versuch unternommen, die orphischen Mysterien vom dionysischen Ritual bzw. den “Dionysiac mysteries” (229) abzugrenzen oder zu erklären, was der Leser sich darunter vorzustellen hat. Es geht dem Verfasser um “Orphic belief and ritual” (218) im Kontext des Mythos von der Zerstückelung, dem Begräbnis und der Wiedergeburt des Dionysos Zagreus, wobei trotz einer Fülle gelehrter Einzelbeobachtungen der rituelle Rahmen äußerst vage bleibt, ja nirgendwo definiert wird. 28 Kern 1922; Bernabé 2004-2005.

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Albert Henrichs All these terms may thus overlap, without ever coinciding: Dionysus is also honored at Eleusis; a Pythagorean could just as well read Orphic poems as get his initiation at Eleusis; there was suspicion that certain books purportedly written by Orpheus were really the work of Pythagoreans or Pythagoras himself, and they might well contain myths about Dionysus.29

Burkert verdeutlicht diese gleitenden Übergänge und Überlagerungen mit einem Diagramm, das aus zwei konzentrischen Kreisen besteht. Ein als “orphisch” bezeichneter Kreis ist in einen umfassenderen Kreis eingebettet, der aus drei gleich großen Segmenten besteht, die “Eleusis”, “bakchisch” und “Pythagoras” benannt sind. Durch die dreifache Überschneidung wird der innere “orphische” Kreis in ebenso viele Segmente geteilt, die man als orphisch-eleusinisch, orphisch-pythagoreisch und orphischbakchisch bezeichnen kann und mit deren Hilfe sich esoterische Texte entsprechend klassifizieren lassen.30 Die Relevanz von Burkerts Deutungsschema zeigt sich besonders klar bei der Anwendung auf die sogenannten Goldblättchen, die seit ihrer ersten Entdeckung immer wieder als ‘orphisch’ bezeichnet werden, obwohl Orpheus weder als vermeintlicher Autor dieser Texte in Betracht kommt noch jemals in ihnen erwähnt wird.31 Sie gehören zu den auf29 Burkert 1977, 6-7. Zur Abgrenzung zwischen Orphikern und Pythagoreern vgl. Burkert 1982; Bremmer 1999, 78-83 (“Perhaps, Orphics and Pythagoreans were less similar than is often thought.”). 30 Berührungen zwischen der Orphik und den eleusinischen Mysterien, z. B. die Benutzung Orpheus zugeschriebener Texte in Kult und Theologie von Eleusis, werden als ‘orphisch-eleusinisch’ bezeichnet; grundlegend dazu bleibt Grafs Dissertation (Graf 1974; weiterführend Bremmer 2010b). Zu den ‘orphisch-pythagoreischen’ Überlagerungen, die teils schwer fassbar sind, vgl. Burkert 1972; Parker 1995, 501-502. Der in der gegenwärtigen Diskussion am häufigsten verwendete Label ist ‘orphisch-dionysisch’ bzw. ‘orphisch-bakchisch’ (so Graf in Graf/Johnston 2007, 142-143 mit Bezug auf die kultisch-rituelle “unity of Orphica and Bacchica”). Im Gegensatz zu ‘orphisch-dionysisch’ werden mit ‘orphisch-bakchisch’ meist esoterische Aspekte der Dionysosreligion wie die Mysterien, Ekstase und Jenseitsvorstellungen angesprochen. Mit Betonung der speziellen Konnotationen von ‘bakchisch’ und unter Ausklammerung der orphischen Bezüge, die oft nicht gegeben sind, spricht Burkert sogar von “dionysisch-bakchischen Mysterien” (Burkert 1998a, 396). 31 Calame 2002, 389-392; Calame 2009, 210-212 trennt die Goldtäfelchen kategorisch von allem “Orphischen”; vgl. Burkert 1980, 34 (“die Etikette ‘orphisch’ allerdings bleibt auch heute noch problematisch”); Burkert 2004a, 82 (“Shall we call them Orphic? This question has remained open.”). Zu Konvergenzen zwischen den Texten der Goldblättchen und ‘orphischen’ Glaubensinhalten vgl. Kingsley 1995, 261 und 268-269; Parker 1995, 497-498; Bremmer 2002, 15-24; Burkert 2004a, 75-82; Edmonds III 2004, 102-104; Graf/Johnston 2007.

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schlussreichsten, aber auch umstrittensten Mysterientexten in griechischer Sprache und enthalten Instruktionen zur Jenseitsreise der Totenseelen sowie andere teils rituelle, teils eschatologische Aussagen. Sie sind zu Dutzenden in Süditalien und Sizilien, in Thessalien, auf Lesbos und Kreta und selbst in Rom gefunden worden.32 Weitere Neufunde sind zu erwarten. In Athen und Attika ist bisher kein einziges Exemplar zutage getreten, was am ehesten mit Burkert aus der dominierenden, die Jenseitsvorstellungen beherrschenden Vorrangstellung der eleusinischen Mysterien zu erklären ist, die den Mysten ein besseres Leben nach dem Tode im Umkreis der Demeter und nicht des Dionysos versprachen.33 Die den Toten mit ins Grab gegebenen “Totenpässe”, wie Hermann Diels die auf den Goldblättchen tradierten Jenseitstexte einst nannte,34 werden von keinem antiken Autor erwähnt, stehen völlig isoliert da und müssen aus sich selbst heraus verstanden werden, was alles andere als einfach ist. Die Bemühungen um ihr Verständnis erstrecken sich über die letzten 175 Jahre. Im Laufe der Zeit sind diese Texte aus mehr oder weniger guten Gründen – darunter die kontroverse Herodotstelle 2.81.235 – als ‘orphisch’, ‘bakchisch’, ‘orphisch-bakchisch’ und selbst ‘pythagoreisch’ bzw. ‘orphischphythagoreisch’ bezeichnet worden. Seit dem Bekanntwerden der beiden nahezu textidentischen Täfelchen aus Pelinna mit dem Namen des Dionysos Bakchios werden sie meistens ‘bakchisch’ genannt, mit gutem Recht.36 Auf dem Exemplar aus Hipponion heißt es, dass ‘die Mysten und Bakchen’ den ‘heiligen Weg’ in die Unterwelt ‘gehen’ (ȭƦɜƮ  vƾƴƵƣƫ

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OF 474-496 Bernabé 2005. Vgl. Burkert 1975; Burkert 1980; Burkert 1998a und Burkert 2004a, 75-88; Kingsley 1995, 256-272; Riedweg 1998; Edmonds III 2004, 29110; Graf/Johnston 2007; Calame 2009, 177-228. Zu dem in einer römischen Nekropole gefundenen Goldplättchen (OF 491 Bernabé) vgl. Diels 1907, 45-49. 33 Burkert 1990, 28 und 42; Burkert 1998a, 393; anders Parker 2005, 368: “The absence of Gold Leaves from Attic tombs is an anomaly and a puzzle.” Bei Isoc. Paneg. 28 (380 v. Chr.) werden die eleusinischen ‘Weihen’ (ƵƧƭƧƵƠ) als Gottesgeschenk und Garant für ‘freudigere Hoffnungen’ (ȍƦơưƶƳ ƵɔƳ ȀƭƱơƦƣƳ) auf ein ewiges Leben (Ƶư˃ ƴƾvƱƣƮƵưƳ ƣȜːƮưƳ) nach dem Tode gepriesen. Speziell zu den dionysischen Jenseitserwartungen, die sich von den eleusinischen unterscheiden, sich aber mit ihnen vor allem in Attika überlagern konnten; vgl. Cole 1993; Burkert 1990, 27-29; Burkert 2004a, 75-88. 34 So Diels 1907, 39 (im Titel) und 48, woran Burkert 2004a, 160 Anm. 56 erinnert. Für Diels ist jedes Goldtäfelchen ein “Reisepass in die Unterwelt” (1907, 43). 35 Zit. oben Anm. 25. 36 Vgl. Kingsley 1995, 259-267; Bremmer 2002, 18-19; Calame 2009, 208-210.

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Ƭƣɚ ƤƞƬƸưƫ ȝƧƲɔƮ ƴƵƧơƸưƶƴƫ), wo sie ein besseres Los erwartet, als es normalen Sterblichen zuteil wird.37 Die Vorstellung von einem Weg in die Unterwelt, der von einem Kollektiv bzw. einer Gruppe von Mysten beschritten wird, findet sich u. a. in der Parodos der Frösche des Aristophanes, wo ebenfalls eleusinische, dionysische und ‘orphische’ Jenseitsvorstellungen ineinander übergehen, wie Fritz Graf in seiner von Burkert betreuten Züricher Dissertation vor mehr als 30 Jahren gezeigt hat.38 Auf den beiden Goldblättchen aus Pelinna erscheint Dionysos selbst als ‘Löser’ bzw. ‘Erlöser’ (Lysios) im Zusammenhang mit dem ausdrücklichsten Bekenntnis zu einer Form von Wiedergeburt, das sich bisher in diesen Texten gefunden hat: ‘Jetzt bist du gestorben und jetzt bist du geboren, dreimal Seliger, an diesem Tag. Sage Persephone, dass Bakchios selbst dich gelöst hat’ (Ʈ˃Ʈ ȄƪƣƮƧƳ Ƭƣɚ Ʈ˃Ʈ ȀƥƟƮưƶ ƵƲƫƴƽƭƤƫƧ ǴvƣƵƫ ƵːƫƦƧ  ƧȜƱƧʴƮ ƘƧƲƴƧƷƽƮƣƫ ƴˡ ȱƵƫ ƅ̹ƞƬ̺ƸƫưƳ ƣȸƵɜƳȄƭƶƴƧ).39 Wovon die ‘Lösung’ bzw. ‘Erlösung’ erfolgt ist, ob von Fesseln, von Leid oder von Schuld, bleibt unausgesprochen.40 Seit der Publikation des jüngsten Goldblättchens aus Pherai in Thessalien sind die Deutungen und Einordnungen erneut in Fluss geraten.41 Es ist von ‘Mystenthiasoi’ (vƶƴƵːƮƪƫƞƴưƶƳ) die Rede und von den ‘Weihen der chthonischen Demeter und der Bergmutter’ (ƇƠvƩƵƲưƳ ƸƪưƮơƣƳ ƵƧ ̹ƵƟ̺ƭƩƬƣɚƏƩƵƲɜƳȬƲƧơ=ƣƳ?), beides Göttinnen, die hier zum ersten Mal in den Goldblättchen auftauchen, sich aber bereits bei Euripides überlagern und mit Dionysos verbunden sind.42 Die beiden Herausgeber gehen 37

Oben Anm. 12. Zur eschatologischen Wegmetapher vgl. zuletzt Edmonds III

2004. 38 Ar. Ra. 402, cf. 117-118, 135, 162, 284. Vgl. Graf 1974, 40-50; Edmonds III 2004, 87. 39 OF 485-486 Bernabé 2005; Graf/Johnston 2007, 36-37 Nr. 26a, b; Erstausgabe Tsantsanoglou/Parássoglou 1987. Text nach OF 485. Übersetzung nach Burkert 1998a, 392 und 394; Burkert 1995, 95; Burkert 2003, 115. 40 Vgl. Graf 1991, 89-90; Kingsley 1995, 261-262 mit Anm. 37 und 266-267; Edmonds 1999, 54-55; Schlesier 2003, 15-18; Edmonds III 2004, 72-73. 41 OF 493a Bernabé 2007, 456 (um 300 v. Chr.); Graf/Johnston 2007, 38-39 Nr. 28; Erstausgabe Parker/Stamatopoulou 2004: ƱƟvƱƧ vƧ ƱƲɜƳ vƶƴƵːƮ ƪƫƞƴưƶƳż ȄƸƺ ȰƲƥƫƣ =ş˫ş?ƇƠvƩƵƲưƳƸƪưƮơƣƳƵƧ̹ƵƟ̺ƭƩƬƣɚƏƩƵƲɜƳȬƲƧơ=ƣƳ?. ‘Sende mich zu den Thiasoi der Mysten. Ich besitze die Orgia [Lücke] sowie die Weihen der chthonischen Demeter und der Bergmutter.’ 42 E. Hel. 1301-1368; Cret. F 472, 10-15 Kannicht; cf. Ba. 72-82, 120-134, 274283. Auf einem der Goldblättchen von Thurioi werden Meter, Kybele, Kore, Demeter und Phanes (ein orphischer Name des Dionysos) angerufen (OF 492 Bernabé 2005 =

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davon aus, dass in dem neuen Text Dionysos Bakchios durch Demeter und die Bergmutter ersetzt worden ist. Damit sei, so behaupten sie, unser Verständnis aller Goldblättchen in eine neue Phase gerückt, weil Dionysos nicht mehr die entscheidende göttliche Rolle spiele wie in den Exemplaren von Hipponion und Pelinna.43 Erstaunlicherweise lassen sie sich durch diesen Befund so stark verunsichern, dass sie sogar an der Anwendbarkeit der konventionellen Einordnungskategorie ‘bakchisch’ auf den neuen Text zweifeln.44 Das Problem liegt jedoch weniger auf der interpretatorischen als auf der textkritisch-editorischen Ebene. Die Herausgeber hatten bei der Ergänzung der zwei langen Silben, die am Ende des ersten der beiden Hexameter verloren sind, keine glückliche Hand. Denn sie verwerfen die plausibelste Ergänzung ȰƲƥƫƣ [$ƞƬƸưƶ], ‘die orgiastischen Riten (bzw. rituellen Kultgegenstände) [des Bakchos]’, zugunsten eines Ergänzungsversuchs, der sprachlich und inhaltlich nicht überzeugt, nämlich ȄƸƺ ȰƲƥƫ ƣ =ȜƦư˃ƴƣ?, was soviel bedeuten soll wie ‘ich habe die orgia [gesehen].’ Die hier vorausgesetzte periphrastische Ausdrucksweise ist ebenso abwegig wie der Hinweis auf das initiatorische ‘Sehen’, das in den Bereich der eleusinischen Mysterien gehört.45 Für den engen Zusammenhang von ȄƸƺ und ȰƲƥƫƣ und gegen die Ergänzung =ȜƦư˃ƴƣ? spricht eine entscheidende Parallele, die von den Herausgebern nicht herangezogen worden ist. In einem bekannten Fragment aus den Edoniern des Aischylos heißt es nämlich mit Bezug auf den orgiastischen Kult der thrakischen Göttin Kotys bzw. Kotyto, dass deren Verehrer ‘im Besitz der heiligen

Graf/Johnston 2007, 10-11 Nr. 4, 4. Jh. v. Chr.). Zur synkretistischen Überlagerung dieser Muttergottheiten und ihrer Affinität zu Dionysos, mit dem sie die orgiastischen Riten gemeinsam haben, vgl. Borgeaud 1996, 25-29 und 194 Anm. 53; Theodossiev 2001, 281; Allan 2004, 140-146; Graf in Graf/Johnston 2007, 146-147; Bremmer 2008, 293294. 43 Oben Anm. 12 und 39. 44 Parker/Stamatopoulou 2004, 9-10 und 23-27. 45 Zur eleusinischen Epopteia vgl. oben Anm. 7. In religiösen Texten beziehen sich die Partizipialformen ȜƦƿƮȜƦư˃ƴƣ dagegen nicht auf die Initiation von Mysten, sondern auf die menschliche Wahrnehmung von Götterepiphanien bzw. Traumvisionen; vgl. z. B. SIG3 3.1151 = IG 22.4326 (Athen, Akropolis, um 350 v. Chr.) ŝƄƪƩƮƞƣƫ ƏƟƮƧƫƣ ǰƮƟƪƩƬƧƮȰƹƫƮȜƦư˃ƴƣǰƲƧƵɘƮƵʦƳƪƧư˃ (‘Meneia weihte [diese Statue], nachdem sie die Wunderkraft der Göttin [in einer Traumvision] gesehen hatte’). Die von den Herausgebern vorausgesetzte periphrastische Umschreibung für das Perfekt ist eine attische Dialekteigenheit, die dem homerischen Epos fremd ist, sich bei Hesiod nur einmal findet, wobei das Partizip vorausgeht (vgl. West 1978, 153-154 zu Op. 42) und in den Hexametern der erhaltenen Goldblättchen erwartungsgemäß nicht vorkommt.

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Riten (bzw. rituellen Kultgegenstände) der Kotyto sind’ (ƴƧvƮɔƍưƵƶƵư˃Ƴ ȰƲƥƫˡ ȄƸưƮƵƧƳ).46 Die hier vorliegende Verbindung der vermutlich der Kultsprache entlehnten Wendung ȄƸƧƫƮȰƲƥƫƣ (‘im Besitz der Orgia sein’) mit dem Namen der betreffenden Gottheit, nämlich Kotyto, spricht für die Ergänzung ȄƸƺȰƲƥƫƣ=$ƞƬƸưƶ? im Text aus Pherai.47 Die Gottheit als der archetypische Vollzieher der ihr eigenen Rituale ‘übergibt’ die Riten den menschlichen Verehrern, die sie dann ‘haben’ bzw. ‘besitzen’.48 Die ‘ȰƲƥƫƣ des [Bakchos]’ und die ‘ƵƟƭƩ der chthonischen Demeter und der Bergmutter’ passen bestens zusammen und erlauben es, in diesen beiden Versen nicht nur einen unerwarteten Hinweis auf Mysterien der Demeter und der Bergmutter zu sehen, sondern vielmehr eine Überlagerung im Burkertschen Sinne von bakchischen und orphischen Bedeutungsebenen. Im Derveni-Papyrus wird nämlich ein Vers aus einer Hymnensammlung zitiert, in dem sechs eleusinisch bzw. orphisch vorbelastete Göttinnen, darunter Rhea, Demeter und Meter, gleichgesetzt werden.49 Derartige Gleichsetzungsreihen (ıȣȞȠȚțİȚȫıİȚȢ) von Götternamen waren ein beliebtes theologisches Interpretationsmittel, das auch in orphischen Kreisen seit dem 5. Jh. v. Chr. (Derveni-Papyrus) bis in die Kaiserzeit (Corpus orphischer Hymnen) bewusst eingesetzt wurde.50 Derselbe Vers

46 A. F 57 Radt. Allan 2004, 139 übersetzt ‘holding the sacred instruments of Cotyto’, Sommerstein 2008, 63 dagegen ‘practising the holy ecstatic rites of Cotyto’. Beide Übersetzungen sind vertretbar, der Kontext spricht jedoch für die erstere. Zur Ambivalenz des Terminus orgia vgl. Parker/Stamatopoulou 2004, 10 Anm. 26; Bernabé 2007, 457 zu OF 495a (mit Lit.). Zu Kotys/Kotyto vgl. Jameson/Jordan/Kotansky 1993, 23-26. 47 Sowohl Bernabé als auch Graf/Johnston (vgl. Anm. 41) entscheiden sich zu Recht für ȄƸƺȰƲƥƫƣ=$ƞƬƸưƶ?, ohne ihre Wahl zu begründen. Dagegen schreibt Ferrari 2007, 2 den überlieferten Text folgendermaßen um: ȄƸƺ ȰƲƥƫƣ =şƴƧvƮɔ?  ƇƠvƩƵƲưƳ ƸƪưƮơƣƳ ƵƧƭ̹Ɵƴƣƫ̺ƬƣɚƏƩƵƲɜƳȬƲƧơ=ƣƳ?. 48 Vgl. E. Ba. 470 (von Dionysos) Ƭƣɚ ƦơƦƺƴƫƮ ȰƲƥƫƣ. Zum Ritualverhalten der griechischen Götter als Vorbild für das rituelle Verhalten der Menschen vgl. jetzt Patton 2009, bes. 101-119. 49 P. Derveni col. 22, Zeile 7 und 11-12 = OF 398 Bernabé 2004 (5. Jh. v. Chr.) Ɔʦ ƦɖƬƣɚƏƠƵƩƲƬƣɚ˘ƔƟƣƬƣɚʻƊƲƩȍƣȸƵƠ … ȄƴƵƫƦɖƬƣɚȀƮƵưʴƳʻƗvƮưƫƳƧȜƲ=Ʃ?vƟƮưƮż ƇƩvƠƵƩƲ =˘Ɣ?Ɵƣ Ɔʦ ƏƠƵƩƲ ˘ƈƴƵơƣ ƇƩƫƿ. (‘Ge und Meter und Rhea und Hera sind identisch. – So heißt es ja auch in den Hymnen: “Demeter, Rhea, Ge Meter, Hestia, Deo”’). Vgl. P. Gurob 1 (3. Jh. v. Chr.) col. 1, Zeile 6 = OF 578 Bernabé 2005 ƇƩvƠƵƩƲ ƵƧ˘ƔƟƣ [Textlücke]. Die nichtionischen Namensformen für Rhea und Hestia im DerveniPapyrus zeigen, dass “es sich um einen attischen Orpheus-Hymnos handelt” (Burkert 1994, 48). 50 Burkert 1986, 2-3; Obbink 1994; Parker 1995, 493-494; Morand 2001, 156-158, 337-338.

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erscheint in Philodems De pietate als ein Zitat aus dem Atthidographen Philochoros, in dem Orpheus als Autor dieser Hymnen genannt wird.51 Daraus schließt Dirk Obbink, dass Philodem das Hymnenzitat auf dem Umweg über Apollodors ƓƧƲɚƪƧːƮ und Philochoros letztlich demselben Kommentar verdankt, der uns im Derveni-Papyrus vorliegt.52 Damit wäre Philochoros der einzige uns bekannte antike Leser des Derveni-Autors, dessen Kommentar dank seiner Zitierwürdigkeit damit auf die gleiche Stufe mit der hohen Literatur zu stellen wäre – ein sensationeller Nachweis. Burkert hat sich der verführerischen These von Obbink angeschlossen.53 Naheliegender ist jedoch die Annahme, dass der Autor des DerveniKommentars und Philochoros unabhängig voneinander dieselbe orphische Hymnensammlung eingesehen und daraus denselben, von Inhalt und Form her gleichermaßen merkwürdigen Vers (ƇƩvƠƵƩƲ =˘Ɣ?Ɵƣ Ɔʦ ƏƠƵƩƲ ˘ƈƴƵơƣ ƇƩƫƿ) unter identischem Titel (‘in den Hymnen’) zitiert bzw. paraphrasiert haben.54 Der Vers wurde dann in der bei Philochoros tradierten Form von Apollodor, der Philochoros las und exzerpierte, an Philodem bzw. dessen Quelle weitervermittelt.55 Mit Hilfe der konvergierenden Zitate im Derveni-Papyrus und bei Philochoros lässt sich die Existenz einer Hymnensammlung nachweisen, die unter dem Namen des Orpheus umlief und deshalb in diesem ganz unverfänglichen Sinn als ‘orphisch’ gelten darf. Es gab also mit Sicherheit orphische Texte, aber gab es auch orphische Gruppenbildungen bzw. 51 Phld. Piet. 248 I 1-3 ed. Obbink 1994, 114 = Testimonium zu OF 398 Bernabé (Anm. 49) § Philoch. FGrH 328 F 185 (veralteter Text ohne den Namen des Orpheus) =ƬǰƮ?ƵưʴƳȽvƮưƫƳ ƦʠʠƒşşƲşƷş=ƧɞƳƱ?ƣƲɔƘƫƭưƸƽƲƺƫƆʦƮƬƣɚƇƠvƩƵƲƣƵɘƮƣȸƵɘƮ˘ƈƴƵơƣƫ (‘auch in den bei Philochoros [zitierten] Hymnen identifiziert Orpheus Ge und Demeter mit Hestia’). 52 Obbink 1994. 53 Burkert 1997, 174 Anm. 32; Burkert 1998a, 388; Burkert 2006, 96. 54 Implizit so auch Betegh 2004, 190. Die enge Übereinstimmung zwischen den beiden Zitaten ist Obbinks Hauptargument gegen die Annahme einer unabhängigen Benutzung der orphischen Hymnensammlung durch den Derveni-Autor und Philochoros. Als Gegenargument ist zu bedenken, dass der zitierte Vers so einmalig ist, dass er sehr wohl mehr als einem Leser im Gedächtnis haften konnte und dass der Inhalt der gemeinsamen Quelle, d. h. der orphischen Hymnensammlung, kaum einen anderen Titel als die konventionelle Bezeichnung ȀƮƵưʴƳȽvƮưƫƳ zuließ. 55 Die uns in Piet. 248 I (oben Anm. 51) vorliegende verkürzte Paraphrase des Verses, in der nur drei der sechs Götternamen berücksichtigt werden, geht vermutlich auf Philodem bzw. dessen epikureische Zwischenquelle zurück. Apollodor selbst hat mit hoher Wahrscheinlichkeit den Vers unverkürzt und mehr oder minder in der Form zitiert, wie er im Derveni-Papyrus vorliegt.

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‘Gemeinden’? Der greise Wilamowitz monierte 1931 auf seinem Sterbebett: Wo steckt denn nun die Wirkung der ʠƒƲƷƫƬƞ? Was war ihr Lehrinhalt? Hatten sie eine Gemeinde? Weiß irgendwer von orphischen Mysterien? Die Modernen reden so entsetzlich viel von Orphikern. Wer tut das im Altertum? … ʠƒƲƷƫƬươ kann ich an einer einzigen Stelle nachweisen, und das bei Apollodor, Fr. 139.56

Als der ‘alte Löwe’ mit dieser Tirade seiner Abneigung gegenüber den modernen Orphikern zum letzten Mal freien Lauf ließ, gab es nicht nur eine, sondern gleich drei Stellen, an denen ȲƲƷƫƬươ genannt werden.57 Sie gehen ausnahmslos auf Apollodors Werk Über die Götter (ƓƧƲɚ ƪƧːƮ) zurück, verfasst zwischen 150 und 120 v. Chr., das bis in die Spätantike gerne als Fundgrube für dichterische Belegstellen über Namen und Wesen der Götter benutzt wurde.58 Mit dem Sammelbegriff ‘Orphiker’ (ȲƲƷƫƬươ) bezeichnete Apollodor die Verfasser von orphischen Texten. Das gilt auch für die vierte und mit Abstand wichtigste Stelle, die sich ebenfalls in Philodems De pietate findet. Dort heißt es, dass ‘sich die Orphiker ständig mit diesem Thema beschäftigen’.59 Der Kontext zeigt, dass damit das Schicksal des orphischen Dionysos gemeint ist, des ‘leidenden Gottes’, der ‘von den Titanen zerrissen’ (=Ʀƫ?ƣƴƱƣƴƪƧɚƳȹ=ƱɜƵːƮ?ƖƫƵƞƮƺƮ), von Rhea körperlich neu konstituiert (˘ƔƟƣ=Ƴ Ƶɔ? vƟƭƩ ƴƶƮƪƧ=ơƴƩƳ?) und auf diese Weise wiedergeboren wurde (ǰƮƧƤơƺ).60 Dieser wiedergeborene 56

Wilamowitz 1931-1932, II, 199. Wilamowitz stand in den letzten zehn Jahren seines Lebens allem Orphischen extrem skeptisch gegenüber (Henrichs 1985, 304-305). 57 Die Hauptstelle, auf die Wilamowitz verweist, ist Schol. ad E. Alc. 1 = FGrH 244 F 139 = OF 365 Bernabé 2004, wo in einer Aufzählung der von Asklepios zu neuem Leben erweckten mythischen Personen die ‘Orphiker’ als Gewährsleute dafür angeführt werden, dass Hymenaios einer dieser Wiederbelebten war (ưȝ Ʀɖ ʠƒƲƷƫƬưɚ ȱƵƫ ˘ƗvƟƮƣƫưƮ). Nahezu identische Listen, in denen die Orphiker ebenfalls genannt werden, finden sich bei [Apollod.] Bibliotheca 3, 10, 3, 121 sowie Schol. ad Pi. P. 3.96 (dazu Henrichs 1975, 8-9 und 36 Anm. 162). 58 Zu Apollodors theologischem Werk vgl. Henrichs 1975. 59 Phld. Piet. 247 III 11-13 ed. Henrichs 1975, 35 und Obbink 1994, 132 = OF 59 I Bernabé 2004 =ưȝ?ƦʠʠƒƲ=ƷƫƬưɚ?^ƬƣɚƱƣƮƵƞ=ƱƣƴƫƮ?^ȀƮƦƫƣƵƲƧ=ơƤưƶƴƫƮ?. 60 Phld. Piet. 247 III 2-8 ed. Henrichs 1975, 35 und Obbink 1994, 132 = OF 59 I Bernabé 2004, wo es um die drei Geburten des Dionysos geht (geboren von Semele, im Schenkel des Zeus ausgetragen, von den Titanen zerrissen und wiedergeboren, ‘indem Rhea seine Glieder zusammensetzte’). Vgl. Herrero 2006, 397-403; Johnston in Graf/ Johnston 2007, 75-76. Die Philodem-Stelle ist das früheste Zeugnis für das spätarchaische Mythologem von der Zerreißung des Dionysos Zagreus, das vom Osiris-Mythos beeinflusst ist (Henrichs 1972, 57-59; Burkert 1990, 62-63) und auf dem Friedrich Nietzsches Konzept des “leidenden Dionysus der Mysterien” basiert (Die Geburt der Tragö-

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Dionysos war vermutlich das göttliche role model, auf dem die Wiedergeburtsvorstellungen der Dionysosmysten beruhten. Aber von ‘Orphikern’ im Sinne von orphischen Literaten bzw. Theologen zu ‘Orphikern’ als Praktizierende einer ‘orphischen Lebensweise’ (Pl. Lg. 6.782c ȲƲƷƫƬưɚ Ƥơưƫ = OT 625 I Bernabé 2005) ist es noch ein gewaltiger Schritt.61 Dieser Schritt wurde erst möglich, als 1978 das Wort ȲƲƷƫƬưşơş (Orphikoi) – “the most exciting word of all”62 – auf einem der in Olbia gefundenen Knochentäfelchen aus der Mitte des 5. Jh. auftauchte.63 Burkert zog als einer der ersten weitreichende Konsequenzen aus den neuen Texten: Ein Graffito aus Olbia scheint die Existenz von Orphikern, Orphikoi, jetzt schon im 5. Jh. v. Chr. zu bezeugen. Hier also finden wir etwas wie eine ‘Gemeinde’. Doch bleibt die Orphik ein Sonderfall; man darf den Befund nicht auf Mysterien überhaupt übertragen.64

Dagegen schließt Burkert die Existenz einer organisierten orphischen “Kirche” aus.65 Hinweise auf außereleusinische Gruppen von Mysten, die sich als rituell bzw. glaubensmäßig zusammengehörig fühlten, sind für die vorhelle-

die, Kapitel 10; dazu Henrichs 1993, 26-29; Henrichs 2005, 454-455; Schlesier 2003). Zu den antiken und modernen Konstruktionen des Zagreus-Mythos vgl. Edmonds 1999, der jedoch ebenso wie Bernabé 2002 in seiner Entgegnung das Philodem-Fragment unberücksichtigt lässt und Diodor 3.62 = OF 59 ǿǿǿ Bernabé für “the first fully extant telling of the myth of the sparagmos and rebirth of Dionysos” (51) hält. Diodor war ein etwas jüngerer Zeitgenosse des Philodem (ca. 110-40/35 v. Chr.); beide benutzten dieselbe(n) Quelle(n) für den Mythos von den mehrfachen Dionysoi und der Zerreißung des dritten Dionysos, vor allem Apollodors Werk Über die Götter (oben bei Anm. 57). 61 Zum ‘orphischen Leben’ vgl. Burkert 1985, 301-304; Calame 2000, 64-65; Bremmer 2002, 17; Betegh 2004, 69-70; Detienne 2007, 26-30. 62 West 1982, 21. 63 OT 463 Bernabé 2004 (vgl. oben Anm. 13) = SEG 28.659. Die beiden letzten Buchstaben sind unsicher, aber sinnvolle Alternativen zur Lesung ȲƲƷƫƬưşơş (Orphikoi) gibt es nicht (vgl. Burkert 1998a, 395; West 1982, 21; Zhmud’ 1992, 159; Betegh 2004, 70 Anm. 50; Detienne 2007, 22-23; Herrero 2007, 39). 64 Burkert 1990, 49. Vgl. Burkert 1982, 12 zu Orphikoi als einer “self-designation of a ‘community’” in Olbia: “Among the worshippers of Dionysus one group, possibly adherents of one telestés, set themselves apart by their faith in the authority of Orpheus, and were thus called Orphikoi.” Zu dem von Hdt. 4.76-80 bezeugten ekstatischen Dionysoskult in Olbia vgl. Henrichs 1994, 47-51. 65 Burkert 2004a, 74: “Nothing points toward a Bacchic or Orphic ‘church’ with priests, dogma, and credo.” Vgl. Bremmer 2002, 17 im Anschluss an Dodds 1951, 170 Anm. 88: “To call them a church, as Arnold Toynbee (1889-1975) once did, is grossly mistaken.”

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nistische Zeit in der Tat äußerst spärlich. Dasselbe gilt für Zeugnisse, die uns einen unmittelbaren Einblick in den Ablauf von Mysterienritualen gestatten. Eine dieser seltenen Ausnahmen findet sich in der Kranzrede des Demosthenes (330 v. Chr.). Dort wird mit höchster Ironie beschrieben, wie Glaukothea, die Mutter von Demosthenes’ Erzfeind Aischines, die aus einer Seherfamilie stammte,66 um 370 v. Chr. nächtliche Initiationsriten zelebrierte und eine Prozession von Eingeweihten durch die Straßen von Athen führte, wobei ihr der erwachsene Sohn assistierte. Bei diesem einzigartigen Text “handelt es sich um die genaueste Beschreibung einer IJİȜİIJȒ (‘Einweihung’) in der klassischen Epoche”.67 Seiner Bedeutung wegen sei er im Wortlaut angeführt: Kaum zum Mann herangewachsen pflegtest du deiner Mutter aus den Papyrusrollen vorzulesen, während sie die Weihen vollzog (ƵƧƭưƾƴʤ), und ihr auch sonst zur Hand zu gehen, indem du während der Nacht die Initianden (ƵưɞƳ ƵƧƭưƶvƟƮưƶƳ) mit Rehfellen bekleidetest (ƮƧƤƲơƨƺƮ) und ihnen den Mischkrug bereitetest (ƬƲƣƵƩƲơƨƺƮ), sie reinigtest, mit Lehm und Kleie abriebst und sie nach der Reinigung wieder zum Aufstehen brachtest und sie anwiesest zu sagen: ‘Dem Übel bin ich entronnen, das Bessere hab ich gewonnen’ (ȄƷƶƥưƮƬƣƬƽƮ ƧȿƲưƮǴvƧƫƮưƮ). Dabei hast du dich gebrüstet, dass niemand je zuvor so laut den rituellen Frauenschrei ausgestoßen hat (ȬƭưƭƾƯƣƫ). Das will ich dir gerne abnehmen. Glaubt nämlich nur nicht, dass jemand, der so große Töne spuckt, nicht auch wunderbar laut schreien kann. Tagsüber führtest du dann die trefflichen, mit Fenchel und Weißpappel bekränzten Kultgruppen (ƪơƣƴưƫ) durch die Straßen, während du die pausbackigen Schlangen fest an dich drücktest, sie hoch über deinem Kopf schwangst und dabei laut ‘Euoi Saboi’ (Ƨȸưʴ ƴƣƤưʴ) riefst und zum Rhythmus von ‘Hyes Attes, Attes Hyes’ (ȹʦƳ ǴƵƵƩƳ ǴƵƵƩƳ ȹʦƳ) tanztest. Die alten Weiber haben dich mit Namen wie Zeremonienmeister (ȄƯƣƲƸưƳ), Anführer (ƱƲưƩƥƧvƿƮ), Korbträger (ƬƫƴƵưƷƽƲưƳ) und Wurfschaufelträger (ƭƫƬƮưƷƽƲưƳ) betitelt, und als Lohn dafür erhieltst du Brotpudding, Zopfkuchen und frische Fladen. Wer würde sich und sein Geschick unter diesen Umständen nicht glücklich preisen?68

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Burkert 1982, 7. Burkert 1990, 106 Anm. 34. D. 18.259-260 = OT 577 I Bernabé 2005: ǰƮɘƲƦɖƥƧƮƽvƧƮưƳƵʧvƩƵƲɚƵƧƭưƾƴʤ ƵɔƳ ƤơƤƭưƶƳ ǰƮƧƥơƥƮƺƴƬƧƳ Ƭƣɚ ƵǴƭƭƣ ƴƶƮƧƴƬƧƶƺƲư˃ ƵɘƮ vɖƮ ƮƾƬƵƣ ƮƧƤƲơƨƺƮ Ƭƣɚ ƬƲƣƵƩƲơƨƺƮ Ƭƣɚ ƬƣƪƣơƲƺƮ ƵưɞƳ ƵƧƭưƶvƟƮưƶƳ Ƭƣɚ ǰƱưvƞƵƵƺƮ Ƶˑ ƱƩƭˑ Ƭƣɚ ƵưʴƳ ƱƫƵƾƲưƫƳ Ƭƣɚ ǰƮƫƴƵɔƳ ǰƱɜ Ƶư˃ ƬƣƪƣƲvư˃ ƬƧƭƧƾƺƮ ƭƟƥƧƫƮ ˠȄƷƶƥưƮ ƬƣƬƽƮ ƧȿƲưƮ ǴvƧƫƮưƮˡ ȀƱɚ Ƶˑ vƩƦƟƮƣ ƱƿƱưƵƧ ƵƩƭƫƬư˃Ƶˡ ȬƭưƭƾƯƣƫ ƴƧvƮƶƮƽvƧƮưƳ Ƭƣɚ ȄƥƺƥƧ ƮưvơƨƺxvɘƥɔƲưȠƧƴƪˡƣȸƵɜƮƷƪƟƥƥƧƴƪƣƫvɖƮưȽƵƺvƟƥƣȬƭưƭƾƨƧƫƮƦˡưȸƸȹƱƟƲƭƣv ƱƲưƮ  ȀƮ Ʀɖ ƵƣʴƳ ȍvƟƲƣƫƳ ƵưɞƳ ƬƣƭưɞƳ ƪƫƞƴưƶƳ ǴƥƺƮ Ʀƫɔ ƵːƮ ȭƦːƮ ƵưɞƳ ȀƴƵƧƷƣƮƺvƟƮưƶƳƵˑvƣƲƞƪˎƬƣɚƵʧƭƧƾƬʤƵưɞƳȰƷƧƫƳƵưɞƳƱƣƲƧơƣƳƪƭơƤƺƮƬƣɚȹƱɖƲ ƵʦƳ ƬƧƷƣƭʦƳ ƣȜƺƲːƮ Ƭƣɚ ƤưːƮ ˠƧȸưʴ ƴƣƤưʴˡ Ƭƣɚ ȀƱưƲƸưƾvƧƮưƳ ˠȹʦƳ ǴƵƵƩƳ ǴƵƵƩƳ ȹʦƳˡ ȄƯƣƲƸưƳ Ƭƣɚ ƱƲưƩƥƧvɠƮ Ƭƣɚ ƬƫƴƵưƷƽƲưƳ Ƭƣɚ ƭƫƬƮưƷƽƲưƳ Ƭƣɚ Ƶưƫƣ˃ƪˡ ȹƱɜ ƵːƮ 67 68

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Aischines war laut Demosthenes ein ‘Mann’ (ǰƮƠƲ), also mindestens 18 bis 20 Jahre alt, als er seiner Mutter bei ihren Initiationen assistierte und dabei die entsprechenden Ritualtexte nicht aus dem Kopf, sondern aus ‘Büchern’, d. h. Papyrusblättern (ƤơƤƭưƫ), rezitierte. Da seine Geburt um 390 v. Chr. anzusetzen ist, fällt seine angebliche Mystagogentätigkeit frühestens in die Jahre 372 bis 370.69 In einer früheren, ins Jahr 343 v. Chr. datierten Rede verlegt Demosthenes Aischines’ Rolle als Vorleser bei den Mysterien seiner Mutter in dessen Jugendzeit, als dieser noch ein ‘Knabe’ (ƱƣʴƳ) war.70 Deshalb geht Walter Burkert von einem Alter von 10 bis 15 Jahren aus und datiert den Vorfall “um 380 v. Chr.” bzw. “in die Jahre 380/375”.71 Ob Demosthenes sich widersprochen hat oder mit einer kontinuierlichen Beteiligung an den Kulthandlungen von der Jugendzeit des Aischines bis in sein frühes Mannesalter zu rechnen ist, lässt sich kaum entscheiden und macht für die Beurteilung des Textes keinerlei Unterschied. Die Demosthenes-Stelle ist seit langem eine Fundgrube für die Mysterienforschung, aber gleichzeitig auch ein Dilemma.72 So manche der von Demosthenes an den Pranger gestellten rituellen Praktiken, darunter die Reinigung mit Lehm und Kleie,73 das Hantieren mit den zoologisch nicht eindeutig bestimmbaren Schlangen74 und die Bekränzung mit Blättern der Weißpappel,75 erregen immer wieder die Aufmerksamkeit der Gelehrten, die sich mit ihren Fragen an den Text begreiflicherweise leichter tun als mit den Antworten. Die Frage, die am häufigsten gestellt wird, ist die: Wer ist der Gott, in dessen Namen die Mysterien gefeiert wurden? DemosƥƲʕƦơƺƮ ƱƲưƴƣƥưƲƧƶƽvƧƮưƳ vƫƴƪɜƮ ƭƣvƤƞƮƺƮ ƵưƾƵƺƮ ȄƮƪƲƶƱƵƣ Ƭƣɚ ƴƵƲƧƱƵưɞƳ Ƭƣɚ ƮƧƠƭƣƵƣ ȀƷˡ ưȣƳ ƵơƳ ưȸƬ DzƮ ɅƳ ǰƭƩƪːƳ ƣȹƵɜƮ ƧȸƦƣƫvưƮơƴƧƫƧ Ƭƣɚ ƵɘƮ ƣȹƵư˃ ƵƾƸƩƮ dazu die Kommentare von Wankel 1976, 1132-1149; Yunis 2001, 254-256.  69 Harris 1988. 70 D. 19.199 = OT 577 II Bernabé 2005: ưȸƬ ȠƴƣƴƫƮ ưȿƵưƫ Ƶɜ vɖƮ ȀƯ ǰƲƸʦƳ ƵɔƳ ƤơƤƭưƶƳ ǰƮƣƥƫƥƮƿƴƬưƮƵƞ ƴƧ Ƶʧ vƩƵƲɚ ƵƧƭưƾƴʤ Ƭƣɚ ƱƣʴƦˡ ȰƮƵˡ ȀƮ ƪƫƞƴưƫƳ Ƭƣɚ vƧƪƾưƶƴƫƮǰƮƪƲƿƱưƫƳƬƣƭƫƮƦưƾvƧƮưƮ (‘Sie wissen nicht, dass Du von jung auf deiner Mutter aus den Papyrusrollen vorgelesen hast, während sie die Weihen vollzog, und dass du dich bereits als Knabe in den Kultgruppen und unter betrunkenen Menschen herumgetrieben hast.’). 71 Burkert 1990, 38 und 106 Anm. 34. 72 Vgl. z. B. Burkert 1990, 25, 38, 59 und 81; Harris 1995, 25; Versnel 1990, 114115; Parker 1996a, 59-160; Henrichs 2003, 222-224. 73 Hoessly 2001, 229-232. 74 Bodson 1978, 75-76; Diggle 2004, 356 zu Thphr. Char. 16.4. 75 Versnel 1990, 114 Anm. 75; Burkert 1990, 66.

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thenes nennt ihn nicht, zweifellos weil er damit rechnen konnte, dass die athenische Bürgerversammlung, vor der er sprach, ohnehin wusste, um welchen Gott es sich handelt. Die beiden exotisch klingenden Exklamationen enthalten am ehesten den Schlüssel zu seiner Identifizierung, aber das Rätsel ist bis heute ungelöst und ohne neue Texte unlösbar.76 ‘Euoi Saboi’ deutet auf den dionysischen Bereich und am ehesten auf Sabazios, mit dem bereits Strabon den Gott der von Aischines’ Mutter praktizierten Mysterien identifizierte.77 Sowohl der Aussagegehalt als auch die kultische Zugehörigkeit von ‘Hyes Attes, Attes Hyes’ entziehen sich vollends unserer Kenntnis. Der hier vorliegende Typus der religiösen Rede mit seiner markanten Namenswiederholung und Rhythmisierung erinnert an die bekannte SanskritMantra ‘Hare Krishna Hare Krishna / Krishna Krishna Hare Hare’. Es überrascht nicht, dass bereits in der Antike ‘Hyes’ als Epithet des Dionysos verstanden und ‘Attes’ mit dem Namen des phrygischen Gottes Attis und mit dem Kybelekult in Verbindung gebracht worden ist. Dagegen spricht u. a. die Tatsache, dass die Weihen, an denen Aischines beteiligt war, vornehmlich von Frauen ausgeübt wurden und dass Mysterien des Attis erst in hellenistischer Zeit bezeugt sind. Im Gegensatz zu den Versuchen, die Identität des betreffenden Gottes aus ‘Hyes Attes’ abzuleiten, erwägt Fred Porta in seiner unpublizierten Dissertation über Greek Ritual Utterances die Möglichkeit, dass es sich bei ‘Hyes Attes’ um eine “meaningless collection of syllables” handelt, was für den Mantracharakter dieses rituellen Ausrufs sprechen würde.78 Sicher ist jedoch nur, dass wir hier wie so häufig bei den antiken Mysterien an die Grenzen unseres Wissens stoßen. Da empfiehlt es sich, sich nicht einseitig festzulegen, sondern aus der Not eine Tugend zu machen und die Identität des Gottes offen zu lassen, zumal die meisten der im Text angesprochenen rituellen Praktiken wie z. B. die Formation von Thiasoi, das Hantieren mit Schlangen, die 76

Zu den “ritual cries”ƧȸưʴƴƣƤưʴWPFȹʦƳǴƵƵƩƳǴƵƵƩƳȹʦƳ vgl. Porta 1999, 130-

133. 77 Str. 10.3.18 p. 471 = OT 577 V Bernabé. Für Sabazios bzw. Dionysos Sabazios haben sich u. a. ausgesprochen: Parker 1983, 302-303; Burkert 1985, 179; Burkert 1990, 25, 38; Burkert 2004b, 97 und 99; Versnel 1990, 114-115 und 162 (“mysteries of Sabazios”); Hoessly 2001, 229; Yunis 2001, 254 (“a conflation of Dionysus and Sabazius”). Dagegen methodische Zweifel an Sabazios als dem zuständigen Gott bei Parker 1996a, 159 (“the whole ceremony remarkably resembles indigenous Dionysiac and Orphic rites”) und Parker 1996b, 1341 (“not certain”). 78 Porta 1999, 133.

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Reinigungsriten, die Verwendung der cista mystica und des Liknons sowie das Mischen und Trinken von Wein ebenso weitverbreitet waren wie die Hoffnung auf Erlösung – ‘dem Übel bin ich entronnen, das Bessere hab ich gewonnen’79 – und sich prinzipiell mehr als einem Mysterienkult zuordnen lassen. So heißt es beispielsweise auf dem bereits zitierten Goldblättchen aus Pelinna: ‘Jetzt bist du gestorben und jetzt bist du geboren, dreimal Seliger, an diesem Tag.’80 Ein paar Zeilen später ist dann unvermittelt von Wein die Rede: ‘Du besitzt Wein, dir zur seligen Ehre’ (ưȢƮưƮ ȄƸƧƫƳƧȸƦ̹ƣơ̺vưƮ̹ƣ̺ƵƫvƠƮ). Dazwischen steht in mehrfacher Brechung das mysteriöse “Losungswort”81 von dem Mysten, der als Stier oder Widder ‘in die Milch springt’ bwz. ‘fällt’, womit vermutlich auf ein konkretes Ritual angespielt wird.82 Der innere Zusammenhang zwischen Wiedergeburtsglaube, rituellem ‘Milchbad’ und Weinkonsum bleibt unausgesprochen; der moderne Leser muss ihn sich hinzudenken. Er war den Eingeweihten zweifellos vertraut, bleibt aber für uns, die wir als Außenstehende diese esoterischen Texte zu verstehen suchen, trotz zahlreicher Deutungsversuche weitgehend schleierhaft. Walter Burkert hat sich mit diesem Text wiederholt beschäftigt und seine Sonderstellung als eine in ihrer Vollständigkeit einmalige Beschreibung einer Initiation betont.83 Darin wird man ihm nur bedingt zustimmen. Denn angesichts des bunten Nebeneinanders von ritueller Kleidung, zeremoniellem Weintrinken, peniblen Reinigungsriten, Rezitation von Losungsworten und ekstatischem Tanzen muss man sich fragen, worin die Einweihung letzten Endes bestand und ob Demosthenes hier wirklich die eigentliche Initiation beschreibt, die vermutlich hinter verschlossenen Türen stattfand und von der die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Robert Parker betont die ausdrückliche Trennung von Reinigung und Tanz, postuliert aber eine in sich geschlossene Weihehandlung, deren sukzessive Stufen Demosthenes angeblich beschreibt.84 Fortunat Hoessly spricht im 79

Dazu Hoessly 2001, 231. Oben Anm. 39. 81 Diels 1907, 44 Anm. 12: “Solche Losungsworte waren zur Fernhaltung der Nichteingeweihten in den Mysterien üblich, ja unerlässlich.” Ähnlich (“Passwort” und “password”) Burkert 1995, 94 und 96; Burkert 1998a, 392; Burkert 2004a, 82. 82 Vgl. Johnston in Graf/Johnston 2007, 128-129; anders Kingsley 1995, 264-269 (“a new birth, making straight for the maternal breast, rushing for milk”, 268). 83 Oben Anm. 67, 71-72, 75 und 77. 84 Parker 1983, 303. 80

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Hinblick auf unsere Stelle von einem “deutlichen Initiationsritus”, der in der als ƪƲƽƮƺƴƫƳ bzw. ritueller Inthronisation inszenierten Reinigungszeremonie bestand.85 Andere Interpreten rechnen aus plausiblen Gründen damit, dass Demosthenes geläufige Ritualhandlungen verschiedenster Provenienz wie Versatzstücke mehr oder weniger willkürlich miteinander verbunden hat, was bedeuten würde, dass wir es mit einem Pseudoritual zu tun haben, das es in dieser Form nie gegeben hat.86 Sicherheit ist hier wohl kaum zu erreichen, zumal es Demosthenes nicht an einer authentischen Darstellung religiöser Phänomene bzw. ritueller Abläufe gelegen war; er schrieb nicht für künftige Religionshistoriker. Ihm ging es vielmehr darum, Aischines und seine Mutter als Winkelpriester und Scharlatane zu marginalisieren und sie auf diese Weise in den Augen der Athener lächerlich zu machen. Dafür war ihm kein Preis zu hoch. Mangels vergleichbarer Berichte lässt sich nicht ausmachen, wie stark die Verzerrung ist. Für einen nicht unbeträchtlichen Grad an zumindest formaler Authentizität sprechen jedoch außer den rituellen Details die präzisen kultischen Titel und vor allem Spezialausdrücke wie ƮƧƤƲơƨƺƮ und ƬƲƣƵƩƲơƨƺƮ, die der Sakral- bzw. der Mysteriensprache entnommen sind. Parker glaubt, dass in der Buchrolle, aus der Aischines während des Mysterienrituals vorlas, orphische Texte standen, die Jenseitshoffnungen zum Inhalt hatten.87 Bernabé nahm die Demosthenes-Stelle als ein orphisches Testimonium in seine Fragmentsammlung auf.88 Aber Texte auf Papyrusrollen wurden vermutlich in den meisten Mysterien benutzt, wenn sie auch für Eleusis nicht ausdrücklich bezeugt sind. Einen Text als ‘orphisch’ zu klassifizieren, weil er einen Hinweis auf eine in einem Ritual benutzte Buchrolle enthält, scheint mir höchst problematisch. Dass in diesem Text beschriebene Ritual deshalb als ‘orphisch’ zu betrachten, wäre noch problematischer. Ich muss der Versuchung widerstehen, aus alledem ein voreiliges Fazit zu ziehen, da die hier skizzierten Phänomene im Fluss sind und sich unser Bild von der Orphik mit neuen Funden schlagartig ändern kann. Wir wis85

Hoessly 2001, 230. Harris 1995, 25 denkt an “practices drawn from different types of exotic ceremonies, all thrown together for the sake of humorous effect by a process of comic syncretism”. Ähnlich Bremmer 2008, 273 (“this bricolage of several ecstatic cults”). 87 Parker 1983, 303. 88 OT 577 I Bernabé 2005. 86

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sen entschieden mehr über eleusinische und dionysische Mysterien, über antike und moderne Orphiker und über Orphik als etwa Dodds vor 60, Wilamowitz vor über 75 und Nietzsche vor mehr als 135 Jahren wissen konnten.89 Aber über Burkert ist bislang kein Forscher ernsthaft hinausgekommen. Trotz der erzielten Fortschritte wissen wir immer noch nicht genug, um uns auf sicherem Boden zu fühlen, und müssen unseren Wissensstand und die Folgerungen, die wir daraus ziehen, mit jedem Neufund revidieren. Das verunsichert und ist frustrierend. Der Frust wäre jedoch ungleich größer, wenn Walter Burkert nicht bei jedem neuen Text und den damit unweigerlich verbundenen Problemen das Wissbare für uns neu zurechtgerückt und uns mit seinen Einsichten und einschlägigen Publikationen immer wieder die Neuorientierung und das Umdenken erleichtert hätte. Dafür sind wir ihm dankbar.90

89 An Dodds’ negativem orphischen Glaubensbekenntnis sind inzwischen gleich mehrere Abstriche zu machen (Dodds 1951, 147-148 “There was a time when I knew,” gefolgt von einer Liste der “items of information” zur Orphik, an die er damals nicht mehr glaubte). 90 Den Herausgebern danke ich für ihre Geduld und Jan Bremmer für zahlreiche Hinweise.

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RENAUD GAGNÉ Haereditarium Piaculum. Aspects of Ancient Greek Religion in the 17th Century*

One of the many distinctive charms of Walter Burkert’s work is its double nature: both a virtuoso culmination of centuries of philological scholarship, and a radical and necessary rupture with tradition. The significance of his research goes far beyond its numerous exploits of historical criticism, or the major expansions of functionalist and ethological approaches to myth and ritual which it has championed in the past forty years. Over and above the many theoretical turns and trends which have spanned his long career, Walter Burkert, together with other giants such as Jean-Pierre Vernant, has presided over a true refoundation of the field of Greek religion. Beyond the limited reach of the antiquarian and the cynical enthusiasts of the théorie du jour, he has led the reinscription of Greek religion as a significant object of public thinking for the late 20th and the early 21st century; ancient Greece as a warning, and a renewed space of reflection for the ‘post-ritual’ secular West on the nature of premodern humanity. Major characteristics that stand out from this program of research are an emphasis on cross-cultural comparison, both Near Eastern and other, and the absolute primacy given to ritual as the kernel of ancient religious experience. Inspired by the scholarly memories of anthropology and comparative religious studies, this core of interests is genealogically traced back to developments of the later 19th century.1 I would like in this paper to bring attention to another fundamental and much earlier refoundation of scholarship on Greek religion: the work of 17th century humanists; not only, as Guy G. Stroumsa (2009) is doing with the beginnings of modern comparative religion, as a way to push back the ancestry of present scholarship, but also as the evocation of a relevant contrast to that scholarship. This discussion is an effort at the recovery of alternative

* I would like to thank Miguel Herrero, Nino Luraghi, Mark Somos, Guy Stroumsa, and all the participants of the Bielefeld colloquium for references, comments, and criticism on this article. 1 See e. g. Kippenberg 1997.

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memories in the study of ancient Greek religion. It is offered as a tribute to Walter Burkert’s enduring originality. The memory of scholarship on Greek religion follows the familiar hourglass pattern of oral traditions described by Jan Vansina (1985). On the one hand, the pioneers of early Humanism continue to be revered as distant ancestors. On the other, the towering figures of 19th and early 20th century philology and Religionswissenschaft are seen as immediate fathers, and (nominally) keep pride of place in the reading lists of students in the field. It has been agreed that the modern, scientific study of Greek religion begins with C. A. Lobeck and K. O. Müller. Almost everything written between the time of early Humanism and the 19th century has disappeared from active thought on the subject. It is an unfortunate fact that Friedrich Creuzer remains a terminus post quem. In other words, the massive scholarly involvement of the 17th and 18th centuries in the study of Greek religion has fallen into the ‘Floating Gap’ of academic genealogy. The broader memories of Hebrew Bible scholarship and Egyptology are interesting contrasts to this situation of selective forgetfulness.2 Richard J. Tarrant’s monumental 2004 OCT edition of Ovid’s Metamorphoses is notable for the role it gives to the emendations of Nikolaes Heinsius (1620-1681). Like the persistent editorial influence of the 17th century humanists in the constitution of the classical texts we continue to use, the ideas of these scholars still continue to affect contemporary debates in the study of ancient religion, often indirectly. This, after all, is the period when the first steps in the modern study of ancient ritual and comparative religion were made.3 The questions, the categories, and the frames of reference defined in the particular contexts of thought of these times have long entered the scholarly language and become part of its syntax, carrying their now invisible load of assumptions with them. They illustrate important turns in Western usages of an ancient material which was still fundamentally normative at this time. By not making these strata of assumptions explicit, and by not understanding the contexts in which they were produced, we often end up reproducing their logic without even noticing it. This trap of implicit continuity is part of the baggage of filters which constitute the ‘culturally determined assumptions’ now so promi2

See e. g. Assmann 1997; Assmann 2005; Stroumsa 2000; Stroumsa 2001b. Van Gennep 1920; Kohl 1981; Pailin 1984; Schmidt 1994; Stroumsa 1997a; Stroumsa 1997b; 2001a; Muir 2005. 3

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nent among the concerns of scholars in the field, following the paths opened, among others, by Jonathan Z. Smith, Talal Asad, and Christiane Sourvinou-Inwood.4 Scholarship on Greek religion does not begin with the 19th century. Remembering and making sense of the fundamental work written before the rise of the ‘rationale Wissenschaft’ of professional German philology is a key to identifying and understanding the underlying narrative of subsequent scholarship. The ‘genealogical turn’ can only be effective if it reaches further than antiquarianism and academic hagiography, and strives for long-term memory.5 An example is the question of ancestral fault, what is still generally referred to as ‘inherited guilt’.6 It will serve here as a case study. A common characteristic of most scholarship on the topic is the assumption that ancestral fault is a primitive or archaic idea. Scholars almost invariably see ‘inherited guilt’ as a vestige of prehistoric thought, or a characteristic development of the archaic period. In one way or another, its common expression in the classical period is usually presented as a survival, a fossil of the Archaic ‘Inherited Conglomerate’. The abundant Hellenistic and imperial sources are altogether ignored, or taken as witnesses to an earlier state. Whatever approach to the material is proposed, and there have been many, the overarching narrative is one of succession. According to this common narrative, the earlier, confused, and thoroughly unjust concept of ancestral fault gives way to the more advanced, evolved, and just idea of personal responsibility. Whether it be a reflection of the movement from the family to the individual, as Glotz (1904) had it, or of archaic adolescence to classical maturity, in the organic model of Dodds (1951), the common thread is the postulation of a passage from lower to higher, ancestral fault as a stage in the movement from wild beginnings to the civilized promises of the classical model.7 Glotz and Dodds produced the most influential discussions of Greek ancestral fault in the 20th century. It can be interesting to read this narrative of contemporary research in light 4

Sourvinou-Inwood 1990; Asad 1993; Smith 2004. Momigliano 1950. 6 I will only use the term ‘inherited guilt’ in reference to earlier scholarship. The more theologically neutral ‘ancestral fault’ is a closer rendering of the major terms of reference actually used in antiquity. I will use ‘ancestral fault’ instead of ‘inherited guilt’ in the following discussion as a general descriptive term for the concept of delayed generational punishment; see Gagné 2009. 7 Gagné 2007b; Gagné 2008. 5

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of earlier ideas on the topic. I believe that the forgotten scholarship of the ‘Floating Gap’ can shed light on later directions of thought on the subject, if only by contrast. This paper will thus compare the views of two diametrically opposed 17th century thinkers on ancestral fault: Hugo Grotius (1583-1645) and Jan Lomeier (1636-1699), and attempt to locate their thoughts in the contexts that produced them. The concept of ancestral fault, delayed generational punishment, is attested in all periods of ancient Greek history. Not only did it continue to play an important role in Greek culture from Homer to Proclus, but the later material from the Hellenistic and imperial periods is particularly varied. Hellenistic philosophers, for instance, particularly Stoic thinkers, inscribed and systematized delayed punishment and the causality of sanction through generations in their theories of cosmic justice.8 Their work, combined with earlier soteriological traditions, was continued and expanded by a number of high imperial and late antique writers, most notably Plutarch in the De sera numinis vindicta, who thoroughly consolidated all earlier Greek traditions on delayed punishment. Proclus followed suit, with the ninth question of his fascinating De decem dubitationibus circa providentiam.9 Its Begrifflichkeit confirmed by a long tradition of explicit discussion, the concept of ancestral fault also continued to play a fundamental role in the religion of the Greek cities under the Roman Empire.10 This complex of ideas came to be considered as a peculiarly Greek way of thinking, a mark of Hellenism in distinction with Rome and, later, Christianity was attacked by some early Christian apologists as a pillar of Hellenic religion.11 Other Christian authors soon saw it as an equivalent to Hebrew corporate responsibility and the more recent notion of original sin. The first Christian reception of Greek ancestral fault thus already alternated between the rejection of a pagan idea, and the appropriation of what it saw as a truthful prefiguration. The second mode of interpretation remained, by far, the most prevalent throughout the Middle Ages and the Early Modern period. This appro8

See e. g. Cic. N.D. 3.90. Plu. De ser. num. vind. 548b-562d; Procl. De decem dub. 58-61. See still Klostermann 1916; Vernière 1974, 105-106. 10 See e. g. Paus. 1.36-37; 2.18.2; 3.13.4; cf. Hor. 1.28; 30-31; 3.6; Liv. 10.38.10; 22.53.11; Jos. AJ 8.15; V. Fl. 4.33-34; D.C. 59.11.4; V. Max. 1.1; Pers. 2.25; Juv. 13.206; Ael. VH 3.43; 13.2; Ath. 552a-b; Tert. Adv. Marc. 2.15. 11 Origenes Cels. 8.40, with Fédou 1988, 98-99; cf. Tert. Adv. Marc. 2.15. 9

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priation, what we can call, following translation theory, the Christian ‘domestication’ of the Greek concept, became the obligatory lense through which the material was perceived.12 More than a thousand years of Christian reception has recognized the ‘sins of the fathers’ of Hebrew tradition and the ‘original stain’ of later Christian theology in the Greek concept of ancestral fault. The Byzantine prince Isaac Sebastokrator, for instance, adapted Proclus’ treatise De decem dubitationibus to the concerns of 11th century Eastern Christian theology, translating the ancestral fault of Proclus as a discussion of God’s wrath ‘visiting the iniquity of the fathers upon the children unto the third and fourth generation’.13 William of Moerbeke’s Latin translation of the same work of Proclus in the 13th century provided High Scholasticism with influential material on the transmission of sin, vicarious punishment, and the seams of theodicy in Western Christendom.14 Philip Melanchthon and his followers made Greek ancestral fault, especially its expressions in tragedy, an illustration of Lutheran ideas on both corporate responsibility and original sin.15 The

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On ‘domestication’, see Venuti 1995; cf. Pym 1996; Snell-Hornby 2004. Isaac Sebastokrator De dec. dub. 58: Ƶɜ Ʀɖ ƱƲưƥưƮƫƬːƮ DZvƣƲƵƩvƞƵƺƮ ƦơƬƣƳ ƵơƮƧƫƮƵƫƮɔƳˤƵɜƥưƮƧʴƳƷƞƥƺƴƫƮȰvƷƣƬƣƳƬƣɚƵƟƬƮƣƣȝvƺƦƫƞƴưƶƴƫƭƽƥƫưƮ˥vƣƲƵƶƲƧʴ; see Dornseiff 1966; Rizzo 1971; Erler 1979; Magdalino 1987; Opsomer and Steel 2003. 14 See e. g. Böse 1960; Westerink 1962; Böhme 1975; Isaac 1977; Battaillon 1989. 15 For tragedy, see Lurje 2004, 99-101. Vitus Winshemius, for instance, in the preface to his Latin text of the Electra in his 1546 edition of Sophocles’ works, the Interpretatio tragoediarum Sophoclis ad utilitatem iuventutis, continues the thought of his Wittenberg teacher and presents the theme of ancestral fault as one of the essential elements of tragedy, a pillar of its moral function: Haec fabula hanc doctrinam praecipue tractat, contra Epicureos, quod Deus res humanas curet, innocentes ac indigne oppressos respiciat, ac tandem liberet, atrocia scelera Tragicis atque horribilibus poenis vindicet. Ad quem locum communem de providentia divina & si omnes fere Tragoediae communiter referri possunt, tamen in quibusdam magis illustria exempla & testimonia huius sententiae proponuntur: sicut & in hac, quae tristissima quaedam imago est irae divinae adversus atrocia scelera. Et ostendit nobis, quantam saevissimarum calamitatum & malorum Lernam unum aliquod atrox factum secum trahit: et quam ex uno delicto Satanas longam atque horribilem telam scelerum & poenarum texere atque accumulare soleat. Interfecit Pelops Myrtilum. At filii ipsius alternis caedibus, sanguine & incestis libidinibus domum ac civitatem replent, haerent in poenis non ipsi tantum, sed & horum liberi, qui iisdem a furiis agitati, partim in suum sanguinem saeviunt, partim a proximis ipsi trucidantur. Neque adhuc finis est scelerum ac poenarum, sed ad nepotes ac pronepotes usque tristissimae calamitates propagant. Hoc est quod verba legis divinae minantur,

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double determination of punishment in Greek myth, where ancestral fault is often reflected in the commitment of a new crime by the descendant, was seen by these scholars as a true expression of human fallibility, the combination of grace and choice. In this view, the Greek principle of ancestral fault could become a direct reflection of the reformed theology of synergy postulated by Melanchthon and his followers. Reading the delayed punishments of kin in Greek tragedy was seen as an education in true Christian morals. Sicut et Mose dicit, could write Melanchthon about Hes. Op. 284, citing Exodus 20.5. Graeci hac de re libros scipserunt. Et extat libellus Plutarchi de his, qui sero puniuntur a numine, et quaerit mirabiles rationes.16 Many other such examples could be mentioned. Ancestral fault was conceptualized as a dogma of the religion of antiquity which could be referenced by citation, like a passage of the Bible linked to the other relevant passages of the Canon by the appropriate quotes. This reception of ancestral fault as a core doctrine of ancient religion was initially predicated on its usefulness for Christian moral exhortation. It made ancient literature speak a universal truth compatible with Christian teaching, and useful in deterring men from sin by striking the fear of God in the readers of ancient texts. Centuries of involved reading have contributed in charging the notion of ‘inherited guilt’ with layers of Christian implications and associations. The mention of this term could thus activate an entire web of Christian concepts and references, implicit theological programs and Biblical correspondents. All the way to the 20th century, the long and eventful interpretatio christiana of the Greek sources has chargDeum visitare iniquitatem Patrum in tertiam & quartam generationem (Winshemius 1546 in Lurje 2004, 100). For Winshemius, the myth of the play, its fabula, illustrates the doctrina of Providence defined by Plutarch in the De sera numinis vindicta against the Epicureans, and more particularly the notion of ancestral fault. The staging of ancestral fault, the horrible representation of its crimes and its punishments, is designed to provoke an atrocious fear of sin in the spectators. It is a common element of all tragedies, an essential expression of its moral function. Tragedy is designed to show us how long and fearful is the chain of crimes and punishments which Satan has been used to weave and to accumulate on our heads for one single fault (ex uno delicto). In the tragic play, the guilty himself is punished with his children, but the penalty is carried on to his descendants, up to the third and fourth generations. The ancestral fault of ancient drama is not only an illustration of original sin, but a direct expression (hoc est quod verba ...) of Old Testament corporate responsibility. 16 Melanchthon 1533, 214.

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ed the ideas and the images linked to Greek conceptions of punishment through generations with the doctrines of another religion.17 The English ‘inherited guilt’, for instance, is itself a direct translation of the earlier German terms Erbschuld, ererbte Schuld, or Erbsünde. These words have been commonly used in philological scholarship from the early 19th century to the present day to describe the Greek material of punishment through generations. They are, of course, highly marked theological terms of reference for the Christian notions of original sin and corporate responsibility. Erbschuld is a term already used by Luther in this sense, and the Deutsches Wörterbuch of the Grimm brothers lists it as a translation of the medieval debitum hereditarium.18 Erbsünde is the standard term for ‘original sin’. Both ultimately derive from terms such as the Patristic Latin haereditarium peccatum.19 A particular difficulty of genealogical investigations of scholarship is that no one can possibly claim to control “even the majority of the relevant literature”, as Jan Bremmer writes (2008, 433). But major fault lines can be identified. Over the centuries, the meaning of Greek ancestral fault has become indissolubly linked with the meaning of Hebrew corporate responsibility and Christian original sin. As long as corporate responsibility and original sin remained stable pillars of the Western Christian order, expressions of Greek ancestral fault could continue to be read as prefigurative Christian teachings. With the upheavals of the 16th and 17th centuries, the situation was drastically altered. There was a paradigm shift. Renewed emphasis on personal merit in contemporary philosophy, the thorough remise en question of corporate responsibility and original sin in theological debates, historicization of religious truth, and the first stirrings of the Querelle des Anciens et des Modernes, led to the eventual rejection of Greek ancestral fault as a model.20 Rather than appropriation through domestication, the dominant mode of reading Greek ancestral fault became rejection and separation, framing as difference – what, following 17 See e. g. Pirckheimer 1513; Wyttenbach 1772, 297-304; De Maistre 1884, 40-46; Peabody 1885, xxvi; Super 1899; Méautis 1935, 55. 18 Erbschult (sic) in Luther: Schriften, 34. I. Band, Predigten 1531.24 Drescher; for debitum hereditarium, see Das Deutsche Wörterbuch s. v. ‘Erbschuld’. 19 See e. g. Ambros. De myst. 1.32; cf. Rondet 1966; Dubarle 1999; Minois 2002, 43-80. 20 See e. g. Dupront 1930; Hazard 1935; Taylor 1989; Bury and Meunier 1993; Neveu 1994; Schwartz 1994; Stroumsa 1997b; Dubarle 1999; Schubert 2002.

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translation theory again, we might call ‘foreignization’.21 The first systematic efforts of large-scale comparative cultural description begun in this period were influential in reshaping the meaning of the material, but the guiding thread of interpretation remained Christian Scripture. I will use the discussions of Hugo Grotius (De iure belli ac pacis, 1625) and Jan Lomeier (Epimenides, 1681) as examples of this 17th century shift in understanding of Greek ancestral fault. One will serve to illustrate the reinterpretation of ancestral fault in terms of its opposition to morality and justice. The other, its reframing as a misguided rite of superstition, a condemnable foil to true religion. In the De iure belli ac pacis, Grotius attempted to define the natural law governing the rightful use of violence of states against their subjects, and of states against other states.22 The legal codes and juridical ideas of countless peoples were compared for their points of agreement or disagreement on the various questions at hand.23 The Bible and Roman law occupied centre stage, but Greek and Latin literature now constituted the core of the authorities adduced by Grotius.24 The citations of Greek and 21

Venuti 1995; Snell-Hornby 2004. Nocentini 2005, 295-353; Tuck 2005, ix-xxxii; Stumpf 2006, 11-69. 23 Building on earlier work (e. g. Purchas 1613; Brerewood 1614; Selden 1617; Herbert 1624), the humanists of the Leyden circle, such as Vossius 1641, produced one of the first systematic paradigms of universal cultural comparatism since the time of the Alexandrian Library. Their theory of natural law was largely based on the considerations of a systematic, large-scale cultural comparativism grounded in Hebrew, Greek, and Roman sources. The ius naturale being immanent to the universe, and originally given in the same measure to all men, it led the classical scholars who preoccupied themselves with its definition to develop a resolutely comparative approach to the study of world institutions. Classical philology has been involved in cross-cultural comparison for much longer than it can remember. Long before Fontenelle or Lafitau, these scholars systematically compared the fables and the customs of the Greeks with the cultures of the ‘savages’ encountered by European imperialism throughout the globe to uncover the seams of natural theology. The confrontation of Hebrew and classical texts with material from the distant fringes of European expansion provided the essential basis for the uncovering of natural law. It also led to the relativization of their value. The discussion of ancestral fault in the De iure belli ac pacis derives in large part from such early considerations of relative cultural value. The material of Plutarch is shown to be unjust by confrontation with the opinions of other Greeks, and of other peoples. See Gruppe 1921, 45-47; Pinard de la Boullaye 1929; Dupront 1930; Rademaker 1981, 306-309; Pailin 1984; Rubies 1991; Wickenden 1993, 142-161; Schwartz 1994; Stroumsa 1997b; Stroumsa 2001a; Tuck 2005, xxviii-xxix; cf. Selden 1640; Ross 1653; Herbert 1663; Cudworth 1678. 24 Tuck 1979; Lagrée 1991, 55-56; Wickenden 1993, 88-116. 22

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Latin literature which truffle almost every single line of the De iure belli ac pacis play the same role for Grotius that Scriptural and Patristic sources played in the Medieval Concordantia Discordantium Canonum and the Summa Theologiae, for instance. The rhetoric of the new universal code of law devised by Grotius was grounded in the authority of classical literature. Euripides and Plutarch, Virgil and Tacitus are cited there with the kind of weight which used to be reserved to Augustine.25 Classical texts could be utilized in this way to defend and justify any position. They were set up before Biblical sources, and also against each other. Grotius’ discussion of ancestral fault is a complex expression of the new clash between modern and ancient which erupted at this time. Ancestral fault is discussed in Chapter 21 of Book 2: De poenarum communicatione.26 This chapter is concerned with the transmission of punishment within groups and over time. It devotes important passages to the definition of ancestral crimes, and the applicability of punishment through generations in a just juridical system. These passages are based in large part on Plutarch’s De sera numinis vindicta. Chapter 21 is divided in two sections. The first one looks at how punishment (poena) can be meted out as a consequence of participation in guilt (culpa).27 The second, in turn, looks at the question of whether punishment can be communicated when guilt is not.28 In the first part, Grotius is interested in determining the extent of the individual’s responsibility for the actions of the group

25 26

Lagrée 1991; Wickenden 1993, 90-110. In his 1623 edition of the poetic fragments found in Stobaeus, Grotius translates the fragment from Euripides’ Alcmaeon (E. Fr. 82 Kannicht) Ƶɔ ƵːƮ ƵƧƬƽƮƵƺƮ ɅƳ vƧƵƟƲƸƧƵƣƫ ƪƧɜƳ  vƫƞƴvƣƵƣ as commissa quae sunt in parentes, haec Deus persequitur ultor. As Valckenaer remarks about this translation in the note to verse 833 of his 1768 Hippolytus: vera quidem ista sunt; sed Graecis significantur, ab ipsis parentibus commissa, quae Deus ultor in liberis persequitur. Three years after the edition of Stobaeus, however, in his 1626 edition of the fragments of Greek tragedy and comedy, Grotius again translated what he thought was the same fragment of Euripides, but modifying the text this time in reference to a comparable fragment from the De sera numinis vindicta (E. Fr. 980 Kannicht). There he renders what he now gives as ƵɔƵːƮƵƧƬƽƮƵƺƮƴƷƞƭvƣƵˡ ƧȜƳƵưɞƳ  ȀƬƥƽƮưƶƳ ưȝƪƧưɚ ƵƲƟƱưƶƴƫƮ, the text which has remained the accepted reading of the Plutarch passage ever since, as in posterorum capita mos Dis vertere culpas parentum. These translations were done during the time of Grotius’ captivity in castle Loevestein (see e. g. Rademaker 1972), while he was working on the De iure belli ac pacis. 27 2.21.1-8. 28 2.21.9-20.

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(communitas), and of the group for the actions of the individual.29 How can the guilt of the group be communicated to the actions of the individual who has not himself committed any delictum, or the guilt of the individual transferred to the whole of the group to which he belongs? How far does the responsibility for the actions of one member of the group, or of its ruler, extend to the rest of the community? This responsibility, in the thought of Grotius, can only be transmitted through ‘penal desert’ (meritum poenae). Like the familiar Thomist distinction between sins of commission and sins of omission, it must involve a personal choice, either to act (factum), or not to act (omissio). At the end of the first section of chapter 21, Grotius discusses the extension of the group’s responsibility in time: This important question occurs, whether punishment may always (semper) be exacted for the deeds of the corporation (universitas). So long as the corporation continues, it will seem that it can, because the same body (corpus) remains, though preserved by a succession of different particles, as we have shown elsewhere. (2.21.8)

The corporation forms a single body over time, a corpus: a single continuous life of successive moments. The image of the human group as a coresponsible corpus is found in Aristotle, Augustine, and Thomas Aquinas already, but not the idea of the extended life as a succession of moments.30 Grotius’ highly influential description of the corporation’s continuity in time as the sequence of different moments of the same life is probably taken directly from Plutarch (and possibly also Proclus). Contrary to Plutarch, however, and to Thomas Aquinas, Grotius refuses to admit a continuity of group responsibility through time. The corporation can own treasury and the like, he says, and such things can remain liable for the duration of the corporation’s existence; but the group is composed first and foremost of free individual members. They are imputable only for their own actions. The possessions of such members, and their lives, cannot be submitted to the punishment of actions committed by preceding generations of the group. For Grotius, contrary to Aquinas, there is no justifiable vindicta sine culpa, sed tamen non sine causa. Personal responsibility is the only just cause of human punishment. Culpa is a function of meritum, and meritum is a result of choice: factum, or omissio. Without this choice, 29 30

See especially 2.21.2; 8-10; 12-13. See Tuck 1979; Nocentini 2005; di Blasi 2006.

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the reflection of man’s conscience before God, responsibility cannot exist; punishment of the corporation over generations is thus necessarily unjust and contrary to natural law. From the moment when the individual members of the group who bear responsibility as individuals have passed away, all meritum of punishment for the group has disappeared. The principle of ancestral fault cannot be rightly applied in human justice. It does not belong to natural law.31 A series of examples from the De sera numinis vindicta follows, in which Grotius explicitly marks his distance from Plutarch on the question. The destructions wrought by Alexander on the Persian Empire as punishment for the exactions of the Median Wars five generations earlier are unequivocally condemned.32 Grotius musters the testimony of Curtius and Arrian also, who he (wrongly) says also condemned the injustice of Alexander’s actions in destroying the Branchidae and burning down Persepolis; but what he really is after with this misquotation is a countering of Plutarch’s text, which specifically presented the revenge of Alexander as an example of the principle of ancestral fault.33 The following example is also taken from Plutarch’s De sera numinis vindicta (557b), again without mention of the quote. This exemplum is turned in derision: Everyone sees the absurdity of Agathocles’ answer to the complaints of the Ithacans, of damage done by the Sicilians; that the Sicilians had received more damage from Ulysses. (2.21.8)

The next line continues the confrontation with Plutarch, this time citing him explicitly, but from a different work, the De malignitate Herodoti.34 It furthers the rejection of ancestral fault by turning Plutarch against Plutarch: And Plutarch, in his book against Herodotus, says that it is very unlikely that the Corinthians should have wished to avenge an injury received from the Samians after three generations. (2.21.8)

A following remark adds that the continuity of honors carried by descendants for the merits of their ancestors is no justification for punishment over generations, ‘for benefits are of such nature, by their matter, that they 31

2.21.12-13. 2.21.8; Plu. De ser. num. vind. 557a. 33 2.21.8. On ‘misquotation’ in Grotius, see Somos 2007, 447-451. 34 2.21.8. 32

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may be bestowed upon any without injury, but punishments are not’.35 This is first and foremost a defense of contemporary noble privilege and hereditary honor, of course, but it is also another salvo in Grotius’ attack against the ancestral fault of Plutarch, who begins his apology of the principle in chapter 13 of the De sera numinis vindicta with an explicit comparison between the transmission of punishment over generations, and the transmission of hereditary honor. The transmission of responsibility to the group is strictly limited to the meritum of choice by Grotius, and the possibility of its continuity over generations strongly denied. The first half of the chapter defines common responsibility for punishment in strictly individualistic terms. It posits a radical break between the continuity of the group in time and the personal nature of culpa. The terms of the debate are framed in reference to Plutarch, and against him. The justice of ancestral fault in human law is strictly refused. As Grotius says at the end of the section, the discussion of Plutarch must be judged to be incompatible with natural law: Nor is the defense of this or such cases satisfactory, which we find in Plutarch’s De sera numinis vindicta. For the justice administered by God is one thing, that by men, another, as we shall show hereafter. (2.21.8)

Grotius continues the same thought in the second section, where he discusses the possibility of transmitted punishment without transmitted guilt. There he looks at transmission through kinship rather than transmission through polity. This section starts off with precisions concerning the nature of delictual intentionality, and ends with a look at the heredity of debts. But the core of the passage is taken by three sections in the middle. In paragraphs 12, 13, and 14, Grotius considers the Biblical and classical traditions concerning the transmission of punishment over generations, and he interprets ancestral fault through the distinction between human and divine law, as he hinted at the end of the first section.36 In human law, just as the extension of responsibility to the group without desert is judged to be utterly unjust, so the extension of punishment through generations without extension of responsibility is deemed to be opposed to natural law:

35 36

2.21.8. 2.21.8.

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Having premised these distinctions, we say that no one innocent of delict can be punished for the delict of another. But the true reason of this, is not that which is given by the jurisconsult Paulus, that punishment is instituted for the amendment of men: for it would seem that an example may be made even extraneously to a man’s own person, in a person whose welfare affects him, as we shall soon have to show; but because liability to punishment arises from desert: and desert is a personal quality, since it must have its origin in the will, than which nothing is more peculiarly ours: it is, as we may say, entirely free (ƣȸƵƧƯưƾƴƫưƮ).37

There can be no punishment in human law which does not involve the free will of the individual, he says, usings the same language which he had already coined in the De iure praedae. Every justification of ancestral fault in human terms is to be condemned.38 Neither the virtues nor the vices of parents can be imputed to their children, declares Grotius with the authority of Patristic and classical sources.39 He gathers there a gallery of Christian, Jewish, and classical authors who condemn the Greek custom of extending punishment to the offspring of the guilty, often distorting their thought in the process. He writes, for instance: The same custom is blamed also by Dionysius of Halicarnassus, who shows that the reason sometimes given is fallacious, that the children will probably be like their parents; since that is uncertain, and an uncertain fear ought not to cause anyone’s death. (2.21.13)

In the passage quoted by Grotius, Dionysius of Halicarnassus does not condemn the practice he reports, however, he simply mentions it, as Barbeyrac notes in his edition.40 In misquoting his source this time, what Grotius is after here, again, is the justification of ancestral fault by Plutarch: his discussion of criminal atavism in chapters 19 and 20 (561c562e) of the De sera numinis vindicta. Repeating his point again in different terms, Grotius reaffirms that there is no place for the principle of Plutarch in the logic of natural law. The authority of the revered De sera numinis vindicta cannot however be entirely rejected by Grotius. The justification of ancestral fault by Plutarch is consequently reconciled with justice. It simply does not belong to human law: it is, instead, in the realm of divine law that Grotius relo37

2.21.12. See Tuck 2005, xviii-xix. This excludes hereditary slavery, it must be noted, which does not involve punishment, but dominion: 2.21.14. 39 2.21.12-14. 40 See Barbeyrac’s note ad loc. 38

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cates the authority of the De sera numinis vindicta. In paragraph 14, Grotius looks at the traditions concerning divine wrath through generations: God indeed, in the law which he gave the Hebrews, threatens that he will visit the impiety of the fathers upon their posterity. (2.21.14)

He explains this threat of God from Exodus and Deuteronomy through the right of dominion (ius dominii), not the right of punishment (ius poenae): But God has the most plenary right of dominion, as over our goods, so over our lives, as his gift; which he may take away from any one, whenever he will, and without any cause. If therefore, he takes away, by an untimely and violent death, the children of Achan, Saul, Jeroboam, Achab, he uses towards them his right of dominion, not of punishment. (2.21.14)

Grotius is following Aquinas in this discussion of divine law. In the same way that the slaughter of an animal is not a function of a right of punishment, but of a right of dominion of men over beasts, as he said in chapter 11, Grotius asserts that God has full, unlimited dominion over our lives and our goods, at his will. It is the nature of dominion which determined the nature of justice.41 The nature of God’s retributive actions cannot be measured in reference to human law. As Grotius will repeat later on in the second section: But this fact on the part of God is not to be imitated by men; nor is the reason alike: because, as we have said, God has a right over men’s lives without regarding their faults: but men have such a right only on the ground of a graver fault, and one which belongs especially to the person. (2.21.18)

God threatens punishment over the third or fourth generations, observes Grotius, but never further.42 This is because his wrath is aimed at the parents. When he destroys the children of Achan, Saul, or others, it is not because of any shared responsibility, or because of a transmission of punishment, but in order to strike at the heart of the still living grandparents and great-grand-parents who have committed the crime.43 It is certain that then they are punished by such a spectacle; for that is more grievous to them than what they themselves suffer, as Chrysostom says, with whom Plutarch agrees: ‘that no punishment is more galling than to see one’s progeny suffer on one’s own account ...’ (2.21.14) 41

2.21.11; 14. 2.21.14. 43 2.21.14. 42

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In matters of divine law, Plutarch agrees with John Chrysostom.44 Plutarch also appears in the background of another section, where Grotius argues that the New Covenant given to men by God contains no announcement of a divine wrath coursing through generations. As was foreshadowed by the oblique prophecies of Ezekiel 18, says Grotius, which announces the end of corporate responsibility through generations realized by Christianity, [t]he punishments which await the wicked after the end of this life are declared more clearly in the New Testament; therefore in that law there is no threatening of punishment which goes beyond the persons of the offenders: to which especially, though less openly, as the manner of the prophets is, that prophecy of Ezekiel looks. (2.21.14)

In that passage, eschatological punishment is portrayed as an evolution over delayed generational punishment. Ancestral fault is not only circumscribed to divine law, but it is relegated to the revelation which predates the announcement of the New Covenant. The New Dispensation has replaced the wrath of God with the fear of hell, which involves individual choice more clearly than the preceding law. Contrary to the text of Plutarch, where eschatological punishment (563b-568a) and ancestral fault are (548b-562d) closely intertwined, the two are clearly distinguished and opposed in the work of Grotius. Plutarch appears explicitly in another passage, to further ground the principle of ancestral fault in the realm of divine law. Grotius declares that God only visits his wrath over generations for particularly grave offenses against his honor.45 Only the greatest of affronts against him can provoke divine anger over the second or third generation: crimes of false worship, perjury, and sacrilege. The Greek principle of ancestral fault, which Grotius is at pains to dissociate from natural law throughout chapter 21, is in fact concerned with this aspect of divine law, and it finds itself in full agreement with divine justice. ‘Nor did the Greeks judge otherwise’, says Grotius, ‘for the crimes which were supposed to entail a curse on posterity, which they themselves called ǴƥƩ, are all of this kind’.46 A series of examples follows, from Aelian, Strabo, and Gellius.47 And the entire treatise of Plutarch is called to witness: ‘on which question Plutarch learnedly 44

2.21.14. 2.21.14. 46 2.21.14. 47 2.21.14. 45

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elaborates, in his book De sera numinis vindicta’.48 The De sera numinis vindicta, together with the wider Greek testimony on the question, is dissociated from the realm of human law, but appropriated for the understanding of divine law. It is read through the categories of personal merit on the one hand, and Biblical wrath on the other. The treatise of Plutarch is read as a witness of divine law, and as such it can continue to be used as a source of theological authority. But it is now entirely separated from the realm of human justice. And this is what Grotius is after in his treatise. In attacking the ancestral fault of the De sera numinis vindicta, the Arminian Grotius was also aiming at the orthodox Calvinist position on determinism, grace, and original sin.49 Together with the rejection of corporate responsibility and original sin from the political and civil spheres of modernity, the ancestral fault of Greek literature was morally delegitimized and exposed as an unjust encroachment upon individual liberty. In the radical ‘secularist’ position of Grotius, especially in the first edition of the De iure belli ac pacis, the rigid separation between divine and human law – a clear break with the Thomist tradition – is a requisite for the constitution of an independent human sphere of rational, universal justice: natural law.50 The individual of Grotius is a fundamentally free subject of personal, inner will.51 The explicit rejection of Greek ancestral fault from the realm of natural law is a direct expression of the contradictions which now existed between the Plutarchean tradition and the ‘naturally’ autonomous agent of the modern self then taking shape as a central category of reflection. The position of the De sera numinis vindicta could be safely relegated to the realm of divine action and the intricacies of theological considerations, but it had no more place in human justice. It had become a foreign body. The De iure belli ac pacis perfectly illustrates the profound unease which was to characterize later modern and contemporary readings of Greek ancestral fault. It shows how incompatible the notion of inter-

48 49

2.21.14. On Arminianism and original sin, see Heering 2004; Stumpf 2006, 71-99; Olson

2006. 50

See Tuck 1979; Lagrée 1991, 19-42; Jeffery 2006, 27-49; Stumpf 2006, 101-161. Stumpf 2006, 123-144; Grotius was a Remonstrant, a deeply involved follower of the Calvinist thinker Arminius. He had rejected Calvinist views on determinism, grace, and original sin, and embraced a radical view of man’s free will, in direct opposition to the views of the established Church, views for which he saw his friends beheaded, spent years in prison, and was to live a good part of his life in exile. 51

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generational responsibility had become with the Western conception of the self as a free, autonomous individual accountable only to his own personal will. This discussion can be usefully contrasted to that of the Epimenides, sive de veterum gentilium lustrationibus syntagma of Jan Lomeier (16361699). That book was published in 1681 (2nd edition 1700). Printed in the same year as Richard Simon’s Comparaison des cérémonies des Juifs & de la discipline de l’Église, avec un discours touchant les différentes messes, ou liturgies qui sont en usage dans tout le monde, and four years before Spencer’s last tome of De legibus Hebraeorum ritualibus (16831685), it was dealing with red hot issues of the day.52 Writing from the side of the orthodox Calvinist tradition of 17th century Holland, and against the positions of Grotius and the natural law theorists, Jan Lomeier set out to attack the idea that original sin can be washed away or purified in any manner by rites of lustration.53 It can only be redeemed by eternal 52 On the intellectual context of Simon’s and Spencer’s work, see le Brun/Stroumsa 1998, xiii-xlix; Stroumsa 2001b. Lomeier’s aim to write as a member of the République des Lettres is shown by the many letters of appreciation from journals, colleagues and correspondents reproduced at the beginning of the 1700 edition. Belying the fama perennis which Lomeier’s friends and admirators foresaw for his text in the poems and letters gathered in the preface of the second edition, the Epimenides has in fact been entirely forgotten by the memory of scholarship. I have not been able to find it mentioned or cited anywhere in the classical and early modern scholarship of the past eighty years. Rohde still uses it in his 1894 Psyche. Until Latte’s (1920/1921) and notably Moulinier’s (1952) work, who both do not cite it, it remained the most extensive discussion of ancient purification practices. The most recent mention of this work in classical scholarship I could find is Gruppe 1921, 56. 53 On Lomeier and his first book, the 1669 De bibliothecis, see Montgomery 1962. That work set out to study the transmission of knowledge through time. It is the first modern study on the history of libraries. Taking a truly ecumenical look at the cultures of the past and the known world, Lomeier discusses there the history of the book, its role in various systems of education, from Plato’s Academy to the offices of imperial Chinese bureaucracy, and the constitution and content of the great European library collections. The treatise is interested in the transmission of knowledge over time: how easily it is distorted through time, how it moves from oral to written form, and from one text to another. De bibliothecis aims to show that the only true source of revelation is the direct intervention of God in the texts of the Bible: Sola scriptura. The thoughts of the doctores of the Primitive Church, those who were closest to the original moments of revelation, also need to be cultivated, however, and the study of libraries is a tool in recovering them. But, as to what concerns revelation, nothing can have survived from the time before Babel or the Flood, and there is no natural unity to the diverse archives of the world. Human cultures have lost their unity, and they are irreducibly different. The bibliothecae are so many “Wunderkammern”.

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divine grace, he argued; belief in the spiritual efficacy of ritual and good works is mere and dangerous superstition. The many similarities between the various ritual practices of the world are not expressions of some eternal truth, but a testimony to Satanic influence. Lomeier gave himself the task of comparing and describing all known idolatrous rituals of purification, and exposing them as the work of the Devil. His treatise reads as a catalogue of the world’s follies. Greek ancestral fault is singled out as a particularly significant example of this abominable pagan belief in purification; it is defined as an element of the purely exterior, ritualistic, and superstitious religion of the idolatrous past. It is set on the same footing as contemporary ‘savage’ heathenism, and, of course, Catholic ritual.54 Lomeier was born during the Thirty Years War, and he wrote his treatise under the hardened religious climate which would lead to the revocation of the Nantes edict, and at a time when his city was occupied by the Catholic armies of Louis XIV. In the preface to his work, he describes the state of horror and despair in which his occupied city has fallen under the cruel and impious troops of the French Crown. It comes as no surprise that the very last chapter of the Epimenides is devoted to the many continuities of superstitio from paganism to the ‘Romano-Catholic’ Church, and the repeated influence of the Devil in its later resurgences.55 While the discussion of Grotius illustrates the modern rejection of ancestral fault from the modern redefinition of justice, the Epimenides illustrates its rejection from the sphere of a religion redefining itself against every form of difference. It shows the early reframing of ancestral fault as an element of ritual superstition. The Epimenides is a treatise on the purification practices of all the ancient peoples of the world. Like the De iure belli ac pacis, it is comparative through and through.56 It attempts to classify the entire spectrum 54

Wickenden 1993, 124-127; 185-195. Cap. 39: Lustrationibus gentilium abolitis, aliae in ecclesia Romano-Catholica successerunt, etc. 56 This negative ritual comparativism, opposed to the Catholic comparativism of scholars like Richard Simon, belongs to the genre of Protestant apology, which had resurrected Late Antique apology in the course of the 17th century to combat the legitimacy of modern religious domestications of pagan practice; a process which it came to group under the general term ‘Socinianism’. The Socinians were an Antitrinitarian sect of the Radical Reformation which rejected altogether the doctrine of original sin and defended a natural, rational deism of universal value. They gave in many ways the impulse to what was to become the rationalist deism of the Enlightenment. Unitarians themselves, they 55

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of ideas and practices, beliefs and rituals, concerning the atonement and the purification of sin attested throughout the lands of non-Christian societies, including the purification of ancestral fault. The great core of Lomeier’s material comes from Greek, Latin, and Hebrew texts. More significantly, he collects comparanda from the four corners of the globe, quoting customs and practices from the Egyptians, the Babylonians, the Phrygians, the Druids, the Brahmans, the Germans, the Chinese, the Tartar, the Japanese, the Moscovites, the Mohammedans, the Aztecs, Polynesians, and many others.57 The treatise organizes its material along the lines of descriptive analogy. All the ideas and the rites which are deemed to look alike are grouped under the same broad rubrics. After a few introductory chapters devoted to the etymology of lustratio, the definition of purification, and the differences which distinguish religio from superstitio, Lomeier proceeds to regroup the idolatrous practices of world heathenism in general, and more specifically of ancient gentiles, in broad descriptive categories. The book is a catalogue of rites. The order of the chapters follows no set logic. Every chapter contains a number of loosely related entries. Typical entries include sections on ‘lustrations preceding entry into a temple’, ‘lustrations through fire and water, or through water mixed with honey’, ‘sacrifice’, ‘lustrations through human blood’, ‘human sacri-

looked into Christian and non-Christian faiths alike for religious teaching, and pagan religion especially was seen as a source of knowledge into the mysteries of nature. A new genre of Christian apology attacking natural religion, heathenism, and paganism saw the light in this period in order to refute the theories of natural deism. The themes of Late Antique apology contra paganos were there resurrected to counter the unitarian theories of Socinianism. Pagan and heathen religions were described, compared, and exposed as idolatrous errors. The similarities between the various religious practices of the world with the Hebrew rituals of the Old Testament were shown to be a function of Hebrew influence on the world, not the other way around, or the vestige of an early common revelation, or a function of natural religion; the complete break between the religious practices of the past and the New Covenant which had begun with the sacrifice of Christ was also emphasized to show that these ancient Hebrew practices were now irrelevant. The central aim of this literature was the widespread contemporary search for natural religion among the classically educated elite. Typical products of this genre include Johann Cloppenburg’s (1592-1652) 1651 Compendiolum Socinianismi, Johann Saubert’s 1659 De sacrificiis veterum, and William Owtram’s (1626-1679) 1677 De sacrificiis, which is explicitly described as a treatise contra Faustum Socinum in the extended title; see Pailin 1984; Hillar 1993; Reedy 1977. It is within this context of early Protestant ritual comparatism that the Epimenides of Lomeier discusses the various rites of purification of paganism, including atonement for ancestral fault. 57 E. g. cap. 15; 19; 21-22; 29; 32.

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fice’, ‘cannibalism’, ‘ritual usages of the egg’, etc. The immediate aim is to show the similarities which exist between all pagan and heathen superstitions, on the one hand, and ancient Judaism on the other. Lomeier defines the practices of ancient pagan religion as diabolical and empty cult.58 In the Epimenides, ritus is used interchangeably with cerimonia, and it refers mostly to religious (or, rather, superstitious) actions and behavior.59 In chapter 16, for instance, Lomeier describes purificatory washing with water as a ritus; elsewhere, the same word is used to describe a purification of murder through the mutilation of the dead (e. g. ritum hunc enarrat Sophoclis scholiastes ad Electram l.447). The main interest of Lomeier is not in ritus as such, however, but more specifically in lustratio. He defines lustratio in chapter 1 as: Sacra autem, de quibus agimus, lustrationes, sunt actiones et ceremoniae religiosae, instigante ƬƣƬưƨƩƭơʕ Diaboli, obstetricante hominum superstitione ac ȀƪƧƭưƪƲƩƴƬƧơʕ a gentibus institutae, & sollenibus personis, rebus, ritibusque adhibitis peractae, quibus se a peccatis purgare, mala avertere, numenque placare conabantur. Lustratio involves the performance of religious action, but also thought about its meaning and efficacy. In describing the ancient purification practices of pagan nations, and showing their common origin in the Devil’s 58

E. g. cap. 1; cf. cap. 2; 14; 39. Contrary to what we read in the deconstructionist view exemplified by the work of Asad 1993 and Boudewijnse 1995, the Latin Rituale and its various European derivatives were not confined to the liturgical meaning of ‘text’ before the 1900s. The term ritus, in a text like the Epimenides of Lomeier, refers to the performance of fixed movements in a religious setting, i. e. actions and behavior. It is true that the term did undergo drastic semantic changes and a massive renewal of interest in the late 19th and early 20th century, for which Bremmer 1998 provides a particularly stimulating study. It is also true that the liturgical usage did remain one of the central usages of ‘ritus’ in earlier centuries, associated to such works as the Rituale Romanum of the Catholic Church, for instance. But, from the 16th century on, we have to note that the term and its cognates were also used to describe ceremonies, customs, sacred gestures and utterances, and even codified action in general, almost always in negative terms. The fascinated disgust which underlies descriptions of ancient ritual in this (and later) scholarship is striking, with its exuberance of macabre and grotesque details. It is framed as an element of absolute alterity. As Muir 2005 writes: “it was during the Reformation that the generalized concept of ritual as a distinct kind of activity came into being.” Ritual became essentially keyed to the description of “the disreputable practices of somebody else”: pagans, Jews, heretics, and Catholics. The “disenchantment of ritual” allowed its objectification in the involved reformed polemic scholarship of the day; see also Schmidt 1994. 59

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will, Lomeier is actually discussing the meaning of atonement, one of the central concerns of orthodox Calvinism.60 He seeks to show that all attempts at the purification of sin outside the election of grace are vain illusions. There can be no equivalent to baptism as it is understood in the one true faith. The only salvation is the blood of Jesus Christ.61 It is the only expiation and the only true sacrifice. All the rites of expiation of the heathens and the superstitious belong to Satan; they have no effect on the salvation of the soul from original sin.62 This purification can only be reached through the grace of God, who has decided in all eternity who would be saved, and who would be lost. The false rites of purification of the heathens are the clearest expression of the division between the just and the damned. For Lomeier, all pagan cult is superstition, ‘because they adore false gods with lying cult’.63 As the other writers of the Protestant apologetical tradition in which he sets himself, he posits a clear division between religio and superstitio: Verum religionis & superstitionis discrimen hoc est: religio veri Dei verus est cultus, complectens omnia officia, vero Deo, ex eius mandato, debita: superstitio autem non tantum est cum creatura creatoris loco colitur, sed etiam cum verus Deus colitur modo non legitimo.64 The similarities between pagan and heathen superstitions reflect on Jews and illegitimate Christianity. The essence of religio, as the etymology of its name proves, says Lomeier, who explains it through religando, is the bond of grace which links the faithful to God. Religion is a function of amor, while superstition is based on terror. Superstition has two daughters: polytheism (ƱưƭƶƪƧƽƵƩƳ), and false cult (ȀƪƧƭưƪƲƩƴƬƧơƣ). By ƱưƭƶƪƧƽƵƩƳ, Lomeier means the fabulae and the opiniones of the gentiles, while by ȀƪƧƭưƪƲƩƴƬƧơƣ, he refers to their cults and ceremonies; what

60 See e. g. Geisler 1999; Olson 2006. On the central importance of this question in contemporary comparative scholarship, see e. g. Stroumsa 2001a, 99. 61 Cap. 15: Fons sanguis Filii Dei qui nos ƬƣƪƣƲơƨƧƫ ab omni peccato; cf. cap. 1. 62 Cap. 1-3. 63 Cap. 3. 64 Cap. 3.

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later scholars would come to call myth and ritual.65 Both polytheism and false cult come from the ƬƣƬưƨƩƭơƣ of Satan.66 For Lomeier, the similarities, which he documents among the pagans and the heathen customs and rites of the world, are not expressions of some natural law, but the work of the Devil. The Devil cannot create: he imitates the work of God, like an ape.67 He has throughout the ages seduced the peoples of the world to entertain beliefs and perform rituals which were in fact destined to turn them away from God, and bring them to worship him instead. All the similarities between the cult practices of the heathen world, which Lomeier catalogues so assiduously in his treatise, have a common origin in Satanic imitation.68 They mirror the earlier religion of the Hebrews, but only as deformed, inverted reflections. The use of tympana and cista in pagan cults, for instance, are echoes of the Arc of the Hebrew rites.69 In the second edition (1700), Lomeier goes to great lengths to show that these rites of the Hebrews are not derived from Egypt, as John Spencer had recently argued in the De legibus Hebraeorum ritualibus et eorum rationalibus (16831685).70 On the contrary, he says, the rites of the Egyptians, as old as they might be, are also diabolical deformations stemming from the Devil’s persuasion; as are later Jewish superstitions, in fact, stemming from their adoptions of heathen customs and the renewed influence of the Devil after their refusal to recognize the Messiah and the New Covenant. Only the true heirs of the Hebrews, the Christians of the one true (Calvinist) Church, have escaped the ƬƣƬưƨƩƭơƣ of Satan, and have remained faithful to religio. There can be no question of ancestral fault being washed away by mere empty ritual. But the anger of God is no fable. 65

Cap. 14; 16; 23; 25; 32; 35; see Muir 2005, 163-201. The term ƱưƭƶƪƧƽƵƩƳ is already found in John Selden’s 1617 De diis Syris (Stroumsa 2001b, 3). 66 Cap. 2. 67 Cap. 1-2. 68 Cap. 1-2. 69 Cap. 2. 70 Cap. 2: Ritus autem a Mose populo Israëlitico traditos, ab Aegyptiis derivatos esse, eosque paululum hic illic emendatos, & politico scilicet aliquo schemate inscrutatos, Marschami quidem & Spenceri opinio est, quorum hic mea in hoc capite verba respexit: lib. 3. de legg. Hebr. ritual. dissert. 5. cap. 1. verum hanc doctissimorum virorum sententiam veru jugulante acuratissime transfixit Clar. Hermannus Witsius, in Aegyptiacis, ut si vel tantillum adderem, Iliadem post Homerum canere jure merito videri possem; on Spencer, see Stroumsa 2001b; Assmann 2005.

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In chapter 5, Lomeier refutes the position of the Epicureans, who say that gods are removed from human concerns, and that they can neither be angered nor placated. According to him, the Stoics came closer to the truth of religio with their theories of Providence, but their refusal to admit the anger of God is a distinct error.71 ‘More pious are those pagan philosophers’, says Lomeier, ‘who have talked about God not so much in the disputations of the schools, but in the process of honoring the gods with religiones in the temples’.72 By this Lomeier refers to Plutarch, as he explicitly shows a few lines later.73 In the general condemnation of pagan belief and ritual of the Epimenides, Plutarch is singled out as the closest prefiguration of Christian thought to have been produced in the ancient world. God cannot be placated, but he can be angered, ‘as we can see in Plutarch’s De sera numinis vindicta, a book’, continues Lomeier, ‘in which there are a great many things which can be said and which can be learned by a Christian’.74 Like his adversary Grotius, Lomeier seeks to appropriate the authority of Plutarch, especially of his revered treatise on divine punishment. Like in the De iure belli ac pacis, Plutarch’s text is seen as a witness to the nature of divine anger. Exactly as in Grotius’ treatise, however, the principle of ancestral fault is also dissociated from the realm of human practice. In the text of the orthodox scholar, ancestral fault is a clear example of superstitio.75 The first thing to note is that the treatise of Lomeier is called Epimenides, the name of the Archaic Cretan holy man who was said to have purified Athens from the ancestral pollution of the Cylonian massacre.76 The name Epimenides does not appear in the first 1681 edition of the book, which is only called De veterum gentilium lustrationibus syntagma, but it was added as the key word of the title in the second 1700 (posthumous) edition. Ancestral fault is the icon which Lomeier, his friends, or his editor chose to represent the entire realm of superstitions which the book set out to condemn. It is discussed in the middle of the treatise, at chapter 22. This chapter regroups a plethora of purification practices where one person is made to 71 72 73 74 75 76

Cap. 5. Cap. 5. Cap. 5. Cap. 5. Cap. 3; 22. Cap. 13.

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suffer for the expiation of another – perverse reflections of the one true sacrifice of Jesus Christ. The heading of the chapter will give an idea of its varied content: Caput XXII. Lustrationes per sanguinem humanum. Vulnera sacerdotum Baalis, Aegyptiorum, Bellonae, Cybeles. Mors sontium, vicariorium pro aliis: ƷƣƲvƣƬươ, ƬƣƪƞƲvƣƵƣ, synonyma graeca. ǰƮƵơƹƶƸưƫ. Privatum, publice: pro principe, pro populo: Decii pater et filius. Menoeceus. Devotio exercituum, urbium, familiarum, & posterorum. ƬƣƪƞƲvƣƵƣ. Sinon. Apud Massilienses, Gallos. Paulus. 1. Cor. 4. Christiani. Jonas. Captivi. Exules. Gladiatores. Homo sacer. Securis apud Athenienses condemnata.77 The principle of ancestral fault is portrayed as a superstition comparable in its essence to the ritual self-inflicted wounds of Babylonian, Egyptian, and Phrygian priests, or the trial of the sacrificial axe at the Bouphonia. It is presented more specifically in the context of devotio exercituum, urbium, familiarum, & posterorum. Lomeier conceives it as analogous to purificatory mutilation, the devotio of the Decii, or the rite of the ƷƣƲvƣƬƽƳ, in the sense that in all these examples, one was wrongly thought to endure suffering for the sake of another. Ancestral fault is seen as the belief in a stain which can attach itself to a family, and which must be purified through ritual lustrations. Lomeier refers to it as ‘hereditary pollution’: haereditarium piaculum. He uses the word piaculum elsewhere in his treatise to translate the Greek ǴƥưƳ.78 Lomeier goes on to show that the pagan lustrations of ancestral fault, these attempts to purify haereditaria piacula in familiis, are diabolical perversions. He chooses six examples to illustrate his point. The first is the great imprecation of the Amphictyonic oath related by Aeschines in his account of the first Sacred War.79 The second comes from Book 7 of Herodotus, chapter 197. In the cult of Zeus Laphystios at Halos in Phthiotid Achaia, the Achaians perform human sacrifices to atone for the ancient murder of Phrixus by Athamas and Ino. This is a rite prescribed by an oracle, which

77

Cap. 22. Cap. 16; 20; 35; e. g. cap. 32. 79 Aeschin. C. Ctes. 110-112. 78

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Lomeier has shown earlier to be a voice of the Devil.80 The first-born of the descendants of Athamas and Kytissorus, the son of Phrixus, are forbidden to enter the Prytaneum, and kept from leaving its premises if they do enter – butchered as they try to leave. The descendants of Kytissorus are punished because their ancestor had liberated Athamas from punishment, and brought it upon himself instead. Many of those who flee to foreign lands are brought back to the Prytaneum and led to their deaths in sacrificial processions in which they are decked in crowns and fillets, like animals readied for the altar. Lomeier provides a similarly bloody story as the second example, the story of the Alcmaeonid curse from Herodotus Book 5 and Thucydides Book 1.81 He relates how Cleomenes exiled Cleisthenes and seventy Athenian families from the city, the descendants of the murderers, ‘as if they were contaminated by the Cylonian piaculum’; and how the Athenians even later dug up the bones of the polluted families and cast them away from their territory. To these two cases of cruel lustrations from history Lomeier adds three examples of people going so far as cursing themselves and their progeny. Some of these examples are taken from Grotius’ Annotationes in Novum Testamentum to Matthew 27.25. The first example is the passage of Matthew himself, where, after Pontius Pilatus has washed his hands of the blood of Jesus, he sees the Jewish people say: Ƶɜ ƣȣvƣ ƣȸƵư˃ ȀƷˡ ȍvʗƳƬƣɚȀƱɚƵɔƵƟƬƮƣȍvːƮ. The second example is a conditional curse from the constitution of the Smyrnaeans with the typical ritual formula of generational execration ȀƯƿƭƩƳƧȠƩ; and the third, the apology of the Roman senator Rufus to Augustus for his slip of tongue, a story from Seneca which has the senator ask the emperor to let his own words fall on his head and that of his progeny (De beneficiis 3, 27). Lomeier says, quoting Grotius, that the Jews are not the only people to believe that great crimes remain attached to the descendants of sinners; thus ‘reminding’ his readers in the process that the Jews themselves believe in a curse on their people, believe in ritual expiation of sins, and that these beliefs agree with those of the heathens.82 A section at the end of chapter 22 shows how Christian religio differs from such superstitio. The section on haereditarium piacul80 Cap. 2-3. For the theme of oracle and diabolical inspiration in early Christian apology already, see e. g. Fédou 1988, 243-249. 81 Hdt. 5.70-71; Th. 1.126-128. 82 Cap. 22: ad quem locum Grotius notavit, non Hebraeis tantum, sed & Gentilibus hanc fuisse opinionem, magnis sceleribus etiam posteritatem obstringi.

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um ends with a reference to Grotius, De iure belli ac pacis 2.21 & 14. Quoting his opponent twice in the passage, Lomeier ends up using Grotius against Grotius in his attempt to discredit what he sees as the central error of his views. Ancestral fault is a lustratio shared by the Greeks, the Romans, and the Hebrews, as the jurist himself has shown, certainly the moratiores of peoples if there are any, and yet even Grotius himself cannot admit it to the ius naturale. The unacceptable nature of Epimenides is a witness to the unacceptable nature of Lomeier’s enemies, including natural law theory, Socinianism, and Catholicism. The Epimenides functions as a salvo in a theological war. It attempts to look at the nature of the similarities that exist between the rites and beliefs of pagans and heathens. Grotius and the natural law theorists are derided for defending an absurd position.83 The very first chapter of the book attacks Grotius as a Socinian, and mocks his false definition of ƭƾƵƲưƮ. If the so-called natural law, ‘which could not even be moved by God if he wanted to’, is perceived by the observation of different peoples united in common practice, then why is our religion so different from the rites of the world outside? In chapter 14, in a direct address to Grotius, he asks his long dead adversary why he doesn’t perform sacrifices himself, rites which Lomeier is describing with shocking and colorful details throughout his text, if these are expressions of natural law? For truly they must be so, according to the descriptions of Grotius in the De iure belli ac pacis, as Lomeier truculently strives to show. Should Grotius not slaughter bulls as offerings to God, like the figures in oddly familiar late 17th century dress reproduced on the lithography which accompanies this chapter in the second edition of the book? Or fumigate a basin of water, like the other European figure in classicizing clothes performing this rite in a different lithography, standing before a peculiar Dutch house with classical colonnade? Could Grotius be such a modern day Dutch idolater? Grotius and his bishop, says Lomeier, by which he means Arminius and the Remonstrants, are in fact Socinians, Socinismi inscrutatores.84 In the midst of such a complete clash of opinions, it is striking to see that Lomeier reaches the same conclusion as Grotius concerning the evaluation of Greek ancestral fault. Starting from radically opposite positions, Grotius and Lomeier arrived at similar results: ancestral fault was to 83 84

Cap. 14. Cap. 14.

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be unreservedly rejected from the reception of the Greek heritage, and the realm of modern Christian practice. It was incompatible with the redefinition of a universal justice of personal freedom, on the one hand, and with the reinvention of religion as a value of absolute historical and geographical distinction, on the other. Whereas one scholar reframed ancestral fault as being opposed to true morality, the other condemned it as an example of the superstitious errors of others concerning vicarious purification. Both normative evaluations of the Greek material reflected their author’s views on the meaning of corporate responsibility and original sin, and their responses to the new challenges of ethnographic comparatism. Both show how Greek ancestral fault, even in such radically different perspectives as those of Grotius and Lomeier, had become an unacceptably foreign idea for the new modernity of the 17th century. Through comparison with the practices of other peoples, it could be classified and rejected at the edges of savagery. It was recast as the unjust, ritualistic, and superstitious dogma of a distant world. Grotius and Lomeier, like Origen, read Greek ancestral fault through Ezekiel 18: What do you mean, that you use this proverb concerning the land of Israel, saying, ‘The fathers have eaten sour grapes, and the children’s teeth are set on edge’? As I live, says the Lord Yahweh, you shall not have occasion any more to use this proverb in Israel. Behold, all souls are mine; as the soul of the father, so also the soul of the son is mine: the soul who sins, he shall die ... The soul who sins, he shall die: the son shall not bear the iniquity of the father, neither shall the father bear the iniquity of the son; the righteousness of the righteous shall be on him, and the wickedness of the wicked shall be on him. (NJB Translation)

This was a ready template to place Greek ancestral fault in time. Later scholarship would build on the implicit chronological sequence of the Ezekiel narrative. With the triumph of historicist time and, later, evolutionary theory, ancestral fault came to be projected as a stage from the ‘not-yet’ towards the more advanced present. Linear evolutionist time came to dictate the meaning of periodization. In the work of Lobeck and Müller already, and later of Nägelsbach, Rohde, Reinach, Glotz, Wilamowitz, Latte, Kakridis, Moulinier, Nilsson, Dodds, and many others, corporate responsibility came to be portrayed as a primordial state naturally

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anterior to the concept of the responsible person.85 The condemnation of Greek ancestral fault, still now commonly described as ‘perverse’ and ‘repellent’ (e. g. Saunders 1991, 94), and its description as a fossilized survival, a “dogme périmé ... entaché de bizarres superstitions”, or a “postulat magique de la mentalité primitive” (Vernière 1974, 107), go hand in hand. ‘Inherited guilt’ was to be reinvented as the idea of a primitive, archaic stage of civilization. Formalized in thought and ritual, it was shown to represent a step in the movement towards the notion of personal guilt, the emancipation of the individual, and the discovery of rationality. The portrayal of ancestral fault as the doctrine of a primitive society still crushed under the weight of the household, before the triumph of the polis would eventually liberate the individual from the tyrannical bonds of the ƥƟƮưƳ and the ưȢƬưς, was a variant on this theme. In the course of many changes, and a great variety of perspectives, most of these discussions continued to define ancestral fault by direct opposition to Christianity and modernity, and through the themes of injustice and ritual. This is not the place to trace later developments of thought on the subject, the history of continuities and disruptions, or the precise evolution of scholarship from the 17th to the 20th century.86 Suffice it to say here that the central narratives underlying much of this work can be seen as later stages of a dialogue largely begun in the 17th century. The terms of the paradigm shift exemplified by the work of Grotius and Lomeier are crucial to understanding the genesis of this dialogue, when it was still an explicit normative confrontation with ancient literature. This is but one example of the continuing relevance of pre-19th century scholarship for present research, beyond the inherent interest of the material. The comparative ritual studies of the 17th century, replaced in their theological and cultural contexts, are significant moments for the memory of research on ancient Greek religion. They are distant precursors, as well as contrasts to the new comparative ritual studies spearheaded by Walter Burkert in the field. We continue to ignore them at our loss.

85 For the same process in the understanding of corporate responsibility in Hebrew Bible scholarship, see for instance Kaminsky 1995. 86 See e. g. Gagné 2007b; Gagné 2008.

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RENATE SCHLESIER Dionysos. Riten und Mythen im Werk von Walter Burkert Kein antiker Gott hat die Moderne stärker fasziniert als Dionysos. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute ist er in den wissenschaftlichen Diskursen, in den Künsten und sogar in der populären Kultur weitaus präsenter als alle übrigen Figuren der antiken Kult- und Mythentradition. Innerhalb der modernen Wissens- und Darstellungsformationen erscheint Dionysos vorwiegend als untypisch für die antike griechische Kultur, als Ausnahme, ja als Instanz einer Differenz, die auf etwas Fremdes, NichtGriechisches, Nicht-Europäisches, Orientalisches verweist oder gar die Moderne antizipiert. Wie komplex aber die religions- und kulturgeschichtlichen Verhältnisse tatsächlich sind und wie wenig historisch-anthropologische Erkenntnis mit dem abstrakten Postulat einer dionysischen Differenz oder einer modernistisch akzentuierten Polarität zwischen Apollinischem und Dionysischem gewonnen ist, wie sie Nietzsches Geburt der Tragödie von 1872 ins Spiel gebracht hatte,1 wird erst seit einem halben Jahrhundert immer deutlicher. Zum gegenwärtigen, immer differenzierter werdenden Verständnis des griechischen Gottes Dionysos, seiner Riten und Mythen, hat Walter Burkert, so lässt sich ohne Übertreibung sagen, in entscheidender Weise beigetragen. Zu Hilfe kamen ihm dabei neue Entdeckungen – die Entzifferung der mykenischen Linear-B-Schrift, die bis heute nicht enden wollenden Funde von bakchischen Mysterientexten –, die er sogleich konsequent für eine genauere und umfassendere Rekonstruktion der antiken griechischen Dionysos-Verehrung adaptiert hat. Bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die Studentenzeit Walter Burkerts, stimmten fast alle Gelehrten darin überein, Dionysos als fremden und religionshistorisch jungen Gott zu deuten. Man glaubte sich dabei umstandslos auf antike Historiker und Dichter der klassischen Epoche wie vor allem Herodot und Euripides berufen zu können, deren An1 Nietzsche 1872; ein kritischer Überblick dazu und zu weiteren modernen Dionysos-Auffassungen findet sich in Henrichs 1984; zu Nietzsches Abhängigkeit von Euripides’ Bakchen vgl. Henrichs 1986. Zu Nietzsches Geburt der Tragödie vgl. auch unten Anm. 81.

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gaben religionshistorischer Quellenwert beigemessen wurde, ohne die dabei auftretenden methodischen Schwierigkeiten kritisch genug zu reflektieren. Dionysos könne demnach nur aus der Fremde nach Griechenland gekommen sein, aus dem nordischen Thrakien, wie dies Erwin Rohde 1894 im 2. Band von Psyche autoritativ postuliert hatte,2 oder darüber hinaus aus dem kleinasiatischen Phrygien, wovon Ulrich von WilamowitzMoellendorff, unter Berufung auf Euripides, noch 1931/32 in seinem letzten großen Werk, Der Glaube der Hellenen, überzeugt war.3 Eine Synthesis dieser Herkunftslehren bietet seit 1940 die Darstellung von Martin P. Nilsson in seinem Handbuch Geschichte der griechischen Religion: Noch in der in seinem Todesjahr 1967 veröffentlichten 3. Auflage wird Dionysos unter die “jüngeren Götter” eingeordnet.4 Dem entspricht es, wenn Henri Jeanmaire, in seinem Dionysos-Buch von 1951, mit Rekurs auf Herodot, den Gott als “spät gekommenen” charakterisiert.5 Auch Eric Robertson Dodds hatte in seinem Bakchen-Kommentar von 1944 Euripides’ aus Kleinasien kommenden Gott als religionshistorisches Faktum dargestellt. Eine Fußnote zur 2. Auflage des Kommentars von 1960 dokumentiert den Schock, den nach der Entzifferung der Linear B durch Ventris und Chadwick 1952 der Fund des Namens di-wo-nu-so-jo (= Dionysos) auf einem Schrifttäfelchen aus Pylos ausgelöst hatte: “it seems ... to date back Greek acquaintance with Dionysus to the thirteenth century B. C. at latest”.6 Und es wirkt wie ein Versuch der Bewältigung dieses Schocks, wenn Dodds im Anschluss daran versucht, an der Historizität der Widerstandsmythen gegen Dionysos festzuhalten, sich jedoch gezwungen fühlt, diese nun weitaus früher anzusetzen. Diese wissenschaftshistorische Skizze mag hier genügen, um die Sachlage zu evozieren, der sich der junge Walter Burkert gegenüber sah, als er in seinen Publikationen begann, über Dionysos zu reflektieren. Im Rückblick zeigt sich, dass diese Reflexionen zu den immer wieder aufge-

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Rohde 1894, II, 1-37 passim; vgl. dazu McGinty 1978, 34-70 mit 200-207; Cancik 1985, 471-476. 3 Wilamowitz-Moellendorff 1931-1932, II, 59-69 passim; vgl. dazu Henrichs 1985, 303-304. 4 Nilsson 1941, 564-601; zu Nilssons Dionysos siehe McGinty 1978, 104-140 mit 222-233. 5 Jeanmaire 1951, 19: “tard venu”. 6 Dodds 1960, xxi Anm. 3. Zu Dionysos bei Dodds siehe McGinty 1978, 181-186 mit 243-244.

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nommenen zentralen Themen seiner Forschungen gehören. Dennoch fällt auf, dass der Name Dionysos bis heute in keinem von Burkerts BuchTiteln auftaucht, und auch, wenn ich mich nicht täusche, nur einer seiner (jüngeren) Aufsätze im Titel diesen Namen nennt.7 Allerdings hat Burkert bisher grundsätzlich auf Götternamen in Buchtiteln verzichtet und verwendet sie auch in Aufsatz-Überschriften auffallend selten (am häufigsten Apollon: bis 2000 immerhin fünfmal).8 Schon an der Titelwahl scheint ablesbar, dass es ihm um größere Zusammenhänge, um religionshistorische und anthropologische Synthesen, um allgemeine Interpretationsprobleme von Riten und Mythen und vor allem um den Menschen als Opferer, Töter und Gewalttäter geht,9 und nicht so sehr darum, spezifische Götter isoliert zu betrachten. Nur ein Charakteristikum der DionysosVerehrung, das Bakchische als etwas, das primär auf Mysterien bezogen wird, findet sich in den Titeln weniger Aufsätze wieder: zunächst “Orphism and Bacchic Mysteries” von 1977, dann “Bacchic Teletai in the Hellenistic Age” von 199310 und “Eleusis und Bakchika” von 1998.11 Unübersehbar ist jedoch, dass Burkert spätestens seit seiner Habilitationsschrift Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon von 1962 Dionysos kontinuierlich umkreist. Man könnte sagen, dass er sich diesem Gott, je nach dem von ihm gewählten thematischen Fokus, geradezu experimentell nähert und dass seine Darstellungen des Dionysos durch den jeweiligen Kontext seiner Schriften situativ bestimmt sind, in einem Verfahren also, das sich in Wissenschaft und Dichtung seit jeher als äußerst produktiv erwiesen hat. Manche der Grundmotive von Burkerts Perspektivierung des Dionysos begegnen schon in Weisheit und Wissenschaft. Dazu gehört vor allem die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Orphischem und Bakchischem, das schon Herodot (Hist. 2.81) unterstrichen hatte und das auch von heutigen Forschern weiterhin lebhaft und kontrovers debattiert wird. 7 “Orpheus, Dionysos und die Euneiden in Athen. Das Zeugnis von Euripides’ Hypsipyle”, so der Titel seines Beitrags zur Festschrift für Hellmut Flashar von 1994, jetzt in Burkert 2006, 112-119. 8 Vgl. das Verzeichnis seiner sämtlichen Buch- und Aufsatz-Veröffentlichungen bis 2000 in Burkert 2001, 234-251. 9 Diskutiert in Henrichs 2006, 80-87. 10 Diese beiden Aufsätze sind jetzt wieder publiziert in Burkert 2006, 37-46 und 120-136. 11 Burkert 1998. – Im Folgenden gehe ich ausschließlich auf Burkerts Monografien ein.

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Damit hängt für Burkert seit seiner Habilitationsschrift12 die bei Herodot, wie dann bei Platon, mit Ägyptischem und Pythagoreischem konnotierte Seelenwanderungslehre zusammen sowie der religionshistorische “Typ des wandernden Reinigungspriesters”.13 Als Resultat wird hier vorerst festgehalten, dass die historische Figur des Pythagoras und die in Süditalien auch politisch einflussreiche Gruppe der Pythagoreer zwar eher “apollinische Geistesklarheit” repräsentieren, doch ihre Seelenwanderungslehre wie die der Orphik gerade auf “dionysische Mystik” zu verweisen scheinen.14 Auf Nietzsche wird dabei explizit und durchaus anerkennend Bezug genommen – Burkert war wohl der erste, der dies in einer klassisch-philologischen Habilitationsschrift wagte –,15 die Nietzschesche Polarität wird jedoch in ihrer antithetischen Schärfe relativiert. Bereits in Weisheit und Wissenschaft klingt auch ein Motiv an, das von Burkert später zu den mythisch-rituellen Fundamenten der antiken griechischen Religion überhaupt, einschließlich der Dionysos-Sphäre, gezählt wird: die Initiation.16 Eine solche Deutungsmöglichkeit der zweiten Geburt, der “Schenkelgeburt” des Dionysos, wird, im Zusammenhang mit dem ‘goldenen Schenkel’ des Pythagoras, ins Spiel gebracht.17 Dennoch wird die Beziehung zwischen Pythagoreischem und Dionysischem von Burkert hier zukunftsweisend gelockert, denn der Gott Dionysos selbst spiele für die Pythagoreer kaum eine Rolle. Außerdem seien die Mysterientexte der Goldblättchen, deren damals bekannter Textbefund noch keine direkten Hinweise auf Dionysos enthielt, nicht pythagoreisch zu interpretieren,18 zumal sie mit dem Wort eriphos, dem in die Milch fallenden Böcklein – so vermerkt Burkert also schon 1962 – indirekt auf Dionysos verweisen.19 12

Burkert 1962, siehe vor allem 102-112. Burkert 1962, 109. 14 Burkert 1962, 108-109. 15 Bei der Tagungsdiskussion im Anschluss an den Vortrag bemerkte Walter Burkert, dass er während seiner Assistentenzeit in Erlangen wohl als erster Klassischer Philologe an einer deutschen Universität ein Exemplar von Nietzsches Geburt der Tragödie für ein Philologisches Seminar angeschafft habe. 16 Vgl. dazu Burkert 2004; wissenschaftsgeschichtlich: Schlesier 2007. 17 Burkert 1962, 134 Anm. 245; vgl. auch Burkert 1977, 257. 18 Vgl. Burkert 1962, 178-179. – Dagegen dann bes. Zuntz 1971, mit einem vehementen Plädoyer für eine ‘pythagoreische’ Deutung. 19 Vgl. Burkert 1962, 341 Anm. 39. – Diese Intuition bestätigte sich erst durch weitere Funde von Goldblättchen seit Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. 13

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In seinem zehn Jahre später publizierten, nächsten großen Werk, Homo Necans von 1972, ist Pythagoras dann nicht nur von Dionysischem, sondern auch von Dionysos vollständig abgekoppelt. Die Goldblättchen fehlen hier ganz und gar. Dionysos jedoch ist prominent vertreten, taucht in zahlreichen Zusammenhängen, darunter dem der Mysterien von Eleusis, dem Thema des letzten Kapitels, auf, und sein ältestes Fest in Athen, die Anthesterien, wird im vorletzten Kapitel eigens ausführlich behandelt.20 Die Absenz der Goldblättchen (jedoch nicht der Orphik) in diesem Buch mag aus heutiger Sicht überraschen, doch ist daran zu erinnern, dass erst 1974, zwei Jahre nach der Publikation von Homo Necans, der Grabfund des Goldblättchens von Hipponion bekannt wurde, in dessen Text zum ersten Mal von bakchischen Mysten in der Unterwelt die Rede war.21 Andererseits sind es nicht, trotz des Gewichts der eleusinischen Mysterien in diesem Buch, die Jenseitsvorstellungen, denen hier das Interesse gilt. Im Vordergrund steht vielmehr die menschliche Aggression als biologisch-kulturelles Phänomen, genauer: das Töten, um zu überleben.22 Aber auch die von Freud inspirierte Frage nach den Zusammenhängen von Aggression und Sexualität richtet Burkert hier zum ersten Mal an den antiken griechischen Befund. Folgerichtigerweise kann der Rekurs auf die Dionysos-Sphäre in Homo Necans in vielfacher Hinsicht zu einem experimentum crucis werden. Bereits in Burkerts allgemeiner Bestimmung der Funktion des Ritus als “‘Dramatisierung’ der Lebensordnung”23 schwingt die Assoziation zum Theatergott mit. Der Ritus erhält dementsprechend theoretisch wie historisch den Vorrang vor dem Mythos (was in diesem Buch von einer Unterkapitel-Überschrift unterstrichen wird),24 und die Mythen werden religionssoziologisch aufgefasst als Begründung und Legitimation der Riten, “durch die das soziale Zusammenspiel sich vollzieht”.25 Damit knüpft Burkert ausdrücklich an die jahrzehntelang von der Fachwissenschaft ver20

Burkert 1972, 236-273. – Auch das vorausgehende Kapitel III räumt dionysischen Themen breiten Raum ein, vor allem bei der Behandlung des Agrionia-Festes (189200); siehe auch unten Anm. 72. 21 Zu diesem Goldblättchen als Zeugnis für Dionysos-Mysterien vgl. Guettel Cole 1980. 22 Vgl. auch Burkert 1977, 104: “töten, um zu essen”. 23 Burkert 1972, 43. 24 Burkert 1972, 39. Zur Debatte über das Verhältnis von Ritus und Mythos siehe Schlesier 1994, 307-328. 25 Burkert 1972, 43.

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femte Cambridger Ritualistenschule um Jane Harrison26 an. So können besonders die Riten und Mythen um Dionysos – wie bei diesen Vorläufern, ohne jedoch in den für sie kennzeichnenden religions-historischen Reduktionismus zu verfallen – eine exemplarische Qualität gewinnen. Gerade am Tieropfer, dem zentralen Thema von Homo Necans, ließ sich demonstrieren, dass Dionysos nicht essentiell ein Ausnahmegott ist,27 sondern ebenso wie die anderen griechischen Götter die soziale Kohärenz verbürgt: “Sinnvolles Funktionieren des Rituals ist auch im dionysischen Bereich durch Tieropfer gewährleistet”.28 Diese Formulierung steht im Kapitel über das Agrionia-Fest, wobei gerade an den damit verbundenen Erzählungen, besonders dem Mythos der von Dionysos in Raserei versetzten Proitos-Töchter und des “Reinigungspriesters” Melampus, den Herodot (Hist. 2.49) als “Stifter des Dionysoskultes” präsentiert hatte, das Typische und nicht etwa das Unvergleichliche herausgearbeitet wird. So betont Burkert: “Doch ist das Dionysische hier nicht etwas radikal anderes, sondern nur eine leichte Umakzentuierung der Strukturen, die auch im nicht-dionysischen Ritual gegeben sind”.29 Zumal das Pattern der “Mädchentragödie” sei hier wiederzufinden, und diese, so heißt es weiter, “wird zur Initiation, zur Vorbereitung der Ehe”.30 Auch der im dionysischen Bereich “ambivalent” werdende Wahnsinn verbürgt also die Komplementarität des Dionysos mit anderen Gottheiten (hier der Ehegöttin Hera) und kann daher in den sozialen “Rhythmus von Auflösung und Neubeginn”31 eingemeindet werden, der als rituelle Grundstruktur zu verstehen sei. Ähnliches gilt für die “Sexualisierung der Tötungsriten”, die Burkert menschheitsgeschichtlich auf die von Karl Meuli ins Spiel gebrachte Erfahrung des “Urmenschen als Jäger” zurückführt.32 Vor diesem Hintergrund kann es gelingen, die Prominenz des Phallos gerade im dionysischen Bereich nicht mehr, wie in der früheren Forschung, beschönigend 26 Vor allem an Harrison 1912 (aber auch Harrison 1903). Zu Harrisons DionysosDeutung vgl. McGinty 1978, 71-103 mit 207-222; im weiteren Kontext ihrer Werke: Schlesier 1994, 123-192. 27 Anders später Burkert 1977, 433: “Dionysos ist der Gott der Ausnahme”. 28 Burkert 1972, 196. 29 Burkert 1972, 191. 30 Burkert 1972, 207, vgl. 193. 31 Burkert 1972, 191. 32 Burkert 1972, 70-85 und 20. Zu Meuli vgl. Graf 1992.

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als symbolisches Indiz für Fruchtbarkeitspragmatik zu deuten.33 Vielmehr, so Burkert, geht es bei den Phallophorien der dionysischen Prozessionen sowohl um animalisches Imponiergehabe als auch um die Kastration und nicht so sehr um “Vereinigung mit dem Weiblichen”: “Die Phallophorie setzt das Kastrationsopfer voraus, sie hat den Charakter der Wiederherstellung und Wiedergutmachung zugleich mit dem Umschlag des Ernstes ins Lustige, die period of licence”.34 Nicht allein die dionysischen Akzentuierungen von rituellem Wahnsinn und Phalluskult werden in Homo Necans in eine allgemeine Opferstruktur griechischer Riten und Mythen eingebettet, sondern dies wird auch, was noch schwieriger erscheint, für ein exquisites Spezifikum des Dionysos, die Tötung und Zerreißung oder Zerstückelung des Gottes, versucht. Dies geschieht hier bemerkenswerterweise ohne Hinweis auf die Orphik, sondern wird an der mit Delphi verbundenen Tradition festgemacht und mit Initiationsopfern assoziiert: So kann Nietzsches Polarität des Apollinischen und des Dionysischen wiederum als Komplementarität akzentuiert und durch die historisch belegte Kultgemeinschaft der beiden Götter in Delphi illustriert werden.35 Das dionysische Skandalon par excellence jedoch, die gerade mit Delphi assoziierte Tötung und Wiedererweckung des Gottes, welche Generationen von Forschern als Differenzkriterium des Dionysos im Kontext des griechischen Polytheismus bewertet hatten, wird zum zentralen Indiz für eine Fundierung in prähistorischer Kultur, da das “Zerstückeln, Sammeln, Aufbewahren im heiligen Behältnis” sich als “Abschlußritus” im uralten “Jäger-Opfer-Ritual” interpretieren ließe.36 Fünf Jahre danach erscheint 1977 das Handbuch Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, das endgültig mit der bis dato von Nilsson dominierten religionshistorischen Tradition bricht und Dionysos als einen der ältesten griechischen Götter nobilitiert. Der Gott ist dort nicht allein omnipräsent, wie bereits in Homo Necans, sondern die einzige Gottheit, der zwei eigene Kapitel gewidmet sind, im Teil III (“Die gestalteten Götter”, 251-260) und im Teil V (“Polis und Polytheismus”, 339343). Zudem nimmt das älteste ionische Dionysosfest, die Anthesterien, 33

Vgl. Burkert 1972, 82-85. Burkert 1972, 82-83. 35 Vgl. Burkert 1972, 141 sowie Burkert 1977, 342-343. 36 Burkert 1972, 142. 34

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auf die auch sonst häufig verwiesen wird, bei der exemplarischen Behandlung des Festkalenders anhand dreier Beispiele die betonte Mittelstellung37 zwischen Apollons Karneia und Demeters Thesmophorienfest ein. In striktem Gegensatz zur früheren Forschung wird Dionysos hier konsequent als ein uralter Gott präsentiert, dessen Spuren nicht allein sprachlich und archäologisch bis in die minoisch-mykenische Zeit des 2. Jahrtausends zurückreichen,38 sondern möglicherweise bis in neolithische Rituale, wie mit Hinweis auf Pfahlmasken des 6. Jahrtausends vermutet wird.39 Nun erhalten auch die Goldblättchen wieder neues Gewicht, nachdem 1974, drei Jahre vor dem Erscheinen der Griechischen Religion, das 1969 in Süditalien gefundene Goldblättchen von Hipponion publiziert worden war: So kann in einem eigenen Kapitel, “Bacchika und Orphika” (432447), auf diese von Herodot ins Spiel gebrachte Verbindung zurückgekommen werden, und es lässt sich jetzt endlich auch außerhalb mythischer, historiografischer und philosophischer Kontexte von “bacchischen Mysterien” und “bacchischer Jenseitshoffnung” sprechen, was durch die Überschriften zweier Unterabschnitte betont wird. Von diesem Zeitpunkt an stellt sich Burkert wiederholt der mit jedem weiteren Neufund von Goldblättchen komplexer werdenden Aufgabe, die traditionellen Überlieferungs-Kontexte auf die Goldblättchen zu beziehen und damit erneut nach Möglichkeiten zu suchen, das Problem der Gemeinsamkeiten und Differenzen des Bakchischen und des Orphischen zu lösen.40 Die nunmehr unleugbar historisch seit dem 5., wenn nicht sogar seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert dokumentierten bakchischen Mysterien sind es jedoch, die laut Burkert eine umfassende Erklärbarkeit des Dionysos jetzt mehr in Frage stellen als je zuvor. Das zentrale Dionysos-Kapitel der Griechischen Religion endet daher mit dem folgenden Satz: “Während der literarische Mythos wie die Ikonografie des Gottes gegen Ende des 5. Jhs. ihre im wesentlichen abschließende, klassische Form gefunden haben, bleibt unter dieser Oberfläche der Gott und sein Wirken geheimnisvoll und unfaßbar”.41 Die dionysischen Partikularitäten, die für Burkert aber weiterhin als Elemente einer religiösen Ganzheit herauszuarbeiten sind, kon37 Burkert 1977, 358-364: in Anknüpfung an die ausführlichere Darstellung in Burkert 1972, 236-273. 38 Verweis auf die Kultanlage in Ayia Irini auf der Insel Keos bei Burkert 1977, 65. 39 Burkert 1977, 38. 40 Vgl. dazu jetzt den Beitrag von A. Henrichs in diesem Band. 41 Burkert 1977, 259-260.

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zentrieren sich in der Darstellung dieses Handbuches – neben den Mysterien und der Maske – auf den Wein und die Ekstase. Gerade als Weingott, so Burkert, gehört Dionysos zum aus minoisch-mykenischer Zeit weiterwirkenden Substrat der griechischen Religion42 und wird anschlussfähig für eine in den alten Orient zurückreichende Gleichsetzung von Wein und Blut.43 Und gerade als der rasende, wahnsinnige Gott Homers44 kann Dionysos das Göttliche überhaupt, “als das Außerordentliche, ganz Andere”45 repräsentieren. In der Griechischen Religion spricht Burkert erstmals explizit vom “erotischen Fluidum um Dionysos”.46 Es fällt jedoch auf, dass dies für ihn religiös fast irrelevant oder spätzeitlich zu sein scheint, da er es hier ohne weitere Begründung als etwas eher Profanes akzentuiert (“Wein und Geschlechtsgenuß gehören zusammen”) und auf gesellschaftlich zunehmenden “Individualismus” zurückführt, wobei beides für den Leser (vielleicht noch mehr für die Leserin) relativ unklar bleibt. Andererseits hebt Burkert die von ihm im attischen Anthesterienritual angesiedelte und von einem Weinfest flankierte Hochzeit47 des Dionysos mit der Basilinna, der Gattin des höchsten Athener Kultbeamten, als rituelle Umsetzung des Mythos von Ariadne und Dionysos hervor und macht auf die für den Mythos wie den Ritus kennzeichnende Amplitude zwischen Trauer und Freude aufmerksam.48 Eine Vermittlung mit phallischen Aspekten, die Burkert innerhalb der “hellenistischen Weiterentwicklung der bacchischen Mysterien”49 im römischen Bacchanalia-Skandal und dem Bildschmuck der Villa dei misteri ohne Prüderie diagnostiziert, wird bemerkenswerterweise nicht vorgenommen. Während Burkerts kurz darauf folgendes Buch, Structure and History in Greek Mythology and Ritual von 1979 (Sather Lectures 1977), Diony42

Vgl. Burkert 1977, 86. Vgl. Burkert 1977, 255; Burkert 1972, 248. Zum “ausgegossenen” Dionysos vgl. Obbink 1993. 44 Hom. Il. 6.132; vgl. dazu Henrichs 1994. 45 Burkert 1977, 178; ähnlich Gernet 1953 und Vernant 1985 (vgl. dazu unten Anm. 87). 46 Burkert 1977, 259. 47 Skeptisch gegenüber der Zuordnung dieser Hochzeit zu den Anthesterien ist Hamilton 1992; vgl. zu diesem Fest und den damit verbundenen Forschungsproblemen Parker 2005, 290-326. 48 Vgl. Burkert 1977, 255. 49 Burkert 1977, 435. 43

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sos nur wenig Aufmerksamkeit widmet,50 tritt der Gott in dem nächsten Buch Ancient Mystery Cults von 1987, das auf Vorlesungen an der Harvard University im Jahre 1982 zurückgeht, wieder ganz ins Zentrum. Auch hier, ja vielleicht vor allem hier werden der Gott und seine Mysterien jedoch nirgends isoliert behandelt, sondern programmatisch in “eine vergleichende Phänomenologie der antiken Mysterien”51 eingeordnet. Die deutsche Ausgabe von 1990 konnte als zusätzliche Quelle vor allem auch den nächsten sensationellen Fund in einem Frauengrab, die bakchischen Goldblättchen aus dem nordgriechischen Pelinna, miteinbeziehen, die 1987 veröffentlicht worden waren.52 Erst jetzt wurde es möglich, die Qualität des Dionysos als Mysteriengott gleichberechtigt neben die des Weingotts und des Ekstasegotts zu stellen,53 ja zu erkennen, dass die Synthesis aller drei Qualitäten den Eingeweihten nicht allein ein besseres Los im Jenseits, sondern auch, anders als in den übrigen antiken Mysterienkulten, eine Neugeburt im Tod, wenn nicht gar eine Gottwerdung, versprach. Dies zwang dazu, zwei Probleme erneut aufzunehmen, die Burkert in den vorausgegangenen Büchern zu neutralisieren versucht hatte: erstens die Frage nach der spezifisch dionysischen Differenz, und zweitens die Frage nach dem erreichbaren Grad einer Einheitlichkeit zwischen der Gesamtheit der antiken Zeugnisse. Welche Ergebnisse dabei erzielt wurden und in welchem Verhältnis diese zu den früheren stehen, wird nun noch mit Hilfe weniger Beispiele zu untersuchen sein. An den drei jüngsten Büchern Burkerts fällt zunächst auf, dass Dionysos oder Dionysisches nicht mehr im Mittelpunkt steht: Das erste, The Orientalizing Revolution von 1992, die englische Fassung einer 1984 publizierten Heidelberger Akademie-Abhandlung, streift diese Thematik nur am Rande, zum einen im Zusammenhang mit den “craftsmen of the sacred” (zu denen auch Frauen gehörten) und deren Weitergabe von dionysischem Mysterienwissen in Familientradition bis in Koloniestädte,54 zum anderen in zusammenfassenden Bemerkungen zum für die Orphik charakteristischen “Doppelgesicht von kathartischer Praxis und spekula-

50 Siehe Burkert 1979, bes. 43-44 und 135-136 (zu Zweigen und Bäumen in dionysischen Riten). 51 Burkert 1990, 11 (engl. 4). 52 Tsantsanoglou/Parássoglou 1987. 53 Vgl. Burkert 1990, 12. 54 Vgl. Burkert 1984, 46 (engl. 44).

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tiver Mythologie”.55 Etwaige Partikularitäten des griechischen Gottes Dionysos verblassen in diesem Zusammenhang ganz und gar, zumal angesichts des kulturübergreifenden Typs des charismatischen Heilers und nicht zuletzt: vor dem Hintergrund einer bis in den alten Orient zurückreichenden Lehre von schuldhafter Menschheitsentstehung, da in mesopotamischer Mythologie Parallelen zur “dionysisch-orphischen Anthropogonie” ausgemacht werden können. Doch Burkert unterstreicht: Der “orphische Dionysosmythos” ließe sich nicht einfach als “Übersetzung aus dem Orientalischen” lesen.56 Fassbar seien allenfalls Traditionszusammenhänge zwischen zauberisch-seherischen Technikern unterschiedlicher alter Kulturen und eine marginale Rolle der Orphik, die eben keinesfalls als “repräsentativ” für die “Einzigartigkeit der griechischen Klassik” betrachtet werden könne. Burkerts nächstes Buch, Creation of the Sacred von 1996 (die Gifford Lectures von 1989), nimmt die Überlegungen zu den charismatischen Vermittlerfiguren wieder auf. Der Heilungszusammenhang, in dem diese situiert sind, wird jetzt jedoch über die Prähistorie hinaus an die mit allem Pathos vorgetragene Vorstellung vom leidvollen “Drama des Lebens” gebunden, das einer Realität entspräche, die “viel älter ist als das Menschengeschlecht”.57 Dementsprechend versteht Burkert nun den Text der bakchischen Goldblättchen von Pelinna, der vom ‘lösenden Bakchios’ spricht, als eine von Reinigungspriestern vermittelte Heilungslehre der Mysterien, bei der Dionysos die Erlösung von Übeln und Leiden bewirkt. Eine vorläufig letzte Stellungnahme zu den bakchischen Mysterien und der Orphik in ihrem Bezug auf den Orient, aber auch zum Alter und zur Charakteristik des griechischen Gottes Dionysos selbst, hat Burkert dann in vier 1996 in Venedig gehaltenen Vorlesungen vorgelegt, die 1999 unter dem Titel Da Omero ai Magi und dann in erweiterter Form 2003 und 2004 auf deutsch bzw. englisch veröffentlicht wurden. Nunmehr erst, nach der Publikation einer Linear-B-Tafel aus dem kretischen Chania im Jahre 1992, ist “endgültig gesichert”, dass “Dionysos kein neuer Gott im archaischen Griechenland war, sondern einer der ganz alten griechischen

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Burkert 1984, 116 (engl. 125). Burkert 1984, 117 (engl. 127; etwas anders akzentuiert: “the Orphic myth of Dionysus is not a translation from any eastern text.”); dort auch zum Folgenden. 57 In Burkert 1996, 120 ist dies eher unpathetisch formuliert (die Zitate im Text aus: dt. 145). 56

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Götter, und daß er bereits in der Bronzezeit mit Zeus verbunden war”.58 Allerdings, so heißt es weiter in dem “Orpheus und Ägypten” betitelten 4. Kapitel des Buches, ließe sich der Mysterienbezug des Dionysos, und mit ihm seine dann von Herodot (Hist. 2.42) vorgenommene Gleichsetzung mit dem ägyptischen Gott Osiris, erst auf das 6. Jahrhundert v. Chr. datieren. Vor allem aber: das “Problem”, ob die bakchischen Mysterien tatsächlich als orphisch zu bezeichnen sind, so bemerkt Burkert, “ist geblieben”.59 Allerdings bestätigt die dann von ihm vorgenommene Integration der alten und der mittlerweile bekannt gewordenen Zeugnisse erneut die Autorität des Herodot, und das Resümee kann daher lauten: “Wir ... verfügen jetzt über neues, zusätzliches Wissen – und es verträgt sich mit den herodoteischen Vorgaben doch erstaunlich gut”.60 Wie schon in Burkerts früheren Behandlungen des Dionysos sind die geschichtlichen Angaben des Herodot damit aber auf ganz andere Weise rehabilitiert, als es bei früheren Dionysos-Forschern geschah. Diese – wie etwa Rohde, Harrison, Nilsson (aber auch Jeanmaire und Dodds) – hatten Herodots These von der späten Ankunft des Dionysos in Griechenland (2.52) mit den Widerstandsmythen in Verbindung gebracht, solche Mythen als “historisches Zeugnis vom Widerstand gegen den eindringenden Dionysoskult”61 gewertet und die von Herodot ins Spiel gebrachte ägyptische Qualität des Dionysos62 als Kennzeichen seiner Fremdheit oder seiner Differenz zu spezifisch Griechischem gelesen. Burkert hingegen versucht mehr und mehr, Herodots interpretatio aegyptica mit dem hohen Alter des griechischen Dionysos als einer bronzezeitlichen MittelmeerGottheit in Einklang zu bringen. 58 Burkert 2003, 80 (engl. 73); intuitiv so schon Kerényi 1976 (Burkert verweist darauf nicht). 59 Burkert 2003, 89 (engl. 82); als “Problem” benannt auch in Burkert 1990, 13 (engl. 5). Mit besonderem Rekurs auf das Goldblättchen von Pherai, einen Neufund von 1997, sowie auf die seit 1978 bekannten Knochentäfelchen aus Olbia am Schwarzen Meer spricht Burkert 2003, 91 dann davon, dass “unumstößliche Zeugnisse für Mysterien des bakchischen Dionysos-Kultes nach Art des Orpheus” vorliegen (der Paragraph, aus dem dieses Zitat stammt, fehlt allerdings in der späteren englischen Fassung). – Burkert 2008, 105 bringt die Mysterien des Dionysos nicht mit der Orphik in Zusammenhang. Für die egalisierende Bezeichnung der bakchischen Mysterien-Zeugnisse als ‘orphisch’ optieren hingegen Graf/Iles Johnston 2007; im Einklang bes. mit Riedweg 1998 und mit Bernabé/Jiménez San Cristóbal 2001. 60 Burkert 2003, 106 (auch diese Formulierung fehlt in der späteren engl. Fassung). 61 Burkert 1972, 198 mit Anm. 35; vgl. 141 Anm. 46. 62 Dazu jetzt Gödde 2007.

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Bemerkenswerterweise beruft sich Burkert bei diesem Unternehmen immer wieder auf einen Bündnispartner, von dem er sich im Einleitungskapitel seiner Geschichte der griechischen Religion ausdrücklich abgegrenzt hatte: Walter F. Otto. Sein eigenes Buch, so heißt es hier, wolle “keine prophetische Verlebendigung” sein, “wie sie Walter F. Otto wagte”.63 Wenige Seiten zuvor allerdings werden Ottos Götter Griechenlands von 192964 vorbehaltlos als “mitreißender Versuch” gelobt, “die Götter Homers endlich als Götter ernst zu nehmen”.65 Es ist nicht zu übersehen, dass Burkert in diesem Buch, aber auch vorher und nachher, sich unter allen religionshistorischen Vorgängern am ehesten an Otto anschließt und dessen prägnante Charakteristiken von Göttern dankbar übernimmt (Athena, die “Göttin der Nähe”;66 Apollon, der “Gott der Ferne”67). Dies gilt auch und besonders für die Rekurse auf Ottos Dionysos-Buch von 1933,68 aus dem Burkert mit Vorliebe pathetisch-verallgemeinernde Aussagen rückhaltlos zustimmend zitiert, etwa schon im Agrionia-Kapitel von Homo Necans Ottos Kommentar zu einem dionysischen Opfer: “Der Sinn des Mythos ist, daß der Gott das Furchtbare, das er tut, selbst erleidet”.69 Oder im Tieropfer-Kapitel der Griechischen Religion Ottos tragische Deutung des blutigen Opfers als das “gewaltige Drama des verblutenden Tieres”.70 Im zentralen Dionysos-Kapitel von Burkerts Griechischer Religion ist es dann Ottos Bestimmung der dionysischen Essenz, die gegen historistische Religionsforscher wie vor allem Rohde stark gemacht wird: “daß Dionysos wesensmäßig der ‘Kommende’ ist, daß dies also nicht Spiegel zufälliger Faktizität ist, sah Walter F. Otto”,71 heißt es hier anerkennend. Es würde zu weit führen, im Detail nachzuzeichnen, was gerade Burkerts Dionysos-Auffassung Otto verdankt. Hier sei nur auf die von Burkert 63 Burkert 1977, 30 (engl. 7). – Auf der Bielefelder Tagung erwähnte Walter Burkert die “Verehrung” von Walter F. Otto während seiner Erlanger Studentenzeit, die auch auf seinen akademischen Lehrer Otto Seel zurückgegangen sei. Zu Seel vgl. Burkert 1976. 64 Otto 1929. 65 Burkert 1977, 26 (engl. 4). 66 Burkert 1977, 223 = Otto 1929, 54, vgl. 47-48. 67 Burkert 1977, 232 = Otto 1929, 54, 77. 68 Otto 1933. Vgl. dazu McGinty 1978, 141-180 mit 233-243. 69 Otto 1933, 98, zitiert in Burkert 1972, 198 Anm. 36. 70 Otto 1933, 23, zitiert in Burkert 1977, 104. 71 Burkert 1977, 252-253. (mit Verweis auf das Epiphanie-Kapitel in Otto 1933, 7080).

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wie schon von Otto besonders herausgestellte Bedeutung des AgrionienRituals72 verwiesen und resümierend bemerkt, dass grundlegende Züge des Ottoschen Dionysos, etwa seine Charakteristik als epiphanischer Gott par excellence, die Betonung miteinander verschränkter Polaritäten, die zentrale Rolle von Wein, Wahnsinn und Mysterien, in transformierter, aber nur teilweise abgemilderter Form bei Burkert wiederbegegnen, und zwar nicht allein in wörtlichen Zitaten, sondern auch in Paraphrasen und typischen Akzentuierungen. Ein Element des Ottoschen Dionysos verdient jedoch zum Schluss besonders hervorgehoben zu werden, da es von Burkert in charakteristischer Weise umakzentuiert wird: der dionysische Phallos. Anders als Burkert bringt Otto ihn zwar affirmativ mit “animalischer Kraft und Lust der Zeugung”73 in Verbindung und übersieht dabei, dass die Isolation des aufgerichteten und herumgetragenen Phallos auf Kastration verweist. Doch auch Otto diagnostiziert wie Burkert das dabei demonstrierte und zugleich der Lächerlichkeit preisgegebene Imponiergehabe. Wie bei Otto sind nun aber auch bei Burkert die Frauen in diesem Zusammenhang fast vollständig absent. Adressaten des phallischen Imponierens scheinen allein die Männer zu sein. Weitere Erfahrungshintergründe, wie etwa die phallische Konkurrenz der Männer um die Frauen oder der Phallus als Lustobjekt (auch) von Frauen, kommen nicht einmal als Möglichkeit in den forscherlichen Blick. Dass Herodot (Hist. 2.48) bei seiner Darstellung der Phallophorien gerade die aktive Rolle der Frauen als DionysosVerehrerinnen betont, ist weder aus Ottos noch aus Burkerts Darstellungen dieses Themas zu entnehmen. Burkert geht zwar nirgends so weit wie Otto, für den, wie er in seinem Dionysos-Buch schreibt, “das Echt-Weibliche sich in der geringeren Bedeutung der Liebeslust verrät”.74 Doch auch bei Burkert werden die dionysischen Frauen fast ausschließlich als Mütter oder als Ammen gewürdigt, 72 Dazu Otto 1933, 108-110 und im Anschluss daran Burkert bes. 1972, 189-200. Burkert beruft sich hier zwar in Anm. 36 auf Otto, jedoch nicht auf dessen Einschätzung der Agrionia. Dass aber Ottos Auffassung der Agrionia – bis in die Diktion hinein – für Burkert prägend blieb, lässt Cancik 1986, 113-115 in seiner scharfen Polemik gegen Ottos Agrionia-Deutung und die “Schrecksprache” (Cancik 1986, 117) seines DionysosBuches unerwähnt. 73 Otto 1933, 149. 74 Otto 1933, 161; Kritik daran wurde schon früh von Karl Kerényi geübt, zuerst in seiner Rezension des Buches: Kerényi 1935, 29; sowie schließlich in Kerényi 1976, 118119. Vgl. zum Verhältnis Otto-Kerényi jetzt Schlesier/Sanchiño Martínez 2006 passim.

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und die rotfigurigen Vasenbilder, auf denen Mänaden lüsterne Satyrn abwehren, werden zum Beleg dafür angeführt, wie wenig handfest man sich dionysische Erotik vorzustellen habe.75 Die von Burkert zu Recht hervorgehobene Tatsache, dass für die dionysischen Mysterien die Beteiligung beider Geschlechter an den Einweihungen belegt ist, erscheint durch die deskriptive Begriffswahl entschärft, indem diese Tatsache zur “Geschlechtsindifferenz”76 neutralisiert wird, mit der ausdrücklichen Schlussfolgerung, dass dabei angeblich “die Geschlechterrolle unwichtig wird”.77 Wie Otto führt Burkert die zunehmend verweiblichte Darstellung des Dionysos auf die exzeptionelle Prominenz der Frauen im Umkreis dieses männlichen Gottes zurück, ohne die Möglichkeit zu bedenken, dass damit seine erotische Ausstrahlung auf die Frauen keineswegs notwendigerweise verringert wird. Wenn die Frauen im elischen Kultlied den Gott herbeirufen, unter ihnen als Stier zu erscheinen, so geschieht dies, so Burkert in der Griechischen Religion, im Zeichen der Ehegöttin Hera;78 in Homo Necans sieht es sogar so aus, als meinten die Frauen dabei den Opferstier und hätten nichts als das Essen des Opfermahls im Sinn.79 Die Enthüllung eines Phallos durch eine Frau auf dem Bildfries der pompejanischen Mysterienvilla wird zwar von Burkert als Beispiel sexueller Rituale in dionysischem Kontext gewürdigt, doch kann sich Burkert solche Rituale nur als Weiterwirkung “alter Formen der Pubertätsweihe”80 vorstellen. Es bleibt sein Geheimnis, warum er als Bestätigung dieser Vermutung ausgerechnet die Überlieferung (Diodor 4.3.3) wertet, dass nur verheiratete Frauen und nicht Jungfrauen kultische Mänaden, Bakchai, sein konnten. Sicherlich ist es nicht allein die Dominanz von Ottos Zugang zu Dionysos – und der darin durchscheinenden Nietzscheschen Perspektive –,81 75

Vgl. Burkert 1977, 259: “die Mänaden wissen sich der Zudringlichkeit der Satyrn ... stets zu erwehren”; ähnlich z. B. noch Steinhart/Knauß 2008. Vgl. aber, vor allem zur Ikonografie: Isler-Kerényi 2007; Schlesier/Schwarzmaier 2008. 76 Vgl. Burkert 1977, 435 (engl. 292: “indifferent to sex”). 77 Burkert 1977, 434 (in der engl. Fassung, 291, etwas weniger apodiktisch: “The role of the sexes becomes less important”.). 78 Vgl. Burkert 1977, 210-211 und 341. 79 Vgl. Burkert 1972, 90 (engl. 77): “Die Frauen von Elis rufen Dionysos, als Stier zu erscheinen: gegenwärtig ist ohne Zweifel der reale Stier im Opferschmaus.” – Zur Deutungsgeschichte des elischen Kultlieds vgl. Schlesier 2002. 80 Burkert 1977, 436. 81 Aus dem Horizont der Geburt der Tragödie ist der Gedanke an weibliche Erotik vollständig verbannt, ja dies gilt für dionysische Erotik der Griechen überhaupt. Satyrn

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die Burkert bisher, so weit ich sehe, an der Wahrnehmung weiblich konnotierter Heterosexualität in dionysischen Zusammenhängen gehindert hat. Wichtiger noch ist zweifellos Platon, der auch in Burkerts Deutung der bakchischen Mysterien und ihrer Beziehung zur Orphik seit jeher ein starkes (nach meinem Dafürhalten viel zu starkes) religionshistorisches Gewicht erhält. Und könnte es vielleicht sein, dass nicht allein Platon ein großer Mythenerfinder und -transformator war, sondern auch die Dichter? In Homo Necans hatte Burkert vehement gegen die von den Vorsokratikern “bis zu modernen Klassizisten gehegte Meinung” Stellung bezogen, “daß die Mythen die Erfindung schöpferischer Dichter seien”.82 Burkert hält daran fest, dass der Mythos eine “traditionelle Erzählung” ist, und konzediert allenfalls in einer Fußnote, mit kaum verhohlener Distanz gegenüber philologischer Hermeneutik, dass es durchaus “legitim” ist, “den je besonderen, individuellen Ausgestaltungen der Mythen nachzuspüren”. Doch von solchen detaillierten Textanalysen hängen vielleicht auch unsere Chancen, zu einem genaueren Verständnis der kulturellen Realität der Antike zu gelangen, stärker ab, als viele Religionshistoriker es anerkennen wollen. Und das ist Burkert mehr als vielen anderen bewusst. Ein letztes Beispiel: an einer Stelle der Bakchen des Euripides (V. 694), im ersten Botenbericht, scheinen nicht allein, wie für Religionshistoriker zu erwarten gewesen wäre, die verheirateten Frauen zur Gruppe der Bakchen zu gehören, sondern auch unverheiratete Frauen (parthenoi). Aber gerade dies ist wohl als ein weiterer Hinweis innerhalb der dichterischen Komposition darauf zu verstehen, dass die thebanischen Bakchen bei Euripides, die nur bei Tageslicht und nur unter Zwang rasen und die keine Musikinstrumente verwenden und auch in keinem erotischen Kontakt zu Männern stehen, sich von den freiwilligen Anhängerinnen des Dionysos, und Silene (allerdings ohne ihre sexuellen Bezüge) sind in dieser Schrift omnipräsent, die dionysischen Frauen aber fehlen fast ganz. Die Ausdrücke ‘Mänaden’ und ‘Bakchen’ kommen nur je einmal vor (im Kap. 12 metaphorisch: Sokrates wäre dazu bestimmt gewesen, analog zu Orpheus “von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen zu werden”, Nietzsche 1872, 84; im Kap. 8 wird Euripides’ “im Gebirge herumschwärmenden Bacchen” nachgesagt, ihnen werde “das Bild des Dionysus offenbar”, 56). Die vorausgesetzte Absenz des ausschweifend Sexuellen im Griechisch-Dionysischen wird bereits im Kap. 2 (27-28) in einem Dualismus verankert, der die – apollinisch vergeistigten – “dionysischen Griechen” radikal von den “dionysischen Barbaren” Roms und des Orients trennt: Diese charakterisiere eine “überschwängliche geschlechtliche Zuchtlosigkeit, ... bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche ‘Hexentrank’ erschienen ist”. 82 Burkert 1972, 41 mit Anm. 10 (auch zum Folgenden).

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die der Gott aus Asien mitgebracht hat, in wesentlichen Verhaltensweisen und Erfahrungsdimensionen unterscheiden.83 Burkert aber war es, der meines Wissens als erster die bakchischen “Jungfrauen” an dieser Euripideischen Textstelle als ein Problem erkannt und als eine Abweichung von der bei Diodor dokumentierten bakchischen Kultnorm diagnostiziert hat, in einer Fußnote seiner Antiken Mysterien.84 Und so kann ich mit einer Erfahrung schließen, die wohl jeder BurkertLeser schon unzählige Male machen konnte: Die großzügige Vermittlung des geradezu enzyklopädischen Wissens in seinen Werken, ja sogar in deren Fußnoten, ist immer gepaart mit der Eröffnung einer neuen Perspektive auf das überlieferte Material, einer Perspektive, die die jeweilige Sache – so wie hier die Frage nach der sexuellen Erfahrung dionysischer Frauen – noch komplexer, noch rätselhafter, noch erkenntnisträchtiger macht und zu neuem Nachdenken ermutigt. Zum Beispiel darüber, ob im Zeichen des Dionysos Lysios, des ‘lösenden’ Gottes, den Ritualteilnehmern und -teilnehmerinnen tatsächlich allein Heilung und Loslösung vom Leiden versprochen war, oder ob die überwältigende Seligkeit, die die Mysten im Jenseits erwarteten, nicht gerade die erotische Gliederlösung mit einschloss.85 Herodot und Platon allerdings, das ist zuzugeben, haben davon geschwiegen. Vor dem Hintergrund der gesamten antiken griechischen Tradition und aller bisherigen Neuentdeckungen stellt Dionysos also weiterhin ein Problem dar, das nicht in die Eindeutigkeit einer widerspruchsfreien Synthesis aufzulösen ist.86 Dionysos zeigt sich in der Überlieferung – sei es die epigrafische, die bildliche oder die literarische – immer wieder als “der Gott der Ausnahme”.87 Die Differenz und zugleich Nicht-Differenz des 83

Vgl. dazu Schlesier 1998. Burkert 1990, 89, mit 130 Anm. 99 (engl. 105 mit 168 Anm. 98). – Diese Bakchen-Stelle auch bei Henrichs 1978, 147 Anm. 84; Bremmer 1984, 282-283 Anm. 78. Für beide sind die jungfräulichen Bakchen bei Euripides unproblematisch (u. a. mit Rekurs auf Burkert 1977, 436 und den dortigen Hinweis auf Diodor 4.3.3); Bremmer versteht dies als Beleg für die am Initiationsmodell orientierte These eines “prematrimonial origin of the maenadic ritual”. 85 Dionysos als Mysteriengott im “Gravitationsfeld” des Sexuellen: Burkert 1995, 100. Zur Frage der Erotik im Konfinium der dionysischen Mysterien vgl. Schlesier 2001. 86 Trotz nicht abreißender Versuche in dieser Richtung, vgl. zuletzt Seaford 2006. 87 Burkert 1977, 433 (engl. 291: “the god of the exceptional”). Vgl. auch Gernet 1953, 86, für den Dionysos “l’Autre” symbolisiert; im Anschluss daran: Vernant z. B. 1985. Kritisch dazu: Henrichs 1993, 32-36; Bollack 2005, 59. Zur Forschungsgeschichte der Deutung des Dionysos als “ambivalenter” Gott vgl. auch Bierl 1991, 13-20. 84

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Dionysos ist und bleibt eine Provokation, der sich Walter Burkert mehr als jeder andere Religionshistoriker vor ihm ausgesetzt hat. Und davon können alle seine Leser nur profitieren.88

88 Außer den Veranstaltern der Tagung, Anton Bierl und Wolfgang Braungart – sowie nicht zuletzt Walter Burkert selbst – möchte ich besonders meinen Mitarbeitern im Forschungsprojekt “Der differente Gott. Konstruktionen des Dionysos in der Moderne” am Berliner DFG-Sonderforschungsbereich 644 “Transformationen der Antike” danken, mit denen ich viele moderne religionshistorische und literarische Aspekte des Dionysos mit großem intellektuellen Gewinn seit 2005 diskutieren kann.

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EVELINE KRUMMEN ‘Vom geheimen Reiz des Verborgenen’. Antike Mysterien, Mythen und Kulte zwischen anthropologischer Deutung und moderner Ritual- und Kommunikationstheorie

Zu Walter Burkerts bekanntesten Monografien gehören die Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (1977), die bis heute ein Standardwerk der griechischen Religionsgeschichte geblieben ist, die Orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (1984) sowie die Ancient Mystery Cults (1987), die im Grunde ein Spezialgebiet der griechischen und römischen Kulte behandeln. Im Bereich der griechischen Mythologie ist das Buch Structure and History in Greek Mythology and Ritual (1979) zu nennen, das für die Analyse und das Verständnis des griechischen Mythos ebenfalls grundlegend ist. Die beiden zuletzt genannten Werke sollen zusammen mit den Aufsätzen zu Kulten und Festen (vgl. Burkert 2010), vorwiegend der griechischen Religion, im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Ziel ist allerdings nicht, den zahlreichen Rezensionen dieser Werke eine weitere hinzuzufügen, vielmehr soll versucht werden, einerseits die Bedeutung und Leistung der Untersuchungen Walter Burkerts zur Zeit ihrer Publikation aufzuzeigen und andererseits die seither geführte Diskussion im Bereich der Ritual-, Mythen- und Kommunikationstheorien, dem die genannten Arbeiten zuzurechnen sind, wenigstens soweit zu skizzieren, als sie uns zeigen kann, an welchen Punkten weiterführende Untersuchungen einsetzen und sich neue Perspektiven eröffnen können.

I. Antike Mysterien I.1 Einleitung Auf dem Gebiet der antiken Mysterien hat Walter Burkert nicht nur das grundlegende Werk Ancient Mystery Cults (1987), sondern auch zahlreiche Aufsätze verfasst, so dass über die Analyse der einzelnen Kulte

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hinaus eine umfassende Darstellung der wichtigsten Mysterien und ihrer Erscheinungsformen von ihren Anfängen in der archaischen Zeit Griechenlands bis in die Spätantike vorliegt.1 Vor Walter Burkerts Publikationen gab es nur wenige Untersuchungen, die sich diesem Bereich widmeten. Sie waren vorwiegend um die Jahrhundertwende entstanden und wurden später mehrfach wiederaufgelegt. Grund für diese unbefriedigende Situation war hauptsächlich die große Diversität des Materials, die durch die fast tausendjährige Tradition und die weite Verbreitung der Mysterienkulte in der gesamten griechischen und römischen Welt bedingt war. Allein die Fülle der materiellen und literarischen Zeugnisse zu erfassen, überstieg die Möglichkeiten eines einzelnen Forschers. Nicht zufällig beschränkten sich die Darstellungen renommierter Forscher, wie François Cumonts Les mystères de Mithra (1900, dt. 19233) und Les religions orientales dans le paganisme romain (1906, dt. 19313) oder Richard Reitzensteins Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen (1910, 19273) auf einzelne Gebiete. Hinderlich für eine adäquate Erforschung der Mysterienkulte war außerdem, dass man einerseits an die religionsgeschichtliche Tradition von James Frazer, The Golden Bough (1912-1915), anknüpfte, weshalb man von einer engen Verbindung von Mysterien- und Vegetationskulten ausging, und andererseits die Mysterien für eine späte Erscheinung hielt, deren Entstehung im ‘orientalischen’ Gebiet zu suchen sei. Zwar wurde in den folgenden Jahren die materielle Hinterlassenschaft, besonders die archäologischen Zeugnisse, intensiv bearbeitet (J. M. Vermaseren, R. Beck, U. Bianchi, G. Sfameni Gasparro), doch eine Gesamtübersicht, die auch die Mysterien in Eleusis oder des Dionysos und ihre Bedeutung als ‘Modell’ für die Mysterienkulte und -rezeption bis in die Spätantike berücksichtigt hätte, fehlte weiterhin.2 Hier setzte Walter Burkerts Monografie Ancient Mystery Cults (1987) an und hob zusammen mit weiteren Arbeiten, vor allem zur Orphik

1

Die Aufsätze sind jetzt bequem zugänglich in Burkert 2006b. Ein knapper Überblick über die Forschungsgeschichte findet sich bei Burkert 1987, 9-12. Die Sammlung der Zeugnisse zum Mithraskult erfolgte besonders durch M. J. Vermaseren; vgl. die Reihe Études préliminaires aux religions orientales dans l’empire romain, außerdem Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Band II 17, 3/4 (1984). Vgl. ferner Beck 1988, 2002-2115 (zu Mithras); Bianchi/Vermaseren 1982, 2116-2134 (orientalische Kulte in der römischen Kaiserzeit); Sfameni Gasparro 1985 (zum Kult der Kybele und des Atthis); Sfameni Gasparo 1987 (zum Kult der Demeter). 2

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(1977b; 1982), die Diskussion auf eine neue Ebene.3 Neu und für die künftige Interpretation richtungsweisend war, dass ein historisch-philologischer und nicht ein philosophischer, theologischer oder gar spiritualistischer Zugang gewählt wurde, und dass die Mysterien als fester Bestandteil der griechischen und römischen Religion und nicht als etwas davon Isoliertes behandelt wurden; außerdem wurden zwar zahlreiche archäologische, epigrafische und literarische Zeugnisse berücksichtigt, darunter der neue Materialzuwachs in der Orphik, doch erfolgte die Diskussion nicht allein historisch-dokumentierend, sondern mit konstantem Blick auf den literarischen und philosophischen Kontext, wie zum Beispiel die Arbeiten zum Dervenipapyrus zeigen, zu dessen Verständnis Walter Burkert entscheidend beigetragen hat. Insbesondere wird die enge Anbindung des Papyrus an die vorsokratische Philosophie nachgewiesen, die ihrerseits von mythischem, rituellem und religiösem Denken geprägt ist.4 Die Untersuchung erfasst die Komplexität und Eigenart der jeweiligen Mysterienkulte sehr genau, stellt jedoch die Gemeinsamkeiten ins Zentrum. Ziel der Arbeit sei, eine “vergleichende Phänomenologie der antiken Mysterien” vorzulegen (11). Diese Zielsetzung zeigt sich in den Überschriften der vier Kapitel: (I) “Persönliche Bedürfnisse – in dieser und in jener Welt”, (II) “Organisation und Identität”, (III) “Theologia der Mysterien” und (IV) “Verwandelnde Erfahrung”, womit die persönliche religiöse Erfahrung des Initianden gemeint ist. An den wichtigsten Mysteriengruppen, den Mysterien von Eleusis, den dionysischen oder bakchischen Mysterien, den Mysterien der Meter, der Isis und des Mithras werden diese Themen erläutert und wird auf die kontinuierliche Tradition der Mysterienkulte über tausend Jahre hingewiesen, die es erlaubt, “ein Porträt der antiken Mysterien zu gewinnen” (12). Spätere Aufsätze, darunter auch solche zum christlichen Umfeld, ergänzen das Bild.5

3 Burkert 1977b (“Orphism and Bacchic Mysteries”); Burkert 1982 (“Craft versus Sect”); vgl. spätere Arbeiten, z. B. Burkert 1998 (“Die neuen orphischen Texte. Fragmente, Varianten, ‘Sitz im Leben’”). 4 Bereits 1968 erscheint der Aufsatz “Orpheus und die Vorsokratiker. Bemerkungen zum Derveni-Papyrus und zur pythagoreischen Zahlenlehre”; vgl. dazu in jüngerer Zeit “Die altorphische Theogonie nach dem Papyrus von Derveni” (Burkert 2006a). Erst in jüngster Zeit sind zum Dervenipapyrus ausführliche Kommentare erschienen; vgl. Kouremenos/Parassoglou/Tsantsanoglou 2006; Betegh 2004; Jourdan 2003. 5 Z. B. Burkert 1995 (“Der geheime Reiz des Verborgenen. Antike Mysterienkulte”), bes. 9-11; Burkert 2003e (“‘Seele’, Mysterien und Mystik”).

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Seit das Buch erschienen ist, sind zwanzig Jahre vergangen. Eine neue übergreifende Darstellung der antiken Mysterien ist seither nicht erschienen, wenn man die sehr allgemein gehaltenen Behandlungen von Giebel (2003) und Kloft (1999) nicht zählt.6 Fortschritte wurden in der Bearbeitung einzelner Mysterien oder spezifischer Themen erzielt, auch neues Material ist dazugekommen. In diesem Zusammenhang sind besonders die ‘orphischen’ Goldblättchen zu erwähnen, zu denen das wichtige Buch von Graf/Johnston (2007) erschienen ist, das auch eine Edition der Texte und eine Übersetzung ins Englische enthält. Wenn man allerdings, wie Walter Burkert es getan hat, eine Gesamtdarstellung der antiken Mysterien wagen möchte, so könnte ein neuer Zugang zu diesem Stoff am ehesten von zwei Bereichen aus erfolgen, die in den letzten Jahren in der Forschung intensiv diskutiert wurden, allerdings nicht unmittelbar die Mysterien zum Gegenstand hatten. Der erste Bereich betrifft die enge Verbindung der Mysterien mit rituellen Handlungen, entweder in der Mysterienfeier selbst oder typologisch, insofern die Mysterien den Initiationsritualen zugeordnet werden. Der zweite Bereich betrifft die Verbindung der Mysterien mit Texten, die Themen von großer Bedeutung im Umfeld der Mysterienkulte behandeln. Offen ist die Frage, inwiefern Texte im kultischen oder rituellen Vollzug selbst eine Rolle spielten, sei es, dass sie vorgetragen oder gestisch dargestellt wurden. Auf jeden Fall gehörten Texte zum Vorher und Nachher einer (rituellen) Aufführung, wie zahlreiche Nachrichten belegen, insofern mindestens in einigen Fällen der eigentlichen Initiation eine ‘Belehrung’ vorangegangen ist, wie wir es zum Beispiel in Athen von den ‘Kleinen Mysterien’ kennen, die vor den ‘Großen Mysterien’ in Eleusis absolviert werden mussten. Besonders in der Orphik haben Texte eine wichtige Rolle gespielt.7 Die Erfahrung des Religiösen oder die Begegnung mit den Göttern ist sowohl im unmittelbaren Erlebnis des Festes und der Mysterienfeier als auch vermittelt durch Texte, die auf wichtige Inhalte hindeuten, möglich. Die

6 Vgl. Graf 2000. Für einzelne Mysterien Cosmopoulos 2003, darin u. a. Graf 2003b, wo gerade kleinere Mysterienkulte behandelt werden, die bei W. Burkert nur vereinzelt zur Sprache kamen. Zu Eleusis vgl. Clinton 1992; zu Mithras vgl. Betz 2003; zur Orphik vgl. Bernabé/Jiménez San Cristóbal 2008; Graf/Johnston 2007. 7 In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach dem Verhältnis und der Bedeutung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den Mysterienkulten neu zu stellen; dazu I.3. Texte kommen auch in anderen Mysterienkulten, besonders der Isis, vor; vgl. Burkert 1987, 59-61.

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Mysterienfeier führt zu einer neuen Welterfahrung und Weltdeutung. Insofern greifen Ritual und Text ineinander. Für eine übergreifende Darstellung und in Ergänzung zu Walter Burkerts Ansatz könnte es somit aufschlussreich sein, die antiken Mysterien und ihre theoretischen Voraussetzungen im Bereich ‘Ritual und Mysterien’ und ‘Ritual, logoi und Mysterien’ neu zu überdenken. I.2 Ritual und Mysterien Rituelle Handlungen und Mysterien gehören fest zusammen. Den Status als Mystes erwirbt man sich durch eine Initiation, in deren Verlauf der angehende Myste in eine rituelle Handlung eingebunden wird.8 Allerdings gehen die Meinungen darüber, was ein Ritual sei, weit auseinander. In einem Vortrag im Rahmen des Heidelberger Sonderforschungsbereichs “Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive” im Jahre 2002 bestimmt Walter Burkert ‘Ritual’ folgendermaßen: “Ich verstehe unter Ritual eine schematisierte Handlung als Mitteilung, als Information in einem zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Kontext. ‘Schematisiert’ meint, dass die Handlung in ihrer Abfolge beschreibbar und dementsprechend nachahmbar und wiederholbar ist, ein repetitives Muster, erfassbar als ‘Script’; ‘Mitteilung’ bedeutet, dass eine rituelle Handlung wahrgenommen werden soll, sie ist demonstrativ, oft übertrieben deutlich, über das hinaus, was eine Handlung unmittelbar bezweckt oder bewirkt.”9 Gerade im Gefolge der Publikationen des genannten Sonderforschungsbereichs “Ritualdynamik” erweist sich heute dieser Ansatz als zu reduktionistisch. Zwar können Grundstrukturen in vielen Ritualen festgestellt werden, zwar sind in der genannten Definition auch die Eingliederung der rituellen Handlung in einen Kontext und die Ausrichtung auf ‘Kommunikation’ enthalten, doch wird man heute ‘Kommunikation’ und 8

Zu Ritual und Mysterien vgl. Bierl 2007a, 25-28; Seaford 1981; 1996. Burkert 2003b (Zitat auf S. 1). Vgl. die Publikationen des Sonderforschungsbereichs “Ritualdynamik” in: Harth/Schenk 2004; eine gute und knappe Übersicht über Ritualtheorien bei Stausberg 2004; Belliger/Krieger 1998. Dazu auch verschiedene Diskussionsbeiträge des Sonderforschungsbereichs “Ritualdynamik”, die in fortlaufender Nummerierung online erscheinen, u. a. Krüger/Nijhawan/Stavrianopoulou 2005. Im Hinblick auf die Mysterienkulte besonders wichtig ist die Verbindung von ‘Ritual’ oder ‘Ritualistik’ mit Theorien der Kulturwissenschaft; zur Frage der Bedeutung der Erinnerung und kulturellen Symbolisierung vgl. Harth 2005. 9

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‘Kontextualisierung’ weiter fassen und vor allem auch die ‘Spannung’, in der sich das Ritual zu seinem Kontext befinden kann, sowie die Veränderbarkeit der Rituale in der Kulturgeschichte (eben die ‘Ritual-Dynamik’) betonen.10 Die ‘Kontextualisierung’ zum Beispiel kann zum einen innerhalb der Rituale untersucht werden, insofern nach der ‘Bedeutung’ der einzelnen Stufen der rituellen Handlung gefragt wird, zum andern kann nach außen hin die historische Situierung in den Blickpunkt rücken, wobei der ‘performative’ Gehalt und die ‘Funktion’ untersucht werden. Dazu kommt die Frage, inwiefern Rituale kulturelles Wissen tradieren und ‘gedächtnisstiftend’ wirken. Rituale sind – gerade in der regelmäßigen Abfolge von Handlungen – kulturell geschaffen, in soziale Beziehungen eingebunden, ‘kommunikativ’ gerichtet. Diese Fragestellungen wären auch im Zusammenhang mit den Mysterien und ihren rituell geprägten Handlungen darzustellen. I.3 Mysterien – logoi – rituelle Handlung Doch nicht nur ‘Mysterien und Ritual’, sondern auch ‘Mysterien und logoi’, Rede in gesprochener und geschriebener Form, darunter auch Mythen, sind eng miteinander verbunden. Allerdings gibt es keine direkten Texte zu den Mysterien oder eine theologische Literatur wie im Judenoder Christentum.11 Hier liegt wiederum eine wichtige Leistung Walter Burkerts, insofern er die wenigen Quellen in ihrem Aussagewert für die Inhalte und Handlungen der Mysterien sorgfältig geprüft und schließlich drei Arten von logoi in den Mysterien unterschieden hat, nämlich Mythen, naturallegorische Deutungen und die metaphysisch-platonische Allegorie (61).12 Diese drei Arten seien gleichzeitig als eine historische Abfolge zu verstehen, da sich die Mysterien immer mehr vom konkreten Kult oder Ritual gelöst hätten. Den großen Rahmen für die Mysterien geben oft 10

Z. B. Michaels 2003; Wulf/Zirfa 2004. Zu den Hieroi Logoi (‘Heilige Worte’) und Hierai Bibloi (‘Heilige Schriften/Bücher’) vgl. Henrichs 2003. Zu ‘Mysterien und Roman’ vgl. besonders Merkelbach 1988, der den antiken Roman geradezu als ‘Mysterientext’ der verschiedenen Mysterienkulte in der Spätantike (Isis, Mithras, Dionysos, Helios) liest. Der ‘tiefere’ Sinn sei dabei dem Eingeweihten verständlich, für andere Leser dienten die Romane zur Unterhaltung; dazu Bierl 2007a, 26-28. Wichtig zur Frage, was überhaupt als hieroi logoi bezeichnet werden soll, Graf/Johnston 2007, 178-184, wo außer Geheimhaltung auch der Bezug zur rituellen Praxis als charakteristisch für hieroi logoi bezeichnet wird. 12 Vgl. Burkert 1987, 56-74. 11

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zugeordnete Mythen, die um gemeinsame Themenkreise wie leidende Gottheit, Verschwinden, Tod, Trauer und Wiederkehr geordnet waren. Der Mythos habe “von den Anfängen bis in die Spätantike hinein” “ein Beziehungsnetz geliefert, mit Hilfe dessen sich zentrale und auch weniger zentrale Aspekte der Mysterien verbalisieren ließen, in Parallelisierung wie im Kontrast, doch ohne Verpflichtung zu einer widerspruchsfreien Systematik” (66). In umfassender Begrifflichkeit formuliert, geht es bei dieser Problematik um die Bestimmung des Verhältnisses von ‘Text und Ritual’. Hier wurde in den letzten Jahren eine intensive Grundlagendiskussion unter dem Stichwort ‘rituelle Texthandlungsklassen’ geführt (B. Dücker, H. Roeder).13 Es geht darum, zu klären, ob erstens bestimmte Rituale bestimmte Texte generieren, die sich klassifizieren lassen, ob zweitens aus bestimmten Textklassen auf bestimmte Rituale geschlossen werden kann, ob drittens bestimmte Texte und Textklassen eine kommunikative Funktion für bestimmte Rituale haben und in welcher Form. Im griechischen Bereich muss diese Analyse auch als eine literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchung geführt werden, wobei die spezifischen Vermittlungsbedingungen besonders zu berücksichtigen sind, da die Vermittlung bis tief ins 5. Jahrhundert v. Chr. hinein primär mündlich durch die Aufführung erfolgte, wenn auch Texte im Hintergrund standen. Ein Lesepublikum und einen Buchmarkt gab es erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts. Vermutlich ist in den Texten auch mit dem Phänomen einer ‘inszenierten Mündlichkeit’ zu rechnen, wie wir es zum Beispiel aus Platons Dialogen kennen. Auf jeden Fall setzt die Überlieferung zu Eleusis, Dionysos und der Orphik genau in dieser Zeit des Übergangs ein. In der Orphik scheint bereits früh eine Kultur des Buches und des Schreibens vorhanden zu sein, die allerdings der Kritik ausgesetzt ist. Spätestens im 4. Jahrhundert tritt zur persönlichen Erfahrung die literarische Rezeption der Themen und Motive. Einerseits lassen sich Prägungen, die auf ursprünglich mündliche Vermittlung hinweisen, in manchen Eigenheiten der Texte finden, so in der auffälligen topografischen Einbindung eleusinischer Kultgegebenheiten oder in der Jenseitstopografie der ‘orphischen’ Goldblättchen. In beiden Fällen verbinden sich markante Örtlichkeiten mit ritueller Symbolik. Die Landschaft trägt die ‘Spur’ dessen, was für die 13

Dücker/Roeder 2004; Dücker/Roeder 2005, 1-43, bes. 3-8, zu den Texthandlungsklassen 8-19.

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‘Geschichte’ und ‘Botschaft’ der Mysterien wichtig ist, und kann gleichsam durchschritten oder wie ein Buch gelesen werden. Ähnlich funktionieren Mysterieneinweihungen, in denen man Stufen überwinden und Tore durchschreiten muss. Basis dieser Szenarien sind das körperliche und räumliche Denken; sie haben eine mnemotechnische Funktion. Gleichzeitig wird dadurch eine Welt geschaffen und geordnet, die ihrerseits der Realität Bedeutung und Sinn im Hinblick auf die Mysterienerfahrung gibt. Andererseits sind die Texte, auch wenn sie mündlich vermittelt werden und Spuren der Mündlichkeit tragen, fast immer literarisch gestaltet. Dazu kommen, wie oben vermerkt, Texte, die eine ausgeprägte Buchkultur im Umfeld der Mysterien bezeugen. Das eindrücklichste Beispiel ist der Dervenipapyrus, der aus einem Grab bei Derveni, östlich von Thessaloniki stammt. Er ist um 330 v. Chr. datiert, jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit bereits gegen Ende des 5. Jahrhunderts entstanden und enthält einen Kommentar zu einer Theogonie des Orpheus, die vermutlich ins 6. Jahrhundert zurückgeht.14 Im Grunde geht es um verschiedene Stufen der Literarisierung, wie sie auch die Mythen zeigen, die im Umfeld der Mysterien auftreten und am besten als eigene Textklasse betrachtet werden. Was ihr Verhältnis zum Ritual betrifft, ist generell bekannt, dass griechische Mythen nur wenig konkrete Angaben zur performance, zur Durchführung eines Rituals machen, weshalb es sinnvoller ist, nach Textsignalen zu fragen, die auf die rituelle Handlung verweisen, und zu untersuchen, welche Bedeutung diese Anspielungen haben.15 Es interessiert also weniger die dem Mythos und Ritual und letztlich auch den Mysterien zugrunde liegende anthropologische und soziobiologische Konstante, wie sie Walter Burkert untersucht hat, sondern die Beziehung zwischen sprachlicher Äußerung, den logoi, und der performance, dem Ritual. Es soll jedoch nicht nur um Fragen der Einteilung von Texten in Kategorien oder Textklassen oder ihrer Relation 14

‘Orphische Schriften’ sind bei E. Hipp. 952-954 erwähnt, außerdem Pl. R. 364e (= OF 3), der von einem ‘Haufen von Büchern’ des Orpheus und Musaios spricht. Die antike Tradition kennt ‘Orphikoi’ als Verfasser von ‘orphischen’ Schriften, z. B. Schol. ad E. Alc. 1 (bei Apollod. FGrH 244 F 139 = OF 365 Bernabé). Weitere spätere Zeugnisse sind der sogenannte Gurôb-Papyrus, Ende 3. Jahrhundert v. Chr., der rituell geprägt ist, sowie die ‘orphischen’ Hymnen, die in der vorliegenden Form ins 2. Jahrhundert n. Chr. zu datieren sind; vgl. Graf/Johnston 2007, 61-65, 140-142, 150-156; zum Gurôb-Papyrus vgl. Hordern 2000; West 1983, bes. 20-38. 15 Zur Theorie der Entstehung des Mythos aus dem Ritual im Umkreis der sogenannten Cambridger Ritualists vgl. Graf 1997, 43-47.

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zum Ritual gehen, sondern auch um Fragen der strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Texten einzelner Mysteriengruppen oder der diachronen Dimension; denn es muss auch beobachtet werden, inwiefern traditionelle Inhalte im Ritual oder in den logoi im Laufe der Zeit neue Bedeutungen erhalten. Bei der Diskussion von Mysterien und ihren logoi, seien es Mythen oder andere Textgattungen, ist es ferner wichtig, den kulturellen Kontext, auf den die Texte verweisen, sowie weitere Träger von Informationen im Umfeld der Texte, zum Beispiel Bilder, Architektur oder den Grabbefund zu berücksichtigen.16 I.4 Erstes Beispiel: ‘Orphische’ Goldblättchen Unter dieser Perspektive, nämlich der Einteilung in Textklassen, der Ritualität von Texten und der Beziehung von Texten zum kulturellen Umfeld, wäre zum Beispiel das Textcorpus der ‘orphischen’ Goldblättchen neu zu betrachten. Die Richtung, in welche die Diskussion gehen könnte, soll hier in ihrem großen Zusammenhang skizziert werden. Die Goldblättchen stammen aus Gräbern des ausgehenden 5. Jahrhunderts v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. und waren in der gesamten griechischen Welt verbreitet; ferner wurden auch Kritzeleien auf Knochenblättchen am Schwarzen Meer (Olbia) gefunden.17 Inhalt ist das Schicksal des Verstorbenen unmittelbar nach seinem Tod, oft findet sich auch eine Verheißung für das künftige Dasein. Voraussetzung für den besonderen Status ist die Einweihung in Mysterien, seien es diejenigen des Dionysos (Bakchos), der Persephone, des Orpheus, der Demeter oder der Mater Oreia. Was das Verständnis der Texte betrifft, so stellen sich zwei grundlegende Probleme. Das eine betrifft die Frage der Situierung der Texte, von denen man annimmt, dass sie unmittelbar auf ein Initiations- oder Bestattungsritual verweisen, wobei unklar ist, welcher kultischen Gruppierung diese zuzurechnen sind. Das andere Problem betrifft die Quellen der Goldblättchen,

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Vgl. dazu im Bereich der Ägyptologie die Untersuchung zum Grab des Anchtifi von Hefat bei Morenz 2005. 17 Zur Orphik vgl. Bernabé/Jiménez San Cristóbal 2008, bes. 227-240 (Beziehung Texte-Ritual); Graf/Johnston 2007, bes. 175-184; Calame 2000, 66-68. Zu den ‘orphischen’ Goldblättchen und ägyptischen Vorstellungen vgl. Merkelbach 1999.

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von welchen Texten sie abhängig sind und ob ihnen ein einziger Text, ein hieros logos, eventuell des ‘Orpheus’, zugrunde liegt oder doch mehrere.18 Betrachtet man die Goldblättchen zunächst einmal unter dem Aspekt von Textklassen, so fällt auf, dass sie – typologisch gesehen – darin weitgehend übereinstimmen, dass es in der Regel um eine Selbstpräsentation des Mysten oder Initianden geht. Es lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden. In der einen Gruppe ist die Mysterienerfahrung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten kultischen Gruppierung zentral. Diese Erfahrung wird in Form eines Sprechaktes, genauer eines ‘Dauersprechaktes’, in symbolischen Worten in der ersten Person formuliert:19 ‘Ich entflog dem tieftraurigen qualvollen Kreis’ (ƬƾƬƭưƶ Ʀˡ ȀƯƟƱƵƣƮ ƤƣƲƶƱƧƮƪƟưƳǰƲƥƣƭƟưƫư), ‘als Böcklein fiel ich in die Milch’ (ȄƲƫƷưƳȀƳ ƥƞƭƣ ȄƱƧƵưƮ), ‘ich bin ein Kind der Erde und des gestirnten Himmels’ (ƆʦƳ ƱƣʴƳ ƧȜvƫ Ƭƣɚ ƒȸƲƣƮư˃ ǰƴƵƧƲƽƧƮƵưƳ).20 Der Tote spricht und präsentiert sich selbst, er stellt die rituelle Identität, die er erworben hat, dar. Diese hilft ihm bei der Statusänderung und verleiht ihm diejenige Geschichte oder ‘Biografie’, die in den Mysterien bedeutungsvoll war. So formuliert der Tote auf dem Goldblättchen von Pherai (Ende 4. Jahrhundert v. Chr.): ‘Sende mich zum Thiasos der Mysten (vƶƴƵː˰Ʈ˱ƪƫƞƴưƶƳ); ich bin im Besitze der Riten des Bakchos (ȰƲƥƫƣ=ƅƞƬƸưƶ?), der Weihen der Demeter Chthonia (IJȑȜȘ ǻȒȝȘIJȡȠȢ ȋșȠȞȓĮȢ) und der Meter Oreia (der Bergmutter, ƏƩƵƲɜƳȲƲƧơƣƳ, 28 Pherae 2 Graf/Johnston)’, womit er sich gleichzeitig ausweist und einen Anspruch aufgrund seiner besonderen Identität erhebt. Mit diesen Ich-Aussagen korrespondieren Inhalte, die eine Anrede an den Toten enthalten, die nach genau dieser Identität fragt: ‘Wer bist Du? Woher kommst Du? (ƵơƳƦˡȀƉơŸƱːƦˡȀƉơ, 10 Eleutherna 1, Zeile

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Zu den Goldblättchen und zum Ritual vgl. Graf/Johnston 2007, 133-164. Zur Diskussion, inwiefern die Goldblättchen als ‘orphisch’ zu betrachten sind; vgl. Schlesier 2001, bes. 166-168; vgl. den Forschungsüberblick bei Graf/Johnston 2007, 58-65. Nach Riedweg 1998, bes. 387-389, liegt ein einziger Hieros Logos vor. 19 Morenz 2005, 135-138, wo im Zusammenhang mit dem Grab des Anchtifi von Hefat, das Bilder und Inschriften zum ‘guten’ Leben und den Taten des Verstorbenen aufweist, von der Inszenierung eines “Sprech-Aktes” und eines “Lese-Aktes” gesprochen wird, durch den der Tote sozusagen ‘wiederersteht’. Zur Sprechakttheorie (speech-acts) vgl. Austin 1962; Searle 1969. 20 Die Texte bei Graf/Johnston 2007; die Zitate aus: 5 Thurii 3 (4. Jahrhundert v. Chr.) Zeile 5 und 10 Graf/Johnston = OF 488 Bernabé, cf. 3 Thurii 1 Graf/Johnston = OF 487 Bernabé; 2 Petelia (4. Jahrhundert v. Chr.) Zeile 6 Graf/Johnston = OF 476 Bernabé; 3 Thurii 1 (4. Jahrhundert v. Chr.) Zeile 4 Graf/Johnston = OF 487 Bernabé.

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3 Graf/Johnston = OF 479 Bernabé). Man kann somit von einem ‘verdauerten Dialog’ sprechen, der hier inszeniert wird. Auch Inhalte, die während der Initiation wichtig waren oder Initiationsgrade (Böcklein, Widder) ausdrücken, werden erwähnt. Der Tote verweist auf seine ‘Reinheit’, auf sein ‘Gutsein’, insofern er einer ist, der ‘die Buße’ (ƱưƫƮɕ) bezahlt hat, wodurch er sich einen besonderen Status geschaffen hat. Durch den Text wird somit, besonders wenn er laut gelesen wurde, eine spezifische Identität und Idealität des Verstorbenen geradezu inszeniert. Er tritt in seiner Rede auf und präsentiert sich selbst, sei es den Wächtern, der Persephone, den Göttern allgemein, vielleicht auch den Toten oder der Nachwelt. Man kann also von einem ‘rekreativ-performativen’ Text oder Leseakt sprechen, wenn auch unklar ist, wen man sich als Leser vorgestellt hat.21 Es kann ein Geleiter des Toten, einer der Götter oder Persephone selbst gewesen sein, die mehrfach angesprochen wird. Dazu kommt eine zweite Form von Texten, die informativer sind und eine ausführliche Beschreibung dessen enthalten, was der Myste im Hades vorfinden wird (zwei Quellen, eine richtige und eine falsche, eine Zypresse, Wächter). Meist folgt eine Verheißung, wohin der Myste kommen wird (zu Dionysos, Persephone, anderen Mysten, einem glückseligen Leben).22 Diese Gruppe von Texten wird man am besten als Ausschnitt aus einem Wissenskompendium betrachten, das einem längeren Text oder Buch entnommen ist. Sie wirken in der Gestaltung literarischer, lesen sich flüssiger, sind häufig in Hexametern wiedergegeben. Wie in einem Lehrgedicht werden sachliche Anweisungen gegeben, was der Verstorbene zu tun hat. Interessant ist, dass an entscheidender Stelle auch ein Wechsel von der zweiten in die erste Person vorkommt, eingeleitet durch die Aufforderung ‘sage’. Danach folgt eine Selbstpräsentation, wie in den Goldblättchen der ersten Gruppe, gleichsam eine ‘Deklaration’ des Verstorbenen, der sich über das entscheidende Wissen ausweist (‘ich bin ein Kind der Erde und des sternenreichen Himmels; ich bin von himmlischer Abstammung’). Es existieren vielfache Mischformen der beiden Gruppen. Fragt man nach dem ‘Ort’ dieser Inhalte, so gehörten sie wohl in den 21

Für den ägyptischen Bereich vgl. Morenz 2005, 137-138. Vgl. Graf/Johnston 2007: 1 Hipponion (um 400 v. Chr.) = OF 474 Bernabé; 2 Petelia (4. Jahrhundert v. Chr.) = OF 476 Bernabé. Hier wird die Gruppe der Goldblättchen mit den Makarismoi (Gruppe 3 bei Calame 2000, 67) zu derjenigen mit der Ansprache gezählt (Gruppe 2 bei Calame 2000, 67), da sie formal derselben Kategorie angehören, insofern sie den Toten anreden. 22

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protreptischen Teil der Mysterieneinweihungen, wobei gerade diejenigen Inhalte reproduziert werden, die das besondere Wissen, die Identität, die ‘Mysterienbiografie’ des Verstorbenen bezeugen. Der Text lässt sich beim Lesen als eine Unterweisung des Schülers durch eine Autorität inszenieren, so dass man auch hier von einem rekreativ-performativen Leseakt sprechen kann. Blickt man allein auf die Inhalte, kann man eine chronologische Abfolge beobachten, in der die Erzählung mit der Unterweisung beginnt (hier die Gruppe zwei), die auf ihren ‘Kern’ reduziert ist. Der Tote wird in der zweiten Person angesprochen, er wird belehrt und als besondere Person dargestellt. Daraufhin wechselt die Rede oft in die erste Person (erste und zweite Gruppe). Für die Selbstpräsentation und die im Sinne der Mysterien wichtigen Inhalte ist sozusagen das ‘literarisierte Ich’ des Toten zuständig. Manchmal verbleibt der Text in der zweiten Person, die ‘Mysterienidentität’ wird dem Verstorbenen gleichsam ‘zugesprochen’. Formal ist ein Dialog inszeniert, wobei der Verstorbene nicht antwortet, die Dinge geschehen ihm. Abschließend folgt eine Glückseligpreisung, entweder in direkter oder indirekter Rede (‘Glücklicher und Glückseligster’,ȰƭƤƫƧƬƣɚ vƣƬƣƲƫƴƵɗ  und die Aufforderung, sich an einen besonderen Ort zu begeben.23 Der Weg des Toten durch die Unterwelt ist beendet, er ist an seinem Ziel angelangt. Allerdings bleibt die Beziehung der Texte zur rituellen Handlung und kultischen Praxis offen, selbst wenn eine Einfärbung durch mündliche Tradition und rituelle Inhalte, wie auf den Goldblättchen von Pelinna, erkennbar ist. Dass die Texte jedoch die rituelle Handlung gleichsam ‘abbilden’, ist wenig wahrscheinlich. Wenn sie etwas abbilden, dann den Dialogcharakter der Unterweisung, wie er traditionell zur Belehrung ge23 5 Thurii 3, Zeile 9 Graf/Johnston 2007 = OF 488 Bernabé. Die Inhalte können auch in der zweiten Person ausgedrückt werden, die Identität wird dem Verstorbenen von einer Autorität gleichsam zugesprochen: ‘Stier sprangst du in die Milch’ (Ƶƣ˃ƲưƳ ƧȜƳ ƥɕƭƣȄƪưƲƧƳ) und ‘Widder fielst du in die Milch’ (ƬƲƫɜƳƧȜƳƥɕƭƣȄƱƧƴ˰ƧƳ˱); vgl. zu den Goldblättchen von Pelinna Graf 1993, wo diese Aussagen (Zeilen 3-6) allerdings als eine Prophezeiung interpretiert werden. Sie sind jedoch eher als die Darstellung einer erworbenen Mysterienidentität zu sehen, wozu auch ‘Wein hast du als eine glückselige Ehre’ (ưȢƮưƮȄƸƧƫƳƧȸƦ˰ƣ˱ɛvưƮƣƵƫvə˰Ʈ˱) gehört; ȄƸƧƫƮ im Sinne von ‘im Besitz haben’, so wie der Verstorbene Weihen oder Weihegrade ‘im Besitz’ haben kann, ähnlich wie ein Athlet Siege an verschiedenen Wettkampfstätten ‘im Besitz’ hat; hierzu vgl. Krummen 1990, 164 Anm. 29. Auf diese Weise schließt sich auch Vers 7 nahtlos an, wo eine Verheißung für das Leben in der Unterwelt gegeben ist (sc. da der Verstorbene alle Voraussetzungen erfüllt hat).

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hört. Somit wird man die Goldblättchen als eine Textsorte verstehen, deren Funktion besonders darin bestand, zu belehren und den Toten zu präsentieren, wobei ihm eine Identität im Sinne der Mysterienkulte gegeben wird, die ihm erlaubt, das Ziel im Jenseits zu erreichen.24 Die Goldblättchen zeigen einen literarischen Charakter und ordnen sich in eine entwickelte Buch- und Lesekultur ein, wie sie spätestens zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. bestand. Man kann sie als Dokumente auffassen, die die Kenntnis der Symbole und Inhalte der Mysterienkulte ausweisen, was in einer dramatischen Gestaltung und in einem rekreativ-performativen Leseakt demonstriert wird.25 Dabei machen sich die Texte gerade eine Eigenheit der Schrift zunutze, nämlich einen Inhalt auf Dauer zu speichern, der dann unabhängig von der Ausgangssituation, in der er niedergeschrieben worden ist, in der Lektüre ‘wieder belebt’ werden kann. Es kann in diesem extremen Fall sogar eine Kommunikation über die Grenze des Todes von der diesseitigen in die jenseitige Welt stattfinden. Der Schreiber war im Diesseits, der Empfänger im Jenseits, der Tote ist der Bote, den dieser Text gleichzeitig ‘wiederbelebt’ als eine ‘ideale Persönlichkeit’ und ihm die ‘Erinnerung’ gibt. Die Mysten und Verstorbenen machen sich die nunmehr gut etablierte Buch- und Lesekultur sozusagen ‘dienstbar’. Betrachtet man dagegen die Goldblättchen in ihrem kulturellen Kontext, so bestätigt sich ihr Charakter als im weitesten Sinne literarische Dokumente und Zeugnisse einer Schriftkultur. Die frühesten Goldblättchen datieren ans Ende des 5. und den Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr., der Dervenipapyrus wurde gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. verfasst. Dies ist jedoch genau die Zeit, in der sich ein Buchmarkt und eine

24 Formal kann man Texte vergleichen, in denen Anweisungen zur Durchführung eines Rituals formuliert sind. Auch hier werden die einzelnen Punkte genau aufgeführt, was man tun, wohin man stehen oder sich wenden soll, und was man sagen, bzw. wo man schweigen soll; vgl. S. OC 466-492. 25 Ein Hinweis, dass die Goldblättchen wie ein ‘Ausweis’ funktionieren sollen, mag die Aufforderung auf dem Goldblättchen von Petelia (4. Jahrhundert v. Chr.) sein, dass man vor dem Tod ‘dieses’ (d. h. den Inhalt des Goldblättchens) aufschreiben solle: ƪƣƮƧʴƴƪ?ƣƫ   ^ ƵɝƦƧ ƥƲƣƹ?   Graf/Johnston 2007, 2 Petelia Zeile 13. Ein weiteres wichtiges Thema, das in der apulischen Vasenmalerei und auf ‘orphischen’ Goldblättchen auftritt, sind die Erinyen, die als strafende Dämoninnen erscheinen und auf einem Krater in Neapel sogar als ‘poinai’ bezeichnet sind (Schuld, Wiedergutmachung, Buße); dazu Schmidt 2000. Ergänzend sei noch auf die bedeutende Rolle der Erinyen im Dervenipapyrus hingewiesen; vgl. Betegh 2004, 84-89.

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Lesekultur bereits fest etabliert haben.26 Dazu kommen Bilder aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. und später, die den Toten mit einer Buchrolle in der Hand zeigen, darunter befindet sich eine apulische Amphora mit Orpheus und dem Toten, der eine Buchrolle und einen Stab in der Hand hält und dem Kitharaspiel des Orpheus zuhört.27 Man wird sich somit vorstellen, dass eine Vielfalt von Texten zirkulierte, neben Dichtung auch kommentierend gelehrte Prosawerke. Diese Texte hat man wohl einerseits vorgetragen, andererseits selbst gelesen und auswendig gelernt, vielleicht abgeschrieben, so wie es auch im Schul- und Rhetorikunterricht üblich war.28 Auf den Goldblättchen selbst waren nur die entscheidenden Inhalte aufgeschrieben, da das Material kostbar und der Platz beschränkt war. Wenn einmal Kurztexte zirkulierten, hat man diese vielleicht auch direkt kopiert. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Texte, wiewohl als schriftliche verfasst, Spuren der Mündlichkeit tragen, wie sie sich in den formelhaften Wendungen finden, die dadurch charakterisiert sind, dass sie einen zentralen Inhalt (die ‘Selbstpräsentation’) prägnant wiedergeben und mit einer performativen Situation, die als ‘Prüfung’ wiederkehrt und emotional bedeutungsvoll ist, verknüpft sind. Rhythmus, wiederkehrende Performance und Emotionalität sind Strategien, einen Inhalt dem Gedächtnis fest einzuprägen, wobei für die Überlieferung nur Inhalt und Tiefenstruktur des Erzählten wichtig sind, während die Oberflächenstruktur variieren 26

Krummen 2004a; Giuliani 2003, 243-248; oben I.3. Vgl. E. Hipp. 451, wo die Amme über Kypris und Eros spricht und sich dabei auf ƥƲƣƷɕƳ ƵƧ ƵːƮ ƱƣƭƣƫƵɗƲƺƮ (Bücher der Alten) als Autoritäten bezieht, wobei sie allerdings den Inhalt referiert und nicht vorliest. Daneben gibt es Schriften, die auswendig gelernt werden, besonders im Zusammenhang mit Unterricht; vgl. Pl. Prt. 325e, man soll sie im Wortlaut vortragen. Schließlich dient das Lesen zur Unterhaltung; vgl. Ar. Ra. 52-53, 1114 (die Athener sitzen im Theater mit der Buchrolle in der Hand). Seit Aristoteles ist die Lektüre von Lehrschriften im Unterricht selbstverständlich, Literatur wird nicht mehr mündlich, sondern durch Texte vermittelt, das Lesen kommt vor dem mündlichen Vortrag in der Wissensvermittlung. Vgl. auch das Grabrelief in Grottaferrata, auf dem ein junger Mann sitzend mit Buchrolle in der Hand dargestellt ist: Bruns-Özgan 1989, bes. 186. Zum Isiskult vgl. den Fries der Villa dei Misteri: Burkert 1987 neben S. 56 Abb. 5; weitere Zeugnisse oben Anm. 14. 27 Antikenmuseum Basel, Sammlung Ludwig Inv. Nr. 540 (330/320 v. Chr.); Frau lesend auf weißgrundiger Lekythos, Mitte 5. Jahrhundert v. Chr., Louvre. Die Buchrolle kann allerdings auch Chiffre für paideia sein. Vgl. Bernabé/Jiménez San Cristóbal 2008, 277-283. 28 Hordern 2000, bes. 132, wo die Zeugnisse zur Verwendung verschiedener Texte im Kontext der Mysterienkulte angeführt sind, z. B. Hdt. 2.51, der einen hieros logos erwähnt, der bei der Mysterienfeier auf Samothrake vorgetragen wurde.

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kann. So beobachten wir gerade auf den Goldblättchen der hier sogenannten Gruppe eins, in deren Mittelpunkt die Selbstpräsentation steht, Unterschiede in der Formulierung oder der dialektalen Gestaltung. Dagegen zeigen die Goldblättchen der Gruppe zwei eher den Einfluss eines schriftlich festgelegten Textes. Sie sind besser formuliert und waren vermutlich, wie ihr Anweisungscharakter ausdrückt, ‘Lehrstoff’. Doch auch diese Texte können Spuren von Mündlichkeit enthalten und sie in Dialogen sozusagen ‘inszenieren’, wie oben vermutet, und wie es der episch-hymnischen Dichtung, in deren Tradition die Goldblättchen letztlich stehen, entspricht.29 Die weit verbreitete Literarisierung weist darauf hin, dass im Hintergrund kaum nur ein einziger Text, sondern verschiedene standen, wenn auch aus thematischen Gründen die Anzahl wohl begrenzt war. Wenn man dagegen die Bedeutung berücksichtigt, die diese Texte im Leben hatten, so kann man darauf schließen, dass man sie deshalb ins Grab mitgenommen hat, weil sie ‘dazugehörten’, weil sie dem Verstorbenen eine spezifische Identität gaben. Bücher, Mysterien und Symposion gehören zum Dasein des Mysten im Leben und im Tod. Sie sichern ihm eine bestimmte Stellung. Der Myste nimmt ‘seine Welt’ ins Jenseits mit, so wie er seine Identität mitnimmt, und setzt dort fort, was ihm im Leben als das Schönste verheißen worden ist. Hier fügen sich auch die ikonografischen Zeugnisse nahtlos an. Zahlreiche Bilder der apulischen Keramik zeigen besonders im 4. Jahrhundert v. Chr. Grabszenen und dionysische Bilder, wobei in einigen Fällen durch die besondere Konzeption der Bilder eine Parallele zwischen dem Verstorbenen und der Inszenierung des Gottes Dionysos zu beobachten ist. So erscheint der Tote mit einer Phiale und dem Thyrsos in der Hand, gerahmt von einer Flügelfrau und einem Satyrn, wie der Gott Dionysos im Hades erscheinen kann.30 Dies wird man nicht so deuten, dass der Tote ‘Gott’ geworden ist, sondern als eine Verheißung verstehen. 29 Vgl. oben S. 184. Zum Dialogcharakter vgl. den homerischen Apollonhymnus 165-178, wo ‘der blinde Sänger von Chios’ mit den Deliaden spricht und sich dabei selbst vorstellt. Arist. Po. 24.1460a 5-11. 30 Giuliani 1995, 143-151 (Volutenkrater Berlin Inv. 1984.41, Giuliani 1995, Kat. 1 Halsbild B. Abb. 91 S. 146). Vgl. Schmidt 2000 zu Orpheus und Dionysos in der Unterwelt (in Toledo, Dareiosmaler, 340/30), der mit einer Inschrift bezeichnet ist und vor Hades und Persephone steht. Zu dionysischen Bildern und ihrer Bedeutung vgl. Hoffmann 2002, 168-169; zu mythischen Bildern und mythologischen Trostexempla vgl. Hoffmann 2002, 130-143.

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Die dionysische Verheißung ist auf den Bildern allgegenwärtig, auch wenn man nun nicht jedes Bild als Anspielung auf einen Mysterienkult und einen Toten mit einem besonderen Status deuten wird. Im speziellen Fall jedoch erhalten die Bilder eine besondere Bedeutung und können sich auf rituelle Einzelheiten oder wiederum auch auf Texte, die von diesen Inhalten erzählen, beziehen.31 Textuelle Zeugnisse und Grabkontext bilden ein Ensemble.32 Aus dieser typologischen und kontextuellen Betrachtung der Goldblättchen ergibt sich, dass sie in erster Linie zur Darstellung der besonderen rituellen Identität des Verstorbenen ins Grab gegeben wurden, die sie gleichzeitig bezeugen und in einer Selbstrepräsentation auch redend inszenieren. Sie repräsentieren das dem Toten gemäße Umfeld, das in eine Buch- und Lesekultur eingebettet ist. Zwar gibt es deutliche Anspielungen auf konkrete rituelle Inhalte, doch sind diese wiederum so allgemein gehalten, dass man kein spezifisches Ritual oder gar ein übergreifendes rituelles Handlungsprogramm daraus ablesen könnte, ebensowenig wie aus den ikonografischen Zeugnissen. Es ist zudem mit vielen lokalen und gruppenspezifischen Varianten zu rechnen. Das bedeutet nicht, dass man nicht versuchen sollte, Einzelheiten durch genaue Textanalysen zu erschließen, doch sollte man die Goldblättchen und anderen Zeugnisse beim bisherigen Stand der Kenntnisse nicht zu eng mit einer bestimmten historischen oder einmaligen Situation wie der Einweihung oder der Totenfeier 31 Wichtig Giuliani 2001 und Giuliani 2003, bes. 77-188, wo dargelegt wird, dass Bilder erst ab ca. 400 v. Chr. den Wortlaut von Erzählungen aufnehmen. Zuvor werden bekannte Erzählungen sozusagen auf ihren ‘narrativen’ Kern reduziert, der zum Ausgangspunkt der Erzählung wird. Die Erzählung soll nur als eine bestimmte erkennbar sein, Einzelheiten interessieren nicht. Dieses Phänomen erklärt Giuliani überzeugend damit, dass es erst ab ca. 400 ein Lesepublikum und schriftliche Texte gibt, während im Kontext der mündlichen Vermittlung der Maler nur auf Punkte rekurrieren kann, die markant sind und in Erinnerung bleiben. Auf diesem Hintergrund würde sich nicht nur erklären, dass wir erst ab ca. 400 Texte haben, denn erst jetzt gibt es ein Lesepublikum, sondern einerseits sehr differenzierte Texte, die genau auf bestimmte Inhalte der Mysterienkulte und -lehre Bezug nehmen, andererseits aber auch einzelne Aussagen, die die Inhalte sozusagen auf ihren narrativen Kern, auf die symbolhaften Aussagen, reduzieren, die in höherem Maße eine mündliche Tradition abbilden und deshalb in ihrem Wortlaut weniger fixiert und flexibler sind. Diese treten denn auch in den Ich-Aussagen der Goldblättchen auf, die Mündlichkeit inszenieren sollen. 32 Dazu stimmen genau die dionysischen Szenen auf dem Dervenikrater (frühes 4. Jahrhundert v. Chr.), in dessen Zentrum Dionysos und Ariadne dargestellt sind, wobei Dionysos als dominante Figur auftritt. Dazu kommen weitere dionysische Szenen und Figuren; vgl. Barr-Sharrar 2007, bes. 118-122.

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verbinden, die sie gleichsam abbilden, sondern als Dokumente einer spezifischen Lebensführung sehen, zu der auch die Auseinandersetzung mit der literarischen Überlieferung gehörte. I.5 Mysterien im rhetorischen, philosophischen und christlichen Kontext Diese Thematik, die besonders die hellenistische Zeit bis in die Spätantike betrifft, kann als eine besondere Ausprägung des übergreifenden Themas ‘Mysterien und logoi’ verstanden werden. Auch auf diesem Gebiet hat Walter Burkert in den Ancient Mystery Cults Grundlegendes geleistet und das Thema in späteren Aufsätzen noch mehrfach behandelt.33 Die Anregungen wurden vielfach aufgenommen, doch bleiben immer noch zahlreiche Fragen offen, zum Beispiel nach dem jüdisch-christlichen Einfluss, wie er sich besonders in den Werken Philons zeigt, oder zum Einfluss der Mysterien auf einzelne Schriften Plutarchs.34 Was das christliche Umfeld betrifft, so wird in der jüngsten Forschung wieder vermehrt diskutiert, inwiefern man von einer Beeinflussung des Gedankenguts und der Formulierung des Neuen Testaments durch die griechische Kultur ausgehen kann. Im Zusammenhang mit den Mysterien bleibt neben Walter Burkerts Untersuchung weiterhin der Aufsatz von Nock zu “Hellenistic Mysteries and the Christian Sacraments” (1952) wichtig.35 I.6 Fazit Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Ancient Mystery Cults bei ihrem Erscheinen im Jahre 1987 eine höchst bedeutende und von ihrem Ansatz her innovative Arbeit waren, die das Thema ‘Antike Mysterien’ wieder ins Zentrum der religionsgeschichtlichen und -wissenschaftlichen Diskussion gerückt hat und gerade in der Knappheit, mit der das Buch formuliert ist (114 Seiten), einen hervorragenden Überblick über ein komplexes Gebiet gibt, der seinen Wert bis heute bewahrt hat.

33 Vgl. Burkert 1996 (“Plutarch. Gelebte Religion und philosophische Theologie”, in: Burkert 2008, 222-239 (zuerst 1996)); Burkert 1995 (“Der geheime Reiz des Verborgenen. Antike Mysterienkulte”, in: Burkert 2006b, bes. 9-11 (zuerst 1995)); Riedweg 1987. Zu Platon vgl. Krummen 2002; Krummen 2007. 34 Dazu Hirsch-Luipold 2005. 35 Vgl. auch Egelhaaf-Gaiser 2002; Nock 1952.

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II. Mythos: Structure and History II.1 Einleitung Die Monografie Structure and History in Greek Mythology and Ritual (1979) ist im Bereich der Mythenanalyse bahnbrechend gewesen und hat dieses Forschungsgebiet zur Zeit der Erstpublikation 1979 auf eine neue Grundlage gestellt. Vor der Publikation dieser Monografie konnte man zwei große Gruppen der Mythenanalyse unterscheiden. Es gab einerseits die ‘Myth and Ritual’-Gruppe im Umfeld der Cambridger Ritualisten um Sir James Frazer und Jane Ellen Harrison, die besonders Fragen der Mythenentstehung behandelt.36 Der Mythos wird aus dem Ritual hergeleitet und als Darstellung eines kollektiven Rituals aufgefasst, selbst wenn man immer bemerkt hat, dass Mythen und Rituale nebeneinander und unabhängig voneinander existieren können. Vielfach folgt der Mythos narrativen Mustern, die nicht unmittelbar auf ein rituelles Handlungsmuster Bezug nehmen müssen. Genau hier setzt die zweite Gruppe an, die eine funktionalistische oder strukturalistische Mythenanalyse entwickelte, deren prominenteste Vertreter Claude Lévi-Strauss und später Jean-Paul Vernant sowie die Pariser Gruppe sind.37 Der Mythos wird als Kommunikation verstanden und kann mit denselben Methoden, wie sie die strukturalistische Sprachanalyse anwendet, begriffen werden. Während diese Richtung vor allem an der Tiefenstruktur der Mythen interessiert ist, analysiert eine andere Theorie, die besonders von Vladimir J. Propp entwickelt worden ist, die Oberflächenstruktur der Erzählungen.38 In der Morphologie des Märchens (1972) entwickelt Propp die These, dass alle Erzählungen auf eine feste Anzahl von Elementen oder Handlungsfunktionen zurückgeführt werden können, die stets dieselben bleiben, während andere Elemente einer Erzählung, wie Personen, Orte, Gegenstände usw. variieren können. Im Typus des Zaubermärchens zum Beispiel findet Propp einunddreißig Funktionen, deren Abfolge immer dieselbe und fest ist, wenn auch nicht alle zusammen vorkommen müssen.39 36

Graf 1985, 31-38, 43-47. Graf 1985, 47-52. In diesem Zusammenhang sind auch die Untersuchungen von Detienne, z. B. Les jardins d’Adonis (1972), zu nennen. 38 Zu Propp vgl. Graf 1985, 52-54. Zur Bedeutung Propps für die Erzählanalyse vgl. Herman 2007, 3-21, bes. 13-15; Fludernik 2006, 20-21. 39 In diesem Typ des Märchens zieht der Held in die Ferne (auf Befehl oder freiwillig), er holt eine Person oder einen Gegenstand, er gewinnt den Gegenstand, manch37

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Hier greift Walter Burkerts Untersuchung ein, insofern er dem Beispiel Vladimir Propps folgend verschiedene Erzähltypen von Mythen analysiert, die durch bestimmte Morpheme strukturiert sind.40 So ist im griechischen Bereich der oben erwähnte Erzähltypus des ‘Zaubermärchens’ gut bekannt. Er findet sich im Zusammenhang der Heraklesabenteuer, wenn Herakles die Rinder des Geryoneus, den Kerberos oder die Äpfel der Hesperiden holt, oder in der Argonautenerzählung, wo Jason mit Hilfe der magischen Pharmaka Medeas das goldene Vlies von Kolchis nach Iolkos bringt. Manche Erzählstrukturen lassen sich mit Ritualen, besonders mit Initiationsritualen verknüpfen, wie schon Propp festgestellt hat. Im griechischen Bereich weit verbreitet ist der Typus der ‘Mädchentragödie’, wie ihn Walter Burkert genannt hat, in der ein Mädchen nach der ersten Liebesbegegnung mit einem Gott schwanger wird und entweder ‘aus Schande’ oder gleich nach der Geburt des Kindes stirbt, worauf es einen Kult erhält.41 Junge Männer erleiden manchmal ein ähnliches Schicksal, wenn sie ebenfalls von einem Gott geliebt und (versehentlich) getötet werden, worauf sie ihrerseits ein Grab mit einem Kult erhalten. Offen bleibt die Frage, welche Eigenschaften die Konstanz der Erzählstruktur bewirken, gerade wenn sie sich, wie es häufig der Fall ist, vom Ritual gelöst hat oder gar nicht mit einem Ritual verbunden erscheint. Walter Burkert schlägt vor, dass diese Erzählungen auf Handlungsprogrammen basieren, die in biologischen oder kulturellen Mustern ihre Grundlage haben, so dass es diese biologisch determinierten Grundmuster sind, die die Erzählstrukturen in ihrer festen Ordnung erhalten: “Tale structures, as sequences of motifemes ... are founded on basic biological and cultural programs of action” (18). Doch die Bestimmung, was ein ‘Mythos’ sei, geht noch weiter, wenn sie auch oft übersehen wird. Die mythische Erzählung beziehe sich auf etwas, das von kollektiver Bedeutung sei, “myth is traditional tale applied” (23).42 Die Erzählung ist oft die “erste und grundlegende Verbalisierung einer komplexen Realität” (“the mal mit List oder mit Hilfe eines magischen Gegenstandes, er wird verfolgt, entkommt (manchmal allerdings erst, wenn er den Gegenstand verloren und wiedergewonnen hat), er kehrt siegreich zurück. 40 Burkert 1979, 1-58 (“The Organization of Myth” und “The Persistence of Ritual”). Vgl. Graf 1985, 54-57. 41 Burkert 1979, 14-18 (“Programs of Action”). 42 Burkert 1979. Vgl. die Überschrift des Kapitels “The Tale Applied”. Definition des Mythos als “Myth is a traditional tale with secondary, partial reference to something of collective importance” (23).

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tale often is the first and fundamental verbalization of complex reality”, 23). Hier kommt die historische Dimension ins Spiel. Die Erzählung hat ihre eigenen Erzählgesetze im Verlauf ihrer Tradierung, denen sie folgt, während sie gleichzeitig auf die Realität, in der sie erzählt wird, Bezug nehmen und neue Inhalte in einer bestimmten (veränderten) kulturellen Umgebung integrieren kann. So spricht Walter Burkert davon, dass der Mythos “die Zeichen seiner Geschichte trägt, der vielfältigen Ebenen der Anwendung und Konkretisierung in einer festen Form” (“bears the marks of its history, of multiple levels of application and crystallization”, 27). Mythen sind “überlieferte bedeutungsvolle Strukturen” (“meaningful structures transmitted”, 28). Es folgt ein Kapitel zu den rituellen Strukturen und Handlungsmustern, an dessen Ende “myth and ritual” wieder in der eingangs beschriebenen Weise zusammengeführt werden. Im Folgenden werden diese Thesen an vier großen Mythenkomplexen exemplifiziert (“Transformations of the Scapegoat”, “Heracles and the Master of Animals”, “The Great Goddess, Adonis, and Hippolytus”, “From Telepinus to Thelpusa. In search of Demeter”). Zu den Kontakten zum Vorderen Orient sind heute auch die Ausführungen in Die Griechen und der Orient (2003d) zu berücksichtigen. Fragt man, in welche Richtung sich die Forschung im Bereich des antiken Mythos weiterentwickelt hat, so ist ein Blick in neuere Darstellungen zur antiken Mythologie signifikant. In Fritz Grafs Griechische Mythologie. Eine Einführung (1985) endet das Kapitel “Die Neuansätze der Mythendeutung im 20. Jahrhundert” mit den oben beschriebenen Thesen von Walter Burkerts Structure and History (56-57). E. Csapo, Theories of Mythology (2005), nennt einige Schwerpunktthemen der neueren Zeit, die den griechischen Mythos allerdings eher unter einer bestimmten kulturellen Perspektive der Moderne betrachten, sei es der feministischen Diskussion (“Woman as Ideologeme”, 262-263) oder der poststrukturalistischen und ideologischen Mythendeutung (“Poststructuralism, Postmodernism, and Ideology”, 276-289), als dass sie einen grundsätzlich neuen Zugang zur Erforschung des antiken Mythos eröffnen. So bildet Walter Burkerts Analyse die letzte grundlegende theoretisch fundierte Auseinandersetzung auf dem Gebiet der antiken Mythologie. Eine Weiterführung kann am ehesten in Richtung einer Differenzierung der Darstellung erfolgen, die auch die kulturwissenschaftliche Perspektive

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berücksichtigt.43 Hier könnte zum Beispiel die Form der Verbalisierung des Mythos und der rituellen Strukturen interessant sein. Inwiefern organisieren Strukturen des Mythos und Rituals Erzählungen, besonders in ihrer textuellen Erscheinung als Dichtung oder Prosaerzählung? Wie verhalten sich Text und religiös-kultischer Inhalt zueinander? Auszugehen wäre dabei von der Analyse der Erzähltypen nach dem Muster der Proppschen Handlungssequenzen. Inwiefern organisieren vorgegebene Handlungsprogramme eine Erzählung? In welcher Relation stehen sie zu rituellen Handlungen oder ‘Ritualkomplexen’, die ihrerseits erzählt werden und feste Handlungs- und Ordnungsmuster aufweisen? Sowohl die Erzählungen (bzw. ihre festen überlieferten Strukturen) als auch die rituellen Handlungsstrukturen haben in einer Gesellschaft Bedeutung. Diese Bedeutung ist zu klären. Erzählungen geben Formen vor, wie über Dinge (wirklicher oder fiktionaler Natur) gesprochen werden kann, Rituale dagegen Handlungsformen, wie in einer bestimmten Situation, die in der Regel von hoher emotionaler und religiöser Bedeutung ist, gehandelt werden kann oder muss. Jede Kultur hat dabei ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Es ist jedoch auch über die Veränderbarkeit von Erzähltypen und Ritualen nachzudenken. Wie man festgestellt hat, gibt es sowohl auf der Ebene der Erzählungen als auch der rituellen Handlungen Wiederholungen, die abgrenzbar sind. Auf diese Weise sind auch Verschiebungen von erzählerischen oder rituellen Einheiten in andere (kompatible) Gruppen möglich.44 Geht man davon aus, dass Erzählungen und Rituale kulturell erlernt und ‘gewusst’ werden, sind solche Verschiebungen innerhalb der gleichen kulturellen Gruppe verständlich, auch Andeutungen und Kurzformen von Erzählungen und Ritualen sind für diese Gruppe erkennbar. So genügt es in der Tragödie, wenn bestimmte ‘Marker’ gegeben werden, damit ein Ritual als Guss-, Reinigungs- oder Opferritual erkennbar ist. Es muss nicht das gesamte Ritual durchgeführt und dem Publikum präsentiert werden. Rituale werden von der Wirklichkeit ablösbar, sie werden sozusagen ‘literarisiert’ und können in einer Erzählung oder literarischen Darstellung wirksam werden.

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Zur ‘kulturwissenschaftlichen’ Perspektive des Rituals vgl. Michaels 2003, wo einerseits differenzierende Merkmale ritueller Handlungen angeführt werden (4-5), andererseits jedoch auch zur “kulturökonomischen Dynamik von Ritualkomplexen” gehandelt wird (6-7). 44 Vgl. Michaels 2003; Gladigow 2004.

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Wenn man auch zugeben wird, dass einzelne Rituale biologisch determiniert sein können, wie zum Beispiel Initiationsrituale, und zugehörende Erzählungen auf korrespondierende Schemata zurückgreifen, so würde gerade eine Perspektive, die Erzählungen und rituelle Handlungen mit ihren regelmäßigen strukturierten Handlungssequenzen als kulturell entstanden und nicht in erster Linie als biologisch fundiert versteht, die große Zahl der unabhängig voneinander existierenden Erzählungen und rituellen Handlungen erklären, die außerdem in vielen Varianten auftreten können.45 Von hier aus eröffnet sich ein weites Gebiet für Untersuchungen in Literatur und Dichtung. Zu prüfen ist nicht nur, wie Mythen und Rituale in der Literatur und Dichtung erzählt werden und welche Bedeutung sie jeweils haben und schaffen, vielmehr stellt sich auch die Frage, welche Funktionen mythische oder rituelle Paradigmen in der Literatur haben, und ob es ein etabliertes Set von mythischen Paradigmen in den verschiedenen Gattungen, zum Beispiel der Rhetorik, gibt, das in bestimmten Kontexten regelmäßig verwendet wird. II.2 Zweites Beispiel: Komposition der Erzählung und Klageritual in der Ilias Als Beispiel, wie Erzählungen durch rituelle Strukturen organisiert werden und rituelle Handlungen in der Erzählung Bedeutung schaffen, indem sie eine sozial akzeptierte Handlungsform vorgeben, diene eine Stelle aus dem vierundzwanzigsten Buch der Ilias, und zwar das Klageritual des Achilleus und Priamos, der gekommen ist, seinen Sohn Hektor auszulösen (24.507-570). Walter Burkert selbst hat diese Passage mehrfach als Beispiel eines Klagerituals angeführt, wie es sich bereits in einem unserer frühesten Texte fassen lässt. Ziel dieser Ausführungen war jeweils die Dokumentation des Klagerituals. Hier soll dagegen seine Bedeutung für die Interpretation der Ilias aufgezeigt werden.46 45 Einen guten knappen Überblick zu Initiationsritualen in der griechischen Religionsgeschichte und ihrer potentiellen Bedeutung für die Interpretation von Texten findet sich bei Bierl 2007a, 23-25, 39-40. Heute steht man dem Begriff eher kritisch gegenüber. Mit Ausnahme von wenigen Ritualen in Sparta und auf Kreta gibt es in der griechischen Kultur kaum eine Einrichtung, die der Definition eines Initiationsrituals, wie sie in der Anthropologie entwickelt worden ist, entspricht. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Begriff findet sich bei Graf 2003a, bes. 19-20. 46 Die Form der Klagen in der Ilias, jedoch nicht ihre weiträumige strukturelle und rituelle Einbindung, behandelt ausführlich: Tsagalis 2004. Zu den einzelnen Elementen

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Die entscheidende Passage findet sich in den Versen 24.507-525. Priamos kommt ins Zelt des Achilleus und bittet ihn, Hektor auszulösen; er küsst Achilleus’ Hände (24.471-506). Beide Männer beginnen darauf mit der Klage, Priamos zu Füßen des Achilleus; dieser beweint seinen Vater und Patroklos. Nachdem Achilleus genug geweint hat, springt er vom Sessel empor, zieht Priamos in die Höhe, zeigt Erbarmen mit dem alten Mann und bittet ihn, sich auf den Sessel zu setzen und mit Klagen aufzuhören. Nach zwei kurzen Erzählungen, die das Geschick des Priamos in einen weiten schicksalhaften und mythischen Zusammenhang einordnen, wird die Szene mit einem Opfer und einem gemeinsamen Mahl beschlossen. Hier gehen im Grunde ein Klage- und Hikesieritual ineinander über, in jedem Fall jedoch wird das Ritual durch das Aufstehen und das (gemeinsame) Mahl beendet. Wesentlich in diesem Kontext ist allerdings das ‘Mitleid’ des Achilleus, das sich einerseits auf Priamos bezieht, der ihn an seinen eigenen Vater erinnert (ưȜƬƵơƲƺƮƱưƭƫɝƮƵƧƬɕƲƩƱưƭƫɝƮƵƧ ƥɗƮƧƫưƮ, 24.516), andererseits aber daraus entsteht, dass sich Achilleus auf das Menschenlos insgesamt besinnt, wie es in der nachfolgenden Geschichte thematisiert ist (24.527-551). Entscheidend für das Verständnis der Erzählung insgesamt ist jedoch, dass die Klage hier am Ende der Ilias nur Fortsetzung und Abschluss eines sehr viel ausführlicher dargestellten Klagerituals ist, nämlich der Klage des Achilleus im achtzehnten Buch, als er erfährt, dass Patroklos tot ist (18.22-144). Dort ist nunmehr auch der Beginn des Rituals genau dargestellt, wenn geschildert wird, wie sich Achilleus in der typischen Geste des Klagerituals Staub und Asche auf sein Haupt und über sein Kleid streut, das Haar rauft, selbst im Staube liegt. Zu ihm treten die Sklavinnen, klagen, schlagen sich die Brust, in der typischen weiblichen Gestik des Rituals, es klagt der Freund Antilochos und hält die Hände des Achilleus aus Angst, dass er sich umbringen könnte vor Schmerz (18.22-35). So laut aber war die Klage, dass Thetis auf dem Meeresgrunde sie hört, die ihrerseits in der typischen Weise, wie sie Frauen zukommt, die Klage noch auf dem Meeresgrunde beginnt. Dafür findet sich im Griechischen das Verb ƬɡƬƶƴƧƮ(18.36), Aoristform zu ƬƺƬɟƺ ‘laut aufschreien’, was den Klades Klagerituals im 23. Buch der Ilias vgl. Albinus 2000, 27-42. Zu den Bilddarstellungen der Auslösung Hektors vgl. Giuliani 2003, 168-186. Zum Klageritual vgl. Burkert 2003b, 14-16, wo auch der ‘Versöhnungsaspekt’ zwischen Achilleus und Priamos, der sich im gemeinsamen Mahl manifestiert, das gleichzeitig die Phase der intensiven Trauer des Achilleus beendet, angeführt ist.

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gegesang initiiert, nicht ‘schluchzen’, wie die Übersetzungen das Wort wiedergeben. Thetis ist umgeben von ihren Schwestern, den Nereiden, von denen der Dichter dreiunddreißig Namen anführt, die hier sozusagen den Klagechor bilden (18.37-51). Thetis aber klagt zu den Schwestern als wäre Achilleus gestorben, nennt sich Unglücksmutter des besten Mannes (ƦƶƴƣƲƫƴƵưƵɝƬƧƫƣ, 18.54) und erzählt vom kleinen Achilleus, der jetzt – erwachsen geworden – als Held Troia belagert und nie mehr nach Hause zurückkehren wird. Daraufhin steigt sie zusammen mit den Schwestern aus dem Meer, geht nach Troia zu Achilleus, umarmt den Sohn, spricht mit ihm über sein Leid und seinen Tod. Denn gleich nach Hektor ist auch Achilleus der Tod bestimmt (18.94-96). Hier ist im Grunde die Klage der Mutter und ihrer Schwestern um Achilleus bereits vorausgenommen. Später hat Pindar ausdrücklich davon erzählt, und die Vasenmaler haben anschaulich dargestellt, wie Thetis und die Nereiden, eine hinter der andern, zum Scheiterhaufen des Achilleus kamen, um ihn zu beklagen.47 Der Text ist so organisiert, dass er genau den Ablauf eines Klagegesangs und -rituals darstellt. Dazu gehören die Elemente des (schrillen) Schreiens, das sich besonders auf der weiblichen Seite findet, dass man sich mit Staub, Asche und sogar mit Kot beschmutzt, überhaupt am Boden und im Staub liegt, die Haare rauft, Wangen und Brust zerkratzt, die Gewänder zerreißt.48 Die Klage äußert sich im Gesang des Einzelnen und einer Gruppe, oft im Wechselgesang, dazwischen können Reden auf den Verstorbenen eingefügt sein, auch solche, die allgemein vom Los der Menschen erzählen.49 Später folgen die Einzelheiten zur rituellen Waschung und Aufbahrung des Leichnams, Prothesis (18.343-355), nachdem der Leichnam des Patroklos in einer eingefügten Kampfesszene eingeholt worden war. Auf diese Weise ist also die erste Hälfte des achtzehnten Buches weitgehend durch die rituelle Handlung, durch Klage und Vorbereitung der Prothesis strukturiert. Die einzelnen Erzählschritte sind in 47 Pi. I. 8.56a-60 (Klage der Musen); Thetis und die Nereiden (inscr.) beklagen Achilleus: Hydria des Damonmalers (570/60) Paris, Louvre E 643, LIMC s. v. ‘Achilleus’ I (1981) nr. 897. Eine Nereide hält eine Leier. Vgl. Bilder des trauernden Achilleus am Leichnam des Patroklos, dabei Thetis (inscr.) und weitere Mädchen (Nereiden?): LIMC s. v. ‘Achilleus’ I (1981) nr. 478 (550 v. Chr.); weitere Darstellungen sind später und wahrscheinlich von Aischylos’ Nereiden beeinflusst. 48 Burkert 1977a, 293-300, bes. 295-296. 49 Achilleus wird später eine Klagerede auf Patroklos halten, in der er seinen eigenen Tod voraussieht (18.334-342). Zur Klage des Achilleus vgl. Tsagalis 2004, 143-148.

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ihrer Abfolge durch das Ritual vorgegeben. Das Bestattungsritual wird später im dreiundzwanzigsten Buch mit der Totenklage der Myrmidonen beim Leichnam des Patroklos (23.6-23) fortgesetzt. Darauf folgen, wie das Ritual es vorgibt, Totenopfer und Totenmahl, die hier in zwei Teilen aufgeführt werden, einmal am Abend des Kampftages (23.24-34) und einmal nach der Errichtung des Scheiterhaufens am nächsten Tag, wo die Opfer, die Patroklos als Brandopfer mitgegeben werden, dessen soziale Stellung betonen, insofern auch Pferde, Hunde und besonders zwölf junge Troianer getötet und ganz verbrannt werden, wozu erst noch die zahlreichen Opfertiere kommen, die zum Totenmahl für die Lebenden dienen (23.161-183). Zum Ritus am Grab gehört auch die Libation. Hier dauert sie die ganze Nacht, während der Achilleus Wein ausgießt und den toten Freund beklagt (23.218-225). Am nächsten Morgen werden die Gebeine in einem goldenen Gefäß geborgen (ȀƮƸƲƶƴɗʤƷƫɕƭʤ, 23.243; 23.253), wobei Achilleus gebietet, dass er selbst auch im Grab des Patroklos bestattet werden soll. An dieser Stelle ist das eigentliche Bestattungsritual zu Ende (23.249256). Es folgen die Beschreibung der Siegespreise und Kampfspiele zu Ehren des Patroklos (23.257-897). Dazwischen ist in den Büchern neunzehn bis zweiundzwanzig dargestellt, wie Achilleus wieder in den Kampf eintritt und schließlich Hektor tötet. Der Tod ist die Rache an Hektor für die Tötung des Patroklos. Strukturell beobachten wir die Rahmung von Hektors Tötung durch das Klage- und Bestattungsritual, wodurch diese einen besonderen Sinn erhält. Hektor wird zur Beute und größten Ehrengabe für Patroklos. Die Form der Komposition schafft also ihrerseits Bedeutung für die Erzählung. Allerdings besiegelt Achilleus gleichzeitig sein eigenes Schicksal, das ihm Hektor sterbend nochmals voraussagt. Paris und Apollon werden ihn beim skaiischen Tor vernichten (22.355-366). Auf diese Weise wirft der Tod seinen langen Schatten auf den noch Lebenden, die Bestattung des Patroklos blendet gewissermaßen in seine eigene über, die sie vorausnimmt, der ‘unsterbliche Ruhm’, den er sich durch seine Heldentat erwirbt, erhält als Kulisse die menschliche Vergänglichkeit und leuchtet umso strahlender. Es sind also diese rituellen Strukturen der Klage und Bestattung, die die Erzählung großräumig organisieren, umso mehr als darin auch die weiteren Klagen eingefügt sind, die ihrerseits der strengen Ordnung der ritualisierten Klage, sei es des Einzelnen oder der Gruppe, folgen und die Verbindungen in der übergreifenden thematischen Struktur der Klage noch betonen. So verweist die Klage der Mutter Thetis im achtzehnten Buch auf

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diejenige des Vaters Peleus in Phthia, die dieser anstimmen wird, wenn er dereinst vom Tod des Sohnes erfährt.50 Es ist denn auch diese Klage des Vaters, die in der Szene zwischen Priamos und Achilleus im vierundzwanzigsten Buch ausführlich von Priamos selbst dargestellt wird und einen wichtigen Grund bildet, dass Achilleus Mitleid hat und den Leichnam Hektors schließlich herausgibt (24.486-506). Dennoch klingt die Raserei des Kriegers und Rächers in seiner Drohung an, dass er selbst Priamos nicht verschonen werde, wenn er ihn reize (24.568-570).51 Auf jeden Fall bilden jedoch die Klagen auf griechischer Seite das große Gegengewicht zu den Klagen Hekabes, des Priamos und der Andromache auf troianischer Seite um Hektor.52 Wie erwähnt, kann man als Ergebnis festhalten, dass der Text auf der Erzählebene insgesamt durch die rituelle Handlung des Klagens und der Bestattung organisiert wird, und zwar übergreifend von Buch achtzehn bis vierundzwanzig. Das Ritual schafft Handlung und Struktur. Wie die späteren Tragödien endet die Ilias gewissermaßen in einem großen Klagegesang, der den Untergang der ganzen Stadt auf troianischer Seite und den Tod des größten Helden auf griechischer Seite vorausnimmt.53 Doch dient die rituelle Handlung nicht allein zur Organisation der Erzählung, sondern verschafft dem Geschehen eine tiefere Dimension und 50

Klage der Thetis: Il. 18.50-77; Klage des Peleus: Il. 19.334-337; 22.419-422; 24.511-512 (Achilleus beklagt Peleus und Patroklos). Vgl. die Analyse der Klagereden bei Tsagalis 2004, 118-165. Es entsprechen sich die Klagen der Thetis und der Hekabe, des Peleus und des Priamos, der Briseis (die in der Klage um Patroklos diejenige um Achilleus vorausnimmt) und der Andromache, in gewissem Sinne auch die Klagen der Briseis und der Helena. 51 Giuliani 2003, 168-186, wo vor allem Bilder besprochen sind, die Achilleus beim exzessiven Fleischgelage zeigen, während unter ihm der Leichnam Hektors, meist mit ostentativ zur Schau gestellten Wunden, liegt. Diese Brutalität kommt in der Ilias zum Beispiel gegenüber dem flehenden Hektor zum Ausdruck, wenn Achilleus ihm droht, dass ihn die Wut dazu treiben könnte, ‘roh dein Fleisch, Stück für Stück abschneidend, zu verzehren, für alles, was du mir angetan hast’ (Il. 22.346-347). Das Bild spielt auf die (rituelle) Omophagie an, wie sie im Dionysoskult vorkommt und führt konsequent das Bild der kriegerischen ekstatischen (dionysischen) Mania weiter, die Achilleus gepackt hat, als er Hektor tötet. In einem ähnlichen furor tötet Aeneas Turnus am Ende der Aeneis. 52 Auch die Reaktion der Andromache auf die Todesnachricht ist in ritueller Form beschrieben, die dem dionysischen Bereich entstammt; vgl. Seaford 1994, bes. 301-311; vgl. auch Krummen 2004b, 51-54. 53 Dieses Beispiel zeigt auch, wie Handlung in einer in der Mündlichkeit verankerten Dichtung entsteht, aber auch zeitlos und vom historischen Geschehen unabhängig tradiert und jederzeit neu geschaffen werden kann.

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Bedeutung, denn die Helden sind einander schließlich gleich in ihrem menschlichen Los. Auch die größten Helden sind in ihrem Übermaß in das Menschsein gleichsam zurückgebunden, insofern sie sterblich sind. Gerade das auf die Wirklichkeit verweisende Ritual verleiht der Szene dramatische Spannung und Lebendigkeit, macht Achilleus, Priamos und Hektor als Menschen erfahrbar. Es wäre im Einzelnen zu untersuchen, inwiefern rituelle und kultische Strukturen die Erzählung der Ilias und anderer literarischer Texte organisieren und ihnen Bedeutung verleihen. Für die Antigone des Sophokles und den Oedipus auf Kolonos hat Walter Burkert selbst ein Beispiel gegeben.54 Sehr bedeutend sind Walter Burkerts Untersuchungen zur Beziehung der griechischen Kultur zu den Kulturen im Vorderen Orient, wie sie nicht erst in der Orientalisierenden Epoche (1984), sondern bereits auch in Structure and History (1979) vorgenommen und in Die Griechen und der Orient (2003d) weitergeführt worden sind. In der jüngeren Forschung sind gerade in den letzten Jahren zu diesem Thema mehrere Arbeiten unter den Begriffen ‘Akkulturation’, ‘Kulturtransfer’ oder ‘Begegnung mit dem Fremden’ erschienen, wo auch theoretische Modelle entwickelt worden sind, wie interkulturelle Kommunikation erfolgen kann.55 In diesem Zusammenhang hat man besonders auf die Bedeutung von Motivketten hingewiesen, die über weite Räume hin transferiert werden können. Damit würde man der Gefahr entgehen, zu Einzelphänomenen die Parallele im griechischen Bereich zu suchen und dann Abhängigkeit zu postulieren. Hier ist anzumerken, dass die historische Dimension gerade der Mythen genauer untersucht und die Frage gestellt werden sollte, was Mythen zu welcher Zeit leisten; es geht also auch hier um die Stichworte der (kulturellen) Funktion und Kontextualisierung (von Mythen und Kulten). Was den Ort der Vermittlung oder des ‘Kulturtransfers’ betrifft, sind heute – nach den jüngsten Grabungen und Publikationen in Kleinasien – ebenfalls neue Einsichten zu erwarten.56 Kleinasien ist das Gebiet, in dem die antike 54

Burkert 1985. Vgl. die Untersuchungen von Rollinger 2007; Rollinger 2001; mehrere Beiträge zur Akkulturation in Ulf 1996; vgl. darin zur Frage der Beziehung von Homer zum Orient Rollinger 1996. 56 Cobet/Niemeier/von Graeve 2007. Frühe Zeugnisse euböischer Alphabetschrift stammen sowohl aus der euböischen Kolonie Pithekoussai (Nestorbecher) als auch von Euboia selbst, wo in Eretria ein Graffito auf einem Keramikfragment aus dem Heiligtum 55

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Tradition Homer ansiedelt. Nicht zu vergessen sind die weiträumigen Beziehungen, in die auch andere Landschaften und Orte eingebunden sind. So erzählt Hesiod, wie er einmal von Aulis nach Chalkis auf Euboia gesegelt sei und sich dort bei den Leichenspielen des Amphidamas einen Dreifuß geholt und anschließend den Musen in Thespiai geweiht habe (Op. 653-658). Euboia aber bildet für Böotien das Tor zur weiten Welt.57

III. Kulte und Feste III.1 Einleitung Auf die Untersuchungen zu Kulten und Festen kann nur kurz hingewiesen werden.58 Auch hier hat Walter Burkert Entscheidendes geleistet, einmal in der sorgfältigen Aufarbeitung der Fakten, der Kultgeschichte, zum andern in der Darstellung der politischen und sozialen Funktionen insbesondere der Poliskulte, womit im Grunde die Themen, die heute unter dem Stichwort ‘Kommunikationssysteme’ besprochen werden, bereits vorausgenommen sind. Auf der Basis der sorgfältigen Dokumentation, wie sie Walter Burkert erstellt hat, könnten heute weitere Fragen aufgegriffen werden, wie zum Beispiel in der griechischen Polisreligion, die sich besonders durch ihre repräsentativen Feste und Prozessionen auszeichnet, die Verbindung von Macht, Ritual und gesellschaftlichem Wertesystem erfolgte, wie sie die Ritualforschung um Gerd Althoff für das Mittelalter modellhaft nachgewiesen hat.59 Wenn man andererseits Ritualkomplexe als “Handlungseinheiten, deren Regelmäßigkeiten in Handlungen nicht (biologisch) determiniert, sondern kulturell geschaffen sind und soziale Beziehungen widerspiegeln” (Axel Michaels) versteht, so wäre die kulturelle Bedeutung, aber auch die Wandelbarkeit der rituellen Handlungen und Inszenierungen im Kult und Fest der Polis zu prüfen.60 Es können sich des Apollon Daphnephoros gefunden worden ist (2. Hälfte 8. Jahrhundert v. Chr., LEBETO [S EMI], ‘ich gehöre dem Lebes’), in: Ducrey 2004, 82-83 mit Abb. Zum östlichen Einfluss bei Hesiod vgl. West 1997; Burkert 2003c (“Hesiod in Context. Abstractions and Divinities in an Aegean-Eastern Koiné”); Krummen 2008. 57 Dazu stimmt, dass auch die Schrift von Euboia nach Böotien gekommen sein muss, da Böotien das chalkidische Alphabet übernommen hat und nicht das attische. 58 Burkert 2010; Burkert 1972; Burkert 1977a. 59 Althoff 2003. 60 Michaels 2003, 3-7 zum Ritual als “distinkte Handlungsform” und den Merkmalen ritueller Handlungen, dazu gehören: 1. die Verkörperung von Handlungen in Zeit

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weitere Fragen anschließen, zum Beispiel, wie innerhalb des religiösen Rahmens die symbolische Kommunikation der Polis durch Rituale erfolgt oder wie die Vermittlung von Werten durch (rituelle) Inszenierung in der Öffentlichkeit geschieht. Von besonderem Interesse ist die Frage, in welchem Verhältnis Texte, insofern sie vorhanden sind, und Rituale der Polis stehen. Erschließen sich die Texte eher, wenn man diese kulturelle Symbolik berücksichtigt? III.2 Drittes Beispiel: Text und festlicher Kontext: Alkmans Louvre-Partheneion Als Beispiel, wie dieser theoretische Hintergrund zu einem neuen Verständnis eines gut bekannten und etwas rätselhaften Textes, der in ein kultisches und festliches Geschehen eingebunden ist, führen kann, diene das Louvre-Partheneion Alkmans (fr. 1 PMGF = fr. 3 Calame).61 Im Text ist auf kultisches Geschehen angespielt, doch ist nicht ganz klar, um welches Fest es sich dabei handelt. Zwar ist in Vers 61 eine Göttin, Orthria, genannt, die aus lautgesetzlichen Gründen jedoch gerade nicht mit (Artemis) Orthia zu verbinden ist, die in Sparta einen berühmten alten Kult besessen hat.62 Später im Gedicht heißt dieselbe Göttin Aotis (87), die mit Aos oder Eos, der Morgenröte, gleichzusetzen ist. Allerdings ist nirgends und (meist öffentlichem) Raum, die Performativität, 2. die Förmlichkeit, die jedoch immer der Tendenz der Veränderung unterliegt, 3. Rahmung (Abgrenzung in Zeit und Raum mit festem Beginn und Ende, definiertem Ort, Zweckgebundenheit), 4. Transformation und Wirksamkeit, besonders in Bezug auf Statusänderung, die durch das Ritual bewirkt wird, 5. Überhöhung, indem die Handlungen, Personen, etc. ein Mehr an Bedeutung erhalten, häufig im Sinne einer Transzendenz. Das Zitat Michaels 2003, 7. 61 Für Einzelheiten vgl. die Kommentare von Hutchinson 2001; Calame 1983 und den Aufsatz von Puelma 1977. Zur Aufführung vgl. auch Stehle 1997, 30-39, 71-118. Eine Bibliografie findet sich bei Gerber 1994. 62 Die Gleichsetzung von Orthria mit (Artemis) Orthia ist deshalb nicht möglich, da ‘r’ nicht ersatzlos verschwinden kann. Offen bleibt, ob die Mädchen (Alkman) den Namen Orthia etymologisieren und eine Assoziation von Orthria (‘Morgen’, ‘Morgendämmerung’, ȍ ȬƲƪƲɛƣ UE ɉƲƣ, ‘Zeit vor Tagesanbruch’, ‘früher Morgen’) mit (Artemis) Orthia intendiert ist. Im Heiligtum der (Artemis) Orthia fanden sich Darstellungen von Reigentänzen, darunter auch eine Figurengruppe mit Leier. Auch der früheste bisher bekannte Fund eines Aulos stammt aus dem Orthiaheiligtum, datiert Mitte 7. Jahrhundert mit der Weihinschrift ƄƔƙƄƇƄƖƒƕ ƖƄƌ ƒƔƋƌƄƌ. Reigentänze und Figurengruppe mit Leier bei Margreiter 1988, 53 mit Tf. 25 bes. Abb. 294 und Tf. 26 Abb. 302-305. Aulos: Moustaka 2001, 132. Tanzszenen auf einer Pyxis aus dem Apollonheiligtum in Amyklai und eine kleine Lyra aus Bronze, noch aus geometrischer Zeit, bezeugen die Bedeutung von Tanz und Musik auch in andern Kulten Spartas im 7. Jahrhundert v. Chr.

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bezeugt, dass Eos über einen Kult mit Opfern verfügt hätte. Dass es jedoch um eine festliche Aktualität geht, für die der vorangehend erzählte Mythos von den Hippokoontiden den großen heroischen Hintergrund bildet, ist durch die konventionelle Einleitungsformel (ȀƥɠƮ Ʀˡ ǰƧơƦƺ ..., 39-40) deutlich gemacht, die die Hinwendung zur Gegenwart und zum aktuellen Singen (Verbform in der ersten Person Präsens) markiert. Vor diesem Hintergrund der festlichen Aktualität erhalten die prominenten Themen des Textes (die mythische Erzählung von den jungen Kriegern und Reitern, den Hippokoontiden, die Pferdemetaphorik, die sich auf die kostbarsten Pferderassen bezieht und dazu dient, die Schönheit der jungen Mädchen zu preisen (45-59), die prächtige Ausstattung der Mädchen (6477), das Lied und der Preis des Festes (78-101)) ihren besonderen Stellenwert und erweisen sich als Teile eines umfassenden Zusammenhangs. Wie bedeutend es für das Verständnis des Gedichts ist, diesen kultisch-festlichen Kontext in der Interpretation zu berücksichtigen, mögen die Verse illustrieren, die von der Ausstattung der jungen Mädchen, die den Chor bilden, erzählen (64-73). Man versteht die Verse traditionell als bloße Aufzählung und Neckerei unter jungen Mädchen, die sich über ihre Kleider und ihren Schmuck unterhalten. Es sind Purpurgewänder (ưȼƵƧ ƥɕƲƵƫƱưƲƷɟƲƣƳƵɝƴƴưƳƬɝƲưƳ, 64-65),63 eine kunstvoll gefertigte Armspange ganz aus Gold in Form einer Schlange (ưȼƵƧ ƱưƫƬơƭưƳ ƦƲɕƬƺƮ  ƱƣƥƸƲɟƴƫưƳ,66-67), eine lydische Mitra (ưȸƦɖvơƵƲƣƎƶƦơƣ 67-68) und die schönen Haare und Frisuren erwähnt, dazu kommt eine Namenliste der Mädchen. Zwar ist hier nacheinander von Kleidern und Schmuck die Rede, doch jedes einzelne Mädchen verfügt in höherem oder geringerem Maße über alle Dinge, die genannt werden. Somit ist ein Mädchen schöner und prachtvoller ausgestattet als das andere. Alle sind sie in purpurne Festgewänder gekleidet, tragen goldene kunstvoll gefertigte Armspangen, einen Kopfschmuck (Mitra), der sie majestätisch erscheinen lässt, sie haben glänzendes Haar wie Nanno, denn man hat die Haare eingeölt, damit sie glänzen, sind göttergleich wie Areta, schön wie Thylakis und Kleesithera, anziehend wie Astaphis, Philylla, Damareta, Vianthemis (7077). Doch mit dieser gesamten Ausstattung können sie nicht mit Hagesichora oder Agido konkurrieren. 63 ƍɝƲưƳ ‘Reichtum’, ‘Fülle’, etwas so reichlich zur Verfügung haben, dass es bis zur vollständigen ‘Sättigung’ reicht (wobei dann leicht die Grenze zum Überdruss, Ekel überschritten werden kann).

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Der tiefere Sinn dieser Passage erschließt sich, wenn man weitere Zeugnisse aus der Literatur und Kunst heranzieht, die das Auftreten junger Mädchen und Frauen beim Fest illustrieren. Praktisch zeitgleich mit Alkman sind die Zeugnisse bei Alkaios und Sappho. Alkaios (fr. 130b Voigt = 130 L.-P.) spricht von den ‘Lesbierinnen’, die sich ‘mit ihren langen Gewändern’ (ȀƭƬƧƴɛƱƧƱƭưƫ, fr. 130b.18 Voigt = 130.33 L.-P.) im Heiligtum der Hera versammeln. ‘Diese umtönt mächtig der göttliche Gesang der Frauen’ (ƱƧƲɚƦɖƤƲɗvƧƫǴƸƺƪƧƴƱƧƴɛƣƥƶƮƣɛƬƺƮ, fr. 130b.18-19 Voigt = 130.33-34 L.-P. 64 Sappho erwähnt die Farbenpracht der Gewänder, spricht von einem safranfarbenen und einem purpurfarbenen Gewand oder persischen Kleidern (fr. 92 Voigt = 92 L.-P.), von purpurfarbenen Bändern, die sich die Mädchen ins Haar geflochten haben, dazu Veilchen- und Rosenkränze, während sie Blumen und Blüten in den Händen halten, die duften (fr. 94.12-17 Voigt = 94.12-17 L.-P.; vgl. fr. 98 Voigt = 98 L.-P.).65 Wiederum nach Sparta zurück führt das Zeugnis in Aristophanes’ Lysistrate, wo der Luxus der Gewänder der jungen Mädchen beim Kanephorenfest in Sparta beschrieben ist.66 Ähnliches finden wir auch in der Kunst. In der Vasenmalerei sind die Prozessionen von festlich gewandeten Männern und Frauen sehr verbreitet. In unserem Zusammenhang vermitteln allerdings die vielen Korenstatuen in den Heiligtümern eine bessere Anschauung, die ebenfalls genau diejenigen Attribute zeigen, wie sie bei Alkman, Alkaios und Sappho beschrieben sind. Die Koren tragen Kopfschmuck, an ihren Armen sind (aufgemalte) Armbänder zu sehen, darunter auch schlangenförmige; dazu kommen die kunstvoll hergerichteten Frisu64 Hutchinson 2001, 192-194, 212-214. Vgl. auch Sappho fr. 152 Voigt = 152 L.-P. (... ƱƣƮƵưƦɕƱƣƫƴƫ vƧvƧƫƸvɗƮƣ ƸƲưɛƣƫƴƫƮ das Gewand, das ‘mit verschiedenen Farben gefärbt war’). 65 Vgl. Asius von Samos (6. Jahrhundert v. Chr.?) bei Duris FGrH 76 F 60 apud Ath. 12.525 (= fr. 13 Bernabé), der vom Luxus der Ionier bei Festen erzählt und eine Prozession der Samier ins Heraheiligtum schildert. Hier sind ebenfalls die schön gekämmten Haare, die schönen Gewänder (ƱƧƱƶƬƣƴvɗƮưƫƧȡvƣƴƫƬƣƭưʴƳ), weiße Chitone (ƸƫưƮɗưƫƴƫ ƸƫƵːƴƫ), die bis zum Boden reichen (ƱɗƦưƮ ƸƪưƮɜƳ ƧȸƲɗưƳ ƧȢƸưƮ), goldener Kopfschmuck, goldener Haarschmuck, der nach Art der Zikaden gewirkt auf dem Kopf der Mädchen sitzt (ƸƲɟƴƧƫƣƫƦɖƬưƲɟvƤƣƫȀƱˡƣȸƵːƮƵɗƵƵƫƥƧƳɉƳ), kunstvolle Arm- oder Halsbänder (ƦƣƫƦƣƭɗƣƳƦɖƸƭƫƦːƮƣƳǴƲˡǰvƷɚƤƲƣƸɛưƴˡȅƴƣƮƵƧƳ) aufgeführt. 66 Ar. Lys. 1189-1193: ‘Von bunten Decken, (purpurnen) Umhängen (Obergewändern), safranfarbenen Prachtgewändern und goldenem Schmuck gebe ich – so viel ich habe – ohne Neid den jungen Mädchen zu tragen ...’ (ƴƵƲƺvɕƵƺƮ Ʀɖ ƱưƫƬɛƭƺƮ Ƭƣɚ ƸƭƣƮƫƦɛƺƮ Ƭƣɚ ƯƶƴƵɛƦƺƮ Ƭƣɚ ƸƲƶƴɛƺƮ ȱƴˡ ȀƴƵɛ vưƫ ưȸ ƷƪɝƮưƳ ȄƮƧƴƵɛ vưƫ Ʊʗƴƫ ƱƣƲɗƸƧƫƮƷɗƲƧƫƮƵưʴƳƱƣƫƴɛƮ). Eine sorgfältige Analyse der Beziehung zwischen Aristophanes’ Lysistrate und Alkmans Partheneion findet sich bei Bierl 2007b, bes. 274-278.

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ren, wobei vor allem die spartanischen Koren für ihr üppiges, lang den Rücken herunterfallendes Haar berühmt waren.67 Auf diesem Hintergrund zeigt sich, dass Alkman genau diejenigen Elemente nennt, die für das festliche Auftreten junger Mädchen und Frauen relevant sind. Dazu gehören neben Kleidern und Schmuck das in den folgenden Versen thematisierte Singen der Mädchen und das Auftreten als Chor im Rahmen des kultischen Festes im Heiligtum. Die Ausstattung zeigt jedoch nicht nur die Schönheit der Mädchen, sondern auch den Reichtum und Luxus, über den die einzelnen Familien und die Polis verfügen, die ökonomische Prosperität und die weiten Handelsbeziehungen.68 Purpurgewänder sind äußerst kostbar, die Mitra kommt aus Lydien, vielleicht aus Sardis, das für Mode und Flair eine Rolle spielte wie in späterer und moderner Zeit ‘Paris’. Auch die zuvor genannten enetischen, kolaxaischen und ibenischen Pferde, die in der Pferdemetaphorik angeführt werden (50-59), fügen sich ins Bild. Sie illustrieren denselben Luxus und dasselbe soziale Prestige. Sie sind kostbarster Besitz der (jungen) Männer, die sich mit den zu Beginn genannten Hippokoontiden identifizieren können und vielleicht als Reiter beim Fest aufgetreten sind.69 Die besprochene Passage über die Ausstattung der Mädchen gibt also gleichsam ein Bild des Festes wieder, ist wie eine ‘Fotografie’, die paradigmatisch darstellt, was im Fest wichtig ist.70 Man sollte also Alkmans 67 Karakasi 2003. Vgl. auch samische Korenstatuen, die stets viele Zöpfe tragen, die über Rücken, Schultern und Brust fallen, frühestes Beispiel um 640/30 bei Karakasi 2003, Tf. 27; zu Armbändern vgl. z. B. Kore Akropolis 670, Karakasi 2003, Tf. 152-153, 258, das Armband hat die Form einer Schlange. Die Akropoliskoren tragen alle reichen Schmuck, der zum Teil aufgemalt ist. Zu Gewändern und Ornamenten vgl. Karakasi 2003, Tf. 238, 245, 248 (Koren von der Akropolis, mit Farbzeichnungen). Zur Ausstattung der Koren vgl. auch Richter 1968. Zur Bedeutung der Koren vgl. Schneider 1975, bes. 11-18. 68 Vgl. Burkert 1975 (“Rešep-Figuren, Apollon von Amyklai und die Erfindung des Opfers auf Zypern”), wo die Handelsbeziehungen Spartas nach Osten, in diesem Fall besonders nach Zypern, zur Sprache kommen. 69 Bei Solon fr. 17 G.-P. (= 23 West) wird derjenige glücklich gepriesen, der ‘Kinder’ (Söhne), Pferde, Hunde und einen Gastfreund besitzt. Menschen, insbesondere Töchter und Söhne, haben einen gewissen ‘Sachcharakter’, sie treten als ‘Werte’ der Adelsgesellschaft und der Polis im Lied und Bild auf. Zum Pferd als Luxusgut vgl. Giuliani 2003, 77-78. Zur Bedeutung von Frauen- neben Pferdebildern auf archaischen Vasen vgl. Schneider 1975, 40-45, wo auch Alkmans Louvre-Partheneion angeführt ist. Frauen und Pferde gehörten zu den Repräsentationsobjekten der Adelsgesellschaft (42). 70 Wie übrigens im Bild die einzelnen Figuren nacheinander dargestellt sind, so wird auch hier im Lied die Aufmerksamkeit des Betrachters nacheinander auf jedes einzelne Mädchen gelenkt. Erst zusammengenommen ergeben sie das ganze festliche Bild.

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Gedicht und insbesondere diese Passage als ein ‘Zustandsbild’ oder ‘Abbild’ dieser festlichen Wirklichkeit lesen und nicht etwa bloß narrativ in dem Sinne, dass erzählt sei, worüber sich junge Mädchen streiten (nämlich über Kleider und Schmuck). Die Ausstattung und Schönheit der jungen Mädchen hat eine Bedeutung, die weit über die Mädchengruppe und die Gegenwart hinausgeht. Was bei den Menschen am schönsten ist, soll im Heiligtum der Göttin (oder des Gottes) aufgestellt oder dargebracht werden, damit der Gott sich darin wieder findet und weiteres Gedeihen gibt. Die Mädchen sind das wandelnde Ebenbild der Koren im Heiligtum, diese wiederum verewigen die jungen Mädchen. Alkmans Gedicht hat somit einen großen Öffentlichkeitscharakter. Es bringt die jungen Mädchen, aber auch die jungen Männer, der stolzeste Besitz der Polis, im Fest zusammen. Das Auftreten und Lied der jungen Mädchen ist Teil einer vermutlich weit umfassenderen rituellen Handlung beim Fest.71 Es kommt darin jeVgl. noch Demokritos von Ephesos (ca. 250/200) im ersten Buch ‘Über den Tempel in Ephesos’, wo verschiedene Arten von Gewändern aufgezählt sind, die in vielerlei Farben gehalten sind, darunter auch purpurne (Ƶɔ Ʀɖ ƵːƮ ȤɡƮƺƮ ȜưƤƣƷʦ Ƭƣɚ ƱưƲƷƶƲʗ Ƭƣɚ ƬƲɝƬƫƮƣ˂ɝvƤưƫƳȹƷƣƮƵɕ) und solche, die von weither kommen, zum Beispiel von Korinth (ƬƣɚƬƣƭƣƴɛƲƧƫƳƍưƲƫƮƪƫưƶƲƥƧʴƳ), oder auch persische Gewänder, die die schönsten von allen sind (ƓƧƲƴƫƬƣɚ ƬƣƭƣƴɛƲƧƫƳ ƣȡƱƧƲ ƧȜƴɚ ƬɕƭƭƫƴƵƣƫ ƱƣƴːƮ), FGrH III A 267 F 1 bei Ath. 12.525cd. 71 Im unmittelbaren Kontext ist davon die Rede, dass die jungen Mädchen (der Chor) ‘der Orthria ein Gewand (ƷʗƲưƳ) bringen’ (61). Diese Passage hat der Interpretation stets Schwierigkeiten bereitet, erhellt sich jedoch vor dem oben beschriebenen Hintergrund der festlichen Ausstattung der jungen Mädchen, zu dem sie genau stimmt und hinführt. ƘʗƲưƳ ist das weite Obergewand, auch das purpurfarbene Festgewand. ƘƧƲưɛƴƣƫƳ benötigt ein Objekt, dafür kommt nur Orthria (Dativ) in Frage, die also personifiziert sein muss und mit Aotis (87) gleichzusetzen ist. Aotis oder Eos ist im Epos und in der Lyrik eine Göttin, die sich morgens von ihrem Lager mit Tithonos erhebt; sie ist nicht nur ‘rosenfingrig’, sondern hat auch einen safranfarbigen Peplos (Il. 19.1-2) oder andere feine Gewänder (Antimachos fr. 117 Wyss), goldene Sandalen (Sappho fr. 103.10 Voigt = 103.13 L.-P.; fr. 123 Voigt = 123 L.-P.), schöne Zöpfe (Od. 5.390), ein weißes Gesicht (E. El. 102), einen leuchtenden Blick (Sappho fr. 104 Voigt = 104.1 L.-P.); somit verfügt sie über alles, was im Folgenden auch für die jungen Mädchen von Interesse ist. Die Stelle ist am besten als Gestirnsmetaphorik zu verstehen, eingeleitet durch das Subjekt ‘die Peleiaden’ (für Agido und Hagesichora) ‘wetteifern (vɕƸưƮƵƣƫ) mit uns (ǷvƫƮ), die wir der Orthria das Gewand bringen ...’; die Mädchen (der Chor) stilisieren sich als Sterne oder gleichsam ‘Dienerinnen’ der Morgenröte, die ihr das (purpurne) Gewand wie eine rituelle Morgengabe bringen, der Himmel rötet sich, die Sterne verblassen, nur die hellsten Sterne sind zuletzt noch sichtbar. Die Metapher leitet die Passage zur Ausstattung der Mädchen ein, die mit dem Stichwort ‘Purpur’ (64) beginnt. Der himmlische ‘Purpur’ erscheint gleichsam an den Mädchen, die auf Erden die göttliche Aotis spiegeln. Doch die Fülle an Purpur (ƵɝƴƴưƳƬɝƲưƳ) reicht nicht aus, sich einerseits gegen den Purpur am Himmel und andererseits gegen die Schönheit einer Hagesichora (und Agido) zu behaup-

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doch sehr deutlich zum Ausdruck, wie durch die rituelle Handlung und das Fest Werte, aber auch Status und Macht der Polis, die sich im ökonomischen Vermögen ihrer Bürger darstellt, sichtbar gemacht werden. Im Lied wird erfassbar, wie diese Werte und Normen im Fest und Ritual legitimiert werden. Deutlich zeigt sich jedoch auch, welche Autoritäten und Institutionen hinter dem Fest, dem Ritual, dem Lied stehen. Es handelt sich in diesem Kontext vor allem um die Institution des Chores, in dem die paideia, die Bildung und Erziehung der jungen Mädchen und jungen Männer erfolgte. Es wird auch in der Rekurrenz auf den lokalen Mythos der Hippokoontiden zu Beginn des Liedes bereits sichtbar, wie in einer auf mündliche Überlieferung basierenden Gesellschaft Wissen und Geschichte vermittelt wird, nämlich im Gesang, der das kulturelle Gedächtnis der Gemeinschaft bildet.72 Anschaulich wird dargestellt, wie sich die Polis in den immer wiederkehrenden Festen ihrer Geschichte und Identität versichert, und den jungen Menschen, die diese Lieder singen, ihrerseits ihre Identität und durch das Auftreten im Fest auch ihren (künftigen) Status als Bürger und Bürgerinnen dieser Polis gibt.73 Was zunächst als ein zwar interessantes, jedoch nicht näher erfassbares Zeugnis eines lokalkultischen Geschehens erschien, erweist sich schließlich als ein Text mit weitreichendem Öffentlichkeitscharakter. Es gibt nur wenige Zeugnisse, die uns ein so deutliches Bild vom Festgeschehen einer frühen griechischen Polis vermitteln. Im prachtvollen Fest ten (ǰvɟƮƣƫ). Ob der Metapher ein reales Festgeschehen (Darbringen eines Festgewandes) entspricht, muss offen bleiben. Ein Kult der ‘Eos’ jedenfalls ist nirgends bezeugt, doch das Darbringen von Gewändern ist bereits in der Ilias bekannt (Il. 6.286-310). 72 Typisch für eine noch in der Mündlichkeit verhaftete Gesellschaft ist, dass die Geschichte sich in der Topografie gleichsam ‘ablesen’ lässt, insofern die Hippokoontiden in ihren Gräbern und zugehörendem Heroenkult ‘sichtbar’ bleiben; in der Nähe gibt es eine Statue des Herakles, die ihn als Krieger zeigt; bei einer andern alten Heraklesstatue opfern die Sphaireer, wenn sie anfangen ‘zu den Männern zu gehören’. Das Umfeld der Hippokoontiden ist also ephebisch und athlethisch, in der Nähe befinden sich auch die Dioskuren; vgl. Paus. 3.14.6-7; 3.15.1. Herakles ist als Krieger und Patron der militärischen Jugend mehrfach belegt. 73 Vgl. ergänzend Bierl 2007b, der ebenfalls die Bedeutung dieses Partheneions für die Polis betont und darauf hinweist, dass sich das Fest für Orthria in eine ganze Gruppe weiterer Feste der Polis einordnet (274). Fest und Lied spielen ihre Rolle auch bei der Initiation der jungen Menschen, besonders bei der Vorbereitung der Mädchen auf die Hochzeit. Das Fest fügt sich in den politischen Kosmos der Polis und in die Ordnung des Universums ein, worin sich nochmals eine Parallele zum Schluss der Lysistrate zeigt, die mit der Wiederherstellung der ehelichen und politischen Ordnung und des Friedens endet (S. 280).

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inszeniert sich die Polis; davon gibt das Gedicht Alkmans ein lebendiges Abbild. Es ist also ‘deskriptiv’ zu verstehen, nicht etwa ‘narrativ’, indem es wiedergäbe, was junge Mädchen plaudern. Die Souveränität, mit der die jungen Mädchen in der Öffentlichkeit auftreten, ist erstaunlich und findet ihre Parallele in den Gedichten Sapphos, die auf diese Weise nicht mehr isoliert erscheinen. Dennoch bleibt der Blick auf die Mädchen ein männlicher, insofern sie Besitz und Prestige der Stadt und ihrer Bürger symbolisieren, nicht anders als die kostbaren Pferde und der Sieg im Wettkampf, von dem in diesem Gedicht geträumt wird. Darüber hinaus zeigt sich die hohe kulturelle Bedeutung einer rituellen festlichen Handlung, die gewissermaßen durch den Text ‘dokumentiert’ oder besser gesagt, in der spezifischen Situation durch das Lied ‘gespiegelt’ wird. In diesen ‘Spiegel’ können wir gerade noch blicken. Dieser ‘Ritualkomplex’ jedoch ist in hohem Masse kulturell und nicht biologisch determiniert, insofern er aus einer bestimmten Tradition hervorgeht und diese weitergibt, indem er sie gleichzeitig gestaltet. Gerade in der Frage, wie die Relation von Text und ritueller oder kultisch-festlicher Handlung, in die der Text eingebunden ist, gestaltet ist, liegt noch viel Potential für künftige Forschung.

IV. Zusammenfassung Die in diesem Beitrag angesprochenen Werke von Walter Burkert demonstrieren eine Fülle von Wissen, eine ausgezeichnete Darstellung großer Linien und geben – oft auf knappem Raum – eine sehr gute Übersicht über ein komplexes Gebiet. Eine weiterführende Diskussion könnte insgesamt am ehesten im theoretischen Bereich erfolgen, der es erlaubt, Material unter anderen und neuen Gesichtspunkten zu sehen und zu ordnen. Doch im Grunde kann man sagen, dass mit Walter Burkerts Arbeiten geschehen ist, was idealerweise geschehen soll. Die Darstellung und Ergebnisse der Untersuchungen werden in die Forschungsdiskussion integriert, die sich danach auf verschiedenen Ebenen weiterentwickelt. Auf jeden Fall kommt den Monografien und Aufsätzen von Walter Burkert als großes Verdienst zu, dass sie die Aufmerksamkeit auf verschiedene grundlegende Bereiche der antiken Kultur gelenkt haben, so dass diese Gebiete das Interesse der Forschung gefunden haben und wieder in Diskussion kamen.

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SUSANNE GÖDDE Unschuldskomödie oder Euphemismus. Walter Burkerts Theorie des Opfers und die Tragödie

I. Opfer und Tragödie – (k)ein Thema in Burkerts Werk? In der ‘Erfahrung des Todes’ haben nach Walter Burkerts Auffassung Opfer und Tragödie eine zentrale Gemeinsamkeit, sind sie strukturell und genetisch aneinander gebunden. Aus Burkerts Gesamtwerk ragt seine Opfertheorie als einer der wichtigsten und wirkmächtigsten Beiträge hervor, die zu diesem Thema im 20. Jahrhundert erarbeitet wurden. Die Verbindung von Aggression und Gesellschaft, von Blutvergießen und religiöser Moral, von Leben und Tod, der diese Theorie – in der Folge von Sigmund Freud sowie unter Rückgriff auf Karl Meuli und Konrad Lorenz – nachgeht, übt seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eine unverminderte Faszination auf Anthropologen, Religionswissenschaftler, Literatur- und Theaterwissenschaftler aus. Das religiöse Opfer wird bei Anthropologen oder Soziologen, die sich diesem Thema im 20. Jahrhundert gewidmet haben, jenseits seiner kommunikativen Funktion zwischen der Welt der Menschen und der der Götter zu einem komplexen ideologischen oder metaphorischen Mechanismus, in dem sich in nuce Begründung und Struktur von Kultur und Gesellschaft niederschlagen. Nach der totemistischen Opfertheorie von William Robertson Smith (zuerst 1889) und der funktionalistisch geprägten Studie der beiden französischen Soziologen Marcel Mauss und Henri Hubert aus dem Jahr 1899 legten erst 70 Jahre später Walter Burkert und René Girard zeitgleich – 1972 – ihre Arbeiten zum Zusammenhang von Opfer und Kultur vor: Burkert mit Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten, Girard mit dem Buch La violence et le sacré (dt. Das Heilige und die Gewalt).1 Nicht diese zentralen Entwürfe jedoch sind Thema des vorliegenden Beitrags, sondern ihre Berührungspunkte mit einer literarischen Gattung, 1 Zu Burkerts eigener Beurteilung der Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Werke vgl. Burkert 1985, 8; 1984, 19, 33-34; einen Überblick über die für die altertumswissenschaftliche Forschung relevanten Opfertheorien gibt Bierl 2007, 33-37.

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die offenbar – so zumindest in der modernen Wahrnehmung – mehr als alle anderen um das Thema des Opfers und der in ihm sich ausdrückenden Gewalt kreist: die Tragödie. Während Girard sein Theorem der Gründungsgewalt, die sich in der Austreibung des Sündenbocks aus der Gemeinschaft manifestiere, vor allem an zwei antiken Tragödien – dem König Ödipus des Sophokles und den Bakchen des Euripides – exemplifiziert,2 formuliert Burkert seine spätere Opfertheorie erstmals in Verbindung mit der Frage nach dem Ursprung der Tragödie. Denn die ersten Vorläufer der Opfertheorie des Homo Necans von 1972 finden sich bezeichnenderweise in einem Aufsatz zur griechischen Tragödie aus dem Jahre 1966 – ein Aufsatz, der einen völlig neuen Blick auf die Tragödie ermöglichte, indem er ins Zentrum dieser Gattung, die bisher als Ausweis eines ethisch hochwertigen Menschenbildes galt, den opfernden, den tötenden Menschen, den homo necans rückte. Die Rede ist von Burkerts Studie “Greek Tragedy and Sacrificial Ritual”, die 1966 in den Greek, Roman and Byzantine Studies erschien und 1990 unter dem Titel “Griechische Tragödie und Opferritual” in der viel zitierten Aufsatzsammlung Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen mit einem Vorwort von Glenn Most in deutscher Übersetzung neu herausgegeben wurde. Wenn, ausgehend von dieser Arbeit, die Verbindung von Opfer und Tragödie den Fokus dieser Untersuchung abgeben soll, so stellt dieses Arbeitsprogramm in gewisser Weise eine Abweichung von Burkerts eigenem Werkverlauf dar. Denn der Faden des Aufsatzes von 1966, der sogleich näher betrachtet werden soll, wird von Burkert nicht erneut aufgenommen. Zwar haben ihm die Tragödien immer wieder wichtiges Material für die so genau analysierten Ritualverläufe geliefert, doch sind in seinem weiteren Werk bis heute, gemessen an der immensen Publikationstätigkeit, relativ wenige, nämlich nur sechs Aufsätze zur Tragödie entstanden.3 Unter diesen wird das Thema des Tieropfers lediglich in einer Studie (Burkert 1985) erneut aufgegriffen, allerdings ohne den Versuch, die kulturtheoretische Relevanz des Opfers, wie dies Girard getan hat, auch in der Tragödie dingfest zu machen.4 Gleichwohl soll hier das Ex-

2 Zur Kritik an Girards Tragödien-Lektüren vgl. Foley 1985, 51 mit Anm. 63 (dort weitere Literatur) und 57; vgl. auch unten Anm. 31. 3 Burkert 1974; 1985; 1990; 1993; 1999; 2000. 4 Genaueres zu Burkert 1985 unten Anm. 19 und das Kapitel “‘Nicht-Gewalt’. ‘Unschuldskomödie’ oder ‘mensonge’”; in dem Aufsatz von 1999 untersucht Burkert

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periment unternommen werden, nach dem Ertrag der Burkertschen Opfertheorie auch für die Deutung der tragischen Opfermetaphern zu fragen. Der von Meuli geprägte und von Burkert aufgegriffene Terminus der ‘Unschuldskomödie’, enthält, so wird zu zeigen sein, bei aller Fraglichkeit seiner christlichen Konnotationen, Implikationen, die die spezifische Bearbeitung menschlicher Gewalt in der antiken Tragödie genauer beleuchten können.

II. ‘Geilheit und Gestank’ – Griechische Tragödie und Opferritual Burkerts Aufsatz von 1966 kommt wissenschaftsgeschichtlich in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung zu: Zum einen ist Burkert, zumal in Deutschland, einer der ersten Altertumswissenschaftler, der nach den gescheiterten Versuchen der ‘Cambridge Ritualists’, als Formschema der Tragödie ein rituelles Muster ausfindig zu machen, den Zusammenhang von Tragödie und Ritual erneut und luzide erarbeitet hat.5 Zum anderen ist er für mehrere Dekaden einer der letzten Forscher, der auf die seit der Antike drängende Frage, was denn die Tragödie mit Dionysos zu tun habe – also das sprichwörtliche und umstrittene ouden pros ton Dionyson6 – mit dem Versuch einer Ursprungs-Rekonstruktion, nämlich der Hypothese Analogien zwischen den Ritualbestimmungen der Lex Sacra von Selinus und dem Reinigungsritual in Aischylos’ Orestie. 5 Für die angelsächsische Forschung kommt dieses Verdienst Froma Zeitlin zu (1965). Die deutsche Tragödienforschung des 20. Jahrhunderts hat Bezüge auf Rituelles bis in die 60er Jahre hinein strikt gemieden. Die Rekonstruktion der Ursprünge im Tragödienbuch von Max Pohlenz von 1930 geht zwar auf die durch den Terminus tragôdia aufgerufenen ‘Bockssänger’ ein, ignoriert aber deren rituelle Implikationen. Pohlenz spricht lediglich von “gottesdienstlichem Drama” und sieht die Leistung der Tragödie in der dem attischen Geist vorbehaltenen Veredelung der dionysischen Ekstase (1930, 9 und passim). Auch Harald Patzer konstruiert wenige Jahre vor Burkerts Aufsatz die Tragödie als “theologisches Paradeigma” und “Hymnos auf das Göttliche überhaupt” (Patzer 1962, 134) und kann keine Verbindung zwischen der Etymologie der Gattungsbezeichnung, also dem Bock, und dem Wesen der Tragödie sehen (Patzer 1962, 11). Die wenigen Vorläufer, die zu nennen sind (Pickard-Cambridge, Nilsson, Else), nehmen das Bocksopfer nicht in der Weise ernst, wie Burkert es fordert (vgl. den Überblick in Burkert 1966 [1990], 30 Anm. 2. – Die Zitate aus diesem Aufsatz beziehen sich im Folgenden immer auf die Übersetzung von 1990 und werden im Text durch Seitenzahlen in Klammern ausgewiesen.) – Zur grundsätzlichen Einordnung von Burkerts anthropologischer Beschäftigung mit der Antike siehe Schlesier 1994, 322-324 und passim. 6 Dazu Winkler/Zeitlin 1990; Bierl 1991; Schlesier 1995.

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eines Bocksopfers für Dionysos am Beginn der Tragödie, antwortet. Strukturalistische Interpretationsschemata haben in der Tragödiendeutung sehr bald nach Burkerts Versuch die evolutionistischen für einige Jahrzehnte verdrängt. Zu schwierig war das Gelände, auf dem die Forschung anhand der spärlichen Zeugnisse, unter denen das wichtigste das 4. Kapitel der Aristotelischen Poetik ist, von den vordramatisch-burlesken Tänzen zur ‘reifen’ und ernsten Tragödie voranzuschreiten suchte. Aristoteles’ Hinweis auf das satyrikon (Po. 1449a20) wollte sich angesichts der Pferdeattribute der ikonografisch überlieferten Satyrn nicht mit dem Bocksanteil des Tragödien-Begriffs in Einklang bringen lassen. Erst in jüngster Zeit hat man diesen Faden wieder aufgenommen und ist das Bedürfnis nach rituellen Ursprüngen und der Gründungskraft des Religiösen erneut erwacht (Csapo/Miller 2007) – ein Phänomen, das einmal mehr die Abhängigkeit wissenschaftlicher Methoden und Fragestellungen von zeitgenössischen Kontexten und Krisen demonstriert.7 Burkerts hypothetische Rekonstruktion des Tragödienursprungs bezieht ihre Sprengkraft und Differenziertheit aus der Verbindung linguistischer, theatergeschichtlicher und anthropologischer Überlegungen. Den Ausgangspunkt bildet die Zusammensetzung des Wortes ƵƲƣƥˎƦɛƣ aus ƵƲɕƥưƳ, ‘Bock’, und ʂƦə, ‘Gesang’, dessen Analyse unter Hinzuziehung zahlreicher Parallelzeugnisse zu dem Ergebnis führt, dass der Terminus nicht, wie in der früheren Tragödienforschung gelegentlich vorgeschlagen, ‘singende Böcke’ bezeichnet, sondern vielmehr den ‘Gesang um den Preis eines Bockes’, eine Deutung, die sich bereits in hellenistischen Quellen findet und die das Bocksopfer einschließt.8 Mit der aus der Etymologie abgeleiteten Schlussfolgerung, dass “inmitten der Dionysischen Aufführung der Hinweis aufs Opfer” stehe (20), löst Burkert die Tragödie aus ihrer philosophisch-humanistischen Interpretationsgeschichte und stellt ihren befremdlichen Charakter als Bestandteil des antiken DionysosKultes neu zur Disposition: “ƵƲƣƥƺƫƦɛƣ”, so schreibt er, “heißt ‘Bocksgesang’ – ein Wort, das die Fratze des Tieres in die Entwicklung hoher

7

Zu den ‘Ursprungsmythen’ des Theaters vgl. auch Gödde 2007. Burkert 1966 [1990], 15-16. Die ‘singenden Böcke’ waren ein Versuch, die Etymologie von tragôdia mit dem aus Aristoteles’ satyrikon abgeleiteten Satyrchor zu harmonisieren. Die beste Übersicht über diese Debatte bietet immer noch Lesky 1956, 1748; alle relevanten Zeugnisse sind gesammelt und besprochen in Pickard-Cambridge 1927. 8

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Menschenkultur hineinblicken lässt, das Primitive und Groteske in die erhabenste literarische Schöpfung” (13). Wie oben bereits angedeutet, ist es dieser Aufsatz, in dem sich Burkerts Theorie des Opfers, die 1972 in Homo Necans ausführlich dargelegt und an einer Fülle von mythologischem und kultischem Quellenmaterial durchgespielt wird, zuerst abzeichnet. Um den möglichen Entstehungskontext der Tragödie, aber auch ihre Erfahrungsdimension zu rekonstruieren, stellt Walter Burkert sich in bemerkenswerter Eindringlichkeit die Frage, was das Opfer eines Bockes bedeute, und er zieht bei ihrer Beantwortung das gesamte Vorstellungsregister, über das ein guter Anthropologe zu verfügen hat, von den Details der Haustierzucht bis hin zu olfaktorischen Eindrücken: “ƖƲɕƥưƳ evoziert Geilheit und Gestank” (19) – derartige Formulierungen zeigen, wie Burkert bemüht ist, die Tragödie an einen kreatürlich-existentialen Ursprung zurückzubinden, in dem das Ehrwürdige des Kunstwerks und die triebhafte Natur des Menschen keine Gegensätze darstellen. Burkert entwickelt ein Verständnis des Opfers als einer anthropologischen Kategorie, bei dem die Götter eine weitgehend marginale Rolle spielen.9 “Im Zentrum des Opfers”, so die entscheidende Bestimmung, “steht weder die Gabe an die Götter noch die Gemeinschaft mit ihnen, sondern die Tötung des Lebewesens und der Mensch als Töter” (21). Anknüpfend an Karl Meulis problematische Analogisierung von griechischen und sibirischen Opferbräuchen werden die Tötung und die Restitution des Opfertiers als eng aufeinander bezogene Prozesse einer ‘Unschuldskomödie’ – so der von Meuli geprägte Begriff – analysiert, deren einzelne rituelle Segmente es dem Opferer erleichtern, seine Tötungshemmungen zu überwinden, indem sie ihn von seinen Schuldgefühlen entlasten.10 Locus classicus für diese Entlastungsprozedur ist das bei Pausanias und im Theophrast-Referat des Porphyrios überlieferte Opfer beim Athenischen Zeusfest, den bouphonia (‘Tötung des Ochsen’11), ein Ritual, bei dem zunächst der Ochse und später das Opfermesser für schuldig erklärt wurden, der Priester sich auf eine rituelle Flucht begibt, gleichsam um die Tötung 9 Ich beschränke mich hier auf eine sehr knappe Zusammenfassung, da Burkerts Opfertheorie als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden kann. 10 Meuli 1946. 11 Dass die von vielen Interpreten verwendete Übersetzung ‘Ochsenmord’ nicht zutrifft (oder jedenfalls nicht zwingend ist), zeigt Henrichs 1992, 155 mit Anm. 84 anhand zahlreicher Belege für phonos bzw. phoneô im Sinne des rituellen Schlachtens.

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symbolisch zu annullieren, und der getötete Ochse schließlich ausgestopft und gewissermaßen ‘komödiantisch’ wieder zum Leben erweckt wird.12 Für die Theorie der Unschuldskomödie lässt sich, so Burkert, des Weiteren die hellenistische Erzählung vom Bock anführen, der, weil er den Weinstock angefressen habe, in der Opferung die angemessene Bestrafung erfahre, oder ein korinthisches Opferritual, bei dem die zu opfernde Ziege das Opfermesser selbst auszugraben hatte.13 Derartige aitiologische Opfermythen werden als Ausdruck menschlicher Tötungshemmungen und Schuldgefühle gedeutet, als Versuch, die Verantwortung am Tod des Tieres auf dieses selbst zu verlagern. Dieser sekundäre Legitimationsmechanismus ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Notwendigkeit des Tötens, die Burkert als anthropologische Konstante ausmacht und die, wie es etwa die biblische Erzählung vom Brudermord des Kain zeige und wie es für Freuds Kulturtheorie zentral wurde, am Anfang von Kultur und Gemeinschaft stehe. In welcher Weise nun gehen diese Überlegungen zum Opfer in die Hypothese ein, dass am Anfang der Tragödie ein Bocksopfer für Dionysos gestanden habe, wie aus der Gattungsbezeichnung zu entnehmen sei? Burkert entwickelt die “Linie von der Situation des Opfers zur Tragödie” (26) anhand von drei Merkmalen, die zeigen sollen, dass Bocksopfer und frühe Tragödie derselben Logik – nämlich der Logik der Unschuldskomödie – folgen: Zur gespielten Unschuld während des Opfers gehöre zum einen die Klage, die die Reue des Opferers nach der Tötung anzeige und die als Kommos ebenfalls im Zentrum der entwickelten Tragödie stehe. Ein weiteres Analogon finde sich in der Aulos-Musik, die sowohl während des Opfers ertönt als auch den Chorgesang der Tragödie begleitet. Und drittens teilten, so Burkert, Opferer wie Tragödien-Darsteller miteinander das Requisit der Maske, mit dem sie ihre wahre Identität zu verbergen trachten. All diese postulierten Gemeinsamkeiten – sowie der archäologisch freilich umstrittene Befund der thymelê, einer altarähnlichen Erhöhung im frühen Dionysostheater – führen zu dem folgenden Rekonstruktionsversuch einer Entwicklung der Tragödie aus dem Opfer:

12

Theophrast bei Porph. Abst. 2.29.1-31.1; Paus. 1.24.4 und 1.28.10; vgl. dazu Deubner 1932, 158-174; Burkert 1972, 153-61; Burkert 1984, 24; Vernant 1981 [1991], 14-21; Obbink 1988, 284; Henrichs 1992, 152-158; Georgoudi 2005, 134-138. 13 Letzteres ist freilich erst in spätantiken und byzantinischen Quellen überliefert; vgl. Burkert 1966 [1990], 39 Anm. 71.

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Die ƵƲƣƥƺƫƦưɛ sind ursprünglich eine Gruppe maskierter Männer, die das im Frühjahr fällige Bocksopfer vollziehen; sie treten auf mit Klage, Gesang, Vermummung und dürfen zuletzt den Bock verspeisen. ... Die Transformation auf das Niveau hoher Literatur, mit den Formen der Chorlyrik und der Adaption des heroischen Mythos, bleibt eine einzigartige Leistung, die sich doch auf vorgegebene Elemente gründet: Gebrauch von Masken, Gesang und Tanz auf der ƪƶvɗƭƩ, Klage, Flötenmusik, der Name ƵƲƣƥƺƫƦưɛ, alles vereint in der Grundsituation des Opfers: Der Mensch im Angesicht des Todes. (26)

Sowohl die Theorie der Unschuldskomödie als auch jene vom Ursprung der Tragödie im Bocksopfer faszinieren Leser und Forscher aller Disziplinen wegen ihrer Dramatisierung von Schuld und Verbrechen bis heute. Einige quellenkritische Bemerkungen seien dennoch angefügt. Die Gültigkeit der Meulischen ‘Unschuldskomödie’ ist von Historikern der antiken Religion immer wieder in Zweifel gezogen worden, da das Gros der antiken Zeugnisse zum Opfer, zumal aus archaischer und klassischer Zeit, eben gerade nicht von Angst oder Schuld handelt.14 Es ist daran zu erinnern, dass der zentrale Beleg für die Unschuldskomödie, das bouphoniaRitual der Dipoleia, innerhalb unserer Quellen singulär dasteht15 und sich Elemente einer solchen Restitution des getöteten Tieres und einer ‘Verdrängung’ der Schuld in anderen Opferdarstellungen eben nicht finden.16 14 Vgl. etwa die Diskussion im Anschluss an Burkert 1981, 126-135; sowie Bremmer 1996, 48; für Homer hat die Abwesenheit von Schuld und Angst insbesondere Kirk 1981 betont. Zur kritischen Bestandsaufnahme der Burkertschen Theorie jetzt Georgoudi 2005 und Naiden 2007. 15 Die Singularität der bouphonia betont Burkert selbst gegenüber Meuli (1972, 159-160); vgl. auch Burkert 1966 [1990], 22 und Obbink 1988, 284, der zwar die Parallelüberlieferung (einige Scholien sowie die zwei Pausanias-Stellen) durchaus für gewichtig hält, andererseits aber die bouphonia als “aberrant in Greek sacrificial procedure” bezeichnet; ähnlich Henrichs 1992, 157; Bremmer 1996, 48; Georgoudi 2005, 116, 136; Henrichs 2006, 83-84. 16 Als weitgehend einziger Beleg für die – nach dem Modell der sibirischen Jägeropfer – postulierte Restitution des getöteten Tieres in Form der wieder zusammengefügten Knochen führen Meuli und mit ihm Burkert das Partizip ƧȸƪƧƵɛƴƣƳ an, das Hesiod für das Arrangement verwendet, mit dem Prometheus Zeus dazu verführen will, den aus Menschensicht schlechteren Haufen, nämlich die mit Fett bedeckten Knochen, zu wählen (Hes. Th. 541; vgl. Burkert 1966 [1990], 37 Anm. 50). Der Beleg vermag die Beweislast jedoch nicht zu tragen, denn das ƧȸƪƧƵɛƨƧƫƮ dient hier einem anderen Zweck. – Einen weiteren Beleg für die Restitution sieht Burkert 1984, 23 in der Folge von Meuli 1946, 941 und 990-991 im homerischen ɄvưƪƧƵƧʴƮ (z. B. Hom. Od. 14.427-428). – Ein anderes Argument für die Unschuldskomödie, das Verbergen des Messers im Opferkorb unter der Opfergerste, konnte inzwischen ebenfalls als ein Mythos der Forschung entlarvt werden, ist es doch lediglich in zwei sehr späten Quellen (schol. ad Ar. Pax 948 und Suda s. v. ƬƣƮư˃Ʈ) explizit überliefert: dazu Bonnechere 1998; Georgoudi 2005, 119-123.

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Dass die Griechen ihre Tiere vor der Opferung durch Besprengen mit Wasser oder durch das Werfen der Opfergerste zum Nicken veranlassten und so ihre Zustimmung mit der eigenen Unschuld verrechneten, geht vor allem aus einem Scholion hervor, das eine Stelle im Rahmen einer komplexen Aristophanischen Opferparodie plausibilisieren möchte.17 Gleichwohl ist die Zustimmung des Tiers und damit die Freiwilligkeit des Opfers in einem Teil der Forschungsliteratur leichtfertig als etablierter Teil der Unschuldskomödie verallgemeinert worden.18 Die Art und die Datierung der Zeugnisse zu diesem Phänomen lassen es sinnvoll erscheinen, diese als Teil einer sekundären Auseinandersetzung mit und Kritik an der tradierten Opferpraxis zu deuten, nicht aber als Fundament dieser Praxis selbst. Es ist allein schon der philosophische Hintergrund des Theophrast, der seinen Bericht in den Kontext anderer ethisch inspirierter Kritik am blutigen Tieropfer bringt, wie sie etwa für Pythagoreer oder Orphiker überliefert ist. Diese Position ist etwa mit jener der Dichter, auf die unsere – freilich immer selektive – Rekonstruktion religiöser Diskurse zu einem großen Teil angewiesen ist, nicht notwendig deckungsgleich. Auch die von Burkert postulierte Analogie von Opfer und Tragödie, die er, wie bereits eingangs angedeutet, in keiner späteren Arbeit erneut aufgreifen wird,19 steht auf tönernen Füßen. Das ändert jedoch nichts an der revolutionären Wirkung dieser Hypothese auf die spätere Tragödienforschung, für die die rituellen Bezüge des Dramas inzwischen zur communis opinio gehören. Die Zeugnisse für Bocksopfer im Dionysoskult, zumal an den Großen Dionysien, sind spärlich, wie Burkert selbst einräumt (25),20 und doch ist es unumstritten, dass die Etymologie der Gattungsbezeichnung ein Nachdenken über die Relation zwischen Tragödie und Dionysoskult sowie über die Bedeutung des Bocks für diesen dringend 17 Schol. ad Ar. Pax 96; vgl. des Weiteren Plu. Quaest. conv. 729-730 und De def. orac. 435bc, 437a (Burkert 1966 [1990], 37 Anm. 45); zur fraglichen Zustimmung des Opfertiers jetzt Naiden 2007. 18 Auf Darstellungen von Tieren, die durchaus gewaltsam zum Altar getrieben wurden und auch gefesselt werden mussten, verweisen Peirce 1993, 255-256 und van Straten 1995, 100-101 und passim. 19 In dem einzigen weiteren Aufsatz zu Opfern in der Tragödie relativiert er die Relevanz des Motivs für Ursprungsfragen mehrfach: Burkert 1985, 14, 17, 20. 20 Zentral ist das Bocksopfer in der Aitiologie des Eratosthenes (vgl. Merkelbach 1963); des Weiteren kann Burkert (33 Anm. 25) eine beachtliche Menge an Vasenbildern anführen, die, wenn auch nicht das Bocksopfer selbst, so doch den Bock im Gefolge des Dionysos zeigen.

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erfordert. Burkert hat in dieser Frage mit der ihm eigenen Detailgenauigkeit Neuland beschritten.21 Was jedoch die Opfersituation als comparandum der Tragödie betrifft, so muss dieser Vergleich vor allem in zwei Punkten relativiert werden: Weder lassen sich einschlägige Belege für das Element der Klage als Teil des Opferrituals beibringen,22 noch können Burkerts Hinweise auf maskierte Opferer in Turudansk und Württemberg (Anm. 65) das Bedürfnis der Griechen, sich einem angeblich schuldbehafteten Tötungsakt durch Vermummung zu entziehen, zweifelsfrei belegen. Liest man Burkerts Aufsatz jedoch genau, so wird man feststellen, dass ihm nicht vorrangig an einer stichhaltigen Ursprungstheorie gelegen ist. Er räumt immer wieder ein, dass die Quellen zu dieser Frage ihre Grenzen haben und dass seine Überlegungen nicht den Anspruch erheben, den einen Ursprung der Gattung zu erweisen (29). Was Burkert in diesem Aufsatz viel mehr interessiert, ist ein existentielles Grundthema der Tragödie, der Tod, das er durch den Hinweis auf den rituellen ‘Unterbau’ der Gattung und durch seine anthropologisch-kulturtheoretische Deutung des Opfers ins Bewusstsein heben möchte. Seine Rekonstruktion der Gattungsgenese ist zudem darum bemüht – im Gegenzug zu all jenen Tragödienforschern, die das Satyrhafte oder gar das Satyrspiel selbst am Beginn der Tragödie ausmachen wollen – eine Vorstufe zu reklamieren, die ebenfalls für den ‘Ernst’ der entwickelten Tragödie bürgen kann.23 Die Situation des Tötens, die in seiner Perspektive im Opferritual ‘bearbeitet’ wird und in der Tragödie nachhaltig präsent bleibt, vermag diesen Ernst zu erklären.24 Doch wird die tragische Konfrontation mit dem (Opfer-)Tod in 21 Zur Bedeutung der halb-animalischen und grotesken Dickbauchtänzer beziehungsweise Satyrn für die Frühformen der Tragödie vgl. jetzt die Beiträge in Csapo/ Miller 2007. 22 Burkert (26) räumt ein, dass sich dieser Brauch nicht für Griechenland, sondern lediglich für Ägypten nachweisen lässt. In Griechenland dürfte im Rahmen eines Opfers, zumindest wenn dies im Zentrum eines Götterfestes stand, die Klage viel eher untersagt gewesen sein. Mit mehr Recht kann Burkert an anderer Stelle seines Aufsatzes (27) das Argument der Klage auf den Heroenkult, zu dem freilich auch Opfer gehören, beziehen. 23 Vgl. 1966 [1990], 15: “Was kann die Verbindung sein von satyrhafter Ausgelassenheit zum hohen Ernst der Tragödie? Sollte der ƵƲƣƥƺƫƦɛƣ das tragische Element ursprünglich gefehlt haben?” – Die Verwendung des Adjektivs ‘tragisch’ an dieser Stelle im Sinne von ‘ernst’ resultiert bereits aus der Prämisse des ‘ernsten’ Bocksopfers und ist unter Umständen als Anachronismus zu werten. 24 Zugleich versucht Burkert den von Aristoteles postulierten improvisierten Anfängen Rechnung zu tragen, indem er das Bocksopfer als eine vom offiziellen Stieropfer

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dieser Darstellung nicht nur als ‘ernst’, sondern darüber hinaus als ‘heilig’ ausgewiesen. Denn die menschliche Notwendigkeit zu töten beschränkt sich nicht auf das Bedürfnis des Fleischverzehrs, sondern Burkert auratisiert diesen Tötungsakt im Opfer durch zweierlei Bezüge: durch die Deutung des Opfers als Gründungsakt von Gemeinschaft und durch das Postulat einer Teilhabe am Heiligen: “[Blutige Riten] erregen die Tiefen der Seele, in Todesangst, im Tötungsrausch. ‘Teilhaben am Heiligen’, ȝƧƲːƮ vƧƵɗƸƧƫƮ: Die Gemeinschaft wird zusammengebunden durch die gemeinsame Erfahrung von Schock und Schuld” (25).25 Burkerts Rekonstruktionsversuch hat eine immense Wirkung gehabt und ist in allen seither erschienenen Darstellungen der antiken Tragödie diskutiert worden. Am frühesten ist die Theorie des Bocksopfers wohl in dem 1969 abgeschlossenen und 1976 publizierten Dionysos-Buch von Karl Kerényi aufgenommen worden, der freilich dem Aspekt des Todes die Freude über den guten Ausgang des Rituals entgegenstellt und Burkerts Hinweis auf den Bock gemäß seiner These von Dionysos als “Urbild des unzerstörbaren Lebens” als ein Element im Kult aufgreift, das vor allem mit Neuerung verbunden war (Kerényi 1976, 195). Albin Lesky (1956, 47) zählt Burkert zu denjenigen Interpreten, die Aristoteles und seinen Ausführungen über die Frühform der Tragödie die Gefolgschaft verweigerten, und bleibt skeptisch hinsichtlich der Behauptung, dass das Bocksopfer genuin dionysisch sei. Joachim Latacz (1993, 55-56 mit Anm. 5) folgt Leskys Kritik und hält an den bereits von Wilamowitz verteidigten bocksgestaltigen Sängern fest. Innerhalb der deutschsprachigen Klassischen Philologie ist Burkerts früher Zugang zu Tragödie und Opferritual am positivsten aufgenommen und zugleich popularisiert worden in Bernhard Zimmermanns Monografie Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart (2000), der für sein erstes Kapitel “Wilde Ursprünge” den Titel der Wagenbach-Ausgabe adaptiert und Burkerts Ausführungen ausführlich referiert. abweichende Form des Opfers charakterisiert, die “nicht eigentlich ernst war” (26) und bei der sich deshalb das improvisierte Maskenspiel entfalten konnte. 25 Die immer wieder akzentuierte Ambivalenz, die Burkert in der Situation des Opfers ausmacht, etwa zwischen “Blutrausch und Tötungsschrecken” (25) oder “Schauder” und “naturhafte[m] Wohlbefinden” (22), erinnert deutlich an Rudolf Ottos Bestimmung des Heiligen durch die Begriffe tremendum, fascinans und augustum (Otto 1917). In einem späteren Aufsatz greift Burkert Ottos Terminologie auf und analogisiert sie explizit mit den “grundlegende[n] biologische[n] Verhaltens- und Erlebnisweisen” “Angst, Beseligung und Rangordnung” (Burkert 1981, 101; vgl. auch Burkert 1984, 33).

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Eine weitere und ganz andere Rezeption von Burkerts Opfertheorie verdient Erwähnung: Seine Gabe, Rituelles in eindringlicher Weise als dramatische Realität, als Handlung und nicht als starres System symbolischer Zeichen, zu vermitteln, hat dazu beigetragen, dass seine Theorie nicht zuletzt Eingang in die moderne Theaterpraxis fand. Die Rückführung des Opfers auf die Jagd, aber auch die zeremonielle Dehnung des Vorgangs, der vom aparchesthai, dem ‘unschuldigen’ Anfang bis zum emotionalen Höhepunkt führt,26 fand in dem 1974 von Peter Stein und Michael Grüber initiierten Berliner Antikenprojekt einen Niederschlag, nämlich in den drei Phasen der am Vorabend der Bakchen-Inszenierung von Grüber aufgeführten Übungen für Schauspieler, die mit den von Burkerts Homo Necans inspirierten keywords “Anfangen”, “Jagd” und “Opfer” betitelt waren.27

III. ‘Nicht-Gewalt’: ‘Unschuldskomödie’ oder ‘mensonge’ Im letzten Teil des Aufsatzes von 1966 demonstriert Burkert am Beispiel dreier Tragödien – der Trachinierinnen des Sophokles, der Medea des Euripides und, als Höhepunkt dieser nicht der Chronologie folgenden Reihe, des Aischyleischen Agamemnon –, dass “das Wesen des Opfers noch die reife Tragödie [durchdringe]” (27), dass also das Opferritual und daran der zuvor herausgearbeitete “Doppelaspekt von Leben und Tod” (25) nicht lediglich für die Genese der Tragödie aus dem Dionysoskult von Bedeutung sei, sondern auch als strukturelles Moment der Dramentexte ernst genommen werden müsse. Während er 1966 noch für alle drei besprochenen ‘Opfermetaphern’ – Herakles’ Verwandlung vom Opferer zum Opfer, Medeas ‘Opfer’ ihrer Kinder und Klytaimestras in der Terminologie des Opfers dargestellte Rache an Agamemnon – historische Rituale als Bezugspunkte postuliert, die der Mythos spiegele, wird in einem etwa 20 Jahre später entstandenen Aufsatz zu Opferritualen bei Sophokles die Perspektive erweitert hin zur auch poetischen Funktion des Rituals. 26 Dazu Burkert 1966 [1990], 21-22 (sowie 37 Anm. 47; 38 Anm. 68), wo er u. a. von der “Harmlosigkeit des Anfangens” spricht, die aber eben Ausdruck und Umspielen der Gefahr ist. 27 Vgl. dazu Fischer-Lichte 2007, 127-128; zu weiteren Adaptionen der Burkertschen Theorie in Inszenierungen antiker Tragödien (z. B. durch Luca Ronconi und Romeo Castelucci) vgl. Bierl 1997, 84 Anm. 69, 93 mit Anm. 191 und 102.

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Das Ritual, so heißt es jetzt, “liefert dem tragischen Dichter Erlebensqualität und Stil, ja Grundmuster von Vollzug überhaupt” (1985, 14). Gerade das Moment des detaillierten Vollzugs, und damit der Vorrang von Praxis und Performanz, lässt sich an den ausgewählten Szenen – dem Libationsritual für die Eumeniden im Ödipus auf Kolonos, den ‘zeichenlosen’ Opfern, die Teiresias in der Antigone die Krise der Stadt anzeigen, sowie der Szenerie am Kap Kenaion in den Trachinierinnen – eindringlich dokumentieren. Den “Sinngehalt” (1985, 20) der Rituale im Tragödientext, nach dem Burkert nun vorrangig fragt, sieht er in einer stilistischen und symbolischen Aufladung des Geschehens, in einer “Vergrößerung” des Vorgangs (1985, 17); das Ritual verleihe der Handlung die ernste Theatralik, die die Gattung erfordere (1985, 20). Burkert hat die Frage nach dem genauen Status der tragischen Opfer nicht weiter verfolgt. Aber die wenigen Hinweise, die sich auf diesen Zusammenhang in seinem Werk finden, deuten darauf hin, dass sich aus seiner Perspektive im tragischen Opferritual vor allem Schrecken und Heiliges – und das ist für ihn wohl die Ottosche Mischung aus Angst und Erhebung – verbinden.28 Seine Interpretation des Euripideischen Orestes deutet an, dass mit der Ablösung der “sakralisierten”, und das heißt: legitimierten, Gewalt, also der Opfergewalt, auch das “Ende der Tragödie” erreicht sei. Das Gegenbeispiel zur “nackten Gewalt”, die das “Gangsterstück” Orestes vorführe, sei die “Restitution der Tragödie”, die sich etwa in Iphigenies ‘Erhebung’ zum Opfer in der Iphigenie in Aulis zeige.29 Diese Formulierungen deuten an, dass nach Burkerts Auffassung die Aggression des homo necans im durch Tradition legitimierten Opfer einem höheren Sinn zugeführt wird – zumal dann, wenn, wie im Falle der Aulischen Iphigenie das Opfer ein Selbstopfer ist. Im ‘historischen’ Ritual ist diese Freiwilligkeit, so deutet er die Quellen, in der Zustimmung des Opfertiers gegeben.30 Was aber würde Walter Burkert zu den Opfertoden der Tragödie sagen, die letztlich einen Mord, wenn auch einen oftmals in der archaischen lex talionis begründeten, ummanteln? Weder hat er die in der jüngeren Forschung immer wieder als ‘pervertiert’ oder ‘korrupt’ bezeichneten Ritualmorde der Tragödie untersucht, noch hat er – wie dies Girard 28

Vgl. Burkert 1984, 111. Burkert 1974, 106-109. 30 Für Kritik an dieser These vgl. oben Anm. 17 und 18. 29

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getan hat – das Theorem der ‘guten’, ordnungsstiftenden Opfergewalt, die sich strukturell und latent immer auch auf das Menschenopfer bezieht, auf die Tragödie angewandt. Während in Girards Konzept der kathartische und heilende Aspekt der ‘heiligen Gewalt’ im Vordergrund steht,31 akzentuiert Burkert in seinen Schriften zum Opfer deutlicher und drastischer die konkrete Aggressionserfahrung des homo necans und immer wieder auch das ‘Erhebende’ des rituellen Tötens, das durch die Dramatisierung der heiligen Handlung ermöglicht werde.32 In diesem Sinne dürfte er wohl auch die Opfermetaphern der Tragödie auffassen, nämlich als Sublimierung eines urmenschlichen Aggressionstriebes. Der genaue Status der in der ‘Metapher’33 des Opfers dramatisierten Tragödien-Morde wird in der Forschung bis heute heftig und kontrovers diskutiert: Die Sakralisierung,34 die die Gewalt gegen Menschen erfährt, wenn sie sich im Rahmen eines Rituals vollzieht, kann sowohl als Perversion und Korruption der Norm aufgefasst werden35 als auch qua Ritualisierung und Distanzierung einen sublimierenden, kathartischen oder therapeutischen Effekt haben.36 Im zweiten Fall wird das Schreckliche der 31 Allerdings können gerade die beiden Tragödien König Ödipus und Bakchen nicht plausibel machen, dass die rituelle Gewalt die Gemeinschaft einer Lösung zuführt; vgl. dazu demnächst Gödde (im Druck b). 32 Vgl. jedoch seine Selbstkritik in Burkert 1988, 30: “zuviel und zu triumphierend ist in Homo Necans von Aggression die Rede” (zitiert nach Henrichs 1992, 134 Anm. 46). 33 Burkert selbst spricht zunächst von Metaphern (1966 [1990], 27, 28), stellt aber dann für die Orestie fest, dass es sich hier eben nicht um “bloße Metapher und stilistische[n] Zierrat” handle (29). Der rhetorische Aspekt am Metapher-Begriff ist zentral für Pucci 1992; vgl. dazu Henrichs 2000, 174, Anm. 3 und passim; Henrichs 2006, 85. 34 Burkert 1984; hier allerdings taucht der Begriff ‘Sakralisierung’ lediglich im Titel auf; Henrichs 2006, 85-87. 35 Zur Perversion vgl. Henrichs 2005 (im Titel); vgl. auch Henrichs 2006, 86. Zu Korruption vgl. Zeitlin 1965 (im Titel); Vernant 1981 [1991], 295. 36 Zur Ritualisierung vgl. Foley 1985, 60; Henrichs 2006 (im Titel und passim); zur Distanzierung vgl. Foley 1985, 60; zur Sublimierung vgl. Henrichs 2006, 85. – Eine deutlich kathartische Funktion hat das Opfer in Girards Theorie, vgl. dazu Burkert 1981, 110; Foley 1985, 57. Die Begriffe ‘kathartisch’ oder ‘Katharsis’, die Foley auch für Burkert zu reklamieren scheint, verwendet dieser für seine eigene Opfertheorie meines Wissens nicht explizit; an die Stelle dieses Konzeptes treten eher Anleihen bei Ottos Theorie des Heiligen, nach der Tötungsrituale “heiliges Wirken” sind (1984, 38); dort, wo die Rede vom “Tötungsschock” ist, auf den die Ordnung folgt (1984, 33), könnte man eine Nähe zur Katharsis vermuten. Von ‘apotropäischer Bewältigung’ und einem “beschwichtigenden, ja kathartischen Effekt” des tragischen Menschenopfers spricht auch Henrichs 2006, 86.

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Gewalt durch eine gesellschaftlich sanktionierte Form aufgefangen und erträglich gemacht. Beide Seiten der Medaille sind nicht voneinander zu trennen, und es lässt sich nur schwerlich entscheiden, ob die Tragiker einen Mord, den sie mit Opfermetaphern beschreiben, eher diffamieren, da er ein Tieropfer pervertiert, oder ob sie ihn durch die Verwendung der Opferterminologie legitimieren. Für eine letztgültige Beantwortung dieser Fragen wäre es hilfreich zu wissen, wie das Opferritual in der griechischen Kultur tatsächlich konnotiert war, denn nur auf der Basis dieses Wissens kann entschieden werden, welche Transformation oder Verschiebung die tragischen Opfermetaphern vornehmen. Der massiven Betonung von Gewalt und Schrecken in der Burkertschen Opfertheorie wurde immer wieder entgegengehalten,37 dass diese keine Entsprechung in der ‘Realität’ der Quellen finde. Zahlreiche Darstellungen des ‘regulären’ (also des nicht-pervertierten) Opfers in Literatur oder Bildkunst sparten, so wurde argumentiert, den Moment des Tötens gerade aus, das Opfer werde von den Griechen selbst also nicht, zumindest nicht explizit, als gewaltsam empfunden.38 Gezeigt und beschrieben werden vielmehr in der Regel die feierlichen Vorbereitungen oder, wie häufig bei Homer, das festliche Opfermahl im Anschluss an die Tötung. Auch werden Vokabeln der Gewalt – etwa Begriffe wie Ƥɛƣ oder ȽƤƲƫƳ – in der Beschreibung der Opferhandlungen nicht verwendet, das Opfer wird (außerhalb der Tragödie) säuberlich vom Mord unterschieden,39 die Bezeichnungen für die Tätigkeit des Opferns sind neutral, wie ˂ɗƨƧƫƮ, oder aber positiv konnotiert, wie ȝƧƲƧɟƧƫƮ. Der Tötungsakt, den Burkert im Zentrum der Opferhandlung sehen will, scheint also diese zentrale Stellung in der diskursiven und ikonografischen Bearbeitung des Phänomens nicht aufzuweisen.40 Dieser Befund wiederum könnte dafür 37

Insbesondere von der Vernant-Schule; vgl. unten Anm. 42. Das methodische Problem, das sich an dieser Stelle aus der Vorannahme dessen, was ‘regulär’ sei, ergibt, ist offensichtlich. Handelt es sich vielleicht bei den erwähnten Darstellungen um idealisierte Opferbilder? Drücken die Bilder und Texte möglicherweise gerade nicht die Empfindungen der Griechen aus, sondern das, was diese Empfindungen moderieren und bewältigen sollte? Diese Fragen bleiben stets in einem hermeneutischen Zirkel befangen, da uns lediglich ‘Diskurse’, sekundäre Bearbeitungen historischer Fakten, zugänglich sind. 39 Auch die bouphonia sind nach Henrichs in der Übersetzung ‘Ochsenmord’ nicht angemessen erfasst; vgl. oben Anm. 11. 40 Burkert nimmt eine solche Unterscheidung zwischen Diskurs und Realität nicht vor, da es ihm vorrangig um eine historische Rekonstruktion und um die Faktizität des 38

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sprechen, dass der Tötungsakt durch Präliminarien und Zeremonielles gerade um- und überspielt werden soll, was ihm als latentes Zentrum der Handlung erneut Gewicht verleihen würde – eine Deutung, die mit der Annahme einer ‘Unschuldskomödie’, die den Tötungsakt zu annullieren sucht, durchaus kongruent wäre. Diese Latenz des Opfers steht im Zentrum der Opfertheorie von JeanPierre Vernant und seiner Schule:41 Vor allem der ‘Diskurs’ des Opfers, so liest Vernant etwa die Prometheus-Geschichte Hesiods, sei, was die gewaltsame Tötung des Opfertiers betrifft, durch ‘Zensur’ und ‘Camouflage’ geprägt. Doch bei genauerem Hinsehen findet er diese Camouflage auch in der rituellen Praxis selbst, insbesondere in der postulierten Freiwilligkeit des Opfertiers sowie dem Verbergen des Opfermessers.42 Auch für diese Theorie muss schließlich das so untypische Bouphonia-Ritual herhalten, denn dieses, so Vernant, zeige am deutlichsten, wie die Griechen das “paradox of a self-negating slaughter” dramatisiert hätten.43 Vernant kommt – vermutlich ohne es zu wollen44 – zu demselben Ergebnis wie Walter Burkert, nämlich: “the act of slaying lies at the heart of the thusia” – freilich fügt er hinzu: “it resides there like a subversive threat that is repeatedly conjured away”.45 Während Meuli und Burkert mit dem Begriff der ‘Unschuldskomödie’ nicht nur die Differenz zwischen Faktizität (TöOpfers geht und weniger um dessen Ideologie (vgl. die Diskussion zu Vernant 1981, 2526). Doch enthalten seine Arbeiten zahlreiche Hinweise auf diesen Diskurs. 41 Detienne/Vernant 1979; Vernant 1981 [1991]. 42 Vernant 1981 [1991], 293-294. – Die von der Vernant-Schule lange Zeit vertretene “théorie de la non-violence” (erstmals formuliert in Detienne/Vernant 1979) wird jetzt grundsätzlich in Frage gestellt von Georgoudi 2005, die vor allem die Annahme, dass die Griechen das Messer im Opferkorb ‘verborgen’ hätten, um den Gewaltakt zu negieren, widerlegt (vgl. oben Anm. 16) und zudem Bildmaterial beibringt, nach dem durch das erhobene Messer in der Hand des Opferers durchaus der Moment der Tötung antizipiert wird. So berechtigt Georgoudis Quellenkritik im Detail ist, so bleibt m. E. die Beobachtung richtig, dass im antiken Opferdiskurs die Tötung des Opfertiers unterrepräsentiert ist. Ob dieser Befund auf Verdrängung oder Desinteresse deutet, sei zunächst dahingestellt. 43 Vernant 1981 [1991], 298; zur Problematik dieser Quelle vgl. oben Anm. 10-16. 44 Vernant referiert Burkerts Ansatz ohne explizite Stellungnahme, will aber dessen zentrale These bereits bei Mauss und Hubert finden (1981 [1991], 292). Die Deutung des Opfers als Unschuldskomödie weist er als ideologisch und griechischem Denken fremd zurück (1981 [1991], 295; vgl. auch die Diskussion zu Vernant 1981, 27). – Zu Differenzen wie Gemeinsamkeiten zwischen Burkert und Vernant vgl. Schlesier 1994, bes. 303; Bremmer 1996, 48-50; Henrichs 2006, 82-83. 45 Vernant 1981 [1991], 301.

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tung) und Inszenierung (Verleugnung der Tötung) betonen, sondern dieser Dramatik darüber hinaus auch ein moralisches Motiv unterstellen, legt Vernant das Gewicht auf die Analyse des Diskurses, den er mit Wendungen wie “Verschleierung der Tötung” oder “Lüge durch Auslassung” beschreibt.46

IV. euphêmia und ‘Euphemismus’ Vernant hat ebensowenig wie Burkert seine Theorie des Opfers konsequent auf die Opfermetaphern der Tragödie angewandt. Beider Theorien sind kritisiert worden und können vor allem der Diversität der überlieferten Opferpraktiken, die sich nicht auf eine homogene Ideologie reduzieren lassen, nicht gerecht werden.47 Dennoch haben beide Forscher nicht zuletzt durch ihre Systematisierungen und Abstraktionen das Nachdenken über die kulturelle Praxis sowie über das Imaginäre der Griechen in einer Weise beflügelt, von der die Altertumswissenschaften in den letzten vier Jahrzehnten deutlich profitiert haben. Aus den Grundmustern der Deutung, die Burkert und Vernant herausgearbeitet haben – der von Meuli übernommene Begriff der Unschuldskomödie, die Analyse des Opfers als rituelle Tötung, die Camouflage, die den Aspekt der Komödie aufgreift – lassen sich über die historischen Einzelfälle hinaus Impulse für eine kulturtheoretische Erfassung des Opferdiskurses im antiken Griechenland gewinnen. Diese Impulse wiederum treffen sich mit dem Unternehmen der griechischen Tragiker, die ebenfalls nicht die historische Ritualpraxis überliefern, sondern deren analytisches Potential den verborgenen Mechanismen dieser Praxis gilt, die in religionskritischer Hinsicht, aber auch im Modus des Ästhetischen reflektiert werden. Daher sollen hier abschließend einige Implikationen der Burkertschen wie der Vernantschen Opfertheorie – insbesondere die Konzepte der ‘Komödie’ und des ‘mensonge’ – aufgegriffen und mit exemplarischen Opferszenen der Tragödie konfrontiert werden. 46 Vernant 1981 [1991], 9: “stratégie qui ... couturne systématiquement ... l’épisode de la mise à mort” und “mensonge par omission”. – Das Konzept der Lüge ist mit anderer Akzentuierung auch zentral für Girards Opfertheorie, die auf einer ‘Verkennung’ des Sündenbockmechanismus beruht. Für die Aussparung der Gewalt wird der Begriff ‘Lüge’ ebenfalls von Moraw 2005 verwendet. 47 Vgl. Georgoudi 2005, 136.

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Um dies zu tun, möchte ich einen neuen Terminus in die Diskussion einführen, der zum einen den Vorteil hat, aus der antiken Kultterminologie selbst zu stammen, und der zum anderen die Antinomie und das Paradox in der Figur des Opfers, das transgressive Gewalt und ritualisierte Normerfüllung zugleich ist, zu erfassen vermag. Gemeint ist die in der antiken Literatur seit Homer überlieferte rituelle Redenorm der euphêmia, der ‘guten Rede’, die nicht allein, wie vielfach angenommen, ein ‘heiliges Schweigen’ bezeichnet, sondern die darüber hinaus einen affirmativen Legitimationsgestus enthält, der das Gelingen eines Rituals gewährleisten soll. Die Konnotation des erst viel später terminologisch erfassten Konzepts des ‘Euphemismus’, die dem Terminus von Anfang an inhärent ist, lässt ihn ebenfalls geeignet erscheinen, um die ‘doppelte Rede’ einzufangen, die die Griechen im Munde zu führen scheinen, wenn sie vom Opfer sprechen.48 Meine These ist, dass die Tragiker die im metarituellen Konzept der euphêmia angelegte nahezu tautologische Rituallogik – dass nämlich das Opfer nur deshalb als ‘gut’ gilt, weil es durch die Ritualsprache als solches gesetzt wird – in ihren Opfermetaphern zugleich als makabren Euphemismus entlarven und als kulturelle Strategie vorführen. Dabei steht weniger die Frage von Schuld oder Unschuld im Vordergrund als die Analyse der Gesetze einer ritualisierten Gesellschaft. Entscheidend an dem Konzept ist seine performative und pragmatische Logik: Mit der Reklamation der euphêmia wird nicht behauptet, dass etwas in einem ontologischen, religiösen oder philosophisch-ethischen Sinne gut sei, sondern es handelt sich um eine willkürliche Postulierung des Guten, die auf einer quasi sprachmagischen Manipulation der Realität beruht. Komödie und Lüge sind in diesem Vorgang durchaus enthalten. Darüber hinaus sind die beiden einander widersprechenden Pole, die bisher die Deutung der tragischen Opferszenen bestimmen, Sakrileg und Sakralisation, in diesem einen Konzept miteinander verschränkt. 48

Die Aufforderung zur euphêmia bezieht sich in unseren Quellen nicht vorrangig auf Opfersituationen. Sie gilt vor allem den verbalen Äußerungen während des gesamten – das Opfer einschließenden – Götterfestes, also Gebet, Paian oder Hymnos (für einen Überblick der Verwendungsweisen und Situationen vgl. Gödde 2003). In den folgenden Überlegungen möchte ich den konzeptuellen Impetus in diesem Terminus auch dort für die Deutung der tragischen Opferszenen nutzen, wo die Tragiker das Wort nicht explizit verwenden. Ausführlich habe ich das getan in meiner demnächst erscheinenden Monografie zur euphêmia (im Druck a). Unter anderen Vorzeichen wendet Stehle 2004 das Konzept auf die Chorlieder der Tragödie an.

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Die Deutung von euphêmein im Sinne des rituellen Schweigens ist, wie gesagt, einseitig und bedarf einer Korrektur. Sie resultiert aus einer ganz spezifischen dialogischen Gebrauchsweise des Verbums, die verallgemeinert und auf andere Situationen übertragen wurde. Der Imperativ ƧȸƷəvƧƫ kann bekanntlich dazu dienen, die unpassende Rede eines Gegenübers zu unterbrechen und zu annulieren, so dass diese formelhafte Wendung – anstatt durch die wörtliche Übersetzung ‘sprich Gutes’ – durchaus mit ‘schweig still’ wiedergeben werden kann. In vielen Verwendungsweisen jedoch scheint das Konzept zunächst durchaus die wörtliche Bedeutung – ‘Gutes Sagen’ bzw. ‘sagen, dass etwas gut ist’ – zu realisieren, zumal dann wenn der Vortrag von Kultliedern, wie etwa dem Paian, oder Kultrufen, wie der ololygê, explizit als euphêmein bezeichnet wird. Eine Amalgamierung beider Verwendungsweisen – der nicht-dialogischen und rituellen, also affirmativen, sowie der dialogisch-kolloquialen, also prohibitiven – mag dazu geführt haben, dass als die andere Seite der euphêmia, des Gutsprechens im Ritual, die Unterdrückung und Verdrängung des Gegenteils, der schlechten oder Unglück bewirkenden Rede (dysphêmia, oder später: blasphêmia), und damit das (Ver-)Schweigen mitgehört wurde. Diese Doppelseitigkeit von Reden und Schweigen erinnert an Vernants Beschreibung des antiken Opferdiskurses – “The omitted and the enunciated become two sides of a single discourse”49 –, und sie entspricht dem komplexen Umgang mit Opfermetaphern im poetischen Diskurs der tragischen Texte. Der erste Autor, der die Gewalt gegen Menschen im Bild des rituellen Opfers zeigt, ist Aischylos im Agamemnon.50 Dabei sind die Opfervergleiche, in denen Agamemnons Ermordung durch Klytaimestra reflektiert wird – die Voropfer, von denen Klytaimestra spricht (1056-1057), die ololygê, die sie in Kassandras Phantasie über dem Opfer ausstößt (1118), Kassandras Vergleich Agamemnons mit einem Stier (1125-1126), Klytaimestras Wunsch einer Libation über dem Leichnam (1395) sowie ihre Verwendung des Verbums ƴƷɕƨƧƫƮ für den Todesstoß (1433) – im Zusammenhang mit der generellen Reflexion der Ritualsprache und -manipulation in dieser ersten Tragödie der Trilogie zu sehen. Klytaimestras Opferpraxis ist zum einen zu messen an demjenigen Opfer, das sie durch 49 50

1990.

Vernant 1981 [1991], 297. Vgl. Henrichs 2000, 180; Versangaben beziehen sich im Folgenden auf West

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ihr Handeln konterkariert und rächt, nämlich die Tötung Iphigenies durch Agamemnon, zum anderen an dem Ritual, zu dem sie im Prolog vom Wächter aufgefordert wird: Zum Dank für den errungenen Sieg über Troia und die bevorstehende Rückkehr ihres Gatten soll die Königin einen ololygmos anstimmen, den der Wächter als ‘gute Rede’ (euphêmein) ausweist (28), eine kultische Äußerung also, die im Sinne der Ritualordnung gut ist, die aber auch Gutes heraufbeschwören soll. In diesem einen Wort der Ritualsprache ist die ganze Ambivalenz der Situation in nuce enthalten: Wird Klytaimestra den Ololygmos (und die diesen begleitenden Opfer) wirklich für das Gute anstimmen? Ist das Ritual Ausdruck des bereits erreichten Glücks und Dank für dieses oder dient es vielmehr dazu, der Fragilität desselben entgegenzuwirken und neues Unheil abzuwehren? Und: besteht Konsens darüber, welches ‘Gut’ durch die nun zu arrangierenden Opfer etabliert werden soll? Der Fortgang der Handlung – Klytaimestras Manipulation der Opferpraxis – wird deutlich machen, dass Opfer und Gebet nicht in einem objektiven Sinne und nur weil sie bestimmten tradierten Handlungsmustern folgen, ‘gut’ oder gar ‘heilig’ sind. Was durch die Opferterminologie aufgerufen wird, ist weniger das Moment der Sakralisierung einer Tötung, als vielmehr eine bestimmte Pragmatik und Autorität des Handelns: Wer opfert, herrscht, um es zugespitzt zu formulieren, über die Realität und schafft neue Tatsachen. Der ololygmos, den Klytaimestra auf Geheiß des Wächters in triumphaler – und ‘euphemistischer’ – Weise inszeniert (587588, 594-595), wird sich als Vorbote desselben Opferrufes erweisen, den sie später über dem toten Agamemnon ertönen lassen wird; und die Opfer, die sie ausrichten lässt und die der Chor als vƣƭƣƬƣɚƱƣƲƩƥưƲɛƣƫ, also als Beschwichtigungsopfer, bezeichnet (95), deuten ebenfalls schon früh auf die bevorstehende Krise hin. Die gesamte Klytaimestra-Handlung wird auf diese Weise zu einer perfiden ‘Unschuldskomödie’, die sich – anders als im Bouphonia-Ritual – vor allem im Vorfeld des Mordes an Agamemnon vollzieht. Zwei weitere und noch explizitere Spielarten einer ‘euphemistischen’ Opferreflexion lassen sich im Agamemnon ausmachen: Als Kassandra gegenüber dem Chor zum erstenmal vom bevorstehenden Tod Agamemnons spricht, fordert dieser sie auf, ‘Gutes’ zu sagen (ƧȼƷƩvưƮ  ƬưɛvƩƴưƮ ƴƵɝvƣ,1247), also vom Tod zu schweigen. Die hier geforderte euphêmia hat eine Analogie in einer weiteren, kurz darauf folgenden Dialogsequenz, die explizit dem Opfer gilt: Auf die Frage des Chors, warum Kassandra

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entsetzt vor dem Eingang des Palastes zurückweiche, antwortet sie, dass der ‘Atem des bluttriefenden Mordes’ sie zurückhalte (ƷɝƮưƮ Ʀɝvưƫ ƱƮɗưƶƴƫƮ ƣȝvƣƵưƴƵƣƥʦ, 1309). Wenn der Chor diese Befürchtung mit dem Hinweis darauf zu entkräften sucht, dass es sich lediglich um den Geruch der Opfer am Herd handele (ƵɝƦʠȰƨƧƫƪƶvɕƵƺƮȀƷƧƴƵɛƺƮ,1310), so greift Aischylos genau dieselbe Spannung zwischen Opfer und Mord auf, die im Zentrum der modernen Theorien von Vernant oder Burkert steht. Klytaimestras manipulative Ersetzung des Mordes durch das Opfer wird von Kassandra durchschaut, vom Chor aber leichtgläubig aufgenommen und – aus dessen Perspektive unwissentlich – in einen Euphemismus überführt, der im Grunde jedem Opfer inhärent ist. Eine ganz andere Darstellung eines Opfers findet sich in der Parodos des Agamemnon. Iphigenies Opferung gehört nicht in die Gruppe der Opfermetaphern, denn ihr Tod wird von einer Göttin, Artemis, gefordert und hat so faktisch Opfer-Status. Die ‘Pervertierung’ – von Aischylos selbst mit dem Adjektiv ǴƮưvưƳ bezeichnet (151) – liegt jedoch in dem Umstand, dass zur Versöhnung der Göttin die Tötung eines Menschen und nicht lediglich eines Tiers erforderlich ist. Der Bericht des Chors kann auch hier deutlich machen, wie der Tragiker sich mit den Legitimationsstrategien, die das Opfer in der antiken Gesellschaft begleiteten, auseinandersetzt. Darüber hinaus enthält diese Szene eine Dimension, die als ‘Ästhetisierung’ der Gewalthandlung bewertet werden kann, wobei dieses Muster nicht zwingend als Gegenmaßnahme und Kompensation des dargestellten Schreckens zu verstehen ist, sondern durchaus im Dienst von Distanzierung und Reflexion steht.51 Den prekären Status des Guten, das über das Leid siegen soll, dokumentiert bereits der Refrain der Parodos: ƣȠƭƫƮưƮƣȠƭƫƮưƮƧȢƱƧƵɜƦʠƧȾ ƮƫƬɕƵƺ(121=139=159). In der vom Chor erinnerten Rede in Aulis, in der Agamemnon sich zum blutigen Opfer der Tochter entschließt, bezeichnet er dieses deutlich als Befleckung (vƫƣɛƮƺƮ, 209), deklariert es aber zugleich in jenem oben ausgeführten performativen Sinne als themis und als ‘gut’, weil anders das moralische Dilemma nicht gelöst werden kann (214217):52 51

Grundsätzlich zur Ästhetisierung von Gewalt in der griechischen Klassik vgl. Seidensticker/Vöhler 2006; zur Tragödie insbesondere die Aufsätze von Bohrer, Seidensticker und Goldhill in diesem Band. 52 Ich zitiere hier den Text von Page 1972, da die Emendation der Passage von West mich nicht überzeugt. West (1990, 178-181) will nicht glauben, dass Agamemnon eine

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ƱƣƶƴƣƮɗvưƶƥɔƲƪƶƴɛƣƳ 

ƱƣƲƪƧƮɛưƶƪʠƣȡvƣƵưƳȬƲ





ƥʗƫƱƧƲƫɝƲƥƺƫȀƱƫƪƶ





vƧʴƮƪɗvƫƳƧȾƥɔƲƧȠƩ

denn nach sturmbeendendem Opfer und nach jungfräulichem Blut mit übermäßigem Eifer zu begehren ist Recht. Gut möge es sein!

Interpreten dieser Szene haben von ‘Blasphemie’ gesprochen, die darin bestünde, dass Agamemnon “in seiner Hybris das Themis nennt, wovon er eigentlich selbst weiß, dass es ein Miasma ist”.53 Doch lässt sich diese Reflexion der Wertigkeit des Opfers – unter anderen Vorzeichen – ebensogut in Analogie zu der stabilisierenden und affirmativen Funktion des Aufrufs zur euphêmia vor dem Ritual verstehen, denn dort wie hier handelt es sich vor allem um die Beschwörung des guten Ausgangs qua ritueller Sprache. Die Szene illustriert, dass das ‘Gute’ einer rituellen Ordnung keineswegs mit dem ‘Guten’ einer ethischen Ordnung kongruieren muss. Das Euphemistische an derartigen Setzungen des Guten mag für uns bisweilen den Anschein einer Blasphemie haben, doch ist dies nicht die Perspektive der antiken Kultur auf die rituelle Maßnahme gewesen: Was wir als blasphemisch empfinden, nannten die Griechen Euphêmie. Noch in einer anderen Weise wird die euphêmia, die dieses Opfer zu einem normgerechten machen soll, eingeholt. Der Chor beschreibt, wie die Opferdiener Iphigenie knebeln, um ihre Angstschreie und Flüche gegen das Königshaus, die das Ritual entweihen würden, zu unterbinden – eine Maßnahme, die der ‘anderen’ Seite des euphêmia-Gebotes Rechnung trägt, nämlich der Notwendigkeit, störende und unglücksverheißende Laute beim Ritual zu unterdrücken. Doch damit nicht genug: Aischylos macht diese ‘Pervertierung’ der Euphemie durch Gewalt überdeutlich, indem er sie ins Ästhetische verlängert und die geknebelte und daher stumme Iphigenie mit der Stummheit der Figur auf einem Gemälde – ƱƲɗƱưƶƴƣƵɠƳȀƮ

Tat, die er zuvor als miasma bezeichnet hat, im selben Atemzug als themis deklariert. Aber genau das ist sie, weil sie von Artemis gefordert wurde. Erneut tritt die Spannung zwischen Mord und Opfer in den Blick. – Zur Analyse des Iphigenie-Opfers im Agamemnon mit Blick auf die Ästhetisierung der Gewalt vgl. Seidensticker 2006, 100-102 und Bohrer 2006, 179. 53 Aretz 1999, 80.

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ƥƲƣƷƣʴƳ (241-242) – vergleicht. Diese zusätzliche Perspektive, die dem Zuschauer beziehungsweise Leser des Dramas hier angeboten wird, dient der Erzeugung von Mitleid, das durch den Kontrast von Gewalttat und ästhetischem Objekt gesteigert werden kann. Übertragen in die Ordnung des Rituals ließe sich sagen, dass Iphigenie durch dieses Verfahren den Status des ‘vollkommenen’, des ‘makellosen’ Opfers erhält. Der visuellen Ästhetisierung wird eine akustische an die Seite gestellt: Iphigenies vergeblicher Wunsch zu sprechen (ƱƲưƴƧƮƮɗƱƧƫƮ ƪɗƭưƶƴʠ, 242-243) wird mit ihrer früheren Gewohnheit kontrastiert, im Männersaal des Vaters beim Festmahl ‘mit heiliger Stimme’ den Paian zu singen. Diese Rückblende von der Realität des Opfers in die festliche Welt des Palastes hat ebenfalls die Funktion, die Grausamkeit des Opfers kontrastiv zu unterstreichen. In einer weiteren, nämlich rezeptionsästhetischen Hinsicht aber wird die Opferszene durch das Bild des Festsaals auch abgelöst und gleichsam ‘geschlossen’. Die Evokation von Iphigenies Paian-Gesang verweist nicht nur auf die Abwesenheit eines derartigen Liedes in der Gegenwart der Erzählung, sondern sie füllt diese Lücke zugleich narrativ und lässt den Opferbericht gewissermaßen ‘euphonisch’ ausklingen. Und dass gerade an dieser Stelle der Chor durch die Aposiopese – ƵɔƦʠȄƮƪƧƮ ưȼƵʠƧȢƦưƮưȼƵʠȀƮƮɗƱƺ(248)– die nun zu erwartenden weiteren Ausführungen des Opfervollzugs, nämlich die Schilderung der Tötung, abbricht, lässt sich ebenfalls als Teil einer programmatischen Verschleierung und Beschönigung des Menschenopfers deuten, die gewissermaßen Agamemnons Wunsch, ‘es möge gut sein’, auf der Ebene der Darstellung – aber eben nur dort – erfüllt.54 Die Rahmung des Tötungsakts durch eine Ritualisierung, die dem Ereignis Form und ‘Vollkommenheit’55 verleiht, etwa durch bestimmte feierliche Gesten und insbesondere die Bekränzung des Opfertiers, wird in Aischylos’ Darstellung gespiegelt in der Entrückung Iphigenies in das Medium der Kunst, in Malerei und Gesang. Dass diese Vollkommenheit jedoch dem euphêmia-Gebot und damit einer euphemistischen Strategie geschuldet ist, bleibt ebenfalls nicht verborgen. Erneut lassen sich in der literarischen Textur ähnliche Muster der Reflexion ausmachen wie in den zuvor behandelten Opfertheorien. Wenn 54 Auf diese Ebene der Darstellung bezieht sich Henrichs 2006, 86-87, der von einem “beschwichtigenden, ja kathartischen Effekt” spricht, der das Blutvergießen “transparenter, wenn nicht sogar erträglicher” macht. In ähnlicher Weise fungiert das Opfer für Blome 1998, 94-95 als “Filter”, der alles Grausame ausblendet. 55 Ein angemessenes, fehlerloses Opfer heißt bei den Griechen ȀƮƵƧƭəƳ.

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Gewalt gegen Tiere in der Ritualsprache der antiken Griechen legitimiert wird, ja möglicherweise nicht einmal als solche wahrgenommen wird, so zeigen die literarischen Bearbeitungen des Themas durch den Transfer auf das Menschenopfer, dass die rituellen Praktiken ethischen Ansprüchen kaum standhalten können, dass sie zu Missbrauch einladen, und letztlich, dass Gewalt unter dem Deckmantel der Religion keine substantielle Rechtfertigung erfährt, dass durch sie – trotz aller vermeintlichen Sakralisierung – nichts besser wird. Inwieweit der ‘euphemistische’ Opferdiskurs des Agamemnon auch andere Opferszenen der Tragödie (oder Komödie) bestimmt, kann hier nur angedeutet werden:56 Am deutlichsten wird die Aischyleische Inszenierung des ‘schönen Opfers’ in den freiwilligen Opfern der Euripideischen Tragödie aufgegriffen und transformiert. Bei der Darstellung des Polyxena-Opfers in der Hekabe geht Euripides über Aischylos hinaus, indem er das Bild der makellosen Jungfrau, die ‘schön’ (ƧȸƴƸəvƺƮ, 569; vgl. auch 407) und frei sterben will und die mit einem Götterbild (Ǵƥƣƭvƣ, 560) verglichen wird, nicht allein durch die Freiwilligkeit, sondern auch durch ihr erotisches Auftreten – sie entblößt kurz vor der Opferung ihre Brust – erweitert.57 Das äußere Dekorum, das Polyxena durch ihr Verhalten wahrt beziehungsweise durch die entblößte Brust noch überbietet, tritt gleichsam an die Stelle einer verbal inszenierten euphêmia. Die Freiwilligkeit des Opfers rückt diese Szene in die Nähe des modernen Konzepts der ‘Unschuldskomödie’, von dem wir eben nicht genau wissen, ob es tatsächlich bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. so gegenwärtig war, wie es Theophrast für die bouphonia postulieren kann. Die Sinnlosigkeit dieses Opfers jedoch – Polyxena stirbt auf Geheiß und zu Ehren des bereits verstorbenen Achill – weist seine Makellosigkeit wiederum als Euphemismus aus. Für den freiwilligen Opfertod der Iphigenie gilt Ähnliches. Hinzu kommt in diesem Drama eine den Zug nach Troia auratisierende Logik des Heroischen, nach der mit Iphigenies Tod die Freiheit aller Griechen von barbarischer Herrschaft erkauft wird und ihr Tod nicht beklagt werden

56

Ich nenne an dieser Stelle nur wenige, besonders aussagekräftige Vergleichsstellen und verweise für eine genauere Behandlung und die entsprechende Forschungsliteratur auf die erwähnte Monografie (vgl. oben Anm. 48). 57 Die Erotisierung der Opferszene ist bereits in Aischylos’ Agamemnon vorgeprägt, nämlich im Motiv des herabfallenden Gewands der Iphigenie (V. 239).

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darf, da dies sie ‘schlecht machen’ würde (V. 1435).58 Will man die Installierung der euphêmia (1467, 1469, 1564) in der freilich überlieferungsgeschichtlich umstrittenen Schlusspassage der Tragödie vor der Folie der Aischyleischen Bearbeitung des Themas lesen, so schwingen jedoch auch hier Zweifel am Sinngehalt der Selbstopferung mit. Dass die euphemistische Logik des Opfers durchaus im allgemeinen Bewusstsein der Athener verankert gewesen sein dürfte, kann eine Szene aus Aristophanes’ Frieden demonstrieren, deren Komik dieses Bewusstsein voraussetzt. Im Rahmen der – durchweg euphemistischen – Opferzeremonie für die soeben wiedergewonnene Göttin Eirene, ein Opfer, bei dem jeder Hinweis auf das Töten, die Klage oder den Krieg zu vermeiden ist, zitiert Aristophanes offenbar eine Konvention: Der Opferpriester Trygaios stellt vor dem Opfer die formelhafte Frage ƵɛƳƵʧƦƧŸ–Ʊư˃ƱưƵʠƧȜƴɚ Ʊưƭƭưɚ Ƭǰƥƣƪưɛ (968), mit der er die Eignung der Ritualteilnehmer zu prüfen vorgibt. Ebenso formelhaft scheint die Antwort zu sein – Ʊưƭƭưɚ ƥɕƲ ƧȜƴƫ Ƭǰƥƣƪưɛ (969) –, die nicht etwa auf einer solchen Prüfung der Anwesenden basierte, sondern die deren Güte – ganz im Sinne der euphêmia beziehungsweise des Euphemismus – lediglich behauptete, um den ordnungsgemäßen Verlauf des Rituals zu garantieren.59

V. Homo necans oder homo ludens? Vom Bocksopfer für Dionysos haben diese Überlegungen sich weit entfernt. Und doch lässt sich ein von Walter Burkert in seinem Aufsatz von 1966 ausgelegter Faden nun erneut aufnehmen. Von Anfang an hat Burkert gesehen, dass es weder beim Opfer noch in der von ihm hypo58 Das Verbot der Klage um den gestorbenen Protagonisten findet sich ebenfalls am Ende von Sophokles’ Trachinierinnen und Ödipus auf Kolonos. Es durchbricht eine Konvention, nach der es gerade euphêmos ist, um Tote zu klagen, und verweist möglicherweise auf den göttlichen Status dieser Heroen. Dasselbe mag für die Iphigenie des Euripides gelten. 59 Das Scholion zur Stelle, das ebenfalls die Suda unter dem Lemma ƵɛƳ ƵʧƦƧ überliefert, weist diesen Vorgang in der Tat als Euphemismus aus, allerdings unterstellt es, wie ich meine, irrtümlich und in Verkennung der performativen Dimension der Ritualsprache, dass die Prozedur dazu diente, dass diejenigen, die der Forderung des Opferpriesters nicht entsprachen, sich vom Ritual entfernten: ưȝƴƱɗƮƦưƮƵƧƳȄƭƧƥưƮƵɛƳƵʧƦƧŸ ǰƮƵɚ Ƶư˃ ƵɛƳ ƱɕƲƧƴƵƫƮ ƧȢƵƣ ưȝ ƱɕƲưƮƵƧƳ ƧȸƷƩvƫƨɝvƧƮưƫ ȄƭƧƥưƮż Ʊưƭƭưɚ Ƭǰƥƣƪưɛ Ƶư˃ƵưƦɖȀƱưɛưƶƮȡƮƣưȝƴƶƮƧɛƦưƵɗƳƵƫȁƣƶƵưʴƳǴƵưƱưƮȀƬƸƺƲưʴƧƮƵːƮƴƱưƮƦːƮ (schol. ad Ar. Pax 968a Hollwerda).

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thetisch angenommenen frühen Tragödie, also dem Lied beim Bocksopfer, lediglich um die brutale Darstellung eines Tötungsaktes ging. Das ‘dramatische’, das spielerische Element, das Burkert in den Masken und der Klage beim Opfer finden wollte und das den Tötungsakt entschärft, spiegelt sich durchaus in den Darstellungen und der Reflexion der Tragödien. Dieses Element sieht Burkert in späteren Arbeiten deutlicher, wenn er etwa die ƱƲɝƷƣƴƫƳ des Rituals analysiert und schreibt: “Rituale [sind] Zeichen”, sie “haben demonstrativen, um nicht zu sagen theatralischen Charakter”. Das Diktum des Servius – in sacris simulata pro veris accipi – stellt er hier dem “christlichen Ideal religiöser Innerlichkeit”, das diesen Aspekt verdrängt habe, deutlich gegenüber.60 So unterschiedlich die erwähnten Jungfrauen-Opfer der Tragiker und das Schaf für Eirene bei Aristophanes voneinander sind, als ‘Komödie’, als Vorspiegelung ‘falscher’ – oder genauer: ‘guter’ – Tatsachen lassen sich diese Inszenierungen gleichermaßen beschreiben. Dabei nutzen die Dramatiker vermutlich einen Zug, der dem Ritual auch in der außerliterarischen Praxis eignete. Tatsächliche Gewalt (Mord) und gespielte Gewalt (Opfer) werden miteinander konfrontiert, und die opfernden Protagonisten der Tragödien erhalten, indem ihr Handeln eine übertragene beziehungsweise symbolische Dimension gewinnt, eine zusätzliche dramatische Tiefenschärfe. Dabei beziehen die Tragiker keine eindeutige Stellung in der Frage, ob das Opfer eher ein Sakrileg und eine Normverletzung ist oder ob die Gewalt durch den Akt der Sakralisierung gerechtfertigt wird. Durch den Einsatz der Metapher – die Morde erscheinen lediglich im Gewand des Opfers – wird der Rezipient gezwungen, in seiner Deutung permanent zwischen dem ersetzenden (Opfer) und dem ersetzten Begriff (Mord) des metaphorischen Prozesses hin und her zu pendeln. In diesem Spannungsfeld von Verbrechen und Sakralisierung bleibt das Urteil über den Protagonisten des Dramas in der Schwebe. Eine vergleichbare Doppelbödigkeit dürfte ebenfalls dem außerliterarischen Opferritual, von dem wir keine authentischen Dokumente besitzen, von dem wir aber behaupten können, dass es etwas in Szene setzte, eigen gewesen sein. Doch galten die umfänglichen ‘pre-kill’- und ‘post-kill’Spiele vermutlich nicht der Bearbeitung von Schuld. Zwar kann der Umgang der Dramatiker mit dem Opferritual zeigen, dass dessen gewaltsamer Aspekt nicht verkannt wurde, doch gibt es kaum Anzeichen, dass die 60

Burkert 1981, 96.

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Gewalt aus Gewissensgründen, um moralischer Skrupel willen ‘verdrängt’ und durch schöne Bilder übertüncht werden musste. Zur Praxis des Tieropfers dürfte vielmehr ein gewisses äußeres Dekorum gehört haben, das für die Freude, die das Opfer den Göttern bereiten sollte, erforderlich schien. Dass dieses – in der Tragödie bisweilen makabere – Dekorum künstlich und spielerisch hergestellt werden musste, war kein Geheimnis und machte das Opferszenario noch lange nicht zur Blasphemie. Im Opfer erweist der homo necans sich somit durchaus auch als homo ludens.  

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WOLFGANG PALAVER Religion und Gewalt. Walter Burkert und René Girard im Vergleich

Seit den Attentaten des 11. Septembers 2001 ist die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt verstärkt ins Zentrum aktueller Diskussionen und Auseinandersetzungen gerückt. Oft mangelt es dabei allerdings an profunden Theorien, die ein vertieftes Verständnis der Problematik möglich machen. Die Theorie-Beiträge von Walter Burkert und René Girard gehören zu den wenigen Ansätzen, deren Studium sich gerade in der heutigen Zeit lohnt. Der folgende Beitrag widmet sich diesen beiden Denkern im Blick auf das Verhältnis von Religion und Gewalt. Dabei sollen in drei Schritten sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen herausgearbeitet werden. Erstens zeigt sich, dass Burkert und Girard durch ihre Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Religion und Gewalt einen wichtigen und aktuellen Beitrag zur evolutionstheoretischen Erklärung von Religion bieten. Der zweite Schritt stellt die von Girard betonte mimetische Rivalität als Ursache zwischenmenschlicher Gewalt ins Zentrum des Vergleichs der beiden Denker. Den Abschluss bildet eine Gegenüberstellung von Burkert und Girard im Blick auf die biblischen Religionen Judentum und Christentum.

I. Zwei Seismographen des Zusammenhangs von Religion und Gewalt Aby Warburg, der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, bezeichnete Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche als “empfindliche Seismographen”, die die langfristigen Auswirkungen der Vergangenheit präzise registrierten.1 Diese Charakterisierung trifft auch auf Walter Burkert und René Girard zu. Auch sie sind Seismographen mit einer hohen Empfindlichkeit für die zentrale Rolle der Religion für die Entstehung und Stabilität menschlicher Kultur. Es ist sicher kein Zufall, dass beide zur gleichen 1

Zit. nach Gombrich 1970, 344.

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Zeit auf den Zusammenhang von Religion und Gewalt und deren Zusammenwirken am Beginn der menschlichen Zivilisation in ihren ersten großen Hauptwerken im Jahre 1972 hinwiesen. Wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, den Verbrechen von Auschwitz und dem Abwurf der ersten Atombombe entdeckten sie, wie sehr Religion und Gewalt von Anfang an im Zentrum menschlicher Kultur standen. Burkerts und Girards Einsichten gewinnen gerade heute angesichts einer aktuellen Religionskritik an Bedeutung, die aus der Sicht der Evolutionstheorie argumentiert. Aktuellstes Beispiel dafür ist die scharfe Religionskritik des Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Doch eine wirklich überzeugende Antwort auf das evolutionstheoretische Problem der Religion – die Frage, warum sich Religion als universales Phänomen in allen Kulturen durchgesetzt hat – findet sich in seinem Buch nicht.2 Nach Dawkins sind Religionen bloß das Nebenprodukt bestimmter psychologischer Dispositionen, wie z. B. der kindlichen Bereitschaft, älteren Menschen Glauben zu schenken oder eines gewissen instinktiven Dualismus. Religiöses Verhalten, das in Riten über Jahrtausende das Leben von Menschen prägte, wird durch einen solchen bloß kognitiven Zugang nur oberflächlich berührt, aber wohl kaum erklärt. Einer der Hauptgründe für Dawkins’ unbefriedigende Antwort lässt sich rasch nennen. Es ist die Frage der Gewalt, die der Evolutionsbiologe ziemlich einseitig und vorschnell der Seite der Religion zuschiebt.3 Ein fast rousseauistisch verstandener Mensch, der eher friedlich sei, werde erst durch religiöse Agitation zum Töten animiert. Die Abschaffung von Religion müsse demnach fast automatisch zu einem Reich des Friedens führen. Auch wer Dawkins’ berechtigter Kritik fundamentalistischer Gewalt zustimmt, wird seine grundsätzliche Sicht des Problems der Gewalt wohl eher für naiv halten.

2 Dawkins 2006, 166: “Religious behaviour can be called a human universal … Universal features of a species demand a Darwinian explanation.” 3 Schon in Dawkins berühmtem Werk Das egoistische Gen (Dawkins 1994) zeigt sich eine Tendenz, die Problematik zwischenmenschlicher Gewalt zu verharmlosen. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das in der erweiterten Auflage ergänzte Kapitel “Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel” (323-370), in dem Dawkins zwar ähnlich wie Girard festhält, dass Menschen häufig zum Neid neigen (351), aber dann große Hoffnungen in die Förderung und Stärkung von “Nichtnullsummenspiele[n]” setzt und den neidischen Neigungen nicht weiter nachgeht. Girard 2008, 77, 100 kritisiert ausdrücklich, dass Dawkins die negativen Seiten der Nachahmung unterschätzt und die mimetische Rivalität übersieht.

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Demgegenüber bieten die Ansätze von Burkert und Girard Einsichten in das Wesen von Religion, das sowohl diesem komplexen Phänomen – vor allem auch seiner rituellen Seite – als auch der Evolutionstheorie gerecht wird. Bei Burkert lässt sich der Anschluss an die Evolutionslehre schneller und leichter zeigen, da schon dessen Buch Homo Necans von 1972 deutlich an die Arbeiten des Verhaltensforschers Konrad Lorenz anschließt. Burkerts veröffentlichte Gifford Lectures von 1989 sprechen sogar direkt von den “biologischen Grundlagen der Religion” (Burkert 1998). In einem zusammenfassenden Artikel aus dem Jahre 2000 zeigt er, dass Religion mit der Menschwerdung selbst zusammenhängt und sich in der kulturellen Evolution als überlegen erwies. Die konkreten Beispiele, die Burkert auf die Frage angibt, warum der Mensch Religion brauche, betreffen die Begründung von Autorität, Eide zur Vermeidung von Lüge, die Unheilsbewältigung und die reziproke Erwartung von Gabe und Gegengabe (Burkert 2000). Gegen eine Verkürzung von Religion auf kognitive Aspekte betont Burkert gerade im Blick auf die alten Religionen die Bedeutung der Riten: Es geht in den alten Religionen nicht primär um Erklärungen. Weder gilt, dass man einen ‘Schöpfergott’ haben muss, noch dass man Götter braucht zur Erklärung von Naturphänomenen. Den praktischen Menschen interessiert dies relativ wenig. … Für die Religionswissenschaft gilt es seit längerem als ausgemacht, dass es nicht oder nicht primär um religiöse ‘Vorstellungen’ oder ‘Ideen’ geht, auch nicht primär um Sprachliches, um Formeln, Lieder, Gebete, sondern um das, was die Menschen tun, um Rituale. Die lernt man durch Nachahmung und Mitmachen.4

Im Ritual erkennt Burkert ausdrücklich eine “Brücke von der Verhaltensforschung zur Religion”.5 Ähnliches im Bezug auf Evolutionslehre und Religion kann auch von Girard gesagt werden. Auch er kam schon 1972 auf das Werk von Konrad Lorenz zu sprechen, wenn auch im Unterschied zu Burkert nur in einem kurzen Hinweis (Girard 1972, 11). Arbeiten aus der jüngsten Zeit machen aber deutlicher, wie sehr die mimetische Theorie von Anfang an mit der Evolutionstheorie in Verbindung stand.6 In seiner Rede zur Verleihung des 4

Burkert 2000, 105. Burkert 1983, 28; vgl. Burkert 1972, 31. 6 Girard 2008; Serres 1994, 205: “Im Blick auf die menschlichen Gruppen wäre Girard damit für Darwin, was Georges Dumézil für Linné ist, weil er eine Dynamik vorschlägt, eine Evolution aufzeigt und eine universelle Erklärung liefert.” 5

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Dr. Leopold-Lucas-Preises 2006 in Tübingen betonte er ausdrücklich sein schon von Beginn an bestehendes Interesse an der Evolutionstheorie: Am Anfang war mein Interesse am Christentum weder in der Schrift noch in der Theologie begründet, noch in einem anderen Interessenbereich, der eine religiöse Sicht der Realität fördert. Ich erforschte eine wissenschaftliche Theorie, von der viele – meiner Meinung nach zu Unrecht – meinen, sie sei mit der christlichen Tradition unvereinbar: der Evolutionstheorie nach Charles Darwin.7

In dieser Rede fasst er dann auch seine These über die Bedeutung und Funktion der archaischen Religion so zusammen, dass er zeigt, wie diese das Entstehen menschlicher Kultur ermöglichte, indem sie die Gewalt zwischen den Menschen eindämmte: Ich bin überzeugt, dass die zwei großen Institutionen der archaischen Religion, Verbote und Opfer, eine entscheidende Rolle bei der Fähigkeit unserer noch tierähnlichen Vorfahren gespielt haben, sich zu Menschen zu entwickeln, ohne sich dabei selbst zu zerstören.8

Ähnlich wie bei Burkert steht auch bei Girard die rituelle Praxis von Religion im Vordergrund. Ausdrücklich lehnt er jene Religionstheorien ab, die in der “Religion zuallererst eine intellektuelle Erklärung der Welt sehen” und die die viel größere Bedeutung von Opfern und Verboten ausblenden.9 Als Seismographen waren und sind Burkert und Girard vor allem für die oft verdrängte Problematik der Gewalt empfänglich. Sie können die Gewaltfrage gerade deshalb ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken, weil sie einen besonderen Blick für die Krisen der Gesellschaft haben und damit das Allgemeine eher vom Ausnahme- bzw. Ernstfall als von der Normallage her verstehen. Systematisch ist dieser Zugang aber gerade auch im Blick auf Fragen der Religion und Gewalt vorzuziehen (vgl. Palaver 2003a, 65-66). In seinem Nachwort zum Homo Necans aus dem Jahre 1996 hält Burkert fest, warum sich viele Sozialwissenschaftler so schwer tun, seine Überlegungen zur aggressiven Solidarisierung bei der Bildung menschlicher Gemeinschaften zu akzeptieren. Schon aus methodischen Gründen gerät nämlich die Frage der Aggression für viele aus dem Blick:

7

Girard 2007, 11-13; vgl. Girard 1972, 458; Girard 1978b, 438. Girard 2007, 37. 9 Girard/Palaver 2007, 455; vgl. Girard 2008, 71-73; Hocart 1936, 34-40. 8

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Krisenhafte, außerordentliche Reaktionen und Erlebensweisen gehen in den Fragebogen nicht ein, sind obendrein für das normale Konsumverhalten wenig von Belang: ein situationsbezogenes Ausnahmeverhalten wie Aggression lässt sich daher mit den allgemeinen Methoden soziologischer Umfragen nicht in den Griff bekommen.10

Dieser Blick auf den Ernstfall bestimmt besonders Burkerts Sicht von Religion, von der er ausdrücklich festhält, dass sie “nie ganz harmlos und entspannt” sei.11 Die Konzentration auf die Krisensituation zeigt daher ganz ungeschminkt, wie sehr Religion und Gewalt z. B. in der griechischen Frühgeschichte miteinander verbunden waren: Nicht im frommen Lebenswandel, nicht in Gebet, Gesang und Tanz allein wird der Gott am mächtigsten erlebt, sondern im tödlichen Axthieb, im verrinnenden Blut und im Verbrennen der Schenkelstücke. Heilig ist der Götterbereich: die ‘heilige’ Handlung aber, am ‘heiligen’ Ort zur ‘heiligen’ Zeit vom Akteur der ‘Heiligung’ vollzogen, ist das Schlachten der Opfertiere. ... Grunderlebnis des ‘Heiligen’ ist die Opfertötung, der homo religiosus agiert und wird sich seiner selbst bewußt als homo necans.12

Diese Worte machen deutlich, warum Burkert später zu Recht bemerkte, dass sein Buch Homo Necans auch den Titel von Girards Buch von 1972 hätte tragen können: La violence et le sacré (Burkert 1972, 341). Ähnlich wie Burkert konzentriert sich auch Girards Interesse auf die Ausnahme als privilegiertem Ort der Einsicht. Seine Theorie vom Sündenbockmechanismus ist sogar selbst ein Modell der Ausnahme.13 Etwas härter als Burkert kritisiert er dabei die Sozialwissenschaften, die eine harmonische Normallage beschwören und alle Gewalt in den Bereich des vernachlässigbar Zufälligen abdrängen: Die mimetische Natur des Begehrens gibt Aufschluß darüber, wie schlecht zwischenmenschliche Beziehungen normalerweise funktionieren. Unsere Sozialwissenschaften sollten einem als normal zu bezeichnenden Phänomen Rechnung tragen; aber sie versteifen sich darauf, Uneinigkeit als etwas Zufälliges und folglich derart Unvorhersehbares zu beurteilen, daß sie als Gegenstand der Kulturwissenschaft nicht in Betracht kommt.14

10

Burkert 1972, 337. Burkert 1981, 127, vgl. 103-104, 110-111; Burkert 1998, 20, 42, 46, 163, 197, 209. 12 Burkert 1972, 9. 13 Girard 1978a, 101; Williams 1991, 20-25. 14 Girard 1999, 25-26. 11

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Ähnlich wie Burkert erkennt auch Girard, dass das Heilige und die Gewalt aufs engste zusammenhängen: “Das Spiel des Heiligen und das Spiel der Gewalt sind eins” (Girard 1972, 379). Die Gewalt macht “Herz und Seele des Heiligen” aus (Girard 1972, 51). Alle diese Übereinstimmungen zwischen Burkert und Girard sollen uns aber nicht die durchaus bestehenden Differenzen übersehen lassen. Bei aller Gemeinsamkeit unterscheiden sich die Ansätze durchaus deutlich. Burkerts Ausgangspunkt war die Untersuchung altgriechischer Opferriten, die er, aufbauend auf Vorarbeiten von Karl Meuli und Konrad Lorenz, mit der Entstehung der Jagd in Verbindung bringt. In der Jagd lenken die Menschen gruppeninterne Spannungen nach außen ab, das daraus hervorgehende religiöse Opferritual festigt die Gruppe. Religion entsteht hier einerseits durch ein Töten, das durch das anschließende Essen wiederum Leben möglich macht. Tötungsschock und geordnete Mahlzeit entsprechen dem “mysterium tremendum, fascinans und augustum”, wie das Heilige von Rudolf Otto umschrieben wurde.15 Andererseits kann auf Konrad Lorenz’ Beschreibung von Formen der “Begeisterung” und des “heiligen Schauers” zurückgegriffen werden, die im gemeinsamen Kampf einer Gruppe eine wichtige Rolle spielen.16 Girard geht demgegenüber von einer Krise einer im Übergang vom Tier zum Menschen befindlichen Gruppe aus, die durch die nichtbewusste Tötung oder Vertreibung eines Gruppenmitgliedes, das dadurch in eine Gottheit verwandelt wird, gelöst wird (Palaver 2003b, 183-250). Opferriten stellen dann die bewusste Wiederholung dieses Sündenbockmechanismus vor. Das Heilige ergibt sich nach Girard aus dem Zusammenspiel von Dämonisierung und Divinisierung des Opfers. Es wird sowohl als Verursacher der Krise verdammt und gleichzeitig auch als Friedensbringer vergöttlicht. Für Girard ist das urtümliche Heilige also ebenso durch Segen und Fluch gekennzeichnet. Während Burkert vorsichtig und strenger fachwissenschaftlich an die Untersuchung eines klar eingegrenzten Themas herangeht, steht Girard für eine umfassende These, die möglichst viele verschiedene Phänomene auf ein Grundprinzip zurückzuführen versucht.17 Burkerts Buch Homo Necans

15

Burkert 1983, 33; Otto 1917. Burkert 1998, 27, 46, 108; Lorenz 1963, 241-245. 17 Dieser Unterschied zeigt sich bereits bei einem kurzen Blick in die Bücher der beiden Autoren. Während Burkert in umfassenden Fußnotenapparaten die vielen zusam16

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beschränkt sich beispielsweise eindeutig auf die Interpretation altgriechischer Opferriten und Mythen. Demgegenüber führt Girard Kulturen als solche auf den Sündenbockmechanismus zurück. Das Phänomen des Sündenbockmechanismus ist auch Burkert bekannt. Während er im Homo Necans dieses Phänomen noch nicht erwähnt, ist er in späteren Arbeiten ausführlich und mit deutlichen Parallelen zu Girard darauf eingegangen.18 Doch der wesentliche Unterschied in den Perspektiven der beiden Autoren lässt sich hier auch gleich erkennen. Während Girard die Vertreibung von Ödipus und das Zerreißen von König Pentheus durch die Bacchantinnen als mögliche Varianten des Sündenbockmechanismus versteht, lehnt Burkert eine solche vorschnelle Identifikation verschiedener Rituale ab.19 Burkert steht Girards Tendenz zu einer einzigen Universal-These vorsichtig skeptisch gegenüber und plädiert für eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der “ungeheuren Komplexität aller Lebensvorgänge”.20 Doch Burkert lässt es nicht bei jenem heute so modernen Minimalismus bewenden, der alles am liebsten unverbunden nebeneinander liegen lässt und sich um keine große Synthese mehr bemüht. Auch er zielt – aber wesentlich vorsichtiger als Girard – auf eine umfassendere Perspektive. Gegen Marcel Detiennes Vorwurf, dass alle globalen Opfertheorien endgültig überholt seien – Girard ist einer der kritisierten Autoren –, tritt Burkert für eine offene Haltung und gegen vorschnelle methodische Schließungen ein: Der Eindruck … bestätigt sich immer wieder, dass nämlich im religiösen Handeln, auch in Opferpraktiken bei allen Unterschieden doch gerade die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedensten Völkern unübersehbar sind. Es scheint da, auch im Undurchsichtigen und zunächst nicht ohne weiteres Erklärlichen, Brücken des Verstehens zu geben, die auf allgemein menschlichen Gemeinsamkeiten aufruhen. Insofern sind für mich die griechischen Opferrituale bei aller Besonderheit doch immer Exempel allgemeinerer Phänomene.21

Direkt bezogen auf die Unterscheidung zwischen Sündenbock-Opfer und aus der Jagd hervorgegangenem Festmahl-Opfer unterscheidet Burkert zwischen der dahinter liegenden Angst auf der einen Seite und der Agmengetragenen Belege nachweist, schreibt Girard Essays, ohne allzu viel auf Belege und Fußnoten zu achten. 18 Burkert 1977, 139-142; Burkert 1979, 59-77; Burkert 1981, 106; Burkert 1998, 67-70, 132-138. 19 Burkert 1981, 110; Burkert 1983, 34; Burkert 1987, 172, 178-179. 20 Burkert 1972, 343; Burkert 1983, 34. 21 Burkert 1981, 91-92; Detienne/Vernant 1989, 20.

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gression andererseits. Mit einem bloß positivistischen Nebeneinander gibt sich Burkert nicht zufrieden. Ohne die Unterschiede zu verwischen, glaubt er ein mögliches “komplexes Ineinander” zu erkennen, das “insgesamt das religiöse Opfer konstituiert”.22 Eine Synthese scheint ihm möglich zu sein, auch wenn sie noch mehr Forschungsarbeit erfordern wird. In solchen Überlegungen zeigt sich, warum Girard mit einem gewissen Recht in Burkert einen Verbündeten im Bemühen um eine universale Religionstheorie sieht.23 Vor dem Hintergrund aktueller Debatten zu Religion und Gewalt heben sich die Ansätze von Burkert und Girard – trotz aller Unterschiede – in ihrem Bemühen um eine universale Religionstheorie und in ihren Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Evolutionstheorie und Religion positiv von vielen aktuellen Beiträgen ab.

II. Die mimetische Rivalität als Ursprung zwischenmenschlicher Gewalt Wie schon kurz angedeutet, zeigt sich an der Einschätzung des Zusammenhangs von Jagd und Opfer einer der wichtigen Unterschiede zwischen Burkert und Girard. Für Burkert gehen bestimmte Formen des Opfers aus der Jagd hervor, während Girard umgekehrt die Entstehung der Jagd als eine mögliche Folge des Sündenbockmechanismus deutet.24 Burkert ließ sich auch bei einer gemeinsamen Tagung im Herbst 1983 von Girard nicht von seiner These abbringen. Grundsätzlich hält er bezüglich Girard fest, dass dessen Theorie zu wenig aus einer historischen Perspektive entwickelt und auch empirisch zu wenig gut belegt sei. Nach Burkert fehlt der “historisch-empirische Unterbau” (Burkert 1981, 110). Jüngste Entwicklungen auf dem Gebiet der Verhaltensforschung und der Neurologie bestätigen aber inzwischen immer mehr Girards zentrale Betonung der Nachahmung im zwischenmenschlichen Zusammenleben. Girard erklärt zwischenmenschliche Konflikte mittels seiner Theorie vom mimetischen bzw. nachahmenden Begehren, das unter bestimmten Voraussetzungen sehr leicht in mimetische Rivalität, Konflikte und Gewalt münden kann. Dieser Ansatz baut zuerst auf die große Bedeutung der Nachahmung im 22

Burkert 1983, 36; vgl. 37; Burkert 1987, 174-175. Girard in Hamerton-Kelly 1987, 216-217. 24 Burkert 1987, 178-179; Girard 1978a, 70; Girard 2008, 78-79, 142. 23

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255

Zusammenleben von Lebewesen auf. Das wird heute ganz grundsätzlich immer stärker von den Naturwissenschaftlern bei Tieren hervorgehoben und rückte durch die Entdeckung so genannter Spiegelneuronen bei Affen und vor allem auch bei Menschen noch stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit.25 Was Girard ursprünglich durch seine aufmerksame Lektüre der großen europäischen Romane entdeckte, zeigt sich immer stärker im Bereich der Gehirnforschung: Tiere und noch deutlicher die Menschen sind nachahmende Lebewesen, wobei die Nachahmung vor allem im Aneignungsverhalten eine zentrale Rolle spielt. Ein eigenes Forschungsprojekt widmet sich zurzeit dem Dialog zwischen empirischen Wissenschaftlern, die sich auf verschiedene Weise für die Nachahmung interessieren, und Vertretern der mimetischen Theorie Girards.26 Girard erklärt vor allem die zwischenmenschliche Gewalt mittels der mimetischen Rivalität, die aus der Nachahmung jenes Begehrens entstehen kann, das auf nichtteilbare oder nicht gemeinsam genießbare Objekte zielt. Diese These ist insofern auch für den Vergleich von Burkert und Girard interessant, weil sie zwischenmenschliche Gewalt erklären kann, ohne direkt auf einen Aggressionstrieb zurückgreifen zu müssen. Hier unterscheidet sich Girard deutlich von Freud und Lorenz, deren Theorien letztlich doch zu sehr auf einem Aggressions- oder Todestrieb aufbauen. Burkert distanzierte sich zwar von Anfang an von Lorenz’ zu deutlicher Annahme eines Aggressionstriebes, blieb ihr aber im Unterschied zu Girard doch auch etwas verhaftet.27 Girard betont dagegen die Konkurrenz, die viel stärker als die Aggression als Wurzel der Gewalt verstanden werden muss: Intraspecies violence already exists among animals, notably in sexual rivalries, but it remains moderate. The victor spares the vanquished, and this is how the relations that play the main role in animal life are established. They are relations of dominance. Human beings are more violent than animals since they often kill each other. We blame this state of affairs on aggression. The problem with this notion is its one-sidedness. It aggressively divides mankind between the aggressors and the aggressed, and we include ourselves in the second category. But most human conflicts are two-sided, reciprocal. We are competitive rather than aggressive. In addition to the appetites we share with animals, we have a more problematic yearning that lacks any instinctual object: desire. We literally

25

Dugatkin 2000; Rizzolatti/Fogassi/Gallese 2006; Waal 1996, 92-94. Templeton-Forschungsprojekt “Imitation, Mimetic Theory, and Religious & Cultural Evolution” (http://www.mimetictheory.org/index.html). Vgl. dazu Garrels 2006; Girard 2008, 60-61. 27 Burkert 1972, 8, 336-337; Burkert 1983, 32; Burkert 1998, 22, 24; Segal 2007, 19. 26

256

Wolfgang Palaver do not know what to desire and, in order to find out, we watch the people we admire: we imitate their desires.28

Auch wenn Girard in diesem Zitat den Unterschied von Tier und Mensch hinsichtlich der Gewalt zu sehr im Gefolge von Lorenz und heute überholten ethologischen Positionen noch hervorhebt, muss ihm im Blick auf seine Sicht der Konkurrenz zugestimmt werden.29 Zu menschlichen Beziehungen gehören wesentlich Nachahmung und Reziprozität, die eben auch zur Gewalt führen können. Burkert hebt selbst die zentrale Bedeutung der Reziprozität hervor, wo er sich mit der Bedeutung von Gabe und Gegengabe im menschlichen Leben auseinandersetzt.30 Im Unterschied zu Girard übersieht er aber zu sehr die Konfliktpotentiale, die mit der nachahmenden Reziprozität gegeben sind. Girard unterstreicht hingegen den Zusammenhang von Wechselseitigkeit und Gewalt und kann dadurch auch die komplexen kulturellen Einrichtungen erklären, die den Gabentausch vor einem Abgleiten in die wechselseitige Gewalt bewahren sollen (Girard 2002b). Die Gabe ist nämlich nicht bloß Geschenk, sondern oft auch “Gift” für die 28 Girard 2004, 9; Girard/Vattimo 2006, 57. Lorenz 1963, 48 erwähnte im Anschluss an die Arbeiten des amerikanischen Soziologen Vance Packard die Möglichkeit, der er dann leider nicht systematisch gefolgt ist, die Konkurrenz der Aggression vorzuziehen: “Bei seiner Lektüre ist man versucht zu glauben, der intraspezifische Wettbewerb sei in einem unmittelbareren Sinne die ‘Wurzel alles Bösen’, als Aggression es je sein kann.” 29 In seinen frühen Werken hat Girard (1972, 213, 320; Girard 1978a, 88-95) im Gefolge von Lorenz und anderen Verhaltensforschern einen deutlichen Unterschied zwischen Tieren und Menschen bezüglich der Gewalt innerhalb von Gruppen festgehalten: Während bei den Tieren Tötungshemmungsmechanismen und “dominance patterns” die Gewalt innerhalb von Tiergruppen eindämmen würden, wäre die Gruppengewalt erst unter Menschen ein nur mehr sehr schwer zu bewältigendes Problem. Im Gefolge neuerer Forschungen hat Girard 2008, 101-106 inzwischen seine Position in dieser Frage erkennbar nuanciert. Der Übergang vom Tier zum Menschen müsse diesbezüglich viel gradueller verstanden werden. Schon bei vielen Tieren ließen sich kollektive Formen der Gewalt erkennen, auch Vorformen des Sündenbockmechanismus seien klar auszumachen. Bereits Lorenz habe indirekt auf tierische Vorformen des Sündenbockmechanismus hingewiesen. Im Gegensatz zu Lorenz weist heute unter anderem Diamond 1994, 362372 deutlich auf die Gewalt als eine verbindende Dimension zwischen Tieren und Menschen hin. Diesen Zusammenhang betont auch der Primatenforscher Waal 2005, 133-176, wobei dieser allerdings auch ausdrücklich auf gemeinsame Friedenspotentiale bei Tieren und Menschen hinweist und – was im Blick auf Girard besonders interessant ist – eindrückliche Beispiele von Sündenbockjagden unter Tieren festhält. Waal geht dabei sogar so weit, dass er die Neigung zu Sündenbockjagden als eine den Tieren und Menschen mitgegebene natürliche Grundausstattung bezeichnet (169-170). 30 Burkert 1998, 158-164; Burkert 2000, 119-123.

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menschlichen Beziehungen (Girard 2002b, 446). Mit Girards Betonung der mimetischen Rivalität als Ursache zwischenmenschlicher Gewalt lässt sich plausibel machen, warum Menschengruppen leicht in die Krise geraten können und dann zur Jagd auf Sündenböcke neigen. Mir scheint ein solcher im Inneren menschlicher Gruppen ansetzender Zugang systematisch jenen Ansätzen überlegen zu sein, die der äußeren Bedrohung den Vorrang einräumen. Das gilt auch im Blick auf Burkerts Erklärung der Sündenbock-Rituale, die er vor allem auf Bedrohungen einer Gruppe von außen zurückführt.31 Als Beispiel aus der Tierwelt nennt er die von Raubtieren umlagerte Herde. Doch letztlich kommt es bei allen Bedrohungen von außen immer darauf an, wie eine Gruppe diese im Inneren verarbeitet.32 Die Beziehungen im Inneren einer Gruppe entscheiden letztlich darüber, wie auf die Krise reagiert wird. Mimetische Prozesse spielen dabei eine wichtige Rolle.

III. Die biblische Differenz: Schuld und Opfer aus der Sicht der biblischen Offenbarung In meinem abschließenden dritten Punkt möchte ich vor allem auf die biblischen Religionen – auf Judentum und Christentum – zu sprechen kommen. Auch hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen Burkert und Girard, der einerseits fachliche Hintergründe hat, andererseits aber auch systematisch bedeutsam ist. Burkert beschränkt sich mehr oder weniger auf die alten Religionen, also jene Religionen, die dem “Judentum, Christentum, Islam und Buddhismus” voraus liegen (Burkert 2000, 103104). Girard hat demgegenüber mehrere Bücher geschrieben, die sich ausführlich mit den biblischen Religionen auseinandersetzen. Burkerts Fokussierung auf die alten Religionen heißt allerdings nicht, dass er überhaupt keinen Blick auf die biblische Tradition werfen würde. Bei einem genaueren Hinsehen fällt nämlich auf, dass er durchaus immer wieder auch kurz auf die Bibel, Judentum oder Christentum hinweist. Schon im Homo Necans bemerkt er ganz zu Beginn, dass auch in den biblischen Religionen das Opfer von zentraler Bedeutung bleibt: 31

Burkert 1979, 71; Burkert 1981, 114; Burkert 1983, 38; Burkert 1998, 50-73. Girard 1972, 51; Girard 1982, 23-26, 67-68; Girard 1991, 161; Girard 2002a, 153-155; Palaver 2003, 184. 32

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Wolfgang Palaver Wer … Erlösung … in der Religion erhofft, sieht sich der Tatsache gegenüber, dass selbst die Grundlage des Christentums ein Mord ist, das unschuldige Sterben des Gottessohnes, wie auch schon der Bundesschluß des Alten Testaments das fast vollzogene Opfer des Sohnes durch Abraham voraussetzt. Gerade in der Mitte der Religion droht faszinierend blutige Gewalt.33

Burkert schließt das systematisch zentrale Kapitel dieses Buches dann auch wieder mit einem Hinweis auf die katholische Kirche ab. Im Anschluss an seine zusammenfassende These, dass das religiöse Ritual und die daraus hervorgehende Gottesverehrung für das Zusammenleben der Menschen im Laufe der Geschichte von zentraler Bedeutung gewesen sei, lässt ihn mit einem abschließenden Blick auf die römische Kirche enden, die vom Römerreich übrig geblieben sei: Auch in ihr blieb im Zentrum das unerhörte, einmalige, freiwillige Opfer, in dem der Wille des Vaters mit dem des Sohnes eins wird, wiederholt im heiligen Mahl, das durch Anerkenntnis der Schuld Erlösung wirkt. Dauerhafte Ordnung ist so zustandegekommen, Fortschritt der Kultur, in dem doch die Gewalttätigkeit des Menschen konserviert geblieben ist.34

Es lassen sich noch sehr viel mehr Belege im Werk Burkerts finden, die ein kurzes Licht auf Judentum oder Christentum werfen. Doch im Unterschied zu Girard fällt auf, dass er keinen wesentlichen Unterschied zwischen den alten Religionen und der biblischen Tradition festhält, sondern eher deren Kontinuität betont. Während Girard einen fast unüberbrückbaren Graben zwischen archaischem Mythos und Bibel behauptet, weil die Mythen die Perspektive der Verfolger wiedergeben und nur in der Bibel die Partei für die Sündenböcke ergriffen wird, sieht Burkert keine solche fundamentale Differenz. Skeptisch steht er der Möglichkeit des Fortschritts im Bereich der Kultur- und Geistesgeschichte gegenüber (Burkert 1998, 153). Doch wie steht es mit der religiösen Entwicklung, die schon Durkheim beobachtet hat, als er vom historischen Wandel von Religion gesprochen hat? Wenn es wahr ist, dass eine Religion in bestimmter Hinsicht unentbehrlich ist, so ist es nicht weniger gewiss, dass die Religionen sich wandeln, dass die Religion von gestern nicht die von morgen sein kann.35

33

Burkert 1972, 8; vgl. Burkert 1983, 16-18. Burkert 1972, 96. 35 Durkheim 1986, 62. Gegenüber Durkheim muss mit Girard 1999, 131 allerdings festgehalten werden, dass dieser den “unüberbrückbaren Unterschied zwischen den 34

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Girards mimetische Theorie erklärt diesen bei Durkheim nur vage angedeuteten, fundamentalen Wandel, den die biblischen Religionen bewirkt haben. Sie haben die verschleierten Opfer der Sündenbockkulturen ans Tageslicht gebracht und sich mit den Opfern der Verfolgung identifiziert. Langfristig ist damit die gewalteindämmende mythische Kultur unterminiert worden und hat andere Wege der Gewaltüberwindung notwendig gemacht. In dieser biblischen Tradition wurzeln letztlich die modernen Menschenrechte, auch wenn sie sich oft erst gegen kirchlichen Widerstand durchsetzen mussten. Der erste Schritt in dieser kulturstürzenden Bewegung zeigt sich in jener Abrahamitischen Revolution, die den Auszug aus der Welt des Menschenopfers bedeutet und in der aufgehobenen Opferung Isaaks (Gen 22) sichtbar wird. Burkert erwähnt öfters diese biblische Geschichte, betont aber eher ihren Opfercharakter und weniger den in ihr wichtigen Schritt in Richtung der Überwindung des mythischen Opfers.36 In der Passionsgeschichte Jesu kommt es nach Girard dann zur endgültigen Aufdeckung des Sündenbockmechanismus und damit zu einer grundsätzlichen Abkehr von den alten Opferkulturen, sodass Girard den Begriff ‘Opfer’ für den Kreuzestod Christi zuerst sogar radikal zurückwies. Dieser durch die biblische Offenbarung bewirkte Bruch mit den alten Opferkulturen ist für den Vergleich zwischen Burkert und Girard im Blick auf das Thema Schuld wichtig. Über Karl Meuli wirkt auch bei Burkert jene Vorstellung von Sigmund Freud nach, dass die tötende Gewalt Schuldgefühle bei den Tätern hervorrufe und damit zur Bildung von Religion beitrage.37 Doch diese These ist mit ziemlicher Sicherheit falsch (vgl. Johnsen 2003, 10-11). Nach Girard unterscheiden sich Mythen und die biblische Offenbarung in dieser Hinsicht ganz grundsätzlich. Wenn in den Mythen Schuld überhaupt zur Sprache kommt, so ist sie immer die Schuld jenes Opfers, das vertrieben oder getötet wurde. Alle Schuld lastet auf dem Sündenbock, während die Meute der Verfolger keine Schuld kennt und sich immer für unschuldig hält. Ödipus ist als Vatermörder und wegen archaischen und den jüdisch-christlichen Religionen” nicht wirklich erkannt hat. Vgl. dazu Graham 2007. 36 Burkert 1998, 185. Vgl. dagegen Mann 1996, 199: “Das eigentliche und ursprüngliche Opfer war Menschenopfer. Wann kam der Augenblick, wo es zum Greuel und zur Dummheit wurde? Die Genesis hält ihn fest, diesen Augenblick, im Bilde des verwehrten Isaak-Opfers, der Substituierung des Tieres. Hier löst sich ein in Gott fortgeschrittener Mensch von überständigem Brauch, von dem, worüber Gott mit uns hinauswill und schon hinaus ist.” 37 Burkert 1972, 24, 29, 44, 48, 79, 86-89, 244.

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seines Inzests mit der eigenen Mutter für die Pest in Theben verantwortlich und muss daher aus der Stadt verstoßen werden. Seine Verfolger sind unschuldig und schützen die Stadt, indem sie den Übeltäter vertreiben. Erst in der biblischen Offenbarung finden wir ein ganz anderes Verhältnis zur Schuld. Dort kommt es zur Aufdeckung des Sündenbockmechanismus, weil eine Gruppe von Verfolgern ihr eigenes schuldhaftes Verhalten erkennt, sich bekehrt und ihr Opfer rehabilitiert. Das bedeutendste Beispiel dafür sind die Jünger Jesu – besonders Petrus –, die erst dann fähig wurden, das Sündenbockdenken aufzudecken, als sie erkannten, wie sie sich selbst an der Zusammenrottung gegen Jesus beteiligten, als sie zu zweifeln begannen, wegliefen oder ihn verleugneten. Erst im biblischen Denken finden wir jenen Gedanken der Schuld, der es möglich macht, den Sündenbockmechanismus aufzudecken. Im biblischen Sinne verstanden, blieb der Gedanke der Schuld oder der Sünde den Heiden unbekannt: “Der Begriff Schuld und Sünde tritt im tiefsten Sinne im Heidentum nicht hervor”, schrieb Søren Kierkegaard (Kierkegaard 1844, 90). Und auch Walter Benjamin hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Schuld auf diesen fundamentalen Unterschied hingewiesen, wenn er Heidentum/natürlicher Schuldbegriff und Judentum/sittlicher Schuldbegriff einander gegenüberstellt: Soviel heidnische Religionen, soviel natürliche Schuldbegriffe. Schuldig ist stets irgendwie das Leben, die Strafe an ihm der Tod. / Eine Form der natürlichen Schuld die der Sexualität, an Genuß und an der Erzeugung des Lebens / Eine andere die des Geldes, an der bloßen Möglichkeit zu existieren / Andere Arten der natürlichen Schuld? / Jüdisch nicht das Leben, sondern allein der handelnde Mensch kann schuldig werden. (Sittliche Schuld. – Ist dieser Ausdruck gestattet?) .38

Nach Freud entspringt die Religion – insbesondere die religiösen Riten – jenem Schuldgefühl, das sich nach dem Mord am Urvater in der Brüderhorde ausbreitet. Doch stimmt diese These? Die griechischen Tragödien stützen eine solche These nicht, weil alle Schuld von Anfang an immer schon auf den Helden abgeschoben ist. Freud entlarvte zu Recht diese Abschiebung. Er übersah allerdings dabei, dass das Licht, das ihm seine Aufklärung dieser Abschiebung ermöglichte, nicht aus der heidnischen, sondern aus der biblischen Tradition stammt. Nur wenn wir die Texte der heidnischen Antike im Lichte biblischer Texte lesen, zeigt sich die für alle 38

Benjamin 1981, VI, 56.

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Kulturen prägende Abschiebung von Schuld. Für die Verfolger selbst bleibt dieser Zusammenhang verborgen. Burkert schließt zwar nicht direkt an Freud an, bleibt aber indirekt – wahrscheinlich beeinflusst durch Meuli – Freuds Schuldthese verhaftet. Der amerikanische Anthropologe Renato Rosaldo wandte 1983 bei der gemeinsamen Tagung mit Burkert und Girard zu Recht ein, dass es sehr missverständlich sei und unreflektiert einen westlichen Begriff ins Spiel bringe, wenn bezüglich des Tötens in den alten Religionen bei den Tätern vom Empfinden von Schuld gesprochen werde (Rosaldo 1987, 241-242, 245). In seinem aus dem Jahre 1996 stammenden Nachwort zum Homo Necans hat Burkert selbst Meulis These vom Erleben einer “Verschuldung” relativiert (Burkert 1972, 340). Systematisch wäre hier ein deutlicheres Aufgreifen von Girards Betonung der biblischen Differenz hilfreich. Denn dann ließe sich viel problemloser erklären, warum sich diese mit Schuld überschriebenen Phänomene in den alten Kulturen so fundamental von unserem modernen Schuldverständnis unterscheiden. Denn es ist Burkert keineswegs entgangen, dass die “genaue juristische Aufarbeitung des Schuldbegriffs mit der Problematik von freiem Willen und persönlicher Verantwortung … natürlich einer fortgeschrittenen, aufgeklärten Kultur angehört” (Burkert 1998, 153). Im Blick auf das Judentum und insbesondere das Christentum scheint Burkert stärker die Kontinuität der Opferdimension zu betonen, während Girard eine fundamentale Differenz festhält. Doch bilden die beiden Theorien in dieser Hinsicht wirklich einen unüberbrückbaren Gegensatz?39 Ein genaueres Hinsehen lässt auch hier eine interessante Brücke erkennen. Mehrere seiner Schriften schließt Burkert mit Beobachtungen ab, die unterstreichen, dass die modernen Alternativen zu den alten Opferkulturen selbst nicht ohne Probleme sind. Technische Lösungen werden sich zwar möglicherweise als unausweichlich erweisen, aber auch sie haben einen nicht zu unterschätzenden Preis. Im Nachwort zum Homo Necans skizziert er als mögliches Zukunftsszenario den “dichtgedrängten, aggressionslosen Heringsschwarm, rhythmisch zuckend im Techno-Sound” (Burkert 1972, 338). Woanders sieht er Tendenzen in Richtung einer “schönen neuen, 39 Die kürzlich aufgestellte Behauptung des deutschen Kirchenhistorikers Angenendt 2008, die Opferthese Girards sei “ganz anders” als die von Burkert, übersieht die Gemeinsamkeiten der beiden Denker völlig und wurzelt wohl in dem unbegründeten und auch gänzlich unverständlichen Versuch, Girard jede Nähe zu einem genuinen christlichen Opferverständnis abzusprechen.

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freilich nur ‘virtuellen’ Welt”, die die Religionen ersetzen könnte (Burkert 1998, 215). Und seine im Anschluss an Renato Rosaldo erfolgte Gegenüberstellung von urtümlichen Kopfjägern auf den Philippinen und modernen Formen des Kriegs macht auch nachdenklich über das, was wir Fortschritt nennen.40 Einen problemlosen oder kostenlosen Ausstieg aus der Welt der Opfer gibt es sicher nicht. Wer einen solchen Weg verspricht, könnte leicht noch gewalttätigere Massaker verursachen (Palaver 2003b, 296-299). Die europäischen Konquistadoren haben es uns bereits vorgemacht. Genau diese neuen Gefahren, die die biblische Aufdeckung des Sündenbockmechanismus nach sich ziehen kann, haben Girard – unter Einfluss des Innsbrucker Dogmatikers Raymund Schwager (Schwager 1978) – dazu geführt, seine ursprünglich radikale Position zur Frage des Opfers zu revidieren. Lehnte er zuerst den Opferbegriff für die Passion Jesu grundsätzlich ab, um nicht die Einsicht in den Unterschied zwischen Mythos und Bibel zu gefährden, so erkannte er später, dass eine solche Ablehnung des Opferbegriffs umgekehrt die Gefahr mit sich bringt, dass die Menschen den Gewaltzusammenhang ausblenden, der auch im Falle Jesu seinen blutigen Preis forderte. Ohne die Unterschiede zwischen Mythos und Bibel einzuebnen, kann der Opferbegriff vor der Illusion scheinbar kostenloser Lösungen bewahren und einen Blick auf die “paradoxale Einheit alles Religiösen” öffnen (Girard 1995, 27). In diese Richtung kommen sich auch die unterschiedlichen, aber jeweils berechtigten Anliegen von Burkert und Girard wiederum sehr nahe. Sie berühren sich dabei mit Einsichten Aby Warburgs – um hier wieder an den Beginn dieses Beitrages zurückzukehren. Im Jahre 1929 diskutierte der Kulturwissenschaftler mit einem holländischen Gast über die Bedeutung des traditionellen katholischen Verständnisses des Abendmahles. Der holländische Gast brachte dafür wenig Verständnis auf, weil er – wie Warburg berichtet – ganz optimistisch in die Zukunft blickte und sich “vom Arbeitsrhythmus des Großbetriebes und von der neuen Architektur so eine Art Vermeidung des Passionserlebnisses” erhoffte (Warburg 2001, 498). Warburg – auch er wie Burkert und Girard ein empfindlicher Seismograph – erkannte, dass sein Gast das religiöse Problem deshalb nicht verstand, weil er die Gewaltproblematik völlig ausblendete. Zielsicher notierte er deshalb folgenden Satz ins Tagebuch seiner ‘Kulturwissenschaftlichen Bibliothek’: “Die holländische Nation, war eben, wie 40

Burkert 1983, 41-42; Rosaldo 1987, 255.

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ich ihm sagte, nicht im Krieg” (Warburg 2001, 498). Auch in unserer von der biblischen Offenbarung geprägten Welt bedürfen wir der Religion, um Frieden zu ermöglichen. Girard formulierte das kürzlich auf einer Tagung in der Nähe von Berlin folgendermaßen: Die biblischen Religionen “sollen uns daran hindern, uns gegenseitig umzubringen …” (Assheuer 2007).

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CHRISTOPH ANTWEILER Evolution, Analogien und Universalien. Eine Systematik naturalistischer Modelle anhand von Walter Burkert

Unter den naturalistischen Ansätzen, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften als biologische, evolutionistische oder evolutionäre Ansätze firmieren, verbergen sich sehr unterschiedliche Konzepte und Modelle. Sie werden gern vermengt und dies gilt für Vertreter und Kritiker biologischer Argumentationen gleichermaßen. Walter Burkerts Religionsethologie sucht den Brückenschlag zu den Naturwissenschaften, insbesondere von der Altertumswissenschaft zur Biologie. Da er dies mit zugleich weitem Horizont und erheblicher Verve tut, bietet er eine ungewöhnlich gute Möglichkeit, verschiedene naturalistische Modelle menschlicher Geschichte zu unterscheiden und ihre Stärken und Schwächen kritisch abzuwägen. Dieser Beitrag wirft zunächst einen kritischen Blick auf den biologisch inspirierten Teil des Werks von Burkert (I). Darauf aufbauend werden zum einen verschiedene sogenannte biologische Ansätze vergleichend systematisiert (II). Dann charakterisiere ich Analogie als eine besondere Form der Ähnlichkeitsbeziehung (III). Ein weiterer Teil erläutert Universalien als Konzept für empirische Gleichheiten auf der Ebene von Gesellschaften (IV). Ich betone, dass kulturübergreifende Gleichheiten sowohl auf biotische Faktoren als auch auf nichtbiotische Prozesse zurückgehen können und komme zum Fazit (V).

I. Stärken und Schwächen Burkerts Jede Einschätzung eines Autors und seines Werks ist von den begrenzten Erfahrungen und persönlichen biases geprägt. Angesichts der Weite und Tiefe des Burkertschen Werks gilt das in ganz besonderem Maße. Ich bin Ethnologe, der in der kulturrelativistischen Tradition des Fachs erzogen wurde, aber im Studium auch eine komparative Sicht mitbekommen hat. Ferner habe ich vor meinem Ethnologiestudium Geologie, Paläontologie

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und Biologie studiert. Dies sind Naturwissenschaften, aber gegenüber der Physik und Chemie besondere Naturwissenschaften, insofern sie eine starke historische Komponente haben. Ihr Gegenstand ist Naturgeschichte. In meiner kultur- und sozialwissenschaftlichen ethnologischen Forschung schwingt also ein naturwissenschaftlicher Hintergrund mit. Ich habe ein Interesse am ‘ganzen Menschen’ und mein Credo ist, dass Menschen nur als Teil der Natur zu verstehen sind. Ich bin der Ansicht, dass der Mensch als “another unique species” (Foley 1987, 1-14) aufzufassen ist, dass man aber einige spezielle zusätzliche Ansätze braucht, wenn man als Mensch zu Erkenntnissen des Humanums kommen will. Demzufolge bin ich, vereinfachend gesagt, auf ontischer Ebene Monist und bezüglich epistemischer Annahmen ein begrenzter Dualist. Ich sehe in Burkerts Werk vor allem Stärken in der grundsätzlichen Perspektive und der methodischen Herangehensweise. Eine Stärke Burkerts, die angesichts des heute spezialisierten Wissenschaftsbetriebs auffällt, ist ganz einfach seine breite Bildung. Dies erlaubt ihm immer wieder, vielfältige und überraschende Bezüge zwischen vermeintlich unterschiedlichen Themen und Aspekten. Im Unterschied zu vorsichtigem, allseits abgesichertem interdisziplinären Tasten, wie es derzeit durchaus auch modisch sein kann, sehen wir bei ihm intellektuelle Energie und synthetischen Mut – bis hin zu mangelnder Vorsicht. Eine zweite Stärke besteht darin, dass Burkert die kulturwissenschaftliche Meidung der Biologie meidet. Noch allgemeiner tritt Burkert gegen den Isolationismus der beiden “Kulturen” im Sinne Snows an. Dies ist mir ein wichtiger Punkt, denn ich habe den Eindruck, dass der Graben zwischen den zwei großen Wissenschaftskulturen eher breiter und tiefer wird als schmaler und flacher. Das Zusammentreffen von diesen drei Zügen, Burkerts historischem Interesse, einer auffallend breiten Bildung und einer ungewöhnlichen Offenheit gegenüber der Biologie, nicht nur der Evolutionsbiologie, prädestiniert Burkert dafür, ein Boot über diesen Rubikon der zwei Kulturen zu steuern. Und das brauchen wir heute dringender denn je. Als Ethnologe sehe ich weiterhin einige besondere Stärken bei Burkert. Hier ist zunächst seine stark vergleichende Perspektive herauszustellen. Diese explizit komparative Ausrichtung fehlt den meisten derzeitigen Geistes- und Kulturwissenschaftlern, und sie ist auch unter Historikern selten. Wichtig ist, dass Burkert mit seinen historischen Vergleichen eine diachrone Ergänzung zu synchronem Kulturvergleich anbietet. Seine Offenheit für biotische Zusammenhänge und biologische Ansätze erlaubt es

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ihm auch, Artvergleiche (interspezifische Vergleiche) anzustellen. Als Ethnologe begrüße ich seine Sensibilität für exogene Einflüsse als Faktoren kulturellen Wandels. Im Unterschied zu vielen Kulturtheorien firmiert der Transfer von Ideen zwischen Kulturen bei ihm nicht als Appendix. Wo viel Licht ist, muss auch Schatten sein. Meine Kritik betrifft vor allem theoretische Ausführungen bei Burkert, insbesondere seine Aussagen über Ursachen von Phänomenen, Schwächen in der eigentlichen Theoriearbeit. Einige dieser Schwächen wurden schon von anderen Kritikern aufgeworfen, ohne dass Burkert in seinen Antworten ausführlicher darauf eingegangen wäre. Ein Beispiel bieten verhaltenswissenschaftliche Argumentationen. Burkert neigt dazu, von Verhaltensweisen ohne Umschweife auf evolutive Ursachen zu schließen. Dabei bleiben als Lücke psychische Mechanismen, über die recht wenig gesagt wird (Boyer 1998; Saler 1998, 389). Ein gewichtigeres Problem ist der direkte Schluss von Ubiquität auf Bios: Die starke Verbreitung eines kulturellen Phänomens führt Burkert fast immer dazu, anzunehmen, dass dahinter eine biotische Verursachung stehen müsse. Dies ist in vielen Fällen angebracht, oft aber eben auch nicht. Wie ich weiter unten zeigen werde, haben geografisch und historisch weit verbreitete oder gar ubiquitäre Kulturmuster ganz unterschiedliche Ursachen. Hinsichtlich ihrer Ursachen sind Universalien eine Mischkategorie, die neben naturaler Verursachung auch kulturelle Ursachen beinhalten kann. Das Werk von Walter Burkert enthält eine Unmenge von Fakten und Argumenten. Aber es ist auch durch einen zuweilen überbordenden Gebrauch von Metaphern gekennzeichnet (Braun 1998, 86). Einige dieser Metaphern sind sehr hilfreich, etwa, wenn Burkert durch die Wendung ‘genetische Empfehlungen’ in geschickter Weise die angesichts genetischer Ursachenargumente immer schnell lauernden Annahmen eines vermeintlichen genetischen Determinismus unterbindet. Auch die Metapher der ‘biologischen Landschaft’ (Burkert 1996, 18-23) halte ich wegen des Verweises auf örtliche Zusammenhänge und zeitliche Kontinuität für sinnvoll (Baudy 1998, 290). Problematisch wird es allerdings mit Wendungen wie ‘biologische Spuren’. Dieses Bild ist wohl eher zu schwach: Hier wären ‘Gleise’ oder ‘Weichen’ treffender (Baudy 1998, 289; Boyer 1998, 89), weil sie die Kanalisierungen stärker verdeutlichen würden. Manche Metaphern Burkerts sind eher irreführend. Dies betrifft seine Rede vom ‘biologischen Nutzen’. Hier bleibt meistens völlig unklar, ob dieser Nutzen auf der Ebene der Spezies, des Individuums oder des Gens ist (vgl. die

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Kritik Dennetts 1998, 118-120). Die gute Nachricht ist, dass Burkert die überkommene Biologie der Philosophischen Anthropologie mit ihrer Mängelwesenannahme hinter sich lässt. Die schlechte Nachricht ist, dass Burkerts Biologie aus heutiger Sicht in vielem überholt ist und dass er verschiedene Dinge unter den Worten ‘biologisch’ und ‘Evolution’ zusammenwirft. Wenn biologische Modelle für das Verständnis menschlicher Kultur und Geschichte fruchtbar gemacht werden sollen, sind einige analytische Unterscheidungen und Präzisierungen wichtig. Erstens ist streng zu unterscheiden zwischen nicht-darwinischen und darwinischen Argumenten. Viele sozialevolutionistische Modelle sind nämlich allenfalls evolutionistisch in dem Sinne, dass sie langfristigen Wandel thematisieren. Eine zweite wichtige Unterscheidung ist die zwischen Kausalaussagen einerseits und Behauptungen von Analogien andererseits. Drittens sollte Analogie als spezifische Form einer Ähnlichkeitsbeziehung zum einen von biotischer Analogie (Konvergenz) und zum anderen von weiteren Formen der Ähnlichkeit unterschieden werden.

II. Bios und Kultur II.1 Evolutionsmodelle für den Wandel menschlicher Gesellschaften Der Gegenstand evolutionärer Ansätze in den Kulturwissenschaften ist in der Regel der langzeitige Wandel von Gesellschaften sowie Grundmuster und Ursache des Wandels.1 Darin decken sich diese Theorien mit der Universalgeschichte. Dieser Gegenstand firmiert unter ‘sozialer Evolution’, ‘kultureller Evolution’, ‘Evolution der Kulturen’ oder ‘Kulturevolution’. Wenn man Ordnung in die Vielfalt sozial oder kulturell ausgerichteter Evolutionstheorien bekommen will, sollte man drei grundlegende Fragen stellen: (a) In welchem Bezug steht die Theorie zum Darwinismus? (b) Ist das Ziel Beschreibung des Verlaufs von Geschichte oder eine Erklärung? (c) Wie wird das Verhältnis von organischer zu sozialer Evolution gesehen?

1

Vgl. Carneiro 2003 und Sanderson 2007 als meines Erachtens beste Übersichten.

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Mit diesen drei Unterscheidungen lässt sich ein Spektrum evolutionistischer Sozial- und Kulturtheorien aufspannen (Abb. 1). Es gibt Verlaufstheorien nicht-darwinischen Typs und darwinischen Typs. Andererseits existieren sowohl Faktorentheorien nicht-darwinischer Ausrichtung, als auch Theorien, die Mechanismen suchen, aber darwinischer Provenienz sind. Innerhalb der auf Kausalwirkungen orientierten darwinischen Ansätze (mechanistische Theorien) lassen sich solche, die Zusammenhänge zwischen Bio- und sozialer Evolution suchen, und Theorien über Analogien finden. Eine zentrale Frage, die sich quer durch das Spektrum der Ansätze zieht, ist, ob der Bereich des Kulturellen eine Autonomie oder Teilautonomie hinsichtlich der Ursachen und Verläufe langfristigen Wandels hat. Verlauf (1.1)

Nicht-darwinsch (1)

Zusammenhänge (1.2.1)

Faktoren (1.2)

“Evolution”

Analogien (1.2.2) Verlauf (2.1)

Darwinsch (2)

Zusammenhänge (2.2.1)

Faktoren (2.2)

Analogien (2.2.2)

Abb. 1: Evolutionsmodelle in den Humanwissenschaften: eine Systematik

II.2 Klassischer Sozialevolutionismus: Richtung und Fortschritt Der bekannteste Ansatz evolutionistischer Theorie in den Sozialwissenschaften ist der klassische Sozialevolutionismus des 19. Jahrhunderts. Bekannte Vertreter sind Herbert Spencer, Edward Burnett Tylor und Henry Maine. Die Sozialevolutionisten wollten die enorme und unübersichtliche Vielfalt der damals durch das imperialistische Ausgreifen der Kolonialmächte bekannt gewordenen Kulturen in eine Ordnung bringen. Ihr Thema waren langfristige Entwicklungen, also Universalgeschichte, und ihr Inter-

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esse galt großen Mustern und langzeitigen Trends, besonders gesellschaftlichem Fortschritt beziehungsweise gesellschaftlicher Höherentwicklung.2 Die Vielfalt wurde auf wenige ‘Stufen der Entwicklung’ reduziert. In diese Stufen wurden dann sowohl die rezent existierenden Kulturen als auch geschichtlich bekannte Kulturen eingeordnet. Typisch waren Modelle mit drei Stufen, zum Beispiel die bekannte Stufung Wildheit, Barbarei und Zivilisation (vgl. die diesbezügliche Kritik an Burkert bei Phillips 1998, 95). Dieses Schema gab es in ähnlicher Form schon bei den Alten Griechen. Die Sozialevolutionisten waren mehrheitlich Schreibtischtäter; sie kannten die rezenten Kulturen nur indirekt aus ihnen von Reisenden, Händlern und Missionaren gelieferten Informationen (armchair anthropology). Über die historischen Kulturen stellten sie weit reichende Spekulationen an; archäologische Daten dagegen wurden sehr sparsam verwendet. Die Sozialevolutionisten waren in erster Linie an Verläufen interessiert, weniger an Mechanismen. Sie gingen nämlich davon aus, dass Geschichte in einer vorbestimmten Richtung notwendig verläuft, weshalb man auch von unilinearem Evolutionismus spricht. Sozialevolutionisten verwendeten durchaus Analogien aus der Biologie, aber nicht der darwinischen Evolutionsbiologie. Ihr Entwicklungsmodell bestand vielmehr in einer Wachstumsanalogie, einer Gleichsetzung gesellschaftlicher Entwicklung mit der des Individuums (Ontogenese). Die Individualentwicklung zwischen Zeugung und Tod ist aber wesentlich gerichteter, als es die Phylogenese ist. Summa summarum haben wir es mit einer nicht-darwinischen, teleologisch argumentierenden und ontogenetisch analogisierenden Verlaufstheorie zu tun, die historisch gesehen weitgehend vordarwinisch ist. Dies trifft auf etliche Argumente bei Burkert zu (vgl. die Kritik Masuzawas 1998, 109). Die beiden Ansätze sind systematisch verschieden, auch wenn sie wissenschaftshistorisch oft verknüpft auftreten, stellenweise selbst in Darwins Werk. Der Sozialevolutionismus wurde um 1900 von anti-evolutionistischen Richtungen des Kulturrelativismus (Franz Boas) abgelöst. Seit den späten 1940er Jahren gibt es aber einen so genannten Neoevolutionismus. Neoevolutionisten haben ein ähnliches Interesse an Makrogeschichte, aber sie sind stärker an Mechanismen interessiert. Eine Hauptforschungsfrage ist 2 Einige der Theoretiker des klassischen Evolutionismus befassten sich nicht mit Fortschritt, sondern mit vermeintlichem Rückschritt. Schon seit der Antike standen den Fortschrittsmodellen Degenerations-Modelle gegenüber.

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z. B. die nach den Hauptfaktoren (prime movers) politischer Evolution, z. B. der Evolution früher Staaten. Außerdem arbeiten Neoevolutionisten intensiv mit Ur- und Frühgeschichtlern zusammen, so dass ihre Arbeiten deutlich weniger spekulativ sind.3 Wenn man die Schriften der Sozialevolutionisten aber selbst einmal liest, sieht man, dass sie durchaus immer wieder interessante Vermutungen über Faktoren des Wandels gemacht haben. Bis heute ist es eine wichtige Frage, auf welche früheren Innovationen eine neue kulturelle Innovation aufbaut, allgemeiner gesagt: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um ein neues Komplexitätsniveau sozialer Evolution (z. B. das Häuptlingstum als politische Systemform) erreichen zu können? Ferner sollte man nicht vergessen, dass dieses ontogenese-analoge Entwicklungsmodell weite Teile der heutigen Entwicklungstheorie dominiert, was im Englischen treffend als developmentalism bezeichnet wird (Noorgard 1994). Weiterhin stellt das Bild der Stufen wohl das weltweit meistverbreitete Alltagsmodell sozialen Wandels dar. II.3 Darwinische Modelle: echtevolutionäre Theorie Darwinische Vorstellungen von sozialer Evolution sind dagegen Mechanismustheorien. Sie orientieren sich am Modell der Entstehung und anschließenden Verminderung von Variation und können damit als echt darwinische Modelle gelten (truly darwinian models).4 Darwinische Konzepte, die den Verlauf sozialer Evolution darstellen wollen, orientieren sich an der Metapher des Baums von Lebewesen, statt an der aufstrebender Stufen. Es finden sich viele Linien sozialer Evolution und diese spalten sich immer weiter auf. Außerdem beinhaltet ein solches Modell Todäste, also Linien, die enden. Dies steht für das Ende einer kulturellen Linie z. B. beim Aufgehen in einer anderen Kultur durch völlige Assimilation (Ethnozid) oder für das Aussterben einer Kultur durch das physische Aussterben ihrer Träger (Genozid). Solche phylogenetischen Modelle finden sich häufig in Arbeiten zur Evolution von Sprachen. Dies liegt unter anderem daran, dass sich Sprachen mit der Ausbreitung der menschlichen Biopopulationen über die Erde verbreitet haben. Entsprechend zeigen sie ähnliche Muster der Diver3

Als Überblicksdarstellung vgl. Johnson/Earle 1991 und Hallpike 1996. Als Überblicksdarstellung vgl. Antweiler 1991, 1998 und Bierstedt 1997; klassisch ist Campbell 1965. 4

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genz wie Populationen. Zu diesen Modellen, die an den Verlaufsmustern der biotischen Evolution orientiert sind, gehört als ältere Theorie zum Beispiel Julian Stewards Modell der multilinearen Evolution (Steward 1949). Diese Verlaufsmodelle betonen die Ähnlichkeit der Verläufe sozialer Evolution zu Verlaufsmustern der organischen Makroevolution. Damit stellen sie Verlaufsanalogien dar. Hier zeigt sich die heuristische Bedeutung von Analogien. Die beiden in vieler Hinsicht verschiedenen Evolutionsweisen (zum Beispiel bezüglich Geschwindigkeit, Reversibilität, Rolle von Absichten) weisen einige spezifische Ähnlichkeiten des Verlaufs auf: Konvergenz, Divergenz, Parallelität und ‘Tod’ (Gerard/ Kluckhohn/Rappaport 1956, 8-10). Daneben finden sich aber markante Unterschiede. So gibt es in der biotischen Evolution kein Gegenstück zum Zusammenfließen nicht verwandter Linien. Die organische Evolution kennt durch Funktionserfordernisse das Ähnlichwerden aus nicht verwandtschaftlichen Quellen (Konvergenz). Biotische Analoga zu totaler kultureller Assimilation beziehungsweise Ethnozid und zu globaler kultureller Vereinheitlichung gibt es nicht.

III. Analogie als spezielle Form von Ähnlichkeit Burkert arbeitet nicht nur stark mit Metaphern; er argumentiert vielfach mit Vergleichen und Feststellungen von Gleichheiten zwischen verschiedenen Phänomenen oder Prozessen. Ein Beispiel ist das Fingeropfer einerseits und die Körperteilabtrennung als Notfallreaktion der verfolgten Tiere andererseits. Burkert sieht hier eine ‘Entsprechung’ in Form der ‘pars-prototo-Symbolik’ (Burkert 1996, 34-37; Baudy 1998, 291; Saler 1998, 390392). Analogien können Unverstandenes verständlich machen, und sie ermöglichen, neue Phänomene und Fragestellungen zu entdecken (Stephan 2005; Antweiler 2005). Darin liegt ihre Bedeutung als Methode für eine verschiedene Ebenen und Seinsschichten durchgreifende Sicht. Im Folgenden möchte ich daher die Besonderheit von Analogisierung als allgemeinem Denkverfahren zeigen. III.1 Analogierelation vs. andere Ähnlichkeiten Analogisierung als Verfahren besteht aus mehrstufigen Vergleichen. Grundsätzlich handelt es sich bei einer Analogie um eine Relation zwi-

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schen zwei (oder mehr) Sachverhalten, die durch einen zweistufigen Vergleich miteinander verglichen werden. Nach der Feststellung einer Verschiedenheit zweier Phänomene (Formen, Gebilde) stellt sich in einem zweiten Schritt eine Gleichheit heraus. Die Besonderheit besteht also darin, dass die Analogie eine Relation indirekter Gleichheit darstellt (Antweiler 2005, 373).5 Die Verschiedenheit im ersten Schritt ist dabei offensichtlich, und die Gleichheit im zweiten Schritt ist aufschlussreich beziehungsweise erstaunlich. In Umkehrung der aristotelischen Begriffsklassifikation stellt Analogie demnach eine Kombination von universaler Differenz und spezifischer Gleichheit dar. Die Abfolge der Schritte in diesem gestuften Vergleich ist nicht umkehrbar. Die Verschiedenheit in erster Instanz muss bestehen bleiben. Der zweite Schritt benennt eine partielle Gleichheit. Etwas oder Einiges ist gleich im grundsätzlich Ungleichen. Dieser zweite Schritt beinhaltet die Wahl einer Betrachtungsebene, weil die Gleichheit in einer bestimmten Hinsicht gesehen wird. Gleichheit wird entweder durch Auswahl der Merkmale (reduzierendes Analogisieren) oder durch Erzeugen von Merkmalen (konstruktives Analogisieren) erreicht. Diese spezifische Struktur zweier Schritte unterscheidet die Analogie von allgemeinen Ähnlichkeiten, Entsprechungen, Ähnlichkeiten durch Übertragungen mit Abwandlung (mutatis mutandis) und Formähnlichkeiten anderer Art, z. B. Isomorphien (systemische Gleichförmigkeit). Die zwei Schritte von universaler Ungleichheit und spezifischer Gleichheit unterscheiden das Analogisieren vom reinen Abstrahieren, Generalisieren, Theoretisieren und auch klar vom Messen, Diagnostizieren (Differentialdiagnose), Klassifizieren bzw. Typisieren. Analogien werden wider die primäre Ungleichheit postuliert und sind damit immer gewagt. Ihre Fruchtbarkeit muss sich erst erweisen. Die Struktur der zwei Schritte mit erstinstanzlicher Ungleichheit hat auch Konsequenzen für die Kritik von Analogien: Analogien können nicht einfach dahingehend kritisiert werden, dass man ‘unvergleichliche’ Phänomene gleichsetze. Ein klares Beispiel einer Analogie ist die biologische Funktionsanalogie (auch evolutive Analogie oder Konvergenz genannt; Masters 1973, 7-26). Als Pendant zur Homologie wird bei ihr von der Nichtverwandtschaft als erstinstanzlicher Unähnlichkeit ausgegangen, z. B. beim Ver5 Die hier dargelegte Grundstruktur von Analogien folgt Einsichten meines kürzlich verstorbenen akademischen Lehrers Peter Tschohl (Tschohl 1984).

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gleich von Fisch und Wal. Dieser bekannte Fall ist aber in seiner Einfachheit eher untypisch für Analogien, denn hier sind die Merkmale der verglichenen Phänomene klar, die Problemstellung vergleichsweise einfach und es gibt eine ausgearbeitete erklärende Theorie.6 Das ist bei neuen produktiven Analogisierungen anders. Als Unterformen von Analogie könnte man folgende Typen unterscheiden: (a) die eben genannte Funktionsanalogie aus der Biologie, (b) die Formanalogie, z. B. Glockenformen von Käseglocke, Glockenblume, Meduse, Glockenrock, Taucherglocke und Glockenbechern, (c) Strukturanalogien, z. B. Organismen mit Gehirnsteuerung vs. Maschinen mit Computersteuerung oder Sprache vs. Körpersprache, sowie (d) Abbildanalogien in Mathematik und (e) konstruierte Modellanalogien in Physik, Chemie und Biologie, z. B. der Eisenbahnzug bei Einstein, die Pfeffersche Zelle als Modell der zellulären Osmose oder Waddingtons Modell der Ontogenese als Landschaft. Im Fazit erscheint mir die spannende Herausforderung beim Vergleich von Bioevolution und langfristigem Wandel menschlicher Gesellschaften darin zu liegen, dass es beides gibt: sowohl (a) Strukturgleichheiten und Koevolution im engeren Sinne, was beide als zwei Seiten eines Prozesses erscheinen lässt, als auch (b) Analogien im strengen oben angegebenen Sinn, also partielle Gleichheiten zwischen grundlegend unterschiedlichen Phänomenen bzw. historischen Dynamiken. Hier liegt ein großes Forschungspotential, wo Analogien heuristisch nützlich sind. III.2 Einordnung neuerer biokultureller Analogie- und Zusammenhangsmodelle Die Unterscheidung von kausalen Zusammenhängen einerseits und Analogien andererseits macht es möglich, aktuelle naturalistische Ansätze klarer einzuordnen und zueinander in Beziehung zu setzen. Dawkins’ Modell der Memetik (memetics) wird häufig als soziobiologisches oder genetisch orientiertes Modell wahrgenommen. Entgegen seiner üblichen Rezeption ist die Memetik aber alles andere als ein genetizistisches Modell. Meme sind nach Dawkins und Blackmore Einheiten, die in Konkurrenz um Nachgeahmtwerden stehen (Blackmore 2003, 52, 55-57). Das Umfeld, in dem sie konkurrieren, ist durch Aufmerksamkeit als knappe Ressource be6 Biotische Analogien kann es nicht nur für Statisches, sondern auch für Wandel geben. Das wäre etwa gegeben, wenn angeborene und erworbene Verhaltensmuster sich nach analogen Strukturprinzipien wandeln (Baudy 2001, 201; vgl. Godfrey/Cole 1979).

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stimmt. Dieses Modell ist ein rein kulturselektionistisches, das Kultur als autonom ansieht. Es geht um Kommunikation, ‘ansteckendes’ Lernen und Imitation. Der Vererbungsmechanismus ist ein eigener, der autonom von der genetischen Vererbung ist. Auch die Selektion ist in diesem Modell autonom: Sie ist unabhängig vom biologischen Erfolg. Die Autonomie der kulturellen Evolution in der Memetik besteht noch auf einer dritten Ebene. Die Tradition kann nach Dawkins zum Selbstzweck werden. Den Kern der Darwinischen Ansätze zur Modellierung sozialer Evolution bilden nicht Verlaufsmodelle, sondern Modelle zum Mechanismus. Humansoziobiologie und Evolutionsbiologie sind Ansätze, die vor allem biotische Wirkungen auf kulturelle Sachverhalte thematisieren, und beide sind tendenziell synchron orientiert. Jedenfalls untersuchen sie nur selten transgenerationale Verläufe der Geschichte menschlicher Gesellschaften. Etliche neuere Ansätze widmen sich der Interaktion zwischen organischer Evolution und der Evolution menschlicher Gesellschaften. Sie bauen zum Teil auf klassischen Ansätzen auf, z. B. auf der Kulturökologie (cultural ecology) in der Ethnologie. Kulturökologen untersuchen die Wirkungen von Naturfaktoren auf gesellschaftliche Verhältnisse, z. B. den Effekt extrem kalten Klimas auf die Wirtschaftsform der Herdenwirtschaft bzw. wirtschaftliche Anpassungen ans Klima. Anders als in der Humanökologie sind die Untersuchungseinheiten ganze Gesellschaften. Die Kulturökologie befasst sich dabei auch mit den teilweise erheblichen Veränderungen, die menschliche Gesellschaften willentlich oder ungewollt in ihren Umwelten bewirken. Während die klassische Kulturökologie diese Veränderungen synchron untersucht, widmen sich historische Kulturökologen zusammen mit Ur- und Frühgeschichtlern langfristigen Wechselwirkungen zwischen kulturellen und biotischen Systemen. Hier kann man komplizierte Rückkopplungen zeigen (Laland/Odling-Smee/Feldman 2002). Kulturelle Traditionen können z. B. dahingehend wirken, dass die Individuen mit der hinsichtlich der Anpassung an lokale Umweltgegebenheiten funktional sinnvollsten Tradition überleben. Deren Gene überleben dann kontingenterweise (!), weil sie Traditionsträgern gehören, die aufgrund anderer, nichtgenetischer Faktoren mehr Überlebenserfolg hatten. Während die meisten kulturökologischen Arbeiten eher empirisch ausgerichtet sind oder Anpassungsprozesse in den Mittelpunkt stellen, widmen sich einige Theorieansätze explizit der Koevolution zwischen Organismenwelt und Gesellschaften. Diese Ansätze unterscheiden sich darin, ob sie dem kulturellen Bereich eine Teilautonomie im Hinblick auf Wan-

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delverläufe und Faktoren zugestehen oder nicht.7 Ein meines Erachtens besonders fruchtbarer Ansatz ist die Theorie der zweifachen Vererbung von Robert Boyd und Peter Richerson (Dual Inheritance-Theory; Richerson/Boyd 2005). Die Autoren nehmen an, es gäbe zwei getrennte Systeme generationsübergreifender Übertragung von Information (‘Vererbung’), das genetische und das nichtgenetische. 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 2.2.1

Zufall Kulturelle Mutation: individuell, z. B. durch falsches Erinnern Kulturelle Drift: statistische Anomalien in kleinen Populationen Richtunggebende Kräfte (decision-making forces) Geführte Variation (guided variation): Veränderungen während des Lernens Schiefe Transmission (biased transmission) Inhaltliche Präferenz (direct bias), z. B. durch Algorithmus, Kosten-NutzenAbwägung oder Lernneigung 2.2.2 Häufigkeitsabhängige Neigung (frequency-dependant bias), nach Üblichkeit eines Kulturmusters oder nach Seltenheit 2.2.3 Modell-basierte Neigung (indirect bias): Imitation von erfolgreichen Individuen oder Individuen, die einer Person selbst ähnlich sind 3 Natürliche Selektion kulturell tradierter Varianten 3.1 Selektion auf Individuums-Ebene 3.2 Gruppenselektion Abb. 2: Faktoren sozialer Evolution8

Im Unterschied zu ähnlichen Ansätzen betonen sie, dass sich beide Vererbungsmodi deutlich unterscheiden, aber miteinander verschränkt sind. Solche Ansätze liefern eine mechanistische, aber multifaktoriell argumentierende Kausaltheorie von Geschichte (Abb. 2). Sie sind meines Erachtens besonders geeignet, grundlegende Mechanismen langfristigen gesellschaftlichen Wandels analytisch zu unterscheiden und für eine Interpretation empirischer Beispiele zu nutzen.

7 Vgl. als Übersichten: Flinn/Alexander 1983 und Durham 1990. Der am genauesten ausgearbeitete Koevolutionsansatz ist Durham 1991. Für Anwendungen auf kulturelle Entwicklung vgl. Norgaard 2002. 8 Leicht verändert nach Richerson/Boyd 2005, 69.

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IV. Universalien als empirisches Konzept IV.1 Kulturübergreifende Ähnlichkeiten als zentrales Interesse Burkerts Immer wiederkehrende Gegenstände in Walter Burkerts Werk sind Ähnlichkeiten zwischen vielen oder gar allen Kulturen. Burkert benennt das unterschiedlich, einmal als ‘weltweite Ähnlichkeiten’, dann als “recurrences in time and space” bzw. “widely distributed recurrences” (Burkert 1996, 42) oder als ‘jenseits individueller Zivilisationen’ bestehend, als “a general class transcending single cultural systems” (Burkert 1996, 4). Er charakterisiert diese transkulturellen Muster als ‘eindrucksvolle’ Ähnlichkeiten (Burkert 1996, 2), manche gar als ‘interkulturelle unbezweifelbare Familienähnlichkeiten’ (Burkert 1996, 4, 17). An einigen Stellen spricht Burkert auch von ‘anthropologischen Universalien’ (Burkert 1996, 1-4), was sie in die Nähe anthropologischer Konstanten bringt. Ich möchte Universalien als ein Konzept vorstellen, mit dem sich Ähnlichkeiten zwischen Kulturen empirisch präzise fassen lassen. Universalien (Kulturuniversalien, engl. cultural universals, human universals) sind Merkmale, Elemente oder Phänomene, die in allen bekannten Gesellschaften regelmäßig vertreten sind (Brown 1991; Messelken 2002; Antweiler 2009). Mit ‘regelmäßig’ ist gesagt, dass das Phänomen nicht nur selten oder in Ausnahmesituationen auftritt. In weiter Definition sind Universalien also Phänomene oder Muster, die in allen heutigen Kulturen vorkommen, in einer engeren Bestimmung solche, die in sämtlichen Kulturen aller Zeiten und Räume zu finden sind. Die klassischen und deutlichsten Beispiele betreffen Verwandtschaft, Familie und Heirat: der Ödipuskomplex und das genannte Inzesttabu. Diese besser als Inzestmeidung benannte Universalie besteht im Vermeiden von Sexualbeziehungen bzw. der Heirat oder Fortpflanzung zwischen als verwandt angesehenen Personen und den entsprechenden Normen, Verboten und Sanktionen. Der populäre Ausdruck ‘Inzesttabu’ trifft also nur eine Facette dieses komplexen Phänomens. Inzestmeidung ist eine der wenigen fast unumstrittenen Universalien. Ich spreche mit Bedacht von ‘Universalien’ statt von ‘Kulturuniversalien’. Das ist nicht nur kürzer, sondern erlaubt es, den Terminus frei von jeglicher Erklärung – in diesem Fall einer kulturellen – zu halten. Es gibt nämlich ganz verschiedene Ursachen. Die Bezeichnung ‘Kulturuniversalien’ wäre dann sinnvoll, wenn damit angezeigt werden soll, dass es um Phänomene geht, die auf der

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Ebene von Kulturen bzw. Gesellschaften universal sind, nicht jedoch notwendigerweise auch auf der von Individuen.9 IV.2 Universalien vs. Speziesmerkmale des Menschen Universalien können sich in verschiedener Form manifestieren: in Lebensbedingungen, im Verhalten, Denken und Fühlen sowie im mimischen Ausdruck, in sozialen Institutionen und in Gegenständen. In Abb. 3 gebe ich einige Beispiele, um die Vielfalt von Universalien hinsichtlich Inhalt und Spezifität zu zeigen. Verschiedene Kataloge von Universalien, die seit der ersten Liste von George Peter Murdock 1945 veröffentlicht wurden, umfassen bis zu 200 Universalien (vgl. die Dokumentation von etlichen Listen in Antweiler 2009, 393-409). – – – – – – – – – – – – – – –

Nepotismus Spezifische Genderrollen, -status, -ideale Hochzeitsriten Alterskategorien-Termini Verhütungstechniken Magie-Konzepte Zeitkonzept als Pfeil (neben anderen Zeitvorstellungen) Ethnizität und Ethnozentrismus Anthropomorphe Konzepte Wettervorhersage-Techniken Romantische Liebe als Konzept Musik, Tänze, Performanzformen Kunst als making special Höflichkeit mittels langer Einführung Pausen von ca. 2.8 Sek. bei Textrezitationen (unabhängig von sehr variabler Strophenlänge)

Abb. 3: Ausgewählte Beispiele von Universalien

Ein besonderer Typ von Universalien sind sogenannte Implikations-Universalien (Bedingungsuniversalien; implicational universals). Sie bestehen in einer Beziehung zwischen zwei Charakteristika, derart, dass bei Vorliegen eines Merkmals in einer Gesellschaft (das selbst also kein Universal ist) immer ein anderes auch vorliegt (nicht aber umgekehrt). Als einfaches

9

Der eigentlich treffende Ausdruck wäre demnach der Terminus ‘Kulturen-Universalien’. Dies ist aber so unschön wie ungebräuchlich.

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Beispiel: Alle Sprachen, die über einen Plural verfügen, haben auch einen Dual. Die namengebende Universalität bezieht sich auf kulturelle Einheiten, z. B. Gesellschaften, Nationen oder Ethnien, wie oben schon betont, nicht auf Individuen. Eine wichtige Besonderheit gegenüber anderen Ansätzen, sich allgemeinen menschlichen Charakteristika zu nähern, besteht also darin, dass universale Merkmale hier eben nicht auf Individuen, die Spezies oder die ganze Menschheit bezogen werden, sondern auf Gesellschaften. Entgegen vielfachen Annahmen sind Universalien also nicht einfach mit der Natur des Menschen bzw. mit Homo Sapiens-Merkmalen gleichzusetzen, auch wenn sie ursächlich teilweise mit ihnen zusammenhängen. Universalien beim Menschen haben einen anderen Status als Artmerkmale von Tieren. Bei Tieren nähert sich die universale Aussage über die Art auch dem Befund, den man als Ethogramm in irgendeiner Population erwartet. Also kann man eine einzelne Population der jeweiligen Spezies unter Berücksichtigung der Umweltparameter untersuchen und daraus allgemeine Aussagen über die Art machen. Schon bei einigen Primaten gilt das aber nur in Grenzen, wie Verhaltensunterschiede in verschiedenen Freilandpopulationen von Schimpansen und Orang-Utans zeigen. Bei menschlichen Populationen ist diese Generalisierung noch weniger gegeben. Universalienforschung kann demzufolge als ein spezieller empirischer Beitrag zur Frage nach der Menschennatur gesehen werden. Universalien sind nicht als das Gegenteil von kulturellen Besonderheiten bzw. Unterschieden oder der gesamten menschlichen Diversität zu sehen. Universalien sind also nicht einfach das Gegenstück zur Vielfalt (Diversität, diversity) der menschlichen Gesellschaften. Wirklich interessant werden Universalien erst, wenn man sie als Muster vor dem Hintergrund der Diversität menschlicher Daseinsgestaltung sieht (Antweiler 2009). Eine theoretisch wie empirisch produktive Frage ist danach, wie der ‘Hyperspace’ denkbarer Vielfalt menschlicher Kultur auf das de facto realisierte Spektrum kultureller Vielfalt reduziert wird. Universalien sind nicht mit Absoluta zu verwechseln. Ein stark überzufälliges Auftreten eines Phänomens, etwa die weltweit 1500 Varianten der Tierbräutigamerzählung (Burkert 1996, 69-71), reicht, um universale Fragen aufzuwerfen.

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IV.3 Skeptischer Partikularismus und empirische Universalienforschung In der Geschichte der Ethnologie waren und sind Universalien Dauerthemen und ungeliebtes Kind zugleich (Antweiler 2009, 76-125). Von Haus aus sind Ethnologen skeptisch gegenüber Universalien, sind sie doch zuallererst diejenigen, welche die Besonderheiten einzelner Kulturen hoch schätzen und die Unterschiede schon zu benachbarten Kulturen betonen. Clifford Geertz empfahl den Fachkollegen explizit, sich als “Händler der Vielfalt” zu verstehen, statt nach Universalien zu fahnden (Geertz 1992, 58). Trotz allem Partikularismus streben die meisten Ethnografien in irgendeiner Weise paradigmatische Aussagen an. Den wichtigsten Schritt zur empirischen Universalienforschung machte der Ethnologe George Peter Murdock. Murdock gründete 1937 eine kulturvergleichende Datensammlung, die seit 1947 als Human Relations Area Files (HRAF) bekannt ist (Ember/Ember 2001, 176-184). Diese Datensammlung war ursprünglich angelegt worden, um die Vielfalt der Kulturen zu dokumentieren. In diesem Kontext systematisch quantitativen Kulturvergleichs brachte Murdock 1945 unter dem Titel Der gemeinsame Nenner von Kulturen das Thema Universalien erstmals voll ins Rampenlicht der Ethnologie (Murdock 1945). Aufgrund des Vergleichs von rund 100 Gesellschaften gibt Murdock hier ein Inventar menschlicher Universalien in Form einer Liste von 73 Universalien. Murdock ordnet die Universalien einfach alphabetisch, also nicht nach theoretischen Gesichtspunkten, um die Vielfalt der Universalien zu betonen, wie er sagt. Offenbar wollte er aber auch verhindern, dass man ein System dahinter vermutet (Eibl 2004, 355). Er verbindet mit der Liste keinerlei Vollständigkeitsanspruch: Er bezeichnet sie explizit als “a partial list”. Die Universalien greifen durch sämtliche großen Kulturbereiche, wie Erziehung, Gestik, Sprache, Musik und Werkzeugherstellung, und sie betreffen verschiedenste Ebenen. Die Benennung als gemeinsamer Nenner hebt hervor, dass es sich um Ähnlichkeiten der Form und nicht notwendigerweise des Gehalts bzw. des Verhaltens im Detail handelt. Wenn z. B. Trauer eine Universalie ist, so sind die spezifischen Formen des Trauerns sehr unterschiedlich. Murdock sieht nicht alle genannten Phänomene als strenge Universalien, sondern als ‘Rahmenkategorien’ (Murdock 1945, 124). Er betont weiterhin erstens, dass echte Universalien (substantive universals) am ehesten in der Art und Weise, wie Menschen klassifizieren und kategorisieren, zu finden sind,

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und zweitens, dass die Gemeinsamkeiten von Kultur in den Faktoren liegen, welche die Übernahme von Gewohnheiten (aquisition of habitual behavior) bestimmen. Nach Murdock lassen sich einzelne dieser Universalien weiter zerlegen. Das wichtigste neuere Werk zu Universalien stammt von Donald Edward Brown (*1934), einem amerikanischen Ethnologen (Brown 1991, 2004). Brown bietet in seinem Buch von 1991 eine theoriegeleitete Zusammenfassung von Resultaten der Universalienforschung. Er diskutiert auch diesbezügliche relativistische Gegenthesen, die er anhand von Fallbeispielen diskutiert (z. B. Inzestmeidung, Ödipuskomplex, Farbtermini). Er kann zeigen, dass es viele und darunter etliche theoretisch wichtige Universalien gibt. Ein Hauptteil des Buchs widmet sich den kontroversen Erklärungen, die bislang zum Thema Universalien vorgebracht wurden. Schließlich skizziert Brown in einem gleichermaßen eleganten wie faszinierenden Abschlusskapitel ein ‘Universalvolk’ (The Universal People). Browns Darstellung zeigt, dass Universalien nicht einfach unzusammenhängende oder triviale Verallgemeinerungen sind, wie viele Kritiker meinen. IV.4 Methodik: Vergleiche zwischen Arten, Kulturen und Zeiten Universalien sind nicht einfach durch eine Art ‘Meinungsumfrage’ bei den Völkern feststellbar. Methodisch sind vielmehr umsichtig angelegte Vergleiche gefragt. Zum Nachweis von Universalien sind insbesondere verschiedene Formen des zwischenartlichen Vergleichs (Artenvergleich) und des interkulturellen Vergleichs wichtig. Ich will aber zumindest einige andere Methoden erwähnen, die für die Universalienforschung von Bedeutung sind: Theorien, Fallstudien und archäologische Methoden. Zunächst sind Theorien wichtig, denn Postulate von Universalien werden oft deduktiv abgeleitet. Zweitens können Einzelfallstudien von Bedeutung sein. Mit ihnen kann man vermeintliche (meist implizit angenommene) Universalien prüfen bzw. vermeintlich unmögliche Phänomene (‘In keiner Kultur gibt es ...’) durch Nachweis von Extremausprägungen menschlicher Kultur widerlegen. In dieser Hinsicht sind selbstverständlich auch Kuriositäten wichtig. Der Nachweis von einem einzigen wirklich gut dokumentierten Fall einer Heirat zwischen Frauen (Gynägamie) reicht aus, um eurozentrische Vorstellungen vermeintlich voll universaler Ehe- bzw. Familienformen zu stürzen. Ein weiteres Beispiel ist die bislang ergebnislose Suche

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nach Gesellschaften, in denen Frauen den öffentlichen politischen Bereich dominieren. Archäologische Methoden sind relevant, wenn sie ein historisch unabhängiges Auftreten ähnlicher Kulturmerkmale oder Patterns zeigen. So lassen sich Übereinstimmungen in komplexen Gesellschaften der Alten und Neuen Welt finden, insbesondere in ihren Institutionen. In einer Art historischem Experiment entwickelten sich aus paläolithischem kulturellen Erbe heraus unabhängig voneinander ähnliche Strukturen. Als Begründer des Vergleichs zwischen Menschen und (anderen) Tieren können Charles Robert Darwin und Konrad Zacharias Lorenz gelten. Einschlägig sind für das Thema Universalien vor allem Vergleiche zwischen Menschen und anderen Primaten. Solche Vergleiche sind nur dann sinnvoll, wenn die verglichenen Merkmale analog gelten können, d. h., wenn die Ursachen für die Merkmale dieselben sind und historische Kontinuität besteht. Konvergente Entwicklungen, d. h. Ähnlichkeiten aufgrund unterschiedlicher Genese, müssen also ausgeschlossen werden können. Bei stark genetisch determinierten Merkmalen, wie bei Pflanzen, und bei stark kulturell bestimmten Merkmalen, wie der Sprache, bringt diese Methode Erfolge, etwa zu Genealogien in der vergleichenden Biologie und zu Sprachverwandtschaften in der komparativen Linguistik. Problematisch wird es bei Merkmalen, deren Genese komplex ist (Markl 1986, 83). Es sind die gemeinsamen Eigenschaften, die einen Vergleich ermöglichen, und es sind die Unterschiede, die sie interessant machen (Antweiler 2005). Das zentrale für die Universalienforschung relevante Verfahren des Artvergleichs besteht im Vergleich des Menschen mit höheren Primaten. Hier ergibt sich das Problem, welche Eigenschaften Menschenaffen tatsächlich teilen (“ape universals”, Silverman 2002, 186). Einige Primatologen halten deshalb den Vergleich über die gesamte Bandbreite der Primaten für wichtig, um Unterschiede z. B. zwischen Schimpansen und Bonobos (‘Zwergschimpansen’) und die Gleichheiten beider zu anderen Affen verstehen zu können (Strier 2001, 72; Byrne 2001, 170). Andere gehen noch weiter und sehen den Rubikon eher zwischen Tieraffen und Menschenaffen, als zwischen Primaten und Menschen. Entsprechend kritisieren sie den ‘Primatozentrismus’ und fordern explizite Vergleiche auch zu anderen Tieren, da auch Nichtprimaten, etwa Wale, Vögel und Ratten, protokulturelle Fähigkeiten zeigen (McGrew 2001, 232). Man kann mit interspezifischen Vergleichen nicht nur Homologien bzw. phyletische Zusammenhänge eruieren. Nein, auch Analogien bzw. Konvergenzen durch ähnliche Umwelten bzw. ähnliche funktionale Zusammenhänge sind durch

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Artvergleiche zu klären. Deshalb sind – entgegen verbreiteten Annahmen – nicht etwa nur Vergleiche zwischen nah verwandten Arten nützlich. Die grundlegende sozialwissenschaftliche Methode zum empirischen Nachweis von Universalien in menschlichen Kulturen ist der systematische weltweite Kulturvergleich (interkultureller Vergleich, engl. cultural comparison, cross-cultural comparison).10 Die synchronen Vergleiche der Ethnologie können dabei mit diachronen Vergleichen, wie sie historische Forschungen nahe legen, ergänzt werden (Abb. 4), was bislang leider noch Kulturen # 1, 2, 3 ...



... ca. 5000 – 6700

Gegenwart Universalien (ethnografischer Präsens)

Synchrone

Diachroner

Kulturvergleiche

Kulturvergleich

Frühere (ehemalige) Universalien

Vergangenheit

Abb. 4: Synchroner und diachroner Kulturvergleich und ihr Bezug zu unterschiedlich breiten Universalienbegriffen

selten geschieht. In kulturvergleichenden Untersuchungen wird ein Phänomen über viele, zumindest mehrere kulturelle Einheiten hinweg betrachtet. Vergleichende ethnologische, soziologische und etwa komparative politikwissenschaftliche Untersuchungen können auf verschiedener Ebene vergleichen: – innerhalb einer Kultur (intra-kultureller Vergleich), – zwischen einzelnen spezifizierten kulturellen Einheiten, wie Ethnien, Gesellschaften und Nationen (inter-kultureller Vergleich),

10

Ich kann hier nicht auf die vielen methodischen Probleme eingehen, die sich bei solchen empirischen Kulturvergleichen stellen. Vgl. dazu Antweiler 2009, 223-253.

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zwischen einer größeren Anzahl von Gesellschaften bis hin zu weltweiten Samples (systematischer inter-kultureller bis holo-kultureller Vergleich). IV.5 Ursachenvielfalt: Biologie … und mehr!

Wenn ein Phänomen in allen oder fast allen Kulturen anzutreffen ist, erscheint es hinsichtlich der Ursachen zunächst nahe liegend, an Naturfaktoren zu denken. Dies firmiert etwa unter Begriffen wie der ‘Natur des Menschen’ oder der ‘Psyche des Menschen’. So könnte man proximate Ursachen in der organismischen Struktur und Funktion des Menschen vermuten und ultimate Gründe in der Evolution des Menschen suchen. Es lässt sich etwa die “psychische Einheit des Menschen” für bestimmte oder viele Universalien verantwortlich machen, wie Stephen Pinker argumentiert: Mit der Entdeckung dieser tief greifenden Parallelen in den Sprachen der Franzosen und Deutschen, der Araber und der Israelis, des Ostens und des Westens, der Menschen aus dem Zeitalter des Internets und der Menschen aus der Steinzeit erhascht man einen Blick auf die psychische Einheit der Menschen. 11

Von der Ubiquität eines Phänomens lässt sich aber, contra Pinker, nicht automatisch auf biotische Basis schließen, denn neben biotischen bzw. evolutiven Faktoren gibt es durchaus andere Ursachen für Universalien. Die oben genannte Definition beschreibt Universalien deshalb bewusst als Phänomen und benennt keine Ursachen. Global verbreitete Kulturphänomene können auf weltweite Diffusion zurückgehen. Solche Diffusion gab es schon lange vor der Globalisierung im engeren Sinne. Universalien können aber auch auf historisch sehr frühe Diffusion zurückgehen, die sich im Gefolge der Verbreitung des Homo Sapiens über den Globus ergab (sog. ‘Archosen’). Schließlich können universale Verhaltensweisen oder psychische Tendenzen darauf zurückgehen, dass Menschen als kulturabhängige Organismen überall auf ähnliche Umstände und Lebensprobleme stoßen. Dadurch ergeben sich universale Muster, ohne dass dahinter spezifische, genetisch bedingte Neigungen stehen. Selbiges gilt für Universalien auf der Ebene von Gesellschaften, die auf universale funktionale Erfordernisse antworten.

11

Pinker 2000, 287.

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Außer biotischen gibt es also verschiedene andere Ursachen ubiquitärer Kulturmuster. Und das gilt selbstverständlich auch für Ähnlichkeiten religiösen Handelns oder religiös motivierten Verhaltens. Hier sind die Vorschläge von Daniel Dennett bedenkenswert. Neben genetisch bedingten Neigungen des Fühlens, Denkens und Handelns kann kulturelle Diffusion, also Kulturtransfer und räumliche Ausbreitung und intergenerationale Transmission, eine Rolle bei der Entstehung kulturübergreifender Muster spielen. Ideen können sich wie eine Ansteckung verbreiten (“could-have-been-otherwise features”, Dennett 1998, 117). Konvergenzen religiösen Verhaltens könnten ihre Ursachen in Ähnlichkeiten und Regelhaftigkeiten der Umwelt haben. Pragmatische Umstände lassen zuweilen eine unabhängige Erfindung erwarten (“whenever a ubiquitous feature makes sense”, Dennett, 1998, 117; Hervorhebung im Original). Manche Ideen sind einfach so gut oder plausibel, dass mehrere Menschen und Traditionen unabhängig voneinander auf die Idee kommen. Die Erfindung von Geld als universellem Tauschmedium kann als “too obviously a good idea” oder als “good trick” (Dennett 1998, 118) gelten. Im Fazit ist festzuhalten, dass ein absolut verstandener Universalismus so unhaltbar ist wie ein einseitiger, zum Relativismus mutierter Partikularismus. In einem dogmatischen Universalismus wäre die Befassung mit fremden Kulturen überflüssig, denn Eigenes und Anderes wären ausschließlich Instanzen eines Identischen. Auf der anderen Seite führt ein einseitiges Pochen auf kulturelle Differenz wissenschaftlich in eine Sackgasse. Die Obsession für Alterität macht ‘Kultur’ zu einer nicht hinterfragbaren Größe und damit auch politisch gefährlich.

V. Willkommene Medizin gegen den Mainstream Burkerts Suche nach interkulturellen Einflüssen und nach Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kulturen ist ein probates Heilmittel gegen derzeitige Moden im Wissenschaftsbetrieb. Der gegenwärtige Mainstream in den Geistes- und Kulturwissenschaften und tendenziell auch in den Sozialwissenschaften neigt zu theoretischen Extremen. Dies gilt nicht nur hinsichtlich biologistischer vs. kulturalistischer Grundorientierungen, sondern auch bezüglich der Kulturtheorie, insbesondere im Denken kultureller Einheiten und Grenzen. Entweder werden Grenzen zwischen Kulturen heruntergespielt; oder es herrscht das Bild, dass Kulturen sich durch

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Eigenschaften unterscheiden, die sie je ausschließlich besitzen, also durch diskrete Eigenschaften. Der Befund aus dem empirisch orientierten Kulturvergleich widerspricht dieser diskontinuierlichen Sicht. Kulturen unterscheiden sich eher durch den unterschiedlichen Stellenwert von überall vorkommenden Eigenschaften. Kulturunterschiede sind graduell, und das Verhältnis der Kulturen zueinander ist kontinuierlich. Eigenschaften schließen sich nicht aus, sondern haben in ihnen einen unterschiedlichen Rang. Die jeweils vorherrschende Eigenschaft in einer Kultur entscheidet über Rangstellung der übrigen (Holenstein 1985, 139). Die anthropologische Universalienforschung bietet einen empirischen Zugang zu Fragen nach den Gemeinsamkeiten zwischen den rund 7000 Kulturen dieser Welt. Universalien sind nicht einfach mit der conditio humana oder mit ‘anthropologischen Konstanten’, wie sie in der Philosophie diskutiert werden, gleichzusetzen. Ebenfalls sind sie nicht einfach gleichzusetzen mit der psychischen Einheit der Menschheit. Entgegen der Argumentation von Burkert zu anthropologischen Universalien sind Universalien der Kulturen nicht per se mit biopsychischen Universalien gleichzusetzen. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass es kausale Zusammenhänge zwischen beiden gibt, vor allem derart, dass einige Kulturuniversalien direkte oder indirekte Effekte biopsychischer Art-Universalien sind, aber eben nur einige.

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ECKART VOLAND Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Arguments

I. Einleitung “Religion lässt sich nicht als ‘kulturelles System’ innerhalb einer Einzelkultur erklären. Sie gehört zu den ‘anthropologischen Universalien’”, formulierte Walter Burkert (1997, 14) und drückt damit seine Überzeugung aus, wonach kulturwissenschaftliche Gegenstände, wollen sie erhellend untersucht sein, auch einer anthropologischen Analyse bedürfen. Für Religion gilt dies ganz sicher. Auch wenn es nicht zu gelingen scheint, eine fachübergreifend akzeptable Definition von Religion zu formulieren, ist dennoch ziemlich unbestritten, dass zumindest das, was man im weitgehenden Konsens unter Fachleuten und Laien gleichermaßen unter den Kernphänomenen von Religion versteht, sich in dieser oder jener Form in allen menschlichen Kulturen zeigt. Wenn aber keine menschliche Gesellschaft ohne Religion auszukommen scheint, ist man gut legitimiert, die anthropologische, und das heißt seit Darwin immer auch zugleich die evolutionäre Perspektive zumindest probeweise zu sondieren. Es könnte ja sein, dass Religion ursächlich mit biologischer Angepasstheit und Funktionalität in Beziehung steht und sich deshalb als durch und durch irdisches Phänomen darstellt. Neben der transkulturellen Universalität von Religion speist auch ihr Alter diese Vermutung. Zwar ist nicht genau zu bestimmen, wann Religiosität evolutionär in Erscheinung trat, weil mentale Repräsentationen naturgemäß weder paleoanthropologisch noch archäologisch darstellbar sind. Aber materielle Hinterlassenschaften, die als Indikatoren für religiöse Lebensvollzüge gelten können, tauchen mit der sogenannten ‘symbolischen Revolution’ vor ca. 60.000 Jahren auf (Mithen 1996). Prädispositionen für die Entwicklung von Religion sind freilich noch älter und wurzeln – folgt man Rossano (2006) – letztlich in Verhaltenstendenzen nicht-menschlicher Primaten. Wie auch immer, Religiosität ist mindestens so alt wie andere Merkmale der menschlichen Symbolkultur und untrennbar mit der menschlichen Natur verwoben.

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Eine terminologische Klärung ist angebracht. Im Folgenden wird unter Religiosität die mentale Fähigkeit verstanden, religiös sein zu können. Frömmigkeit ist die individuell variierende Manifestation von Religiosität, und Religion ist die lokale und kulturell tradierte Nische, in der sich die Entwicklung von Religiosität zu Frömmigkeit vollzieht. Aus dieser Dreiteilung ergibt sich logischerweise ein hierarchischer Aufbau evolutionärer Analysen religiösen Verhaltens. Zunächst rückt die Naturgeschichte der Religiosität in den Blick – also die Frage nach den evolutionären Szenarien, die Religiosität zu einem Aspekt der menschlichen Natur haben werden lassen und die sich auf die Alternative ‘biologische Angepasstheit (Adaptation)’ oder ‘biologisch funktionsloses Nebenprodukt (By-product)’ des menschlichen Geistes zuspitzt. Hinter dem evolutionären Blick auf Frömmigkeit steht die Frage, welche individuellen oder kollektiven Bedingungen – psychischen, sozialen, kulturellen oder ökologischen Ursprungs – die jeweils unterschiedliche Ausprägungsstärke von Religiosität begründen. Individuelle oder Gruppen-Unterschiede bezüglich der Frömmigkeit könnten biologisch funktional sein, weil aus unterschiedlichen Lebensbedingungen in unterschiedlichem Ausmaß jene adaptiven Probleme erwachsen, für die Frömmigkeit eine passende lebensstrategische Antwort darstellt. Und schließlich kann man der Frage nachgehen, ob nicht auch phänomenologische Unterschiede zwischen den vielen tausend Religionen dieser Welt jeweils lokale Lebensbedingungen und Besonderheiten widerspiegeln oder ob kulturelle Unterschiede idiosynkratische Unterschiede sind, die nur stochastisch, nicht aber funktional zu interpretieren wären. Gemäß dieser begrifflichen Ordnung ist die Frage nach dem evolutionären Status von Religiosität, also die Frage nach der Fähigkeit des Menschen, sich religiös verhalten zu können, das heuristische Fundament, auf dem die Hierarchie evolutionärer Analysen religiösen Verhaltens aufbaut. Diese Frage zielt auf den evolutionären Hintergrund des Homo naturaliter religiosus, und um sie soll es in diesem Aufsatz gehen. Weil Religiosität mehrere Komponenten beinhaltet, nämlich eine kognitive, eine spirituelle, eine sozialbindende, eine identitätsbildende, eine kommunikative und eine moralische, bietet es sich an, die Frage nach dem evolutionären Status von Religiosität gemäß dieser inneren Ordnung anzugehen und diese sechs Teilaspekte von Religiosität im Einzelnen und zunächst getrennt voneinander zu behandeln. Beginnen wir mit der Rolle von Kognitionen in der Religion.

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II. Kognition und Religiosität Religionen machen Aussagen über letzte Wahrheiten; sie produzieren Metaphysik. Dabei sind sie notwendigerweise angewiesen auf die aus biologischen Selektionsprozessen hervorgegangene Klaviatur des menschlichen Geistes, so dass metaphysische Überlegungen immer auch biologisch ‘geerdet’ sein müssen. Zu der biologisch evolvierten Klaviatur des Geistes gehören solche Phänomene wie ein “naiver Dualismus” (Bering 2006), ein “teleologisches Denken” (Kelemen/DiYanni 2005), ein “psychologischer Essentialismus” (Gelman 2003), eine “theory of mind”, ein “agency detection device” (Atran/Norenzayan 2004; Barrett/Richert/Driesenga 2001; Guthrie 1993), “intuitive Ontologien” (Boyer 1996) und anderes mehr. In ihrer Summe und in ihrem Zusammenspiel gewährleistet diese Klaviatur eine adaptive Bewältigung vieler realer Lebens- und Überlebensprobleme. Für unser Thema überaus aufschlussreich ist die Individualentwicklung (Ontogenese) dieser kognitiven Fähigkeiten: Kinder unter circa fünf Jahren attribuieren allen Personen ihres Umfeldes ein Alleswissen (Barrett/ Richert 2003; Knight/Sousa/Barrett/Atran 2004). Erst ältere Kinder beginnen zu verstehen, dass in verschiedenen Gehirnen unterschiedliches Wissen beheimatet ist. Kinder unter circa fünf Jahren denken außerdem konsequent teleologisch (final): Es gibt Wolken, damit es regnet; es regnet, damit Blumen gedeihen können (Kelemen/DiYanni 2005). Und schließlich attribuieren jüngere Kinder toten Individuen mentale Zustände (Bering 2006). Sie denken also nicht nur dualistisch, sondern sie bevorraten zugleich die Annahme eines Lebens nach dem Tod. Diese frühkindlichen kognitiven Grundeinstellungen, nämlich die Annahme von ‘Alleswissern’, eines finalen und eines dualistischen Denkens, bilden jedoch interessanterweise auch die Grundlage maßgeblicher theoretischer Annahmen in vielen theistischen Glaubenssystemen, so dass Bulbulia (2007, 632) schlussfolgert: “Children appear born to believe”, und Kelemen (2004, 295) resümiert: “Children are ‘intuitive theists’”. “Belief in God does not amount to anything strange or peculiar; on the contrary, such belief is nearly inevitable”, heißt es bei Barrett (2004, 122); und an anderer Stelle (124): “The design of our minds leads us to believe.” Danach wäre Religiosität nicht erst mühsam zu lernen – im Gegenteil: Religiosität ergibt sich geradezu zwangsläufig aus den kognitiven default-Einstellungen, mit denen Menschen auf die Welt kommen, während die eigentliche intellektuelle Anstrengung darin bestünde, sich als Rationalist vom Glauben loszusagen.

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Zu den Besonderheiten des menschlichen Geistes gehört auch, was D’Aquili (1972) als “kognitiven Imperativ” bezeichnet hat (Newberg/ D’Aquili/Rause 2001). Der kognitive Imperativ zwingt ständig zum Nachdenken über die Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten des Seins, über die Gründe für das Vorfindliche, über die Ursachen des Geschehens – letztlich über den Sinn und Zweck des Ganzen. Man kann praktisch nicht Nicht-Zusammenhängendes wahrnehmen und wenn doch, wird dies als Grenzerfahrung erlebt. Der kognitive Imperativ zwingt zu einer plausiblen, kohärenten Konstruktion des Weltgeschehens, ohne Erklärungslücke, ohne irrationale Inseln. Menschen können Kontingenz, Irrationalität und kausale Ungewissheit offenbar nicht gut aushalten, weil nicht Verstandenes Angst erzeugt. Um dies zu vermeiden, werden Gründe und Ursachen auch dort gesehen, wo es keine gibt. Das Gehirn ist ein permanent arbeitender Geschichtengenerator. Es sieht nicht nur Regeln, wo keine sind, sondern erfindet auch Geschichten, die diese Regeln mehr oder weniger plausibel erscheinen lassen. In diesem Zusammenhang sprechen Kognitionspsychologen gern vom “need for closure” oder “jumping to conclusions” (Brüne, im Druck). Im Grunde wusste dies bereits Francis Bacon, als er 1620 formulierte: “Der menschliche Verstand ist von Natur aus geneigt, mehr Ordnung und Regelmäßigkeit in der Welt zu wähnen, als er tatsächlich vorfindet” (Buch 2, Aphorismus Nr. 45). Konfabulationen haben hier ihren Ursprung. Wie der kognitive Imperativ außerhalb religiöser Kontexte arbeitet, wird anschaulich und deutlich durch die Untersuchungen zum sogenannten “Rückschaufehler” (Pohl 2007). Das autobiografische Gedächtnis schließt Plausibilitätslücken auf eine kreative Weise. ‘Falsche Erinnerungen’ sind die Folge. An den Grenzen des Wissens, der Erfahrung und der Erinnerung entstehen deshalb ganz automatisch konfabulierte Geschichten, die, weil sie Angst reduzierend wirken sollen, plausibel sein müssen – plausibel allerdings nach Maßgabe einer Darwinisch evolvierten kognitiven Maschinerie. Deshalb sind die Bilder, die sich Menschen vom Jenseitigen machen, letztlich Projektionen einer diesseits tauglichen Psyche. Das Jenseitige trägt irdische Züge, und ist deshalb kognitiv beherrschbar. Götter haben Absichten und Bedürfnisse, sie können lieben oder strafen. Wäre dem nicht so, könnte Kontingenz nicht verarbeitet, Angst nicht reduziert werden. Die Metaphysik von Religion basiert so gesehen auf Irrtümern und Fehlklassifikationen einer an sich funktionalen kognitiven Maschinerie. In

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dieser Sicht wären die metaphysischen Grundannahmen lediglich unvermeidbare, in ihren Konsequenzen aber biologisch eher harmlose Nebenprodukte der ganz normalen, auf die Bewältigung irdischer Lebensprobleme hin ausgerichteten Psyche, die zwar effizient, aber nicht fehlerfrei arbeitet. Wie perfekt der Geist arbeitet, ist eine Frage der Kosten/NutzenBilanz der Fehlervermeidung, allen voran den Fitness-Risiken, die von kognitiven Irrtümern ausgehen. Nesse (2001) hat in diesem Zusammenhang das “Rauchmelder-Prinzip” formuliert: Wenn vom Nicht-Erkennen eines Risikos eine größere Gefahr ausgeht als von gelegentlichen Fehlleistungen, sollte die kognitive Maschinerie hypersensibel eingestellt sein, so wie es Rauchmelder sind. Gelegentlicher Fehlalarm ist weitgehend folgenlos, während das Übersehen einer Gefahr tödlich sein kann. In diesem Sinne ist es von den biologischen Folgen her harmloser, sich gelegentlich zu irren und ein bloßes Blätterrauschen animistisch zu interpretieren, als ohne “agency detector” durch die Welt zu gehen. Es ist harmloser, gelegentlich Suggestionen zu erliegen und in Wolken Gesichter zu sehen oder im Rauschen Stimmen zu hören, als ganz ohne intuitive Ontologien zu leben und real vorhandene Gefahren oder Opportunitäten nicht zu erkennen. Diese Unschärfe der kognitiven Mechanismen ist der Nährboden religiöser Metaphysik und diese damit ein biologisches Nebenprodukt evolutionär funktionaler kognitiver Kompetenzen.

III. Spiritualität und Religiosität Spirituelle Praxis bedient sich mentaler Zustände der besonderen Art: Meditation, Hypnose, Trance, Ekstase. Entsprechend begabten Personen gelingt es, diese mentalen Zustände mit Hilfe spezieller Techniken zu erreichen und sich besondere Erlebniswelten zu erschließen. Die neurochemischen Prozesse, die mit diesen mentalen Zuständen einhergehen, sind mit Konsequenzen für die Gesundheit und das Wohlbefinden verbunden: Sie reduzieren die Schmerzempfindung, regulieren den Wärmehaushalt, unterstützen die Immunfunktionen, verringern Blutverlust, mildern die Auswirkungen psychopathologischer Fehlfunktionen und aktivieren das Bindungssystem (McClenon 2002; Winkelman 2006). Mystisches Erleben und Therapie sind ganz offensichtlich untrennbar miteinander verbunden, was vom Schamanismus genutzt wird. Daher kann man darüber streiten, ob Schamanismus systematisch eher in die Medizin- oder in die

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Religionsgeschichte gehört. Jedenfalls können mystische Lebensvollzüge das körperliche und seelische Wohlergehen befördern und deshalb für eine verbesserte Kontingenzbewältigung sorgen. Dieser Zusammenhang ist auf eine interessante Weise rückgekoppelt: In dem Maße, wie der Schamanismus therapeutisch erfolgreich war, hat er Genotypen selektiert, die eher zu Suggestionen und Hypnotisierbarkeit neigen und genau deshalb auch für außergewöhnliche, religiös genannte Erfahrungen offen sind (McClenon 2002). Zum Zusammenhang von religiöser Praxis und Kontingenzbewältigung gibt es eine reichhaltige Literatur, wobei nicht nur immer wieder interessante Einzelstudien einen positiven Zusammenhang finden, sondern auch statistisch belastbare Meta-Analysen. Freilich gibt es auch die ‘dunkle Seite’ religiöser Ängste und Obsessionen, die durchaus mit signifikanten Gesundheitsrisiken verbunden sind (Guthrie 1993; Magyar-Russell/ Pargament 2006). Aber in der Gesamtbilanz dominieren ganz offensichtlich die positiven Effekte (z. B. Grom 2004; McCullough/Hoyt/Larson/ Koenig/Thoresen 2000; Newberg/Lee 2006; Zwingmann 2005), weshalb sich Religiosität in biologischer Hinsicht als ausgesprochen nützlich darstellt, denn Angst, Stress, Schmerz können durch mystische Hingabe an religiöse Fiktionen abgewehrt werden. Damit ist eine erste biologische Nutzenfunktion für religiöses Verhalten beschrieben: Selbsterhalt durch verbesserte Kontingenzbewältigung.

IV. Bindung und Religiosität Die Funktion von Spiritualität bleibt allerdings nicht auf persönliche Vorteile beschränkt. Die gemeinsame Teilnahme an Ritualen verleiht ihr eine soziale Dimension. Rituelle Performanz ist nicht selten sehr rigide, redundant, zwanghaft und auf ‘unnütze’ Verhaltensziele hin ausgerichtet. Das Ganze wird häufig rhythmisch unterstützt und endet in einer Art “emotionaler Gleichschaltung” der Teilnehmer (Hayden 1987; Winkelman 2006). Ohne affektiv wirksame Rituale fehlt den Glaubenssystemen sowohl eine emotionale Tiefe als auch eine motivierende Kraft, so dass Rituale besonders dann zum Einsatz kommen, wenn es darum geht, von den Gläubigen kollektive Anstrengungen oder besondere Altruismusleistungen einzufordern (Krieg, Wettkampf, Solidarität). Physiologisch gelingt das durch eine Aktivierung des dem Säugetier eigenen Bindungssystems (Winkelman

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2006). Psychologisch gelingt es durch eine Form der Ich-Entgrenzung, durch das Gefühl des Eins-Seins mit dem Ganzen (Newberg/D’Aquili/ Rause 2001). Individualität und Egozentrik werden zu Gunsten von Kollektivität zurückgedrängt. Kollektive Rituale haben demnach viel zu tun mit sozialer Koordination und Kohäsion, mit Bündelung von Kräften und der Ermöglichung von Kooperationsgewinnen. Ökologischen und sozialen Fährnissen des Lebens ist unter Umständen nur koordiniert erfolgreich zu begegnen, und in einer Darwinischen Welt persönlicher Nutzenmaximierer muss soziale Kohäsion erst mühsam implementiert werden. Studien zeigen für Migrantengruppen (z. B. van der Lans/Kemper/ Nijsten/Rooijackers 2000; hier: für junge Muslime in den Niederlanden) einen korrelativen Zusammenhang zwischen personaler Identitätsfindung durch Gruppenbildung, persönlichem Wohlbefinden und religiöser Praxis. Derartige Zusammenhänge verweisen auf eine zweite biologische Nutzenfunktion von Religiosität: Stärkung der Lebensgemeinschaft durch Verpflichtung ihrer Mitglieder auf gemeinsame Ziele.

V. Personale Identität und Religiosität Der Vorteil von Gruppenbindung ist offensichtlich, denn die Menschheitsgeschichte war geprägt durch eine ständige Konkurrenz autonomer Gruppen um Lebenschancen (Alexander 1987). Diese Situation ist auf dem Organisationsniveau der Schimpansen angedeutet und findet in dem von Jane Goodall (1986) beschriebenen “Krieg der Schimpansen” ihren gewalttätigen Niederschlag (vgl. auch Wrangham 1999). Eine neutrale Begegnung zwischen zwei Gruppen ist praktisch unmöglich. Es gibt nur Freund oder Feind, und der Zufall der Gruppenzugehörigkeit bestimmt sehr nachhaltig die ganz persönliche Identität und Biografie eines jeden Individuums. Allerdings ist a priori unklar, wer eigentlich Freund und wer Feind ist. Zur Unterscheidung bedarf es zuverlässiger Marker, und es sieht so aus, dass hier die menschliche Sprache einen wesentlichen Beitrag leistet. Im Grunde erfüllt sie eine Doppelfunktion. Indem Dialekte als kulturelle und ethnische Marker dienen, wird das ‘Wir’ von ‘den Anderen’ auch äußerlich erkennbar und sehr verlässlich unterschieden; und indem soziales Wissen ausgetauscht wird, ist jeder Teilnehmer am Sprachgeschehen über die sozialen Beziehungen und Tendenzen aller anderen Teilnehmer informiert. So entsteht ein gemeinsames soziales Netzwerk, mit

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der Folge, dass alle Mitglieder einer in-group ihre Rolle auf derselben Bühne spielen und ihr Wohl und Wehe auf vielfältige Weise vom Wohl und Wehe der Anderen abhängt. Was nicht-menschliche Primaten typischerweise über das nicht-sprachliche, soziale Fellpflegeverhalten erreichen, schaffen Menschen wesentlich effizienter über den sprachlichen Austausch sozialen Wissens: Einbindung des Individuums in das soziale Rollengeflecht und damit Erweiterung der personalen Identität um eine soziale Dimension (Dunbar 1996). Zur personalen Identität trägt deshalb auch ganz wesentlich eine mit anderen gemeinsame Geschichtserfahrung und die Teilhabe an der gemeinsamen Erinnerungskultur bei, die daraus erwächst. Genau dies leisten Mythen. Gemeinsame Geschichten, gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Wahrheiten stiften die soziale Identität einer Lebensgemeinschaft und dienen dem Gruppenzusammenhalt. Kurz: Mythen tragen dazu bei, die während der Menschheitsgeschichte so nachhaltig wichtige Unterscheidung zwischen dem ‘Wir’ und ‘den Anderen’ zu konstruieren und psychologisch aufrecht zu erhalten. Damit ist eine dritte Nutzenfunktion von Religiosität beschrieben: Indem sie Mythen propagiert und auf diese Weise soziale Identität stiftet, fördert sie Konkurrenzfähigkeit in Auseinandersetzungen sozialer Gruppen.

VI. Kommunikation und Religiosität Mit ihrer zeremoniellen Praxis kooptieren Religionen ein uraltes biologisches Kommunikationssystem, das in der Literatur als “Handicap-Prinzip” geführt wird. Wie von Zahavi/Zahavi (1998) ausführlich entfaltet, lässt sich die biologische Evolution gleichsam in zwei Spielarten unterteilen, nämlich in die Nützlichkeitsevolution und in die Signalevolution. Während in der Nützlichkeitsevolution all jene Merkmale gefördert werden, die ganz unmittelbar Fitnessvorteile mit sich bringen, fördert die Signalevolution Merkmale, die zwar nicht unmittelbar nützlich sind, gleichwohl aber ansonsten verborgene Nützlichkeit verlässlich anzeigen. Prachtgefieder sind hierfür ein häufig angeführtes Beispiel. Kommunikative Verlässlichkeit entsteht wegen eines ganz simplen Sachverhalts: Nur wer sich den Signalaufwand tatsächlich leistet, zeigt dem interessierten Publikum, das er sich den Aufwand auch tatsächlich leisten kann und entsprechend fit ist. Die Höhe der Extrakosten, die zu übernehmen man in der Lage ist, um Merkmale wie ein Prachtgefieder aufzubauen, sind ein Maß für die geno-

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typische oder phänotypische Qualität des Signalgebers, und genau deshalb bevorzugen Weibchen jene Männchen, die am prachtvollsten daherkommen. Im Tierreich sind ‘ehrliche Signale’ über verborgene Eigenschaften in dreierlei Kontexten evolviert (Zahavi/Zahavi 1998), nämlich in der zwischen-artlichen Kommunikation der Beute mit ihren Räubern; in der sozialen Konkurrenz um Rangpositionen, wo sie helfen, kampflos Hierarchien zu verhandeln; und schließlich in der sexuellen Konkurrenz, wo sie Rückschlüsse auf Partnerqualitäten erlauben. Eine menschliche Besonderheit ist die Implementierung des Handicap-Prinzips in den Bereich der Moralität (Voland 2003; 2004). Als adaptive Antwort auf eines der drückendsten adaptiven Probleme der frühen Menschheitsgeschichte überhaupt, nämlich die lebensbegleitende und alltagsbestimmende Zwischengruppenkonkurrenz, hat sich eine möglichst gefestigte in-group-/out-group-Moral herausgebildet, deren wesentlichste Funktion darin besteht, die Angehörigen einer Gruppe zu einer sozialen Allianz zusammenzubinden und sie auf ein ‘Wir-Gefühl’ zu verpflichten. Aber wie alle öffentlichen Güter unterliegt auch die Gruppensolidarität dem ‘Schwarzfahrer-Problem’. In einem Konflikt zwischen dem Eigeninteresse und dem Gruppenwohl siegt mit größerer Wahrscheinlichkeit das Eigeninteresse. Man mag zwar geneigt sein, die Vorteile der Gruppenzugehörigkeit für sich persönlich bestmöglich zu nutzen. Aber andererseits gibt es starke Anreize, als persönlicher Nutzenmaximierer möglichst Kosten zu vermeiden, die aus der sozialen Allianz erwachsen. Moralische Integrität kann man nicht nur nicht sehen, sondern sie ist in einer Welt persönlicher Nutzenmaximierer a priori sogar unglaubwürdig. Gruppensolidarität läuft deshalb immer Gefahr, ausgebeutet zu werden – es sei denn, ihre Mitglieder und vor allem die neu Hinzukommenden bekunden mit ‘ehrlichen Signalen’ ihre moralische Bonität. Diese Funktion übernehmen Rituale, Zeremonien und Tabus (Dunbar 1999; Knight 1998; Palmer/Pomianek 2007; Uhl/Voland 2002; Voland 2003). Wer bereit ist, die hohen Kosten eines Initiationsritus auf sich zu nehmen, bekennt sich für alle wahrnehmbar zu seiner in-group und demonstriert die geforderte Loyalität. Die hohen Kosten der Initiation verhindern ein opportunistisches Schwarzfahren, denn Nettovorteile der Gruppenzugehörigkeit stellen sich erst ein, wenn die anfänglichen Eintrittskosten kompensiert sind. Außerdem versperren dauerhaft äußerlich sichtbare Zeichen ihrem Träger die Möglichkeit des opportunistisch-taktischen Gruppenwechsels und begründen so eine hohe Wahrscheinlichkeit für sein lebens-

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langes Engagement. Er zeigt mit dem teuren Signal ein glaubwürdiges Interesse an der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Er kauft moralisches Prestige und empfiehlt sich so als verlässlicher und moralisch guter Partner. Wie das “adaptive Kalkül” des “Handicap-Prinzips” tatsächlich realhistorisch aufgehen kann, konnten Sosis/Bressler (2003) am Schicksal USamerikanischer Siedlergemeinschaften des 19. Jahrhunderts aufzeigen. Die religiösen Gemeinschaften bestanden im Durchschnitt länger als die weltlichen; und je mehr Aufwand die Religionsgemeinschaften von ihren Mitgliedern verlangt haben, desto länger konnten sie sich behaupten. Aus der Anwendung des Handicap-Prinzips auf Religionsgemeinschaften lassen sich empirisch überprüfbare Hypothesen generieren. So hat Irons (2001) gemutmaßt: Je teurer gesellschaftliche Zeremonien und Rituale sind, d. h. je mehr Zeit, Ressourcen oder Vitalität sie verbrauchen, desto effizienter werden sie Gruppensolidarität aufbauen. Und umgekehrt: Je bedeutsamer Gruppensolidarität für das Überleben und Gedeihen einer Gruppe ist, desto aufwändiger wird ihre moralische Kommunikation sein. Und in der Tat konnten Sosis/Kress/Boster (2007) erste Indizien für die Gültigkeit von Irons’ Vermutung finden. Die Autoren fanden im Kulturenvergleich, dass Männer in kriegerischen Gesellschaften sich den aufwändigsten Riten unterziehen. Man kann begründet vermuten, dass dieser Zusammenhang nicht nur im Kulturenvergleich aufscheint, sondern vermutlich auch in diachronen und biografischen Vergleichen: Je krisenhafter eine gesellschaftliche oder persönliche Situation erfahren wird, desto mehr wird in teure Signale investiert, wobei Religionen eine passende Matrix für diese Form der Kommunikation anbieten. Zeremonien und Tabus dienen dazu, ganz im Sinne der Signalevolution Verlässlichkeit innerhalb einer moralischen in-group zu etablieren. Religion erfüllt damit einen weiteren biologischen Nutzen: Sie bekämpft das Schwarzfahrer-Problem in Solidargemeinschaften, indem sie vertrauensbildende Maßnahmen anbietet.

VII. Moral und Religiosität Religionen zielen auf eine Stärkung der Binnenmoral. Aus Gründen, die unter dem Stichwort ‘Gefangenendilemma’ diskutiert werden und zu denen es in der Ökonomie genauso wie in der Soziobiologie eine lange Forschungsgeschichte gibt, entsteht Kooperation jedoch nicht spontan.

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Gruppendienliches Verhalten ist eine eher unwahrscheinliche Angelegenheit, weil mit der sozialen Lebensweise ein immer wiederkehrendes moralisches Dilemma untrennbar verbunden ist. Es besteht darin, dass kurzfristiger Eigennutz langfristigen Kooperationsgewinnen im Wege steht. Eine der Gruppe dienliche Binnenmoral läuft ständig Gefahr, opportunistisch untergraben zu werden. Wir haben bereits besprochen, wie Religionen durch Instrumentalisierung des Handicap-Prinzips dieser Gefahr entgegenwirken. Allerdings macht ehrliche Kommunikation soziale Kontrolle keineswegs überflüssig. Wenn durch soziale Kontrolle opportunistische Normenbrecher als solche erkannt und bestraft werden können, wird unmoralisches Verhalten teuer und deshalb unwahrscheinlicher. Auch wenn soziale Kontrolle die Gruppe stärkt und langfristige Kooperationsgewinne fördert, löst sie dennoch das Gefangenen-Dilemma nicht vollständig auf, denn die Bestrafung der Normenverletzer ist selbst ein altruistischer Akt (Fehr/Gächter 2002). Weshalb sollte jemand die Zeit, die Mühe und das Risiko auf sich nehmen, einen Dritten zu sanktionieren, wenn er doch selbst unmittelbar nichts davon hat? Soziale Kontrolle ist demnach eine Form von Altruismus, die nicht evolutionsstabil sein kann. Religiosität könnte evolviert sein, um mit diesem Problem, dem sogenannten ‘Schwarzfahrer-Problem zweiter Ordnung’ fertig zu werden. Indem die Götter, Geister und Ahnen Fehlverhalten sanktionieren, werden die Mitglieder einer Gruppe von den Kosten der Normenkontrolle befreit. Stattdessen wird die Bestrafung der Normenübertretung internalisiert, indem Normenkonformität durch eine religiös fixierte Gewissenhaftigkeit erreicht wird. Einige Befunde aus dem Kulturenvergleich sprechen für diese Hypothese. So konnte Johnson (2005) zeigen, dass je stärker die Mitglieder einer Gruppe kooperieren, desto ausgeprägter die lokalen Vorstellungen von alles sehenden und wissenden, strafenden und allmächtigen Göttern ausfallen. In dieses Bild passt auch der Befund von Roes/Raymond (2003), die zeigen, dass der Glaube an strafende Götter mit der sozialen Gruppengröße korreliert. In einfachen Subsistenzgruppen ist er praktisch unbekannt. Die Idee, dass Gottesfurcht als adaptive Antwort auf das Problem der öffentlichen Güter evolviert sein könnte, muss allerdings erklären können, wieso eigentlich das Gewissen als moralische Regulationsinstanz evolvieren konnte. Weshalb sollte sich jemand ‘freiwillig’ dem Gewissensdiktat unterziehen? Amoralität wäre im direkten Vergleich die evolutionär erfolgreichere Strategie. Und in der Tat scheint die biologische Evolution

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des Gewissens mit einem Paradox behaftet, denn moralische Konflikte sind nicht fitnessförderlich, ja noch nicht einmal fitnessneutral zu lösen. Genau deshalb erleben wir sie als Gewissenskonflikte. Ein gutes Gewissen wird erkauft mit der altruistischen Lösung des Dilemmas, mithin zum Preis persönlicher Vorteile und Lebenschancen. Die egoistische Lösung eines Gewissenskonflikts wird hingegen bezahlt mit einer Reihe von Kosten, die man in den Lehrbüchern von Psychologie und Psychoanalyse nachlesen kann. Schande gehört hierzu, also die Aberkennung sozialer Akzeptanz und Prestigeverlust. Scham ist zu nennen als ein den Selbstwert mindernder, negativer Affekt. Neurosen, etwa in Form von sogenannten ‘Konversionsneurosen’ können entstehen, und schließlich kann ein schlechtes Gewissen zu psychotischer Depression führen mit der Folge von suizidalen Inklinationen. Wem also nützt das Gewissen? Es gibt soziobiologische Modelle, die die Gewissensevolution mit den Interessen derjenigen in Verbindung bringen, die im Regelfall für die Ausformung des heranreifenden Gewissens verantwortlich sind, nämlich der Eltern (Voland/Voland 1993; 1998). Könnte es sein, dass das Gewissen gleichsam als Einfallstor für die elterlichen Altruismus-Ansprüche an die Kinder evolviert ist? Diese Überlegungen knüpfen an Trivers’ (1974) Modell des “Eltern/Kind-Konflikts” an, wonach aus gen-egoistischen Gründen Eltern mehr Altruismus von ihren Kindern erwarten, als diese von sich aus zu leisten bereit sind. Aus dieser Sicht nützt das Gewissen primär den Eltern und eben nicht den Gewissensträgern selbst, die – wie bereits angedeutet – aus Gewissenskonflikten gerade keinen adaptiven Vorteil ziehen können. Der Nutzen einer solchen Erziehungspraxis liegt auf der Hand: Unter bestimmten Randbedingungen kann es im Fitnessinteresse von Eltern liegen, einen Teil der Nachkommenschaft zu wahrhaften Altruisten zu erziehen, die möglicherweise ihr Leben für die Gemeinschaft einsetzen – vorausgesetzt, dadurch wird der Bestand der eigenen familiären Linie gesichert. Es mag sich für Eltern lohnen, gleichsam ‘Steuern’ zu zahlen, um z. B. Krieger zu produzieren, die gegebenenfalls auch ihr Leben für die Existenzsicherung und Lebenschancen ihrer Gemeinschaft einsetzen und damit selbst faktisch zu den evolutionären Verlierern zählen werden (auch wenn ihre Heldenhaftigkeit gesellschaftlich vielfach honoriert werden sollte), wenn nur – und das ist der entscheidende Punkt – dadurch den Eltern Möglichkeiten erhalten bleiben, weiterhin am evolutionären Fitnessspiel teilzunehmen. Schließlich wäre ein Kind leicht zu ersetzen, das eigene Leben und die genetische Persistenz der eigenen Linie

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aber nicht. Es sieht ganz danach aus, dass dieses ‘Steuer-Modell’ auch die funktionslogische Matrix für Selbstmordattentate liefert. Kinder werden zu Helden erzogen, weil es sich gemäß der evolutionären ‘Quasi-Rationalität’ für die Eltern zu lohnen scheint. Über das Gewissen der sich selbst opfernden Jugendlichen können deren Eltern auf eine geradezu perfekte und extrem wirkungsvolle Art Altruismusanforderungen durchsetzen und aus ihrer Sicht höchstes moralisches Verhalten einfordern. Pointiert formuliert ist das Gewissen ein Instrument elterlichen Parasitismus an den Lebensleistungen der eigenen Kinder. Diese Beispiele mögen verdeutlichen, wie individualgeschichtlich Moral und Manipulation aufs Engste miteinander verknüpft sein können. Für unser Thema der Religiosität münden diese Überlegungen in die Feststellung, dass Gewissenhaftigkeit als Grundlage einer religiös motivierten Altruismus-Moral durchaus evolutionär stabil sein kann, auch wenn der Nutzen der Moral nach aller Darwinischen Logik sich nicht in der Bilanz der ‘wahren’ Altruisten niederschlagen kann. Einen spezifisch adaptiven Anstrich bekommt das Phänomen religiöser Gewissenhaftigkeit dadurch, dass sie mit der Idee eines Sozialkontrakts spielt. Viele Gläubige sind davon überzeugt, dass sie durch ihre Moral die Götter gnädig stimmen können, und im Umkehrschluss werden nicht selten Schicksalsschläge als Strafe der Götter für eigenes Fehlverhalten interpretiert. Das Prinzip der moralischen Wechselseitigkeit erfährt hier eine Erweiterung seines Geltungsbereichs vom sozialen Nahbereich, wo es evolviert ist, hin zu konfabulierten sozialen Transaktionen mit dem Übernatürlichen. Auch in sozialer Hinsicht stellt sich Religiosität als ausgesprochen nützliches Instrument des biologischen Imperativs dar. Indem sie eine altruistische Binnenmoral fördert, sorgt sie für langfristige Kooperationsgewinne innerhalb der moralischen in-group, die wegen des GefangenenDilemmas so nicht spontan hätten eingefahren werden können. Dies gelingt, weil Religiosität das Schwarzfahrer-Problem zweiter Ordnung überwindet. Sanktionen moralischen Fehlverhaltens werden durch die Ausnutzung von Gewissensleistungen internalisiert. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die evolutionären Gewinner von Religiosität und der von ihr produzierten Binnenmoral nicht notwendigerweise die gewissenhaften Religionsausüber selbst sind, sondern die ‘egoistischen Gene’ derjenigen Deszendenzlinien, zu denen sie gehören. Es kann kein Zufall sein, dass in vielen Religionen ausgerechnet dominante Ahnen eine so prominente Rolle spielen.

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VIII. Ist Religiosität eine biologische Angepasstheit oder ein nichtfunktionales Nebenprodukt des menschlichen Geistes? Nun ist die universelle Verbreitung eines Merkmals, wie Religiosität eines ist, zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für eine biologische Angepasstheit. Die entscheidende Frage muss weitergehend lauten, ob Religiosität biologisch evolviert ist, weil mit ihr ganz direkt und unmittelbar Fitnessvorteile im struggle for life verbunden waren, oder ob nicht vielmehr die mentalen Grundlagen für Frömmigkeit aus ganz anderen Gründen evolviert sind und Religiosität deshalb eher als biologisch funktionsloses Nebenprodukt verstanden werden muss. Wäre dem so, wäre demnach Religiosität eine Art mentaler Virus, das die biologisch evolvierte Infrastruktur des Gehirns für sich selbst bestens auszunutzen versteht, würden all jene Skeptiker Recht behalten, die immer schon behauptet haben, dass religiöses Verhalten biologisch nicht nützlich sein kann, denn der mit engagierter Religionsausübung verbundene Aufwand an Zeit, Ressourcen und Lebens- und Gesundheitsrisiken könne sich niemals in Einheiten reproduktiver Fitness amortisieren. Aber selbst wenn sich herausstellen sollte, dass Religiosität nicht als biologisch funktionale Adaptation zu bewerten ist, wird man klären müssen, von welchen evolutionären Adaptationen Religiosität ein nicht-funktionales Nebenprodukt darstellt, d. h. welche besonderen evolvierten Mechanismen und Kompetenzen des menschlichen Geistes durch Religionen ausgebeutet werden, und aus welchen nicht-adaptiven Gründen Religiosität trotzdem historisch persistiert. Das Ergebnis einer evolutionären Sicht auf Religiosität ist deshalb offen: Wir können es mit einer biologischen Angepasstheit zu tun haben – oder eben auch nicht. In jedem Fall bedarf es aber der Perspektive des soziobiologischen Programms, um diese Frage entscheiden zu können. Um als Adaptationen angesprochen werden zu können, müssen die in Frage stehenden Merkmale unter anderem zwei Kriterien erfüllen: Sie sind Produkt selektiver Prozesse und weisen deshalb ein special purpose design auf, und sie lösen ein adaptives Problem oder haben zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ein adaptives Problem gelöst. Adaptive Probleme sind solche, denen sich unsere stammesgeschichtlichen Vorfahren häufig und regelmäßig genug ausgesetzt sahen, so dass die Darwinischen Prozesse darauf konstruktiv reagieren konnten, und sie sind Probleme, deren Lösung mit Konsequenzen für den Lebensreproduktionserfolg, letztlich mit genetischer Fitness, verbunden sind. An anderer Stelle (Voland,

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im Druck) wird die Frage ‘Angepasstheit versus Nebenprodukt’ differenzierter diskutiert, als dies hier im kulturwissenschaftlichen Kontext sinnvoll geschehen kann. Hier soll eine knappe Zusammenfassung der Überlegungen genügen. In der folgenden Tabelle werden die einzelnen Komponenten von Religiosität mit den beiden genannten Kriterien in Beziehung gesetzt. Mit Ausnahme der metaphysischen Grundannahmen von Religionen, die als Nebenprodukte der biologisch evolvierten, im Diesseits nützlichen kognitiven Maschinerie des Menschen verstanden werden können, zeigen alle Komponenten der Religiosität biologische Nützlichkeit: Kontingenzbewältigung, Identitätsbildung, soziale Allianzbildung und Lösung des Gefangenen-Dilemmas auf zwei Ebenen. Die Frage nach der Kopplung von special purpose design und biologischer Funktion kann meines Erachtens für fünf der sechs Komponenten bejaht werden, weshalb die Sachlage aus meiner Sicht die vorsichtige Schlussfolgerung erlaubt, dass Religiosität als komplexe Gemengelage evolutionärer Adaptationen angesehen werden kann. Komponente

Religiöse Praxis

Special purpose design der beteiligten Mechanismen

Biologische Funktion

Evolutionärer Status der religiösen Praxis

Kognition

Metaphysik

nein

Nebenprodukt

Spiritualität

Mystik

kognitive Klaviatur, z. B. agency detection device ?

Kontingenzbewältigung

Adaptation ?

Bindung (Kommunion)

Rituale

Bindungssystem

Allianzbildung

Adaptation

Personale Identität

Mythos

Selbstbewusstsein

in-group/out-groupUnterscheidung

Adaptation

Kommunikation

teure Signale (Zeremonien, Tabus) Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht

Handicap-Prinzip

Lösung des Schwarzfahrerproblems erster Ordnung Lösung des Schwarzfahrerproblems zweiter Ordnung

Adaptation

Moral

Gewissen

Adaptation

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IX. Einige Folgerungen IX.1 Wenn Religiosität eine biologische Angepasstheit ist, dann können wir erwarten, dass sie in den Köpfen praktisch aller Menschen vorhanden ist. Es gehört zu den typischen Kennzeichen von evolutionären Angepasstheiten, dass sie allen (oder zumindest fast allen) Angehörigen einer Art eigen sind. Freilich gibt es auch geschlechts- und altersgebundene Adaptationen, aber von diesen Spezialfällen einmal abgesehen, bilden die Adaptationen von Homo Sapiens in ihrer Summe das, was man als ‘menschliche Natur’ bezeichnen könnte. Nun manifestiert sich religiöse Praxis bekanntlich sehr unterschiedlich zwischen den Kulturen und ihren Individuen. Religiös obsessive und absolut ungläubige Menschen sind gleichermaßen zu beobachten. Soziobiologische Theorie geht zunächst von der Annahme aus, dass interpersonale Variabilität bezüglich Frömmigkeit nicht vorrangig aus genetischen Unterschieden resultiert, sondern von unterschiedlichen Einflüssen, die auf die biologische Angepasstheit der Religiosität einwirken, also von umweltabhängigen kontingenten Erfahrungen. Diese Erfahrungen können zu tun haben mit der Biografie einer Person, etwa ihren Kindheitsbedingungen oder mit den Besonderheiten der Gegenwart. Unterschiedliche Frömmigkeit wäre demnach ein kontextabhängiger Ausfluss dessen, was Gaulin (1997) eine “konditionale Universalie” genannt hat – vergleichbar der unterschiedlichen Verteilung von Hühneraugen. Die Fähigkeit, sie zu bekommen, ist als biologische Angepasstheit allen Menschen eigen, aber nicht jeder hat sie. Wer sie hat, zieht allerdings – im Kontext seiner Lebenssituation – biologischen Nutzen daraus. Aus der adaptiven Perspektive wird man nicht behaupten können, dass die ‘Religionsverweigerer’ nicht über die Adaptationen für Frömmigkeit verfügen, sondern dass aus Gründen, die man untersuchen muss, sich ihre Religiosität entweder gemäß der Funktionslogik der konditionalen Universalien gar nicht oder aber anders als in traditioneller Frömmigkeit manifestiert. Könnte es sein, dass diese Adaptationen im alltäglichen Lebensvollzug ein Verhalten produzieren, das nicht direkt und unmittelbar als religiös motiviert zu erkennen ist? Was ist mit fanatischen Anhängern eines Sportvereins, einer revolutionären Bewegung, einer ideologischen Grundüberzeugung, eines Lifestyles, einer wissenschaftlichen community,

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einer Pop-Kultur, der Parapsychologie oder einer Pseudowissenschaft? Kurz gefragt: Gibt es Religiosität ohne Religion? IX.2 Wenn Religiosität eine biologische Angepasstheit ist, dann können wir eine regulierte Individualentwicklung (Ontogenese) von Frömmigkeit erwarten. Die Charakterisierung von Religiosität als biologische Angepasstheit und Frömmigkeit als deren Manifestation wirft die Frage auf, ob wir es hier nicht mit einem zur Sprache analogen Fall zu tun haben. Sprachen werden wie Religionen kulturell tradiert und differenzieren sich historisch auseinander. Der Tradierungsprozess erfolgt über eine individuelle Aneignung der Sprache/Religion durch ‘prägungsähnliche’ Lernprozesse, weshalb Pinker (1996) vom “Sprachinstinkt” und Söling (2002) vom “Gottesinstinkt” spricht. Das Ganze erfolgt auf dem Substrat einer biologisch evolvierten Sprachfähigkeit bzw. Religionsfähigkeit. Diese Perspektive ernst zu nehmen bedeutet, dass Religionen ontogenetisch regelhaft übernommen werden. Genauso wie der individuelle Spracherwerb vorzugsweise während spezifischer sensibler Phasen erfolgt, während der das vorbereitete Gehirn bestimmten Input sucht, um Sprachkompetenz zu entwickeln, kann man damit rechnen, dass auch die Übernahme der lokalen Religion in dazu vorgesehenen zeitlichen Fenstern erfolgt. Alcorta/Sosis (2005) sehen in der Adoleszenz eine kritische Periode für die Übernahme emotional aufgeladener symbolischer Systeme und die rites de passage als deren Praxis. Sollte sich herausstellen, dass die individuelle Übernahme der lokalen religiösen Praxis tatsächlich auf bereichsspezifischen Lernmechanismen beruht, wäre dies in der Tat der beste Beleg für die Hypothese von der Religiosität als biologische Angepasstheit. Aus Sicht der Nebenprodukt-Hypothese würde Religion nur nebenbei und auf eine unspezifische Art und Weise gelernt, einer memetischen Infektion vergleichbar – ohne dass das Gehirn spezifische Module zur Übernahme genau dieser Inhalte bevorraten würde. IX.3 Wenn Religiosität eine biologische Angepasstheit ist, dann können wir einen Zusammenhang von Frömmigkeit und Fortpflanzung erwarten.

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Die Varianz der Frömmigkeit ist allerdings nicht vollständig durch differenzielle Milieueinflüsse zu erklären, denn ganz offensichtlich besitzt Religiosität, wie andere Persönlichkeitsmerkmale auch, eine bemerkenswerte Heritabilität. Nach der Studie von Waller/Kojetin/Bouchard/Lykken/Tellegren (1990) werden rund 50 % der Gesamtvarianz in religiösen Einstellungen und Interessen durch genetische Faktoren erklärt (einen Überblick gibt: Bouchard, im Druck). Was bedeutet diese Beobachtung für unser Thema? Ist Religiosität ein Beispiel für Selektion in Echtzeit? “Religion überlebt, weil sie Kinder zeugt, nicht weil sie wahr ist”, wusste schon der Rationalitäts-Skeptiker und Ökonomie-Nobelpreisträger Friedrich-August von Hayek (zitiert nach Vaas 2006). Wie Blume/Ramsel/ Graupner (2006) für Deutschland, Adsera (2006) für Spanien und Frejka/ Westhoff (2008) für die USA zeigen konnten, korreliert religiöses Engagement tatsächlich mit Fruchtbarkeit. Danach sieht es ganz so aus, als ob es frommen Menschen auch in modernen, aufgeklärten Gesellschaften besser als anderen gelänge, die persönlichen Hindernisse auf dem Weg zum Kinder-Kriegen zu überwinden. Wie immer der Zusammenhang zwischen Religiosität und differenzieller Fortpflanzung psychisch und soziologisch zu Stande kommen mag: Man beobachtet eine Überreproduktion frommer Menschen. Dies kann bedeuten, dass selbst unter modernen demografischen Regimes genetische Persönlichkeitsfaktoren ausgelesen werden, die für Frömmigkeit prädisponieren. A priori auszuschließen ist diese Vermutung jedenfalls nicht.

X. Zusammenfassung Die evolutionäre Perspektive sieht den Menschen und sein Schalten und Walten konsequent eingebunden in das irdische Naturgeschehen. Von Anbeginn und lückenlos der formenden Kraft des Darwinischen Prinzips ausgesetzt, kann er nur als naturgesetzlich determiniertes und den biologischen Imperativ im Hier und Heute exekutierendes Wesen gedacht werden. Wozu, wenn es doch letztlich um das diesseitige survival of the fittest geht, sollte sich dann aber der Mensch in den Glaubenslabyrinthen des Religiösen verlieren? Wozu Vorstellungen von Transzendenz? Wozu Hoffnungen auf Liebe und Ängste vor Strafe aus Quellen, die naturwissenschaftlich gar nicht darstellbar sind und deren ontologischer Status auch dem Gläubigsten unklar bleiben muss? Auf den ersten Blick ist Reli-

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giosität alles andere als naturgeschichtlich plausibel, und deshalb wird der betende Mensch gern als Beleg für die Auffassung verwendet, dass es auf Erden eben doch nicht so einhundertprozentig Darwinisch korrekt zugehe, wie Soziobiologen gern behaupten. In diesem Aufsatz habe ich Einsichten aus psychologischer und anthropologischer Forschung zusammengetragen, die in der Summe die Interpretation nahelegen, dass auch Religiosität als biologische Angepasstheit – und ihre Praxis im religiösen Lebensvollzug (sei es in Form von Mystik, Ritualen, Mythologie, Zeremonien und Tabus, Gottesfurcht und Gewissenhaftigkeit) – nicht irdischer Nützlichkeitsbewertungen entkommt und deshalb Darwinisch selektiert wurde: Homo naturaliter religiosus.

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MICHAEL NEUMANN Danae, Rapunzel und ihre Schwestern. Zu Walter Burkerts Konzept der Mädchentragödie

Walter Burkerts Mut, von Homo Necans bis zu Kulte des Altertums immer wieder auf Ergebnisse der Verhaltensbiologie zurückzugreifen, wurde viel bewundert und viel gelobt. Nachgefolgt ist ihm die Fachwissenschaft allerdings kaum. Warum das auch nicht so einfach ist, haben manche Gespräche des Kolloquiums gezeigt, das der vorliegende Band dokumentiert. Gleichwohl möchte ich im Folgenden an einem Beispiel erproben, wie ein solches Weiterdenken aussehen könnte: nicht an dem großen Brocken von Burkerts Opfer-Theorie allerdings, sondern an dem begrenzteren, aber für einen Erzählforscher besonders reizvollen Konzept der ‘Mädchentragödie’. Der Begriff taucht bereits in Homo Necans auf (Burkert 1972, 208), hier allerdings eher beiläufig. Zwar wird ein möglicher Zusammenhang mit Initiationsriten angedeutet, doch bleibt die mythische Mädchentragödie der Antiope noch ganz eingebettet in die Riten des Jahreswechsels. Im Zentrum steht das Interesse an der anthropologischen Funktion des Opfers. Structure and History richtet dann die Aufmerksamkeit auf narrative Strukturen. Die Mädchentragödie erscheint als eine feste Abfolge von fünf Handlungselementen, die auffallende Ähnlichkeiten zu weltweit verbreiteten Initiationsriten zeigen. Burkert trägt reiches Material zu griechischen Opferriten zusammen, in denen er die fünf Schritte dieses Musters sowie ihren Zusammenhang mit Riten der weiblichen Pubertätsinitiation aufdeckt. Von hier schlägt er die Brücke zur biologischen Ausstattung des Menschen (Burkert 1979a, 7, 16). Ich nehme im Folgenden den Hinweis auf Mädchen-Initiationen auf, lasse aber die Befunde zu den antiken Opfern beiseite.

I. Die Mädchentragödie In Structure and History nennt Burkert sieben weibliche Figuren der griechischen Mythologie, deren Geschichten durchwegs dem Grundmuster der

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Mädchentragödie folgen (Burkert 1979, 6): Kallisto, Auge, Danae, Io, Tyro, Melanippe, Antiope. Dieses Grundmuster umfasst fünf Stadien:1 1. Abreise von Zuhause; 2. Periode der Abgeschiedenheit; 3. erster Geschlechtsverkehr; 4. Periode des Leidens; 5. Geburt eines Kindes und Rettung. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Abfolge der fünf Stadien innerhalb dieser Geschichten. Ich lasse hier die durchaus nicht trivialen Probleme beiseite, die die Rekonstruktion oraler Erzählung(en) aus zum Teil recht zerstreuten schriftlichen Zeugnissen aufwirft, und vertraue mich um der Kürze willen den Erzählungen von Walter Burkert und einigen mythologischen Handbüchern an. Dem König von Argos, Akrisios, prophezeit ein Orakel, er werde einst vom Sohn seiner Tochter Danae ums Leben gebracht werden. Er lässt Danae in einem Kerker verschließen (1), in dem sie ihre Kindheit verbringt (2). Als sie herangewachsen ist, entdeckt Zeus ihre Schönheit, dringt als goldener Regen in den Kerker ein und verbindet sich mit ihr (3). Danae wird schwanger und gebiert den Perseus (5.1). Als Akrisios die Geburt entdeckt, schließt er Mutter und Kind in eine Truhe und wirft diese ins Meer (4). Doch die Truhe strandet schließlich auf der Insel Seriphos; Danae und Perseus werden gerettet (5.2). Wenn Auge je einen Sohn gebären würde, so eröffnet ein Orakel ihrem Vater, dem Aleus von Tegea, würde dieser Sohn einen der Brüder seiner Mutter töten. Um das zu verhindern, ernennt Aleus sie zur Priesterin im Tempel der Athena zu Tegea (1), was sie zur Jungfräulichkeit verpflichtet (2). Doch eines Tages überrascht sie der betrunkene Herakles beim Waschen an einer Quelle und vergewaltigt sie (3). Sie gebiert daraufhin den Telephos (5.1) und verbirgt ihn im Tempel. Ihr Vater entdeckt den Vorfall. Nach einer Tradition setzt er Auge und Telephos, vielleicht in einer Truhe, auf dem Meer aus (4). Die Truhe gelangt heil bis nach Mysien (5.2), wo Auge ihren Sohn dann aufzieht. Nach einer anderen Tradition werden Mutter und Sohn getrennt: Aleus setzt den Telephos auf dem Parthenion aus, wo er von einer Hirschkuh gesäugt und später von Menschen adoptiert wird. Auge dagegen wird in die Sklaverei verkauft (4). Als ihr Sohn herangewachsen ist, finden sie einander wieder; Telephos wird König von Mysien (5.2).

1

91-92.

Vgl. Burkert 1972, 208-211; Burkert 1979a, 7; Burkert 1979b, 23; Burkert 1998,

Danae, Rapunzel und ihre Schwestern

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Die Nymphe Kallisto2 hat der Göttin Artemis Keuschheit geschworen und begleitet sie nun auf der Jagd (2). Doch Zeus vergewaltigt sie (3). Als Artemis die Schwangerschaft entdeckt, verstößt sie Kallisto (4). Nach der Geburt des Arkas (5.1) verwandelt die eifersüchtige Hera sie auch noch in eine Bärin (4). Nach 15 Jahren versetzt Zeus sie schließlich als Sternbild an den Himmel (5.2). In Gestalt eines Satyrs verführt Zeus die ‘mondschöne’ Antiope, die Tochter des Königs von Theben (3). Schwanger flieht sie nach Sikyon (1). Dort nimmt König Epopeus sie zur Gattin (5.2). Doch Lykos, der Bruder von Antiopes Vater, zieht gegen Sikyon. Er erobert die Stadt, tötet Epopeus und nimmt Antiope gefangen. Auf dem Rückweg von Sikyon gebiert Antiope Zwillinge (5.1) und setzt sie im Gebirge aus; Hirten ziehen sie auf. Lykos schenkt Antiope seiner grausamen Gattin Dirke als Sklavin (4). Als Antiopes Söhne zu Männern herangewachsen sind, erobern sie Theben, töten Lykos, lassen Dirke von einem Stier zu Tode schleifen und befreien ihre Mutter (5.2). Io, eine Priesterin der Hera (2), wird von Zeus verführt (3). Um sie vor Heras Zorn zu schützen, verwandelt Zeus sie in eine Kuh. Doch Hera bringt die Kuh in ihren Besitz und lässt sie vom vieläugigen Argos bewachen (4). Von Zeus gesandt, kann Hermes die Kuh befreien (5.2), doch Hera sendet nun eine Bremse, die Io durch alle Länder und schließlich zum Wahnsinn treibt (4). In Ägypten findet sie endlich Ruhe und Zeus verleiht ihr wieder ihre menschliche Gestalt (5.2). Dort gebiert sie auch den Epaphos (5.1), der später König von Ägypten wird. Mit der schönen Melanippe vereinigt sich Poseidon (3). Sie gebiert Zwillinge (5.1) und verbirgt diese im Pferdestall. Als ihr Vater die Säuglinge entdeckt, lässt er sie aussetzen und wirft Melanippe ins Gefängnis (2/4). Die Zwillinge werden von Hirten gefunden und von einem Königspaar adoptiert. Als sie herangewachsen sind, befreien sie ihre Mutter (5.2). In Gestalt des Flussgottes Enipeus wohnt Poseidon der schlafenden Tyro bei (3), der Nichte der Melanippe. Sie gebiert die Zwillinge Pelias und Neleus (5.1), setzt sie aus Angst aber in einem ausgehöhlten Brett auf dem Fluss Epineus aus. Die Kinder werden von Hirten aufgefunden und aufgezogen. Tyro aber wird von ihrer Stiefmutter Sidero gequält und misshandelt (4). Als die Zwillinge herangewachsen sind, töten sie Sidero. Tyro

2

Die Zusammenfassung folgt hier der Erzählung von Ovid. Met. 2.409-507.

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heiratet Kretheus, den Gründer von Iolkos (5.2), und gebiert ihm weitere Söhne. Demselben Muster folgt auch das Schicksal der Psyche im Roman des Apuleius.3 Psyche wird, als Opfer für ein geheimnisvolles Ungeheuer, auf einem Felsen ausgesetzt (1). Von dort trägt ein Wind sie in einen einsamen Palast, in dem sie ein friedliches Leben führt (2). In der Nacht aber empfängt sie die Besuche des ‘Ungeheuers’ − zwar kann sie es in der Finsternis nicht erkennen, doch empfängt sie es nach der Überraschung der ersten Nacht voller Glück (3). Aus Neugier lässt sie sich verführen, entgegen dem strengen Verbot, den schlafenden Liebhaber bei Licht zu betrachten. Statt eines Monsters erkennt sie den Gott Amor. Doch wegen ihres Vergehens wird ihr das Glück verwehrt, und sie gerät auf einen langen Irrweg. Venus verfolgt sie mit Misshandlungen und unterwirft sie schweren Prüfungen (4). Nachdem sie diese bestanden hat, wird sie unter die Götter versetzt, und Amor darf sie heiraten (5.2). Aus der Verbindung entspringt das Kind Voluptas (5.1). Bringt man die Abfolgen in ein Schema, so springt das Grundmuster ins Auge: Danae: 1-2-3 Auge: 1-2-3 Kallisto: 2-3 Antiope: 3 Io: 2-3 Melanippe: 3 Tyro: 3 Psyche: 1 - 2 - 3/4

- 5.1 - 5.1 - (5.1 -) - 1 - 4 - 5.1 - 5.1 - 5.2 -

4 4 4 5.2 5.2 2/4 4 5.1

- 5.2 - 5.2 - 5.1 - 4 - 5.2 - 5.1 - 4 - 5.2 -4 - 5.2 - 5.1 - 5.2 - 5.2

Burkert fasst Geburt und Rettung offensichtlich deswegen zu einem einzigen Stadium (5) zusammen, da viele dieser Geschichten in Mythen von Stammesheroen auftauchen. Ein Heros stammt nun einmal von einem Gott oder wird auf eine andere wunderbare Weise geboren; da kommen die meist göttlichen Zeugungen der Mädchentragödien gerade recht. Doch Mädchentragödien treten auch für sich oder in anderen Zusammenhängen auf. Es empfiehlt sich daher, bei der morphologischen Analyse von der spezifischen Verknüpfung mit Heroenmythen zunächst abzusehen. Dann aber legt der Vergleich der Geschichten ein Muster von sechs Stadien nahe: (1) Trennung von Zuhause − (2) Periode der Abgeschiedenheit − (3) 3

Vgl. Burkert 1998, 89-90.

Danae, Rapunzel und ihre Schwestern

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erster Geschlechtsverkehr − (5.1) Geburt − (4) Periode des Leidens − (5.2) Rettung. Dass einzelne Erzählelemente verdoppelt und variiert werden können, ist aus Märchen und Mythen auch sonst bekannt. Für Kallisto führt bereits die sichtbare Schwangerschaft zur Verstoßung; als sie dann Arkas zur Welt bringt, folgt dieser Geburt eine weitere Zuspitzung der Leidensphase. Geburt und Leiden treten also in doppelter Gestalt auf. Eine ähnliche Verdoppelung des Leidens widerfährt Io: Zunächst gerät sie, in eine Kuh verwandelt, in Heras Gefangenschaft; danach wird sie von Heras Bremse durch die Länder gejagt. Ungewöhnlicher erscheint die Verschmelzung von ‘Abgeschiedenheit’ (2) und ‘Leiden’ (4) in der Melanippe-Geschichte: Das Gefängnis würde man eigentlich als ‘Abgeschiedenheit’ deuten, doch folgt es auf die ‘Geburt’, was eigentlich das Stadium ‘Leiden’ erwarten lässt. Ähnlich wirken diese beiden Stadien noch in anderen Geschichten: Wenn Danae und vielleicht auch Auge ihre Phase des Leidens in einer Truhe auf dem Meer verbringen, so verweist die Gestalt dieser Leiden sehr deutlich auf die Phase der ‘Abgeschiedenheit’. Die Erzählungen können die Teilsequenzen ‘Trennung’/‘Abgeschiedenheit’ (1/2) und ‘Geburt’/‘Leiden’ (5.1/4) offensichtlich als Verdoppelung präsentieren. Zwingend ist das allerdings nicht. Die Psyche-Geschichte etwa kontrastiert den ersten und den zweiten Kursus des Abenteuerweges sehr nachdrücklich: Den ersten Kursus verbringt die Protagonistin, wenn auch auf ungewohnt idyllische Weise, in weltabgeschiedener Ruhe (2). Den zweiten Kursus bildet ein höchst bewegter und vielgestaltiger Weg durch die Welt (4). Darauf wird zurückzukommen sein.

II. Morphologie des Märchens Walter Burkert hat darauf hingewiesen, dass die Mädchentragödie auch mit den Mitteln von Propps Morphologie des Märchens analysiert werden kann (Burkert 1998, 91). Was er “Stadien” nennt, heißt bei Propp “Funktionen”. Der Begriff ist etwas unglücklich, da man das Wort “Funktion” auch für andere Verwendungen nicht missen möchte. Ich ziehe daher den

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Terminus “Motifem” vor, den Alan Dundes eingeführt hat.4 Burkert schlägt vor, die Stadien der Mädchentragödie als eigene, neue Motifeme aufzufassen. Einige von ihnen weisen jedoch deutliche Ähnlichkeiten mit Motifemen auf, die Propp für seine Märchen-Sequenz bereits beschrieben hat. Jener Bruch (1), welcher ein junges Mädchen “von der Kindheit, von den Eltern, von der Familie” trennt (Burkert 1998, 91), entspricht recht genau dem elften Motifem in Propps Sequenz: ‘Abreise/departure’. Propp ignoriert mit gutem Grund die jeweilige psychische Motivation, die mit einer bestimmten Handlung verknüpft wird: Ob ein Held wohlgemut von zuhause aufbricht oder ob er vertrieben wird, ob eine Heldin verjagt, entführt oder gar geopfert wird − man kann allemal von ‘Abreise’ (Sigle: Ĺ) sprechen. Schwieriger erscheint die Kategorisierung von ‘Abgeschiedenheit’ (2). Könnte man hierfür das sehr allgemeine achte Motifem ‘Schädigung/ villainy’ (A) einsetzen, das innerhalb der Märchen die Folge der Abenteuer auslöst? In Propps Sequenz steht A aber grundsätzlich vor Ĺ. In der Mädchentragödie wird die Handlung eher durch die Aktion von Bruch und Trennung (Ĺ) ausgelöst. Zudem erscheint A inhaltlich als zu allgemein. Zwar kennt Propp den Motifem-Typ A15: jemand wird festgehalten oder gefangen (Propp 1975, 38). Aber diese Einordnung würde unsichtbar machen, dass die ‘Abgeschiedenheit’ eigentlich das Handlungselement ist, welches die Mädchentragödie von Propps Grundtyp unterscheidet. Die ‘Abgeschiedenheit’ scheint für die Mädchentragödie obligatorisch zu sein, und sie ist so zentral, dass sie oft genug im zweiten Kursus noch einmal verwendet oder zumindest angedeutet wird. In diesem Fall gibt es also gute Gründe, sie als ein eigenes Motifem einzuführen: ‘Abgeschiedenheit’ mit der ikonischen Sigle: †. Die dritte Phase der Mädchentragödie beschert uns ein kleines Problem mit Propps 31. Motifem. Dieses besteht eigentlich aus zwei Handlungen: ‘Hochzeit’ (H*) und ‘Thronbesteigung’ (H*). H* ist innerhalb von Propps Märchensequenz das Schluss-Motifem. H* kann in seltenen Fällen anstelle der Hochzeit eintreten. Dabei finden wir nicht immer im strengen Sinne eine Thronbesteigung; es kann sich auch allgemeiner um eine Statuserhöhung handeln. In einigen Fällen, so Propp, wird die Vermählungsfeier kurzfristig durch eine neue Schädigung verhindert (Propp 1975, 64); 4

Dundes 1964, 59; Burkert plädierte zunächst ebenfalls für diesen Terminus (1979b, 22), ließ ihn dann später aber wieder fallen.

Danae, Rapunzel und ihre Schwestern

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dies kategorisiert er als eine Variante von H*: ‘Verlobung/Eheversprechen’ (h1). Außerehelichen Geschlechtsverkehr sehen seine Erläuterungen nicht vor. Das aber liegt offensichtlich an der Zensur-Strategie der kanonischen Sammlungen des 19. Jahrhunderts. Bekannt ist der Fall von Rapunzel in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Die erste Auflage deutet die Schwangerschaft des Mädchens − leidlich getreu ihrer Vorlage, der Persinette von Charlotte-Rose de la Force − noch an: “‘Sag Sie mir doch’,” sagt Rapunzel zu der Fee, “‘meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.’ ‘Ach, du gottloses Kind’,” antwortet die Fee darauf − und das Unglück nimmt seinen Lauf. Für die zweite Auflage hat Wilhelm Grimm die Angelegenheit ‘kindgemäß’ bereinigt: Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte: ‘Sag Sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, Sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.’ ‘Ach du gottloses Kind …’.5

Wie man sieht, erzeugt Prüderie einen Bedarf an geistiger Schlichtheit. Will man diese zeitgenössisch bedingten Verengungen beseitigen, empfiehlt es sich, H* und H* etwas anders zu unterscheiden: H* bezeichnet dann die Vereinigung von Mann und Frau, handele es sich nun um Geschlechtsverkehr, Eheversprechen oder Hochzeit; H* bezeichnet die Statuserhöhung oder den Statuswechsel als die soziale Seite dieses Motifems. Demnach sind die Verführung von Danae und Antiope, die Vergewaltigung von Auge und Kallisto sowie die sexuelle Vereinigung von Psyche mit Amor allesamt unter das Motifem H* zu versammeln. Die Handlungssequenzen der griechischen Mädchentragödien legen es nahe, die ‘Geburt’ (5.1), abweichend von Burkert, als ein eigenes Handlungselement aufzufassen. Dafür spricht auch, dass dieses Handlungselement noch in anderen Erzähltypen eine wichtige und durch kein anderes Motifem abzudeckende Funktion übernimmt.6 Versehen wir dieses Motifem ebenfalls mit einer ikonischen Sigle: 9. Burkerts viertes Handlungselement, die Periode des Leidens, entspricht im Kern Propps 21. Motifem: ‘Verfolgung/pursuit’ (V). Io wird von Heras Bremse gepeinigt, Antiope wird von der bösen Dirke gequält, Kallisto fristet als Bärin ihr Dasein − das alles lässt sich ganz gut unter 5

Zit. in H. Rölleke: Nachwort zu Brüder Grimm 1857, III, 605. Dies werde ich in einer größeren Publikation zu den fünf “Strömen des Erzählens” näher ausführen; eine erste Skizze dieses Projekts gibt: Neumann 2007. 6

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dieses Motifem subsumieren. In manchen Fällen dient die Periode des Leidens allerdings zur Verdoppelung des Motifems ‘Abgeschiedenheit’: Die Aussetzung von Danae und Auge in einer Truhe und Melanippes Einsperrung im Gefängnis lassen sich auch als † notieren. Das entspricht durchaus der Logik der Proppschen Sequenz: Kaum ein Märchen wird alle 31 Motifeme realisieren; für gewisse Positionen einer Sequenz stehen verschiedene Motifeme oder Motifem-Gruppen zur Wahl; Wiederholungen sind häufig. Das Märchen von Amor und Psyche zeigt für die Position (4) in der Handlungsfolge noch eine dritte Möglichkeit: Statt des kurzen Weges über ein einziges Motifem V kann die Erzählung an dieser Stelle auch einen langen Abenteuerweg einlegen, der sich mit Verfolgungen (V), Zaubermitteln (Sch - H - Z) und Prüfungen (P) reichlich aus Propps Arsenal bedient. Apuleius geht dabei so weit, dass der ‘zweite Kursus’ seiner Mädchentragödie geradezu dem von Propp bekannten Abenteuerweg mit männlichem Protagonisten entspricht. Es zeigt sich, dass diesem Typus von Geschichten ein breites Gestaltungsspektrum offen steht: Zwischen den extremen Polen einer krassen Entgegensetzung des weiblichen gegen den männlichen Weg und einer Annäherung beider Wege bis zur Ununterscheidbarkeit sind viele Zwischenstufen möglich. Und damit kommen wir zum abschließenden Handlungselement. Bei Propp respondiert dem Motifem V das 22. Motifem: ‘Rettung/rescue’ (R). Daran ändert sich nichts, wenn für V das Motifem † eintritt: † ĺ R. Wird V aber gegen einen längeren Abenteuerweg eingetauscht, in dessen Zentrum dann das 25. Motifem ‘Prüfung’ (P) steht, so respondiert dem am Ende, ganz in Übereinstimmung mit Propps Generalsequenz, das 26. Motifem: ‘Lösung/solution’ (Lö). Ob R oder Lö, das abschließende Motifem verbindet sich oft mit einer Statuserhöhung: Auge wird von ihren Söhnen befreit und steigt zur Ehre der Königsmutter auf; Kallisto wird von ihrem Leiden als irdische Bärin befreit, indem Zeus sie als Sternbild an den Himmel erhebt (R/H*). In Einzelfällen kann die Geburt (9) auch an das Ende wandern wie bei Io, die erst gebiert, nachdem sie in Ägypten Ruhe gefunden hat. Manchmal geht die Geburt dagegen wie in Amor und Psyche am Ende mit einer Restituierung von H* einher. Propp benutzt für ‘erneuerte Hochzeit’ die Sigle h2. Ich schreibe stattdessen H**: Wenn die beiden Motifeme ‘Vereinigung’ und ‘erneuerte/bestätigte Hochzeit’ an weit voneinander entfernten Positionen der Sequenz stehen, sollte man sie

Danae, Rapunzel und ihre Schwestern

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als zwei verschiedene Motifeme behandeln. Im übrigen ist Propps h1 ja durch die Neudefinition von H* überflüssig gemacht worden. Übertragen wir Burkerts um die Geburt erweiterte Handlungssequenz in die Notation von Propps Morphologie mit den angegebenen Erweiterungen, so ergibt sich: Burkert: Propp:

1 - 2 - 3 - 5.1 - 4 - 5.2 Ĺ - † - H* - 9 - V - R - H** - H* (oder:) - P - … - Lö - H** - H*

Mit Blick auf die Gesetzmäßigkeiten der Proppschen Morphologie ergibt sich hier allerdings ein Problem. Das oben bereits erwähnte achte Motifem ‘Schädigung’ (A) darf in keiner Märchensequenz fehlen, denn es löst die eigentliche Handlung aus (Propp 1975, 36). Was allerdings löst in den Mädchentragödien die Handlung aus? In den Geschichten von Danae und Auge ist es ein toddrohendes Orakel, im Roman der Psyche das nötige Opfer für ein Ungeheuer. Da könnte man der Abreise (Ĺ) also noch ein auslösendes Motifem (A) voranstellen. Schwierigkeiten bereiten einer solchen Erweiterung jedoch die Geschichten von Kallisto, Antiope, Io, Melanippe und Tyro. Hier wird die Handlung durch eine Vergewaltigung oder eine Verführung ausgelöst. Manche mögen darin eine Schädigung (A) sehen. Doch während bei der ersten Gruppe der Geschichten die Schädigung zeitlich und logisch dem Motifem Ĺ klar vorausgesetzt ist, lässt sie sich bei dem Motifem H* nicht so recht abgrenzen. Zwar kennt Propp auch die Verschmelzung zweier Motive. Es bleibt aber doch etwas seltsam, wenn das so prominente Motifem A einmal eigens vor Ĺ, ein andermal mit H* verschmolzen auftaucht. Auch darauf wird noch zurückzukommen sein. Dass sich die mythische Mädchentragödie überhaupt in Propps Notation übertragen lässt, muss dagegen nicht verwundern − findet sich diese Handlungssequenz doch, Walter Burkert hat darauf hingewiesen, auch in einigen der bekanntesten Märchen von Charles Perrault und den Brüdern Grimm. Greifen wir drei Beispiele nach ihren wesentlichen Stationen heraus.7 Ein Mann hat einer benachbarten Zauberin sein Kind versprochen (A) und übergibt es ihr gleich nach der Geburt (Ĺ). Als das Kind, Rapunzel, zwölf Jahre alt wird, sperrt die Zauberin es in einen Turm ohne Tür; dort 7

Nach Brüder Grimm 1857, I, 87-91, 269-278, 79-86.

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lebt es nun, “von aller Welt geschieden”8 (†). Dennoch findet ein Königssohn das schöne Mädchen und steigt an dessen langem Zopf zu ihm empor. Die beiden kommen zusammen (H*). Als die Zauberin − hier nach der Erstauflage − Rapunzels Schwangerschaft bemerkt, schlägt sie das Mädchen, schneidet ihm die Haare ab und schafft es zu elendem Leben in eine Wüstenei (V). Analog wird der Königssohn geblendet und irrt im Wald umher. In der Wüstenei gebiert Rapunzel Zwillinge (9). Nach einigen Jahren findet der Königssohn seine Braut wieder. Ihre Tränen heilen seine Augen und so kann er sie in sein Reich führen (R - H**/H*). Mit sieben Jahren übertrifft Sneewittchen ihre Stiefmutter an Schönheit. Die Stiefmutter − in der ersten Auflage war es noch die eigene Mutter − befiehlt darauf ihrem Jäger, das Mädchen zu töten (A). Der Jäger führt sie in den Wald (Ĺ), verschont sie jedoch im letzten Moment. Sneewittchen entläuft durch Wälder und über Berge (Ĺ), bis sie am Abend zum Haus der sieben Zwerge gelangt. Dort bleibt sie, weit entfernt von allen Menschen (†). Zweimal unternimmt ihre zauberische Stiefmutter noch Anschläge auf ihr Leben (V), doch die Zwerge vermögen sie beide Male zu retten (R). Beim dritten Anschlag (V) jedoch können die Zwerge den giftigen Apfelbissen nicht finden (Rneg) und Sneewittchen bleibt tot liegen. Die Zwerge setzen sie in einem gläsernen Sarg auf einen Berg (†). Da kommt ein junger Königssohn und verliebt sich derart in die tote Schönheit, dass er sie mit sich auf sein Schloss nehmen will. Als die Sargträger aber über einen Strauch stolpern, treibt die Erschütterung den Apfelbissen aus dem Hals des Mädchens und Sneewittchen kehrt ins Leben zurück (R). Die beiden heiraten (H*), und die böse Stiefmutter wird bestraft. In Die drei Männlein im Walde neidet abermals eine Stiefmutter ihrer Stieftochter die Schönheit (A). Im eisigen Winter schickt sie sie in einem Papierkleid hinaus in den Wald, um Erdbeeren zu suchen (Ĺ - P). Natürlich findet das Mädchen keine Erdbeeren, doch immerhin ein Haus mit drei ‘Haulemännerchen’. Die drei bitten sie, ihr Brot mit ihnen zu teilen und vor der Tür den Schnee wegzufegen. Beide Male tut das Mädchen bereitwillig, worum es gebeten wird, und so schenken ihm die drei Männlein drei Zaubergaben (Nr. 12-14: ‘Schenker’ – ‘Reaktion’ – ‘Zaubermittel’: Sch - H - Z): Es wird jeden Tag schöner, bei jedem Wort springt ihm ein Goldstück aus dem Mund, und eines Tages wird es ein König zum Gemahl nehmen. Als Dreingabe findet es beim Schneefegen 8

Brüder Grimm 1857, I, 90.

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auch noch die gesuchten Erdbeeren (Lö). Als das Mädchen nach Hause zurückkommt (Ļ), springen ihm bei jedem Wort die Goldstücke aus dem Mund. Sofort macht sich ihre Stiefschwester auf, um im Wald ebenfalls Erdbeeren zu suchen. Sie aber ist zu gierig und zu faul, um die Bitten der Haulemännerchen zu erfüllen. So erhält sie schlechte Wünsche mit auf den Weg − zu Hause springen ihr nun bei jedem Wort Kröten aus dem Mund. Aus Ärger schickt die Mutter darauf die Stieftochter abermals hinaus (Ĺ): Sie soll mit der Axt ein Loch ins Eis des Flusses schlagen und darin gesottenes Garn schlittern (V). Sie macht sich an die Arbeit. Doch da kommt im Wagen ein König vorbei, entdeckt ihre Schönheit, nimmt sie mit sich (R), und sie feiern Hochzeit (H*). Übers Jahr gebiert sie einen Sohn (9). Stiefmutter und -schwester stellen sich als Besuch ein. Kaum ist der König einmal ausgegangen, schon werfen die beiden die junge Königin in den Fluss, wo sie sich in eine Ente verwandelt (†). Dem König legen sie die Stiefschwester ins Bett (Nr. 24: ‘Unrechtmäßiger Anspruch’: U). Jede Nacht kommt nun die Königin, nimmt ihre menschliche Gestalt an, stillt ihr Kind, verwandelt sich wieder in die Ente und schwimmt davon. Ein Küchenjunge beobachtet das und erzählt es schließlich dem König. Da schwingt der König dreimal sein Schwert über der nächtlichen Gestalt − und seine Gemahlin steht wieder lebendig vor ihm (R). Danach bestraft er Stiefmutter und -tochter (Nr. 28 + 30: ‘Entlarvung’ + ‘Strafe’: Ü - St). Zur Taufe des Kindes aber geht er wieder mit seiner rechten Frau (H**). Das Rapunzel-Märchen folgt Punkt für Punkt dem Muster der Mädchentragödie. Das Märchen von Sneewittchen stellt das Motifem † ins Zentrum des ersten wie des zweiten Kursus und verschärft damit das Thema der Abgeschlossenheit. Ähnlich verhält es sich bekanntlich in der Geschichte von Dornröschen: Hier taucht das Motifem offen als 100-jähriger Schlaf hinter der Dornenhecke auf; doch schon zuvor darf man den väterlichen Befehl, alle Spindeln im ganzen Königreich verbrennen zu lassen, wohl als übermäßige Abschirmung und somit als eine Variante von † lesen. In gewissem Sinne dominiert † in Dornröschen sogar noch stärker als in Sneewittchen, denn in Letzterem findet sich mit dem dreimaligen Angriff der Zauberin doch bereits der Ansatz zu einer eigenen Abenteuerfolge. Das Märchen von den drei Haulemännerchen steht hier für einen Typ, der in der Grimmschen Sammlung noch öfter vorkommt; bekannte Beispiele bieten etwa Brüderchen und Schwesterchen oder Die zwölf Brüder.

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Trotz der weiblichen Protagonistin beginnt es mit einem Abenteuerweg, der ganz dem Schema des Hochzeitsmärchens mit männlichem Helden entspricht, und es führt denn auch zügig und umstandslos zur Heirat mit einem König. Doch damit ist das Märchen, anders als die analogen Geschichten mit männlichem Helden, noch nicht am Ende. Der schon einmal zurückgeschlagene Hass der (Stief-)Mutter holt die Frau noch einmal ein. Der Sturz in den Fluss ist sicher ein Mordversuch. Die Verwandlung in eine Ente wirft die Frau jedenfalls aus der Gesellschaft der Menschen (†). Erst als mit der Hilfe des Gatten auch diese Gefahr überwunden ist, kommt das Märchen zu seinem ordnungsgemäßen happy ending. In den Vorlagen der Brüder Grimm besitzt übrigens auch Dornröschen eine solche Fortsetzung, die über Nachstellungen der Stiefmutter zu einem abschließenden H** führt; die Grimmsche Verkürzung hat sogar Zweifel an der Vollständigkeit von Sneewittchen geweckt.9 Im Unterschied zu Amor und Psyche geht hier der Abenteuerweg der Phase der Abgeschlossenheit voraus. Im übrigen treibt gerade die Ähnlichkeit der ersten Märchenhälfte mit den bekannten Märchen-Abenteuern der männlichen Helden den Unterschied der zweiten Hälfte so recht heraus. Die Handlungssequenz der Mädchentragödie lässt sich also in neuzeitlichen Märchen ebenso deutlich finden wie in mythischen Erzählungen der Antike. Burkert hat weiterhin auf Analogien in der altorientalischen Literatur und im Popol Vuh der amerikanischen Quiché hingewiesen (Burkert 1998, 92). Weiteres Material ließe sich über die bekannten Register herbeischaffen.10 Die eindrucksvolle Verbreitung der Sequenz führt auf die Frage nach der Ursache: Warum findet diese markante “Sinnstruktur”11 unter so verschiedenen historischen und kulturellen Umständen immer wieder die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer und Leser?

III. Biologisches Programm Burkert sieht in dem universal verbreiteten Erzählmuster eine Reflexion elementarer biologischer Tatsachen (Burkert 1998, 93-94): der Abfolge

9

Vgl. Scherf 1995, 173-175, 1129. Z. B. Aarne/Thompson 1961, Nr. 304, 310, 400-424, 705-712 u. a. 11 Zum Unterschied zwischen Sinnstruktur und erzählter Geschichte vgl. Burkert 1979a, 5; Burkert 1979b, 21; Burkert 1998, 75-76. 10

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von Menstruation, erstem Sexualakt, Schwangerschaft und Geburt. Die Menstruation schlägt sich in den Erzählungen als Trennung vom Elternhaus (Ĺ) nieder, der Sexualakt als Begegnung mit einem Mann (H*). In neueren Aufzeichnungen wird letztere manchmal symbolisch verdeckt, in Das Wasser des Lebens etwa durch einen Kuss. Der Schwangerschaft entspricht die Leidenszeit (V - R). Die Erlösung daraus kommt mit der Geburt. Auf welche Weise wirken hier nun aber ‘Natur’ und ‘Kultur’ aufeinander ein? “Wie wird das biologische Programm der Pubertätsentwicklung, … in den Bereich der Sprache versetzt und zu einer Erzähl-Kette der narrativen Tradition gewandelt?” (Burkert 1998, 95) Man kann zwischen Biologie und Erzählung noch die weitverbreiteten Rituale der weiblichen Initiation einschieben. Dass Rituale vielfach ohne Sprache, ja ohne ein artikulierbares Verständnis ihrer Handlungen auskommen, scheint auf eine größere Nähe zu den vorsprachlichen biologischen Programmen zu deuten (z. B. Burkert 1998, 35-36). Schlägt man dann noch, wie Burkert das gelegentlich andeutet (Burkert 1972, 31-38), von den Ritualen eine Brücke zu den phylogenetisch alten ‘Ritualisierungen’, wie die Ethologen sie beschreiben, so bieten sich die Rituale als missing link zwischen biologischem Programm und sprachlich ausgebildeter Erzählung geradezu an. In Kulte des Altertums zögert Burkert dann aber sehr merklich, dieses Angebot anzunehmen. Sind manche rituelle Einzelheiten, wie etwa die weibliche Beschneidung, nicht viel zu ‘widernatürlich’, um die Rituale als Ort eines ‘natürlich’ geordneten Lebens zu interpretieren? Es liegt näher, sie als kulturelle Strategien zu verstehen, mit denen Menschen versuchen, die natürlichen Tatsachen des Lebens in den Griff zu bekommen, zu formen und voraussagbar zu machen.12

In diesem Sinne bilden Rituale weniger einen missing link als ein Analogon zu den Erzählungen: Auch diese sind Teil der alldurchdringenden kulturellen Strategien. Sie helfen den Individuen, die natürlichen “Tatsachen des Lebens” mit einem kulturellen “Sinn” zu erfüllen, der dem Geschehen eine biografische Perspektive verleiht. Und sie helfen der Gesellschaft, die Potenziale dieser Tatsachen als Ressourcen zu erschließen und als Risiken zu zähmen. Auch in Kulte des Altertums schließt Burkert die Erzählstruktur der ‘Mädchentragödie’ direkt 12

Burkert 1998, 96.

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Michael Neumann an den natürlichen Lebenszyklus der Frau [an], den Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Das biologische Programm lässt drei dramatische Stationen der Wandlung ablaufen, die erste Regelblutung, den ersten Sexualakt, Schwangerschaft und erste Geburt.13

Das, was hier als biologische “Tatsachen des Lebens” verstanden wird, erscheint mir allerdings als viel zu eng gefasst. Dass Burkert die biologischen Vorgaben auf das sichtbar Körperliche reduziert, hat wohl mit der Argumentation in kritischem bis feindlichem Umfeld zu tun: Selbst der strengste Geisteswissenschaftler wird Menarche, Sexualakt, Schwangerschaft und Geburt doch nicht als kulturelle Errungenschaften ausgeben wollen! Dazu kommt der historische Horizontwandel. Die Gesellschaften, deren Initiationsriten und -erzählungen Altertumswissenschaft und Ethnologie analysieren, fassen die Reifung vom Kind zum Erwachsenen in ihrem primär-religiösen Rahmen als einen göttlich gegründeten oder kosmisch fundierten Prozess auf, in diesem Sinne also als eine ‘objektive’ Wirklichkeit; freilich sind die Menschen aufgerufen, an dieser Wirklichkeit rituell mitzuwirken, oder genauer: sich dieser vorgegebenen Wirklichkeit einzufügen. Die Moderne dagegen konzipiert die ontogenetische Reifung als einen letztlich psychischen Prozess, als einen Vorgang in der Innerlichkeit des individuellen Subjekts, der in hohem Maße von kulturellen und historischen Einflüssen bestimmt wird. Kulturalismus wie Individualismus dieser Konzeption lassen für die Vorstellung von Universalien kaum noch Raum. Wer dennoch Universalien aufzeigen will, der sucht bei solch ‘harten’ Fakten wie Menarche, Zeugung und Geburt Hilfe, weil er anders im wissenschaftlichen Umfeld nicht auf Gehör hoffen kann. Der kulturen- und epochenübergreifende Vergleich von Initiationsriten und -geschichten legt jedoch die Vermutung nahe, dass an dem Reifungsprozess vom Kind zum Erwachsenen mehr universal ist als nur die, wenngleich sicher bedeutsamen, sichtbaren physischen ‘Fakten’. Dass etwa der Beginn der Menarche einen körperlichen Wandel anzeigt, ohne welchen das Mädchen nicht fähig würde zu Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt, steht biologisch sicher außer Zweifel. Dass der Vorgang der Menarche − und insbesondere der ersten Menarche − transkulturell weithin mit einer Isolierung des betroffenen Mädchens verbunden wird, lässt sich rein aus dem körperlichen Vorgang nicht ableiten. Alles andere als einfach ist auch die biologische Rückbindung der Periode des ‘Leidens’ (V). Zwar 13

Burkert 1998, 93-94.

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will Burkert es als “einigermaßen realistisch gelten” lassen, “dass die Schwangerschaft als eine Periode des Leidens erscheint” (Burkert 1998, 94). Zu den genannten Erzählungen passt das allerdings nicht so ohne weiteres: setzen diese die Phase des Leidens doch oft genug erst nach der Geburt an (Danae, Auge, Kallisto, Antiope, Melanippe, Rapunzel) oder wiederholen sie nach der Geburt (Die drei Männlein im Walde). Die der Adoleszenz gewidmeten Riten und Narrationen erwachsen nicht unmittelbar aus den biologischen ‘Tatsachen’ von Menstruation, Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt, sondern aus dem Gesamtprozess der Reifung vom Kind zum Erwachsenen. Zu diesem Prozess gehören auch Motivations- und Verhaltensmuster, die weniger ‘sichtbar’, aber unzweifelhaft mächtig sind. Sie spielen ihre bedeutende Rolle in jenem Prozess, den moderne Redeweise als ‘psychische Entwicklung’ bezeichnet. Dass die entsprechenden Riten und Erzählungen so offenkundig universale Elemente aufweisen, legt die Vermutung nahe, dass auch der Reifungsprozess universale Motivations- und Verhaltensmuster bereithält. Ich werde im Folgenden Burkerts Mädchentragödie knapp mit der Entwicklung der weiblichen Adoleszenz konfrontieren, wie sie Norbert Bischof mit den Mitteln einer biologisch fundierten Psychologie erarbeitet hat. Die Übereinstimmungen sind bemerkenswert.

IV. Weibliche Adoleszenz-Geschichten Bischof entwickelt seine Deutung am Leittext des Dornröschen-Märchens. Auch er erkennt hinter der Trennung von der gewohnten Kindheitswelt (Ĺ) die Erfahrung der ersten Regelblutung (Bischof 1996, 612): Der Stich mit der Spindel bedeutet eine Verletzung. Das Märchen von der Frau Holle formuliert noch expliziter (Brüder Grimm 1857, I, 150): Goldmarie muss so viel spinnen, “dass [ihr] das Blut aus den Fingern sprang”. Einmal wurde darüber die “Spule” ganz blutig; Goldmarie wollte sie waschen, aber die Spule “sprang” dem Mädchen aus der Hand und sank in den Brunnen. So wird der Weg geöffnet in jene Abgeschiedenheit (†), welche Goldmarie durch einen Sprung in den Brunnen betritt (Ĺ). Blut und das Gefühl der Befleckung weisen ungewohnt deutlich auf den meist ‘unaussprechlichen’ Vorgang der Menarche. Um die Zeit der Menarche ändert sich das Verhalten der Mädchen. Sie reagieren

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Michael Neumann auf die zuvor noch burschikos erwiderten Vertraulichkeiten ihrer jungshaften Gruppengenossen mit plötzlich einbrechender Scheu; sie verbergen sich nun auf einmal hinter Vorhängen und verstopften Schlüssellöchern und weisen jede Intention in Richtung auf körperliche Intimität brüsk zurück.14

Auf einfacherem Verhaltensniveau lässt sich Ähnliches auch bei Schimpansen beobachten (Bischof 1985, 365-366). Die Märchen fassen dieses neue Verhalten in einprägsame Bilder: Die Heldin wird hinter eine Dornenhecke, in einen unzugänglichen Turm, in einen Glassarg, jenseits der Brunnentiefe entrückt oder sie fällt in einen todesähnlichen Schlaf. Diese Bilder − und das ist für den Vorgang des Erzählens ein höchst typisches Charakteristikum − fassen einen komplexen, mehrschichtigen Prozess zusammen. Versuchen wir, die Handlungselemente der Erzählungen auf diese biologischen Vorgaben zurückzuführen, so zeigt sich, dass das Motifem † nicht den Vorgang der Menarche reflektiert, sondern jenes eigentümliche Verhalten, das sich im zeitlichen Umfeld der ersten Menarche entwickelt und dann über längere Zeit andauert. Das Motifem Ĺ bezeichnet den plötzlichen Rückzug aus der bisherigen Vertrautheit der primären Bindungen, das Motifem † die Phase der Abkapselung in dieser Zurückgezogenheit. Das Märchen von der Frau Holle schickt der Trennung Ĺ noch das blutige Stechen mit der Spindel voraus. Als Handlungselement lässt sich das mit jenem Motifem A kennzeichnen, das wir vorhin in vielen Narrationen mit weiblichem Helden vermisst haben. Im Märchen wirkt der blutige Stich freilich auf den ersten Blick als ein recht vordergründiger Auslöser der Handlung. Fassen wir diese Aktion mit Bischof als ein Bild der ersten Menarche auf, wird verständlicher, warum davon die ganze Handlung in Gang gebracht werden kann. Wie steht es dann aber mit jenen antiken Mädchentragödien von Danae, Auge oder Psyche, in denen A stattdessen ein toddrohendes Orakel oder Ungeheuer notiert? Offensichtlich ist auch für A die Rückführung auf die Menarche noch zu eng. Die Verschiebungen im Motivationssystem, die sich im zeitlichen Umfeld der Menarche abspielen, scheinen sich im Erleben der Betroffenen als etwas schwer Fassbares, Unheimliches niederzuschlagen. Diesen proximaten15 Vorgang reflektieren die unter A zu versammelnden Handlungselemente: ein tod-

14

Bischof 1996, 614. Zum Begriff: ‘proximat’ ist z. B. am Geschlechtsverkehr das Bedürfnis nach selbigem, ‘ultimat’ der evolutionäre Nutzen der Genvervielfältigung. 15

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drohendes Orakel, ein angeblich verschlingendes Ungeheuer, eine blutige Verwundung. Warum A in vielen Narrationen − trotz seiner morphologisch so starken Position − nicht ausdrücklich realisiert wird, ist eine Frage, der mit den Methoden der historischen und der Kultur-Psychologie nachzugehen wäre. Dass mit der Zeit der Menarche eine Distanzierung aus den Vertraulichkeiten der Primärsozialisation stattfindet, lässt sich ultimat aus der universal zu beobachtenden Tendenz zur Inzestvermeidung ableiten: Natürlich besitzen die sich geschlechtlich fortpflanzenden Lebewesen keinen Detektor für genetische Verwandtschaft. Aber unter üblichen Lebensverhältnissen reicht es völlig aus, dass eine aus der Kindheit stammende enge Vertrautheit die sexuelle Attraktivität lähmt, um inzestuöse Beziehungen höchst unwahrscheinlich zu machen (Bischof 1985, Kap. 22). Worin allerdings liegt der selektive Nutzen der Inzestvermeidung? Inzestuöse Zeugungen würden die Auswirkungen der geschlechtlichen Fortpflanzung neutralisieren. Dass die geschlechtliche Fortpflanzung gewichtige selektive Vorteile haben muss, liegt auf der Hand, weil sich ein solch aufwendiges und kompliziertes Verfahren sonst in der Evolution nicht hätte durchsetzen können. Schwieriger ist es schon, diese Vorteile zu benennen. Es gibt dazu eine eindrucksvolle Reihe scharfsinniger Theorien (Ridley 1994), aber bislang keinen klaren Sieger im Streit. Die in einer menschlichen Familie aufgezogene Schimpansin Lucy allerdings, die ab ihrem ersten Oestrus gegenüber den männlichen Mitgliedern ihrer ‘Familie’ all die Vertraulichkeiten und Intimitäten einstellte, die zuvor üblich gewesen waren, warf sich stattdessen nun männlichen Fremden im buchstäblichen Sinne an den Hals. So sehr sich die Konventionen zwischengeschlechtlichen Verhaltens bei den Menschen auch nach Kultur und Zeit unterscheiden, der Vorgang ist bei ihnen allemal komplizierter. Die Entrückung grenzt die Adoleszente nicht nur vom Kreis ihrer Herkunftsfamilie und ihrer Kindheitsfreunde ab, sondern zieht zunächst auch eine Grenze gegen fremde Männlichkeit. Die Freier in Dornröschen haben mit einer gefährlichen Dornenhecke zu kämpfen. Überhaupt setzen die Märchen vor den Gewinn der Prinzessin viele Hindernisse und Proben. Auch hier erkennt der Biologe ein altes “Säugetiererbe” wieder: das “Haften an der Herkunftsgruppe” als ein “prädominant weibliches Merkmal”.16 16

Bischof 1996, 624; ausführlicher Bischof 1985, bes. Kap. 14, 15.

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Die zentrale ‘Aufgabe’ der menschlichen Adoleszenz ist die Trennung aus der Primärbindung und der Aufbau einer eigenständigen Sekundärbindung. Männliche und weibliche Adoleszente nehmen dabei tendenziell unterschiedliche Wege. Männliche Jugendliche streben eher nach ‘draußen’, verbunden mit einer hohen Konfliktbereitschaft nach ‘drinnen’. Weibliche Jugendliche empfinden die Einbettung in die Primärfamilie eher als angenehm und zögern, sie zu verlassen. Psychoanalytisch beeinflusste Entwicklungspsychologen sprechen von einer “infantilen Fixierung”.17 Für den Aufbau der Sekundärbindung ist das hinderlich; von daher erscheint diese Tendenz als regressiv. Die Abschirmung hat aber auch ihre positive Seite. Sie bietet Schutz vor noch unreifen Beziehungen (Bischof 1996, 614): Die Ahnung von einer neuen eigenen Weiblichkeit verletzt sich an der unbeholfen phallischen Zudringlichkeit flaumbärtiger Halbwüchsiger im Stimmbruch, deren lästiges Imponiergehabe umso unerträglicher erscheint, als sie meilenweit davon entfernt sind, irgendetwas zu verstehen. Würden die neuen, noch gänzlich ungeklärten Gefühle in diese unreife Begegnung hinein exponiert, so könnten nur Katastrophen die Folge sein; also erscheint es logisch, dass sie sich zunächst unerreichbar verschließen − in einem Turm, in einem Glassarg, in der unzugänglichen Traumwelt des Todesschlafs, die es dem Mädchen gestatten, ungestört seine eigene Suchwanderung zu durchleben.

Selbst der Geschlechtsverkehr kann noch nicht als ein Ausweis abgeschlossener Reifung genommen werden. Verglichen mit Propps Märchensequenz gehört es ja gerade zu den Auffälligkeiten der Mädchentragödie, dass H* nicht am Ende, sondern in der Mitte, manchmal sogar am Anfang der Handlung steht. Bei Narrationen, die nicht mit Ĺ und † beginnen, muss die handlungsauslösende Schädigung sich mit einem anderen Motifem verbinden. Da jenes unheimliche Begegnen, das oben als der proximate Untergrund von Motifem A ausgemacht wurde, im Erleben eindeutig etwas mit einer neuen Erfahrungsqualität des Geschlechtlichen zu tun hat, liegt die Verknüpfung mit H* ohnehin nahe. In der Proppschen Sequenz ist die Begegnung zwischen Prinzessin und Prinz oft mit einer ‘Markierung’ verknüpft (17. Motifem: M). Aschenputtel etwa muss ihren gläsernen Schuh in der Hand des Geliebten lassen, die “wahre Braut” wird im gleichnamigen Märchen durch einen Kuss auf 17

Freud 1905, 130-131; Freud 1918, 223; als neuere Position sei Chodorow 1978 genannt.

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die linke Wange wiedererkannt18 und Ähnliches mehr. Norbert Bischof hält es für möglich, dass für die Besiegelung der sekundären Bindung ein biologischer Vorgang von der Art der ‘Prägung’ eine Rolle spielen könnte, obwohl Ethologen sonst die Prägung der frühkindlichen Entwicklung vorbehalten.19 Hilfreich könnte zu diesem Punkt auch ein anderes Konzept sein. Nach Helen Fisher entsteht das, was wir unter Liebe verstehen, aus der Koppelung dreier verschiedener Module (Fisher 2000; 2005): Je eines für Sex, für individuelle Anziehung und für Bindung. Diese Module werden von je unterschiedlichen Hormon-Kombinationen gesteuert. Tatsächlich lässt sich Entsprechendes in der Mädchentragödie wiederfinden. Im Motifem M verdichtet sich in besonderer Weise das Wirken des Moduls für individuelle Anziehung, des Moduls also für die Sehnsucht nach jener ‘romantischen’ Liebe, die sich − entgegen früherer Annahmen − inzwischen als eine Universalie herausgestellt hat.20 Am Motifem H* lässt sich der Einfluss des Moduls für Sex und am Motifem H** der des Moduls für Bindung ablesen. Die Wirksamkeit aller drei Module muss vom Individuum im Prozess der Reifung integriert werden, um ans rechte Ziel zu kommen. Dass dieser Prozess sich, anders als beim Schimpansenweibchen Lucy, derart langwierig und kompliziert gestaltet, hat seinen Grund nicht zuletzt in den höchst komplizierten Bedürfnissen der Ich-Bildung.21 Das Ich muss sich klar gegen jene symbiotische Einheit der Primärbindung abgrenzen, aus der ihm einst sein ‘Urvertrauen’ erwachsen ist. Und doch bedarf es gerade dieses ‘Urvertrauens’, um den Mut und die Kraft zur Selbstständigkeit aufzubringen! Das Ich muss eine Sekundärbindung aufbauen und darf von dieser neuen Bindung sogar auch eine Neubegründung seines Urvertrauens erhoffen − aber es darf dabei doch die Grenzen des eigenen Ichs nicht wieder auflösen; es muss den regressiven Versuchungen widerstehen, um zu einer reifen Beziehung zu gelangen. Deswegen fügen die Mädchentragödien zwischen H*/M und H** oft noch eine ganze Abenteuerfahrt, zumindest aber eine Zeit der Leiden oder Prüfungen ein. Bischof nimmt an, dass die Grundlinien dieser Entwicklung biologisch vorgezeichnet sind, und die kulturübergreifenden Analogien der Adoles18

Brüder Grimm 1857, II, 373, 375. Vgl. Bischof 1985, 202-204; Bischof 1996, 615-616. 20 Vgl. Jankowiak/Fischer 1992; Jankowiak 1995. 21 Das Folgende (stark verkürzend) nach: Bischof 1996, bes. 588-623. 19

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zenz-Erzählungen geben ihm darin Recht. Natürlich steht außer Frage, dass diese vorgezeichneten Linien sich in der je konkreten Entwicklung mit höchst verschiedenartigen kulturellen Vorgaben auseinander zu setzen haben. Natürlich unterliegt jedes Individuum zusätzlich zahllosen sozialen, familiären, individuellen und sonstigen kontingenten Einflüssen. Aus all dem erwächst ein unübersehbar reiches Feld an Möglichkeiten und Risiken der Entwicklung. Die Märchen und Geschichten der Adoleszenz spielen diese Möglichkeiten und Risiken vielfältig durch − und lassen die gemeinsamen Grundlinien doch immer wieder erkennbar werden.

V. “Mädchenopfer”? All diese Geschichten sind Geschichten der Verwandlung. Sie erzählen von Status- und Rollenwechsel. Ihre Protagonistinnen stabilisieren ihr Ich, sie gewinnen sexuelle Erfahrung, neue Bindung und eigene Mutterschaft hinzu. Warum wählt Burkert dafür den düsteren Namen “Mädchentragödie”? Der Grund liegt zweifellos darin, dass er das Nachdenken über diese Riten und Geschichten zunächst aus seinen Studien zum Opferkult entwickelt hat. Die Initiationsriten erschienen ihm da als ein Bestandteil der großen kultischen Opfer: Dass die notwendigen Übergänge im Leben in dieser Weise zu tödlichen Krisen hochgespielt werden, dass die ‘Jungfrau’ dem Tod anheimfällt, dies freilich kommt von der noch allgemeineren Funktion des Opfers in der menschlichen Gesellschaft her. Das Drama der Mädcheninitiation, als symbolisches Mädchenopfer, ist die Eröffnung des großen Opferfestes, das Ende und Anfang des Jahres in Athen umgreift.22

An dieser “merkwürdigen Ambivalenz”, welche “die an sich optimistische, ‘natürliche’ Sequenz, die von der einsetzenden Reife zu Hochzeit und Geburt führt,” in “einen Weg zum Opfer” verwandelt, hält er auch noch in Kulte des Altertums fest: Die Jungfrau Iphigeneia wird statt zur ‘kräftigen Geburt’ zum Opfer am Altar der jungfräulichen Göttin geleitet; … Dabei ist der Tod nicht ein bloßes Symbol: Die Gewänder, die man der Artemis in Brauron darbrachte, stammten von jungen Frauen, die im Kindbett gestorben waren. … [Wenn eine Vestalische

22

Burkert 1972, 171.

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Jungfrau] die Keuschheit verletzt, wird sie lebendig begraben. Dies kommt der Erzählfolge von Einschließung, sexueller Krise und darauf folgender Strafe in geradezu unheimlicher Weise nahe, wobei es auf der Ebene des Rituals den Realitätscharakter des Terrors annimmt.23

Diese Analogien geben sicher zu denken. Dennoch sollte man Opfer und Initiation zunächst einmal auseinander halten: Im rituellen Opfer wird getötet, in der Initiation begegnet der Tod nur in symbolischer Form. Das Mädchen geht durch den Tod hindurch, um als Frau wieder aufzuerstehen. Initiationsriten sind keine Sonderformen des Opfers, sondern kulturelle Strategien, welche die Adoleszenz in die soziale Existenz und in den individuellen Lebensverlauf integrieren. Als solche haben sie ihre eigenen Funktionen und, wie ich anzudeuten versucht habe, auch ihre eigenen biologischen Grundlagen. Insofern führt der Begriff “Mädchentragödie” in die Irre. Vielleicht sollte man besser von ‘Märchen der weiblichen Adoleszenz’ sprechen. Das allerletzte Wort soll das aber noch nicht sein. In vielen Initiationsriten der Adoleszenz spielen Gewalt, Verletzungen und Todesängste eine Rolle, die weit über das Symbolische hinausgehen:24 Zahn-Ausschlagen, Penis-Beschneidung, Durchbohren der Nasenwand, Abschlagen eines äußeren Fingergliedes, dazu verschiedenartige Schläge, Verletzungen, Tätowierungen, Schein-Hinrichtungen − den Gewaltfantasien sind scheinbar kaum Grenzen gesetzt. Den europäischen Betrachter oder Leser schockiert das. Der Streit um die Beschneidung, genauer: um die Entfernung der Klitoris, hat neuerdings wieder in ein breiteres Bewusstsein gehoben, was da in manchen Gegenden und manchen Milieus am Menschen geschieht. Die Interpretationen der Ethnologen sind vielfältig; das muss hier beiseite bleiben. Eine monokausale Erklärung sämtlicher Mutilationen erscheint ohnehin unwahrscheinlich. Es wäre aber der Untersuchung wert, ob diese Präsenz der Gewalt in den Initiationen nicht unter anderem eben die Funktion hat, wie sie Burkert in Homo Necans dem Opfer beimisst: über die rituell geordnete Erfahrung von Gewalt letztlich die Gewalt zu zivilisieren.25 Vielleicht erscheint dies auf heutigem Er23

Burkert 1998, 97-98; Burkert 1990, 40-59. Immer noch instruktiv die Zusammenstellung bei Gennep 1986, 75-79. 25 Burkert 1972, bes. 24-30, 45-52, 89. Burkerts Argumentation, wie immer man zu einzelnen Punkten stehen mag, legt allerdings auf sehr bedenkenswerte Weise nahe, die Gewalt an männlichen und an weiblichen Initianden grundsätzlich verschieden zu interpretieren. Dafür ließe sich im Übrigen auch Bestätigung bei der Soziobiologie finden. 24

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kenntnisstand angesichts der Gewalt in Initiationen sogar überzeugender als angesichts der Tötungen beim Opfer.

Propps Generalsequenz der Motifeme […] 8. A 8a. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Schädigung

Der Gegenspieler fügt einem Angehörigen einen Schaden/Verlust zu. α Mangelsituation Einem Angehörigen fehlt etwas / er wünscht sich etwas. B Vermittlung Unglück, Wunsch, Befehl oder Bitte wird dem Helden übermittelt. C einsetzende Gegenhandlung Der Sucher ist bereit / entschließt sich zur Gegenhandlung. ↑ Abreise Der Held verläßt das Haus. Sch 1. Funktion des Schenkers Der Held wird erprobt: Erwerb des Zaubermittels/Helfers eingeleitet. H Reaktion des Helden Der Held reagiert auf die Handlung des künftigen Schenkers. Z Empfang e. Zaubermittels Der Held gelangt in den Besitz eines Zaubermittels. W Raumvermittlung Der Held wird zum Ort des Gesuchten gebracht oder gewiesen. K Kampf Held und Gegner treten in einen direkten Zweikampf. M Markierung Der Held wird gezeichnet. S Sieg Der Gegenspieler wird besiegt. L Mangel/Unglück überwunden Die anfängliche Schädigung / der Mangel wird überwunden. ↓ Rückkehr Der Held kehrt zurück. V Verfolgung Der Held wird verfolgt. R Rettung Der Held wird vor den Verfolgern gerettet. X Unerkannte Ankunft Der Held gelangt unerkannt nach Hause/in ein andres Land. U Unrechtmäßige Ansprüche Der falsche Held erhebt unrechtmäßige Ansprüche. P Prüfung Dem Helden wird eine schwere Aufgabe gestellt. Lö Lösung Die Aufgabe wird gelöst. E Erkennung Der Held wird erkannt. Ü Überführung Der falsche Held/Gegenspieler wird entlarvt. T Transfiguration Der Held erhält ein anderes Aussehen. St Strafe Der Gegenspieler wird bestraft. H* Heirat Der Held vermählt sich. H* Thronbesteigung Der Held besteigt den Thron.

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Im Folgenden erweitert um: †

Abgeschiedenheit

H* Vereinigung 9 Geburt 31. H** Hochzeit

Die Heldin wird eingesperrt, eingeschläfert oder stirbt scheinbar Geschlechtsverkehr, Eheversprechen oder Hochzeit Die Heldin gebiert ein Kind. Die Hochzeit wird gefeiert, bestärkt oder erneuert

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Michael Neumann

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JAN ASSMANN Verwandelnde Erfahrung. Die großen Mysterien in der Imagination des 18. Jahrhunderts

“Verwandelnde Erfahrung” – so hatte Walter Burkert das vierte Kapitel seines Buchs über die Antiken Mysterien überschrieben, das sich dem Ritual der Initiation widmet.1 Kein Ausdruck trifft besser Sinn und Funktion auch der Initiationsrituale, die sich die Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts nach dem Vorbild der antiken Mysterienkulte entwarfen. Diese Riten strebten in Anlehnung an die transformativen Prozeduren der Alchemie eine veredelnde Verwandlung des Menschen an, die auf dem Weg über das einzelne Mitglied schließlich die ganze Menschheit veredeln und verwandeln sollten. Das Modell einer solchen Menschenveredelung sahen sie in der verwandelnden Kraft der antiken Initiationsriten und lagen darin, wie Walter Burkerts Deutung nahe legt, nicht völlig falsch. Vom Phänomen der antiken Mysterienkulte, das Walter Burkert so entscheidende Klärung verdankt, führen zwei Wege in allgemeinere anthropologische und kulturgeschichtliche Fragestellungen. Der eine, den Walter Burkert selbst mit Vorliebe und viel Erfolg beschreitet, führt zurück in die biologischen und anthropologischen Grundlagen und sucht den Ursprung der Mysterienweihen in Pubertätsriten und Stammesinitiationen, der andere, den ich hier zu Ehren Walter Burkerts beschreiten möchte, führt in der Gegenrichtung voraus und fragt nach der Rezeption dieser Mysterien in späteren Zeiten. Diese zweite, die rezeptionsgeschichtliche Fragerichtung gilt in Fachkreisen wohl noch immer als wenn nicht geradezu unseriös, dann doch von nachrangigem Interesse. Man möchte natürlich in erster Linie über die antiken Mysterien selbst etwas erfahren, und nicht über die notorischen Missverständnisse, die sich in späteren Zeiten an die spärlichen Quellen geknüpft haben. Diese Rangordnung des Wissens ist gerade für einen Ägyptologen besonders gut verständlich, denn das alte Ägypten war lange nach dem Untergang der ägyptischen Kultur und dem Verschwinden jeder Kenntnis der Hieroglyphenschrift Gegenstand einer ganz besonders intensiven Rezeptionsgeschichte, die 1

Burkert 1990.

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Jan Assmann

sich allein auf griechische und lateinische Quellen, also Berichte aus zweiter und dritter Hand, stützen konnte und sich entsprechend weit von dem entfernte, was sich den Quellen erster Hand entnehmen ließ, nachdem diese endlich wieder lesbar wurden. Hier lag es dann nahe, diese ganze Rezeptions- und Faszinationsgeschichte in Bausch und Bogen als Phantasiegebilde zu verwerfen. Der Forschungsansatz der Gedächtnisgeschichte aber, der nicht fragt, wie es eigentlich gewesen, sondern wie und warum es erinnert wurde, versucht gerade auch dem Missverständnis etwas abzugewinnen und zwar Aufschlüsse einerseits über die Zeit, die von den Quellen fasziniert war und ihnen ein bestimmtes, wie immer falsches Bild abgewann, und andererseits über die Quellen selbst und was an ihnen dieses Bild ermöglicht oder provoziert hat. Bringt die Gedächtnisgeschichte nicht vielleicht doch etwas an den Tag, was dem rezipierten Phänomen, in unserem Falle also den antiken Mysterien in irgendeinem Sinne zu eigen und nicht reines Missverständnis ist? Lernen wir nicht aus der Rezeption doch etwas über die Sache selbst? Es wird also in dem folgenden Beitrag nicht von den antiken Mysterien selbst, sondern von ihrer Rezeption als einem gedächtnis- und (man kann in diesem Fall ohne weiteres sagen:) faszinationsgeschichtlichen Phänomen sui generis die Rede sein. Ich möchte von Schillers Ballade Das Verschleierte Bild zu Sais ausgehen, die am Beispiel einer gescheiterten Einweihung das Gefährliche und Verwandelnde der Initiationserfahrung darstellt.2 Ein Jüngling, “von des Wissens heißem Durst getrieben”,3 war nach Sais gereist, um sich in die dortigen Mysterien einweihen zu lassen, hatte es dann aber in seiner brennenden Neugier verschmäht, geduldig die einzelnen Stufen der Einweihung zu durchlaufen, und eines Nachts von eigener Hand den Schleier gehoben, der das Bild der Wahrheit verdeckt. Schiller verrät uns nicht, was der Jüngling eigentlich sah, sondern er nennt nur die Folgen dieser unvorbereiteten Epoptie: Auf ewig War seines Lebens Heiterkeit dahin, Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.4

2

Siehe hierzu Assmann 1999. Schiller 1992a, 242: “Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst nach Sais in Ägypten trieb …” 4 Schiller 1992a, 244. 3

Verwandelnde Erfahrung

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Für diesen Jüngling war das Verwandelnde dieser Erfahrung eine Katastrophe, die er nicht lange überlebte. Was hier passiert ist, erklärt sich auf dem Hintergrund von zwei eng miteinander zusammenhängenden Themen, die auf das späte 18. Jahrhundert eine große Faszination ausübten. Das eine ist die Kategorie des Erhabenen, das andere die antiken Mysterien. Schiller kommt zu diesem Stoff vor allem durch sein Interesse für das Erhabene. Das Erhabene ist für ihn, auch außerhalb der Mysterien, der Inbegriff einer verwandelnden Erfahrung. Was das bedeutet, macht er anhand einer Trieblehre klar, die er, so interessant sie an sich ist, nur in seinen Schriften über das Erhabene erwähnt. So sind wir auf diese knappen Bemerkungen angewiesen: Nun lassen sich alle Triebe, die in uns, als Sinnenwesen, wirksam sind, auf zwei Grundtriebe zurückführen. Erstlich besitzen wir einen Trieb, unsern Zustand zu verändern, unsre Existenz zu äußern, wirksam zu sein, welches alles darauf hinausläuft, uns Vorstellungen zu erwerben, also Vorstellungstrieb, Erkenntnistrieb heißen kann. Zweitens besitzen wir einen Trieb, unsern Zustand zu erhalten, unsere Existenz fortzusetzen, welches Trieb der Selbsterhaltung genannt wird. Der Vorstellungstrieb geht auf Erkenntnis, der Selbsterhaltungstrieb auf Gefühle, also auf innre Wahrnehmungen der Existenz. Wir stehen also durch diese zweierlei Triebe in zweifacher Abhängigkeit von der Natur. Die erste wird uns fühlbar, wenn es die Natur an den Bedingungen fehlen läßt, unter welchen wir zu Erkenntnissen gelangen; die zweite wird uns fühlbar, wenn sie den Bedingungen widerspricht, unter welchen es uns möglich ist, unsre Existenz fortzusetzen.5

In seiner späteren, posthum veröffentlichten Schrift Über das Erhabene unterscheidet Schiller im gleichen Sinne zwischen Lebenskraft und Fassungskraft: Der erhabene Gegenstand ist von doppelter Art. Wir beziehen ihn entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen bei dem Versuch, uns ein Bild oder einen

5

Schiller 1992b, 395-396. Im 19. Brief zur Ästhetischen Erziehung des Menschen unterscheidet Schiller ebenfalls zwei “Grundtriebe”: “einen Trieb nach Form oder nach dem Absoluten” und einen “Trieb nach Stoff oder nach Schranken” (1992b, 628), die er im Folgenden auch als “Formtrieb” und “Sachtrieb” (629) bezeichnet. Diesen beiden Grundtrieben steht der Wille gegenüber, der entscheidet, ob der eine mit den von ihm ausgehenden “Empfindungen” oder der andere in Gestalt von Selbstbewusstsein und “reiner Selbstheit” “bestimmend werde”. Diese Gegenüberstellung von Empfindung und Selbst zeigt, dass wir es hier, wenn auch in anderer Terminologie, mit derselben Trieblehre zu tun haben.

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Jan Assmann Begriff von ihm zu bilden: oder wir beziehen ihn auf unsere Lebenskraft und betrachten ihn als eine Macht, gegen welche die unsrige in nichts verschwindet.6

Das Erhabene versetzt uns entweder in Todesangst und fordert unseren Selbsterhaltungstrieb heraus, oder es übersteigt unser Denken und fordert unseren “Vorstellungstrieb” heraus. Bei dem Jüngling von Sais handelt es sich um den zweiten Fall. Der Anblick der unverschleierten Wahrheit wird ihn nicht mit dem Tode bedroht haben, sondern mit etwas, das seine Fassungskraft überstieg und seinen “Vorstellungstrieb” lähmte. Er hat sich einem Anblick ausgesetzt, den nur der erträgt, der zuvor in langen Übungen gelernt hat, seinen Selbsterhaltungstrieb zu kontrollieren, das heißt: seine Todesangst zu überwinden, um dann die Überforderung der Fassungskraft auszuhalten und zu einer im positiven Sinne verwandelnden Erfahrung werden zu lassen. Für Schiller war das verschleierte Bild zu Sais das Zentralsymbol zugleich des Erhabenen und der ägyptischen Mysterien, die er offenbar als eine Inszenierung des Erhabenen verstand. Unter der Erfahrung des Erhabenen wiederum verstand er den Inbegriff dessen, was den Menschen zu verwandeln vermag, und diese Verwandlung dachte er sich als eine Befreiung von der Verstrickung in die Sinnenwelt. Während das Schöne uns in der sinnlichen Welt gefangen hält, reißt uns die Konfrontation mit dem Erhabenen, das unsere Sinne überwältigt und überfordert, aus dem Sinnlichen heraus. In seiner späten Schrift Über das Erhabene schreibt er: Das Erhabene verschafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte. Nicht allmählich (denn es gibt von der Abhängigkeit keinen Uebergang zur Freiheit), sondern plötzlich und durch eine Erschütterung reißt es den selbständigen Geist aus dem Netze los, womit die verfeinerte Sinnlichkeit ihn umstrickte, und das um so fester bindet, je durchsichtiger es gesponnen ist.7

Das Erhabene ist also eine Art Schocktherapie, die uns aus der Umstrickung der Sinnenwelt befreit, immer vorausgesetzt natürlich, dass wir, anders als der Jüngling zu Sais, in der Lage sind, diesem Schock standzuhalten. Es geht hier ja, und um das herauszuarbeiten, entwickelt Schiller seine Trieblehre, nicht um die Befriedigung, sondern im Gegenteil um die Brüskierung unserer Triebe. Mit der Befriedigung dieser Triebe hat das Schöne zu tun; das Erhabene aber stößt diese Triebe zurück und zwar auf 6 7

Schiller 1992c, 827. Schiller 1992c, 830.

Verwandelnde Erfahrung

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zweifache Weise. Es bedroht uns mit dem Tod, wie das Meer, die Wüste oder die Felsabgründe, wo der Mensch nichts zu suchen hat, oder aber es versetzt uns in einen intellektuellen Schauder oder Schwindel, wenn es uns mit Begriffen konfrontiert, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Der standhaltenden Seele aber, die weder dem begrifflich Unfasslichen noch dem physisch Überwältigenden erliegt, wird das Erhabene zur befreienden ästhetischen Erfahrung, die uns über uns selbst hinauszuheben vermag.8 Was der Jüngling in Schillers Ballade falsch gemacht hat, ist, dass er in seiner ungeduldigen Neugier einen Abkürzungsweg gewählt und sich einer Erfahrung ausgesetzt hat, der niemand standzuhalten vermag, der sich ihr nicht auf dem vorgeschriebenen, mühevollen und langen Weg genähert hat. Dieser Weg gliedert sich in der Vorstellung der damaligen Zeit in drei Stadien: Reinigungen, kleinere Mysterien, größere Mysterien. Das war damals in unzähligen Schriften dermaßen verbreitet und in gebildeten Kreisen allgemein bekannt, dass Schiller es einfach voraussetzen zu können glaubte. Ihn interessierten ja auch nicht die Mysterien als solche, sondern das Erhabene und die Bedingungen, unter denen es für den Menschen zu einer verwandelnden Erfahrung und nicht zu einer Katastrophe werden konnte. Der Jüngling übersprang die drei Stufen und setzte sich dieser Schau unmittelbar aus. Daher wird ihm die Konfrontation mit dem Erhabenen zum Verhängnis. Was Schillers Jüngling in jener Nacht schauen will, steht nicht nur am Ende einer jahrzehntelangen Vorbereitung, sondern wird auch dann nur einigen wenigen Auserwählten zuteil. Der Priester, der ihn leitet, ist selbst nie bis zu dieser Stufe vorgedrungen, hat auch nie danach gestrebt. Die entscheidende Schwelle liegt zwischen den kleineren und den größeren Mysterien. Diese Einteilung, die man von den eleusinischen Mysterien kannte, stellte man sich im 18. Jahrhundert auch für die ägyptischen vor, in denen man überhaupt den Ursprung aller Mysterien erblickte. Die kleinen Mysterien mit ihren Prüfungen und Belehrungen stehen allen offen, die sich den vorhergehenden Reinigungen unterzogen haben. In den großen Mysterien aber geht es um das schlechthin Erhabene, nämlich um eine Konfrontation mit dem Tod. Zu diesen Mysterien waren nur die zugelassen, die zum Herrschen berufen waren. Hier fand die Verwandlung statt, die imstande war, den Menschen zu vervollkommnen. 8

Vgl. Pries 1998.

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Die entscheidenden Stellen, auf die man sich berief, stehen bei Plutarch und Clemens von Alexandrien. Letzterer (Stromat. V, cap. vii. 41.1) schrieb: Die Ägypter offenbaren ihre religiösen Mysterien nicht unterschiedslos allen, noch teilen sie das Wissen um die göttlichen Dinge den Profanen mit, sondern nur denen, die zur Nachfolge im Königtum ausersehen sind und zu solchen von den Priestern, die dazu aufgrund ihrer Geburt und Erziehung am besten qualifiziert sind.

Plutarch schreibt im neunten Kapitel seiner Schrift Über Isis und Osiris (mor. 354b9-c1): Wenn unter den Ägyptern ein König aus dem Militärstand gewählt wird, bringt man ihn von Stund an zu den Priestern und unterrichtet ihn in jener Arkantheologie, die geheimnisvolle Wahrheiten unter obskuren Fabeln und Allegorien verbirgt.9

Plutarch will sagen, dass alle Herrscher eingeweiht wurden, Clemens legt dar, dass alle Eingeweihten zum Herrscheramt berufen waren. Beide machen klar, dass die Einweihung in die großen Mysterien äußerst exklusiv gehandhabt wurde und dass ein enger Bezug bestand zwischen Geheimnis und Herrschaft. Davon ahnte Schillers Jüngling nichts, der gewiss nicht zu den zum Herrscheramt Berufenen zählte. Die großen Mysterien bestanden, nach der Vorstellung der Zeit, in zwei Schritten: erstens in der Befreiung des Neophyten von seinen bisherigen Irrtümern, d. h. die Götter wurden als das entlarvt, was sie sind: Fiktionen; und zweitens in der Schau der Wahrheit. Einweihung ist also wesentlich ein Prozess der Desillusionierung. Beim Überschreiten der Schwelle zwischen den kleineren und den größeren Mysterien soll der Initiand seinen früheren Glauben aufgeben, seinen irrigen und fiktiven Charakter durchschauen und ‘das Wesen der Dinge schauen’.10 Die Desillusionierung des Initianden wird erreicht, indem ihm erzählt wird, dass die 9 Vgl. auch die Übersetzung von Görgemanns 2003, 148-149. Vgl. Clemens v. Alex. Stromat. V, cap. v. 31.5: ‘Daher stellen die Ägypter Sphingen vor ihre Tempel, um dadurch anzuzeigen, dass ihre Gotteslehre rätselvoll und dunkel ist ... . Aber vielleicht liegt die Bedeutung jener ägyptischen Sphingen auch darin, anzudeuten, dass die Gottheit sowohl geliebt als auch gefürchtet werden will; geliebt als gütig und dem heiligen Menschen wohlgesonnen, aber gefürchtet als unerbittlich gerecht gegen den Gottlosen, da die Sphinx aus dem Bild eines Menschen und eines Löwen zusammengesetzt ist.’ 10 Clemens v. Alex. Stromat. V, cap. xi, 71.

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Götter nichts als vergöttlichte Sterbliche sind und dass es nur einen unsichtbaren und namenlosen Gott gibt, die letztendliche Ursache und Grundlage des Seins, ‘der aus sich selbst entstand und dem alle Dinge ihr Dasein verdanken’.11 Der Götterglaube war nach der Vorstellung der Aufklärung eine politische Theologie, ohne die Staat und zivile Gesellschaft nicht denkbar sind. Ohne den Glauben an persönliche, lohnende und strafende Götter, würden die Menschen den Gesetzen nicht gehorchen und sich nicht für das Gemeinwohl einsetzen. Daher musste der fiktive Charakter dieser Volksreligion strengstes Geheimnis bleiben. Diese Desillusionierung hat Schillers Jüngling nicht überstanden. Nicht nur der Staat, auch der normale Mensch braucht die lebensdienlichen Illusionen der Volksreligion. Nur der verwandelte Mensch erträgt die Schau der unverschleierten Wahrheit. Vor diesem letzten Schritt, der ohnehin nur ganz wenigen Auserwählten zugemutet wurde, stand daher die verwandelnde Erfahrung einer Prüfung, die den Initianden in echte Todesangst versetzte und ihm geradezu eine Nahtoderfahrung verschaffte. Das steht in einem in diesem Zusammenhang öfter zitierten Fragment (fr. 178 Sandbach), das bei Stobaios überliefert ist und schon im 18. Jahrhundert korrekt dem Plutarch zugeschrieben wurde. Dort heißt es: Hier [im diesseitigen Leben, J. A.] ist die Seele ohne Erkenntnis außer wenn sie dem Tode nah ist. Dann aber macht sie eine Erfahrung, wie sie jene durchmachen, die sich der Einweihung in die Großen Mysterien unterziehen. Daher sind auch das Wort ‘sterben’ ebenso wie der Vorgang, den es ausdrückt, (ƵƧƭƧƶƵʗƮ) und das Wort ‘eingeweiht werden’ (ƵƧƭƧʴƴƪƣƫ) ebenso wie damit bezeichnete Handlung einander gleich. Die erste Stufe ist nur mühevolles Umherirren, Verwirrung, angstvolles Laufen durch die Finsternis ohne Ziel. Dann, vor dem Ende, ist man von jeder Art von Schrecken erfaßt, und alles ist Schaudern, Zittern, Schweiß und Angst. Zuletzt aber grüßt ein wunderbares göttliches Licht und man wird in reine Gefilde und blühende Wiesen aufgenommen, wo Stimmen erklingen und man Tänze erblickt, wo man feierlich-heilige Gesänge hört und göttliche Erscheinungen erblickt. Unter solchen Klängen und Erscheinungen wird man dann, endlich vollkommen und vollständig eingeweiht, frei und wandelt ohne Fesseln mit Blumen bekränzt, um die heiligen Riten zu feiern im Kreise heiliger und reiner Menschen.12

Schiller zitiert diese Stelle nicht, aber er wird sie gewiss gekannt haben. Sie wird in der Mysterienliteratur der Zeit nicht selten erwähnt. Wir ver11 12

Aus einem “orphischen Hymnus”; siehe Riedweg 1993, 26-27. Übersetzung J. A. nach Scarpi 2002, I, 176-177. Vgl. Burkert 1990, 77-78, 82-88.

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stehen jetzt vielleicht besser, woran er unter anderem gedacht haben mag, als er seine Theorie des Erhabenen auf die Brüskierung des Selbsterhaltungs- und des Vorstellungstriebes gründete. Nachdem der Selbsterhaltungstrieb der Initianden durch das Erlebnis echter Todesangst, in die sie bei den eleusinischen Mysterien durch alle möglichen theatralischen Effekte versetzt wurden, aufs Stärkste herausgefordert worden war, und nachdem sie in den kleinen Mysterien und langen Vorbereitungsphasen intensiv belehrt und in den verschiedenen Wissenschaften unterrichtet worden waren, wurden einige Auserwählte als letzter Schritt der Einweihung der Epoptie ausgesetzt bzw. gewürdigt, der höchsten Schau. Die Prüfung bedeutete die Erfahrung des praktisch- oder dynamisch-Erhabenen, die Schau der Wahrheit, die Erfahrung des theoretisch oder mathematisch Erhabenen. Die Mysterien lassen sich rekonstruieren als die ritualisierte Herausforderung und Sublimierung des Vorstellungs- und des Selbsterhaltungstriebes. Für Schiller bedeuteten sie eine religiöse Vorstufe der ästhetischen Erziehung, oder umgekehrt: die ästhetische Erziehung dachte er sich als eine säkularisierte Form der Mysterien. So hängen seine Essays über das Erhabene und seine Ballade mit seinem Hauptprojekt jener Jahre zusammen, den Briefen zur ästhetischen Erziehung. Was hat Schillers Jüngling nun gesehen? Schiller sagt es nicht, sondern deutet es nur in der traumatisierenden Wirkung an, die dieser Anblick auf den armen Jüngling gehabt hat. Das Erhabene kann man nämlich nicht darstellen, es kann immer nur Gegenstand einer negativen Darstellung, d. h. Aussparung sein, und eine solche versucht Schiller hier zu geben. Darin folgt er Kant, dessen “Analytik des Erhabenen” in der Kritik der Urteilskraft (1790) die wichtigste Schrift zum Erhabenen darstellt. Von der Darstellung des Erhabenen postuliert Kant, dass sie “niemals anders als bloß negative Darstellung sein kann, die aber doch die Seele erweitert”.13 Als Beispiel für dieses Prinzip der negativen Darstellung gilt ihm das biblische Bilderverbot: [V]ielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgendein Gleichnis, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist.14

13 14

Kant 1968, 365. Kant 1968, 365.

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Kant kennt aber noch einen anderen Satz, der für ihn den Gipfel des Erhabenen darstellt. Im Zusammenhang der Erörterung der Einbildungskraft zieht er in einer Fußnote die Inschrift auf dem “verschleierten Bild zu Sais” als die ultimative Formulierung des Erhabenen heran: [V]ielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): ‘Ich bin alles was da ist, was da war und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt’.15

Beiden Beispielen ist das negative Element gemeinsam. Hier wird etwas offenbart und zugleich vorenthalten. Gott äußert sich im Gebot; aber man darf sich kein Bild von ihm machen. Isis offenbart sich als alles, was ist, aber niemand hat ihren Schleier gehoben. Im Bilderverbot offenbart sich Gott als der Eine, Undarstellbare, und bezeugt gerade im Verbot der Darstellung seine jeder gestalthaften Vorstellung entzogene Unendlichkeit. In der Inschrift von Sais offenbart sich Isis als das Allumfassende und entzieht sich in der Figur des Schleiers ebenfalls einer gestalthaften Vorstellung. In beiden Fällen haben wir es mit einer „negativen Darstellung“ zu tun, die “die Seele erweitert”.16 Seine Bemerkung zur Inschrift zu Sais illustriert Kant aber nun gleichwohl mit dem Hinweis auf eine Darstellung. Es handelt sich um das Frontispiz zu einem naturkundlichen Lehrwerk: Segner benutzte diese Idee, durch eine sinnreiche, seiner Naturlehre vorgesetzte Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel einzuführen bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüth zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll.17

Diese Vignette stellt in der Tat die Göttin Isis dar, kenntlich an dem Sistrum, das sie in der Hand hält, und sie ist verschleiert. In ihrem Rücken vermessen zwei Putten ihre Fußspuren, denn sie vermögen sie nicht direkt, von vorn, zu studieren. Das ist eine Anspielung auf die Szene in Exodus 33, 20-23, als Moses sich wünscht, Gottes Antlitz zu sehen. Der aber verwehrt es ihm mit den Worten ‘kein Mensch kann mein Antlitz sehen und leben’. Der Anblick Gottes sei nur von hinten möglich. Auch hier haben

15

Kant 1968, 417. Kant 1968, 365. 17 Kant 1968, 417. 16

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wir wieder die Figur des Erhabenen, die Verbindung von Offenbarung und Entzug. Kant zeigt aber noch etwas anderes an diesem Frontispiz, und das ist seine emotionale Funktion. Dies Bild soll den Lehrling, also den Leser, mit “heiligem Schauer” erfüllen und sein Gemüt zu “feierlicher Aufmerksamkeit” stimmen, damit er in den Tempel des Buches eingeführt werden kann, der ja zugleich auch ein Tempel der Natur und damit der Isis ist. Hier geht es um eine Verbindung von Intellektualität und Emotionalität oder, wie es gern mit einem gelehrten griechischen Wortspiel ausgedrückt wird, um mathein und pathein, lernen und leiden, lernen durch Leiden. Nur durch Leiden wird Lernen zu einer verwandelnden Erfahrung. Auch Schiller sieht in dieser Verbindung von leiden und lernen, Emotionalität und Intellektualität, die spezifische Einweihungsmethode der ägyptischen Priester: Sie brachten die neuen Begriffe mit einer gewissen sinnlichen Feyerlichkeit in die Seele, und durch allerley Anstalten, die diesem Zweck angemessen waren, setzten sie das Gemüth ihres Lehrlings vorher in den Zustand leidenschaftlicher Empfindung, der es für die neue Wahrheit empfänglich machen sollte.18

Dieses Zitat stammt aus einem früheren Essay, der 1789/1790, noch vor Kants dritter Kritik entstanden ist, mit dem Titel Die Sendung Moses. Hier kommt Schiller zum ersten Mal auf die ägyptischen Mysterien zu sprechen und zwar unter dem Eindruck der Lektüre einer Schrift mit dem Titel: Die hebräischen Mysterien oder Die älteste religiöse Freymaurerey, erschienen 1788.19 Deren Verfasser, Carl Leonhard Reinhold, Professor für Philosophie in Jena, hatte Schiller bei Wieland kennen gelernt, und Reinhold war für Schillers Berufung nach Jena auf eine Geschichtsprofessur 1789 verantwortlich gewesen. Reinhold war ein sehr engagierter Illuminat und hat Schiller sicher für den Orden anwerben wollen.20 Das ist ihm zwar nicht gelungen. Aber Schillers Interesse für Geheimnisse und Mysterien war lebhaft geweckt und das Buch über die hebräischen Mysterien ist bei ihm auf fruchtbarsten Boden gefallen. Sein Essay Die Sendung Moses stellt nicht viel anderes als eine Kurzfassung von Reinholds Buch dar. Reinholds These war, dass Mose die Idee der Einheit Gottes, also des 18

Schiller 2000, 460. Vgl. Reinhold 2005; dort findet sich im Anhang auch ein Abdruck von Schillers Die Sendung Moses. 20 Zu Reinhold als Illuminat siehe Schings 1996. 19

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Monotheismus, aus den ägyptischen Mysterien übernommen hat, in die er natürlich eingeweiht war, denn er wurde ja als Prinz am ägyptischen Hof erzogen. Er hat sie aber den Hebräern nicht in ihrer unverfälschten Reinheit übermitteln können, weil diese zur Aufnahme einer nur den Wenigsten und auch diesen nur nach jahrelanger Vorbereitung zumutbaren Wahrheit vollkommen unfähig waren. Dies Motiv der unzumutbaren und undarstellbaren Wahrheit hat Schiller fasziniert, denn darin erblickte er das Wesen des Erhabenen. Bei Reinhold ist es nicht das Bilderverbot, sondern die Selbstvorstellung Jahwehs in Ex 3.14, in der sich am klarsten das Wesen des einen Gottes ausdrückt. Die Formel ehyeh ascher ehyeh ‘Ich bin der ich bin’ deutet Reinhold nicht als die Mitteilung, sondern als die Vorenthaltung eines Namens. Wieder haben wir die typische Verbindung von Offenbarung und Entzug, in der Schiller den Inbegriff des Erhabenen ausmacht. Der biblische Gott offenbart sich als ein namenloser Gott, ein Deus anonymus. Ein Deus anonymus ist auch der Gott der ägyptischen Eingeweihten. Diese Gottesidee ist für Schiller der Inbegriff des Erhabenen. “Nichts ist erhabener” schreibt er und verwendet wie Kant die für das Erhabene kennzeichnende superlativische Formel, “nichts ist erhabener als die einfache Größe, mit der sie (die ägyptischen Eingeweihten) von dem Weltschöpfer sprachen. Um ihn auf eine recht entscheidende Art auszuzeichnen, gaben sie ihm gar keinen Namen”.21 Zum Beweis dieser These von der Namenlosigkeit der ägyptischen Gottesidee bezieht sich Schiller wie Reinhold auf das verschleierte Bild zu Sais, in dessen Inschrift Isis ja auch nicht ihren Namen nennt, sondern ihn in dem Satz ‘ich bin alles, was ist’ entzieht, aber er zieht noch eine andere, in diesem Punkt vollkommen explizite Quelle heran. Das ist der Traktat Asclepius des Corpus Hermeticum, wo es im 20. Kapitel heißt, dass Gott ‘namenlos ist oder eher jeden Namen trägt, weil er ja einer und alles ist, so daß man entweder alles mit seinem Namen oder ihn selbst mit dem Namen von allem benennen muß’.22 Dieser All-Eine, anonyme Gott ist dieselbe Gottheit, die sich auf dem verschleierten Bild zu Sais als ‘alles, was da war, was da ist und was sein wird’ mehr verhüllt als zu erkennen gibt. Das Erhabenste an dieser Gottheit ist wiederum eine Figur der Negation: der Schleier, der ihren Anblick den Augen der Sterblichen entzieht und als 21 22

Schiller 2000, 461. Übersetzung von Colpe/Holzhausen 1997, I, 280.

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eine Allegorie des theoretisch-erhabenen, das heißt der Unvorstellbarkeit, Unfasslichkeit und Undarstellbarkeit verstanden wird. So schreibt Schiller in seiner Schrift Vom Erhabenen (1793): Alles, was verhüllt ist, alles Geheimnisvolle, trägt zum Schrecklichen bei und ist deswegen der Erhabenheit fähig. Von dieser Art ist die Aufschrift, welche man zu Sais in Ägypten über dem Tempel der Isis las: “Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.” Eben dieses Ungewisse und Geheimnisvolle gibt den Vorstellungen der Menschen von der Zukunft nach dem Tode etwas Grauenvolles; diese Empfindungen sind in dem bekannten Selbstgespräch Hamlets sehr glücklich ausgedrückt.23

“Tod, Zukunft, Grauen” – das sind nun sehr viel stärkere Begriffe als Kants heiliger Schauer und feierliche Aufmerksamkeit, und sie führen mitten hinein in das, worum es bei der gescheiterten Einweihung zu Sais gegangen sein muss. Dieser Reinhold nun, in der Philosophiegeschichte als eine Zentralfigur des deutschen Idealismus bekannt, war, bevor er nach Weimar und Jena kam, Mitglied der Wiener Freimaurer-Loge Zur Wahren Eintracht gewesen, die sich die Erforschung der antiken Mysterien zum Programm gemacht hatte. Sein Buch über die hebräischen Mysterien war aus zwei Beiträgen hervorgegangen, die er zur Publikation dieser Forschungen im Organ der Loge, dem Journal für Freymaurer beigesteuert hatte. 12 Bände waren in den Jahren 1784-1787 erschienen mit insgesamt 14 Abhandlungen zu den antiken Mysterien, manche im Umfang ganzer Monografien. Ich kann auf diese Abhandlungen hier nicht im Einzelnen eingehen, ebenso wenig wie auf die ebenso zahlreichen gelehrten Werke, die außerhalb der Loge Zur Wahren Eintracht in jenen Jahren zwischen 1776 und 1795 über die antiken Mysterien erschienen. Es ist aber wichtig, sich klar zu machen, dass die Produkte des kulturellen Höhenkamms wie Schillers Essays und Balladen, Kants dritte Kritik und Mozarts Zauberflöte, auf die ich abschließend eingehen möchte, aufruhten auf einem breiten und dichten Diskurs, der das eigentliche faszinationsgeschichtliche Faktum darstellt. Die Loge Zur Wahren Eintracht war es nun auch, in der 1784 Wolfgang Amadeus Mozart als Freimaurer aufgenommen wurde, der in seiner Oper Die Zauberflöte die verwandelnde Erfahrung der Einweihung auf die 23

Schiller 1992b, 417.

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Bühne brachte.24 Eine besonders eindrucksvolle jener Abhandlungen, die sich mit den ägyptischen Mysterien beschäftigte, konnte Mozart persönlich kennen lernen, denn ihr Autor, Anton Kreil, hatte sie in zwei Vorträgen am 16. und 22. April 1785 in der Loge vorgetragen, als auch Wolfgang Mozart laut Protokollbuch zugegen war.25 An diesen Tagen wurde nämlich sein Vater Leopold zum Gesellen und Meister erhoben. In diesen Vorträgen bringt Kreil die ägyptischen Mysterien mit dem archäologischen Befund in Verbindung, wie er aus Reiseberichten und archäologischen Veröffentlichungen greifbar wurde. Das verleiht seiner Darstellung eine ungemeine Anschaulichkeit, die gewiss auch Mozart beeindruckt hat. Die beiden Vorträge veröffentlichte Kreil anonym unter dem Titel Über die wissenschaftliche Maurerey im Journal für Freymaurer.26 Der “ägyptische Priesterorden” war nach Kreil “in dem Besitze der gesammelten Kenntnisse der Vorwelt gewesen”. Diese Priester brachten “die Hälfte ihres Lebens in unterirdischen Höhlen zu” und hatten eine sonderbare Leidenschaft für das Aushöhlen der Felsen. … 160 Fuß unter den Pyramiden waren Gemächer, welche miteinander durch Gänge kommunizierten. … Kurz, alles war mit Grotten, Höhlen und unterirdischen Gängen besetzt und durchschnitten. Wenn man diese Art, unter der Erde zu studieren, betrachtet, so dürfen wir uns nicht wundern, daß die Priester dadurch sichs zur Gewohnheit gemacht haben, alle ihre wahre oder vermeintliche Wissenschaft unter einem beynahe undurchdringlichen Schleyer zu verhüllen.27

Die ägyptischen Königsgräber und sonstigen über und über beschrifteten ägyptischen Grabanlagen gelten Kreil nicht nur als Wissensspeicher, sondern auch als Versammlungs- und Studienorte. Die Technik, “unter der Erde zu studieren”, hielt er für eine Strategie der Geheimhaltung. In dieser Absicht trafen sie alle Menschen mögliche Anstalten, ober und unter der Erde, führten ungeheure Steinmassen auf, denen sie eine uns unerreichbare Unvergänglichkeit zu geben wußten, und gruben ihre Weisheit in Hieroglyphen verkleidet in Pyramiden, Obelisken, steinerne Tafeln und Säulen zur stummen Aufbewahrung ein.28

24

Mozart gehörte der Loge Zur Wohltätigkeit, einer Schwesterloge der Wahren Eintracht an, die mit dieser eng zusammenarbeitete und darin auch ihre Rituale abhielt. Zu allen Einzelheiten vgl. Assmann 2005. 25 Vgl. Irmen 1994; 271 Nr. 374 vom 16.4.1785; 272 Nr. 376 vom 22.4.1785. 26 Kreil 1785. 27 Kreil zitiert aus Pauw 1773. 28 Kreil 1785, 64-65.

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Die ägyptischen Priester kodifizierten nun nicht nur ihr geheimes Wissen in unterirdischen Speichern, sondern “wählten außerdem noch die rechtschaffensten, geprüftesten und hellsten Köpfe aus, um ihnen, nach gehöriger Ausbildung, Prüfung und Einweihung, das kostbare Pfand ihrer Geheimnisse zur Überlieferung auf die Nachkommenschaft anvertrauen zu können.” Kreil schließt aus der Kunst, der Vorsicht, und dem unermeßlichen Aufwand, wodurch sie den einen Theil ihres Zweckes so meisterlich erreichten, auf die Güte der anderen Hälfte ihres Plans, nämlich auch den lebendigen Geist der Hieroglyphe in verschwiegenen und unsterblichen Mysterien der bessern Nachwelt zu überliefern

und zieht daraus den Schluß, daß es nicht vernunftwidrig ist, anzunehmen, daß ihre geheime Weisheit noch in unsern Tagen, so wie ihre Pyramiden, Obelisken und Sphinge, existiere.29

Die Freimaurer fühlten sich als die Erben der ägyptischen Priester und Hüter ihres Geheimnisses. Sie bauten sich “Pyramiden, Obelisken und Sphinge” in ihre Gärten und vor allem unterirdische Gänge und künstliche Grotten mit Wasserfällen, deren Getöse in der Finsternis den Besuchern die Schauer des Erhabenen über den Rücken jagen konnten. Aus diesem Geist ist auch die Zauberflöte entstanden. Warum sollte man die Welt der ägyptischen Mysterien, die man in seinen Gärten vergegenwärtigte, nicht auch einmal auf die Bühne bringen und die Theatralität der rituell inszenierten verwandelnden Erfahrung nicht auch ästhetisch zur Geltung bringen? Schaut man sich die frühen Bühnenbilder an, dann springt dieser Zusammenhang von Gartenkunst und Bühnenkunst ins Auge. Das alte Ägypten mit seinen wirklichen Pyramiden und Obelisken bestimmt erst ab 1815 die Bühnenbilder zur Zauberflöte. Zu welchen Mitteln haben nun Mozart und Schikaneder gegriffen, um die verwandelnde Erfahrung des Erhabenen im Medium des Musiktheaters zu realisieren? Betrachten wir zunächst die theatralische und dann die musikalische Dramaturgie. Das Einweihungsritual, so wie es die freimaurerische Mysterientheorie rekonstruierte, vollzog sich, wie wir gesehen haben, in drei Schritten: in den Reinigungen, den kleinen und den großen Mysterien.

29

Kreil 1785, 65-66.

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Die Oper gliedert sich in zwei Akte, von denen der zweite das eigentliche Ritual der Einweihung und der erste die vorbereitenden Stadien umfasst. Da man so etwas wie die Illusionen der Volksreligion und die Befreiung von ihnen nicht gut auf die Bühne bringen kann, mussten sich Mozart und Schikaneder hierfür etwas einfallen lassen. Genau diesem Zweck dient die Königin der Nacht mit ihren Damen. Sie erfüllt Tamino mit den Illusionen, von denen er sich dann wieder lösen muss. In diesen Prozess der Illusionierung und Desillusionierung werden auch die Zuschauer einbezogen. So wird auch für sie die ästhetische zu einer verwandelnden Erfahrung. Dem entspricht genau die Gliederung der Oper. Sie umfasst zwei Akte, und jeder Akt gliedert sich nochmals in zwei klar gegeneinander abgesetzte Teile: eine Nummernfolge mit Dialogen und ein durchkomponiertes Finale gleicher Länge, in dem nicht gesprochen, sondern nur gesungen wird. So ergeben sich vier Teile. Der erste zeigt die Illusionierung des Helden durch die Königin der Nacht, der zweite seine Desillusionierung durch den Priester, die aber zunächst nur eine Desorientierung bedeutet. Nach der Pause zeigt der dritte Teil die kleinen Mysterien, bei denen auch Papageno dabei sein darf, und der vierte die großen Mysterien, bei denen Tamino allein ist, bis sich die gleichfalls zum Herrschen berufene Pamina zu ihm gesellt. Bei den kleinen Mysterien geht es um Belehrungen und Schweigeprüfungen, bei den großen Mysterien aber, ganz im Sinne der Mysterientheorie, um eine Konfrontation mit dem Tod. Tamino steht vor den “Schreckenspforten, die Not und Tod ihm dräun”; “wenn er des Todes Schrecken überwinden kann”, singen die beiden Geharnischten, die diese Pforte bewachen, “schwingt er sich aus der Erde himmelan”. “Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut”, heißt es, als Pamina vor diesen Pforten auftaucht, “ist würdig und wird eingeweiht”; und mit den Geharnischten zusammen singen die beiden Initianden “wir wandeln durch des Tones Macht froh durch des Todes düstre Nacht”.30 “Tod” ist ganz eindeutig das Stichwort dieser Sequenz, in der die Initianden echte Todesangst verspüren sollen. An deren Ende steht die große Schau, was Schikaneder dadurch andeutet, dass er das Theater sich in eine Sonne verwandeln lässt. Diese großen Mysterien nun sind der Ort des Erhabenen auf der Opernbühne. Die Titelheldin der Oper, die “Zauberflöte”, wird Tamino von den drei Damen überreicht mit den Worten: 30

Die Zitate beziehen sich auf Schikaneder 1991 (II. Akt, 28. Auftritt).

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Jan Assmann Hiemit (sic) kannst du allmächtig handeln, Der Menschen Leidenschaft verwandeln, Der Traurige wird freudig sein, Den Hagestolz nimmt Liebe ein. O so eine Flöte ist mehr Als Gold und Kronen wert, Denn durch sie wird Menschenglück Und Zufriedenheit vermehrt.31

Die Flöte ist eine Allegorie der Musik und ihrer verwandelnden Kraft. Dieses Motiv ist aus dem Orpheus-Mythos übernommen. Wie Orpheus wird auch Tamino eine symbolische Unterweltsreise auf der Suche nach der Geliebten unternehmen und dafür mit Musik ausgestattet. Die Einweihung als Unterweltsreise ist dem Roman Sethos des Abbé Terrasson32 nachgestaltet, den Matthias Claudius ins Deutsche übersetzt hat. Seine Übersetzung erschien 1778, traf also genau in die Frühphase der Mysterienfaszination.33 Hier ist vielleicht auch der Ort, einen anderen Ableger dieser Faszination zu erwähnen: den Initiationsroman, eine Verbindung von Bildungs- und Schauerroman, der den Bildungs- und Selbstfindungsweg eines Jünglings mit den Motiven der verwandelnden Erfahrung der Einweihung und der verborgenen Führung durch eine Geheimgesellschaft beschreibt.34 In Goethes Wilhelm Meister gelangen auch diese Motive in die Gipfelregionen der Literatur. Die Flöte und auch Papagenos Glockenspiel stellen die verwandelnde Kraft der Musik im Laufe der Oper mehrfach unter Beweis. Zunächst bezaubert die Flöte die wilden Tiere, dann das Glockenspiel den bösen Monostatos und seine Helfer, und beide Instrumente haben die Kraft, die Geliebten, Pamina und Papagena, herbeizubringen. Ernst wird es aber erst beim Gang durch Feuer und Wasser, der eigentlichen Unterweltsreise. Hier haben wir es nun mit den großen Mysterien, der Konfrontation mit dem Erhabenen zu tun. Jetzt ist Papageno nicht dabei, denn zu dieser nun wirklich verwandelnden Erfahrung sind nur die zum Herrschen Berufenen zugelassen, also Tamino und auch Pamina, die zu allgemeiner Überraschung ebenfalls vor den Schreckens-, d. h. den Unterweltspforten auftaucht, um mit Tamino den Gang zu wagen. Beim Gang durch Feuer und

31

Schikaneder 1991 (I. Akt, 8. Auftritt). [Terrasson] 1731. 33 Terrasson/Claudius 1777-1778. 34 Simonis 2002; zur Zauberflöte siehe 247-319. 32

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Wasser handelt es sich, in Kants Terminologie, um das dynamisch-Erhabene, oder, nach Schiller, um das praktisch-Erhabene. Die Elemente bedrohen die Liebenden mit dem Tod und brüskieren ihren Selbsterhaltungstrieb. Es geht darum, den Todesschrecken zu überwinden. Dabei hilft die Musik. Nicht die tauben Elemente, sondern die Liebenden selbst werden von der Musik bezaubert und gegen den Schrecken gefeit. Diese Wirkung wirkt auch auf den Spieler selbst zurück. So werden sie nicht von Entsetzen überwältigt, sondern vermögen dem Erhabenen standzuhalten. Wie Schiller wählt auch Mozart für das Erhabene die Form der negativen Darstellung. Was hätte näher gelegen als bei der Konfrontation mit der tobenden Wut der Elemente alle Register rasender Entfesselung und lärmender Überwältigung zu ziehen. Was Mozart dagegen zum Klingen bringt, ist eine ganz stille Musik: das Flötenspiel, in dem sich die standhaltende Seele ausdrückt. Einsam und exponiert erklingt die Flöte über den leisen Schlägen der tiefen Pauke. Die Paukenschläge und zarten Bläserakkorde sind keine Begleitung, sondern stellen die Flöte in ihrer Einsamkeit nur noch deutlicher heraus. Die Musik gibt der Seele die Kraft, standzuhalten, und gibt zugleich ihrem Standhalten Ausdruck. Unangefochten schreiten der Musizierende und seine Freundin durch Nacht und Tod. Das Faszinosum der antiken Mysterien bestand für das späte 18. Jahrhundert in ihrer vermeintlichen politischen Funktion. Darin sah man eine offenkundige Analogie zur eigenen Epoche und zur Situation der Geheimgesellschaften, die sich als Träger einer Aufklärung verstanden, die nur durch die Ungunst der Zeit dazu gezwungen war, wie die alten Mysterien im Untergrund zu arbeiten. Das alte Ägypten galt als Ursprung aller Mysterien und als Modell einer doppelten Religion mit einer polytheistischen Volksreligion und einer Geheimreligion, die dem Staat dadurch diente, dass sie die Einsicht in die Fiktivität der volkstümlichen Götter geheim hielt. Dass die antiken Mysterien für das späte 18. Jahrhundert zu einem Faszinosum wurden, hing also mit ihrer politischen Deutung zusammen, die Warburton entwickelt und Meiners dem deutschen Publikum vermittelt hatte. Mysterien gab es dort, wo Staaten entstanden, die auf die Fiktion personaler, lohnender und strafender, das Gemeinwesen schützender und repräsentierender Gottheiten angewiesen waren. Ihre Funktion war es, die Aufklärung zu pflegen, ohne die lebensdienlichen Fiktionen anzutasten. Darin erkannten sich die Freimaurer und insbesondere die Illuminaten wieder.

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Dieses erstaunliche rezeptionsgeschichtliche Faktum, die politische Deutung der antiken Mysterien als Kult einer Geheimgesellschaft, die ihren avantgardistischen Vorstellungen von Gott und Wahrheit unter den obwaltenden Umständen im Geheimen obliegen mussten, um die staatlichen Ordnungen nicht zu gefährden und die Menschheit auf dem sanften Weg allmählicher Evolution zu veredeln, kann ich nur als Frage an Walter Burkert weitergeben: Gibt es in der Alten Welt irgendwelche Ansätze, die auf politische Aspekte der antiken Mysterien hinweisen könnten? Auf jeden Fall, um das abschließend noch einmal zu betonen, kann man die Vorstellung des 18. Jahrhunderts von den antiken Mysterien und das Ziel, das die Geheimgesellschaften mit ihren nach dieser Vorstellung gestalteten Ritualen anstrebten, nicht treffender bezeichnen als mit dem Begriff, den Walter Burkert für die antike Initiation geprägt hat: verwandelnde Erfahrung.

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EVA KOCZISZKY Gewalt und Trauer. NIOBE-Tragödien

“numen adhuc sine ture meum est”1 Der Niobe-Mythos war seit seiner ersten Erzählung im 24. Kapitel der Ilias durchaus bekannt. Er wurde in den nur sehr fragmentarisch überlieferten griechischen Tragödien des Aischylos und des Sophokles auf die Bühne gestellt, in den Metamorphosen des Ovid erzählt, sowie in mehreren Zeugnissen bei Apollodor, Diodor, Cicero etc. belegt.2 Zur Volkstümlichkeit des Mythos trugen außer den literarischen Zeugnissen die zahlreichen Darstellungen in der bildenden Kunst bei. In all diesen Darstellungen ist Niobe die überaus glückliche, fruchtbare Mutter, die in ihrer Selbstgenügsamkeit beginnt, mit Leto zu wetteifern und ihre 14 (oder zwölf) Kinder für einen größeren Segen zu halten als die zwei olympischen Geschwister, Letos Nachkommen. Auf ihre Worte folgt eine der grausamsten Strafen, die die griechische Mythologie überhaupt kennt: Alle – oder beinahe alle – ihre Kinder3 werden von Apollon und Artemis getötet. Die trauernde Mutter beharrt auf ihrem Recht, unermesslich zu trauern. In ihrer endlosen Trauer wird sie in ihrer Heimat lebendig versteinert: ‘Ihr Geweide ist versteinert, dennoch weint sie’.4 Ein Weinen, das den Schmerz auf ewig verlängert: eine ungeheure Folge der grausamen Strafe der Götter, die sich in der Ermordung der Kinder zeigte. Mögen die einzelnen Elemente dieser mythischen Erzählung trotz oder sogar wegen ihrer Unheimlichkeit so reizvoll sein: an der Überlieferungsgeschichte ist nicht zu übersehen, vor welche erheblichen Schwierigkeiten 1

Ovid. Met. 6.172. ‘Meine Gottheit entbehrt noch des Weihrauchs’ (übers. Erich

Rösch). 2

Siehe Roscher 1884-1937, III, 372-386. Es gibt Mythosvarianten, nach denen mindestens eine Tochter, oder sogar mehrere Kinder überleben. Vgl. Hederich 1770, 1739-1740; Roscher 1884-1937, III, 378; Lesky 1937, 648. 4 Ov. Met. 6.309-310. 3

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dieser Mythos seine Interpreten stellt. Man liest eine Geschichte, die ihre scheinbare Transparenz sofort verliert, wenn man beginnt, über sie nachzudenken, wenn der Dramaturg die tragische Begebenheit auf die Bühne stellen und die Begebenheit analytisch erschließen will, oder wenn der Religionswissenschaftler den Mythos auf seinen verdeckten Hintergrund hin befragt. Burkerts älterer Zeitgenosse Karl Kerényi hat diesem Mythos eine ausführliche Studie gewidmet, in der er hervorhebt, dass die unvorstellbar grausame Tötung der Kinder der Niobe nicht als Strafe für ein Vergehen aufgefasst werden kann. Er wies auf mehrere Darstellungen aus der Vasenmalerei hin, auf denen Niobe nicht anwesend ist: Erst ihre Präsenz würde nämlich die Ermordung der Kinder zu einer Strafszene wandeln. Die Darstellung des Mythos, so Kerényi, habe auch den Thron des olympischen Zeus geschmückt. Die ungeheure Diskrepanz zwischen dem grausamen Mythos und seiner spielerischen, ästhetischen Anwendung erklärt der ungarische Altertumsforscher mit dem wohl bekannten Phänomen der Ästhetisierung der Gewalt: Pheidias habe den Zuschauer nicht mit der Frage nach dem Sinn der Strafe konfrontiert, sondern einfach “Todesszenen” dargestellt, die weder moralisch, noch immoralisch seien, die einfach “objektiv”, etwas Allgemeines, Schreckliches im Verhältnis von Mensch und Gott erblicken lassen.5 Burkert, der Kerényi nicht besonders schätzte und über den Niobemythos nur ein paar spärliche Bemerkungen machte,6 dürfte vielleicht ausnahmsweise Kerényi zustimmen und in der Geschichte der Niobe “einen Komplex von Mythos und Ritual” erkennen, der nicht nur die archaische griechische Gesellschaft geformt habe, sondern “tiefe Täler der menschlichen Tradition grub, in denen bis heute Ströme unserer Erfahrungen fließen.”7 5

Kerényi 1980, 269. Burkert hat den Niobemythos – meines Wissens – zweimal erwähnt. Einmal hat er im Kontext des griechischen Trauerrituals die berühmte Passage der Ilias (Il. 24.60213) interpretiert; Burkert 1972, 62 sowie Burkert 2002. Die zweite Textstelle behandelt eine Variante des Mythos, die durch Pherekydes überliefert ist und mit einer Projizierung der Geschichte in die Vogelwelt endet: “Pherekydes ergänzt die Erzählung, in die Zethos’ Bruder Amphion von Theben mit seiner Gemahlin Niobe einbezogen sind: rasende Eifersucht auf die größere Kinderzahl der Niobe hat Aedon, Zethos’ Gemahlin, zur Mordtat getrieben; zur Nachtzeit ergriff sie die Waffe, um einen ihrer Neffen zu töten, doch sie traf im Dunkel das eigene, das einzige Kind. Die Flucht nach der Tat, die Verwandlung in den Vogel ist schon im Namen ›Nachtigall‹ vorausgesetzt” (Burkert 1972, 201). 7 “The complex of myth and ritual, though not indissoluble, became the major force in forming ancient cultures, and, as it were, dug deep vales of human tradition, in which even today the streams of our experience will tend to flow” (Burkert 1979, 58). 6

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Welche tiefe menschliche Erfahrung, welche verdeckte archaische religiöse Wirklichkeit lässt sich aber in dieser nicht leicht verständlichen, nicht transparenten Geschichte erkennen? Wie können wir überhaupt einen Zugang zu diesem Mythos finden, wenn die wichtigsten Texte aus der griechischen Antike, die Tragödien des Aischylos und des Sophokles, nur sehr bruchstückhaft erhalten geblieben sind? Die Tragödie des Aischylos kann man nur teilweise aufgrund der erhaltenen Bruchstücke rekonstruieren. Schadewaldt und Lesky8 sind darin einig, dass Niobe wahrscheinlich bis zum dritten Akt stumm blieb: eine bis zum Äußersten gesteigerte Pathosfigur, eine durch den Schmerz verstummte, erstarrte Mutterfigur, die auf dem Grab ihrer Söhne und Töchter sprachlos trauert. Sie sitzt verhüllt auf dem Grab ihrer Kinder, bis im vierten Akt ihr Vater Tantalos auftritt und in der verschleierten Figur ihre Tochter erkennt. Zum Schluss verkündete Hermes Niobes Versteinerung. Es ist zu vermuten, dass das Drama wahrscheinlich analytisch strukturiert war. Aber von der Aischyleischen tragischen Verkettung von Schuld und Strafe oder von Fluch und Schicksal verraten die Fragmente eben zu wenig, als dass man sich von der Tragödie in dieser Hinsicht ein Bild machen könnte. Man weiß nicht einmal, ob das Stück zu einer Trilogie gehörte.9 Über die Niobetragödie des Sophokles wissen wir noch weniger. Die wenigen Zeugnisse legen aber nahe, dass sich Sophokles einer außergewöhnlichen Dramaturgie bedient haben muss, die unsere Vorstellung von den dramaturgischen Regeln der griechischen Tragödie umstößt. Die beispiellose Grausamkeit der Ermordung der 14 Kinder durch Apoll und Artemis hat den Dramatiker offenbar dazu verleitet, die Tötung auf der Bühne darzustellen. Die Hinweise bei Plu. Amat. 17 (mor. 760d) zu Fr. 410 Nauck (= Fr. 448 Radt), sowie die Fragmente 442-448 Radt hat Roscher10 noch so interpretiert, dass alle Niobiden auf der Bühne starben.

Burkert führt an anderer Stelle Cornford bzw. J. E. Harrison an, die Tantalos’ Verbrechen, nämlich die Aufopferung von Pelops, als Initiationsritus gedeutet haben; Burkert 1972, 114. Ein solcher ritueller Hintergrund könnte Kerényis Vermutung nur noch bestätigen, nach dem es sich hier um keine Geschichte menschlicher Schuld und göttlicher Rache handelt. 8 Siehe Lesky 1937, 649; Mette 1963, 44. 9 Zuerst hat Welcker von einer Niobe-Trilogie des Aischylos gesprochen, zuletzt Elma Henzel. Siehe Henzel 1989. 10 Roscher 1884-1937, III, 375.

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Lesky und andere11 nehmen dagegen an, dass nur zwei Mädchen auf der offenen Bühne ermordet wurden. Wie dem auch sei, wir kennen keine andere griechische Tragödie, die die Tötung auf der Bühne dargestellt hätte. Sollte also die angeführte Rekonstruktion der Sophokleischen Niobe richtig sein, dann hat dieses Drama ein wichtiges Tabu gebrochen und die dramatische Darstellung den künstlerischen Repräsentationen des Mythos angenähert. Aus dieser Perspektive der dramatischen Übertragung einer Szene, die das Auge in ihrer Realität kaum erträgt, lässt sich vielleicht auch Gottfried Hermanns Bemerkung neu lesen, nach der Aristoteles im achtzehnten Kapitel seiner Poetik (1456a15-19) wohl Sophokles tadelt, wenn er einen ungenannten Autor eines Niobedramas erwähnt.12 Kurzum: Trotz der großen Ungewissheit in Bezug auf die Niobetragödien der Antike dürfen wir vermuten, dass bereits die antiken Dramen ästhetisch nicht unproblematisch waren. Sogar die größten Dramatiker scheinen mit diesem mythischen Stoff gerungen zu haben. Oder erwies sich ihre Wahl, eben diesen Mythos auf die tragische Bühne stellen zu wollen, als ein Fehlgriff? Die modernen Tragiker hatten anscheinend mehr Glück mit solchen Mythen, die bereits in antiken Tragödien auf die Bühne gestellt wurden. Man denke nur an die zahlreichen Tragödien mit den Geschichten von Oedipus, Antigone, Medea, Elektra oder Phaidra. Die kanonischen Werke der antiken Bühne durften mehr Hinweise für eine neuartige Durchführung des gleichen tragischen Stoffes geben; sie konnten als Muster und Gegenversion dienen, um das tragische Sujet in der Moderne anders zu deuten.13 Neben dem Mangel an der antiken dramatischen Tradition, an deren Stelle in der Neuzeit die Barockoper trat,14 konnte jedoch die Deu-

11 Lesky war ebenfalls davon überzeugt, dass die Mädchen und die Söhne auch bei Sophokles separat, voneinander getrennt getötet wurden; siehe Lesky 1937, 653. 12 Hermann 1828, III, 37-38. Roscher führt Hermann an, in: Roscher 1884-1937, III, 375. 13 Schillers Braut von Messina, Hölderlins Empedokles oder die gescheiterten modernen Tragödien über Sokrates, Orpheus etc. weisen darauf hin, dass solche Mythen, die durch die attische Tragödie nicht vermittelt wurden, schwer auf die moderne Bühne gestellt werden können. Zum Verhältnis von antiken “Ausgangs”- und modernen “Folgetexten” siehe Frick 1998. 14 Hier sei die Oper von Agostino Stefani erwähnt (Niobe, Regina die Tebe). Die Tradition der Niobeoper lässt sich jedoch bis in die Gegenwart verfolgen, bis Adriana Hölszky (Hybris/Niobe).

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tungsoffenheit des Mythos selbst mit seinen erratischen Aspekten zunächst als Vorteil erscheinen. Die modernen Niobedramen bilden deshalb eine Sequenz literarischer Variationen, die im Folgenden wegen der geringen Anzahl der Werke (Friedrich Müller, Ludwig Tieck, Wilhelm Schütz, Buchholz, Jochen Berg sowie ein Prosatext von Kaschnitz) in ihrer Reihenfolge behandelt werden. Die Auswahl der Dramen für diese Untersuchung beruht auf der Frage nach der dramatischen Potenz und nach der Tragfähigkeit des Mythos mit seinen möglichen religionsgeschichtlichen Hintergründen. Dabei wird auch Burkerts Mythenanalyse berücksichtigt.

I. Friedrich Müller Die erste deutsche Niobetragödie (1778) ist das Werk des Dichters und Künstlers Friedrich Müller, der auch ‘Maler Müller’ genannt wird. Literarisch schließt Müller zwar an Ovid an, wird jedoch weit mehr vom überwältigenden Erlebnis der Niobidengruppe beeinflusst, die er in der Mannheimer Antikensammlung gesehen hat.15 Wie bei manchen Mythen der Antike ist Winckelmanns Einfluss auf die Autoren der Goethezeit auch in der Deutung der Niobegeschichte nicht zu unterschätzen. Winckelmann bewunderte die Harmonie und Ausgewogenheit in der Selbstauflösung des Schmerzes. Die Heldin des Mythos ist eine Pathosfigur, eine übermütige, schöne Frau inmitten des äußersten Leides. “Ein solcher Zustand, wo Empfindung und Überlegung aufhört” schreibt Winckelmann, sei “der Gleichgültigkeit ähnlich”, wodurch die zum Stein erstarrte Niobe zum Inbegriff der höchsten Schönheit werden könne.16 Durch diese Statuenbeschreibung inspiriert, konzipiert Müller seine Heldin als eine schöne, königliche Frau, als eine Rebellin und utopische Träumerin, die sich gegen die grausame Tyrannei der Götter auflehnt. Sie wird zum femininen Gegenpart jenes Prometheus, den die Autoren des Sturm und Drang zu ihrer emblematischen Figur wählten. Sauder legt nahe, dass Kerényis These über die ursprüngliche Nähe dieser zwei mythischen Gestalten durch

15 Der europaweite Widerhall der neuen Aufstellung der Statuengruppe in den Uffizien zu Florenz (1775) trug sicherlich zur Themenwahl bei. Siehe auch Schopper 1913, 6. 16 Zitiert nach Kerényi 1980, 264-265.

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Müllers Drama entstand.17 Gegenseitige Einflüsse zwischen schöner Literatur und religionswissenschaftlichen Studien lassen sich ansonsten in der Rezeptionsgeschichte dieses Mythos in jeder Epoche erkennen. Müllers Heldin führt einen gerechten Kampf gegen die Olympischen Götter; sie agiert wie ein wahrer Antitheos, unschuldig und schuldig. Auch wenn es Müller nicht gelingt, diese wohl bekannte Paradoxie der antiken Tragödien in die Moderne zu übertragen, schuf er in Niobe eine Heldin voller Unbeugsamkeit und Triumph inmitten des tragischen Untergangs. Sie will in ihrem Trotz eine neue menschliche Rasse, “ein unüberwindlich ewig Geschlecht pflanzen”18 am Fest des Hymens, das sie gegen die kultische Verehrung Latonas stiftet.19 Die tragische Verfehlung der Niobe besteht also in der konsequenten Selbstvergöttlichung des modernen Menschen, die als Folge des notwendigen, ja gerechten Abriss’ aller Götzenstatuen unabwendbar ist. Die Beleidigung der Unsterblichen wird in Müllers Drama gleichsam als eine neue religiöse Handlung vollzogen.20 Mit der zeremoniell gestalteten Demontierung aller Götterkulte kann aber Müller die Kernfrage nach der tragischen Schuld nicht übergehen. Er versucht mit einer gegenseitigen Annäherung des Göttlichen und Menschlichen eine Lösung zu finden. Seine Götter sind – trotz ihrer Grausamkeit – durch emotionale Menschlichkeit geprägt. Außer von Rache und Zorn sind sie 17

Sauder 1990, 127. Müller 1982, 230. 19 Winckelmanns Statuenbeschreibung und Müllers Niobedrama haben sicherlich auch Hölderlins kühne Umdeutung, ja sogar Korrektur des Niobemythos beeinflusst. In seinen Anmerkungen zu seiner Übersetzung der Sophokleischen Antigone hob er die Parallele zwischen den beiden “Antitheoi” (Antigone und Niobe) hervor, da sie beide gegen die Götter kämpfen. Er bewundert aber in der Schönheit dieser Heldinnen zugleich “die Unschuld” der Natur und betrachtet sie weiblich passiv: “Ich habe gehört, der Wüste gleich sei worden / Die Lebensreiche, Phrygische” (Hölderlin 1992, II, 348) übersetzt Hölderlin Antigones Worte, als sie sich unmittelbar vor ihrem Tod in der Felsenkammer mit Niobe vergleicht. Die Gleichsetzung der versteinerten Niobe mit der Wüste ist bekanntlich Hölderlins dichterischer Zusatz. Für Hölderlin ist Niobe die üppige, unschuldige Natur, die durch die Nähe des Göttlichen, des Sonnenlichts, austrocknet: “So einer ist ein wüst gewordenes Land, das in ursprünglicher üppiger Fruchtbarkeit die Wirkungen des Sonnenlichts zu sehr verstärket, und darum dürre wird. Schiksaal der Phrygischen Niobe; wie überall Schiksaal der unschuldigen Natur...” (Hölderlin 1992, II, 348). Durch die metaphorische Gleichsetzung der Niobegestalt mit der “unschuldigen Natur”, mit der passiven Erde, die der verwüstenden Einwirkung des Himmels ausgesetzt sei, wird die mythische Logik von Vergehen und Strafe ganz aufgehoben und die Tragik der üppigen, segensreichen Natur wird in ihrer Verwüstung geschildert. 20 Sauder 1990, 131. 18

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auch durch Mitleid und Trauer gesteuert. Diana fühlt Mitleid mit den Kindern, während sie die Straftat einer machterfüllten, “höheren” Gerechtigkeit begeht. Und die Opfer der Götter, die Kinder, bleiben auch nicht schuldlos. Das Theater des 18. Jahrhunderts erträgt ja keine Strafe ohne Vergehen: Die Töchter und Söhne werden durch ihre stolze Mutter in die Gotteslästerung mitgerissen. Sie stürzen den Altar der Latona mit ihren eigenen Händen, und lange vor dem berühmten Lied der Winterreise Wilhelm Müllers bekennen sie stolz: “Wir sind Götter!”21 Müller stellt also – in der Vorahnung der französischen Revolution – eine junge, rebellische Generation dar, die ihr Urteil an den Relikten religiöser Götzenkulte im Rausch vollzieht. Die antiklerikal interpretierbare Zerstörung der alten Kulte wird aber noch nicht als politisches Ritual inszeniert, wie die grausame Strafe der Götter auch nicht kathartisch wirkt. Müllers Niobe hegt in ihrer letzten Verzweiflung eine utopische Hoffnung, die sich erfüllt: Stürz ein, Tempel, Wo Menschen und Götter sich vergessen! Künftigen Jahres zeige Nicht mehr die Spur!22

In der Regieanweisung heißt es: “Der Tempel fällt im Blitz-Schlag zusammen.”23

II. Die Romantiker: Tieck und Schütz Aus Tiecks Drama (Niobe, ein Einakter, 1790), dessen Text erst vor zwanzig Jahren aus dem Nachlass vollständig veröffentlicht wurde, geht noch klarer hervor, dass es die Schönheit der noblen Frau war, die in Niobe, in dieser romantischen Aphrodite, die Epoche faszinierte. Die Selbstbespiegelung der Frau wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts als Bild erotischer Schönheit und als Inbegriff göttlicher Weiblichkeit grundsätzlich positiv bewertet. Die romantische Niobe trägt Züge der idealen, ja schwachen 21 Müller 1982, 237. Die Nietzschesche Konsequenz neuzeitlichen Atheismus’ wurde bisher zumeist bis Wilhelm Müllers Liedtext zur Winterreise (1827) zurückgeführt: “Will kein Gott auf Erden sein / sind wir selber Götter.” 22 Müller 1982, 304. 23 Müller 1982, 304.

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Frau, die ihre Verfehlung nicht zu vermeiden vermag. Diese Frauenfigur ist von Üppigkeit, von segensreichem Glück gekennzeichnet, deren Schönheit und Erotik sich in ihrer mythischen Fruchtbarkeit, Würde und in königlichem Stolz manifestieren. Die eher episch als dramatisch gestaltete Fabel wird bei Tieck zum traurigen Geschehen einer schönen, aber törichten Frau, die mit ihrer unbedachten Rede ihr eigenes Leben zerstört.24 Das Drama ist spannungsarm, die Handlung besteht aus der aufeinander folgenden Tötung der vielen Kinder und aus der Klage um ihren Verlust. Dieses dramaturgische Problem hat vielleicht die früheren verschollenen Dramen gekennzeichnet: Bereits die Tragödie des Sophokles war auf die Kette der Tötung der einzelnen Kinder fokussiert. Durch Ovid ist aber die Verbindung der Niobemythe mit dem Adonismythos inspiriert. Niobe, die wunderschöne königliche Frau, ist eine irdische Venus, deren Verhängnis die Liebe ist. Sie beweint ihre Kinder, wie einst Aphrodite den toten Adonis betrauerte. Das bukolisch, ja sogar rokokohaft anmutende romantische Drama Tiecks verbindet diese beiden Mythen zuerst im Gesang der Mädchen, in dem der Adonismythos erzählt wird. Vielleicht hat Tieck eine strukturelle Ähnlichkeit in den beiden Mythen entdeckt: Die anfängliche Idylle wendet sich in beiden Geschichten in eine Katastrophe. Fruchtbarkeit, sexueller Reichtum, wird grausam bestraft.25 Eine weitere strukturelle Parallele lässt sich in der rituellen Trauerszene erkennen, die dann durch Tieck noch mit dem Verwandlungsmotiv erweitert wird: Wie sich das Blut von Adonis einst zur glühenden Rose verwandelt hat und die Tränen der Göttin Aphrodite zum Vergissmeinnicht werden, so verwandelt sich Niobe zuletzt zu einer Trauerweide. In dieser Mythenkorrektur, in der Umdeutung des Motivs des Versteinerns erkennt man eher Tiecks Wetteifern mit Ovid als eine produktive Idee zur Lösung des Scheiterns. Zum Umkreis Tiecks und der Brüder Schlegel gehört auch Wilhelm Schütz, der erste Autor der Moderne, der die religiöse Problematik des Mythos mit der Frauenproblematik eng verbindet. Er führt das homerische Bild der Götter an und hebt hervor: Bei den Göttern sei die Sexualität mit Gewalt und Tod nicht verbunden. Diese olympische, abgehobene Mütterlichkeit ist im Drama durch Leto mitsamt ihren olympischen Kindern

24 Hölters Ansicht nach sei Tiecks Niobe keine Heldin des Übermuts, eher eine Wortfrevlerin, die ihre Rede nicht zu beherrschen vermag; Hölter 1987, 277. 25 Burkert 1979, 108. Burkert weist darauf hin, dass die Wunde des Adonis die Kastration andeutet.

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Apollon und Artemis repräsentiert. Schütz war zwar humanistisch gebildet, konnte aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wissen, dass die Geschlechterrollen vermutlich bereits in den griechischen Niobe-Tragödien an der tragischen Schnittstelle des Menschlichen und des Göttlichen gedeutet wurden. Als einen andeutungsvollen Hinweis können wir den Tatbestand interpretieren, dass Aischylos an die Seite der außergewöhnlich fruchtbaren Niobe einen Chor der thebanischen Jungfrauen (!) stellte (Fr. 155 Radt). Vor Schütz hat aber bereits Müller die “barbarische” Jungfräulichkeit seiner Artemisfigur der glücklichen Mutterschaft Niobes entgegengesetzt.26 Schütz geht nur einen Schritt weiter. Er deutet die Fruchtbarkeit Niobes ins Zwiespältige um und stellt sie als eine asiatische, fremdartige Weiblichkeit dar. Das asiatische Element, der phrygische Dienst der Kybele, den sie aus ihrer Heimat nach Theben mitnimmt, das Dionysische, das Bacchantische in ihrem Wesen spielte wahrscheinlich auch in den griechischen Dramen eine gewisse Rolle, wie man es aus einem Fragment der Semele-Tragödie des Diogenes von Athen (TrGF I 45 fr. 1 Snell) vermuten kann.27 Dionysische Erotik wurde auch in Müllers Tragödie angedeutet, wenn sie eine Massenhochzeit ihrer vierzehn Kinder am Tag des Festes ihrer eigenen “Göttlichkeit” veranstaltet. Schütz gebührt jedoch das Verdienst, die in der mythischen Fabel selbst verborgene Frauenproblematik in ihrem Verhältnis zur Kult-Figur literarisch zu entfalten. Er kehrt aber den emanzipatorischen Ton Friedrich Müllers in sein Gegenteil um und gleitet sogar in kleinbürgerliche Frauenfeindlichkeit ab. Im Prolog stellt Pythia Niobe als “volltraubiges Rebengewächs” vor, das die durch Dionysos beherrschte Stadt (Theben) schmückt. Sie verschmäht mit ihrer trunkenen Schar kühn das Ideal der Keuschheit, die das Götterpaar Apoll und Artemis verkörpern: “Jungfraulichkeit ist der Götter dieses Tempels Paar. / Und wer von Euch suchet bei Jungfraun sein Heil?”28 Weibliche Sexualität wird abgelehnt. Aus Niobes Tragödie wird die Tragik einer Frau, die ihre Weiblichkeit erlebt. Wahrscheinlich dürfen wir das Niobedrama von Schütz ebenfalls in einem Wechselverhältnis zur wissenschaftlichen Erforschung der Mythen sehen, wie sich auch an Müllers Drama nachweisen lässt, dass es später

26 Müllers Niobe nennt Artemis eine “barbarische Jungfrau, die nie / Mütterliches Liebes-Schlag gefühlt” habe; Müller 1982, 304. 27 Übersetzung des Fragments bei Kannicht et al. 1991, 127. 28 Schütz 1984, 11.

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Kerényis Mythosinterpretation beeinflusste. Zwanzig Jahre nach Schützens Niobe hat nämlich Burmeister seine religionswissenschaftliche Studie über den Mythos veröffentlicht. Er deutete die Geschichte als Wettkampf zweier rivalisierender Muttergestalten: Zwei göttliche Gestalten des Kindersegens kämpfen um den Vorrang.29 Die eine Gestalt, Niobe, steht mit den bacchischen Kulten Asiens in Verbindung, die andere, die stärkere, vertritt die Apollonreligion des hellenischen Festlandes. Die Schuld der Niobe bestünde also in erster Linie in ihrer einseitigen Anhängerschaft des Dionysos, in einer ähnlichen Einseitigkeit der Götterverehrung, wie man es bei Pentheus erkennt: Sie sei feindselig gegenüber dem Kult der olympischen Sphäre der Leto und ihrer Kinder gewesen, die in Theben hoch verehrt werden. Auch Pentheus konnte den Kult des Dionysos nicht begreifen. Das Motiv des Übermuts, ihr Stolz auf ihre Kinder käme nur noch zusätzlich hinzu. Burmeisters Mythosinterpretation wurde durch das Gründliche Mythologische Lexikon Roschers weit verbreitet und so auch unter Schriftstellern wohl bekannt. Marie Luise Kaschnitz, die auch durch ihren Mann, den berühmten Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg humanistisch gebildet war, gehörte sicherlich zu den Autoren, die ihre literarische Nacherzählung griechischer Mythen mit großer Gelehrsamkeit vorbereitete. Ich will ihre Version der Niobegeschichte kurz einbeziehen, und zwar nicht nur wegen der Fortführung der romantischen Deutungslinie in die Moderne, die sie kennzeichnet, sondern deshalb, weil ihre Erzählung die Vermutung bestätigt, dass Lyriker und Erzähler mit diesem Mythos mehr Glück hatten als Dramatiker. Kaschnitz erfasst in Niobes Schicksal die Spur eines vollen, ja vollendeten Lebens, eines Lebens, “das voll war von strahlendem Glück und tödlichem Schmerz”. Niobe, die glückliche, die schöne, die gunstvolle, die als Fremde lange Zeit ein gesichertes Leben in Theben führte, wird das Opfer ihres Jähzorns, ihrer asiatischen Wildheit, die ihr phrygisches Geschlecht geprägt hat. Sie soll eines Tages vom neuen Kult der Latona zu Theben gehört haben; “und in jäher Aufwallung der trotzigen Wildheit ihres Geschlechts verbot sie den Frauen, die Latona zu verehren.” Kaschnitz stellt sich diesen Machtstreit als den ganz ungleicher Kontrahenten vor: Leto blieb “unsichtbar und stumm, jenseits der 29 Er wies auf den Beinamen Leto ‘Phytia’, die ‘Zeugerin’, die ‘Hervorbringerin’, hin, und verband mit Niobe den Kult der Magna Meter, Kybele etc. in Lydien in der Nähe des Sipylosgebirges. Burmeister: De fabula quae de Niobe eiusque liberis agit (1836).

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Wolken am Tisch der Götter thronend”, während Niobe “gegenwärtig” ist “wie das irdische Leben selbst”. Unter der strahlenden Sonne ihres Glücks ist “etwas … erwacht in ihr, das lange geschlafen hatte, eine Wildheit, die braust und tobt wie der Wind auf den kahlen kleinasiatischen Höhen, ein Zornesmut, wie ihn der Vater Tantalos, der Götterverächter besaß.”30 Die Strafe ist so grausam, wie man es nirgendwo in der Antike, in keinem anderen griechischen Mythos erzählt findet. Der Mord an den vierzehn Kindern macht sie selbst leblos. Und sie erkennt: Sie ist ohnmächtig “gegen die finsteren Gebote einer himmlischen Macht”.31

III. Jochen Berg Mit Jochen Bergs Tetralogie Niobe – Klytaimestra – Im Taurerland – Niobe am Sipylos (1985) beginnt ein neues Kapitel der Rezeptionsgeschichte: Die oben genannten Fragen der dramatischen Interpretation des Mythos, die Fragen über Schuld und Strafe, über Gewalt und Ästhetik, über Theatralität und Ritualität werden zum ersten Mal bei Berg explizit formuliert. Sein Werk verrät, dass der Autor Zeitgenosse einer anderen, nicht mehr der humanistischen Betrachtung der griechischen Mythen ist, auch wenn kaum zu belegen ist, dass Berg Burkert gelesen hat. Bergs Tetralogie gebührt also schon wegen dieses Sachverhalts weit mehr Aufmerksamkeit, als ihr die Kritik geschenkt hat.32 Man muss zwar zugeben, dass Jochen Berg das Niveau eines Heiner Müller sicher nicht erreicht, sein Versuch, den Niobemythos auf die moderne Bühne zu stellen, ist dennoch ein wichtiges und charakteristisches Werk der Spätmoderne. Sogar die durch die Kritiker am häufigsten getadelten Züge seines Werkes rühren von einer bewussten Veränderung der mythischen Überlieferung her. Berg gibt zu erkennen, dass manches aus der Antike unvermeidlich auf 30

Kaschnitz 1981, 639. Kaschnitz, 1981, 642. 32 “Dieser Mythos ist eine Quälerei um wenig, eine Balgerei um Petitessen.” – schrieb Gerhard Stadelmaier in seiner Theaterkritik (Stadelmaier 1986, 9). Werner Schulze-Rempell (1989, 59) nennt Bergs Niobe spöttisch ein “gebärfreudiges Erdenweib”, die dann in Klytaimnestra zur Mörderin wird, sie tötet die tötenden Männer, erlernt also die Männerrolle, und sie wird in Iphigenie zuletzt eine Frau, die geheiratet wird, weil es die Gesellschaft so will. Man soll jedoch bemerken, dass es auch Maler Müllers Niobe nicht anders erging. Das Drama wurde durch die zeitgenössische Kritik genauso heftig angegriffen. 31

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das Niveau eines Klischees sank: Niobes Söhne verkörpern in seinem Drama den Prototyp des “griechischen Jünglings”, wie dieser seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vorgestellt wurde: Jünglingsgewalt mit Muskeln, Schönheit des athletischen, agonalen Körpers. Das Zitathafte konstituiert teils mythoskritisch, teils auf die Überlieferung reflektierend sein Drama auf mehreren Ebenen. Berg nimmt auf die verschollenen griechischen Niobetragödien Bezug, führt die Fragmente der Aischyleischen Niobe kühn an. Er lehnt sich außerdem noch auf vielfältige Weise an Aischylos an, zum Beispiel in der Form der dramatischen Tetralogie (mit Satyrspiel), und fügt dadurch die Tragik der Niobe in die Familiengeschichte der Tantaliden ein. Es ist kennzeichnend, dass die unlösbaren Schwierigkeiten, die dieser Mythos für die tragische Bühne bereitet, nur durch die Wieder-Herstellung eines ursprünglichen Mythengefüges der Tantaliden, das heißt durch die Verbindung der Geschichten von Tochter (Niobe) und Vater (Tantalos) gelöst werden können. Ja, diese konventionelle Lösung33 reichte nicht einmal aus: Berg musste noch eine eigenwilligere mythische Sequenz bilden, indem er drei Frauenschicksale miteinander verband: Niobe, Klytaimestra und Iphigenie, deren ausführliche Untersuchung aber über den Rahmen dieser Studie hinausgeht. Bergs Niobe stellt eine schöne, ich-bezogene weibliche Körperlichkeit aus, einen narzisstischen Egoismus ohne Glück. Seine Niobe ist eine Frau in einer gottlosen Welt. Niobe ist eine Mutter vieler Kinder, die aber in ihrer Weiblichkeit und Fruchtbarkeit ihr Glück nicht findet. In der Gestaltung ihres Charakters ließ sich Berg in erster Linie durch Hegels Interpretation des Mythos leiten. Hegel sprach in seinen Vorlesungen zu Ästhetik von der “kalten Resignation” dieser mythischen Frauenfigur und stellte ihre Individualität als starres Beisichsein, als erfüllungslose Passivität dar:34 In den Idealen der Alten ... sehen wir, unabhängig von jenem angedeuteten Zuge einer stillen Trauer, wohl nur den Ausdruck des Schmerzes edler Naturen, wie z. B. in der Niobe und dem Laokoon; sie vergehen nicht in Klage und Verzweiflung, sondern bewähren sich groß und hochherzig darin, aber dieses Be33

Man kann vermuten, dass bereits Sophokles das tragische Schicksal von Tantalos mit dem seiner Tochter Niobe verband. Er schrieb neben Niobe auch eine Tantalos-Tragödie. Im erhaltenen Fragment (574 Pearson = Adespota TrGF II fr. 700 Kannicht-Snell) spricht der Vater von seinem Schmerz angesichts der Tragik seiner Tochter. 34 Hegel 1984, II, 35. Siehe auch Schopper 1913, 9.

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wahren ihrer selbst bleibt leer, das Leiden, der Schmerz ist gleichsam das Letzte, und an die Stelle der Aussöhnung und Befriedigung muß eine kalte Resignation treten, in welcher das Individuum, ohne zusammenzubrechen, das aufgibt, woran es festgehalten hatte.35

Und dann lehnt er den Vergleich mit der christlichen Maria grundsätzlich ab: Auch Niobe hat alle ihre Kinder verloren und steht nun da in reiner Hoheit und unverkümmerter Schönheit. Was sich hier erhält, ist die Seite der Existenz dieser Unglücklichen, die zur Natur gewordenen Schönheit, welche den ganzen Umfang ihrer daseienden Realität ausmacht; diese wirkliche Individualität bleibt in ihrer Schönheit, was sie ist. Aber ihr Inneres, ihr Herz hat den ganzen Gehalt seiner Liebe, seiner Seele verloren; ihre Individualität und Schönheit kann nur versteinern.36

Im Sinne der Hegelschen Kritik an ihrer steinernen Charakterfigur lässt Berg Niobe durch ihre Worte kennzeichnen: ICH BIN DIE ERDE HABE STEIN GEBOREN ICH BIN DIE MUTTER MEINES TOTEN STRAUCHS DIE WÜSTE BIN ICH UNTER TROCKNEM HOLZ37

Diese naturhafte Rigidität, die zur Ohnmacht führt, kennzeichnet Niobes Mutterschaft. Berg vermag das Glück der Mutterschaft, das Substrat des antiken Mythos, nur noch in ihrer modernen Pervertiertheit zu erkennen. Aus den Materialien der Wuppertaler Aufführung sei das Gedicht Wir brauchen Mütter (1930) angeführt: Wir brauchen Mütter, die im Schoße tragen Ein hart Geschlecht, das wie aus Erz geschweißt Und ohne Knechtessinn und bänglich Zagen Sich kühn den Weg zum neuen Aufstieg weist. ... Wir brauchen Mütter, die da opfernd geben, Was sie genährt mit ihres Leibes Blut.38

35

Hegel 1984, II, 193-194. Hegel 1984, II, 201. 37 Berg 1985, 31. 38 Frigga: “Wir brauchen Mütter”, siehe Berg 1988, 139. 36

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Der Versuch, die politisch-geschichtliche Wirklichkeit in Mythos und Ritual freizulegen, schließt Bergs Theater an seinen großen Vorgänger, Heiner Müller an. Müller erkannte im Mythos der Tantaliden das mörderische Ritual, welches die Geschichte überhaupt steuert: Tantalos, König in Phrygien, raubt die Speise der Götter, schlachtet Pelops, seinen Sohn, setzt ihn den Göttern vor. Die Götter erkennen die Mahlzeit, nur Demeter ißt von einer Schulter. So bestrafen sie den Raub: Tantalos hängt an einem Obstbaum, der unter schwebenden Felsen in der dreifach ummauerten Mitte des Hades aus einem Teich wächst, in ewigem Hunger zwischen den Früchten, Durst über dem Wasser, Angst unter dem Stein. Niobe, Tochter des Tantalos, hat zwölf Kinder. Sie prahlt vor den Göttern mit ihrer Fruchtbarkeit. Apollon und Artemis töten die zwölf Kinder mit zwölf Pfeilen. Zeus verwandelt die schreiende Mutter in ihr eigenes Standbild.39

Müllers äußerst lakonisch formulierter Elektratext beschränkt sich auf die Aufzählung von Wiederholungen: Die Geschichte der Tantaliden ist nichts anderes als eine Kette von Mord und sinnloser Gewalt: Auf die Schlachtung von Pelops folgen die doppelten Kindermorde von Thyestes und Atreus. Dann wird Iphigeneia durch Agamemnon aufgeopfert. Darauf folgt Klytaimnestras Rache an Agamemnon bis zu Orestes, dem letzten Spross des Hauses. In Bergs Stück wird der Mythos zur Parabel neuzeitlicher Geschichte. Der Mythos der Tantaliden gibt uns mit seinem barbarisch-archaischen Tiefblick in die Wiederholung menschlicher Gewalt, die einen Schlüssel zum Verständnis des Zeitgeschehens bietet. In Wuppertal wurde Bergs Drama als eine “deutsche Tetralogie”, als eine moderne Orestie40 gespielt. Der moderne Dramatiker stellt drei zentrale tragische Figuren auf die Bühne, neben Niobe auch ihren Mann Amphion und ihren Vater, Tantalos. Bergs Tantalos ist ein Günstling der Götter, für den der Umgang mit den Olympischen, das rituelle Essen bei ihrem Tisch zum Alltag wurde. All das, was am Anfang Ehre, Geschenk, Gunst der Götter war, verflachte zum tagtäglichen Ritual. täglich speiste ich an ihrer tafel, und nähe macht bekannt aus allem ungewohnten bald gewohntes. Was vielen menschen unerklärlich schien War mir vertraut, alltäglich, sehr normal 39 40

Müller 1998, I, 197. Berg 1988, Materialien zum Drama, 118.

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So schildert Tantalos seinen wachsenden Zweifel “an göttlicher Bestimmung”.41 Das Ritual des modernen Theaters wendet sich aber gegen den ursprünglichen Sinn desselben. Es vermag das diffus Erlebte nicht zu gestalten und die uferlose Aggression nicht zu kanalisieren.42 Es bringt eher die Alltäglichkeit des Bösen zum Vorschein. Niobe wirft ihrem Vater vor, der seinen eigenen Sohn schlachtete, ein Geschlecht des Übermuts gepflanzt zu haben, “[d]as ichbefangen im alleinsein endet / Ichbesessen zwingt sich abzuschaffen.”43 Und Mante, die Seherin, eine Korrektur zur blinden tragischen Heldin, erschaut in Niobes Schicksal die Wiederkunft alter Schuld.44 Tantalos, dessen Geschichte in der griechischen Kultur überhaupt als das erste Beispiel für menschliche Hybris galt, hat seinen Sohn Pelops niedergemetzelt und den Göttern als Festmahl aufgetischt.45 Sei es als Prüfung oder als pervertierte Gabe: Die nächste Generation der Tantaliden wird immer wieder zum Opfer ihrer Eltern. Niobes sieben Söhne und sieben Töchter bilden symbolisch eine Generation, die (mit Sloterdijk) “Kinder der Katastrophe” genannt werden können, eine verlorene Generation ohne Zukunft. Berg akzentuiert diese Verlorenheit, indem die Söhne sterben, während ihre “Sportspiele” “in Kriegsübungen” übergehen, so dass “kaum die Jünglinge sich mit Waffen berühren, ..., fallen ... lautlos nieder”.46 Später sterben die sieben Töchter: Sie werden nicht durch die Pfeile der jungfraulichen Jägergöttin getötet, sondern finden ihren Tod durch Vergewaltigung – das wohlbekannte Frauenschicksal aller Kriege. Sollte Bergs Drama eine bloße Geschichtsparabel bieten, würde sie als Allegorese den Mythos eher nur missbrauchen, ohne seiner Komplexität,

41

Berg 1985, 10. Zu Begriff und Funktion des Rituals in der antiken Tragödie siehe Burkert 2007, 51, 74-75. 43 Berg 1985, 41. 44 Berg 1985, 36. 45 Die rituelle Tötung und das zum Festmahl zubereitete Fleisch des Pelops waren wahrscheinlich als Entgelt für die Einladung der Götter gedacht. Das Vergehen des Tantalos war ein beliebtes Thema der antiken Tragödie, unter anderem hat auch Sophokles ein Tantalos-Drama geschrieben, aus dessen Fragment man auf die enge Verflechtung der Tragödie von Vater und Tochter (Niobe) schließen kann. 46 Regieanweisung, Berg 1988, 11: “Eine Gesellschaft schwingt sich zur Herrenrasse auf, überschreitet Tabus menschlicher Grundwerte und bezahlt dafür mit dem Tod ihrer Kinder.” Siehe: Gerold Theobald in: Berg 1988, 119. 42

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seiner jahrtausendelangen Beständigkeit gerecht zu werden, die aus der kraftvollen Verbalisierung aporetischer Grenzsituationen des menschlichen Lebens herrührt.47 Niobes Tragik enthüllt aber für Berg eine fundamentale Problematik der gegenwärtigen Gesellschaft: die Alltagsrealität narzisstischer Ich-Besessenheit, jenen Egoismus, in dem Berg die moderne Entsprechung archaischer Selbstvergöttlichung erkennt.48 Wie bereits gesagt: Es ist nicht sicher, ob der Dramatiker Burkerts Homo Necans zur Zeit der Abfassung seiner Tragödie gekannt hat. In seinem kalten “Theater”, das die Brechtsche Tradition fortsetzt und statt Handlung und Ereignis die Reflexion in den Mittelpunkt stellt,49 spielt das Ritual als Urereignis nur in Bezug auf seine Verarbeitung im Mythos eine zentrale Rolle: Der Mythos ist eine erläuternde Instanz, wie es Berg auch durch Burkerts Werk vermittelt wissen konnte. Wenn man nun aus der Perspektive der Religionswissenschaft von Kerényi und Burkert zusammenfassend auf die modernen Formen des Niobe-Mythos zurückblickt, so lässt sich festhalten: Der Niobe-Mythos erzählt vom dunklen, rational nicht genügend zugänglichen Verhältnis von Mensch und Gott, was ansonsten das große Thema des antiken Dramas bildet. Sogar der Religionsforscher muss seine Verlegenheit bekennen, wenn er davon spricht, dass dieser Mythos nur scheinbar von menschlicher Verfehlung und göttlicher Rache erzählt. Kerényi neigt dann zur Ansicht, dass es sich hier um die nicht völlig erklärbare Manifestation göttlicher Gewalt handele, deren ästhetische Darstellung zur Stärke griechischer Kunst gehört. Aus Burkerts Gesamtkonzept und aus seinen spärlichen Anmerkungen zum Mythos darf man vielleicht die Konsequenz ziehen: Burkert hält keinen Mythos für tragisch, der nicht mit einem Opferritual in Verbindung steht. Vielleicht wollten Tieck und Berg diese, für die dramatische Bearbeitung sicherlich als Hindernis empfundene Eigenart der Fabel korrigieren. Der Romantiker wollte eine Verbindung mit dem Adonis-Mythos und mit dem tragisch wirksamen 47

Burkert 1983, 24; Burkert 1979, 23, 25. Wir versuchten nachzuweisen, dass die früheren Interpretationen des Bergschen Dramas nicht haltbar sind. Neben den angeführten Kritiken will ich noch zuletzt Volker Riedels Handbuch erwähnen. Riedel ist der Auffassung, dass Bergs Niobe die nicht emanzipierte Frau darstelle, die unfähig sei, mit den Spielregeln der Männerwelt zu brechen; siehe Riedel 2000, 366. 49 Zum Begriff des “kalten Theaters” siehe Marx 2003, 172, 176-177. 48

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Trauerritual konstruieren. Der moderne Autor setzte dagegen das Menschenopfer des Tantalos an den Anfang der inszenierten tragischen Begebenheit und ließ seine Tetralogie (goethisch) mit dem Widerruf des Menschenopfers durch die taurische Iphigenie enden. Bereits wegen solcher verwickelten Lösungen sind alle diese dramatischen Werke, wie ich zeigen wollte, problematisch.50 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben die Dramatiker im Mythos kritisch das Zerrbild der Religion überhaupt wahrgenommen. So wurde Niobe selbst als heldenhafte Rebellin gegen die göttliche Gewalt und Ungerechtigkeit auf die Bühne gestellt. Die Romantiker waren die ersten, die die Frauenproblematik in der Fabel hervorgehoben und in der Figur der Hauptheldin Glück und Katastrophe weiblicher Sexualität dargestellt haben. In der Spätmoderne wird der Mythos als Geschichte extremer, kalter Ich-Befangenheit erzählt und aus der schweren Erfahrung des Zeitgeschehens heraus inszeniert. So konnte eben Bergs Mythenlektüre, die sicherlich nicht zu den besten Tragödien der 1980er Jahre gehört, zeigen, dass in der Tragik moderner Individualität, die eigentlich am weitesten von der Antike entfernt zu sein scheint, sich zwangsweise die Tragik der Tantaliden wiederholt. Sein Werk führt, trotz seiner Schwächen, einen spannenden Diskurs mit der Religionswissenschaft der 1980er Jahre, die durch Burkerts Werk geprägt ist.

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Burkert hat plausibel gezeigt, wie das Heroische in untragischen Zeiten zum Absurden wird. Ähnlich verhält es sich vielleicht auch mit Mythen auf der modernen Bühne, die in ihrem Kern untragisch sind. Die Absurdität des Niobemythos konnte aber anscheinend den künstlerischen Darstellungen zugute kommen: Die schöne und innerlich unwandelbare Heroine durfte als erstarrte Trauerfigur ihre wahre tragische Würde zurückgewinnen und als Pathosfigur des unermesslichen Schmerzes sogar zur Selbstspiegelung der Bildhauerei werden.

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Eva Kocziszky

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WOLFGANG BRAUNGART Walter Burkert. Kulturtheorie und Poetik der Tragödie. Sophokles, Philoktet, Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame, Heiner Müller, Philoktet*

I. Was ist der Mensch? Oder: Plädoyer für große Fragen in der Wissenschaft Warum es denn überhaupt Wasser gäbe, hörte ich neulich einen kleinen Jungen im Schwimmbad seinen Vater fragen. Das ist eben so, das kann ich dir auch nicht sagen, antwortete ein sichtlich resignierender Vater seinem sichtlich enttäuschten Sohn. Was hätte der Vater aber auch sonst sagen sollen? Der Mythos stand ihm offensichtlich nicht mehr zur Verfügung. Dort hätte er leicht Antworten gefunden. Zum Beispiel die, dass aus dem Wasser alles Leben hervorgegangen sei. Oder dass die Gewässer schon in den altindischen Veden als ‘die Mütterlichsten’ gelten. Oder dass der Ordnung schaffende Geist Gottes am Anfang der Welt über den chaotischen Wassern geschwebt habe.1 Warum fließt ‘eigentlich’ Strom, wenn man eine Spule in einem Magnetfeld dreht? Warum ziehen sich Massen an? Was genau ist Erdanziehung, was genau elektrische Spannung? Mit physikalischen Formeln beschreiben wir diese Phänomene mathematisch. Aber was erklären die Formeln? Kindern gestehen wir diese Warum- und Was-ist-eigentlichFragen noch zu. In der Wissenschaft vermeidet man sie aber tunlichst, weil man auf sie doch nur spekulative Antworten geben kann. Trotzdem vermögen sie unser Denken voranzutreiben, indem sie kühne Modellbildungen und weitreichende Theorien provozieren und so vielleicht auch * Ich danke für freundliche Hilfe, kritische Lektüre und viele Anregungen: Jan Andres, Anton Bierl, Charis Goer, Lothar van Laak, Irina Mastizkaja, Markus Pahmeier, Giulia Radaelli, Thomas Schirren. Danken möchte ich auch den Mitgliedern des SFB 584 “Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte” an der Universität Bielefeld, an dem ich seit vielen Jahren mitarbeite und aus dessen Fragestellungen und Diskussionen ich viele Anregungen bekomme. 1 Vgl. die knappe Übersicht bei Butzer/Jacob 2008, 414-415; vgl. auch Böhme 1988.

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helfen, graue Vorzeiten aufzuhellen und unserer Reflexion zugänglich zu machen. Das zu können, ist eine Gabe, kein Mangel. Ein paar Refugien für diese Warum-Fragen und für die ‘großen’ Antworten darauf gibt es freilich doch. Im wissenschaftlichen Diskurs zum Beispiel sind es die theoretische Physik und die Astro-Physik. Dort spricht man derzeit von so seltsamen Phänomenen wie ‘Antigravitation’ oder ‘dunkle Energie’. Außerhalb der Wissenschaft sind solche Refugien Literatur und Religion. Große Fragen und große Antworten sind ihre eigentlichen Domänen. In den Künsten und ihren Wissenschaften ergeben sich aus diesen großen Fragen, die im strengen Sinn unwissenschaftlich sind, weil die Antworten auf sie in der Regel dem Kriterium prinzipieller Falsifizierbarkeit nicht genügen können, womöglich doch heuristisch interessante Modelle für unsere Aufmerksamkeit, die etwas verstehen will. Wie fing ‘alles’ an? Woher kommt ‘eigentlich’ der Mensch und warum gibt es ihn überhaupt, das wohl aggressivste und destruktivste Lebewesen auf dieser schönen Erde, das für einen Irrläufer einer überhaupt verfehlten Schöpfung zu halten nicht unbedingt ein origineller Gedanke ist. Gnostische und radikal kulturkritische Strömungen haben ihn immer wieder formuliert; Literatur und Kunst der Moderne äußern ihn oft. Das kann sogar zu anthropologischen Positionen führen, die das “Ende des Anthropozentrismus” ausrufen und nach ‘transhumanen’ Perspektiven suchen.2 Unser Sinn-Bedürfnis treibt genau solche Fragen hervor, die aufs Ganze gehen, Fragen auch nach dem Dunklen und Gefährlichen. Die Evolutionstheorie, die derzeit in den Geistes- und Kulturwissenschaften auf großes Interesse stößt,3 kennt dagegen die Kategorie des Sinns nicht. Für die biologische Evolution kann der Mensch kein Irrläufer sein; für sie gibt es ihn einfach nur nach ihrer eigenen inneren Logik von Variation und Selektion. Die Warum-Fragen haben darin keinen Platz.4 Wir können aber doch nicht einfach von ihnen lassen. Schon immer hatten die Künste das Privileg zur großen Frage und umfassenden Antwort: “Ungeheuer ist viel, und nichts / Ungeheurer als der Mensch”. Der Chor in Friedrich Dürrenmatts Tragikomödie Der Besuch der alten Dame von 1956 echot so auf den sophokleischen Chor.

2

Vgl. jetzt Streim 2008. Vgl. etwa Eibl 2004; Eibl/Mellmann/Zymner 2007; die in den USA viel weiter vorangetriebene Diskussion wird in beiden Bänden aufgenommen. 4 Zu diesem Problem Braungart 2007a. 3

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“Ungeheuer ist viel”, ja, eigentlich alles: von den “gewaltigen Erdbeben” bis zum “sonnenhaften Pilz der Atombombe” und bis zur menschlichen “Armut” – die ganze Natur, die ganze Menschengeschichte samt ihrer Kultur, die ganze soziale Welt.5 Schon bei Sophokles geht der Chor aufs Ganze. Er setzt ein bei den großen, grundlegenden Kulturpraktiken: dem Ackerbau einerseits (cultura), der Jagd andererseits. Wenn man die Anfänge menschlicher Kultur verstehen will, muss man beide Praktiken zu verstehen suchen. Es ist, um gleich noch ein anderes literarisches Beispiel zu nennen, eine besondere Qualität von Thomas Manns großem Roman Joseph und seine Brüder (1933-1943), dass er diese Kulturreflexion ständig mit betreibt. Das gemeinsame Jagen, das das Fleischessen ermöglicht, stellt auch für Walter Burkert einen entscheidenden Schritt in der Gattungsgeschichte des Menschen dar.6 Der mögliche Aktionsradius steigt; viele Kalorien und viel Eiweiß können in viel kürzerer Zeit erworben und aufgenommen werden, als in einer reinen Sammlerkultur. Nicht nur stellt die Jagd selbst eine in praktischer, technischer und sozialer Hinsicht komplexe und differenzierte Kulturleistung dar. Jetzt werden durch diese Form des Nahrungserwerbs auch zeitliche Ressourcen frei für andere Kulturleistungen. Die modernen Geschichts- und Kulturwissenschaften propagieren gerne und schon lange das Ende der großen ‘Erzählungen’. Nebenbei: ‘Erzählung’ ist ein in diesem Zusammenhang schwieriger und meist überdehnter Begriff. Sie propagieren also das Ende der umfassenden – religiösen, mythischen, metaphysischen, geschichtlichen – Antwortversuche, die beanspruchen, viel, wenn nicht alles, zu erklären. Die Bestreitung des Sinns der ‘großen Erzählungen’ ist natürlich selbst eine ‘große Erzählung’, weil sie ja ebenfalls aufs Ganze geht. Dieser performative Selbstwiderspruch, der alle radikal relativistischen Positionen ereilt, ist im Hinblick auf ihren Geltungsanspruch kein marginales Problem. Die Literatur lässt sich die ‘großen Erzählungen’ zum Glück bis heute nicht nehmen. Walter Burkerts Kulturtheorie und seine daraus hervorgehende Theorie der Tragödie ist eine solche ‘große Erzählung’ mit einem großen Auslegungspotential.7 Auch Burkert will eine der großen Fragen, ja vielleicht 5

Dürrenmatt 1956, 98. Burkert 1972, 26. 7 Welche Impulse von Burkert für die Erforschung der antiken Tragödie ausgehen, macht im vorliegenden Band vor allem der Beitrag Susanne Göddes deutlich; sie betont ebenfalls den theoretisch-heuristischen Charakter von Burkerts Konzept des Opfers. 6

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die große Was-Frage beantworten: Was ist ‘eigentlich’ der Mensch? Und er beantwortet sie, indem er sowohl die verschiedensten vor- und frühgeschichtlichen, als auch antiken Quellen zum Sprechen bringt, so: Der Mensch ist ein Homo Necans. Das ist aus meiner Sicht die zentrale These von Burkerts gesamtem Werk, sein Dreh- und Angelpunkt.8 Dahinter versteckt sich im Grunde die Frage: Was ist und woher kommt das Dunkle, das Gefährliche, das Böse, das Mysteriöse, das wir so offensichtlich in uns haben? Und wie können wir es einhegen, bändigen, ‘kultivieren’? Burkert betreibt, sozusagen, basale Kulturhermeneutik. Wie alle Hermeneutik hat auch diese ihren (wissenschafts-)geschichtlichen Ort;9 sie revidiert nämlich von Grund auf die ‘große’ klassizistische ‘Erzählung’ von der griechischen Antike. Sie ist selbst große hermeneutische Kunst im Sinne Schleiermachers, insofern sich Burkerts Gesamtinterpretation aus den vielen genau registrierten und erläuterten Einzelbefunden nicht mit zwingender und unbezweifelbarer Notwendigkeit ergibt, sondern aus der gestaltenden, synthetisierenden Kraft des Interpreten.10 Plausibilität muss die Interpretation natürlich dennoch beanspruchen können. Aber der Schritt zur Gesamtinterpretation, zur Gesamtdeutung ist nur begrenzt methodisierbar in einer etwa den Natur- und Sozialwissenschaften vergleichbaren Weise. Burkert stellt und beantwortet seine große Frage freilich als Wissenschaftler von weit ausgreifender Gelehrsamkeit, der Forschungen ganz verschiedener Disziplinen heranzieht. Das macht seine Argumentationslinien, seine Thesen und, wenn man so will, seine Mythen zu einer besonderen Herausforderung für die gesamten Altertumswissenschaften und über sie hinaus. Er stellt und beantwortet seine große Frage nicht nur mit den Groß-Theorien von Konrad Lorenz und der Soziobiologie,11 sondern auch mit denen Nietzsches und Freuds im Gepäck,

8

Burkert 1972. Den Anton Bierl im einleitenden Essay zu diesem Band skizziert. 10 Man spricht deshalb bis heute zu Recht von der ärztlichen ‘Kunst’; sie ist ein besonderes ‘Vermögen’ und zwar nicht nur in technisch-handwerklicher Hinsicht, sondern auch deshalb, weil der Arzt aus den Indizien und Symptomen in einer synthetischen Verstehensleistung auf die ursächliche Krankheit schließen muss. Es gab auch einmal eine Literaturwissenschaft, die ihre höchste Leistung in der ‘Kunst der Interpretation’ gesehen hat. 11 Vgl. dazu besonders Burkert 1998. Zur Soziobiologie Wilson 1980; Voland 2007; Voland 2009. 9

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ohne das selbst unbedingt betonen zu wollen.12 Nicht zuletzt dieser implizite Nietzscheanismus bzw. Freudianismus macht ihn für die neueren Philologien anziehend, weil sie von beiden, wie die moderne Literatur selbst, bis in ihre Tiefenstruktur hinein geprägt sind.13 Burkerts Kraft zur wissenschaftlichen Synthese unter dem Leitgedanken des religiösen Opferrituals findet ihr besonderes Recht in der synkretistischen Kraft und Dynamik des religiösen Rituals selbst. Gerade die religiösen Prozesse, Bewegungen und Gruppenbildungen der griechischen Antike zeigen, wie Religion hier nicht Lehrgebäude bzw. System ist, sondern performative Praxis, wie sie sich ständig verändert, an neue Bedingungen anpasst, neue religiöse Tendenzen aufgreift, integriert, umformt.14 Der synkretistische und geheimnisvolle Grundzug antiker Religionen und religiöser Rituale macht sie für die mythenkritische und zugleich so sehr von Mythen und Mysterien aller Art faszinierte Epoche der späten, selbst synkretistischen Aufklärung interessant.15 Die Geheimbünde und Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts vollziehen in ihren Ritualen das Geheimnis.16 Am Geheimnis kann sich Gemeinschaft bilden und nach außen abgrenzen, weil sie es nur für sich haben. Gemeinsam zu jagen und zu töten, die Beute so zugänglich zu machen, wie es der sozialen Hierarchie der jagenden Gruppe entspricht, ist zwar kein privilegiertes Verhalten des Homo Sapiens. Kein Lebewesen außer dem Menschen scheint aber zu dieser Form des Tötens als einer von ihm bewusst und gezielt verursachten Beendigung des Lebens irgendein wahrnehmbares, bewusstes Verhältnis zu entwickeln und in Formen des Religiösen zu gestalten. Das ist, wie es aussieht, eine kulturelle Universalie.17 Differenzierte Jagdrituale, so antiquiert sie einem heutigentags vorkommen mögen, sind Zeichen dieses bewussten und damit, so Burkert, schwierigen Verhältnisses zum Jagen und Töten. Es gibt diese Rituale

12

Zur Nähe Burkerts zu Nietzsche und Freud vgl. die Einführung Anton Bierls im vorliegenden Band und Most 1990, 10. 13 Material hierzu bei Hillebrand 1978; Meyer 1993; Ottmann 2000. 14 Vgl. Burkert 2003; im vorliegenden Band vor allem den Beitrag Albert Henrichs; als große Übersicht vgl. Bruit Zaidman/Schmitt Pantel 1994; Bremmer 1996. 15 Vgl. dazu im vorliegenden Band vor allem den Beitrag Jan Assmanns. 16 Vgl. Reinalter 1983; zur literarischen Gestaltung von Geheimbünden und Geheimgesellschaften im 18. Jh. vgl. Voges 1987. 17 Vgl. bes. Burkert 1998, Kap. I. Zur Frage kultureller Universalien vgl. Antweiler 2007.

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bekanntlich nach wie vor, auch in den spätmodernen Gesellschaften.18 In der Debatte um die Fuchsjagd, von der die Hubertus-Brüder und -Schwestern nicht lassen wollen, kann sich sogar noch die englische Gesellschaft von heute polarisieren. Jagen und Töten braucht und erzeugt offenbar ein besonderes Gemeinschaftsgefühl,19 das wiederum den Einzelnen schützt und ihm in seinem Überleben nützt.20 Das Beutetier ist gleichsam der gemeinsame Feind, der die Jäger zur Gruppe vereint. Man könnte von Burkerts Theorie aus sogar einen großen Bogen zur Staatstheorie Carl Schmitts schlagen, und das wäre im Hinblick auf Heiner Müllers Drama Philoktet, um das es später noch kurz gehen soll, gewiss nicht unsinnig. Es hat auch seinen prähistorischen, tiefen anthropologischen Grund, dass die antike Philosophie behaupten kann, der Mensch sei von Natur aus auf die Gemeinschaft bezogen, sei ein ‘politisches’ Wesen. Soziale Gruppen brauchen Wir-Gefühle; gemeinsame Interessen allein stabilisieren sie nicht hinreichend. Deshalb sind die Wir-Gefühle aber nicht von vornherein wertvoller als die Interessen.21 In der Aggression nach außen sozialisiert sich der Mensch nach innen. Die unendliche, nicht abreißende Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen bezeugt auch dies; und der Besuch eines Fußballspiels am Wochenende lehrt es ebenfalls. Walter Burkert hat bei seiner Interpretation prähistorischer Zeugnisse des Jagens, Tötens, Opferns großartige hermeneutische Intuition bewiesen. Das Opfer ist für ihn der zentrale Ritual-Typ; es ist das Ritual, an dem er seine Anthropologie und Kulturtheorie vor allem entwickelt.22 Dass Burkert die menschlichen Gefühle in ihrer Ambivalenz und Komplexität als kulturschaffende Kraft so stark betont, ist eine eigene originäre Leistung, die heute von der neurobiologischen und neuropsychologischen Forschung kräftigste Unterstützung bekommen könnte. Nichts tun wir, ohne dass unsere tiefen, unserem Bewusstsein nicht voll zugäng-

18

Vgl. Prinz 2006. Um einmal ein Beispiel aus der populären Kultur zu nennen: Man lese nur ein Heft von Asterix und Obelix! 20 Burkert 1990a, 24-25. 21 Das ist im Hinblick auf Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen wertebasierter Gemeinschaft und interessenbasierter Gesellschaft gesagt, die von vornherein einen unseligen kulturkritischen Einschlag hatte. 22 Vgl. dazu im vorliegenden Band vor allem die Beiträge Anton Bierls und Susanne Göddes. 19

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lichen Emotionen dabei im Spiel wären. Jeder kann das nachvollziehen, der schon einmal einen unangenehmen Arztbesuch oder Behördengang endlos und mit allen möglichen windigen Argumenten hinausgezögert hat. Unser Gefühl der ‘Lust und Unlust’ präformiert, so Kant, unser ästhetisches Urteil. Er initiiert so die moderne Subjektivierung der Ästhetik. Kern moderner Religiosität ist das religiöse Gefühl; so Schleiermacher, der Begründer der modernen Theologie. Genau darauf zielt auch der Religionsphänomenologe Rudolf Otto, für den das Heilige eine ‘faszinierende’ und zugleich ‘Furcht erregende’ Erfahrung darstellt.23 Die Eindringlichkeit und Emphase, mit der sich Burkert über prähistorische Opfer-Rituale äußert, spricht ihnen eine emotionale Qualität zu, die man vielleicht sogar modern als Flow-Erlebnis beschreiben könnte.24

II. Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame In Friedrich Dürrenmatts Drama Der Besuch der alten Dame, das für das deutsche Nachkriegstheater zentral ist und ästhetisch viel differenzierter, als es auf den ersten Blick und nach seinen jahrzehntelangen guten Diensten im Deutschunterricht vielleicht scheinen mag, vereinen sich die Güllener zu homines necantes, zu einer Jägergemeinschaft. Sie besänftigen ihr schlechtes Gewissen, das sie haben, weil sie in ihrer ökonomischen Gier mit dem Kaufmann Ill sogar einen der ihren, einen ihrer Art töten wollen, indem sie diesen Mord zum Opferritual stilisieren. Diese rituelle Stilisierung zeigt sich etwa im litaneihaften Wechselgesang zwischen Bürgermeister und Gemeinde am Schluss des Dramas. So legt diese heruntergekommene Gesellschaft selbst (Güllen – Gülle) ihre prähistorischen anthropologischen Grundlagen bloß. Über ihre archaische ‘mimetische Gier’ (René Girard) ist sie nie wirklich hinausgekommen. Die zivilisatorische Decke ist ganz dünn, trotz aller Bildung. Das Drama spielt ständig auf die klassische humanistische Bildung25 und die vermeintliche Güllener ‘Humanität’ an. Die Güllener, die mit ihrer Humanität protzen, lassen sich dennoch durch das Versprechen der Rachegöttin Claire, eine

23 Auf die Nähe Burkerts zu Otto weist auch Susanne Gödde in ihrem Beitrag zu diesem Band hin. 24 Vgl. Csikszentmihalyi 1985. 25 Vgl. Piedmont 1991.

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Milliarde für den Mord an Ill zu zahlen, zum kollektiven Mord provozieren.26 Diese Groteske ist tatsächlich eine Tragödie, aber eine moderne. Darauf hebt auch Dürrenmatts Nachbemerkung ab: “Sein [Ills] Tod ist sinnvoll und sinnlos zugleich. Sinnvoll allein wäre er im mythischen Reich einer antiken Polis, nun spielt sich die Geschichte in Güllen ab. In der Gegenwart.”27 Das Groteske stellt das Tragische des Geschehens erst ins grellste Licht. “Keine Größe, keine Tragik”, sagt zwar Claires ‘Gatte VIII’. “Es fehlt die sittliche Bestimmung einer großen Zeit.”28 Der ‘großen Zeit’ ihrer eigenen Gegenwart wohl. Aber für Ill, den Einzelnen, gilt das nicht. Ill ist ein tragischer Held, weil er sich zu seiner Individualität bekennt, und das heißt: weil er seine individuelle Schuld sieht, annimmt und so moralische Autonomie und Größe erlangt. Nur vom Individuum aus könnte sich, wenn überhaupt, das ‘Ganze’, die Gemeinschaft, die Geschichte, weiterentwickeln. Dürrenmatt ist, man spürt es auch hier, einer der großen Moralisten der Nachkriegsliteratur. Es kann eine Tragödie nach dem ‘Tod der Tragödie’ geben,29 auch unter den Bedingungen der christlichen Epoche; und dieser ist Dürrenmatt noch zutiefst verpflichtet. Sie ist für ihn noch nicht an ihr Ende gekommen, so düster seine Diagnosen sind. In der Geschichte der europäischen Gattung der Tragödie30 bringt die Durchsetzung des Christentums eine grundlegende Zäsur. Die Gattung verstummt während des Mittelalters und so lange, bis sie das Politische und, später, das Geschichtliche als Wirklichkeiten eigenen Rechts und eigener Gesetzlichkeit wieder für sich entdeckt und bis die theologische Herausforderung an ihr wahrgenommen wird: also in der Frühen Neuzeit. Nun ist die Spannung zwischen individueller, durch das individuelle Gewissen verantworteter Handlung und, womöglich, Schuld einerseits und den Ansprüchen des Gesellschaftlichen, Politischen bzw. Geschichtlichen andererseits die grundlegende Konstellation der Gattung. Nun sind wieder tragische Konflikte möglich, weil es

26

Vgl. hierzu ausführlicher Braungart 2001; Braungart 2007b; außerdem Knopf 1976; Knapp 1980; Whitton 1994; Große 1998 (mit vielen weiteren Literaturhinweisen); Mayer 1981. 27 Dürrenmatt 1956, 102-103. 28 Dürrenmatt 1956, 55. 29 Vgl. Steiner 1962. 30 Vgl. Zimmermann 2000; Frick 2003.

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unterschiedliche normative Horizonte gibt.31 Das große Leid allein, das schreckliche Unglück: Sie sind schlimm, vielleicht sehr berührend, vielleicht empörend – aber nicht notwendig tragisch. Die Tragödie ist zwar die einzige Gattung, für die konstitutiv ist, dass hier von Menschen gehandelt wird, die großes Leid erfahren. Aber die dramatische Darstellung von großem Leid allein macht noch keine Tragödie. “Mein Gott, was sollen wir tun?”, fragt der Arzt bei Dürrenmatt. Die Frage muss man ernst nehmen, so ironisch sie wirkt. Kein Gott, kein Orakel gibt eine Antwort. Die Güllener müssten sie also selbst geben können. Auf die Frage des Arztes antwortet der Lehrer, der für diese humane Kompetenz der Güllener, die sie selbst beanspruchen, in besonderer Weise zuständig sein müsste: “Was uns das Gewissen vorschreibt, Doktor Nüßlin”.32 Nur müsste man dazu auch eines haben. Claire, die Milliardärin, diese Allegorie des Kapitalismus, kann deshalb ihre Antwort den Güllenern geben: Bringt mir das Opfer Ill, und ihr werdet leben. Der Eine soll getötet werden, damit alle (weiter-)leben können. Dürrenmatt selbst nennt diese Tragödie eine ‘tragische Komödie’, und dies mit vollem Recht, weil sie die tragische Konstellation ausstellt, vorführt, durchspielt, ins Groteske hinein steigert. In den sensationsgierigen Presse-, Rundfunk- und Filmteams, die gegen Schluss der Handlung auftreten, unmittelbar vor dem kollektiv vollzogenen Mord an Ill, wird, hochironisch, das Zeigen selbst gezeigt.33 ‘Naive’ Teilhabe am tragischen Geschehen ist nicht vorgesehen und kaum möglich. Dürrenmatt hat selbst betont, dass der Ungeheuerlichkeit einer Welt, die nur noch existiere, weil die Atombombe existiere und für ein Gleichgewicht des Schreckens sorge, nur noch die Komödie beikomme. Poetologisch folgt er damit einer Linie der Moderne, die die grundsätzlichen Differenzen zwischen der Gattung der Tragödie und der Komödie auflöst.34 An Dürrenmatts Stück lässt sich viel von dem verdeutlichen, was Burkerts These vom Homo Necans auch noch für eine Tragödienpoetik der Moderne so produktiv machen kann und inwiefern es sinnvoll ist, sie durch die Opfertheorie René Girards zu ergänzen. Für das Verständnis des 31

Vgl. Lurje 2004; Braungart 2007b; Braungart 2008. Nicht unter dem Gesichtspunkt des Subjektkonzeptes, sondern der Erlösung thematisiert Eva Bartsch das schwierige Problem; vgl. Bartsch 2000. 32 Dürrenmatt 1956, 69 (meine Hervorhebung). 33 Dürrenmatt 1956, 76, 89-97. 34 Vgl. Menke 2005, 134-152; Bohrer 2009, 141.

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Opfers in der europäischen Literatur der Neuzeit lohnt es sich, Burkerts und Girards Konzepte gemeinsam heranzuziehen, weil prä- und frühhistorische Verständnisse des Opfers häufig durch jüdisch-christliche Opferkonzepte überformt werden.35 Zwei Beispiele; zuerst Lessing: In seiner berühmten und vertrackten Ringparabel, zentral für sein letztes Drama Nathan der Weise (1779), bricht die mimetische Konkurrenz zwischen den drei Söhnen mit dem Tod des Vaters los. Nein, ermordet wird er nicht; aber ganz passend kommt der Tod dann doch. Denn sterben muss der Vater schon, damit die Söhne an diesen großartigen Ring herankommen, der den Träger vor Gott und den Menschen so “angenehm”, so einzigartig machen soll – ohne wirkliches eigenes Zutun, außer der “Zuversicht”, mit der er zu tragen ist. Man könnte vielleicht auch sagen: voll Selbstvertrauen im Wissen um den hohen, privilegierten Sozial-Status, den der Träger des Ringes nun besitzt. Alle drei Söhne meinen, den ‘rechten’ Ring zu besitzen, weil der Vater jedem einen äußerlich mit den beiden anderen völlig identischen Ring gegeben hat. Und es beginnt der Streit. Den vermag der ‘weise Richter’, der angerufen wird, dadurch zu schlichten, dass er die Söhne auffordert, die mimetische Rivalität in innere Charakterformung und dann in eine nach außen gerichtete, positive kulturelle, soziale und religiöse Energie umzulenken: ‘Sanftmut’, ‘Verträglichkeit’, ‘Wohltun’, ‘innigste Ergebenheit in Gott’, darum sollten sie sich selbst bemühen. Ihre eigene Anstrengung werde dann zeigen, dass sie den Ring zu Recht trügen. In der mimetischen Rivalität steckt also eine produktive kulturelle Kraft, die den Sündenbock nicht mehr braucht. Die Ring-Träger können, wenn sie nur wollen, alles selber. Bei allen skeptischen Relativierungen, die Lessing in die Parabel und das ganze Drama einbaut: Diese Geschichte kommt wirklich mitten aus dem 18. Jahrhundert, mitten aus der Epoche der Aufklärung. – Das andere Beispiel: Hugo von Hofmannsthals großartiges Gespräch über Gedichte von 1903 (Erstdruck 1904) entwickelt seine Lyrik-Theorie, die eigentlich eine Symbol-Theorie ist, aus der Urszene eines Opfers heraus, das unübersehbar dem Opfer Abrahams nachgebildet ist. Das Gespräch läuft auf eine Poetik der Real-Symbolik hinaus. So wie Abraham im Opfer des Widders zwar ein stellvertretendes und doch wirklich gültiges Opfer 35 Zum Opfer vgl. Janowski/Welker 2000; Schenk 1995; literaturgeschichtlich Brittnacher 2001; Malsch 2007; Braungart 2005. – Die Verbindung von griechischem logos und christlicher Religiosität ist für Silvio Vietta Leitfaden seiner europäischen Kulturgeschichte, in der die griechische Tragödie eine besondere Rolle spielt: Vietta 2005.

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vollziehe und insofern dessen Stellvertreter-Charakter vergessen mache, müsse das poetische Symbol seinen Symbol-Charakter gleichsam vergessen machen und damit eine eigene Wirklichkeit schaffen. Das könnte man eine poetische Transsubstantiationslehre nennen.36 – Girards Kulturtheorie ist – wie die Burkerts – heuristisch-hermeneutisch höchst produktiv. Dürrenmatts Güllener schließen sich in der Aggression zur Gemeinschaft neu zusammen. Sie eröffnen die Jagd auf Ill, weil sie so an die versprochene Milliarde heranzukommen hoffen, die ihnen ihr Überleben in ihrem völlig heruntergekommenen Kaff sichern soll. Ihre Aggression trägt für Ill tatsächlich Züge einer Jagd. Eine Ahnung, ein erstes Bewusstsein von Schuld über ihre Tat, die sie an diesem ‘Beutetier’ verüben, befällt die Güllener Gemeinschaft dabei durchaus selbst. Deshalb interpretieren sie ihre Jagd auf Ill zu einer Art Opferritual im Dienste der Gerechtigkeit um, deren Sachwalter zu sein sie beanspruchen. Dieses Opfer erscheint als ritualisierte “Todesbegegnung”, als “Tötungshandlung, die doch den Fortbestand des Lebens” der Güllener “verbürgt”.37 Das alles ist ‘ironisch’;38 es ist, wie gesagt, groteskes Spiel.39 Der Bürgermeister beschwichtigt Ill, indem er darauf verweist, man lebe “schließlich in einem Rechtsstaat”.40 Später will er Ill “dem Gemeindegericht unterziehen”.41 Dieser heuchlerische Versuch der Verrechtlichung liest sich wie eine Parodie auf König Oedipus des Sophokles. Dort wird, wie Christoph Menke vor kurzem eindrucksvoll gezeigt hat, gerade durch Oedipus’ Versuch einer vernünftigen Aufklärung und Verrechtlichung, die der König Thebens mit großer Konsequenz betreibt, die tragische, schuldlose Schuld des Helden offenbar; aus ihr geht sein Untergang hervor.42 Hier aber, bei Dürrenmatt, wird in der angemaßten und anmaßenden Repräsentanz von Recht und Gesetzmacht durch den Bürgermeister nur umso deutlicher, worauf Güllens Rechtsordnung und “Humanität” tatsächlich beruhen: auf nichts als mimetischer Gier und archaischer Gewalt. Der Zuschauer sieht das alles; es ist 36

Einige weitere Überlegungen hierzu in Braungart 1996, bes. 108-118, 241-246. Burkert 1972, 326. 38 Im Sinne einer ästhetischen Brechung, nicht des rhetorischen Tropus. 39 Grundsätzlich zur tragischen Ironie des Spiels der Tragödie: Menke 2005; für die attische Tragödie aber schon Bierl 1991. 40 Dürrenmatt 1956, 52. 41 Dürrenmatt 1956, 81. 42 Vgl. Menke 2005, Teil I. 37

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Spiel, nicht Opferritual. Der durch die Ästhetik des Komischen und Grotesken ausgestellte, vorgeführte Spielcharakter durchbricht den Bann des rituellen Kultspiels und bleibt doch auf ihn bezogen.43 All das löscht die tragische Kraft des Stückes aber nicht aus.44 Grundsätzlich löschen das ästhetische Spiel, ästhetische Reflexivität und ästhetische Ironie die ästhetische Erfahrung von Evidenz und Gültigkeit des Gezeigten nicht notwendig aus, jedenfalls solange nicht, wie ein Übermaß vermieden wird. Man könnte sagen: solange das Theatrale nicht ins Theatralische umkippt. Das kann man sich auch am sozialen Miteinander klar machen: Eine gewisse witzige und lebendige Ironie kann die gesellige Kommunikation durchaus steigern. Den Dauerironiker hält aber keiner aus; er wirkt sozial irgendwann destruktiv, weil die Kommunikation nie einen Grund gewinnt. Der theatralische Ironiker erscheint nicht mehr als Subjekt, sondern nur noch als Spieler. Unter den neueren Dramatikern hat diese Notwendigkeit gezeigter ästhetischer Reflexivität keiner so konsequent theatral und theoretisch ausformuliert wie Brecht. Weil er beim Zuschauer die identifikatorische Erfahrung des unmittelbar Angesprochenseins, die kathartische Wirkung in der Tradition Lessings als Empfindung eines reflexionslosen Mitleids in jedem Fall vermeiden will, entwickelt er die Tragödie zum Lehrstück – so in Die Maßnahme von 1930 – oder zum ‘Modell’ – so in seinem AntigoneModell von 1948. Noch einmal zurück zu Dürrenmatts Stück: Ill allein tritt aus dem grotesken Kontinuum materieller Gier heraus. Alle andern sind “zu schwach”, wie bezeichnenderweise der Repräsentant der Religion und also ‘Spezialist’ für das Ritual bekennt, der Pfarrer, der Ill deshalb auffordert zu fliehen.45 Ill arbeitet sich im Laufe des Stückes zu immer klarerer Erkenntnis der wahren Motive und sozialen Mechanismen der Güllener Gesellschaft, aber auch seiner selbst durch und wird gerade so zur tragischen und poetisch-ästhetischen Reflexionsfigur der Tragödie. Er ist, wie 43

Dass das Tragische durch das Spiel des Tragischen nicht ausgelöscht wird, ist Kern der Studie Christoph Menkes; und es ist ihm völlig zuzustimmen. 44 Vgl. zu diesem Problem schon Bierl 1991; Menke 2005, Teil II. 45 Dürrenmatt 1956, 57: “Flieh! Wir sind zu schwach, Christen und Heiden. Flieh, die Glocke dröhnt in Güllen, die Glocke des Verrats. Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst.” Dürrenmatt lässt sie alle auftreten: Lehrer, Bürgermeister, Pfarrer: die drei Repräsentanten der ‘staatstragenden’ Institutionen – Bildung; Recht, Gesetz, Verwaltung; Religion.

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sein Name schon sagt, symbolisch für alle der ‘Kranke’. Indem er moralisch stigmatisiert wird, wird er als Opfertier legitimiert. – Welche Rolle die Umdeutung des Bockes zum Opfertier in archaischen Ritualen spielt und welche Schuldgefühle daraus sprechen, dass der ausgesondert werden soll und muss, der für den Erhalt der Herde und damit des Lebens der Gemeinschaft nicht mehr genug taugt, hat Burkert immer wieder eindringlich gezeigt. Kann man solche Ambivalenzen nicht auch durch manche Debatten um das Altern unserer Gesellschaft heute hindurchhören? Heute diskutieren wir, welche Bedeutung und welche Konsequenzen es für unsere Gesellschaft hat, dass sie immer älter wird, dass also der Anteil derer, die nicht mehr ‘funktionieren’, immer größer wird. Viele Kulturen, auch schon die der Antike, haben darauf, dass wir Menschen im Alter immer weniger in einem instrumentellen Sinne ‘funktional’, immer weniger ‘nützlich’ sein können, eine würdige und humane Antwort gefunden, indem sie dem Alter eine besondere Weisheit und Fähigkeit zur Einsicht zusprechen. Ill wird symbolisch die ganze Krankheit Güllens nicht nur aufgeladen. Er lädt sie sich selbst freiwillig auf, indem er nicht flieht. Ill entzieht sich nicht; er will den “Beschluß der Versammlung”, wie immer er ausfällt, in jedem Fall annehmen: Das ist ein Akt der Einsicht in die Unausweichlichkeit der Gewalt und zugleich ein Akt seiner Freiheit und Selbstbestimmung in der äußersten Fremdbestimmung.46 Die ‘Krankheit’ des ökonomischen, sozialen und kulturellen Niedergangs verschwindet tatsächlich aus der Gemeinschaft, allein schon mit der erwarteten Ermordung Ills, wie in Oedipus Rex die Pest verschwindet. Güllen beginnt wieder zu prosperieren, allerdings als waghalsige kapitalistische Spekulation auf die Zukunft: dank der in Aussicht gestellten Milliarde. Alle lassen sie bezeichnenderweise beim Kaufmann Ill selbst anschreiben.47 Ill sieht und weiß das also alles und hält am Ende mit seiner Einsicht und seinem Erschrecken über seine Mitbürger auch seinen künftigen Mördern gegenüber nicht mehr zurück. Niemand von den Güllenern kann also sagen, er habe nicht gewusst, was hier in Wahrheit vor sich geht und woran er selbst beteiligt ist.48 Ills Opfer deckt den Sündenbock-

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Dürrenmatt 1956, 81. Siehe den Beginn des II. Aktes. 48 Ill gegenüber dem Bürgermeister: “Gott gebe, daß ihr vor eurem Urteil besteht. Ihr könnt mich töten, ich klage nicht, protestiere nicht, wehre mich nicht, aber euer 47

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Mechanismus auf, der die archaische Gewalt in diesem mimetischen Begehren nicht mehr kaschieren kann. Jeder will an das Geld der Milliardärin heran, und jeder fühlt sich durch die Zeichen des zurückkehrenden Wohlstandes, die er am andern bemerkt, aufgestachelt, selbst auch haben zu wollen. Diese ‘Schulden’, diese Schuld aber, die so entsteht, wird bleiben und auf den Güllenern lasten, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Das macht einen grundlegenden Unterschied zum sophokleischen Oedipus aus. Dort wird die Polis nicht schuldig. Dürrenmatt bezieht sich mit seinem Drama auch auf die jüdischchristliche Genese des moralischen Subjekts aus dem Geist der Schuld49 und des individuellen Gewissens.50 Grundsätzlich muss man diese Genese nicht unbedingt nietzscheanisch-kritisch kommentieren. Man kann sie auch, etwa mit Schiller, als Ermöglichung von Freiheit und Selbstverantwortung verstehen. Sie ist nicht mehr hintergehbar. Schuld im modernen Sinne kann nur sein, wo Freiheit und Selbstverantwortung gelten. Schon Augustinus hat im freien Willen die Ursache für das Böse gesehen. Wer heute die Möglichkeit eines freien Willens mit neurobiologischen Argumenten bestreitet, setzt also auch eine gravierende geistesgeschichtliche Zäsur. Die Tragödientheorie Burkerts51 wäre deshalb, wie das Beispiel Dürrenmatts zeigen sollte, für die Neuzeit und für die Moderne durch René Girards Konzept des Sündenbocks zu ergänzen.52 In seiner Anthropologie des religiösen Opfers bezieht sich Burkert selbst auf die Theorie Girards.53 Aber auch schon in Homo Necans geht Burkert auf den Sündenbock, auf das stellvertretende Opfer ein.54 Es ist verblüffend und wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswert, wie beide, Burkert und Girard, etwa zur selben Zeit auf die kulturanthropologisch und kulturell grundlegende Bedeutung des Opfers aufmerksam werden. Beide stellen sie so auch den Handeln kann ich euch nicht abnehmen.” Die Güllener werden also, so sagt es ihnen Ill voraus, einmal ihren eigenen inneren Gerichtstag haben. – Dürrenmatt 1956, 82. 49 Eine zentrale Frage für die frühneuzeitliche Poetik der Tragödie; grundlegend dazu Lurje 2004. 50 Dieses Problem einer spezifisch jüdisch-christlichen Anthropologie kann hier nur gestreift werden; zum Neuen Testament vgl. Reimuth 2006. 51 Vgl. bes. Burkert 1990a. 52 Zu Girard siehe den Beitrag Wolfgang Palavers im vorliegenden Band. Palaver ist derzeit einer der wichtigsten Interpreten Girards; vgl. auch Palaver 2003. 53 Burkert 1984. 54 Zum Pharmakos-Ritual und seiner Anwendungsgeschichte siehe Bierl 2007a.

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neueren Literatur- und Kulturwissenschaften ungemein produktive Heuristiken bereit. Diese Disziplinen können sich aus ihrer eigenen fachlichen Kompetenz heraus nicht sinnvoll dazu äußern, inwieweit Burkerts Theorien vor- und frühgeschichtliche und altertumswissenschaftliche Relevanz beanspruchen dürfen. Diese Diskussion müssen die Kulturanthropologen und Altertumswissenschaftler führen. In hermeneutischer Hinsicht ist aber dies der eigentliche Sinn von Theoriebildung: Inwiefern hilft sie uns, unsere Gegenstände besser zu verstehen? Man kann die große, ja entscheidende Bedeutung, die Burkert der Jagd, dem Töten und dem Opfer zuweist, aus vielen Gründen kritisieren. Etwa aus einer gendertheoretischen Perspektive, weil in der Frage der schwer wirklich aufklärbaren Anfänge menschlicher Kultur der kulturschaffenden Kraft männlicher Gewalt zu große Bedeutung beigemessen werde.55 Dem heuristischen Wert der Theorie tut das, wie das Beispiel Dürrenmatts andeuten sollte, keinen Abbruch.

III. Was ist Bewusstsein? Das ist die andere ‘große Frage’, auf die Burkerts Werk eine Antwort gibt. – Kein anderes Lebewesen als der Mensch geht auf den Tod ein in besonderen, geregelten, sich immer wiederholenden, ästhetisch herausgehobenen und theatral anmutenden, bewusst vollzogenen gemeinschaftlichen Praktiken: in Ritualen.56 Kein anderes Lebewesen als der Mensch zeigt insofern, dass es den Tod kennt und erkennt.57 Gerade diese ästhetische, theatrale Anmutung ist notwendig; sie schafft Bedeutsamkeit; sie hebt die rituelle Handlung heraus, nicht auf.58 Kein anderes Lebewesen als der Mensch kennt religiöse Bindungen und religiöse Handlungen, die es auf angemessene, ästhetisch elaborierte Weise vollzieht. Man mag sich über

55 Der Kulturbegriff selbst wird von der Forschung längst nicht mehr für den Menschen allein reserviert; vgl. etwa de Waal 2002. 56 Der Sepulchralkultur ist in Kassel ein eigenes, eindrucksvolles Museum mit dieser Bezeichnung gewidmet. Zum Versuch einer ästhetisch orientierten Ritual-Theorie vgl. Braungart 1996. 57 Burkert 1972, 342. 58 Mit Christoph Menke (2005) kann man darin eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Ritual und Tragödie sehen; das Theatrale ist nicht notwendig das Theatralische; siehe dazu schon oben.

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diese meine vielleicht etwas anachronistisch anmutende Einzigartigkeitserklärung wundern und dahinter die darwinsche Kränkung vermuten. Aber ‘der Mensch’ und jeder Mensch ist einzigartig, und das zeigt sich “im Angesicht des Todes” besonders deutlich.59 Schon in den Anfängen menschlicher Kultur, in ihren anfänglichen Ritualen verbinden sich Religiöses und Ästhetisches unauflösbar. Burkerts anthropologische Theorie des Homo Necans als Ursprung und Kern menschlicher Kultur und ebenso einer ihrer großartigsten Ausdrucksformen, der griechischen Tragödie, bringt Anthropologisches, Religiöses und Ästhetisches in einen ganz engen Zusammenhang. Er ist für diese beiden kulturellen Formen menschlicher Selbstauslegung und Selbstverständigung – ‘Kunst’ und ‘Religion’ – bis heute konstitutiv geblieben. Man kann über Religion nicht sinnvoll reden, ohne irgendwann auch über ihre Ästhetik zu reden.60 Man kann über Kunst nicht sinnvoll reden, ohne irgendwann auch über ihre – in historischer wie systematischer Hinsicht – religiöse Tiefenstruktur zu reden.61 Burkert geht also, indem er das tut, weit über verbreitete Ursprungstheorien der Tragödie im Dionysos-Kult hinaus.62 Es ist eigentlich nicht schwer, sich das genauer vorzustellen, was Burkert an den prä- und frühhistorischen Zeugnissen in den Blick nimmt und zu rekonstruieren versucht. Man muss nur die eigene Einbildungskraft ein wenig bemühen und vielleicht manche Erinnerung an die eigenen Kindheitstage, an die erste Begegnung mit dem Tod, an das Schlachten, das man möglicherweise einmal selbst erlebt hat, an das Faszinosum und vielleicht auch Tremendum, das noch auf südlichen Märkten von den Fisch- und Fleischauslagen ausgehen kann. Man hört aus der Darstellung Burkerts auch heraus, dass er die kulturelle Faszination des Blutes kennt.63 Versuchen wir also einmal, uns diese ‘Urszene’ Burkerts vorzustellen: Ein Jagdtier ist gestellt; es kann nicht mehr entfliehen; es wird getötet. Dazu brauchen die Jäger eine dunkle gemeinsame Entschlossenheit, koor-

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Burkert 1990a, 30. Viele Belege dafür bei Mahlstedt 2004. 61 Vgl. Braungart 2009a. 62 Dennoch gibt es gewiss diese Verbindung zum Dionysos-Kult, die die Tragödie selbst durchspielen kann; vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag Renate Schlesiers; außerdem Bierl 1991. 63 Vgl. dazu Bradburne 2001. 60

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diniertes Handeln, gemeinsamen Willen.64 Die Gruppe der Jäger erlebt jetzt, wie mit dem Blut, das aus dem Körper des Tieres fließt, das Leben selbst schwindet: wie also durch das, was die Jäger selber tun, aus dem warmen Körper, der sich gerade noch lebendig bewegt hat, ein kalter und starrer wird. Die Jäger selbst haben das verursacht; und was sie selbst verursacht haben, ist wirklich endgültig, vollkommen unumkehrbar. Das muss sie berühren und erfassen. Im Töten werden Leben und Tod selbst erkannt.65 Was Leben ist, ist auch für die moderne Naturwissenschaft nicht so leicht zu sagen.66 Jede Definition hat gegenüber diesem Geheimnis etwas Willkürliches und Begrenztes. Deshalb, wegen dieses Geheimnischarakters, konnte der Begriff des Lebens in der Literatur und Philosophie um 1900 zu einem quasi metaphysischen, nicht mehr hintergehbaren Konzept aufsteigen.67 Hier, in dieser soeben nur knapp skizzierten ‘Urszene’, wird Leben wirklich erfahren im Erlöschen der Lebenskraft, bei der man zwar sieht, hört, fühlt, dass es sie wirklich gibt, von der man aber nicht sagen kann, woher sie kommt und was sie ‘eigentlich’ ist. Aus dieser Erfahrung des Tötens heraus entsteht für Burkert ein ursprüngliches Schuldgefühl derjenigen, die das Leben genommen haben, gegenüber der unfassbaren und ungreifbaren Instanz, die das Leben gegeben haben muss. Das Töten impliziert ein Erschrecken darüber, dass man etwas Irreversibles, nie mehr Revidierbares getan hat. Es gibt nicht wenige Menschen, die es nicht ertragen können, wenn man dem, was da vor einem auf dem Teller liegt, noch ansieht, welches Tier es einmal war. Nichts mehr darf es von seinem ehemaligen Leben zu erkennen geben. Man will nicht an das erinnert werden, was sich dahinter verbirgt. Aus Kindermund: “Fleisch esse ich nicht, nur Würstchen”. Dieser Lebensmacht, der man etwas geraubt hat, was ihr angehörte, wird deshalb im rituellen Opfer etwas wieder zurückgegeben, um sie so zu beschwichtigen. Diese “Ambivalenz der Gefühle”, diese “Gefühle von Schuld und Reue”, die sich im Opferritual ausdrücken, eine “tiefverwurzelte ‘Ehrfurcht vor dem Leben’” und zugleich jene “höhere Notwendigkeit, die zum Töten zwingt” – dies ist Kern von Burkerts großer und um64

Burkert 1972, 26. Burkert 1972, 342. 66 Burkert 1998, 48. 67 Siehe dazu das großartige Buch Wolfgang Riedels (1996). 65

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strittener Deutung nachweisbarer, mit der Jagd und dem Töten verbundener bzw. aus ihnen hervorgegangener Rituale. Er versteht sie, bezugnehmend auf Karl Meuli, als Jagdopfer-Rituale68 und sieht in der Tötung bei der Jagd und der rituellen Opfertötung den Ursprung der Tragödie, nicht etwa im Gesang eines Chores, dessen Mitglieder sich satyrhaft als Böcke verkleidet haben.69 Nicht Bocksgesang also; nicht er ist entscheidend, sondern das Bocksopfer und die damit verbundenen Rituale, die, wie alle Rituale, immer ästhetisch elaboriert sind und Tanz und Gesang einschließen können.70 In solchen Opfer-Ritualen wird elementare und wirklich lebensnotwendige Gewalt legitimiert, aber auch eingehegt, gestaltet, gebändigt.71 Sie schließen die Anerkennung ein, dass solche tödliche Gewalt überhaupt legitimiert werden muss und nicht einfach geschehen darf. Freilich können Rituale, besonders religiöse Rituale, gerade auch den gegenteiligen Effekt haben und Ängste erzeugen, wenn sie gänzlich undurchschaut sind, zu geheimnisvoll, dunkel und unheimlich.72 Diese mögliche Ambivalenz von Ritualen gilt selbst für die kleinen Rituale der Lebenswelt: Man kann Kinder durch entsprechende Einschlafrituale wirklich beruhigen und auf den Schlaf so vorbereiten, dass die Nacht ihren Schrecken verliert. Man kann das Ritual aber auch so gestalten, dass die Nacht ihren Schrecken voll entfaltet. Das Terrain ist unsicher; das heißt auch, dass unvermeidlich intensive Interpretation nötig ist. Auch wenn Rituale natürlich nicht nur in der Religion ihren Platz haben, so deuten sich hier zudem die zwei Seiten von Religion an (und auch die zwei Seiten von Kunst). In Religion (und Kunst) drückt sich nicht nur die Erfahrung des Erhabenen, Schrecklichen und Furchterregenden aus und wird nicht nur gestaltet. Es drückt sich auch die Sehnsucht nach dem Bergenden und Schützenden aus, nach dem, zu dem man Vertrauen fassen möchte, und 68 “Das Opfer als Todesbegegnung, als Tötungshandlung, die doch den Fortbestand des Lebens und seiner Nahrung verbürgt, ist aus der Existenzform des paläolithischen Jägers herausgewachsen und prägende Mitte des ‘heiligen’ Rituals geblieben, Bezugspunkt und bewegende Kraft auch in den mythischen Erzählungen.” – Burkert 1972, 326327. 69 Vgl. hierzu den sehr klaren frühen Aufsatz Burkerts: Burkert 1990a, 23. 70 Zur Ästhetik des Rituals, die für seine Bedeutung und Funktion grundlegend ist und die entscheidende Verbindung zu den Künsten darstellt, vgl. Braungart 1996. 71 Vgl. dazu auch den Beitrag Susanne Göddes im vorliegenden Band. 72 Die These von der Gewalt einhegenden Wirkung von Ritualen hat Bronisăaw Malinowski vertreten; und sie ist in der angedeuteten Weise heftig kritisiert worden.

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die sich dann natürlich auch im Kitschigen und Kuscheligen darstellen kann.73 Als nah und fern zugleich: so hat Walter Benjamin bekanntlich die Aura des Kunstwerks bestimmt. Diese “tiefverwurzelte ‘Ehrfurcht vor dem Leben’”, von der Burkert eben auch spricht, was man nicht übersehen sollte, nicht nur von “Schuld und Reue”, erinnert an den Horizont, vor dem hier die Entstehung menschlicher Kultur gedeutet wird und den man Dankbarkeit gegenüber dem Leben nennen könnte. In die strenge Form des christlichen Rituals gebracht, heißt diese Dankbarkeit ‘Eucharistie’; sie wiederholt und feiert das definitive Sündenbockritual. In der Form des Tischgebets war sie einmal ein wichtiges privates Ritual und ist es zuweilen bis heute. Andere Religionen wie etwa der japanische Schintoismus finden andere Formen des Ausdrucks der Dankbarkeit gegenüber der Lebensmacht, die das Leben ermöglicht. Eine philosophische Tragödientheorie kann sich mit einer solchen Herleitung allein aus Opfer-Ritualen gewiss nicht zufrieden geben, weil Ursprungstheorien grundsätzlich nichts über Wahrheits- und Geltungsanspruch sagen können. Schon gar nicht bei einem so wichtigen kulturellen Phänomen, wie es die Tragödie ist, diese erhabenste Gattung der europäischen Literaturgeschichte.74 Es gibt hier keine einfachen Kontinuitäten. Jedes Stück steht selbst in einer großen Tradition, jede Deutung steht in einer eigenen Deutungstradition. Aber diese Gattung der Tragödie selbst arbeitet sich an diesen drei großen Fragen Burkerts ab: Was ist der Mensch? Und was ist Bewusstsein? Was ist “menschliche Existenz im Angesicht des Todes”?75 Die Gattung der Tragödie vollzieht ihren Weg ‘vom Ritual zum Theater’76 mit jedem gelungenen Werk stets neu, wie die skizzenhafte Interpretation zu Dürrenmatt andeuten sollte. Zwar formuliert Burkerts Herkunftstheorie den tragischen Konflikt, das aus ihm hervorgehende Leid und die damit verbundene Katharsis nicht wirklich aus. In der Ambivalenz der Gefühle, die schon, wie Burkert immer wieder betont, aus dem Opfer-Ritual selbst sprechen, ist jedoch in 73 Valerios hedonistisch-philiströse ‘Utopie’ im berühmten Schlusssatz von Büchners Leonce und Lena: “[D]ann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion!” – Büchner 1980, 118. 74 Vgl. Frick 2003; Hösle 2009. 75 Burkert 1990a, 30. 76 Vgl. Turner 1989.

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nuce der tragische, weil normative Konflikt enthalten. Wenn man diesen Konflikt nicht unbedingt als einen zwischen zwei sittlich gleichberechtigten Positionen (Hegel) verstehen will, so doch zwischen zwei Notwendigkeiten bzw. Verpflichtungen: zwischen dem Überleben-Wollen und der dafür notwendigen ‘Sorge’, die auf tödliche Gewalt nicht verzichten kann, einerseits, und der ‘religio’, der Bindung an die unbekannte Macht, die das Leben gibt, andererseits. Das von Burkert unterstellte Gefühl der Schuld ist ethisch grundlegend. Schuldgefühle bereiten nämlich auch für das moralische Gefühl vor. Aus Empathie allein entsteht kaum ein einigermaßen verlässliches moralisches Gefühl. Und diese These vom elementaren Gefühl der Schuld ist hermeneutisch-heuristisch ungemein produktiv. Sie enthält implizit eine Theorie der nach wie vor schwierigen Kategorie der Katharsis, die die Akteure selbst erfasst. Die in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Tragödie und ihrer Poetik bekanntlich gar nicht zu überschätzende Aristotelische Poetik bezieht sich bei ihrer ersten Bemerkung zur Katharsis am Beginn des 6. Kapitels (1449b[24]-[28]) noch nicht explizit auf den Zuschauer, auch wenn im weiteren Verlauf der Argumentation doch deutlich wird, dass tatsächlich diese Wirkung auf den Zuschauer gemeint ist.77 Darauf hat sich dann auch im Großen und Ganzen die Rezeptionsgeschichte bei der Deutung der Katharsis festgelegt.78 Aber wie sollte die Tragödie erschüttern, wenn die handelnden Figuren des Spiels nicht selbst einen ästhetisch und psychologisch glaubwürdigen Prozess der seelischen Erschütterung durchlaufen? Darum fordert Lessing das ‘natürliche Spiel’ der Schauspieler, das beim Zuschauer den Spiel-Charakter sogar völlig vergessen lassen müsse. Das Drama des Sturm und Drang forciert, das Drama der Klassik revidiert diese einseitige Position; ja, Lessing selbst revidiert sie schon im Nathan (1779), in dem er auch zur stärker rituellen Sprache, zur gebundenen Verssprache zurückkehrt und so den Spiel- und Zeige-Charakter des Stückes betont.79 ‘Katharsis’ ist insofern für das Theater natürlich zunächst ein ästhetisches Problem, kein theoretisches. Wenn die Tragödie ästhetisch nicht gelingt, ist die erschütternde Wirkung beim 77 Zur Aristotelischen Poetik im Kontext der antiken Dichtungstheorie siehe Fuhrmann 2003. 78 Vgl. dazu auch Hösle 2009, 49-50; zur Wirkungsgeschichte die Dokumentation von Luserke 1991. 79 Für die Geschichte der Gattung ‘Tragödie/Trauerspiel’ im 18. Jh. unentbehrlich: Alt 1994.

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Zuschauer sowieso verloren. Brechts Mutter Courage müht sich im gleichnamigen Stück (1949, uraufgeführt 1941) vor den Augen der Zuschauer wirklich und endlos im Kreis gehend. Shen Te, die Protagonistin in Der gute Mensch von Sezuan (1953, uraufgeführt 1943), ist wirklich unglücklich darüber, dass sie nicht dauerhaft gut sein darf. Johanna Dark in Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1932) verzweifelt wirklich am Elend der Ärmsten, das sie tagtäglich erfährt. Der Meister des epischen Zeigens und reflexiven Abstandnehmens bringt selbst zutiefst anrührende Figuren auf die Bühne. Es ist also meines Erachtens sogar hier noch, im epischen Theater, unsinnig, eine Ästhetik der Unmittelbarkeit bzw. den autonomen Kunstcharakter einerseits, Reflexivität, also Ironie, Spiel und Zeige-Charakter andererseits, gegeneinander ausspielen zu wollen, wenn es um diese Frage der kathartischen Wirkung der Tragödie geht. In der Geschichte der Gattung sind – bis in die Gegenwart hinein – alle Aspekte mit wechselnden Gewichtungen zum Zuge gekommen. Auch im Ritual führt es nicht weiter, wenn man Authentizität und Inszeniertheit gegeneinander in Stellung bringt. Arbogast Schmitt hat in seinem monumentalen neuen Kommentar zu seiner Neuübersetzung der Aristotelischen Poetik gegen die neuere Forschung das Mitleid als eine wichtige Kategorie erläutert und in die “Kultur des Gefühls”, die Aristoteles in seinem übrigen Werk entwickelt, eingeordnet.80 Das Mitleid habe “mehr als [nur] eine dienende Funktion”.81 Dennoch kann man wohl sagen, dass sich die wirkungsästhetische Auslegung der Katharsis, die die Tragödie im Sinne einer ästhetischen Erziehung zum Mitleiden ethisiert, der platonisch-christlichen Tradition verdankt. Lessing forciert diese ästhetische Erziehung zum Mitleid.82 Die Tragödie muss doch für etwas gut und mehr sein als bloß ein ästhetisches Ereignis auf der Bühne mit einem gewissen sozialpsychologischen Effekt, Affektturbulenzen beim Zuschauer hervorzurufen, dann aber zu bändigen und auf ein sozialverträgliches Maß zurückzuführen! Man kann sich darüber hinaus allerdings grundsätzlich fragen, ob in der Geschichte der Tragödien- und Katharsistheorie mit der Unterscheidung eines medizi80 Aristoteles 2008, 334; vgl. aber auch Schmitts gesamten “Exkurs zur Katharsis”, 333-348. 81 Aristoteles 2008, 333. 82 Damit ist keine grundsätzlich harmonische Symbiose zwischen griechischem Denken und frühem Christentum behauptet; vgl. Graf/Wiegandt 2009, dort bes. Markschies 2009, 397-436.

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nisch-psychologischen Verständnisses der Katharsis (Bernays u. a.) von einem ethischen nicht etwas in sehr moderner Weise voneinander getrennt wurde, was nur schwer zu trennen ist.83 Hier zeichnet sich nämlich auch schon die moderne Trennung von Ethik und Ästhetik ab. Dass Menschen zur Empathie fähig sind, sorgt mindestens ebenso sehr für Gruppengefühl und Gruppenzusammenhalt, wie die dunklen Gefühle beim Jagen, Töten und Opfern. Empathie ist auch evolutionär sinnvoll und notwendig. Sie ist nicht bloß eine kulturelle Konstruktion. Indem Lessing das Mitleid zum Hauptzweck der Tragödie macht, verbindet er nicht nur Katharsis und Ethik, sondern auch Katharsis und Bewusstsein. Denn das Mitleid, das ich im kathartischen Nachvollzug der Tragödie für andere empfinden lerne, ist die, so Lessing, auf den anderen bezogene Furcht, die ich genauso für mich selbst hätte, erginge es mir selbst so schlecht. Furcht und Mitleid lassen sich bei Lessing also als affektästhetische Ausformulierung der christlichen Verschränkung von Selbstliebe und Nächstenliebe verstehen. Mitleid impliziert damit für Lessing ein grundlegendes ‘Selbstgefühl’, das zu meinem Selbst-Bewusstsein gehört und es mit ausmacht.84 Was die Soziobiologie ‘reziproken Altruismus’ nennt, erhält bei Lessing kulturellen und moralischen Sinn. Das Opferritual, das in Burkerts Theorie zentrale Bedeutung hat, weist zurück auf die Antwort, die die menschliche Kultur auf die Erfahrung von Leid, Schmerz und Tod gegeben hat und noch immer gibt: auf die rituelle, kollektiv geregelte Praxis der Religion. Für sie gilt im Übrigen dasselbe wie für die Tragödie: über ihre ‘Wahrheit’, ihren Geltungsanspruch sagt ihre Herkunft nichts aus. Mit dem Bezug der Tragödie auf das Opferritual und damit auf Religion85 zeigt Burkert nicht nur den ‘wilden Ursprung’ der Gattung, sondern auch ihren anthropologisch in jeder Hinsicht tiefen Grund.

83 Mit diesem Problem kämpft etwa die ästhetische Theorie Karl Heinz Bohrers bis heute und immer wieder neu. 84 Darum wird die Bewusstseinsphilosophie um 1800 auch auf das Selbstgefühl aufmerksam, wie vor kurzem Manfred Frank detailliert gezeigt hat. Vgl. Frank 2002; vgl. auch Grundmann u. a. 2005, bes. Teil III. 85 Ich kann die Auffassung, die bisweilen vertreten wird, nicht teilen, dass Opferritual und Religion voneinander grundsätzlich zu trennen seien. Wie soll man opfern ohne einen Sinn, ein Gefühl für Transzendenz: also für das, was den Opfernden selbst wirklich überschreitet? Das gilt m. E. auch noch für moderne, ‘zivilreligiöse’ Opfer – wie sehr aber erst recht für archaische Opfer!

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Die Aufmerksamkeit, die in Burkerts Theorie immer ebenso der Gewalt selbst, Leid, Schmerz und Tod gilt, weist jedoch auch auf das Subjekt, das sich daran als ein solches begreifen kann. Und sie weist auf das ästhetische Faszinosum, als das sich eine Gattung wie die der Tragödie erweisen kann, wenn sie genau dieses Sich-selbst-Begreifen zu ihrem Thema macht.86 Zwischen beiden Polen spannt sich die Tragödie seit ihren Anfängen: dem eines Kultspiels im Rahmen der Dionysien vor der Polis und für die Polis, das die Zuschauer durch eine gewisse Mäßigung, eine gewisse Abfuhr ihrer Affekte wieder sozialverträglicher, also polisfähiger macht – eine wichtige Funktion des Sports bis heute; und dem anderen Pol des durch größte physische und psychische Bedrängnis aufs Äußerste herausgeforderten Subjekts. Vor allem auf diesen Pol bezieht sich die Tragödie der Moderne, aber auch schon die des Sophokles. Aus der griechischen Tradition kommt für die Tragödie der Neuzeit der Polis-Bezug des Menschen, der Bezug auf das Ganze, das uns alle angeht, und der Gedanke des Seiner-selbst-Gewahrwerdens in der äußersten Herausforderung; aus der jüdisch-christlichen ein neuer Subjekt-Begriff, ein Verständnis des Menschen, der gerade in seiner ‘Eigenschaftslosigkeit’ zählt, jenseits aller Hinsichten und Brauchbarkeiten. Aber nun noch etwas eingehender zur Frage des Bewusstseins selbst, und dies zunächst an einem Beispiel aus der Geschichte der Lyrik. Eduard Mörike lässt in seinem wunderbar einfachen und doch subtilen, liedhaften Gedicht Das verlassene Mägdlein (1829) zunächst eine ganz alltägliche Szenerie entstehen: das allmorgendliche Anzünden des Herdfeuers: “Früh, wenn die Hähne krähn, / Eh die Sternlein verschwinden / Muß ich am Herde stehn, / Muß Feuer zünden.”87 Dann jedoch, im halbwachen, meditativ verweilenden und ästhetischen Schauen ins Feuer – “Schön ist der Flammenschein, / Es springen die Funken; / Ich schaue so drein, / In Leid versunken” – stürzt das “Mägdlein” plötzlich ganz ins Bewusstsein: “Plötzlich, da kommt es mir, / Treuloser Knabe, / Daß ich heut Nacht von dir / Geträumet habe.” Offenbar kann der “treulose Knabe” etwas für diese ‘Plötzlichkeit’ der Bewusstwerdung. Mit dem Bewusstsein kommt nun auch die volle Einsicht in die eigene Verlassenheit und, womöglich, in eine frühere Verfehlung, auf die das Gedicht schon längst 86 87

Vgl. Lehmann 1991; Braungart 2008. Mörike 1984, 52; Hervorhebungen von mir.

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ziemlich deutlich angespielt hat (“Hähne”; “Feuer”). Und es kommen die Tränen, die Zeichen des Menschlichen, die Zeichen des Selbstgefühls, der Selbstwahrnehmung, der Reue und der Trauer: “Träne auf Träne dann / Stürzet hernieder; / So kommt der Tag heran – / O ging er wieder!” Das taghelle Licht des Bewusstseins bricht herein, ohne dass es gesucht wird; und es macht das Leben für das Mädchen nicht unbedingt leichter. In seinem Zeichen verschwinden auch die Zeichen der kosmischen Ordnung, “die Sternlein”. Burkerts Theorie des Homo Necans impliziert eine Religionstheorie und ebenso eine Bewusstseinstheorie. Sie ist auch eine Theorie vom Ursprung der Selbstreflexion und des Gewissens aus dem Schuldgefühl.88 Das selbst zu beanspruchen, so weit geht Burkert nicht. Aber er legt die These an: Aus dem, was man selber verursacht und zugefügt hat, entsteht, wenn es nur ‘schlimm’, weitreichend, eindringlich, ja schockierend genug ist, ein spezifisches Bewusstsein. Diese Theorie kann man als modernistisch und spekulativ kritisieren. Aber wie steht es mit der Traumatisierung des Lokführers, den nicht die geringste moralische Schuld am Tod eines Menschen trifft, den er überfahren hat, weil jener den Freitod suchte? Oder mit den Schuldgefühlen des Polizisten, der in Notwehr jemanden erschießt? Oder mit den Schuldgefühlen des Autofahrers, dem ein Kind ganz und gar unvorhersehbar vor den Wagen springt? Warum werden sie ihre Schuldgefühle nicht los für etwas, was sie getan haben und wofür sie keinerlei moralische Schuld trifft? “Je ne regrette rien”: Wer könnte das wirklich von sich sagen, denkt man an Lebenssituationen, in denen man menschlich, wenn auch nicht unbedingt moralisch, versagt hat und die man hätte anders gestalten sollen? Burkerts These darf größten heuristischen Wert für sich in Anspruch nehmen. Folgt man ihm nämlich, so wäre hier, in dieser Urszene des Töten-Müssens der Menschen, weil sie selbst leben wollen, jene “Erfindung des inneren Menschen” schon einbeschlossen, von der Jan Assmann im Hinblick auf das Alte Testament und die dort etablierte ‘mosaische Unterscheidung’ zwischen ‘richtig’ und ‘falsch’ im Sinne der religiösen Gesetze und im moralischen Sinne spricht.89 Schon mit dem Alten Testament werden Religion und die Frage des rechten Lebens dann auch zu 88 Zur Kulturgeschichte des Gewissens vgl. Kittsteiner 2000, der die hier auch nur angerissenen Fragen allerdings nicht verfolgt, weil er sich auf die Neuzeit konzentriert. 89 Vgl. Assmann 2003, 154-156.

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einer “Herzenssache”. Sie schließt eine spirituelle Dimension (Gotteserkenntnis), eine reflexive (Selbsterkenntnis) und eine sozial-caritative (Erkenntnis des Nächsten) durchaus ein.90 Wie oft sagt man so leichthin: ‘Da kommt mir etwas in den Sinn.’ Oder: ‘Jetzt wird mir alles klar.’ Oder: ‘Bin ich noch klaren Sinnes?’ Doch das, was wir oft so leichthin sagen, wirklich zu verstehen, ist das Schwierigste überhaupt. Die philosophische und neurobiologische Forschung hat inzwischen hochkomplexe Beschreibungen und Modellierungen dessen, was wir einfach ‘Bewusstsein’ nennen, entwickelt, die hier nicht weiter vorgestellt und diskutiert werden können.91 Wie kommen wir eigentlich zur Besinnung auf uns selbst, auf das, was wir sind, tun und denken? Was ist das: unser Bewusstsein? Woher kommt es? Warum haben wir es? ‘Plötzlich’ ist es da. Für Bewusstseinstheorien ist dies eine große Herausforderung. Man könnte ganz einfach evolutionistisch argumentieren: Es ist ein emergentes Phänomen. Irgendwann war es eben da. Es hat sich in unserer Stammesgeschichte entwickelt und durchsetzen können, weil es uns einen evolutionären Vorteil verschafft. Der evolutionäre Gewinn war für unsere sich entwickelnde Spezies offenbar höher als die Kosten. ‘Emergent’ heißt auch: Es ist nicht mehr weiter ableitbar. Aber diese Kosten sind eben doch hoch. Gerade das lässt sich der Gattungsgeschichte der Tragödie ablesen. Diese Antwort, allein dass das Bewusstsein da ist, dass wir es haben, zeige doch schon, dass es evolutionär sinnvoll war, diese Antwort ist auch sonst für uns offensichtlich nicht sehr befriedigend. Jetzt haben wir nämlich auch alles selber zu tragen, was uns ‘zu Bewusstsein’ kommt. Goethe 1777 in einem Brief an Auguste zu Stolberg: “Alles gaben Götter die unendlichen / Ihren Lieblingen ganz / Alle Freuden die unendlichen / Alle Schmerzen die unendlichen ganz.”92 In der von Burkert postulierten elementaren Schulderfahrung, die das Töten impliziere, das nötig ist, um selbst zu überleben, ist auch Bewusstsein impliziert. Schuld ist ein reflexives Gefühl. Es ist, wie gesagt, nicht so schwer, nachzuvollziehen, dass Schuld, selbst wenn es keine schwere moralische Schuld ist, eine endlose Unruhe des Gefühls und eine endlose

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Ich beziehe mich auf Fuchs 2008a; Fuchs weist auf Assmann hin. Glänzende Darstellungen bei Edelman/Tononi 2002; Edelman 2007; vgl. auch Grundmann u. a. 2005, bes. Teil I und II. 92 Goethe 1987, 250. 91

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Reflexionsbewegung in Gang setzen kann. Das unbedachte Wort, die kleine Boshaftigkeit aus Neid, Eifersucht oder uneingestandenem Konkurrenzgefühl heraus, die menschliche Unachtsamkeit, die faule Ausrede, sie genügen völlig. Wie sehr und wie lange sie die innere Selbst-Reflexionsbewegung in Gang setzen können, weiß jeder. Auch so kann man die überraschende Verhaftung Josef K.s in Kafkas Roman Der Prozeß (1925) interpretieren: K. ereilt diese Selbstreflexion. Die Aufgabe der SelbstBewusstwerdung über sein ganzes Leben fällt ihn eines Morgens förmlich an; er kann sich ihr von nun an nicht mehr entziehen. Das Gericht ist jetzt überall. An dieser übergroßen Aufgabe aber scheitert er. Am Ende seines Selbstreflexionsprozesses, vor seinem Tod, weiß er das auch. – Es gehört zur historischen Hypothek der christlichen Konfessionen, diese menschliche Fähigkeit zum Schuld-Gefühl instrumentalisiert zu haben. Nietzsche würde vielleicht sagen: Dieses Schuldgefühl ist der Anfang unserer Sklavenmoral. Bewusstsein ist ein dynamischer mentaler Prozess, der offensichtlich nicht identisch ist mit einem physikalischen oder biologischen Zustand unseres Gehirns. Strittig ist die Frage, ob Bewusstsein von etwas schon Selbst-Bewusstsein voraussetzt. Aber man muss Bewusstsein nicht unbedingt allein von diesem ‘wilden Ursprung’ her bestimmt sehen, von dem Burkert spricht. Wie man über die Tatsache auch staunen kann, dass wir Bewusstsein, ein intentionales und in irgendeiner Weise auch reflexives Selbst- und Weltverhältnis haben, das zeigt ein Satz aus einem fragmentarischen Text von 1796, dem sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. Der junge Hölderlin hat diesen vielinterpretierten Text wohl gemeinsam mit seinen Freunden Hegel und Schelling verfasst: “Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor.”93 ‘Absolut frei’: das ist schon eine starke Behauptung. Die Formulierung könnte hier meinen: Dies, dass ich Bewusstsein, insbesondere Selbst-Bewusstsein habe, also eine bewusste Vorstellung von mir selbst und meiner Welt, kann ich nicht weiter ableiten, nicht zurückführen auf irgendetwas anderes. Sie kommt für mich in meiner Selbstwahrnehmung und meinem Selbstverhältnis nirgendwo her. Man kann sie mir deshalb auch nicht nehmen – es sei denn, man tötete mich. In dieser Hinsicht auf mein (Selbst-)Bewusstsein 93

Hölderlin 1994, 575.

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bin ich tatsächlich absolut frei. Diese Vorstellung von mir ist meine erste, mich insofern begründende Idee, als ich mich selbst weiß, was auch immer das individuell jeweils heißen mag: natürlich ganz Unterschiedliches. Weil wir uns auf eigene, unterschiedliche Weise selbst wissen, sind auch unsere Weltverhältnisse unterschiedliche. Weil wir viele anthropologische und kulturelle Gemeinsamkeiten haben, wiederum auch nicht.94 Die Begeisterung, die die Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie um 1800 bei dieser Entdeckung erfasst hat, kann man schon verstehen. Diese Begeisterung über die konstitutive Bedeutung des Selbst-Bewusstseins dauerte jedoch bekanntlich nicht lange an. Kleist verstand den Fall ins Bewusstsein schon als ersten und grundlegenden Schritt in die Selbstentfremdung, nicht mehr, wie Kant und Schiller, als ‘Sündenfall’ in die Freiheit und analog, ästhetisch, ins Schöne.95 Letztlich gehören auch die kaum überschaubaren Cerebraldenunziationen der Moderne in diesen skeptischen Zusammenhang. Mit dem skizzierten emphatischen Verständnis von Bewusstsein und Selbst-Bewusstsein soll keineswegs ein immaterielles, autonomes cartesianisches Ich postuliert sein. Wer würde schon ernsthaft bestreiten wollen, dass das materielle oder biologische Korrelat unseres Geistes unser Gehirn ist? Sondern, so könnte man aus heutiger Sicht sagen, es soll nur dem Staunen darüber Ausdruck verliehen werden, dass das Verhältnis von neuronalen Aktivitäten, die heute durch die verschiedenen bildgebenden Verfahren anschaulich gemacht werden können, zu der Tatsache, dass der Mensch ‘ich’ sagen kann, dass ich mich also in Beziehung setzen kann zu mir und zu etwas, was nicht ‘ich’ ist, und dass ich das weiß und mich dabei sogar beobachten kann, so seltsam unaufklärbar scheint.96 Man kann für sich nicht sinnvoll sagen: Ich habe Kopfweh, ich spüre mein Kopfweh – aber ich habe es gar nicht. Das macht nur nach außen Sinn: als Lüge. Das Mein-Bewusstsein ist ohne Alternative. Nichts ist so gewiss, wie das Bewusstsein, das ich von mir und meiner Welt habe, auch wenn ich weiß, dass ich mich im Hinblick auf die Sachhaltigkeit immer täuschen kann. Das bin ‘ich’, und ‘ich’ ist für mich mehr als mein Gehirn in seiner neuronalen Funktionalität, wie jüngst der Psychiater Thomas Fuchs noch ein-

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Zum großen Problem kultureller Universalien: Antweiler 2007; Antweiler 2009. Vgl. Koch 1997, 97-114 (mit weiterer Literatur). 96 Vgl. schon Frank 1996, 69-70; dann in der philosophischen Bewusstseinsforschung immer wieder thematisiert. 95

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mal eindringlich dargestellt hat.97 Man kann sich auch gar nicht vorstellen, wie es je aufgeklärt werden könnte.98 Was wir aber nicht aufklären können, das treibt uns womöglich dennoch um, und wir suchen dazu erklärende Geschichten und erfinden Mythen wie z. B. die vom anfänglichen Sündenfall. Was wir noch nicht und vielleicht nie aufklären können, das reizt auch besonders zu Spekulationen und gewagten Theorien, zu Konzepten und Modellbildungen aller Art. Mir scheint, dass aus Walter Burkerts Fasziniert-Sein von Ritualen, Mysterien, geheimnisvollen Gruppenpraktiken auch eine tiefe Faszination für diese dunklen, so schwer aufklärbaren Anfänge der ‘Mensch-Werdung’ spricht, wie sie sich aus den Spuren allmählich wahrnehmbarer menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse ablesen lassen. Ähnlich schwer aufzuklären wie die Frage der Entstehung des Bewusstseins und mit ihr verbunden ist die Frage, warum und woher wir Sprache haben. Auch Burkert folgt dem Forschungskonsens,99 dass es wohl der entscheidende Schritt im Evolutionsprozess des Menschen und seines Bewusstseins war, dass wir ‘zur Sprache gekommen’ sind.100 Herder war von dieser unserer ‘natürlichen’ und produktiven Kraft zur Sprache so angezogen, dass er ihr 1772 eine fulminante Abhandlung gewidmet hat, eines der bis heute eindrucksvollsten Zeugnisse vom Wissen des 18. Jahrhunderts um die Würde und Bedeutung der Sprache.101 In der Entwicklung unserer Spezies wurden durch die Sprache komplexe koordinierte, symbolische Praktiken und Interaktionen möglich. Nicht nur – beispielsweise – die der Jagd; auch die der Religion. Burkert bringt die Entstehung der Sprache und der Religion mit guten Gründen in einen Zusammenhang.102 Durch Sprache wurde die Ausbildung kontrollierter, für ein Kollektiv relevanter kultureller Symbolisierungen und Tradierungen möglich, die auf Zukunft gerichtet sind.103 Und durch Sprache wurde der Anschluss des individuellen Bewusstseins an die allgemeine Kommu97

Vgl. Fuchs 2008b. Prinzipielle Gründe dafür hat Manfred Frank dargestellt; vgl. Frank 1996. 99 Etwa Burkert 1998, 38; Mahlstedt 2004, 14-17. 100 Vgl. zu dieser schwierigen Frage des Ursprungs und der Spezifik menschlicher Kommunikation überhaupt Tomasello 2009. 101 Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772); vgl. Herder 2001. 102 Burkert 1972, 346. 103 Burkert 1998, 38. 98

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nikation möglich.104 Durch Sprache wurden gewiss auch in besonderer und komplexer Weise Lüge und Täuschung möglich. Aber natürlich kann man ebenfalls nicht-sprachlich täuschen, durch Mimik und Gebärde. Man kann von hier aus gut verstehen, warum die Tragödie kult-reflexiv, selbstreflexiv und sprach-reflexiv ist. Kleists Tragödie Penthesilea (1808) ist dafür ein großartiges Beispiel. Gleich wird noch kurz von Philoktets Sprach-Sehnsucht, die Gemeinschaftssehnsucht ist, die Rede sein und von Lüge und Täuschung. Hier fangen also auch all die Probleme an, die wir mit unserem Bewusstsein und Selbst-Bewusstsein bis heute haben, mit unserer Fähigkeit zur Besinnung und also auch Selbst-Besinnung, zur Reflexion und also auch Selbst-Reflexion. Jetzt sind wir nämlich auch Wesen, die nach Sinn und Bedeutung fragen. Wir wollen Sinn und Bedeutung auch ausdrücken; und damit beginnt alle Kultur:105 Wir wollen uns nicht damit begnügen, nur dazusein und etwas zu tun oder nicht zu tun, sondern uns zu dem, was wir tun oder nicht tun, in ein Verhältnis setzen: was es bedeuten soll, was es uns, auch für die Zukunft, und was es mir bedeuten soll. Schon in den Anfängen von Kultur drücken sich in den kulturellen Äußerungen menschliche Selbst- und Weltverhältnisse aus. Wie sollte man denn sonst den Beginn menschlicher Kultur beschreiben, wenn nicht so: über die Spuren der Fähigkeit zur Symbolbildung? Der kleine Spieß, den sich die schlaue Dohle aus einem Ästchen oder einer Blattrippe zurechtmacht, um damit eine Made aus einem Loch herauszustochern, ist ihr Werkzeug; weiter nichts, so faszinierend das ist. Er bedeutet nichts sonst und ist deshalb auch nicht besonders ästhetisch elaboriert: wohlgeformt, aggressiv gestaltet, irgendwie dekoriert. Es drückt sich in ihm nichts aus als seine Funktion. Jagdopfer-Rituale dagegen sind es: ästhetisch elaboriert, symbolisch bedeutsam. Es hat in dieser Perspektive, glaube ich, keinen Sinn, das Potential des Individuellen, das das Bewusstsein hat, nur der Epoche moderner Individualität zuzuerkennen. Individuen können immer etwas besser oder schlechter als andere und sind ‘fitter und weniger fit’ als andere. Das ist ja der evolutionäre Grundgedanke. Dank ihres Bewusstseins können sie das 104

Das ist die Kernthese von Oliver Jahraus’ grundlegender systemtheoretischer Studie zu Literatur als dem kulturellen Medium schlechthin (Jahraus 2003). 105 Vgl. den jüngsten Versuch, nach allem poststrukturalistischen und postmodernen Rauschen der letzten Jahrzehnte, den Kategorien ‘Bedeutsamkeit’, ‘Bedeutung’, ‘Sinn’ wieder Geltung zu verschaffen: Hörisch 2009.

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wahrnehmen; dank ihrer Sprache können sie es kommunizieren. Das Kultspiel der attischen Tragödie vollzog sich zugleich als ein Tragödienwettstreit, in dem verschiedene Dichter miteinander konkurrierten.

IV. Sophokles’ Philoktet Aber das Opfer-Ritual, wie es Burkert rekonstruiert und erklärt, gibt auf die Notwendigkeit des Tötens und das mit dem Töten verbundene SchuldBewusstsein eine primär kollektive Antwort. Damit begnügt sich schon die griechische Tragödie nicht mehr. Sie kommt, folgt man Burkert, zwar aus dem Opfer-Ritual. Sie ist aber, wie besonders Christian Meier106 und viele andere gezeigt haben, in besonderer Weise auf das Kollektiv, auf die geschichtlich-‘politische’ Sphäre der Polis bezogen.107 Für die Polis spielt sie großes Leid, Unglück und Tod zwar noch im kultischen Zusammenhang der Dionysien durch.108 Dennoch zeigt sie, wie Schmerz, Unglück, Leid, Tod und Verbrechen den Einzelnen betreffen, der sich daran als Einzelner begreift, ja begreifen muss. Als ‘politisches’ und kultisches Spiel ist die Tragödie immer zugleich auch Spiel des Subjekts.109 Kreon (Sophokles, Antigone) und König Oedipus stehen am Ende so völlig allein da und auf sich selbst zurückgeworfen wie Schillers Königin Elisabeth (Maria Stuart, 1801) und Hebbels Meister Anton (Maria Magdalena, 1843). Im tragischen Konflikt vollzieht sich an ihnen selbst Katharsis. Und so müssen sie sich als Subjekte begreifen lernen. Sie ‘reinigen’ sich im Unglück, in Schmerz und Leid zum Subjekt. Das wird vor den Augen aller gezeigt. Man muss kein Hegelianer sein, um zu sehen, dass hier sehr wohl schwere Konflikte vorliegen, die sich beschreiben lassen, wenngleich nicht unbedingt solche zwischen ‘sittlich gleichberechtigten Mächten’. Und die Einsamkeit der tragischen Helden am Ende des Geschehens ist nicht bloß ein ästhetisches Phänomen, sondern als solches auch ein reflexives. Mir ist, wie oben schon angedeutet, nicht nachvollziehbar, warum die Ästhetizität bzw. das ‘ästhetische Präsens’ der Tragödie und ‘Aufklärung’ bzw. Reflexivität und Kontextbezug der Tragödie nur als 106 Rösler 1980; Meier 1988; am Beispiel der Perser des Aischylos Bierl 2007b. Was Zugehörigkeit zu einer Polis bedeutet, diskutiert Walter 1993. 107 Vgl. etwa Latacz 1993; Zimmermann 2000. 108 Vgl. eingehend hierzu Bierl 1991. 109 Vgl. Lehmann 1991.

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unvermittelbare Gegensätze sollen gedacht werden können.110 Wieso sollte die soziale Funktion der Tragödie das Ästhetische depotenzieren? Das kann man nur von einer ins Sakrale gesteigerten autonomieästhetischen Position aus sagen. Die Tragödie ist nun einmal nicht nur theatrales Spiel in körperlicher Gegenwärtigkeit der Akteure, sondern auch SprachKunstwerk, und Sprache ist logos. Als Sprach-Kunstwerk setzt es auch die begriffliche, diskursive Verstehensarbeit in Gang, nicht nur die affektive, kathartische. Als Spiel vor der Polis und für die Polis und als Spiel des Subjekts tritt die Tragödie in die Geschichte ein; ihr archaisches Erbe wird angepasst. Zu Sophokles: Sein Drama Philoktet ist ein Alterswerk – wie das Versöhnungsdrama Nathan der Weise von Lessing. 409 v. Chr. wurde es aufgeführt. Es ist das einzige der drei Philoktet-Stücke der großen attischen Tragiker, das vollständig erhalten ist.111 In seiner Naivität, mit beiden antagonistischen Positionen, die Philoktet und Odysseus verkörpern, zurechtkommen zu wollen, also beide irgendwie in sich aufnehmen zu müssen, wird Neoptolemos auch zur poetologischen Reflexionsfigur: Er ist der Dritte. Er verkörpert die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der ‘Aufhebung’ des potentiell tragischen Konfliktes zwischen den ‘politischen’ Interessen des Kollektivs der Griechen, die der politische Pragmatiker und Stratege Odysseus mit ‘List’, ja ‘Falschheit’ (107, 109) durchsetzen will, und den genauso berechtigten Interessen des Subjekts Philoktet, der als leidendes Individuum, dem Unrecht angetan wurde, nun endlich Anerkennung durch die Gemeinschaft beansprucht. Es ist sofort deutlich: Dieses Drama, diese am Ende gerade noch vermiedene Tragödie, ist schon über Kult, Opfer und Ritual weit hinaus und doch darauf bezogen. Über diesen Neoptolemos heißt es zu Beginn: ‘Auf dich, o Kind, ist all die Gewalt / Gekommen aus ältesten Zeiten’ (140).112 Durch ihn muss sie deshalb überwunden werden. Diesen Gesichtspunkt will ich im Folgenden besonders betonen. Die Probleme der Ausstoßung des Sünden110

Zu Bohrer 2009, 322-323. Zitiert wird nach: Sophokles 1944. Weitere Nachweise nur mit Angabe der Verse im Text. – Zum Philoktet des Euripides vgl. Müller 1997 (auch mit einem Kap. zu Sophokles). Für neuere einführende Interpretationen vgl. Flashar 2000; Nickau 2003; das Stück im Kontext der griechischen Tragödie: Schadewaldt 1991; Latacz 1993; Zimmermann 2000. 112 Hervorhebung von mir. 111

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bocks Philoktet sind gewiss zentral für das Stück. Aber durch Neoptolemos wird eine medizinisch-psychologische oder sozialanthropologische Perspektive auf das Stück geöffnet. Der große Schmerz hat Philoktet wirklich auf sich selbst zurückgeworfen. Das Leiden hat ihn wirklich individuiert und räumlich von der Gemeinschaft abgesondert. Das ist die Perspektive des leidenden Subjekts. Die des Kollektivs ist eine andere: Mit seinem Schmerzgebrüll und seiner stinkenden Wunde hat Philoktet das Opferritual der Griechen verhindert, also die gemeinsame kultische Handlung, in der sich das Kollektiv als ein solches vollzieht und versteht. Und er hat ihre Gemeinschaft gestört. Deshalb hat man ihn ausgestoßen, hat man ihn auf der Insel Lemnos ausgesetzt. Damit ist Philoktet der Pharmakos, der Sündenbock schlechthin. So sieht es der Mythos schon vor. Durch seine Wunde ist Philoktet als Sündenbock markiert und in den Augen der Griechen auch legitimiert: So kann man ihn nämlich nicht gebrauchen; so ist er nicht mehr nützlich. Ja, so behindert er sogar das Weiterleben der Gemeinschaft. Durch die Ausstoßung des Sündenbocks Philoktet vollziehen die Griechen Katharsis ihrer Gemeinschaft. – Wie furchtbar dieses Verständnis von Gemeinschaft sein kann, das denjenigen, der sozial angeblich nicht nützlich ist, aussondert, hat uns spätestens die Geschichte des 20. Jahrhunderts gelehrt. Aus einer anderen Perspektive kann man die Griechen aber doch irgendwie auch verstehen: Niemand will die Dauerklage, so viel menschlichen Grund sie haben kann, gerne hören. Nichts als leidende Kreatürlichkeit, die jede offenere Aufmerksamkeit und jede freie Interaktion verengt auf diesen einen klagenden Menschen in seinem Schmerz. Ein Übermaß an Subjektivität, das sich im sozialen Raum Ausdruck verschafft, bedroht immer die soziale Gemeinschaft. Das ist nicht notwendig eine moralische Herausforderung, kann es aber für beide Seiten werden. Das ist auch das moralische Ferment des Philoktet-Mythos. Auf seiner Insel muss Philoktet mit seinem Schmerz nun allein zurechtkommen, mit seinem physischen, den seine Wunde hervorruft, wie seinem psychischen, von der Gemeinschaft ausgeschlossen worden zu sein. Seine Einsamkeit und sein Schmerz bestimmen sein Bewusstsein ganz. Sie zwingen ihn in eine Selbsterfahrung und Selbstbegegnung förmlich hinein, bis er schließlich gar nicht mehr aus sich selbst hinausfinden will und er sich völlig verhärtet. Genau dies wirft ihm Neoptolemos vor:

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Doch wer im selbstgewählten Leid verharrt Wie du, kann nicht auf Nachsicht hoffen und Erwarte nicht, daß man sich sein erbarme. Jähzornig bist du, hörst auf keinen Rat. (1318-1321)113

Jetzt, wo die Griechen nach zehn Jahren endlich zu ihm zurückkommen, ist Philoktets Welt ganz eng geworden. Aus dem zugefügten Leid ist, so scheint es hier noch, ein ‘selbstgewähltes’ geworden. Zehn Jahre: Die Zeit ist um; so kann es nicht weitergehen. Das Prinzip ‘Philoktet’ ist erfüllt. Einerseits hat Neoptolemos Recht: Philoktet muss selbst in die Gemeinschaft der Griechen wirklich, in vollem Umfang zurückkehren wollen.114 Das heißt dann auch: Er kann sich den sozialen und politischen Aufgaben des Kollektivs nicht einfach verweigern. Die Griechen brauchen ihn; so hat es das Orakel bestimmt. Andererseits missversteht Neoptolemos die unumstößliche, überwältigende Tatsächlichkeit des physischen und psychischen Schmerzes. Nichts wünscht sich Philoktet nämlich mehr, als – allerdings zu seinen Bedingungen – in die Gemeinschaft zurückzukehren, deren eigentliches Medium, wie für Goethes Iphigenie, die Sprache ist: Die Sprache möcht’ ich hören. Schaudert nicht Vor mir zurück, weil ich verwildert bin. Erbarmt euch eines unglückselgen Mannes, Der einsam, ohne Freunde lebt, allein. O redet, wenn ihr mir als Freunde naht. Antwortet mir! Daß Red und Gegenrede Einander wir mißgönnen, ziemt sich nicht. (225-231)

So begrüßt er Neoptolemos. Und gleich darauf, als dieser ihn anspricht, noch emphatischer: ‘O liebster Laut! Wie lange Zeit hat keiner / In dieser Sprache mehr mich angeredet’ (234-235). Und so auch am Schluss: ‘O liebster Laut! Du redest wirklich wahr?’ (1290) Heimkehr nach Griechenland bedeutete Heimkehr in die Sprache als dem Medium der Gemeinschaft und dem Medium, durch das das Subjekt in seinem bewussten Fühlen, Erleben und Denken sich der Gemeinschaft öffnen kann.115 ‘Red und Gegenrede’: das kann Philoktet in den Auseinandersetzungen mit Neoptolemos und Odysseus gleich reichlich haben. Doch dann hält er diesem eigenen Anspruch der Aufhebung von Konflikt und Konfrontation

113

Hervorhebung von mir. Zur ‘Resozialisierung’ Philoktets vgl. Matthiesen 1981. 115 Vgl. Jahraus 2003. 114

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in Kommunikation selber noch nicht wirklich stand. Archaische ‘Gewalt’, die andere Lösung des Konfliktes, die Neoptolemos sich vorstellen kann (‘Bereit bin ich, ihn mit Gewalt zu fangen, / Doch nicht mit List.’ – 9091), redet Odysseus ihm sogleich aus, weil Philoktet ihnen, dank der Pfeile und des Bogens des Herakles, auf diesem Gebiet archaischer Konfliktlösung definitiv überlegen ist. Später plagen Neoptolemos schwere Schuldgefühle, weil er Philoktet überlistet und verraten hat: ‘Verlegen bin ich um das rechte Wort. … Zu tief bin ich verstrickt in meine Not. … Ein Schurke bin ich! Dies ist’s, was mich quält’ (897, 899, 906). Schon zu Beginn der Handlung will er sich zur Realpolitik aufraffen und über sein moralisches Gefühl, das ihn ausmacht und ganz ihm zugehört, hinweggehen: ‘Wohlan, ich tu’s, laß alle Scham beiseite’ (120). Doch das Bewusstsein ‘schwerer Schuld’ (1249), die er so auf sich lädt, nötigt ihn dazu, sich nun mit sich selbst zu beschäftigen. Sie lässt ihm keine Ruhe; dieses Schuld-Bewusstsein ist für ihn unhintergehbar. Scham und Schuld sind zwei einander sehr dicht benachbarte Gefühle. Christoph Antweiler hat kürzlich gezeigt, dass Scham ein universelles Gefühl zu sein scheint.116 So, durch Scham und Schuldbewusstsein über sich selbst aufgeklärt, eröffnen sich Neoptolemos neue Möglichkeiten für eine vertrauensvolle Kommunikation. Und so kann auch Philoktet schließlich sagen: ‘meiner Klage Maß ist voll’ (1401). – Hier kann man schon ahnen, welche für das europäische Denken grundlegende Verbindung die griechische und die jüdisch-christliche Tradition einmal eingehen werden.117 Schiller hat dafür eine ästhetisch eindrucksvolle, theatral anschauliche, komplexe und dichte Formel gefunden, wenn er ganz am Schluss seiner Tragödie Die Braut von Messina (1803) dem Chor, den er wieder in die Gattung einführt, das letzte Wort gibt, indem er ihn sagen lässt: “Das Leben ist der Güter höchstes nicht / Der Übel größtes aber ist die Schuld”.118 Die Tragödie wird am Ende bekanntlich doch verhindert: Dank der ‘freundlichen’ Redekunst; zu ihr findet Neoptolemos zurück, wenn er Phi116

Antweiler 2009. Vgl. Vietta 2005. 118 Schiller 1981, S. 912, V. 2839; Hervorhebungen bei Schiller. – Dem eigentlichen Text der Tragödie geht die Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie voran, die den Chor u. a. als eigenständige, von der Handlung ‘abgesonderte’ Reflexionsinstanz begründet und strikt von modernen Chören, wie sie z. B. in der Oper üblich sind, unterscheidet. 117

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loktet verspricht, ihn heimzubringen (‘Er spricht mir freundlich zu. / Wie kann ich seinen Worten mich entziehn?’ – 1350-1351). Dank der vertrauensbildenden Maßnahme, dass er ihm zuvor den Bogen zurückgibt als Sühne für seine Täuschung (‘Ich gehe sühnen, was ich früher fehlte.’ – 1224). Und, vor allem, dank des göttlichen Eingriffs, der verhindert, dass Neoptolemos Philoktet noch einmal betrügen müsste – oder eben Odysseus und die Griechen, denen er zugehört. Aus diesem Konflikt fände Neoptolemos allein, mit seinen eigenen Mitteln, nämlich nicht heraus. Da hilft alles Reden und Reflektieren nichts. Bevor Philoktet endlich die ersehnte Heimat wiedersehen darf, muss er sich für die Polis nützlich erweisen, muss er den Griechen helfen, Troja zu besiegen. So der Spruch des Orakels. Er ist für dieses Drama noch unumstößlich. ‘Ins troische Land, / Das verhaßte’ (1172-1173), soll Philoktet ‘geführt’ werden. Der Halbgott Herakles aber verspricht ‘Heilung’ für alle Parteien: für Philoktet in seinem übergroßen physischen Schmerz, der ihn aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hat; für den unauflösbaren Konflikt, in dem sich Neoptolemos befindet; sogar für Odysseus, den Politiker, und für die Bedrohung der Griechen durch Troja, die nur durch die Reintegration Philoktets in die Gemeinschaft der Griechen endgültig gemeistert werden kann. Bedingung für all dies ist jedoch: die Erscheinung dieses göttlichen Beistandes. Die Griechen brauchen Philoktet, freilich nur in einer Weise, die die Gemeinschaft nicht mehr belastet. Deshalb müssen sie ihm auch seine Genesung versprechen und dafür sorgen wollen. Aus dem ärmsten Teufel kann dann der gefeierte Retter werden. Aber diese soziale Statusaufwertung119 bedeutet noch nicht die Anerkennung der Selbstzweckhaftigkeit eben dieses armen Teufels in seinem ganzen Leid und Elend. Das wird erst der neue jüdisch-christliche Subjektbegriff bringen.120 Die letzte große Wechselrede zwischen Neoptolemos und Philoktet kreist ständig um den Komplex ‘Freundschaft und Vertrauen’ als zwei Grundkräften des Sozialen und des Politischen.121 Nach nichts sehnt sich Philoktet mehr, als aus seiner Einsamkeit befreit zu werden, in der er keine 119

Latacz 1993, 241. Vgl. Braungart 2007b; Braungart 2009b. – Ein schönes Beispiel dafür ist der sogenannte Eid des Hippokrates, in dessen modernen Anpassungen erst entschieden gefordert wird, dass der Arzt ganz ohne Ansehung der Person behandeln und ihre Würde achten muss. 121 Vgl. Frevert 2003. 120

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wirkliche, positive Identität gewinnen kann: ‘Ich bin nichts mehr’ (1228). Das ist die düstere Bilanz seiner zehnjährigen Einsamkeit in seinem physischen Schmerz und seelischen Leid. Sie hat ihn nur negativ definiert. Philoktet muss auch Herakles, dem Halbgott, vertrauen, nicht nur der rhetorischen Überzeugungskunst des Neoptolemos. Dem Spruch der Götter muss er sich unterwerfen, um zu sich selber und in die Gemeinschaft zurückzufinden. Alle brauchen sie den Gott noch. Ihre kommunikative Vernunft allein ist noch nicht stark genug, um ihnen die wirkliche Lösung des Konfliktes aus eigener Kraft zu ermöglichen. Das Erscheinen des Halbgottes, von dem die Mittel der Gewalt – Bogen und Pfeile – stammen, kommentiert aber auch den völlig bewussten amoralischen politischen Pragmatismus des Odysseus, der zu Beginn der Handlung von Neoptolemos ohne jede Hemmung gefordert hat: Wag’s! Rechtlich handeln wir ein andermal. Für eines Tages kurze Schurkerei Vertrau dich mir und für den Rest der Zeit Sollst du der redlichste der Menschen heißen. (82-85)

Drei ‘Begründungen’ des Bewusstseins führt das Drama also vor: aus dem Leiden heraus, aus der moralischen Schuld und aus dem strategischen Denken politischer Pragmatik. Freilich ist der Auftritt des Halbgotts auf wenige Verse am Ende zusammengedrängt. Die jetzt mögliche Verständigung mit den Griechen ist, wie angedeutet, durch das intensive Gespräch zwischen Philoktet und Neoptolemos schon vorbereitet worden. Noch bevor Herakles erscheint, ist Philoktet bereit, Neoptolemos wenigstens nach Griechenland zu folgen. Er hat bereits ein gewisses Vertrauen gefasst. Gegen den Vorwurf des Hochverrats, den Neoptolemos für diesen Fall von Odysseus und den Griechen jedoch befürchten müsste, brächte er Philoktet nur nach Griechenland, nicht jedoch in den Kampf um Troja, und gegen die deshalb möglichen Gefahren für Leib und Leben will dieser ihn mit seinen wundersamen Pfeilen schützen. Viel hat das Gespräch allein schon erreicht. Dennoch lauert hinter dem Gespräch die alte Konfrontation, die archaische Gewalt als Strategie der Konfliktlösung. Durch das Gespräch wird gut 2000 Jahre später die tragische Auflösung des Konfliktes vermieden werden: bei Lessing (Nathan der Weise) und Goethe (Iphigenie, 1787). Kommunikation heißt für Lessing wie für Goethe: Im vernünftigen kommunikativen Handeln der Menschen miteinander, das

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wirkliche wechselseitige ‘Anerkennung’ fordert,122 auch wenn es nicht zur vollen Verständigung kommt, gestalten sie ihre Geschichte so, dass sie nicht tragisch verläuft, dass es in ihrer Weiter- und Höherentwicklung keine “Schlachtbank” (Hegel) braucht, auf der die Opfer der Geschichte zu bringen sind. Hölderlin, der große Sophokles-Kenner und Übersetzer, legt höchste Emphase auf das Gespräch, das nur noch durch den ‘Gesang’, der aber gleichsam aus ihm hervorgeht, überboten werden kann: “Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang”.123 “Gespräch” und “Gesang” sind für Hölderlin nicht nur menschliche Ausdrucks-, sondern Existenzformen. “Wenn ich rede,” sagt sich Dürrenmatts Ill, als er längst weiß, wie sehr er sich darin täuscht, und doch sagt er es, “habe ich noch eine Chance, davonzukommen”.124 Die kommunikativ erreichte Verständigung und Versöhnung, die man im Drama des Sophokles schon ahnen kann, ist aber auch bei Lessing und Goethe durchaus fragil und nicht unproblematisch. Lessings Drama erzählt und deutet, wie gesagt, an seiner entscheidenden Stelle ein Märchen: die Ringparabel. Es endet sogar wie ein Märchen in der großen, versöhnten Menschheitsfamilie, aus der Nathan selbst jedoch ausgeschlossen ist.125 Goethes Iphigenie setzt ihre Anerkennung mit Hilfe einer hermeneutischen List durch. Das ‘Bild’ der Göttin ist Iphigenie selbst. Das spielt zugleich auf die wichtigste anthropologische Aussage der Bibel an, der Mensch sei imago Dei. Hellmut Flashar bezeichnet das Drama des Sophokles im Einvernehmen mit dem griechischen Begriffsgebrauch als Tragödie.126 Es ist aber keine, jedenfalls keine im modernen Sinne. Eine Tragödie ist es freilich dem antiken Gattungsverständnis nach, weil es im Rahmen des TragödienAgon aufgeführt wurde. In der Antike gibt es viele Tragödien mit glücklichem Ausgang, Intrigen, die gelingen und Konflikte lösen und so auch in besonderer Weise das theatrale Spiel als solches vorführen.127 Strukturell aber ist Philoktet ein Tragödienvermeidungsdrama, das die Bedingungen, unter denen diese Vermeidung gelingen kann, selbst zeigt: im Zusammen122

Vgl. Axel Honneths Theorie der Anerkennung; etwa Honneth 1992; Honneth

2005. 123

Hölderlin, Friedensfeier, wohl 1801/1802 entstanden; vgl. Hölderlin 1992, 341. Dürrenmatt 1956, 53 (Hervorhebung von mir). 125 Zum Zusammenhang vgl. jetzt Berger 2008. 126 Flashar 2000, 149. 127 Am Beispiel der Helena des Euripides Bierl 1991. 124

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spiel von Religion, Politik und kommunikativer Vernunft, die die Anerkennung des leidenden Subjekts einschließen muss. Keine davon kann es allein. Wie wichtig dieser Geist der Versöhnung ist, der aus dem Schluss des Dramas spricht, zeigt sich auch daran, dass Philoktet nun sogar versöhnt ist mit seinem unwirtlichen Eiland, auf dem er hat leben müssen, seiner wüsten Höhle, die ihn notdürftig behaust hat. Er verabschiedet sich von Insel und Höhle in einer ungemein anrührenden Schlussrede, die verdeutlicht, wie ihn die Auseinandersetzungen humanisiert haben: So komm! Ich scheide und grüße das Land: Leb wohl, o Gemach, das mich beschützt! Quellnymphen im Wiesengrund, lebt wohl! Du kräftiger Hall und Klippe am Meer! Wie oft ward von den Schlägen des Süds Im Winkel der Kluft mein Haupt benetzt! Wie oft warf mir des Hermes Gebirg, Wenn ich in Stürmen der Qual aufschrie, Den Widerhall meiner Stimme zurück! Ihr Quellen nun und Brunnen Apolls, So scheid’ ich, scheide ich nun von euch, Wie nimmer zu hoffen ich wagte. Lemnos, leb wohl, umbrandetes Land! Entlaß uns freundlich in froher Fahrt Wohin das große Geschick mich ruft, Der Freunde Rat und der mächtige Gott, Der dies Geschehen vollendet. (1452-1468)

Auch Schillers Jungfrau von Orleans (1801) schließt mit einem versöhnenden Wunder. Aber dieser legendenhafte Schluss wird dort so opernhaft theatralisch in Szene gesetzt, dass er Geltung allenfalls für das naive, unaufgeklärte Bewusstsein beanspruchen dürfte: also keine unter den Bedingungen der Moderne. Versöhnung der beiden einander gegenüberstehenden Konfliktparteien könnte – wenn überhaupt – nur aus der eigenen Kraft zur Verständigung heraus und unter den Bedingungen von Geschichte gelingen, die eine andere sein müsste als nur eine von Gewalt und Instrumentalisierung des Subjekts.128 Unter genau dieser Perspektive kann man Heiner Müllers Philoktet lesen. Bei Sophokles aber gilt: Debatte, Gespräch und Mythos – alle drei sind Bedingung der Polis.

128

Zu einer Typologie der Tragödie und auch zum Versöhnungsdrama als Tragödienvermeidungsdrama vgl. Roche 1998.

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V. Heiner Müllers Philoktet Die Tragödie der Neuzeit, die Literatur der Moderne überhaupt, ist auch eine fortwährende ‘Arbeit am Mythos’ (Blumenberg).129 Auch die Leidensgeschichte des Philoktet ist häufig bearbeitet worden.130 Heiner Müller, der große und ungeliebte Dramatiker der DDR, hat den Stoff dreimal aufgenommen: in einem kurzen Hexameter-Gedicht Philoktet 1950, in dem Neoptolemos und Odysseus gar nicht vorkommen und der Held sich den Griechen anschließt, ohne dass es dazu des göttlichen Beistands bedarf. In seinem Philoktet-Drama, das allein hier kurz interessieren soll, geschrieben 1958/1964, uraufgeführt 1968 in München, in der neueren deutschen Literatur die bedeutendste Bearbeitung des Stoffes.131 Und in Philoktet 1979, einer kurzen Skizze132 nur für “ein hochironisches ‘Drama mit Ballett’ und eher ein Satyrspiel”, in dem sich Müller “von der Interpretation wie vom Lehrstückcharakter des früheren Dramas distanziert” – eine “Parodie des Mythos”;133 insofern eine letzte Pointierung des extremen Spiel- und Reflexionscharakters schon seiner eigenen Tragödie. Diese Reflexivität entwickelt Müller philosophisch in Auseinandersetzung mit Hegels Tragödien- und also Geschichtsphilosophie, ästhetisch besonders in Auseinandersetzung mit dem epischen Theater Brechts. In Christoph Menkes Konzeption der Tragödie als zeigendes Reflexionsspiel eines tra-

129 Vgl. etwa Frick 1998; Seidensticker/Vöhler 2001; zum gesamten Kontext der Antikerezeption vgl. den souveränen Überblick bei Riedel 2000, 352-362 (zu Heiner Müller). Aus der umfangreichen Literatur zum Komplex ‘Mythos und Moderne’ zwei der jüngsten Publikationen, weit ausgreifend: Seidensticker/Vöhler 2002; Vietta/Uerlings 2006. 130 Eine knappe Übersicht bei Sophokles 1999; dort die ausführliche Dokumentation von Hellmut Flashar zu den Vorstufen, der Rezeption des Mythos und der Wirkungsgeschichte, 93-122; ebenso Flashar 2000, 161-163. 131 Zitiert wird nach Müller 1978; künftige Nachweise durch Seitenangabe im Text. 132 Zusammen mit wichtigen weiteren Materialien finden sich das frühe Gedicht und die Ballett-Skizze in Storch/Ruschkowski 2005. 133 Huller 2007, 100. Die ungemein umsichtige und informierte Untersuchung bietet einen hervorragenden Forschungsüberblick und eine einlässliche Interpretation des Dramas; vgl. Huller 2007, 49-100. Vorgearbeitet hat dieser Studie wie der neueren Literatur zu Heiner Müller überhaupt die vorzügliche Gesamtdarstellung von Schulz 1980; dort auch eine konzise Interpretation zu Müllers Philoktet, 71-83.

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gischen, also nicht auflösbaren normativen Konflikts ist Müllers Philoktet geradezu ein Paradefall.134 Mit der Rezeption des antiken Mythos und des Dramas des Sophokles, zu dem Heiner Müllers Drama auch ein Konkurrenztext ist,135 wird kulturelles ‘Erbe’ angeeignet. Das Stück vollzieht damit durchaus, was in den literaturtheoretischen und -politischen Debatten der frühen DDR gefordert wurde. Aber wie! Brechts Antigone-Modell (1948) hatte schon vorgeführt, was Aneignung eines ‘Klassikers’ im Kontext der eigenen geschichtlichen Wirklichkeit sein könnte. In Brechts Antigone kann man deshalb ebenfalls ein Vorbild und einen Konkurrenztext für Müller sehen.136 Den Schluss des Dramas – Odysseus und Neoptolemos beginnen, Philoktet zu bestatten, brechen diese ihre Schwundform eines Rituals dann aber ab (39) – darf man als deutliche Anspielung auf die sophokleische Antigone verstehen, d. h. auf das paradigmatische Drama der Tragödientheorie Hegels. Die sperrige, schwierige Sprache von Müllers Philoktet fordert das Verstehen heraus und beansprucht Gleichrangigkeit mit dem griechischen Text. Eine solche Vorlage im ‘Arbeiter- und Bauernstaat’ auf diese Weise aufzugreifen, bedeutete allein schon eine große Herausforderung. Müller bleibt bei der Drei-Personen-Konstellation des Sophokles: Odysseus, Philoktet, Neoptolemos, verändert aber den Schluss vollkommen: Kein Halbgott erscheint; Philoktet wird von Neoptolemos hinterrücks ermordet; der schließt sich widerwillig Odysseus an. Odysseus ist bei Müller ganz der dialektisch bewegliche und zynische Pragmatiker der Macht, der entschieden und ausschließlich von den Interessen des ‘Allgemeinen’, des Kollektivs, von den geschichtlichen Notwendigkeiten her denkt und sein Handeln vollkommen in diesem Sinne rechtfertigt. Heiner Müller selbst sieht in Odysseus wohl gerade deshalb “die wichtigste, die tragische Figur in dem Stück”.137 Wie soll man unter den Bedingungen konkreter Geschichte moralisch verantwortbar handeln können? Odysseus kennt keine moralische Norm jenseits des politischen Pragmatismus, indem er Geschichte vollzieht. Aber er sucht auch keinen und will keinen individuellen Handlungsspielraum. Als ein solcher ‘RealPolitiker’ ist Odysseus Gegenspieler Philoktets, der nichts kennt als seinen 134 Vgl. Menke 2005, 203-214; zur Spannung zwischen normativ begründeter Tragik und Spiel Menke 2005, 211-212. 135 Zum Vergleich der beiden Stücke siehe Lefèvre 2000. 136 Barner 2002, 269. 137 Müller 2009, 148.

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Hass auf die Griechen, die ihn auf Lemnos ausgesetzt haben, sein übergroßes Leid, das ihn definiert, und, kaum eingestanden, seine Sehnsucht nach Re-Integration in die Gemeinschaft und ihre Sprache: Ich war die Wunde, ich das Fleisch, das schrie Der Flotte nach und dem Gesang der Segel Ich der die Geier fraß unter dem Reißzahn Wohnend der Jahre. Ich und ich und ich. Mit hohem Preis gekauft mein Haß gehört mir. (28)

Zuvor aber schon gegenüber Neoptolemos: Laut, der mir lieb war, Sprache, lang entbehrt. Mit der das erste Wort aus meinem Mund ging Mit der ich antrieb meine tausend Rudrer Die tausend Speere lenkte in der Schlacht. So lang gehaßt auch wie entbehrt. … So lebe, weil du eine Stimme hast. Red, Grieche. Red von mir das Schlimmste, red Von meinen Feinden Gutes. Was du willst. Lüg, Grieche. Allzu lang hört ich nicht lügen. (16)

Was für eine ‘Ambivalenz der Gefühle’! Nicht nur hier wird auf Goethes Iphigenie angespielt.138 Das ganze aufklärerische Humanisierungsprojekt, das sich in “verständiger” (Hölderlin) und sich verständigender, geselliger Rede vollzieht, im Dialog, der das Soziale schafft und selbst ist:139 sozusagen das Habermassche Modell von Kommunikation, steht in diesem Drama zur Diskussion. Müller wählt den Blankvers, den Vers klassischer deutscher Bühnensprache (Lessing, Nathan; Goethe, Iphigenie; Schiller, Maria Stuart). Odysseus bestimmt jeden anderen, hier in erster Linie Philoktet, aber auch Neoptolemos, ausschließlich als einen, der ‘gebraucht’ wird.140 Das Verb fällt ständig, auch gegenüber Neoptolemos und bis zum Schluss der Handlung.141 Mit diesem ‘Brauchen’ negiert Odysseus die jüdisch-christliche Subjekt-Idee, die das 18. Jahrhundert erst wirklich auf den Begriff 138

Schulz 1980, 75. Fauser 1991. 140 Schulz 1980, 79; Lefèvre 2000, 425; bes. Huller 2007, 85-90. 141 Z. B: “Doch braucht es einen Helfer hier der lügt”; “Sei wo du willst kühn, klug brauch ich dich hier / Und wenig nütz ist mir des Toten Schläue” (9); “Ich zweifle nicht an deiner Kunst im Schlachten. / Ich brauch dich lebend und noch brauchst du mich so” (10). 139

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bringt und für das moralische Denken durchsetzt, also säkularisiert, die grundlegend ist für die Autonomie der Kunst im Idealismus und die eine Neubestimmung nun auch der Tragödie erfordert, am deutlichsten bei Schiller, ausstrahlend bis Brecht.142 Mit den Anspielungen auf Goethes Iphigenie, auf Hegel und auf die Antigone des Sophokles kommt ein enormer Anspruch in Müllers Drama. Mit der ‘Lösung’ des Konflikts durch die Ermordung Philoktets werden auch Goethe und Hegel mit seinem dialektischen Tragödien- und Geschichtskonzept kommentiert. Noch der tote ‘Held’ Philoktet wird zu Zwecken der Staatsräson von Odysseus instrumentalisiert und muss mit in den Kampf um Troja. Der vermeintlich im Kampf gefallene, in Wahrheit aber von einem aus der eigenen Gruppe, von Neoptolemos, ermordete Held soll zum integrativen Opfer und Märtyrer umgedeutet werden.143 Dieser ‘Märtyrer’ soll die Griechen einen und zum endgültigen Sieg gegenüber Troja führen. Was das besagt im Kontext der Heldenverehrung der DDR, die man als Sehnsucht nach dem Mythos verstehen kann, der das Gemeinwesen ‘begründet’, ist offensichtlich.144 Es gibt Anthropologie immer nur unter den Bedingungen von Geschichte. Der Schluss des Dramas verschärft also noch einmal den Grundkonflikt des gesamten Dramas: Was zählt der Einzelne, der nur als ein Leidender vorgestellt wird, was zählt das Individuum gegenüber den Interessen des Kollektivs? Ist jeder moralisch indifferente Pragmatismus aus Gründen der Staatsräson gerechtfertigt? Darf man den anderen, das Morden, die Toten derart instrumentalisieren? In dieser Perspektive könnte das Schlussbild kaum eindringlicher sein, kaum von größerer theatraler Wucht: Neoptolemos, der Mörder Philoktets, der die Lektion seines Meisters Odysseus wirklich gelernt hat, bekommt von ihm den Toten auf die Schultern geladen, wie man das erlegte Jagdtier über die Schultern legt. Er ist jetzt schuldbeladen. Die Griechen, für die der Mord das Kollektiv wieder ‘begründende’ Bedeutung und Funktion hat, sind jetzt ebenfalls schuldbeladen, so wie es Dürrenmatts Güllener sind. Das Individuum ist nicht geopfert, sondern ermordet worden. Das wird, deutlich sichtbar für alle, gezeigt. Politische Opfer-Mythen sind entlarvt. Odysseus, der der Drahtzieher der Staatsräson ist, versucht, sich

142

Vgl. Braungart 2009b. Eke 1999, 112. 144 Zur Geschichte der deutschen Mythen vgl. jetzt als neues Standardwerk Münkler 2009; zur DDR 421-453. 143

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durch diese symbolische Handlung selbst zu entschulden. Nichts als Lug und Trug bis zum Schluss: Hätte Neoptolemos Odysseus mit dem Bogen des Herakles erschossen, wie er es für einen Moment vorhatte: der listenreiche Zyniker der Macht hätte wohl gewusst, welchen Weg der EntSchuldung es geben könnte. Hochironisch auf Pilatus und also auf das endgültige Opfer Christi (Girard) anspielend sagt er zu seinem ‘Schüler’ in Sachen Staatsräson: “Vor Troja werd ich dir die Lüge sagen / Mit der du deine Hände waschen konntest / Hättst du mein Blut vergossen jetzt und hier” (42). Neoptolemos steht wirklich dazwischen: Er empfindet einerseits Mitleid, diese jüdisch-christliche Grundtugend, mit dem gequälten Individuum. Und doch vermag er, trotz seines Hasses auf Odysseus, die Gründe der Staatsräson in gewissen Grenzen anzuerkennen. Aber er trägt damit auch die doppelte Last. Die Fragen bleiben alle offen, und keine Antwort ist irgendwo in Sicht: Was taugt Staatsräson als alleinige ethische Handlungsbegründung? Was darf das Kollektiv gegenüber dem Individuum erwarten, ja verlangen? Was zählt das Individuum im geschichtlichen Prozess? Inwiefern ist das Leiden ein zu akzeptierender, ja legitimerweise einzurechnender Faktor im geschichtlichen Prozess? Müller kennt keine Lösungen, nur erschütternde, sprachgewaltig in Szene gesetzte Konfrontationen.145 Dem Drama geht ein Prolog voran, den der “Darsteller des Philoktet, in Clownmaske”, spricht (7). Dieser Prolog ist unübersehbar eine Auseinandersetzung mit Brecht, den er vollständig revidiert. Müller selbst sieht das Stück als Fortführung und Kritik der Brechtschen Lehrstücktheorie.146 Nach dem Monolog des Philoktet-Darstellers fordert die Regieanweisung: “Saaltüren zu. Der Clown demaskiert sich: sein / Kopf ist ein Totenkopf”. Er geht ab mit den Worten: “Sie haben nichts zu lachen / Bei dem, was wir jetzt miteinander machen.” Die Komödie ist am Beginn schon zu Ende; die Tragödie beginnt.147 Sie beginnt als Totentanz. Sie beginnt, insofern sie zurückkehrt zum archaischen Grund der Gattung: zum “Schlachten”, zum Töten, zu schuldloser, moralloser tödlicher Gewalt, von der Burkert sagt, dass es sie für Menschen nicht geben kann:

145

Schulz 1980, 82. Eke 1999, 114. 147 Menke 2005, 213. 146

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Wolfgang Braungart Damen und Herren, aus der heutigen Zeit Führt unser Spiel in die Vergangenheit Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr. Und daß wirs gleich gestehn: es ist fatal, Was wir hier zeigen, hat keine Moral Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen. Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen. (7)

Diese Abwehr der Belehrung durch das Theater und dieser Hinauswurf des Publikums, sofern es etwas lernen will, ist deutlichster Anti-Brecht, der die Symbolik des Schlachtens in seiner Tragödie Die heilige Johanna der Schlachthöfe selbst durchspielt.148 Politik bedeutet Krieg gegen Troja. Und Krieg ist ‘Töten’, ist ‘Schlachten’. Das ist die einigende ‘gemeinsame Sache’. Die Kriege der Neuzeit haben auch diese entsetzliche anthropologische Lehre gelehrt. ‘Brauchbar’ für solche Politik ist, wer schlachten kann (11). Die höchste Kunst politischer Taktik ist nichts als Lug und Trug. Dieser Diskurs über Lügen und Täuschen durchzieht das Stück bis zum Schluss. Odysseus rät Neoptolemos, sie sollten ihren griechischen Landsleuten nach der Rückkehr sagen, Philoktet sei hinterrücks von einer trojanischen Delegation ermordet worden (40-41). So will er noch den Toten für die Propaganda instrumentalisieren. Durchdachteste politische Strategie und Klugheit führen letztlich nur in die Anfänge vor aller Politik und Geschichte zurück und leben aus ihnen. Höchste Zivilisation ist vor aller Zivilisation. Odysseus instrumentalisiert diese vorzivilisatorische Tiefenschicht bewusst. Noch die Wunde der leidenden Kreatur ist dafür Symbol. “Solang der sein ist, fürchte seinen Bogen”, rät er Neoptolemos und warnt ihn zugleich vor jedem Mitleid mit dem leidenden Individuum, das die politische Strategie gefährden könnte: Bis er uns folgt, in Stricken oder frei Nach Troja, wo Asklepios ihm den Fuß heilt Damit er uns hilft von der größern Wunde Aus der zu lang schon zweier Völker Blut geht Der Stinkende uns vom Gestank der Schlacht Fürchte sein Elend mehr als seinen Bogen. Nur blind für seine Wunde heilst du die Nur taub für seinen Jammer stillst du den. (14)

148

Vgl. Braungart 2009b.

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Nicht zustimmend, nicht ablehnend, sondern in kühlster, analytischer Präzision lenkt das Drama den Blick auf die Hegelsche Schlachtbank der Geschichte.149 Unverkennbar ist der Bezug auf Brechts Maßnahme. Das Opfer des Individuellen, das für das höhere Ziel der Geschichte, so Odysseus, notwendigerweise zu bringen ist, wird hier nicht mehr zum Sündenbock sakralisiert. Hinter aller politischen Klugheit und Rafinesse erscheint unverstellt die blanke Gewalt. Müllers Drama gibt insofern also doch auch eine ‘große’ Antwort auf eine ‘große’ Frage: Ja, auch dieser politischgeschichtliche Mensch, wie er sich hier zeigt, ist nichts als ein Homo Necans; und die ‘politische’ Geschichte, d. h. die Geschichte, die uns alle angeht und unsere ‘gemeinsame Sache’ ist, ist sein Aktionsfeld. Dies, dass er ein Homo Necans ist, ist seine Urschuld von Anfang an, und sie ist es gerade auch dort, in der Polis, in der ‘res publica’, wo er von ihr freikommen will. “Haß” und “Wut” sind die starken Gefühle, die, so sieht es Odysseus, Neoptolemos in den Kampf der Griechen, in die Politik zurücktreiben. Diese Gefühle muss man lebendig halten. “Geh schneller”, spornt er ihn an, “daß nicht deine Wut verraucht. / In Troja ist dein Tisch gedeckt, geh schneller” (42). Es gibt keine Geschichte ohne Anthropologie. Anthropologie ist Bedingung von Geschichte, auch noch im ‘real existierenden’ Sozialismus des 20. Jahrhunderts. Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Vielleicht doch nicht ganz. Heiner Müllers Philoktet ist weder das Antikriegsstück, das man in ihm hat sehen wollen, noch ist es ein geschichtspessimistisches Stück.150 Kein Gott mehr löst die Aporien auf. Wenn es eine Lösung für sie geben kann, dann doch nur die: eine grundsätzlich andere Politik zu machen als die des listenreichen Griechen. Wie das gehen soll, braucht die Tragödie selbst nicht zu sagen. Sie macht nur deutlich: Diese Politik, die unsere ‘gemeinsame öffentliche Sache’ so versteht und so durchsetzt wie Odysseus, ist selbst die Tragödie.

149 150

Zu Müllers Auseinandersetzung mit Hegel vgl. Ostheimer 2002. Die Forschungssituation wird kurz resümiert bei Barner 2002, bes. 257-260.

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