Ikonographie und Sprachbild: Zur reformatorischen Flugschrift »Der gestryfft Schwitzer Baur« [Reprint 2013 ed.] 9783110929089, 9783484365841

The study focuses on the largely neglected anonymous flysheet »Der gestryfft Schwitzer Baur«, printed in 1522 by Pamphil

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Ikonographie und Sprachbild: Zur reformatorischen Flugschrift »Der gestryfft Schwitzer Baur« [Reprint 2013 ed.]
 9783110929089, 9783484365841

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
ERSTER TEIL. Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß
1 Die reformatorische Flugschrift – Am Beispiel ausgewählter Flugschriften aus der Basler Offizin Pamphilus Gengenbachs
2 Zu weiteren Medien im Dienst der Verbreitung reformatorischer Ideen in der Schweiz
3 Wer konnte reformatorische Flugschriften überhaupt lesen? – Bemerkungen zum eidgenössischen Bildungswesen am Vorabend der Reformation
ZWEITER TEIL. Die Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur – Eine exemplarische Analyse und Interpretation
4 Der gestryfft Schwitzer Baur in der Forschung und eigener Ansatz
5 Argumentation und Polemik – Zur Konstruktion der Flugschrift
5.1 Textsorte und literarische Form
5.2 Inhalt und Aufbau
5.3 Polemische Rhetorik und ars praedicandi
5.4 Zur Technik der Argumentation
5.5 Ergebnis
6 Der Titelholzschnitt
Exkurs: Zur ikonographischen Tradition des grünen und dürren Baumes
7 Das Geschichtsverständnis in Text und Bild
8 Der gestryfft Schwitzer Baur - Ein Text zwischen Fiktion und Faktizität
8.1 Das Gesellschaftsbild in Der gestryfft Schwitzer Baur
8.2 Die Figur des »Schwitzer Baur« - Fiktion oder Faktizität?
DRITTER TEIL. Zentrale Themen und Sinnbilder der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur in ihrem literarhistorischen und soziokulturellen Kontext
9 Laienbildung als ein kontrovers diskutiertes Thema im Spätmittelalter und in der Reformationszeit
9.1 Der Laie und die Bibel
9.2 Das Prinzip der Erfahrung
9.3 »... in tütscher sprach macht man kein doctor / aber in der latinischen sprach krönt man vyl esel...« - Lateinische Gelehrsamkeit und deutscher Wissensdurst
10 Was bedeutet »gestryfft«? – Von der Beziehung zwischen dem Optischen und dem Sozialen
10.1 Historische Semantik und Metaphorik
10.2 Zur Mode und Semiotik gestreifter Kleider
10.3 Zum metaphorischen ›gestreift‹ und zu seiner Semantik
11 Zur literarischen und ikonographischen Tradition der Bileams-Eselin vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts
11.1 Einleitung – Der Esel zwischen Narrheit und Weisheit
11.2 Die Bileams-Eselin im Dienst der mittelalterlichen und humanistischen Kirchenkritik
11.3 Die Bileams-Eselin als Schlagwort und Schlagbild der Reformationspublizistik
11.4 Die Bileams-Eselin als Teil der laus asini bei Agrippa von Nettesheim, Sebastian Franck und Daniel Sudermann
11.5 Rembrandts Gemälde Der Prophet Bileam und die Eselin -Schluß
Der gestryfft Schwitzer Baur – Kommentierte Edition
1. Textgrundlage
2. Zur Textgestalt
3. Zum Stellenkommentar
4. Text
5. Stellenkommentar
Literaturverzeichnis
1. Abkürzungsverzeichnis
2. Quellentexte
2.1 Edierte Quellentexte
2.2 Nichtedierte Quellentexte
3. Literatur
Register
1. Personen, Autoren, Werke und anonyme Werke
2. Schlagworte

Citation preview

Frühe Neuzeit Band 84 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Verena Schmid Blumer

Ikonographie und Sprachbild Zur reformatorischen Flugschrift »Der gestryfft Schwitzer Baur«

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Gedruckt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36584-6

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http: //www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt Vorwort Einleitung Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß . . Die reformatorische Flugschrift - Am Beispiel ausgewählter Flugschriften aus der Basler Offizin Pamphilus Gengenbachs . . . Zu weiteren Medien im Dienst der Verbreitung reformatorischer Ideen in der Schweiz Wer konnte reformatorische Flugschriften überhaupt lesen? Bemerkungen zum eidgenössischen Bildungswesen am Vorabend der Reformation

ERSTER T E I L

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Die Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur Eine exemplarische Analyse und Interpretation 4 Der gestryfft Schwitzer Baur in der Forschung und eigener Ansatz 5 Argumentation und Polemik - Zur Konstruktion der Flugschrift 5.1 Textsorte und literarische Form 5.2 Inhalt und Aufbau 5.3 Polemische Rhetorik und ars praedicandi 5.3.1 Rhetorik und Homiletik 5.3.2 Der gestryfft Schwitzer Baur und die homiletische dispositio 5.3.3 Der gestryfft Schwitzer Baur und die homiletischen modi dilatandi 5.3.4 Docere, delectare und movere in Der gestryfft Schwitzer Baur 5.4 Zur Technik der Argumentation 5.5 Ergebnis 6 Der Titelholzschnitt Exkurs: Zur ikonographischen Tradition des grünen und dürren Baumes 7 Das Geschichtsverständnis in Text und Bild

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ZWEITER TEIL

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VI 8

Der gestryfft Schwitzer Baur - Ein Text zwischen Fiktion und Faktizität 8.1 Das Gesellschaftsbild in Der gestryfft Schwitzer Baur 8.2 Die Figur des »Schwitzer Baur« - Fiktion oder Faktizität? .

Zentrale Themen und Sinnbilder der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur in ihrem literarhistorischen und soziokulturellen Kontext 9 Laienbildung als ein kontrovers diskutiertes Thema im Spätmittelalter und in der Reformationszeit 9.1 Der Laie und die Bibel 9.2 Das Prinzip der Erfahrung 9.3 »... in tütscher sprach macht man kein doctor / aber in der latinischen sprach krönt man vyl esel...« - Lateinische Gelehrsamkeit und deutscher Wissensdurst 9.3.1 >Deutsch und Latein< in der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur und bei Martin Luther 9.3.2 Zu den Widerständen gegenüber der Verbreitung von gelehrtem Wissen in der Volkssprache und zur Kritik an der sozialen Mobilität 9.3.3 >Deutsch und Latein< bei ausgewählten Vertretern des Humanismus 9.3.4 Die Hinwendung zur Volkssprache im Fachschrifttum . . . . 9.3.5 Zusammenfassung 10 Was bedeutet »gestryfft«? - Von der Beziehung zwischen dem Optischen und dem Sozialen 10.1 Historische Semantik und Metaphorik 10.2 Zur Mode und Semiotik gestreifter Kleider 10.3 Zum metaphorischen >gestreift< und zu seiner Semantik . 10.3.1 >Gestreift< in Narrendichtung und Moralpredigt 10.3.2 >Gestreift< in deutschsprachiger Fachliteratur 10.3.3 >Gestreift< in der Literatur der Kampfjahre der Reformation 10.3.4 >Gestreift< ab 1550 - Ein Nachspiel 10.3.5 Zusammenfassung 11 Zur literarischen und ikonographischen Tradition der Bileams-Eselin vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts 11.1 Einleitung - Der Esel zwischen Narrheit und Weisheit . . . 11.2 Die Bileams-Eselin im Dienst der mittelalterlichen und humanistischen Kirchenkritik 11.3 Die Bileams-Eselin als Schlagwort und Schlagbild der Reformationspublizistik

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DRITTER T E I L

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VII 11.4 11.5

Die Bileams-Eselin als Teil der laus asini bei Agrippa von Nettesheim, Sebastian Franck und Daniel Sudermann . . . Rembrandts Gemälde Der Prophet Bileam und die Eselin - Schluß

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Der gestryfft Schwitzer Baur - Kommentierte Edition 1. Textgrundlage 2. Zur Textgestalt 3. Zum Stellenkommentar 4. Text 5. Stellenkommentar

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Literaturverzeichnis 1. Abkürzungsverzeichnis 2. Quellentexte 2.1 Edierte Quellentexte 2.2 Nichtedierte Quellentexte 3. Literatur

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Register 1. Personen, Autoren, Werke und anonyme Werke 2. Schlagworte

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Vorwort Viele haben mich auf dem längeren Weg der Entstehung dieser Arbeit begleitet und auf verschiedene Weise unterstützt. Alle können hier nicht namentlich erwähnt werden. Mein besonderer Dank gilt Peter Rusterholz für die Ermunterung zu und die Freiheit bei der Ausgestaltung dieser Untersuchung. Zu danken habe ich weiterhin Hellmut Thomke für die gute Zusammenarbeit während der Assistenzzeit, in der ich immer wieder wichtige Impulse für meine eigenen Forschungen erhielt. Ihnen und besonders Silvia Serena Tschopp danke ich für die stetige Gesprächsbereitschaft während der Zeit des Suchens und Schreibens. Ein spezieller Dank geht an Jan-Dirk Müller, der sich für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe eingesetzt hat. Dem Schweizerischen Nationalfonds danke ich für den großzügigen Publikationsbeitrag. Besonders herzlich danke ich Fritz Blumer. Ohne seine vielfältige Unterstützung wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Ihm ist es gewidmet.

Einleitung Den zentralen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bildet die anonyme, 1522 in Basel bei Pamphilus Gengenbach gedruckte und mit einem Titelholzschnitt ausgestattete reformatorische Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur. Bildet in der Regel ein umfangreiches Flugschriftenkorpus die Grundlage für literaturwissenschaftliche oder linguistische, reformationsgeschichtliche oder theologische Studien1, so wird hier ein exemplarischer Text aus der Gesamtüberlieferung der Textsorte >reformatorische Flugschrift herausgelöst. Während solche Untersuchungen, die eine größere Anzahl von Flugschriften als Materialgrundlage wählen, dazu tendieren, eine klar definierte literatur- oder gattungsgeschichtliche, historische oder theologische Fragestellung an die Texte heranzutragen - was zur Folge hat, daß die einzelnen Texte nur sehr partiell wahrgenommen und analysiert werden - , so soll hier die spezifische Qualität einer einzelnen Flugschrift so umfassend wie möglich ausgelotet werden. Der gestryfft Schwitzer Baur ist ein Quellenzeugnis, das nicht nur zentrale formale und inhaltliche Aspekte der Literatur und bildenden Kunst der Zeit aufgreift, sondern das sich auch als wichtiges kultur- und sozialgeschichtliches Dokument erweist. Deshalb bilden nicht so sehr andere Flugschriften den Kontext, auf welchen hin diese Schrift untersucht wird, als vielmehr die unterschiedlichsten, aus verschiedenen Genres stammenden Text- und Bildzeugnisse der Zeit. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste, einleitende Teil stellt die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß dar und steht unter der leitenden Fragestellung: »Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?« 2 Exemplarisch soll vor allem anhand von Druckerzeugnissen ebenfalls aus der Basler Offizin Pamphilus Gengenbachs und Berner Fastnachtspielen nach der spezifischen Kommunikationssituation und den verschiedenen Kommunikationsmedien während der Anfangsjahre der Reformation in der Eidgenossenschaft gefragt werden (Kapitel 1 und 2). Das abschließende Kapitel des ersten Teils (Kapitel 3) fragt nach den eidge-

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Vgl. z.B. Kampe, Problem »Reformationsdialog«; Schwitalla, Deutsche Flugschriften 1460-1525; Arnold, Handwerker als theologische Schriftsteller; Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521-22. So lautet der Untertitel des Aufsatzes von Scribner, Flugblatt und Analphabetentum, S.65.

2 nössischen Bildungsmöglichkeiten für Laien am Vorabend der Reformation. Ist das Ziel des ersten Teils, einerseits einen Überblick über diejenigen Medien zu geben, die der Verbreitung reformatorischer Ideen dienten, andererseits aber auch den Produktions- und Rezeptionskontext der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur zu skizzieren, so ist der zweite Teil der exemplarischen Analyse und Interpretation dieser Flugschrift gewidmet, was in einigen Aspekten eine differenziertere Sicht der im ersten Teil eher allgemein formulierten Aussagen ermöglicht. Nach einem Überblick zur Forschungssituation zu dieser Schrift und der Darstellung des eigenen interdisziplinären Ansatzes (Kapitel 4) folgt ein Kapitel, welches nach der Konstruktion der Flugschrift fragt. Dabei geht es insbesondere um die Fragen, welche sprachlichen und ikonographischen Mittel in dieser Schrift für die Propaganda reformatorischer Ideen eingesetzt und inwiefern traditionelle Formen und Funktionen transformiert werden (Kapitel 5 und 6). Erörtert das folgende Kapitel die Text-Bild-Relation der Flugschrift im Zusammenhang mit dem Geschichtsverständnis, wie es in Text und Bild zum Ausdruck kommt (Kapitel 7), so gilt im diesen Teil abschließenden Kapitel die Frage dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, welche mit Hilfe des historischen Kontextes zu beantworten versucht wird (Kapitel 8). Der dritte Teil führt vom Exemplarischen wieder ins Allgemeine zurück. Es geht um die Einbettung dieses exemplarischen Textes in den literarhistorischen und soziokulturellen Kontext, was über das zentrale Thema der Laienbildung (Kapitel 9) und ausgewählte Sinnbilder (Kapitel 10 und 11) der Flugschrift geschieht. Wird im zweiten Teil der literarische, kunstgeschichtliche und historische Kontext nur soweit miteinbezogen, als es die Analyse und Interpretation der Flugschrift erfordert, so soll in diesem abschließenden Teil gefragt werden, inwiefern diese Flugschrift als Text des volkssprachlichen reformatorischen Diskurses mit den verschiedenen anderen Diskursen der Zeit in einen Dialog tritt. Dabei wird nicht nur aufgezeigt, an welchen bereits bestehenden Diskursen diese Flugschrift partizipiert, indem sie bestimmte Themen aufgreift und gewisse literarische und sprachliche Mittel einsetzt, sondern auch in welcher Form und mit welchen Funktionen diese im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts weiterleben. In der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur verteidigt ein Bauer gegenüber einem Mönch das Recht der Laien, die Heilige Schrift in ihrer Muttersprache lesen zu dürfen. Gleichzeitig verteidigt er die deutsche Sprache, die sich, so der Bauer, in ihrer Unmittelbarkeit und als Sprache der natürlichen Vernunft besser für die Rezeption des göttlichen Wortes eigne als die lateinische Sprache. Das erste Kapitel des dritten Teils (Kapitel 9) beschäftigt sich deshalb mit der Kontroverse um die Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Dabei wird nicht nur aufgezeigt, mit welchen Argumenten Befürworter und Gegner der volkssprachlichen Bibel in

3 den Händen von Laien ihre Interessen durchzusetzen versuchten und inwiefern die >neue< Wissensform der Erfahrung als Grundprinzip der laikalen Wissensaneignung fundamentale Kritik an der scholastischen Gelehrsamkeit übt - der Hauptteil dieses Kapitels widmet sich der Sprachproblematik >Latein und Deutsche Es gilt zu zeigen, welcher Stellenwert der deutschen Sprache als der Sprache der Ungebildeten im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit zukam. In diesem Zeitraum drang die deutsche Sprache, gefördert durch den Buchdruck, in Wissensbereiche vor, die vorher nur einem kleinen Kreis von Gebildeten zugänglich waren, eine Entwicklung, die von Reformern begrüßt, von Apologeten der herkömmlichen Ordnung jedoch bekämpft wurde. Das nachfolgende Kapitel (Kapitel 10) beschäftigt sich mit der vielschichtigen Semantik des Wortes >gestreiftneuer< Wissensformen, d.h. unmittelbar und subjektiv erfahrbarem Wissen, sei das nun Erlösungswissen oder praktisches Alltagswissen, findet ebenfalls direkten Ausdruck in der Flugschrift, und dabei sowohl im Text als auch im Bild: im Motiv der Bileams-Eselin (Kapitel 11). Dabei gilt es, die unterschiedlichen, sich auch konkurrenzierenden semantischen Aufladungen der metaphorischen Wendung >gestreift< und des Bileams-Eselin-Motivs in den verschiedenen Diskursen der Zeit aufzuzeigen. Verschiedene Verwendungsweisen oder divergierende Bedeutungen derselben Metapher oder desselben Motivs können dabei als Ausdruck unterschiedlicher Weltsichten interpretiert werden. Die vorliegende Arbeit ist nicht nur einer Methode oder einem theoretischen Ansatz verpflichtet. Ein Text wie diese Flugschrift, ein Text zwischen pragmatischen und literarischen Intentionen, der zu so unterschiedlichen interdisziplinären Fragestellungen provoziert, verlangt auch nach mehreren methodischen Ansätzen. Werden im ersten Teil einerseits ein medienwissenschaftlicher, andererseits ein sozialgeschichtlicher Ansatz gewählt, um die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß zu skizzieren, so folgt der zweite Teil weitgehend hermeneutischen Modellen der Text- und Bildanalyse: Eine Form des rezeptionsästhetischen Ansatzes stellt die Analyse der rhetorischen Strukturen der Flugschrift dar, und mit einem ikonographisch-ikonologischen Ansatz wird gearbeitet, um den Titelholzschnitt zu analysieren. Dabei erfolgt die Analyse und Interpretation, soweit dies für das Verständnis des Textes und des Bildes erforderlich ist, unter Einbezug des sprach- und literaturgeschichtlichen, kunstgeschichtlichen, theologischen und historischen Kontextes. Während auch das erste Kapitel des dritten Teils, das sich als Beitrag zur Geistes- und Sozialgeschichte versteht, durchaus hermeneutisch verfährt, wird für das zweite - und teilweise auch für das abschließende - Kapitel ein

4 diskursanalytisches Modell als theoretische Grundlage gewählt. Die historische Semantik im Rahmen der semantischen Diskursanalyse ist die geeignete Methode, um die Genese der metaphorischen Wendung >gestreift< und deren Bedeutungsveränderungen innerhalb der verschiedenen Diskurse der Zeit darzustellen. Dieser Ansatz erlaubt es, die verschiedensten Textund Bildzeugnisse unterschiedlichster Genres, insbesondere auch aus dem Kulturbereich der Mode, einzubeziehen. Ebenfalls nach einer sich verändernden Semantik, diesmal jedoch nicht nach derjenigen einer Metapher, sondern nach derjenigen eines Tierbildes, der (Bileams-)Eselin, und das in Text und Bild, fragt das letzte Kapitel. Es gilt, die sich verändernden Formen und Funktionen dieses Tiersymbols in den verschiedenen Diskursen vom Spätmittelalter bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufzuzeigen.

ERSTER TEIL

Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß In der reformationsgeschichtlichen Forschung kommt seit längerer Zeit kommunikationsgeschichtlichen Ansätzen eine große Bedeutung zu. Gefördert oder teilweise sogar erst ermöglicht wurden Fragestellungen nach der Art und Weise des reformatorischen Kommunikationsprozesses durch die seit den späten 70er Jahren erfolgte Erschließung der Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts.1 Zentrale Bedeutung innerhalb dieser Forschung kommt dabei dem von Rainer Wohlfeil geprägten Begriff der >reformatorischen Öffentlichkeit zu.2 Er sieht darin das geeignete »Denkbild«, um »das zeitbedingte Mediensystem treffend zu bezeichnen«. 3 Entscheidend ist dabei, daß »die reformatorische Öffentlichkeit« als eine der »wichtigsten Bedingungen der Reformationsphase von 1517 bis 1525«4 eine gesamtgesellschaftliche Erscheinung umschreibt, die sich wesentlich durch den Einbezug des >gemeinen Mannes< in den Kommunikationsprozeß definiert.5 Konkret

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Vgl. Köhler/Hebenstreit-Wilfert/Weismann, Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts. - Hans-Joachim Köhler leitete das Tübinger Flugschriftenprojekt, das ursprünglich die Erschließung und auch inhaltliche Auswertung der deutschen und lateinischen Flugschriften des 16. Jahrhunderts zum Ziel hatte. Weil das Forschungsprogramm jedoch bereits 1984 aufgelöst wurde, muß sich das Projekt nun auf die Erschließung der Flugschriften und auf ihre bibliographische Beschreibung beschränken. Auch dieser Arbeit kommt jedoch für die Erforschung der Flugschriften des 16. Jahrhunderts ein großes Verdienst zu. Die Microfiche-Ausgabe der Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts sie enthält 5000 Flugschriften - liegt abgeschlossen vor. Noch am Erscheinen ist diejenige der Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts. Vgl. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, S. 123-133. Wohlfeil, >Reformatorische Öffentlichkeit^ S.47. Wohlfeil, >Reformatorische Öffentlichkeitreformatorischen Öffentlichkeit neuerdings von Michael Schilling (Bildpublizistik der frühen Neuzeit, S. 160-162). Er bestreitet einen quantitativen und qualitativen Sprung der Kommunikationsverhältnisse zwischen Spätmittelalter und Reformationszeit. Ebenso lehnt er die reformatorische Öffentlichkeit als einzigartigen historischen Prozeß mit Hinweisen auf Forschungsarbeiten zur Propaganda im Dreißigjährigen Krieg ab. Er schlägt denn auch vor, künftig von drei verschiedenen »Öffentlichkeiten« zu sprechen, von der »>Öffentlichkeit der Herrschaftsträgergemeine Mann< ist im reformatorischen Kommunikationsprozeß durchaus auch Subjekt. Die hier vorliegende Untersuchung soll diese Aussage stützen. Scribner, Flugblatt und Analphabetentum, S.65. Für das Zusammenwirken und wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis der genannten Kommunikationsformen gebraucht Scribner (Flugblatt und Analphabetentum, S.75) denn auch sehr treffend die Metapher der Partitur. Dabei werden nicht detaillierte Analysen und Interpretationen geboten, im Unterschied zur Untersuchung der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur im zweiten Teil dieses Buchs. Vielmehr sollen spezifische Merkmale des Mediums der Reformationsflugschrift benannt und beschrieben werden.

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diesen ersten Teil abschließende Kapitel (Kapitel 3) stellt einen Versuch dar, der schwierigen Frage nach den Adressaten und damit nach der Rezeption vor allem der schriftsprachlichen Propagandamedien mit einigen Bemerkungen zur vorreformatorischen Schulsituation in der Eidgenossenschaft zu begegnen. Der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung am Vorabend der Reformation ist aufs engste verknüpft mit Schuleinrichtungen für Laien. Solche rudimentäre Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelnden Schulen fanden bis jetzt in der Forschung noch zu wenig Beachtung, und deren Bedeutung für die Laienbildung wurde kaum richtig eingeschätzt.

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Die reformatorische Flugschrift Am Beispiel ausgewählter Flugschriften aus der Basler Offizin Pamphilus Gengenbachs

In der Forschung ist man sich einig, daß »die Massenhaftigkeit der Reformationsbewegung gerade an der Massenhaftigkeit der Buchproduktion greifbar wird« 1 . Anders ausgedrückt: Erst der Buchdruck hat die Bedingungen geschaffen, damit eine Bewegung wie die Reformation sich überhaupt so schnell und unwiderstehlich ausbreiten konnte. Neben dem Buchdruck ist der Übergang zur Volkssprache die zweite Voraussetzung für die reformatorische Öffentlichkeit. Erst jetzt wird die deutsche Sprache »autonom, ja schließlich allein legitim« 2 . Genaue Zahlen zum Verhältnis zwischen lateinischen und deutschen Drucken in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts fehlen. Doch kann man aufgrund einzelner auf statistischen Auswertungen beruhender Studien davon ausgehen, daß die Zahl deutschsprachiger Druckerzeugnisse anfangs der 20er Jahre zumindest diejenige lateinischer Schriften erreichte, wenn nicht sogar überstieg, um dann aber im Verlauf des 16. Jahrhunderts und vor allem im 17. Jahrhundert wieder deutlich hinter die lateinischsprachige Produktion zurückzufallen. 3 Verantwortlich für diese Verschiebung im Verhältnis zwischen deutschsprachigen und lateinischen Drucken waren in erster Linie die Flugschriften, die unter dem Aspekt der enormen Zahl ihrer Produktion das eigentliche Propagandamedium der frü-

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Moeller, Stadt und Buch, S.31. Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur, S. 969. - Vgl. dazu ausführlich unten Kapitel 9.3. Vgl. dazu die von Christoph Martin vorgenommene statistische Auswertung der umfangreichen Bestände mathematisch-naturwissenschaftlich-medizinischer Literatur des 16.-18. Jahrhunderts der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Er kommt zu folgendem Resultat: »Die Zahl der deutschen und lateinischen Bestände im Bereich von Naturkunde und Medizin ist schon im Jahr 1520 gleich groß, läuft bis 1580 etwa parallel, danach überwiegt fast hundert Jahre lang das Lateinische deutlich das Deutsche« (zit. bei Pörksen, Der Übergang vom Gelehrtenlatein zur deutschen Wissenschaftssprache, S.56). - Vgl. auch die Studie von Miriam Usher Chrisman, Lay Culture, Learned Culture, wo versucht wird, anhand aller von 1480 bis 1599 gedruckten - und heute noch vorhandenen - Bücher in Straßburg ein Bild der kulturellen und sozialen Kräfte und Veränderungen innerhalb dieses Zeitraums und einer bestimmten Region zu zeichnen. Die Figur 1 (ebenda, S. 287) zeigt dabei auf, wie deutschsprachige Druckerzeugnisse in den 1520er Jahren lateinische um das Doppelte überstiegen.

9 hen Reformationszeit darstellten.4 Hans-Joachim Köhler rechnet für die Zeitspanne von 1501 bis 1530 im deutschen Sprachraum mit etwa 10 000 bis 12 000 Drucken. Bei einer durchschnittlichen Auflage von 1000 Stück ergab das 10 bis 12 Millionen Flugschriften - bei einer Gesamtbevölkerung Deutschlands von 12 Millionen!5 Sich auf diese Zahlen stützend, kommt Peter Blickle aufgrund folgender Überlegungen zu einem noch etwas differenzierteren Bild: Aus der Tatsache, daß sich die Drucker vorwiegend im oberdeutschen Raum konzentrierten - abgesehen von Wittenberg, der Verlegerstadt der Lutherschriften6 - und deshalb die hochdeutschen Schriften die niederdeutschen bei weitem übertrafen, wobei die Sprachgrenze zwischen niederdeutschem und hochdeutschem Sprachraum für die Verbreitung der lutherischen Ideen als eine Schwelle wirkte, folgert er, daß »in Oberdeutschland, dem Gebiet der Gemeindereformation, auf den Kopf der Bevölkerung annähernd zwei bis drei Flugschriften« kamen.7 Er sieht den Markt für die frühreformatorischen Flugschriften hauptsächlich in Süddeutschland und der Schweiz.8 Gestützt wird diese These zur Produktion, Distribution und Rezeption der Flugschriften, wenn man die zeitliche Verteilung ihrer Produktion berücksichtigt: Die Jahre zwischen 1520 und 1525 stellen den absoluten Höhepunkt der Flugschriftenproduktion dar. Nachher fällt die Pro-

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Edwards (Printing, Propaganda, and Martin Luther, S. 15) spricht der Flugschriftenoffensive der frühen 1520er Jahre geradezu den Charakter einer »modern media campaign« zu. - Besonders die reformatorischen Flugschriften führten zu Beginn der 20er Jahre zu einer Explosion deutscher Drucke, und erst 1527 überstieg die Buchproduktion erstmals wieder diejenige der Flugschriftendrucke (vgl. Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, Tafel 2, S.267). Diese Angaben zum Verhältnis zwischen deutschsprachigen und lateinischsprachigen Schriften werden auch bestätigt, wenn man Hans-Joachim Köhlers statistische Auswertungen an Flugschriften berücksichtigt, die zeigen, wie radikal die Abkehr vom Lateinischen zugunsten deutschsprachiger Publikationen war: So »kehrte sich von 1519 bis 1521 das Verhältnis von 28% deutschen und 72% lateinischen Flugschriftendrucken vollständig um (in über 74% deutsche und knapp 26% lateinische Texte). Danach sank in den Jahren 1520 bis 1522 die Anzahl lateinischer Flugschriften auf etwa ein Drittel ab, so daß ihr Anteil an der Gesamtproduktion von den genannten 26 auf nur noch 9,5 % sank - insgesamt also ein Sturz von 72 auf 9,5% in ganzen drei Jahren« (Köhler, Die Flugschriften der frühen Neuzeit, S.331). Auch anhand der Dialogflugschriften bestätigt sich dieses Resultat. Der Anteil lateinischer Dialoge betrug in den Jahren 1522 bis 1525 zwischen 0 und 15% (vgl. Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachbereich veröffentlichten Dialogflugschriften, Tafel 2, S.83). - Somit können die Angaben von Engelsing, 1524 habe das Verhältnis der lateinischen zu den deutschen Drucken 3 zu 1 betragen, als überholt gelten (Engelsing, Analphabetentum und Lektüre, S.26).

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Vgl. Köhler, Erste Schritte zu S.249f. Vgl. dazu Köhler, Erste Schritte Tafel 6, S.271. Blickle, Gemeindereformation, Blickle, Gemeindereformation,

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einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, S. 130. S. 130.

10 duktionskurve rapide ab.9 Blickle führt dies darauf zurück, daß nach der militärischen Niederwerfung der Bauern 1525 der Markt für sie fehlte oder zumindest deutlich enger geworden war.10 Auch wenn man eine Textgruppe aus dem gesamten Flugschriftenkorpus herausgreift, die sogenannten Dialogflugschriften, bestätigt sich diese These. Alejandro Zorzin hat darauf hingewiesen, daß auch diese Flugschriften hauptsächlich im oberdeutschen Raum, in Augsburg, Straßburg, Basel und Nürnberg, gedruckt wurden und daß auffälligerweise Wittenberg als Publikationsort für Dialoge wegfalle.11 Zorzin schreibt dazu: »Auch wenn Luther selbst keine Reformationsdialoge verfaßt hat, war man sich also im Wittenberger Kreis durchaus im klaren darüber, daß solche populären Dialogflugschriften ein wirksames Mittel waren, um sich an die unteren, weniger gebildeten Volksschichten zu wenden. Die Zurückhaltung der Wittenberger, sich in den Jahren vor dem Bauernkrieg dieser Publikationsform ausgeprägt agitatorischen Charakters zu bedienen, kann also vermutlich als ein bewußtes Vorgehen der Wittenberger Drucker und Publizisten und somit als Publikationsstrategie gedeutet werden.«12 Doch konnte sich der >gemeine Mann< solche Flugschriften überhaupt leisten? Köhler hat aufgrund verstreut in der Literatur veröffentlichter Zahlen und handschriftlich von Besitzern in Flugschriften eingetragener Vermerke eine vorsichtige Schätzung vorgenommen. Er geht dabei von einem Preis von ca. ein bis zwei Pfennigen pro Druckbogen aus, was bei einem Quartdruck von 16 Blatt etwa acht Pfennige ausmacht. Dieser Betrag dürfte, so Köhler, »etwa einem Drittel Tageslohn eines Handwerksgesellen oder auch dem Preis für ein Huhn, ein Kilo Rindfleisch, ein Pfund Wachs oder für eine Mistgabel entsprochen haben«, ein Preis also, »der wohl auch für den >Gemeinen Mann< nicht als prohibitiv [...] angesehen werden« kann. 13 Kaufen konnte man die Flugschriften in städtischen Buchläden, doch dürften Flugschriftenhausierer auch von Wirtshaus zu Wirtshaus gezogen sein. Zur

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In den sechs Jahren von 1520 bis 1525 erschienen fast drei Viertel der gesamten Flugschriftenproduktion des von Köhler untersuchten Zeitraums von 1500 bis 1530. Vgl. Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, S.250f. und Tafel 1, S.266. Vgl. Blickle, Gemeindereformation, S. 130. Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachraum veröffentlichten Dialogflugschriften, S. 90. Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachraum veröffentlichten Dialogflugschriften, S. 94. Köhler, Die Flugschriften der frühen Neuzeit, S.325. - Eine andere Angabe findet sich im Artikel »Flugschrift« des Literaturlexikons (LL), wo es heißt, daß »angesichts des eher hohen Preises derartiger Publikationen [...] solvente Abnehmer in Frage« kämen (Bd. 13, S.308). Dieser Artikel gewinnt seine Angaben nicht so sehr aus reformatoris c h e n F l u g s c h r i f t e n als v i e l m e h r aus Flugschriften d e s 17. Jahrhunderts, w o d u r c h d i e s e

gegenüber Köhler differente Einschätzung der Flugschriftenpreise erklärbar wird.

11 schnellen und vor allem auch weiten Verbreitung der Flugschriften - und anderer Kleindrucke - beigetragen haben die Buchführer, und zwar nicht bloß im städtischen Bereich. Auch ländlichen Gebieten wurde durch diese ambulanten Buch Verkäufer ein Zugang zu Flugschriften geschaffen. 14 Wie die Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur wurden auch die Schriften Der Ewangelisch burger15 und Ein kurtzer begriff16 in den frühen 20er Jahren17 im oberdeutschen Raum gedruckt, in der Offizin Pamphilus Gengenbachs in Basel. 18 Pamphilus Gengenbach, Autor, Buchdrucker, Wirt und Besitzer eines Buchladens in Basel, war in der Phase der frühen Reformation der einzige Drucker in Basel, der seine Offizin überwiegend in den Dienst der Veröffentlichung deutscher Texte stellte.19 Doch bevor auf seine Person und sein Druckschaffen in Basel näher eingegangen wird, soll das Medium der Flugschrift mit Hilfe der beiden oben erwähnten Flugschriften vorgestellt werden. 20

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Heinrich Grimm (Die Buchführer des deutschen Kulturbereichs) hat für die Zeit von 1490 bis 1550 die sehr hohe Zahl von ca. 1000 Buchführern identifiziert. Vgl. auch Köhler, Die Flugschriften der frühen Neuzeit, S.321f. Diese Flugschrift liegt in einer Textausgabe vor: Goedeke (Hg.), Pamphilus Gengenbach, S. 198-213, Anm. S. 512f. und S. 629. Hier wird nach dieser Ausgabe zitiert. - Von der Flugschrift existieren drei Nachdrucke; zwei wurden in der Offizin des Augsburgers Jörg Nadler hergestellt. Der dritte erschien bei Jörg Gastel in Zwickau. Diese Nachdrucke verzeichnet Prietzel (Pamphilus Gengenbach, S. 425f.). Der vollständige Titel lautet: Ein kurtzer begriff wie der Schultheiß vnd die gemein deß dorffs Fridhusen vff dem gnoden barg, gemeinlich erkant vnd erweit haben ein schoffel irs dorffs mit namen Hans Knüchel, das der selbig an stat ires Pfarrers sol verkünden vnd predigen die Ewangelische leer vnd den wlg der slligkeit, biß zu der zu kunfft irers Pfarrers. Die Flugschrift liegt in einer Edition von Alfred Götze vor: Clemen (Hg.), Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, Bd. 1, S.213-252. Nach dieser Ausgabe wird hier zitiert. Die Formulierung in der Vorrede der Schrift Der gestryfft Schwitzer Baur, »Jn dem vergangnen jor / Als man zalt M.D. XXj.« [Alb], läßt die Entstehung zu Beginn des Jahres 1522 vermuten. Zur Datierung dieser und der beiden anderen Flugschriften, die vermutlich Anfang (Der Ewangelisch burger) und Mitte (Ein kurtzer begriff) des Jahres 1523 gedruckt wurden, siehe Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.291,294 und 296. Diese drei Flugschriften sind auch durch je eine Verweisstelle aufeinander bezogen. So sagt der Autor gegen Schluß der Schrift Der gestryfft Schwitzer Baur, er wolle in einem Sendbrief, den er an »Hans knüchel von knutwil« [D3b] schreiben werde, noch mehr über die Gottes- und Nächstenliebe sagen (vgl. dazu auch den Stellenkommentar). Und in Ein kurtzer begriff ermahnt Hans Knüchel die Gemeinde zum Glauben, zur Liebe und Hoffnung, was er schon ausführlich »in dem Ewangelichen burger hab zu verston geben« (Clemen [Hg.], Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, Bd. 1, S.243). Vgl. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.304. D a gute Berichte zur Flugschriftenforschung der letzten dreißig Jahre vorliegen, eine Forschung, an der sich seit längerer Zeit interdisziplinär Theologen und Historiker, Literatur-, Sprach- und Publizistikwissenschaftler, Volkskundler und Kunsthistoriker beteiligen, wird hier auf einen ausführlichen Forschungsbericht verzichtet. Vgl. Tompert, Die Flugschrift als Medium religiöser Publizistik; Talkenberger, Kommunikation und

12 Sowohl Der Ewangelisch burger als auch Ein kurtzer begriff sind wie die meisten Flugschriften Quartdrucke21 und mit je 12 Blatt etwas kürzer als die Schrift Der gestryfft Schwitzer Baur, die mit ihren 16 Blatt ziemlich genau dem durchschnittlichen Umfang der Flugschriften entspricht.22 Auch nimmt bei allen drei Flugschriften ein Holzschnitt fast die ganze Titelseite ein. Während etwa drei Viertel aller Flugschriftendrucke Holzschnitte meist in Form von ornamental oder figurativ gestalteten Einfassungen des Titeltextes aufweisen, sind es ungefähr 20% der Drucke, die Titelholzschnitte zeigen, welche eigens für die jeweiligen Texte geschaffen worden sind und den Titel und die Hauptaussage der Texte bildlich umsetzen. 23 Viele dieser Bilder, die natürlich auch als Kaufanreiz dienten, weisen in ihrer belehrenden, polemischen oder agitatorischen Aussage und in ihrer Struktur kaum über den Text hinaus.24 Zu den Ausnahmen gehört, wie auch der Titelholzschnitt der Schrift Der gestryfft Schwitzer Baur (vgl. Abb. 6) 25 , der Titelholzschnitt der Flugschrift Der Ewangelisch burger (Abb. 1 ).26 Er zeigt den auf einer kleinen Anhöhe stehenden evangelischen Bürger, der seine zahlreichen Zuhörer auf ein Kruzifix hinweist, das er in seiner linken Hand hält. Von seiner hinwei-

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Öffentlichkeit in der Reformationszeit. - An gegebener Stelle wird in der vorliegenden Untersuchung auf einzelne Aspekte der Forschung Bezug genommen. Exemplarisch aufzeigen lassen sich die verschiedenen Fragestellungen und Interessen der älteren und neueren Flugschriftenforschung aber auch exemplarisch mit einem Forschungsüberblick zur Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur. Vgl. unten Kapitel 4. Vgl. Köhler, Die Flugschriften der frühen Neuzeit, S.312. Hinzu kommt, daß über die Hälfte nicht länger als 8 Blatt sind.Vgl. dazu Köhler, Die Flugschriften der frühen Neuzeit, S.312. Vgl. Köhler, Die Flugschriften der frühen Neuzeit, S. 312-314. Vgl. auch Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, S.262f. Die relativ einfache Aufmachung dieser Schriften erklärt sich vor allem aus der Tatsache, daß sie in der Regel rasch gedruckt werden mußten, um als Reaktion auf ein Ereignis oder als Antwort auf eine gegnerische Schrift so rasch als möglich auf dem Markt zu sein (vgl. dazu Edwards, Printing, Propaganda, and Martin Luther, S. 16). Vgl. dazu unten Kapitel 6. - Die meisten dieser von ihrer Bildsprache und auch künstlerischen Qualität her hervorragenden Holzschnitte, die z.T. von bekannten Künstlern geschaffen worden sind, werden immer wieder ausgestellt und in Katalogen abgebildet. Z u nennen sind dabei vor allem die Ausstellungskataloge aus Anlaß des 500. Geburtstags Martin Luthers: Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst; Piltz (Hg.), Ein Sack voll Ablaß; Bott (Hg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Es deutet einiges darauf hin, daß beide Holzschnitte vom gleichen Künstler stammen, und zwar von Hans Herbst. Z u Herbst vgl. unten Kapitel 6, v. a. Fußnote 1 und S. 120 und 122 sowie die dort angegebene Literatur. Hieronymus erwähnt, daß Lucas Wüthrich in diesem Holzschnitt ein Schlüsselbild unter Hans Herbsts Holzschnitten sehe. Für Hieronymus hingegen ist dieser Holzschnitt für einen anderen Basler Maler charakteristisch, für Conrad Schnitt. Vgl. Hieronymus, Basler Buchillustration 1500-1545, S.339. Zu Schnitt vgl. ebenfalls unten Kapitel 6, v.a. Fußnote 1. Zu den beide Holzschnitte verbindenden Stilelementen gehören die große Ähnlichkeit der Profile der Personen, der Faltenwurf der Kittel (Bauer und der von schräg hinten dargestellte Zuhörer) und die Gestaltung des Bodens, vor allem die Grasbüschel.

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Abb. 1

Titelblatt der Flugschrift: Der Ewangelisch burger, Basel: Pamphilus Gengenbach 1523. Zürich ZB: 18. 84 /16. Foto: Zentralbibliothek Zürich

14 senden Hand geht ein Spruchband aus, auf dem zu lesen ist: »Vnum devm adorabis et illi solo servies« - Du sollst einen Gott anbeten und ihm allein dienen. Dieser eine Gott ist der Gekreuzigte. Das Kruzifix, hier im Unterschied zu den meisten mittelalterlichen Darstellungen aus der historischen Situation herausgelöst, wird zum Symbol für das Wort Gottes, durch das nach der protestantischen Rechtfertigungslehre allein Erlösung erlangt werden kann. Seine komplexe Struktur erhält dieser Holzschnitt durch die sprachliche Annäherung des Spruchbands an das erste Gebot (2. Buch Mose 20,3) und die Angleichung der Szene an die Rückkehr des Mose vom Berg Sinai mit den Gesetzestafeln.27 Hier wird dem Volk aber nicht mehr das Gesetz gebracht, sondern es wird auf die Gnade verwiesen, welche nur über Christus, das offenbarte Wort Gottes, erlangt werden kann.28 Den Hintergrund des Holzschnitts bilden Berge, an deren Fuß eine Kirche erkennbar ist. Die religiöse Unterweisung findet, und das ist bezeichnend, außerhalb der Kirche, auf freiem Feld statt. Im Unterschied dazu predigt Hans Knüchel auf dem Titelbild zur Schrift Ein kurtzer begriff (Abb. 2) innerhalb einer Kirche. Von der Kanzel herab unterweist er engagiert die aufmerksame Gemeinde, die Männer auf Bänken sitzend, die Frauen am Boden kauernd. Dieser eher grob geschnittene Holzschnitt29 illustriert anschaulich das zentrale Ereignis des Texts: Ein bibelkundiger Laie wird von den Mitgliedern einer Gemeinde dazu bestimmt, ihnen, solange sich kein Pfarrer verantwortungsvoll um sie kümmert, das reine Evangelium zu verkünden. In seiner bloß illustrierenden Funktion unterscheidet er sich vom Titelholzschnitt des Ewangelischen burger und repräsentiert somit eine Vielzahl von Titelbildern. Wie es die Titelbilder bereits vermuten lassen, ist der Ewangelisch burger in der Form einer Predigt geschrieben, und auch die Flugschrift Ein kurtzer begriff wird durch die Predigt Knüchels abgeschlossen. Sie repräsentieren somit die Textform der Predigt, in der die meisten reformatorischen Flugschriften erschienen sind.30 Einleitend präsentiert sich Ein kurtzer begriff jedoch als eine von Schultheiß und Gemeinde ausgestellte Urkunde31, in der festgestellt wird, daß der Pfarrer nicht in ihrem Dorf »Frydhusen, gelegen

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Vgl. dazu Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, S. 218f.; hier auch Abbildung dieses Holzschnitts (Abb. 92). Zur >Gesetz und Gnadeorffe mit η*» men ;Banó"Knüefeel/bjberfelbi¿Flugschrift< - ein Terminus, der erstmals von Christian Friedrich Daniel Schubart gegen Ende des 18. Jahrhunderts verwendet wurde 48 - oftmals >buchlinBüchlein< im Zusammenhang mit reformatorischen (Dialog-) Flugschriften hat sich Kampe befaßt. 50 Er verweist auf die interessante zeitgenössische Definition von Petrus Dasypodius, die besagt, daß >Büchlein< nicht nur ein kleines Buch bedeutet, sondern auch ein »brieff / bittbrieff / darin die vnderthonen etwas vom oberen begeren«. 51 Die neuzeitlichen Versuche einer Definition der Flugschrift sind vielfältig. 52 Eine knappe, aber präzise Definition stellt immer noch diejenige von Köhler dar: »Eine Flugschrift ist eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d.h. der Beeinflussung des Handelns) und/oder der Propaganda (d.h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte Öffentlichkeit wendet.« 53 Ergänzt man diese Definition, die einen Versuch darstellt, einen epochenunabhängigen formalen und funktionalen Begriff der Flugschrift zu konstituieren, um den thematischen Aspekt der umstrittenen religiösen und gesellschaftlichen Fragen, wie sie in der reformatorischen Öffentlichkeit diskutiert wurden, wird man im besonderen auch den für die Reformation entscheidenden Jahren zwischen 1520 und 1525 gerecht. 54 Einen wichtigen Anteil an der Konstituierung der >reformatorischen Öffentlichkeit hatten die Drucker. Sie waren es, welche die große Zahl an Flugschriften unter die Leute brachten. Während nun aber Großdruckereien, die vor allem Texte von klassischen Autoren, Kirchenvätern und Humanisten verlegten - wie z.B. Johann Froben in Basel - , es ablehnten, deutschsprachige Flugschriften zu drucken, waren es zur Hauptsache kleine Drukkereien, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Flugschriften und anderen Kleindrucken eine Existenzgrundlage oder sogar einen gewissen Wohlstand erarbeiten konnten. Zu diesen Kleinbetrieben gehörte auch die Offizin Pamphilus Gengenbachs in Basel. 55

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»Diß büchlin hat gemacht ein Baur auß dem Entlibüch / Wem es nit gefall der küß imm die brüch« [Ala]. Vgl. Kampe, Problem »Reformationsdialog«, S.42f. Kampe, Problem »Reformationsdialog«, S.42. Vgl. dazu zusammenfassend Schwitalla, Flugschrift, S. 4-1. Köhler, Die Flugschriften, S.50. Vgl. dazu auch Holeczek, Erasmus deutsch, S.35. Die folgenden Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf die kürzlich erschienene Studie von Prietzel (Pamphilus Gengenbach). Diese Untersuchung setzt sich zwei Ziele: Einerseits befaßt sie sich mit der Biographie Gengenbachs, andererseits stellt sie eine Bibliographie der Drucke aus Gengenbachs Offizin zusammen und gibt einen, auch inhaltlichen, Überblick über sein Druckschaffen vor dem Hintergrund der Basler Buchproduktion der Zeit. Sie versteht sich denn auch als »literaturwissenschaftliche Drukkermonographie« (ebenda, S.232). - An älterer Literatur zu Gengenbach ist vor allem zu nennen: Lendi, Der Dichter Pamphilus Gengenbach; Raillard, Der Dichter Pamphilus Gengenbach und die Reformation. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hat Goedeke

20 Pamphilus Gengenbach, um 1480 vermutlich in Basel 56 geboren 57 , erlernte das Druckerhandwerk ziemlich sicher bereits in seiner Geburtsstadt, wohin er nach kurzer Tätigkeit in Nürnberg bei einem der bedeutendsten Drukker und Verleger des 15. Jahrhunderts, Anton Koberger, auch wieder zurückkehrte. Es ist nicht bekannt, welche Schulen er besuchte, und auch ein Universitätsstudium kann nicht nachgewiesen werden. 58 Vorerst noch Druckgeselle, kann er 1512 erstmals als eigenständiger Drucker in Basel erfaßt werden. Diesem Datum voraus gehen Ereignisse, die es ihm erlaubten, sich in der Basler Stadtgesellschaft zu etablieren. Als Kochwirt »zum rôsslin« kauft sich Gengenbach im Herbst 1508 in die Gartnerzunft ein, 1509 heiratet er die nicht unvermögende Anna Renck und im Herbst 1511 wird er Bürger der Stadt Basel. 59 Zum Hausbesitzer wird Gengenbach am 3. August 1513: Er erwirbt die Liegenschaft »zum kleinen roten Löwen« im oberen Teil der Freien Straße, die als »eine der zentralen Verkehrsstraßen [...] für den Handel sehr gut geeignet und so auch ein bevorzugter Wohn- und Produktionsort von Druckern« ist.60 Hier betreibt Gengenbach nicht nur seine Offizin, sondern verkauft auch gleichzeitig seine Bücher. Diese legt er auf dem ausgeklappten Fensterladen, der in die Straße hinausragt, aus. Bei Regen deckt er seine Ware mit einem Tuch ab.61 Zu seinem Sortiment gehören

einen Versuch unternommen, das Werk des Autors Gengenbach zusammenzustellen. Der Edition der Texte beigefügt ist auch ein Druckverzeichnis (Pamphilus Gengenbach, S. 686-690). Neuere Editionen sind recht spärlich. Eine Neuedition von Gengenbachs satirischem Fastnachtspiel Die Gauchmatt liegt jetzt vor bei: Thomke (Hg.), Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 93-138 und S. 963-995 (Kommentar). 56 Mit ca. 9000 Einwohnern um 1500 war Basel, das 1501 der Eidgenossenschaft beitrat, eine größere Mittelstadt und zusammen mit Straßburg die bedeutendste Stadt des Oberrheingebiets. Vgl. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.237. 57 Die Eltern Pamphilus Gengenbachs sind nicht bekannt. Prietzel (Pamphilus Gengenbach, S.235f.) äußert die Vermutung, Pamphilus Gengenbach sei der uneheliche Sohn des 1481 zum Rektor der Universität Basel gewählten Johann Matthias von Gengenbach. Vor allem der Name Pamphilus, der auf verschiedene pseudo-ovidianische Komödien, die im 15. Jahrhundert auch in Humanistenkreisen kursierten, verweise, spreche für die Vaterschaft des ehemaligen Dekans der Artistenfakultät. In der älteren Forschung große Verbreitung gefunden hat hingegen die Vermutung, er sei der Sohn des aus dem gleichnamigen Ort im Schwarzwald nach Basel eingewanderten Druckergesellen Ulrich von Gengenbach und der Anna Keßler (vgl. ebenda, S. 234). Da in den Basler Quellen jener Zeit mehrere Gengenbach bezeugt sind, bleibt die Zuweisung der Elternschaft sehr hypothetisch. 58 Vgl. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.236. 59 Vgl. dazu Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 239-243. 60 Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 246. - 1 5 2 2 erwirbt er sich ein zweites Haus, diesmal jedoch im unteren Teil der Freien Straße, nahe beim Markt. Diese Gegend gehörte zu den exklusivsten Wohn- und Geschäftslagen der Stadt. Dieser Kauf läßt darauf schließen, daß die Jahre zwischen den Hauskäufen für Gengenbach wirtschaftlich sehr erfolgreich gewesen sind. 61 Vgl. dazu Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.246 und 249. - Wie die meisten Quellen-

21 neben seinen eigenen Drucken, von denen zwischen 1511/1512 und 1524118 überliefert und bezeugt sind, auch über den Buchhandel erworbene Bücher, die sein Angebot erheblich erweitern. 62 Doch bereits sein Druckschaffen ist recht vielfältig. Es reicht von aktuellen historischen Schriften (politische Lieder, Flugblätter, Zeitungen, Spiele, Fastnachtspiele), theologischem Tagesschrifttum (Flugschriften und Flugblätter) und Frömmigkeitsliteratur (u.a. katechetische Texte, Andachtsbilder, Gebetbücher) über unterhaltende Texte (Wein- und Biergrüße, Lieder, Fastnachtspiele) und volkssprachliche Fachliteratur (u.a. das Gaunerbüchlein Liber vagatorum, humanmedizinische Fachliteratur, Kalender) bis zu - ein paar wenigen - Klassikereditionen (u.a. Texte von Horaz und das Neue Testament in der Edition des Erasmus).63 Die drei Flugschriften Der gestryfft Schwitzer Baur, Ein kurtzer begriff und Der Ewangelisch burger gehören zur Gruppe des theologischen Tagesschrifttums, der mit 49 Drucken größten Textgruppe unter den GengenbachDrucken. Pamphilus Gengenbach kommt denn auch »das Verdienst zu, mit dem Druck von Luthers Sermon von Ablaß und Gnade [...] die Reihe deutschsprachiger Luther-Drucke in Basel zu eröffnen«. 64 Gengenbachs Eintreten für Luther bezeugt auch deutlich das sogenannte Wiener Prognosticon, ein Flugblatt, das er 1520 druckt. 65 Im Spätsommer 1521verlassen die Erstdrucke der Fünfzehn Bundesgenossen des Franziskaners Johann Eberlin von Günzburg Gengenbachs Offizin. Besonders die Drucklegung dieser sich für grundlegende Reformen einsetzenden Schriften dürften Gengenbach dazu bewogen haben, von nun an seine Offizin fast ausschließlich in den Dienst der reformatorischen Bewegung zu stellen. Machen bereits 1518 die Predigten Capitos über den Römerbrief die Basler mit lutherischem Gedankengut bekannt, weigern sich die Basler Vertreter auf der eidgenössischen Tagsatzung im Herbst 1520, die Verbrennung lutherischer Schriften anzuordnen und kommt es am Palmsonntag 1522 zu einem öffentlichen Fastenbruch, an dem auch die Pfarrer beteiligt sind - um

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Zeugnisse zu Gengenbach verdanken sich auch diese Einblicke in seine Geschäftspraxis gerichtlichen Auseinandersetzungen, oftmals wegen Schulden oder Raufhändeln. Hier beklagte sich der benachbarte Apotheker Bär, dessen Keller sich unter dem Laden Gengenbachs befand, daß das herabhängende Tuch die Licht- und Luftzufuhr in seinen Keller, der wohl als Vorratsraum diente, verhindere. Vgl. ebenda, S.248f. Vgl. dazu Prietzel, S. 254-256. Diese Einteilung der Gengenbachschen Drucke in sechs Textgruppen nimmt Prietzel vor (Pamphilus Gengenbach, S. 311-314). Sie ist sich der Problematik einer solchen Einteilung durchaus bewußt, v.a. der Zuweisung der einzelnen Texte an nur eine Gruppe. Eine z.T. etwas knappe, aber in ihrer Vollständigkeit doch eindrückliche inhaltliche Erschließung aller Drucke findet sich bei Prietzel; vgl. ebenda, S. 314—413. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 336. Vgl. dazu Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 337-340.

22 nur ein paar wenige Ereignisse zu nennen - , so markiert das Jahr 1523 einen ersten Höhepunkt der evangelischen Bewegung in Basel: Der Rat, »nicht ohne Sympathie für die reformatorische Bewegung«66, versucht, den Frieden in der Stadt zu bewahren und erläßt deshalb im Mai/Juni ein erstes Predigtmandat: Es legt die Heilige Schrift als einziges Kriterium für die Predigt fest, um der Verwirrung, die durch einander widersprechende Predigten unter der Bevölkerung entstanden ist, ein Ende zu setzen. Predigten mit Verweisen auf andere Lehrmeinungen, seien diese von den Kirchenvätern, »sy syen von dem Luther« 67 , werden in Zukunft nicht mehr geduldet. 68 Wie der Rat hat sich auch Pamphilus Gengenbach in den Anfangsjahren der reformatorischen Bewegung nicht vorbehaltlos hinter Luther gestellt. So tritt er noch 1521/1522 der Schildknecht-Bruderschaft bei, die sich der Marienverehrung widmet. Neben der Sorge um das Seelenheil verstorbener Mitglieder gehört zu deren Aufgaben auch die Unterstützung armer und kranker Brüder. 69 Wie wohl bei den meisten seiner Mitbürger hat sich die Abkehr von den altvertrauten Frömmigkeitsritualen auch bei ihm nicht abrupt vollzogen. Als zwar heftiger Kritiker an der alten Kirche, vor allem am Ablaßhandel 70 , sieht er in Luther doch eher den Reformer, den Fortsetzer bereits existierender Reformkonzepte. 71 Pamphilus Gengenbach hat die Einführung der Reformation in Basel nicht mehr erlebt; er stirbt - die Todesursache ist unbekannt - zwischen dem 15. Oktober 1524 und dem 22. Mai 1525.72 Wie bereits erwähnt, stellt Gengenbachs Offizin hinsichtlich der volkssprachlichen Produktion eine Ausnahmeerscheinung in Basel dar. 90 seiner 118 Drucke sind deutschsprachig. Während also über 75 Prozent seiner Drucke in deutscher Sprache erscheinen, beträgt der Anteil deutscher Drukke in Basel von 1501 bis 1525 nur 21 Prozent, um 1522 mit knapp 40 Prozent seinen Höhepunkt zu erreichen. 73 Obwohl auch andere Basler Drucker wie etwa Adam Petri, Valentin Curio und Thomas Wolff während den 20er Jah-

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Blickle, Gemeindereformation, S. 87. Hier auch ein guter Überblick über die reformatorischen Ereignisse in Basel, die in die Publikation der Reformationsordnung durch den Rat am 1. April 1529 münden (ebenda, S. 85-90). Zitat nach dem Druck des Predigtmandats bei: Dürr/Roth, Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, B d . l , S.67. Zum Predigtmandat vgl. auch Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, Bd. 3, S.358 und 463f. - Diese hier vom Rat formulierte Forderung soll in der Flugschrift Ein kurtzer begriff Hans Knüchel erfüllen. Vgl. dazu oben in diesem Kapitel, S. 16. Zu den Tätigkeiten dieser Bruderschaft vgl. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.253. Vgl. dazu unten in Kapitel 2 die Ausführungen zum von Pamphilus Gengenbach gedruckten Fastnachtspiel Diß ist ein iemerliche clag vber die Todten fresser, S. 32-35. Ähnlich auch Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.254. Zu dieser Datierung siehe Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.260. Diese und weitere Zahlcnangaben finden sich bei Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 298-309.

23 ren ihre Tätigkeit zu einem großen Teil in den Dienst der reformatorischen Publizistik stellen 74 und die Jahre zwischen 1518 und 1524 von der Anzahl der Veröffentlichungen her eindeutig im Zeichen Luthers stehen, bleibt Basel auch während dieser Zeit eine Hochburg des humanistischen und damit lateinischen Druckschaffens, das mit Erasmus, der sich seit 1514 in der Stadt aufhält, eine enorme Belebung und seinen Höhepunkt erfährt. So kann man davon ausgehen, daß es Pamphilus Gengenbach vor allem zu Beginn seiner Tätigkeit mit der Produktion volkssprachlicher Texte gelingt, eine Marktlükke zu füllen. Seine eindeutige Ausrichtung auf deutschsprachige Drucke läßt auch Rückschlüsse auf die Wünsche seiner Kunden zu, oder wie es Prietzel formuliert: »Wer sich als potentieller Käufer auf den Weg zu Gengenbachs Laden in der Freien Straße macht, darf damit rechnen, daß ihm in einem rasch wechselnden Angebot vorwiegend kurze (und das heißt auch: billige) volkssprachliche Texte zum Erwerb präsentiert werden. Wessen Sinn hingegen nach dickleibigen Folianten steht, zudem in lateinischer Sprache, der wird seinen Schritt nicht zum Kleinen roten Löwen gelenkt haben.« 75 Aus welchen Bevölkerungsschichten nun aber die Leserschaft der Gengenbachschen Drucke stammte, läßt sich kaum eruieren. Einen Versuch, doch gewisse Aussagen über die Rezeption dieser Schriften zu machen, hat Kerstin Prietzel unternommen. Sie hat 287 Exemplare der 118 bekannten Drucke aus der Druckerei Gengenbachs nach Rezeptionsspuren in Form von Randnotizen untersucht. Die meisten handschriftlichen Bemerkungen findet sie bei den deutschsprachigen Flugschriften, was auf eine besonders intensive Lektüre dieser Texte hindeutet. Und von diesen Annotationen wiederum sind die Hälfte in deutscher Sprache verfaßt. Prietzel stellt deshalb die durchaus berechtigte Frage, ob man aufgrund dieses erstaunlich hohen Anteils deutscher Randnotizen nicht davon ausgehen könne, »daß das Leseverhalten ungelehrter Kreise engagierter« gewesen sei, »als bisher angenommen wurde«. 76 Pamphilus Gengenbach war nicht nur Drucker; einige der Texte, die seine Offizin verlassen, hat er selber geschrieben, was durch die Angabe seines Namens bezeugt ist.77 Was für die reformatorischen Flugschriften generell gilt, läßt sich jedoch auch bei den Flugschriftendrucken Gengenbachs fest-

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Vgl. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.304f. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 309. Vgl. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.309-311, hier: S.311. Zu den eigenen Schriften gehören Lieder, erzählerische und satirische Gedichte, Flugblätter, Prognostiken, Weissagungsparodien und vor allem Fastnachtspiele. Vgl. dazu die Ausgabe von Goedeke, Pamphilus Gengenbach. Sie enthält einerseits Texte, die ziemlich sicher nicht von Gengenbach stammen; andererseits fehlen Texte, deren Autorschaft Gengenbachs gesichert ist. Eine neuere Gesamtausgabe der Werke Gengenbachs fehlt.

24 stellen: Ein sehr großer Teil der Flugschriften ist ohne Angabe eines Verfassers sowie des Druckortes und -jahres erschienen 78 - so auch Der gestryfft Schwitzer Baur, Der Ewangelisch burger und Ein kurtzer begriff. Die hypothetische Autorensuche hat die Flugschriftenforschung seit den Anfängen bis heute beschäftigt. Vor allem die ältere germanistische Forschung hat immer wieder versucht, anonyme Flugschriften bekannten Persönlichkeiten des Zeitalters zuzuweisen, wie etwa dem Humanisten und St. Galler Reformator Vadian.79 Auch wenn Prietzel die Autorschaft Gengenbachs bei den drei genannten Flugschriften in Erwägung zieht80, ist sie sich der generellen Problematik der Zuweisung durchaus bewußt.81 So ist ihr zuzustimmen, wenn sie festhält, daß es kaum eine Möglichkeit gebe, den Verfasser einer anonymen Flugschrift zweifelsfrei zu ermitteln, weder aufgrund einer stilistischen, noch einer inhaltlichen Untersuchung. Deshalb möchte sie bloß mit Hypothesen hinsichtlich der Autorschaft arbeiten; inhaltliche Übereinstimmungen oder Widersprüche verwendet sie »nicht im Sinne eines Beweises, sondern [...] nur eines Hinweises«. 82 Was hat sehr viele Flugschriftenautoren dazu bewogen, ihre Texte anonym oder unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen? Diese Tatsache läßt sich zu einem Teil sicher als Vorsichtsmaßnahme vor drohenden Sanktionen durch die Obrigkeit erklären. Vor allem die Zensurvorschrift des

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Zorzin (Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachgebiet veröffentlichten Dialogflugschriften) ermittelt, daß 55,4% der zwischen 1520 und 1526 in der Volkssprache geschriebenen Dialogflugschriften anonym erschienen sind (S.85). In Vadian sah man u.a. über längere Zeit nicht nur den Autor des Karsthans·, auch Der gestryfft Schwitzer Baur wurde schon ihm zugewiesen. Vgl. dazu unten Kapitel 4. Eine Zusammenstellung der Literatur, die von der Annahme ausgeht, der Humanist Vadian habe reformatorische Flugschriften verfaßt, gibt: Scheible, Reform, Reformation, Revolution, S. 109. - Diese Zuweisungsversuche anonymer Flugschriften an bekannte Geistesgrößen der Zeit erklärt sich u.a. aus der Tatsache, daß natürlich sehr viele Flugschriften von überaus prominenten Autoren geschrieben worden sind: Luther war der produktivste Flugschriftenautor der Jahre zwischen 1518 und 1525. Eine von Alejandro Zorzin erstellte Statistik zeigt, daß Luther in dieser Zeit nicht weniger als 219 deutsche Flugschriften publizierte, welche immer wieder aufgelegt wurden, so daß sich total 1465 Editionen ergeben. Diese Statistik ist abgedruckt bei Edwards, Printing, Propaganda, and Martin Luther, S. 26. Flugschriftenautoren waren ζ. B. auch der Schweizer Reformator Huldrych Zwingli und der radikale Reformator Thomas Müntzer. Aber auch berühmte Laien haben Flugschriften verfaßt: z.B. neben dem sich zur Volkssprache bekennenden Humanisten Ulrich von Hutten auch die Adelige Argula von Grumbach und der Handwerker Hans Sachs. - Zu weniger bekannten Handwerkern als Verfasser reformatorischer Flugschriften vgl. Arnold, Handwerker als theologische Schriftsteller. Zu laikalen Flugschriftenautoren aus verschiedenen sozialen Gruppen vgl. Chrisman, Conflicting Visions of Reform, S. 6-8. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.348. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 343-345. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 345.

25 Wormser Edikts von 1521 führte zu einer Reihe weiterer Druckzensuren. War die Politik des Rates der Stadt Basel zu Beginn der reformatorischen Bewegung durchaus auf ein Gewährenlassen ausgerichet, werden doch Druck und Kauf von Luther-Texten ausdrücklich in die Verantwortung eines jeden einzelnen gestellt83, so wird auf den 12. Dezember 1524 dann doch eine Druckzensur eingerichtet, die eine schwere Strafe für diejenigen vorsieht, die Schriften drucken, ohne sie zuvor einem vom Rat bestimmten Gremium vorgelegt zu haben. Es wird auch verlangt, daß die Drucker den Texten ihren Namen beifügen. 84 Die Anonymität vieler in Basel erscheinender Texte wird denn auch einmal ausdrücklich moniert: Am 5. Januar 1525 tragen die Ratsboten der sechs altgläubigen Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden, Zug und Freiburg eine lange Instruktion und sechs Artikel in Basel vor, deren vierter lautet: »Zum vierdenn so werdenn vyl unnd mangerley hy getruckt unnd besonders schant- und schmechbiechlin, unnd schrib keiner, der dy mach, sinen namen drunder.« 85 Man kann sich jedoch ganz grundsätzlich fragen, inwiefern es überhaupt Sinn macht, bei anonymen reformatorischen Flugschriften nach dem Autor zu fragen. Indem sich nämlich der Autor, wie z.B. in der Schrift Der gestryfft Schwitzer Baur, als ein bereits mit reformatorischem Gedankengut vertrauter und seine Forderungen vehement vertretender Bauer ausgibt, kommt zum Ausdruck, daß die Schrift an einem Diskurs teilnimmt, der bereits öffentlich geführt wird. In den anonymen Flugschriften werden nicht individuelle Positionen vertreten, sondern sie stellen sich in der Regel ganz in den Dienst der reformatorischen Sache und damit der Allgemeinheit.86 Hinzu kommt, daß der Autor einer reformatorischen Flugschrift eigentlich geradezu gezwungen ist, seine Person als Schöpfer eines Textes zurückzunehmen,

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Vgl. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, S.323. Vgl. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, S.447. - Diese Zensur vom 12. Dezember 1524 betrifft Gengenbach zwar nicht mehr, wird er doch nach dem 15. Oktober 1524 urkundlich nicht mehr erwähnt. Vgl. Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S.260. Zitiert nach Hieronymus, Basier Buchillustration 1500-1545, S.LVII. Vgl. ähnlich Kaufmann, Anonyme Flugschriften der frühen Reformation, v.a. S. 198 und 265f. - Sehr konsequent formuliert diesen Sachverhalt Stackmann (Städtische Predigt, S. 192), wenn er schreibt, daß sich, »wenn irgendwo in der Geschichte der deutschen Literatur«, dann bei den reformatorischen Flugschriften »das Arbeiten mit den Kategorien >Autor< und >Werk«< verbiete. Auch bei nicht-anonymen Texten seien »die Autorennamen auf den Titelblättern relativ belanglos«, ja man könne sie »untereinander vertauschen oder ganz weglassen«. Daß man trotzdem auch die besonderen Eigenschaften der einzelnen Texte berücksichtigen muß - dies macht auch die hier vorliegende Studie - , ist sich Stackmann aber durchaus bewußt. So stehe der Literarhistoriker »vor der Notwendigkeit, zwei schwer miteinander zu vereinbarenden Grundforderungen zu genügen: der Forderung, das Durchschnittliche, stets Wiederkehrende zu ermitteln, und der Forderung, darüber die Besonderheiten nicht ungebührlich zu vernachlässigen«.

26 orientiert er sich doch an der Heiligen Schrift als alleiniger Instanz und Garantin der Wahrheit, einer Wahrheit, die menschliche Rede gar nicht auszudrücken vermag. So schränkt die Propagierung der alleinigen Wahrheit des reinen Evangeliums Rolle und Bedeutung des Autors stark ein. Der reformatorische Autor, der sich als Sprachrohr und Propagandist einer übergeordneten Wahrheit versteht, verschwindet.87 Ab 1521 sind die meisten Texte, die die Offizin Pamphilus Gengenbachs verlassen, anonyme reformatorische Flugschriften.88 Die Frage, ob sie auch aus seiner Feder stammen oder wer sonst sie verfaßt haben könnte, sei hier deshalb dahingestellt.

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Mit der Frage nach dem Selbstverständnis und der Rolle des Autors eng verknüpft ist die Frage nach der Autonomie der Literatur. Wie steinig dabei der Weg zum Bewußtsein von einer Eigenwirklichkeit der Literatur und damit verbunden vom Autor als gleichsam göttlichem Schöpfer und dann später als auktorialer Instanz war, eine Vorstellung, die sich jedoch in Ansätzen in der humanistischen Dichtungstheorie (etwa bei Vadian) und -praxis (etwa bei Conrad Celtis) bereits zeigte, beschreiben v.a. Kleinschmidt, Die Wirklichkeit der Literatur, und Lefebvre, Zur Autonomie der Literatur in der frühen Neuzeit. Siehe die Bibliographie bei Prietzel, Pamphilus Gengenbach, S. 290-297.

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Zu weiteren Medien im Dienst der Verbreitung reformatorischer Ideen in der Schweiz

Obwohl die Flugschriften aufgrund ihrer immensen Zahl und ihrer - dieser Form eines gedruckten Mediums inhärenten - Möglichkeit der Reichweite mit Sicherheit das reformatorische Propagandamedium darstellten, das am stärksten zur schnellen und vor allem großräumigen Verbreitung reformatorischer Ideen beitrug, kann man nicht davon ausgehen, daß das reformatorische Gedankengut nur über das individuelle (Selber-)Lesen verbreitet wurde. Dadurch würde man die spezifische Kommunikationsstruktur des frühen 16. Jahrhunderts verkennen, die auch stark von mündlichen Kommunikationsformen, dabei vor allem der Predigt, geprägt war. Außerdem konnten Bilder Träger von Information und Propaganda sein. Visuelle, mündliche, aber auch schriftliche Kommunikation vereinen schließlich solche Formen der Informationsmitteilung, die mit »Aktion als Kommunikation« 1 umschrieben werden können; herausragendes Beispiel ist dabei das Fastnachtspiel, im Zusammenhang mit der frühen Reformation vor allem dasjenige schweizerischer Provenienz. Dazu soll bei der Skizzierung der neben den Flugschriften am reformatorischen Kommunikationsprozeß beteiligten Medien das Augenmerk hauptsächlich auf deren vielschichtiges Zusammenwirken gerichtet werden. Mit Sicherheit die wichtigste mündliche Informationsform stellte die Predigt dar, die während der Kampfjahre der Reformation nicht nur die evangelische Heilslehre verkündete, sondern durchweg auch zu Agitation und Polemik benutzt wurde.2 Im Unterschied zu den Predigten der großen Reformatoren sind jedoch viele frühreformatorische Predigten von Parteigängern der Reformation nicht überliefert, obwohl es nicht an Nachrichten darüber in Chroniken oder Briefen fehlt. Einige dieser Predigten sind trotzdem er-

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Scribner, Flugblatt und Analphabetentum, S.73. Mit dem Thema der reformatorischen Predigt befaßten sich in letzter Zeit vor allem Bernd Moeller von historischer und Karl Stackmann von literaturwissenschaftlicher Seite. Vgl. Moeller, Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt?; derselbe, Einige Bemerkungen zum Thema: Predigten in reformatorischen Flugschriften; Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation; und das vorläufige Fazit ihrer Forschungen: Moeller/Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation.

28 halten geblieben, in Form von Flugschriften. In der nachträglichen Publikation von Predigten zeigt sich besonders schön, wie eng mündliche und schriftliche Kommunikation zusammenwirken konnten. 3 Wenn sich deshalb der Rat in Basel 1524 über Personen beschwerte, die in den Wirtshäusern aus Büchern predigten, könnten das durchaus in Flugschriften veröffentliche Predigten gewesen sein.4 Diese Überlieferung zeigt nicht nur, wie gedruckte reformatorische Ideen über die mündliche Vermittlung ein relativ großes Publikum erreichen konnten, sondern auch, daß die reformatorische Predigt aus der Kirche hinausgetragen wurde, ins Wirtshaus zum Beispiel.5 Die Basler Bevölkerung kam schon früh mit reformatorischem Gedankengut in Kontakt. Wolfgang Capito, späterer Straßburger Reformator, war seit 1515 Prediger am Münster in Basel. Und auch die anderen Basler Pfarrgemeinden bevorzugten ganz entschieden progressive Pfarrer und Prädikanten, die als frühe Parteigänger Luthers galten, so auch Oekolampad, der auf Verlangen der Gemeinde durch den Rat im Frühling 1523 zum Vikar an St. Martin berufen wurde.6 Seit 1522 sah sich der Rat aber immer öfters gezwungen, ordnend in die Ereignisse einzugreifen. So befahl er der Einwohnerschaft, sich aller öffentlichen Diskussionen über Fastenordnung oder Evangelium zu enthalten. 7 Auch wies der Rat Wilhelm Reublin, Pfarrer zu St. Alban, den er zuvor noch gestützt hatte, aus der Stadt, nachdem dieser an der Fronleichnamsprozession von 1522 anstatt einer Reliquie die Bibel trug, mit den Worten: »Das ist das rechte Heiltum, das Andre sind Totenbeine«. 8 Das bereits erwähnte Predigtmandat vom Frühsommer 15239 markiert dann den eigentlichen Höhepunkt der Ratspolitik mit dem Ziel, den inneren Frieden zu bewahren. Wie auch Hans Knüchel in der Flugschrift Ein kurtzer begriff fordert das Mandat die Predigt des reinen Evangeliums und die Heilige Schrift als einzige Predigtgrundlage. Die Flugschrift, die ungefähr gleichzei-

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Vgl. dazu v.a. Moeller/Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Ihr Untersuchungsgegenstand sind 35 als Flugschriften veröffentlichte Predigten, welche evangelische Prediger, die wegen ihrer Gesinnung verjagt wurden, an ihre frühere Gemeinde richten. Sie stammen aus dem Zeitraum zwischen 1522 und 1529, die meisten davon aus den Jahren 1523 und 1524. Moeller und Stackmann sehen in diesen Predigten einen »Niederschlag der durchschnittlichen, der normalen städtischen Predigt der Zeit« mit einer »verhältnismäßig geschlossene[n] theologische[n] Lehre« (ebenda, S.357f.). Keine der untersuchten Predigtflugschriften bezieht sich auf Schweizer Verhältnisse. Vgl. Dürr/Roth, Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, B d . l , S.91 (Nr. 191). Vgl. auch Scribner, Flugblatt und Analphabetentum, S.68f. Vgl. dazu Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, Bd.3, v.a. S.325-345. Vgl. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, Bd. 3, S.329. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, Bd.3, S.329. Vgl. dazu oben in Kapitel 1, S.22.

29 tig mit dem Predigtmandat entstanden ist, liest sich so geradezu als populäre Variante dieses obrigkeitlichen Mandats. Trotz Klerikerschelte wird im Mandat das alleinige Recht der Geistlichkeit am Predigtamt jedoch nicht angetastet. Die Flugschrift ist da um einiges radikaler: Steht infolge der Unfähigkeit des Klerus das Seelenheil einer Gemeinde auf dem Spiel, ist es einem Laien erlaubt, seine Mitbürger und Mitbürgerinnen in der evangelischen Lehre zu unterweisen. Zu den mündlichen Formen der Wissensvermittlung gehörte neben der Predigt auch das Vorlesen. 10 Das Vorlesen der Bibel und anderer der Erbauung und Wissensvermittlung dienender Texte im häuslichen Kreis, eine von den Reformatoren immer wieder propagierte Unterweisungsform, wird auch in der Flugschrift Dergestryfft Schwitzer Baur thematisiert. Dabei wird ausdrücklich auf dem Recht des Hausvaters, seinem Gesinde die Bibel und andere deutsche Bücher vorzulesen, beharrt. Obwohl in dieser Schrift primär die auf der Idee des Laienchristentums fußende private Lektüre der Bibel gegen Widerstände eines altkirchlichen Geistlichen verteidigt wird, wird auch die Bedeutung des gesprochenen Worts hervorgehoben: Es ist ouch gar natürlich das ein jetlicher gern hört von dem das er lieb hat / wie wol sy [die altkirchlichen Prädikanten; A.d.V.] sprächen / der ley red er môg nit hören predigen / er kôn es selb wol läsen / ist nit war / dann ein jeglicher der gern die helge geschryfft lyst / der hört ouch gern dar von predigen. [Dlb] Dabei fällt auf, daß hier das Vorlesen nicht als Möglichkeit der Wissensaneignung für Analphabeten erscheint - eine mögliche Qualität dieser Form der Kommunikation, die in der Forschung immer wieder hervorgehoben wird - , sondern als gleichberechtigte Alternative zum Selberlesen. Im Unterschied zur individuellen Lektüre kann das Vorlesen jedoch in einem größeren Kreis stattfinden und so auch Grundlage weiterführender Diskussionen sein. 11

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Schenda (Vorlesen: Zwischen Analphabetentum und Bücherwissen, S.5) bezeichnet das Vorlesen als eine semiliterarische Kommunikationsform, da sie zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation steht. Vor allem in der angelsächsischen Reformationsforschung, allen voran von Robert W. Scribner, wurde zu zeigen versucht, daß der mündlichen Verbreitung der reformatorischen Ideen ein ebenso großer, wenn nicht sogar größerer Stellenwert als der literarischen zukommt. Dazu werden neben der Predigt vor allem Gerücht und Geschwätz, Gespräch und Diskussion im kleinen wie im größeren Kreis im privaten und öffentlichen Raum, aber auch Kirchenlied und Gesang gezählt. Vgl. dazu v.a. Scribner, Flugblatt und Analphabetentum; derselbe, Oral Culture and the Transmission of Reformation Ideas. Vgl. auch Robinson-Hammerstein, The Lutheran Reformation and its Music; Mager, Lied und Reformation. Demgegenüber betont in jüngster Zeit auch Faulstich (Medien zwischen Herrschaft und Revolte) die Dominanz der Flugschrift im reformatorischen Medienverbund. Die Flugschrift ist für ihn »das zentrale Kampfmedium der Bewegung >von unten«< (S.298).

30 Mündliche, visuelle und schriftliche Kommunikation vereinen sich im Drama, das im Fastnachtspiel seine zeitgenössische Ausprägung fand und in dieser Form für die konfessionelle Polemik nutzbar gemacht wurde. Sucht man dabei nach solchen Spielen, die zwischen 1520 und 1525 zur Aufführung gelangten, d.h. während der Kampfjahre der Reformation und zugleich der Zeit der intensivsten reformatorischen Flugschriftenpropaganda, stößt man vor allem auf die Spiele des Berner Malers, Dichters und Staatsmanns Nikiaus Manuel.12 1523 wurden in der Stadt Bern während der Fastnachtszeit gerade zwei seiner Stücke gespielt: Am 15. Februar, der Herrenfastnacht, das Spiel Vom Papst und seiner Priesterschaft13 - in älterer und neuerer Forschung auch als Die Totenfresser bezeichnet, wie bereits vom Chronisten Valerius Anshelm und eine Woche später, »vff der alten fasnacht«14, das Spiel Von Papsts und Christi Gegensatz. Manuel greift auf die Gattung des vorreformatorischen Fastnachtspiels zurück, um es ganz in den Dienst der reformatorischen Propaganda, d.h. der Kritik an den Zuständen der alten Kirche und der Propagierung der reformatorischen Heilslehre, zu stellen. Zeigt das frühe Fastnachtspiel, wie es vor allem mit Nürnberg und den Namen Hans Rosenplüt und Hans Folz verbunden ist, im Ausnahmezustand der Fastnacht die Welt in der Regel als >verkehrte Weltverkehrte Weltgemeinen Mann< der Reformationszeit ein großes Verständnis für typologische Vergleiche und symbolische Anspielungen in Bildern zuschreibt, entstanden aus »der durch den Buchdruck intensivierten Vermittlung der Bibellektüre«, warnt Scribner vor einem zu einfachen Modell der Kommunikation zwischen Elite und Volk. Von einer Verschränkung der »trivialen« und »gelehrten« Rezeption der Medien der Zeit, gerade auch der Bilder, geht nun aber auch Kleinschmidt (Literatur und städtische Gemeinschaft, S. 81) aus. Dabei sieht er als Voraussetzung des vielschichtigen Umgangs mit Texten und zugehörigen Bildern die »gemeinschaftliche Art des literarischen und allgemeinkulturellen Lebens in der Stadt«, in der »für Erklärungen und Verständigungen [...] eine Situation gegeben war, die Kompetenz und triviale Auffassungen miteinander in Austausch treten ließ«. 50

Während Moeller im Zusammenhang mit der Rezeption der reformatorischen Propagandamedien die ungeheure Diskrepanz zwischen Stadt und Land betont (Stadt und Buch, S. 31), verblieben doch für ihn »die Bauern [...] gegenüber der Reformation in der Geschichtslosigkeit ihrer lokalen und naturgebundenen Bezüge [...], als hätten sie die neue Lehre überhört - sie hatten ja kaum Anteil an der Bildung« (Deutschland im Zeitalter der Reformation, S.91), betont Blickle (Gemeindereformation) die enge Verzahnung von bürgerlicher und bäuerlicher Reformation im oberdeutschen und schweizerischen Raum bis 1525. Gerade in den Flugschriften sieht er die brauchbarste Quellengattung, um erklären zu können, weshalb Bürger und Bauern die gleichen Vorstellungen von Reformation entwickeln konnten (ebenda, S. 128).

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Wer konnte reformatorische Flugschriften überhaupt lesen? - Bemerkungen zum eidgenössischen Bildungswesen am Vorabend der Reformation

Angesichts der Flugschriftenschwemme der frühen 20er Jahre stellt sich die Frage, ob die Alphabetisierung in Stadt und Land zu Beginn der reformatorischen Bewegung nicht weiter fortgeschritten war, als in der Forschung allgemein angenommen wird. So vermutet Rudolf Engelsing, daß zu Beginn des 16. Jahrhunderts höchstens zehn Prozent der Stadtbevölkerung, demnach eine kleine, elitäre Minderheit, und nur drei bis vier Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung lesen konnten. 1 Er verweist jedoch auch ausdrücklich auf eine »kurzfristig wirksame Dynamik der Ausbreitung der Lese- und Schreibfreudigkeit«, die sich in der Form einer gesteigerten Lesebereitschaft in Zeiten wie der Reformation oder der Aufklärung äußert. 2 Neben die langfristig fortschreitende Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit durch die Ausbildung des Schulwesens tritt also eine schnelle und spontane Wissensvermittlung, die vor allem in ideologischen Umbruchzeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.3 Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Frage nach den Bildungsmöglichkeiten für Laien im ausgehenden 15. Jahrhundert und zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Dabei gilt es, nicht in erster Linie, wie in der älteren Forschung üblich, die Kloster- und Lateinschulen zu berücksichtigen, sondern den Blick vor allem auf die nicht gelehrte, sondern vielmehr elementare Bildung in der Muttersprache vermittelnden Schuleinrichtungen in größeren, aber auch kleineren Städten, in Märkten und auch Pfarrdörfern zu richten. Nun wäre es naheliegend, die schulischen Bildungsmöglichkeiten um 1500 exemplarisch an der Stadt Basel und ihrer Landschaft zu skizzieren. Da jedoch für Basel ausführliche Vorarbeiten weitgehend fehlen 4 , sollen die

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Engelsing, Analphabetentum und Lektüre, S. 19f. Vgl. auch Scribner, How Many Could Read?, S.44f. Engelsing, Analphabetentum und Lektüre, S.XII. Vgl. auch Kintzinger, Schule und Schüler in der gegenwärtigen interdisziplinären Mittelalterforschung, S. 8: »Zeitabhängige Tendenzen wie das Aufkommen volkssprachlicher Bildung sind überall dort zu beobachten, wo die gesellschaftlichen Bedingungen dafür gegeben waren.« Dieses Forschungsdesiderat, das ebenso für andere Schweizer Städte wie etwa Zürich

39 Bildungseinrichtungen dieser Zeit anhand von Quellenzeugnissen und Studien zur Schulgeschichte St. Gallens und Berns dargestellt werden. 5 Den ersten Rang unter den städtischen Schulen nahmen die seit dem 13. und 14. Jahrhundert bestehenden Lateinschulen ein, die entweder direkt vom Rat der Stadt eingerichtet wurden und somit von Anfang an städtische Institutionen waren, so z.B. die Lateinschule in Bern 6 , oder die im Spätmittelalter oft nach einem längeren Kampf zwischen Bürgerschaft und Kirche dem jeweiligen Stadtregiment unterstellt wurden. 7 Dienten diese Schulen zwar noch vorwiegend der Heranbildung des geistlichen Nachwuchses 8 und war ihr eigentlicher Zweck bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts der liturgische Dienst 9 , entsprachen sie doch auch immer mehr einem durch die wirtschaftliche Entwicklung gesteigerten Bildungsbedürfnis der Bürgerschaft. Die Lateinschule war denn auch die Vorstufe für ein Studium an einer Universität. Fragt man nun aber nach den Schülerzahlen, geben die Quellen nur wenig Auskunft. Für die Berner Lateinschule findet sich eine einzige Zahlenangabe aus dem Jahre 1517: So berichtet der Berner Chronist und Schulmeister Valerius Anshelm, der Berner Schultheiß Wilhelm von Diesbach habe »vil jar einen wolbereiten muoshafen den armen schuolern, deren gmeinlich ob hunderten hie waren, und ouch andren husarmen gehalten.« 1 0 Die läßt sich dahingehend interpretieren, daß zeitweilig über 100 unterstützungsbedürftige Schüler in Bern waren. Die Einrichtung des Mushafens läßt ebenso das Bestreben der bernischen Regierung erkennen, den Besuch der

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und Schaffhausen gilt, moniert auch Zahnd (Chordienst und Schule in eidgenössischen Städten des Spätmittelalters, S.261f.). Bis jetzt fehlt nicht nur generell eine umfassende Darstellung zu den schweizerischen Bildungs- und Schulverhältnissen des ausgehenden Mittelalters und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, sondern für diesen Zeitraum fehlen auch fast gänzlich neuere Untersuchungen zu Schuleinrichtungen einzelner eidgenössischer Orte. Vgl. dazu Zahnd, Lateinschule - Universität - Prophezey, S. 91f. Etwas besser sieht die Situation für die Städte Bern, vor allem aufgrund der Arbeiten Zahnds, und St. Gallen und ihr Umland aus. Für die Auswahl dieser Städte sprechen aber auch demographische und politische Gründe: Beide Städte gehören mit ca. 5000 Einwohnern um 1500 zu den mittelgroßen Schweizer Städten und sind somit durchaus repräsentativ. Zudem verfügen sie als Stadtstaaten über ein größeres Umland, das in die Untersuchung einbezogen werden kann. Vgl. dazu Fluri, Die bernische Stadtschule und ihre Vorsteher bis zur Reformation, S.56. Vgl. dazu Charpentier, Reformation und Bildungswesen, S. 16. Ausschließlich der Heranbildung des Klerus dienten die Klosterschulen, auf die hier nicht näher eingegangen wird: Neben der bedeutenden Klosterschule in St. Gallen sind das in der Stadt Bern die Schulen des Dominikaner- und Franziskanerklosters. Vgl. dazu Zahnd, Die Bildungsverhältnisse in den bernischen Ratsgeschlechtern im ausgehenden Mittelalter, S.60f. Vgl. Zahnd, Chordienst und Schule in eidgenössischen Städten des Spätmittelalters. Zitiert nach Zahnd, Die Bildungsverhältnisse in den bernischen Ratsgeschlechtern im ausgehenden Mittelalter, S. 56. Zu der Berner Lateinschule allgemein vgl. Zahnd, Lateinschule - Universität - Prophezey, S. 93-96.

40 Lateinschule möglichst weiten Kreisen zu ermöglichen. Zahnd verweist auf zahlreiche Schulmeistereide, die zeigen, daß die Berner Stadtschule auch auswärtigen Schülern offenstand. 11 Und in der Spendordnung von 1449 wird ausdrücklich festgehalten, daß auch die »armen heimsch oder frömde schüler oder lerkind an die spend gand, daz ouch denen semlich spendbrot belibe, daz nießen und brechen, und daz nit iren schulmeistern und lermeistrinen geben«. 12 Genaue Auskunft über die Zusammensetzung der Schülerzahlen der bernischen Lateinschule geben die spärlichen Quellenzeugnisse jedoch nicht. Der eben zitierte Passus ist aber noch in anderer Hinsicht interessant, verweist er doch, indem er »lermeistrinen« erwähnt, auf eine weitere städtische Bildungsanstalt, die sogenannten deutschen Schreib- und Rechenschulen. Sowohl in St. Gallen als auch in Bern gab es neben der städtischen Lateinschule solche deutschen Schulen, die den Charakter von Privatschulen hatten. Seit dem späten 14. Jahrhundert lassen sich in beiden Städten Lehrmeister und Lehrmeisterinnen nachweisen - die Bezeichnung Schulmeister stand nur dem Leiter der Lateinschule zu - , die bei sich zu Hause jung und alt, Knaben und Mädchen im Lesen und Schreiben der deutschen Sprache und im Rechnen unterrichteten. In St. Gallen gab es Lehrmeister, die versprachen, den Schülern innerhalb von vier bis fünf Wochen Lesen und Schreiben beizubringen. 13 Mit dem Zeitfaktor, und das heißt mit dem Versprechen, die Lernwilligen in kürzester Zeit Lesen und Schreiben zu lehren, wirbt auch ein Aushängeschild, das die Brüder Ambrosius und Hans Holbein d. J. 1516 für einen unbekannten Basler Lehrmeister malten. Die beidseitig bemalte Tafel zeigt auf der einen Seite den Lehrmeister und seine Frau, wie sie drei Knaben und einem Mädchen das Lesen beibringen (Abb. 4), auf der anderen Seite den Lehrmeister, der zwei jungen, modisch gekleideten, aber offenbar des Lesens unkundigen Männern den Inhalt eines Schriftstücks erklärt (Abb. 5). Über beiden Darstellungen ist derselbe Text (mit kleineren orthographischen Abweichungen) aufgemalt; er lautet: wer jemand hie der gern weit lernnen dütsch schriben · vnd läsen vß dem aller kürzisten grundt den Jeman Erdencken kan do durch ein Jeder der vor nit ein büchstaben kan der mag kürtzlich vnd bald begriffen ein grundt do durch er mag von jm selber lernnen sin schuld vff schriben vnd läsen · vnd wer es nit gelernnen kan so vngeschickt were Den will ich vmm nüt vnd vergeben gelert haben vnd ganz nüt von jm zu Ion nemen es syg wer er well · burger Ouch handtwerckß gesellen frowen vnd Junckfrouwen · wer sin bedarff · der kumm har Jn

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Zahnd, D i e Bildungsverhältnisse in den bernischen Ratsgeschlechtern im ausgehenden Mittelalter, S.56. Rennefahrt (Hg.), Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil, Bd. 12, S. 136f. Vgl. Staerkle, Beiträge zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte St. Gallens, S.48.

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Ambrosius Holbein, Aushängeschild eines Schulmeisters (»Kinderschule«), 1516, gefirnißte Tempera auf Tannenholz, Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum (Inv.-Nr.311). Foto: Öffentliche Kunstsammlung Basel, Martin Bühler

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Hans Holbein d.J., Aushängeschild eines Schulmeisters (»Gesellenschule«), 1516, gefimißte Tempera auf Tannenholz, Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum (Inv.-Nr.310). Foto: Öffentliche Kunstsammlung Basel, Martin Bühler

43 • der wirt driiwlich gelert vmm ein zimmlichen Ion · Aber die Jungen knaben vnd meitlin noch den fronuasten wie gewohnheyt jst · Anno · m ccccc xvi.14 Bemerkenswert an diesem >Werbetext< ist, daß er den direkten Nutzen erwähnt, der sich aus dem Schulunterricht ergibt, nämlich »sin schuld vff schriben vnd läsen«. Dabei werden neben den Kindern ganz direkt sowohl Bürger als auch Handwerksgesellen, aber auch verheiratete und unverheiratete Frauen als Schüler angesprochen. Diese Schulen, deren Ziel es war, den Schülern das Lesen und Schreiben in der Muttersprache und elementare Rechenkenntnisse beizubringen, entsprachen denn auch weit besser den Bedürfnissen der gewerbe- und handeltreibenden Bevölkerung als die Lateinschule. So ist es verständlich, daß sie in St. Gallen von Anfang an unter dem Schutz des Rates standen, der ihre Existenz vor der Konkurrenz des städtischen Schulmeisters sichern wollte. In einem Anstellungsbrief von 1382 wird dem Schulmeister die Duldung dieser Schulen geradezu zur Bedingung gemacht: »Und weihe sin Kint ze ainem Schriber oder Schriberin gern setzen wölt, das der das wol tun mag und das er des mänglichem gunnen sol und wil.«15 Die Leiter dieser Schulen wurden denn auch Schreiber, Guldenschreiber oder Modisten genannt, führten sie doch meistens im privaten oder öffentlichen Auftrag gegen Entgelt auch Schreibarbeiten aus. Bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts mußten diese Schulen in Bern und St. Gallen ohne finanzielle Unterstützung des Rates auskommen und waren deshalb auf ein, zwar sehr bescheidenes, vierteljährliches Schulgeld der »lerkinden« angewiesen.16 Neben den Söhnen und Töchtern der Bürger, die als Externe die deutsche Schule besuchten, hatten viele Lehrmeister auch noch sogenannte >KostknabenDer gestreifte (geht auf die Tracht) Schweizerbauen, eine Unterredung zwischen einem Predigermönch und einem belesenen Bauer, welcher die deutsche Sprache als diejenige der Reformation dem pfäffischen Latein gegenüber verteidigt. Erst jetzt erhält die lang verachtete Volkssprache durch die reformierte Kirche die Weihe. Auch hier verbirgt sich der unbekannte gelehrte Verfasser hinter die Maske eines Entlebucher Bauern.« Ermatinger, Dichtung und Geistesleben der deutschen Schweiz, S. 124. Rupprich, D i e deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, S. 110-123, besonders S. 113. Humbel, Ulrich Zwingli und seine Reformation, S. 14,93f., 165f., 170. Humbel, Ulrich Zwingli und seine Reformation, S. 166,215f. - Hypothetischer wird die Autorenfrage der anonymen Flugschriften in neuerer Zeit angegangen. So wurde die Autorschaft Vadians der beiden ebenfalls in Basel gedruckten Flugschriften Wolfsgesang und Vom alten und nüwen Gott, Glauben und Ler, die Humbel zusammen mit Der gestryfft Schwitzer Baur ihm zugeschrieben hatte und die unter d e m Pseudonym Judas Nazarei veröffentlicht wurden, bereits von Traugott Schieß (Hat Vadian deutsche Flug-

49 teresse Traugott Schieß', nimmt doch der Versuch, diese zu beantworten, neben einer ausführlichen Inhaltsangabe der Flugschrift den größten Teil seiner Untersuchung ein.8 Er glaubt ihn im Kleinhöchstetter Kirchherrn Jörg Brunner zu finden, der 1522 in einem aufsehenerregenden Prozeß in Bern freigesprochen wurde, obschon er den Papst als Antichrist beschimpft hatte. Die Anklage und Verteidigung Brunners nun erinnert Schieß »in verschiedener Hinsicht an den Schwitzer Baur«. 9 Ebenfalls in den 30er Jahren entstanden die Arbeiten von Gottfried Blochwitz und Kurt Uhrig. Während Blochwitz im Rahmen seiner Untersuchung der »religiös-sittlichen Eigenart« der antirömischen deutschen Flugschriften die Schrift Der gestryfft Schwitzer Baur nach seiner Nähe und auch Ferne zur lutherischen Lehre befragt, aber auch die Autorenfrage aufwirft und dabei in Gengenbach nicht nur den Drucker, sondern auch den Verfasser zu erkennen glaubt10, interessiert Uhrig die positive Zeichnung des Bauern in der Publizistik der Reformationszeit, die man, so seine These, nur im Zusammenhang mit der lutherischen Lehre vom allgemeinen Priestertum erklären könne. 11 Als »Stimme, die ausdrücklich den kleinen Mann aus dem Volk belehren« will, bezeichnet er die Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur.12 Als Forschungsgebiet wiederentdeckt wurden die reformatorischen Flugschriften in den 70er Jahren. Es ist die Sprache der »frühbürgerlichen Revolution«, die Wissenschaftler aus der DDR interessierte. Guchmann erwähnt die »sehr interessante anonyme Flugschrift >Der gestryfft Schwitzer BaurGesetz und Gnade G e s e t z u n d G n a d e < - I k o n o g r a p h i e 4 0 g e l t e n z w e i i m Jahr 1 5 2 9 e n t s t a n d e n e G e m ä l d e des älteren Lucas Cranach, Freund und Weggefährte Luthers, die h e u t e in G o t h a u n d Prag a u f b e w a h r t w e r d e n . 4 1 D e m s o g e n a n n t e n G o t h a e r T y p u s n u n f o l g t e i n H o l z s c h n i t t ( A b b . 17), d e n m a n ins Jahr 1 5 3 0 datiert u n d d e m m a n d e n Titel > G e s e t z u n d E v a n g e l i u m < g e g e b e n hat. 4 2 D e r auf e i n e r S e i t e w i e d e r g r ü n e n d e B a u m d e r E r k e n n t n i s erfüllt h i e r e i n e z e n t r a l e F u n k tion: E r u n t e r t e i l t d a s B i l d nicht nur f o r m a l in z w e i H ä l f t e n , s o n d e r n t r e n n t a u c h g l e i c h z e i t i g alte u n d n e u e Z e i t , d i e Z e i t d e s A l t e n T e s t a m e n t s , d e s G e setzes, v o n d e r Z e i t d e s N e u e n T e s t a m e n t s , d e r G n a d e . B e t r a c h t e t m a n n u n a b e r d i e d a r g e s t e l l t e n S z e n e n g e n a u e r , e r k e n n t m a n , d a ß d i e T r e n n u n g nicht a b s o l u t g e s e t z t wird. S o e r s c h e i n e n auf d e r S e i t e d e r G n a d e a u c h S z e n e n u n d Figuren d e s A l t e n Testaments, die S z e n e mit M o s e s und der

Ehernen

S c h l a n g e e t w a 4 3 o d e r J o h a n n e s d e r T ä u f e r , d e r d e n als S ü n d e r n a c k t e n M e n -

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Einen repräsentativen, die verschiedenen Gattungen und Techniken - sie reichen von graphischen Blättern und Gemälden über Altarbilder und geschnitzte und gemalte Epitaphe bis zu Titelblättern, Glasgemälden, Truhenreliefs und Ofenplatten - berücksichtigenden Überblick gibt Thulin, Cranachaltäre der Reformation, S. 134-148. Abgebildet sind diese beiden Gemälde z.B. in Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, Abb. 84a und 84b, S. 210. - In der Forschung immer noch kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die Bildidee der >Gesetz und GnadeGesetz und GnadeGesetz< der römischen Kirche, der Werkfrömmigkeit. Die tote Seite des Baumes steht für die alte Kirche, die (noch) nicht zum wahren Glauben und damit zur Gnade gefunden hat. 46

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Ikonographisch dargestellt wird die Johannes dem Täufer - auch von Luther - zugesprochene Rolle als Vermittler zwischen Altem und Neuem Testament (vgl. Hofmann [Hg.], Luther und die Folgen für die Kunst, S. 211 ) häufig mit Hilfe der hier untersuchten Baumsymbolik. Vgl. dazu Busch, Lucas van Leydens »Große Hagar«, S. 103-106, Abb. 4 , 6 , 7 , 9 , 1 0 . Von Busch nicht erwähnt wird ein Holzschnitt Dürers (hier Abb. 18), um 1502 entstanden: Auch hier zeigt Johannes der Täufer auf das Lamm Gottes, Sinnbild Christi. Eindeutige Zeichenfunktion kommt dem geborstenen Stamm zu, an dessen Fuß das Lamm liegt. Es ist der Baum der Erkenntnis, attributiv Johannes als Vertreter des Alten Testaments zugeordnet. Steht der Baum für die Sünde und das Gesetz, so steht das Lamm für die Gnade. Zur Stellung Luthers zur biblischen Naturallegorese vgl. den Aufsatz von Reinitzer, »Da sperret man den leuten das maul auf«, v.a. S. 32-39. Das Verhältnis Luthers zur typologischen Schriftauslegung hat Ohly (Gesetz und Evangelium) untersucht. Er zeigt auf, wie »die typologische Auslegung des Alten Testaments von Luther überhaupt nicht aufgegeben wurde« (ebenda, S. 1-15, hier S.2). In Cranachs >Gesetz und GnadeGesetz und Gnaderichtigen< Bauern gegenüber, anderseits bilden aber auch Mönch und Eselin ein Gegensatzpaar. Diese Konfiguration stellt die Situation des Laien adäquat dar: Es ist diejenige des Übergangs, die der erhofften und sich bereits abzeichnenden Emanzipation des Laien von der Herrschaft und Bevormundung durch den Klerus. Daß hier ein Prozeß dargestellt wird, zeigt sich auch darin, daß die rechte Hand den Kopf der Eselin berührt. Der Mönch benutzt zwar noch die Eselin und damit den gemeinen Laien als Reittier, ein Reittier jedoch, das - im Gegensatz zum Mönch und zu seinem biblischen Modell, dem Propheten Bileam - die Fähigkeit besitzt, Gottes Wort zu hören, zu verstehen und auszusprechen, um den Ungläubigen zu strafen und ihm den rechten Weg zu weisen.53 Und die Bestrafung kann nicht nur verbal sein; auch darauf verweist der Holzschnitt. In der protestantischen Ikonographie kann zwar der Esel auch Symbol eines Widerstandsgedankens sein, der auf Geduld und Erdulden gegründet ist.54 Da auf dem Holzschnitt der Bauer aber nicht nur mit dem Esel identifiziert wird und dementsprechend diese Tugenden der »imitatio Christi« ebenso von ihm erwartet werden, sondern er gleichzeitig auch in persona mit umgeschnalltem langem Schwert vor dem Mönch steht, wird damit, wenigstens potentiell, auch die Möglichkeit des aktiven Widerstandes angedeutet.

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Zu Bileam im Alten Testament vgl. TRE, Bd. 6, S. 635-640. Vgl. neben 2. Petrusbrief 2,15-17 auch Judasbrief 11 und Johannes-Apokalypse 2,14. Vgl. 4. Buch Mose 22-24: Bileam, ein Nicht-Israelit, soll nach dem Willen des Moabiterkönigs Balak Israel verfluchen. Ein Engel, ein Bote Gottes, stellt sich ihm jedoch in den Weg. Im Unterschied zu Bileam sieht die Eselin, auf der er reitet, den Engel und weigert sich weiterzugehen. Bileam schlägt sie, worauf die Eselin zu sprechen beginnt. Erst jetzt kann auch Bileam den Engel sehen. Auf dessen Gebot hin muß nun Bileam, der fremde Seher, Israel segnen. - Zur Auslegungsgeschichte Bileams, v.a. auch der Episode mit der Eselin, vgl. Karpp, Art. Bileam, in: RAC, Bd. 2, Sp. 362-373. Vgl. z.B. das Flugblatt Der arm gemein Esel, das Hans Sachs 1525 herausgab. Hier wird der >gemeine MannDrei Marktbauern im Gespräch< wurde aufgrund der zentralen Stellung des Schwertes sogar als Verschwörungsszene und damit als Ausdruck einer Vorahnung des Bauernkrieges gedeutet.« Dabei stelle sich jedoch die Frage, »inwiefern es zulässig ist, Kupferstiche dieser Art als zeitgeschichtliche Illustrationen zu deuten«. - Darstellungen von Bauern mit dem kurzen Schwert gibt es u.a. von Urs Graf (z.B. die Federzeichnung Tanzendes Bauernpaar, 1525, abgebildet in Velhagen, Der dumme und der schlaue Bauer, S. 16) oder etwa auch in der Graphik der >drei gottlosen Maler < von Nürnberg, Sebald Beham, Barthel Beham und Georg Pencz (einige solche Darstellungen sind abgebildet in: Zschelletzschky, Die »drei gottlosen Maler« von Nürnberg, z.B. S.223, Abb. 181; S.301, Abb.226 u. 227; S.349, Abb.306).

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Vgl. R D K , Bd. 2, Sp. 740-744; Bd. 5, Sp.1523 und Abb. in Sp. 1486. Diese Illustration ist abgebildet in RDK, Bd. 2, Sp. 741/742. - Eine Zusammenstellung derjenigen Bibeln des 15. und 16. Jahrhunderts, welche die Bibelstelle, wo sich Bileam ein Bote Gottes in den Weg stellt (4. Buch Mose 22, 21-35), illustrieren, gibt Kästner, Die Icones Hans Holbeins des Jüngeren, Bd. 2, S.497. Die Liste reicht von einer »Biblia pauperum« von 1475 bis zu einer in Basel gedruckten Bibel von 1552; 10 vorreformatorischen stehen 10 nachreformatorische Bibeln gegenüber. Es fällt auf, daß es vorwiegend volkssprachliche Bibeln sind, die diese Szene illustrieren. Vgl. z.B. Schmidt, Die Illustration der Lutherbibel 1522-1700, S. 149f. Diese Zuschreibung nimmt Hieronymus (Basler Buchillustration 1500-1545, S.275f.) vor. Vor allem mit Hilfe einer ebenfalls das Bileams-Eselin-Motiv aufnehmenden Darstellung, die mit Sicherheit von Hans Holbein d. J. stammt, der S-Initiale des großen Metallschnitt-Alphabets (z.B. abgebildet in: Die Malerfamilie Holbein in Basel, Ausstellungskatalog, Basel 1960, Kat.-Nr.352, S.323), das heidnische und biblische Szenen zeigt, führt Hieronymus den Beweis, daß die Illustration der Basler Bibel nicht von Holbein sein kann. Hieronymus schreibt zur Datierung dieser beiden Darstellungen: »Bei Zuweisung der AT-Gruppe an Herbst könnte man nun versucht sein, dessen Darstellung im AT durch Holbeins Initiale beeinflußt zu sehen und damit nach der Erstverwen-

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^ CM Ό CD 00 i «: ωe ι-, CU gemeinen Mannesklugen layenSchuster, bleib bei deinen Leisten< - mit diesem Sprichwort, um einen beliebten Redeschmuck des 16. Jahrhunderts zu gebrauchen, kann man Paulis Reaktion auf die Tendenz, Standesgrenzen zu überschreiten und aufzubrechen, umschreiben. 128 Sowohl Murner als auch sein Ordensbruder Pauli schrieben in deutscher Sprache, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Bei beiden besteht ein enger Konnex zwischen Dichtung und Predigt, wobei die »Besserung der Menschen« 129 die Intention ihrer schriftstellerischen Tätigkeit dar-

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Schreiner, Laienbildung, S. 277. Pauli, Schimpf und Ernst, Bd. 1, S.281. Pauli, Schimpf und Ernst, Bd.l, S.281. Zum Ansehen des Schwäbischen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, das geradezu in Mode gekommen war und als Sprache der Vornehmen und Gebildeten galt, vgl. Josten, Sprachvorbild und Sprachnorm, S. 68-71. - Gerade im Elsaß war jedoch das Schwäbische auch in Verruf, nicht zuletzt weil zu Beginn des 16. Jahrhunderts zahlreiche schwäbische Geistliche im Elsaß tätig waren, deren sprachliche Wendungen auch von Wimpfeling kritisiert wurden. Vgl. dazu Kluge, Von Luther bis Lessing, S.61. Vgl. dazu auch Schieb, Zur sprachhistorischen Situation, S.212f. Pauli, Schimpf und Ernst, Bd. 1, S. 1.

164 stellt. Während jedoch in Paulis Schimpf und Ernst, das in den Traditionszusammenhang der Exempelsammlungen und allgemein des Erbauungsschrifttums gehört, die Kritik an institutionellen Mißständen durch Kommentare und Exempel, »in welchen konservativ dogmatisch korrekte Positionen der Kirche vermittelt werden«130, ausgeglichen wird, sparte Murner in seinen vorreformatorischen Satiren nicht an radikaler Kritik an gesellschaftlichen und kirchlichen Zuständen der Zeit. Die Verwendung der deutschen Sprache war hingegen für beide Mittel zum Zweck; eine ideelle Aufwertung der deutschen Sprache war nicht ihre Absicht. Wie gezeigt werden konnte, ist für sie als Verteidiger der traditionellen Herrschaftsordnung die Sprache ein Mittel der sozialen Abgrenzung, deren Übertretungen es zu bekämpfen gilt. Die Diskrepanz zwischen sozialem Status und Bildungsniveau, die Inkongruenz zwischen Schein und Sein und damit verbunden eine Kritik an sozialen Umstrukturierungen bilden auch einen zentralen Themenkomplex im Narrenschiff Sebastian Brants (1457-1521). 131 Diese 1494 in Basel erstmals gedruckte Moralsatire, welche unzählige Neuauflagen erlebte und von Jakob Locher ins Lateinische und von da aus u.a. ins Französische, Englische und Niederländische übersetzt wurde, bildete den eigentlichen »Kulminationspunkt, in dem >Narrenthema< und >Narrenidee< den Zenit ihrer Beliebtheit erreichen und in das Zeitalter der Reformation hinüberstrahlen«.132 Das Narrenschiff hatte denn auch eine ungemeine literarische Wirkung.133 Johannes Geiler von Kaysersberg etwa, der Straßburger Prediger, hielt ab 1498 über die einzelnen Kapitel des Narrenschiffs Predigten, welche 1510 in lateinischer Sprache gedruckt und durch Johannes Pauli 1520 »vß dem latin [...] zetütsch«134 übersetzt wurden.135 Aber auch Thomas Murners Narrensatiren, v.a. die Narrenbeschwörung und die Schelmenzunft, beide 1512 entstanden, stehen in einer unmittelbaren Traditionslinie mit dem Narrenschiff Brants. In der Narrenbeschwörung verwendet Murner nicht nur die meisten Holzschnitte aus dem Narrenschiff - wobei er jedoch eine große Zahl auch umdeutet und in einen anderen Kontext stellt - , sondern es finden

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Mühlherr, Johannes Pauli, S. 132. Ein guter Überblick über Leben und Werk des Juristen und Dichters Sebastian Brant neuerdings bei Knape, Sebastian Brant. Manger, Das Narrenschiff, S.35. Zur Wirkungsgeschichte des Narrenschiffs vgl. z. B. Lemmer in der Einleitung zu Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S . X I I - X X I I . Zitat aus der Vorrede Paulis zu seiner Übersetzung, welche abgedruckt ist bei Heger (Hg.), Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 1. Teilbd., S. 124f. Zu Johannes Geilers Predigten über das Narrenschiff vgl. Manger, Literarisches Leben in Straßburg, v.a. S.46ff.; Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft, S. 99-111; Bauer, Die P r e d i g t e n J o h a n n e s G e i l e r s v o n K a y s e r s b e r g . - A u s f ü h r l i c h e r d a z u u n t e n in K a p i t e l

10.3.1, S. 240-245.

165 sich a u c h ä h n l i c h e T h e m e n u n d M o t i v e bis hin z u w ö r t l i c h e n Ü b e r e i n s t i m m u n g e n . 1 3 6 A u c h i m b e r e i t s e r w ä h n t e n K a p i t e l » D e r g e s t r y f l e t l e y « 1 3 7 rezipiert M u r n e r d a s Narrenschiff,

d a s i m 1. K a p i t e l m i t d e m Titel » V o n v n n u t -

z e n b u c h e r n « d e n l a t e i n i s c h e n B ü c h e r n a r r e n b e h a n d e l t . 1 3 8 S c h o n in d e n M o t t o v e r s e n , d i e d e m H o l z s c h n i t t u n d d e m Titel v o r a u s g e h e n , w i r d e i n e m allfälligen Mißverständnis des Titels entgegengewirkt. Nicht die B ü c h e r an sich s i n d v o n k e i n e m N u t z e n ; d i e Kritik richtet sich v i e l m e h r g e g e n d i e j e n i g e n , w e l c h e B ü c h e r l i e b e r b e s i t z e n , als sie z u l e s e n : D e n vordantz hat m a n mir gelan D a n n jch o n nutz vil bûcher han D i e jch nit lyß / vnd nyt verstan 1 3 9 . D e r N a r r m i t D o k t o r t i t e l ( » V n d d a s ich h e y ß d o m n e d o c t o r « 1 4 0 ) b e h e r r s c h t d e n n a u c h nur e i n i g e w e n i g e l a t e i n i s c h e V o k a b e l n , u m j e n a c h B e d a r f G e lehrsamkeit vorzutäuschen. Er glaubt, auch o h n e Bildung und mit e i n e m »groben synn«141 ein Herr142 sein zu k ö n n e n , und sein R e i c h t u m erlaubt es

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Eine Zusammenstellung der Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede zwischen dem Brantschen Narrenschiff und der Murnerschen Narrenbeschwörung gibt Spanier in der Einleitung zu Murner, Narrenbeschwörung, S. 9-46. - Spanier versucht, neben der unbestreitbaren Abhängigkeit Murners von Brant vor allem auch dessen Eigenständigkeit hervorzuheben und somit Zarnckes Aussage zu widerlegen: »Murners werke, vor allem seine Narrenbeschwörung, müßten so herausgegeben werden, daß die aus Brants werke evident entlehnten ganzen verse cursiv gedruckt würden; es würde das mehr als ein drittel des ganzen austragen« (Brant, Narrenschiff, hg. von Zarncke, S.CXVI).

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Vgl. oben in diesem Kapitel S.161f. Quelle für Kapitel 61 (»Der gestryflet ley«) der Narrenbeschwörung ist neben Kapitel 1 des Narrenschiffs vor allem Kapitel 27 (»von vnnutzem studieren«), dessen Holzschnitt Murner verwendete. Vgl. dazu unten die Ausführungen in Kapitel 10.3.1, S. 247-250. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S. 7. - Hier geht es nicht um eine Kritik an der Ausbreitung der Buchdruckerkunst und am Medium Buch, wie Mähl (Brant, Das Narrenschiff, hg. von Mähl S. 13) vermutet, sondern der falsche Umgang mit Büchern ist Gegenstand der Kritik. Die zeitgenössische Rezeption (Johannes Geiler von Kaysersberg, Thomas Murner u.a.) sah im Büchernarren den parodistischen Selbsteinbezug Brants, der sich an die Spitze seiner Narrenrevue stelle. Seit Friedrich Zarncke (Brant, Narrenschiff, hg. von Zarncke, S. 301) galt diese Interpretation in der Forschung als verfehlt, bis in neuerer Zeit versucht wurde, die Selbstbezichtigung des Autors als gattungsimmanentes Merkmal der Satire zu deuten (vgl. Suchomski, Der satirische Autor als Narr unter Narren; vgl. auch Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft, S.351f.). D a ß der Büchernarr »als gattungsspezifische Variante der Bescheidenheitstopik« (Suchomski, Der satirische Autor als Narr unter Narren, S.400) verstanden werden kann, sei hier nicht in Frage gestellt. Daß jedoch dieses 1. Kapitel des Narrenschiffs über eine gattungsspezifische Interpretation hinaus auch eine sozialgeschichtliche Deutung zuläßt, soll hier gezeigt werden.

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Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.8, v. 32. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.8, v. 25. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S. 8, v. 23: »Jch mag doch sunst wol sin eyn here«. >Herr< steht hier als Standesbezeichnung für einen Gelehrten.

166 ihm, zu »Ionen eym der für mich 1er«143. Bildung wird für ihn zu einem käuflichen Gut. Der Besitz von wertvollen 144 , gelehrtes Wissen vermittelnden Büchern145 wird so zur reinen Prestigesache. Brants Kritik richtet sich gegen Exponenten einer zu Wohlstand gekommenen bürgerlichen Schicht, bei denen Bildungsstand und gesellschaftliche Position auseinanderklaffen. Dabei führt der Büchernarr nicht von ungefähr die Reihe der Narren an, verkörpert er doch sehr deutlich die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, sinnfälligster Ausdruck einer aus den Fugen geratenen gesellschaftlichen Ordnung. Für Johannes Geiler von Kaysersberg wird der Büchernarr aufgrund des Mißverhältnisses zwischen gesellschaftlichem Ansehen und Unwissenheit zum Verführer der Menschen: Also fürwar seint disse doctores blinde / wan man halt sie für witzig vnd gelert vnd wissen nichts / so verfüeren sie sich selber vnd ander lüt / seint blind vnd blinden fürer betriegen sich vnd andere.146

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Brant, D a s Narrenschiff, hg. von Lemmer, S. 8, v. 24. Vgl. den Holzschnitt zu diesem Kapitel (Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S. 7), auf dem der mit Brille, Schlafmütze und zurückgestreifter N a r r e n k a p p e bekleidete Büchernarr hinter einem mit prachtvoll eingebundenen Folianten bestückten D o p pelpult sitzt und mit einem Wedel die Fliegen verscheucht. Brant, D a s Narrenschiff, hg. von L e m m e r , S. 8, v. 9t: »Wo m a n von künsten reden düt / Sprich ich /do heym hab jchs fast gut«. Die Predigt Geilers über das 1. Kapitel des Narrenschiffs, aus der dieses Zitat stammt, ist abgedruckt bei Heger (Hg.), Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 1. Teilbd., S. 125-133, hier S. 127. - D e r Erfolg des Narrenschiffs erklärt sich nicht zuletzt aus der Vielfalt der möglichen Interpretationen, die z.B. eine Figur wie der Büchernarr zuläßt. Von den verschiedensten Autoren des 16. Jahrhunderts wurde er immer wieder aufgegriffen und je nach weltanschaulichem Standort und argumentativem Z u s a m m e n h a n g anders verwendet und interpretiert. W ä h r e n d Johannes Geiler von Kaysersberg als altkirchlicher Reformer, der in seinen Predigten als scharfer Kritiker gesellschaftlicher und kirchlicher Z u s t ä n d e auftritt, durch die >halbgebildeten< Büchernarren die Autorität des Gelehrtenstandes und innerhalb dessen natürlich vor allem diejenige der Geistlichkeit in G e f a h r sieht, greift Paracelsus auf den Büchernarren zurück, um die U n f ä higkeit der herkömmlich ausgebildeten Ärzte zu illustrieren. Diese seien nicht bereit »weder zu wandern noch zu lehren«, wozu »das volck« auch etwas beitrage, indem »sie jhnen immer m e h r Gelt geben / ob sie schon glich nichts wissen. So sie das mercken an den Bawern / das sie nicht wissen wie ein Artzt sein sol / so bleiben sie hinder dem O f e n / setzen sich mitten vnder die Bûcher / vnd faren also im Narrenschiff« (Paracelsus, Bücher und Schriften 1,2. Teil, S. 175). Vadian hingegen, Humanist und St. Galler Reformator, vergleicht die Büchernarren Sebastian Brants, »die viel büecher hand, sich derselben r u m e n d und aber nimer oder doch selten d a r ü b e r gond«, mit den Mönchen des Klosters St. Gallen, die »ungelert« seien und deshalb die Bücher nicht achten würden, obwohl sie »von alters wegen und daß si mit großem kosten etwan geschriben und gmachet worden sind, wol werend in eeren zu halten, also ellenklich u n d e r den wurmen und schaben verschlossen ligend und niemand weder zu nutz k o m e n d , geschwigen daß si iem a n d ain trost sin soltend« (von Watt [Vadian], Deutsche historische Schriften, 3. Bd., S. 361). Paracelsus benutzt den Büchernarren als negatives Exempel für die scholastisch gebildeten Ä r t z e und stellt diesen seine auf Er-fahrung gegründete Medizin gegenüber. Für den Philologen Vadian hingegen illustriert der Büchernarr den verantwortungslo-

167 Mit Recht habe daher Brant diesen Narren, die als die gefährlichsten einzuschätzen seien, »den fortantz« 147 gelassen. Indem sie die gesellschaftliche Verantwortung nicht wahrnehmen, die eigentlich von ihrem Stand erwartet wird, schaden sie aber nicht nur dem gemeinen Volk und sich selber, sondern vor allem auch dem Ansehen einer sich im Humanismus neu etablierenden Gelehrtenschicht aus Dichtern, Juristen, aber auch politischen Amtsträgern, zu der Brant gehörte, für die es galt, ihren Platz neben der kirchlichen Sinnvermittlung und innerhalb der feudalständischen Ordnung zu finden. Der sich dem »tütschen orden« 148 - mit dieser Wendung wird »so etwas wie eine >deutsche Sprachgesellschaft< ironisch apostrophiert« 149 - zugehörig fühlende Büchernarr verweist aber auch auf einen mit dem Humanismus verbundenen Diskurs, welcher in den Volkssprachen ein Werkzeug der Laienbildung sah. Auch die Aufwertung der Volkssprache stellte für den in den alten Sprachen gebildeten doctus, dessen Stand noch nicht gefestigt war, eine Gefahr dar. Obwohl Brant als Sohn eines Straßburger Gastwirts 150 selber einen gesellschaftlichen Aufstieg hinter sich hatte, sind für ihn nicht nur diejenigen närrisch, die ihre >Standespflichten< vernachlässigen, sondern vor allem auch diejenigen, welche sich nicht mit ihrem angeborenen Stand zufriedengeben: Jnn allen landen ist groß schand Keynen benugt me / mit sym stand Nyemants denckt wer syn vorderen woren Des ist die weit yetz gantz voll doren. 151 Die soziale Mobilität zeigt sich dabei am offensichtlichsten in der Mißachtung von ständischen Kleiderordnungen 152 , die wiederum Ausdruck einer Diskrepanz zwischen Geburts- und Besitzstand ist. Dem Geld sei denn auch die »eynfalt« des bäuerlichen Standes zum Opfer gefallen, seit die »buren stecken gantz voll gelt«. 153 Neben der materiellen Absicherung führt ebenso Bildung zu mehr Selbständigkeit, die im 36. Kapitel Gegenstand der Kritik ist. Zu einem Ketzer werde derjenige Narr, der »sich vff eygne kunst« verlasse, »eygens koppfs sich bruchen will« und »nit mag han / das man jn lere«. 154

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sen Umgang mit altem Kulturgut, mit Handschriften, deren Erhaltung und Erschließung sich die Humanisten zur Aufgabe machten. Heger (Hg.), Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 1. Teilbd., S. 127. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.8, v. 28. Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft, S.353. Vgl. Knape, Sebastian Brant, S. 156. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.214, v. 60-64 (Kapitel 82). Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.213, v. 39-42: »Die buren tragen syden kleit / Vnd gulden ketten an dem lib / Es kunt da har eyns burgers wib / Vil stôltzer dann eyn grafin dut«. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.213, v. 23f. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.90, v. 11, 26 und 20.

168 Die selbständige Aneignung von Wissen ermöglicht hat erst der Buchdruck. In der »vile der gschrifft« (Kapitel 103) - alle Bücher, die seit Generationen geschrieben worden sind, würden jetzt gedruckt - sieht Brant denn auch den Grund für eine Abwertung der Bücher und damit des gelehrten Wissens, der »kunst«, allgemein.155 Desgleichen habe die >Inflation< der »1er« (»So vil der schulen man nie fand«) zur Verachtung der Gelehrten geführt: Man zücht die buren yetz har für Die gelerten müssen hynder die thûr.156 Während der Hinweis auf die schwindende Achtung des »apploß« - neben den Büchern und der Lehre werde auch dem Ablaß nicht mehr die angemessene Ehre zuteil157 - den im Abnehmen begriffenen Glauben an die Geistlichkeit als alleiniger Heilsvermittlerin zum Ausdruck bringt, verweist die Kritik an der Bücherflut und dem damit verbundenen Verlust an Ansehen des einzelnen Buches, aber auch des Gebildeten, auf eine Verunsicherung der frühhumanistischen laikalen Gelehrten, die sich ihre Position innerhalb der ständisch gegliederten Gesellschaft erst noch zu erkämpfen hatten.158 Herbe Kritik richtet Brant deshalb auch an die Drucker, die »alleyn vff gewynn« aus wären und deshalb »Vil drucken« aber »wenig corrigyeren« würden.159 Somit wird den docti die Kontrolle über die Auswahl und die Verbreitung von Wissen entzogen. Für Brant kündigen diese gesellschaftlichen Veränderungen das nahe Weltende an: »Vom endkrist«160 lautet der Titel dieses Kapitels. Im Narrenschiff stehen den humanistischen Hoffnungen, die sich in des Narren Fähigkeit zur Selbsterkenntnis äußern 161 , apokalyptische Ängste gegenüber. Sie sind Ausdruck einer Verunsicherung der auf der Schwelle zu einer neuen Zeit stehenden, aber doch noch an der hergebrachten Gesellschaftsordnung festhaltenden Führungsschicht, der Brant angehörte.162 Hervorgerufen wurden diese Ängste nicht zuletzt durch die neue drucktechnische Kommunikationssituation, welche erst die Möglichkeit schuf, vielgestaltiges Wissen, auch in die deutsche Sprache übertragenes

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Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S 276, ν. 98, lOOf. und 112 (Kapitel 103). Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.276, v. 105f. und 116f. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.276, v. 96. Vgl. dazu auch Müller, Poet, Prophet, Politiker. Sebastian Brant, S. 119ff. - Müller verweist in diesem Zusammenhang auf die paradoxe Situation, die sich dadurch ergebe, daß sich Brant gegen eine »Säkularisierung von Wissen«, ein »Heraustreten aus einem priesterlichen Arkanbereich wendet«, dem die frühhumanistische Position selbst »ihre Existenz [...] verdankt.« Ebenda, S. 120. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.276, v. 80 und 84. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.273. Vgl. z.B. in der »vorred« (Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.4, v. 41f.): »Dann wer sich für ein narren acht / Der ist bald zu eym wisen gmacht«. Vgl. B a c h o r s k i / R ö c k e , N a r r e n d i c h t u n g , S . 2 0 6 1 u n d Müller, P o e t , P r o p h e t , Politiker.

Sebastian Brant, S. 107.

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gelehrtes Fachwissen, einem breiteren Adressatenkreis zugänglich zu machen. 9.3.3 >Deutsch und Latein< bei ausgewählten Vertretern des Humanismus Während Schriftsteller wie Thomas Murner oder Sebastian Brant einen sehr pragmatischen Umgang mit den Sprachen Latein und Deutsch pflegten, je nach Kontext und Intention die eine oder andere Sprache anwandten, schrieben der humanistische Dichter Conrad Celtis aber auch der christliche Humanist Erasmus von Rotterdam kein Wort in deutscher Sprache. Ulrich von Hutten hingegen setzte in seinen agitatorischen Schriften beide Sprachen ein. So präsentiert sich denn auch das Verhältnis der deutschen Humanisten zu ihrer Muttersprache als sehr uneinheitlich und vielschichtig163, vor allem bedingt durch ein Spannungsverhältnis zwischen dem elitären humanistischen Bildungsideal einerseits und religiösen und sozialen Reformbestrebungen andererseits. Eine Synthese gelang den wenigsten. Zu berücksichtigen gilt es in diesem Zusammenhang auch den Nationalgedanken, zu dessen ersten Wortführern die Humanisten gehörten. Conrad Celtis (1459-1508) hingegen, der deutsche Erzhumanist, war dem genannten Spannungsverhältnis nicht ausgesetzt. Sein Ziel war eine kulturelle Erneuerung Deutschlands. In seiner Apollo-Ode164 von 1486, dem »Manifest neulateinischen Dichtens in Deutschland« 165 , spricht er von der deutschen Sprache als vom »barbarus sermo«, die fliehen werde, sobald Apollo die Dichtkunst von Griechenland und Italien nach Deutschland gebracht haben werde. Die Barbarensprache umfaßt dabei sowohl »das Deutsche als Literatursprache wie ein >entartetes< Mittellatein«166. Celtis' Adressaten waren die wahren docti, eine kleine humanistische Elite, die den Kampf gegen den kulturellen Monopolanspruch der italienischen Humanisten aufgenommen hatte.167 Dabei ist für Celtis das Latein die Sprache der Kunst und Wissenschaft, die allen Gebildeten gleichermaßen, auch denen nördlich der Alpen, gehört. Die translatio imperii, die Idee der Übertragung

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Hier ausgeklammert werden soll die Übersetzungsliteratur der deutschen Frühhumanisten, z.B. eines Niklas von Wyle. Mit Übersetzung abgedruckt in: Schnur (Hg.), Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, S. 54f. Schäfer, Conrad Celtis' Ode an Apoll, S.83. Schäfer, Conrad Celtis' Ode an Apoll, S. 86f. - Vgl. dazu auch Celtis' Ode Ad Sigismundum Fusilium Vratislaviensem. In deutscher Übersetzung lautet die 4. Strophe: Vom Beginn schon haßtest du Trägheit; legtest / ab der Ungebildeten Redeweise, / Klang und Worte auch deiner Muttersprache, / Laut des Barbaren. In: Schnur (Hg.), Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, S.46f. Auf den Vorwurf kultureller >BarbareiDoktorgemeinen Laien< generell, die aus der kirchlich-lateinischen Unmündigkeit befreit werden sollten, und auch nicht - wie bald darauf - die Bauern. Während sich der Nationalstolz des Conrad Celtis in erster Linie aus einem Konkurrenzdenken gegenüber dem kulturellen Monopolanspruch der italienischen Humanisten nährte und deshalb einen kulturellen Akzent trug, war der Nationalismus eines Ulrich von Hutten mehr politisch akzentuiert. In der römischen Kirche sah er den ärgsten Feind der »teütsch nation«. Celtis' Vaterlandsliebe äußerte sich in der Pflege der lateinischen Kultur; Hutten hingegen ging zur deutschen Sprache über, auch wenn er sich des kulturellen Abstiegs von der Latinität zur Volkssprache bewußt war.209 Sein Entscheid zu einer vita activa210 stand mit diesem Sprachwechsel in direktem Zusammenhang. Sowohl Celtis als auch Hutten ging es um mehr nationale Eigenständigkeit. Sie waren Vertreter eines national-emanzipatorischen Diskurses, der im Humanismus seinen Ursprung hatte. Erasmus hingegen bewahrte sich die übernationale Geisteshaltung des christlichen Humanisten. In einem Brief an Zwingli vom September 1522, in dem er ablehnend auf das Angebot, Bürger der Stadt Zürich zu werden, antwortet, wünscht er, Weltbürger zu sein.211

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Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur, S. 966. Simon (Hg.), Deutsche Flugschriften der Reformation, S.70 (Marginalie). Simon (Hg.), Deutsche Flugschriften der Reformation, S.71. Siehe oben S. 175 und die Fußnote 200. Vgl. dazu Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft, S. 153f. Vgl. dazu Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur, S.966f. Vgl. dazu mit Angabe der Briefstelle den Artikel >Volk, Nation, Nationalismus, Masse< in Brunner/Conze/ Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S.292.

177 9.3.4 Die Hinwendung zur Volkssprache im Fachschrifttum Der Nationalgedanke des deutschen Humanismus war also nicht zwangsläufig an die Hinwendung zur deutschen Sprache gekoppelt. Ebensowenig war der Gebrauch und die Aufwertung der Muttersprache primär Ausdruck eines humanistischen Patriotismus. Vielmehr standen bei Luther, den anderen Reformatoren und dann im besonderen bei sich von diesen distanzierenden Vertretern und Sympathisanten radikaler religiöser Bewegungen beim Gebrauch der Volkssprache und bei deren Verteidigung und Propagierung religiöse und volksmissionarische und damit verbunden soziale Motive im Vordergrund. »Luther sah sich keineswegs in der Rolle eines nationalen Befreiers oder Patrioten« 212 ; nicht ein utopisches Konzept, als welches zu jener Zeit die deutsche Nation< verstanden werden mußte 213 , war der Adressat seiner deutschen Bibel, sondern ganz konkret der >gemeine Manngemeinen< Laien. In solchen Fachtexten stehen die Begriffe >gemein Nutzgemein Volk< und >gemein Teutsch< jedoch oft in direkter Verbindung mit dem Begriff der deutschen NationNationalismus< gegenüber. In deutscher Sprache schreibende Fachprosaautoren sind oftmals Vertreter eines sozial-emanzipatorischen Diskurses, den eine soziale Bewußtseinsbildung auszeichnet und damit verbunden die Einsicht in die emanzipatorische Wirkung der Muttersprache. Einige dieser Autoren sollen nun abschließend zu Wort kommen. Daß sie in der Literaturgeschichte bisher kaum Berücksichtigung fanden 217 , läßt sich gerade für diesen Zeitraum kaum rechtfertigen, nimmt in einigen ihrer Texte doch nicht nur die lateinisch-deutsche Sprachdiskussion breiten Raum ein,

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Wehrli, Der Nationalgedanke im deutschen und schweizerischen Humanismus, S. 138. Vgl. dazu Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S. 108f. Unter den Begriff der Fachprosa oder der Fachliteratur werden in der historischen Fachtext- und Fachsprachenforschung Texte subsumiert, welche spezifisches wissenschaftlich-theoretisches Fachwissen, theologisches Heilswissen, aber auch handwerkliches Sachwissen und praktisches Alltagswissen in der Muttersprache vermitteln. Fachschrifttum richtet sich in erster Linie an den Laien generell, manchmal eingeschränkter an bestimmte Berufsgruppen. Vgl. dazu u.a. Döring/Eicher, Zur sprachlichen Gestaltung von Fachtexten des 16. Jahrhunderts, v.a. S. 1 Iff. Vgl. dazu Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S. 103-110. Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S. 109. Dies beanstandet auch Pörksen, Der Übergang vom Gelehrtenlatein zur deutschen Wissenschaftssprache, S.43. Er sieht den Grund hauptsächlich in der seit dem 19. Jahrhundert vollzogenen Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.

178 sondern es finden sich auch Darstellungsformen und Sprachstile, die ebenso für >literarische< Prosatexte der Zeit charakteristisch sind. So hat der unter anderem in Colmar, Freiburg in der Schweiz und Straßburg tätige Arzt Lorenz Fries (1485/90-1530/32) 218 seinen 1518 zum ersten Mal erschienen Spiegel der Arznei219 - er richtet sich an Laien, welche die Krankheiten und die ärztlichen Maßnahmen besser verstehen wollen - dialogisch strukturiert, als Gespräch zwischen Meister und Schüler. Fries läßt sich als Lehrer mit »lieber meister« anreden, der Schüler nennt sich selber einen »gestreiffte[n] ley[en]«: Lieber meister du sagst mir von den complexionen / aber nit wie ich wol dar uon hab gehört sagen vnsern pfarrer / auch bin ich ein wenig ein gestreiffter ley hab dauon gelesen / das nur vier seien / Sanguiner / Colerici / Flegmatici / Malancolici [,..].220 Schon durchaus kirchenkritische Töne finden sich bei der Frage des Laien, wie man die Qualität eines Arztes einschätzen könne: Du thüst eben wie die pfaffen / die sagen auch nur was inen gut ist darmitt sie gelt vberkummen / leren vns vil / thüns selbs nit. Aber sag mir was sol der artzt thun oder was ist er verbunden züthun den krancken / damit ich dennocht mein gelt auch nit vnnützlich vßgeb / dan ich muß all weg arbeiten vnd vbel zeit haben ee ichs gelt zu wegen bring [...].221 Die Dialogform war in der Fachprosa der Zeit allgemein ein beliebtes Stilmittel, um komplizierte Sachverhalte verständlicher darzustellen. 222 Es werden Parallelen zwischen deutschsprachigen Fachtexten und der reformatorischen Flugschriftenliteratur sichtbar, die bis jetzt in der Forschung übersehen worden sind. So darf nicht mehr nur der von Hutten popularisierte Dia-

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Zu Leben und Werk vgl. vor allem Öhlschlegel, Studien zu Lorenz Fries und seinem »Spiegel der Arznei«. Der Spiegel der Arznei ist in 8 verschiedenen Auflagen, die alle in Straßburg bei Johannes Grüninger (bis 1529) und Balthasar Beck (bis 1546) gedruckt wurden, überliefert. Eine Zusammenstellung aller noch vorhandenen Schriften Fries' gibt Benzing, Bibliographie der Schriften des Colmarer Arztes Lorenz Fries. - Das Verhältnis zwischen lateinischen und deutschen Schriften naturwissenschaftlich-medizinischer Richtung untersuchte Pörksen (Der Übergang vom Gelehrtenlatein zur deutschen Wissenschaftssprache) anhand der Bestände der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und kommt für das 16. Jahrhundert zu folgendem Resultat: »Die Zahl der deutschen und lateinischen Bestände im Bereich von Naturkunde und Medizin ist schon im Jahr 1520 gleich groß, läuft bis 1580 etwa parallel, danach überwiegt fast hundert Jahre lang das Lateinische deutlich das Deutsche« (S.56). Fries, Spiegel der Artzny, 1518, D2V. - Zum Begriff »gestreiffter ley« bei Fries vgl. unten Kapitel 10.3.2. Fries, Spiegel der Artzny, 1518, C4V. Vgl. dazu mit weiteren Beispielen, Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S.91f.

179 log nach dem Muster des griechischen Satirikers Lukian als Wegbereiter der reformatorischen Dialogliteratur bezeichnet werden. 223 Es muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß auch Dialoge in >reformerischen< Sachtexten wie dem Spiegel der Arznei einige Flugschriftenautoren zu dialogischer Darstellungsform angeregt haben, und dann natürlich auch umgekehrt. Sowohl im Spiegel der Arznei als auch in den Flugschriften unterstreicht die dialogische Struktur das Bedürfnis des >gemeinen Mannes< nach Wissen und dessen Fähigkeit, die richtigen, durchaus kritischen Fragen zu stellen. Daß sich Fries mit diesem Buch viele Feinde schuf, läßt sich aus der zusätzlichen Vorrede an alle »gelerten vnd weisen« in der Ausgabe von 1529 entnehmen. Er berichtet von »mancherley gemürmel vnd vffrür«; »vnwislich« habe er gehandelt, sei gesagt worden, »sollicher kunst der artzney tranßverieren zu teütscher zungen«. 224 Während Fries in dieser Vorrede noch um die Gunst der Ärzte wirbt und sie dazu auffordert, »diß klein werck« durch ihre »grose vernunfft vnd erfarung« 225 zu bereichern, polemisiert er in der mit 1530 datierten Vorrede der Ausgabe von 1532 erbittert gegen die »gelerten artzet«, die ihn sehr hassen und verfolgen würden 226 . In der die Ärzte direkt ansprechenden Vorrede von 1529 warnt er sie noch, sich nicht wie die Pharisäer zu verhalten, die »das heil der menschen in die schulen begrûbent vnd allein die gebott der geytigkeit eroffnotend«. 227 Nur ein Jahr später stellt er sie direkt mit den Gegnern volkssprachlicher Bibelübersetzungen gleich: Was soll ich aber von disen vngedultigen eyferern sagen / sy thund eben wie vnsere hohensinnische meister / welche auch nit wollen / das man die heylig geschrifft verteütschen soll / sprechen der seien heyl gehöre niemants zu wissen / dann den gesalbten / thfind sye allein darumb / das sye fôrchten ir vnwissenheit kumme an tag / vnd halte man vff ire parua logicalia nichts mehr / Ja nit änderst thund auch dise artzt / besorgen villicht ir beschiß / so sy nun lange zeyt getriben mitt dem seich sehen / in welchem sye sich vngebürlicher ding vermessen haben / werde offenbar / es hilfft sye nit. Laßt mich Gott ein kurtze zeyt leben / ich sol es nit verschweigen / vnd ir minder schonen / dann Martinus Luther des Bapsts mit seinem erbern ablaß. 228 Luther ging es um das Seelenheil der Laien, Fries um deren »leibs heyl« 229 . Sei das nun theologisches oder medizinisches Fachwissen, das einem lateinunkundigen Publikum zugänglich gemacht wurde, in beiden Fällen ging die-

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Vgl. z.B. Könneker, Die deutsche Literatur der Reformationszeit, S.32. Fries, Spigel der Artzny, 1529, A2V. Fries, Spigel der Arztny, 1529, A2V. Fries, Spiegel der artzney, 1532, A2 r . Fries, Spigel der Artzny, 1529, A2V. Fries, Spiegel der artzney, 1532, A2V. Fries, Spigel der Artzny, 1529, A2V.

180 ser Vorgang mit der Angst vor Prestigeverlust der jeweiligen Berufskaste einher. Die lateinische Sprache schützte dabei nicht nur vor Kritik einer wissensdurstigen Öffentlichkeit, sondern sicherte auch ein standesgemäßes Einkommen. 2 3 0 Fries hingegen schrieb seinen Spiegel der Arznei »von wegen der vnderweisung so der gemeyn man in allen sachen bedarff« 231 und aus einer »brüderlichen bewegung« den »krancken zu hilff« 232 . Und diesen sozialen Gedanken der Hilfe und der christlichen Nächstenliebe verknüpft er mit der Volkssprache, deren Gebrauch er denn auch nachdrücklich verteidigt: Auch bedunckt mich Teütsche zung nit minder würdig / das alle ding darinn beschriben werden / dann Griechisch / Hebreisch / Lateinisch / Jtalianisch / Hispanisch / Frantzosich / in welchen man doch gar bey alle ding vertolmetschet findet. Solt vnser sprach minder sein? neyn / ja wol vil meer / vrsach das sye ein vrsprünglich sprach ist / nit züsamen gebetlet / von Griechisch / Lateinisch / den Hünen vnd Gothen! als Frantzosich / auch meer reguliert. 233 Es wird nicht nur die mittelalterliche Lehre von den drei heiligen Sprachen in Frage gestellt, sondern es wird auch in gut elsässischer Humanistenmanier gegen die französiche Sprache polemisiert 234 und ihr gegenüber die >Ursprünglichkeit< der deutschen hervorgehoben. So versuchte zum Beispiel Jakob Wimpfeling in seiner Epithoma rerum Germanicarum, der 1505 in Straßburg entstandenen deutschen Geschichte, gegen französische Ansprüche zu beweisen, daß im Elsaß das Deutsche älter sei als das Französische, was er aus elsässischen Ortsnamen erschloß. 235 Im Gegensatz zu Fries spiegelt jedoch für den lateinisch schreibenden Wimpfeling die deutsche Sprache keinen vollkommenen Ursprung; sie muß für ihn zuerst noch zur Kunstsprache entwickelt werden. 236 Als weiteres Argument führt Fries an, daß auch die Griechen, Hebräer und Araber die »kunst der artzney« in ihrer »muterlichen sprach beschriben« hätten und daß sie »zu letst in das latin kommen« sei. 237 Außerdem stehe es, da sich schon viel medizinisches Wis-

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Vgl. dazu auch Schreiner, Volkssprache, S. 490. Schreiner verweist auf den französischen Chirurgen Paré (1509-1590), der, sich als höherer Handwerker verstehend, seine Schriften in französischer Sprache verfaßte und deshalb mit den gelehrten Ärzten, die das medizinische Handwerk wie Operieren ablehnten und nur die lateinische Sprache als Wissenschaftssprache gelten ließen, im Streit lag. Der Sprachenstreit ist somit nicht zuletzt Ausdruck einer verschärften Konkurrenzsituation im Zuge einer zunehmenden Professionalisierung. Fries, Spigel der Artzny, 1529, A2V. Fries, Spiegel der artzney, 1532, A2 r . Fries, Spiegel der artzney, 1532, A2V. Vgl. dazu Rosenfeld, Humanistische Strömungen, S.464f. Vgl. dazu Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 3, S.1054f. Vgl. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 3, S. 1055. Fries, Spigel der Artzny, 1529, A2V.

181 sen z.B. in spanischer oder französischer Sprache finden lasse, auch der »teütschejn] nation« zu, über solches Fachwissen zu verfügen, gerade weil bereits in allen anderen künsten der gütlichen vnd andern rechten ein grosser überfluß der teütschen zungen bey wonet / nichtz on eröffnet blibet [...].238 Die wissenschaftliche Öffnung und die »teütsche nation« definieren sich für Fries geradezu wechselseitig. Hier zeigt sich ein nationaler Gedanke, der ganz konkret auf die Bedürfnisse des >gemeinen Mannes< ausgerichtet ist.239 Wie Fries war es ebenso Albrecht Dürer (1471-1528) ein Bedürfnis, sein Fachwissen in deutscher Sprache einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auch ruft er seine >Fachkollegen< dazu auf, ihr Wissen preiszugeben, wie er es in seiner Underweysung der Messung und den Vier büchern von menschlicher Proportion selbst tut: Ich bitt sie auch ganz untertäniglich, welcher unter euch sei, der etwas Nötigs oder Guts von dergleichen oder ander Künst, das dorzu gebräuchlich, versammelt hätt, wöll solchs an Tag geben, Gott und dem gemeinen Nutz mit dienen und nit heimlich niederdrücken, sunder mildiglich austeilen.240 Dürer richtet seine Schriften an junge Handwerker wie Kunstmaler, Goldschmiede, Bildhauer, Steinmetze und Schreiner, »so sonst niemandt haben der sie trewlich vnderweyst« 241 . Diese Unterweisung besteht in theoretischem Grundwissen, das er sich aus eigener Erfahrung 2 4 2 und aus lateinischen Fachbüchern, mit denen er durch seinen Freund Willibald Pirckheimer in Berührung kam, aneignete. Dürers Fachwissen beruht somit auf einer Verzahnung von gelehrtem Wissen und eigener Praxis 243 , und er selber versteht sich auch wieder als Vermittler von theoretischen Kenntnissen an die

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Fries, Spigel der Artzny, 1529, A2V. Widerstände von gelehrten Ärzten gegenüber der Verbreitung von medizinischem Fachwissen in der Muttersprache durchziehen das ganze 16. und 17. Jahrhundert. Vgl. dazu Teile, Wissenschaft und Öffentlichkeit im Spiegel der deutschen Arzneibuchliteratur; Derselbe, Arzneikunst und der >gemeine Manngemeinen Nutzen< dienen, wie zum Beispiel zur Errichtung einer Sonnenuhr: ES ist auch den Steinmetzen / maleren / vnd schreyneren nutz das sie an den thûrn heuser vnd gemeur ein gemeine sonnen or können aufrichten / des haben will jch nachfolget ein wenig darfan anzeygen / so vil fur den gemeinen man not ist / vnd die klein or von 12. stunden leren machen. 246 >Gemeiner Nutzen< für den >gemeinen Mann< ist die Legitimationsgrundlage für Dürers Schritt, gelehrtes Wissen einer außerakademischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Deshalb richtet sich seine Kritik an diejenigen, welche ihr Fachwissen geheim halten, wobei er im Unterschied zu Fries deren Beweggründe nicht nennt. Auch Dürer war sich jedoch bewußt, daß er mit der Veröffentlichung gelehrten Fachwissens in deutscher Sprache im Prinzip gegen die >Gesetze< der Gelehrtenzunft, hier im speziellen der »hohen Künstner und Meister« 247 , verstieß, die Wissen für ein Standesprivileg hielt und dementsprechend nicht die Nützlichkeit der Lehren und das Gemeinwohl 248 in den Vordergrund stellte. Sowohl Fries als auch Dürer hingegen veröffentlichten gelehrtes Wissen in Verbindung mit eigenen Erfahrungen in der Muttersprache und begegneten damit dem Bedürfnis einer nach

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Dürer, Underweysung der Messung, N5r. Dürer, Schriften und Briefe, hg. von Ullmann/Pradel, S.219 (aus dem Konzept zur Einleitung der Proportionslehre in der Fassung von 1523). Dürer, Underweysung der Messung, J4V. Dürer, Schriften und Briefe, hg. von Ullmann/Pradel, S.220. - Dürer meint damit sehr wahrscheinlich vor allem seine italienischen Künstlerkollegen. Vgl. dazu auch Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 199.

183 mehr Selbständigkeit strebenden Laienschicht. So geht Dürer denn auch von Rezipienten seiner Bücher aus, die seine Anweisungen und Entwürfe selbständig variieren und weiterentwickeln, wenn er in der Underweysung der Messung schreibt, daß er, wenn er sich der »deütschen gemüt« vergegenwärtige, davon ausgehen könne, daß gewonlich alle die etwas newes bauwen wollen / wolten auch geren ein newe fatzon dar zû haben / die for nye gesehen wer. Deshalb werde er eine Säule entwerfen und darauß nem ein ytlicher was jm gefall / vnd mach nach seinem willen.249 Auch an Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541) habe etlichen mißfallen, »das er nicht Lateinisch / sonder mehrertheils nur Teutsch geschriben«250 habe, schreibt Johannes Huser 1589 in der Widmungsvorrede seiner Paracelsus-Ausgabe. Zu seiner Verteidigung fügt er an, daß die deutsche Sprache ebenso eine Hauptsprache sei wie Lateinisch, Griechisch oder Arabisch251, und argumentiert weiter, wie früher bereits Lorenz Fries, daß auch die besten griechischen und lateinischen Autoren in ihrer Muttersprache, ja sogar in ihren »Dialectos«252, geschrieben hätten: Also hat es auch THEOPHRASTO PARACELSO als eim Teutschen / ex Eremo Heluetiorum oriundo, die PHILOSOPHIAM vnd MEDICINAM Teutsch zu beschriben / gefallen.253 Paracelsus' »rauhen / vnd vnrhetorischen Stylum« indessen verteidigt Huser mit seinem »rauhe[n] Vatterlandt«, den »barbaries seculi, darinnen Er gelebt / da man wolredens nicht so groß geachtet / als jetziger zeit«254, und damit, daß er »mehr auf die Res ipsas [...] dann auff die Wort gedancken geben«.255 Soweit die verteidigenden Argumente für die von Paracelsus ver-

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Dürer, Underweysung der Messung, G3V. Paracelsus, Bücher und Schrifften I, [A41]. Vgl. Paracelsus, Bücher und Schrifften I, [A4V]. Paracelsus, Bücher und Schrifften I, [A4V]. Paracelsus, Bücher und Schrifften I, [A4 v j. In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde das frühbürgerliche Deutsch als eine sich für praktische öffentliche Alltagskommunikation geeignete Sprache allmählich durch ein bildungsbürgerliches, sich an der lateinischen Stilistik und Rhetorik orientierendes Deutsch verdrängt (vgl. dazu Polenz, Sozialgeschichtliche Aspekte). Das kann als Reaktion auf ein verstärktes Vordringen des Humanistenlateins gesehen werden, wie es sich gerade auch auf dem Gebiet der Naturkunde und der Medizin beobachten läßt. Darin konnte die deutsche Sprache mit dem Latein für ca. 60 Jahre durchaus konkurrenzieren und wurde erst ab ca. 1580 vom Latein weit überflügelt (vgl. Pörksen, Der Übergang vom Gelehrtenlatein zur deutschen Wissenschaftssprache, v.a. S. 54-56; vgl. auch oben in diesem Kapitel Fußnote 219). Paracelsus, Bücher und Schrifften I, [A4V].

184 wendete deutsche Sprache und seinen unrhetorischen Schreibstil, wie sie fast 50 Jahre nach seinem Tod vorgebracht wurden. Was hat Paracelsus veranlaßt, vorwiegend in seiner Muttersprache zu schreiben? Explizit hat er die Wahl der deutschen Sprache nie begründet, doch lassen sich seine Beweggründe indirekt aus seinen Schriften entnehmen. Textgrundlage bilden dabei vor allem seine universale Wissenschaftstheorie der Astronomia Magna: Oder / die gantze Philosophia Sagax der grossen vnd Kleinen Welt und die Schrift Septem Defensiones. Die Verantwortung vber etliche Vnglimpfungen seiner Mißgonner.256 Im Unterschied zu den behandelten, von Lorenz Fries und Albrecht Dürer stammenden Texten sind diese paracelsischen Schriften keine Fachprosa im eigentlichen Sinne, verstanden als konkretes Wissen vermittelnde, auf praktische Anweisung gerichtete Schriften; es handelt sich dabei vielmehr um sein unvollendet gebliebenes Spätwerk, das besonders eindrücklich zeigt, wie sehr medizinisches, naturphilosophisches und religiöses Denken bei Paracelsus eine Einheit bilden. Gleichzeitig stellt es eine Verteidigungsrede dar, in der er sein Verständnis von medizinischer Tätigkeit und Forschung reflektiert und gegenüber seinen Feinden verteidigt. Daß Paracelsus im Kontext der muttersprachlichen Fachprosa besprochen wird, rechtfertigt sich jedoch: Paracelsus war immer auch der praktizierende Arzt, dem es entgegen widrigen Umständen, wenn auch eher selten, gelang, Schriften in den Druck zu bringen, darunter einige Syphilisschriften und als einziges größeres Werk die Große Wundarznei, in der sich sein Bemühen um eine bessere Wundbehandlung zeigt.257

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Als Ausgabe wird die in reprografischem Nachdruck vorliegende erste Gesamtausgabe der medizinisch-naturphilosophischen Schriften, hg. von Johannes Huser (Basel 1589— 1591), benutzt. Die Astronomia magna befindet sich in Bücher und Schrifften V, die Septem Defensiones in Bücher und Schrifften I. - Eine formale Parallele zwischen den paracelsischen Schriften, insbesondere den Septem defensiones, und der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur ergibt sich insofern, als Paracelsus sich auch einer auf Lehre, Ermahnung und Agitation - diese beinhaltet auch Kritik und Polemik - ausgerichteten Gebrauchsrhetorik bedient, wie sie für die Laienpredigt im Stil des sermo humilis ausgebildet wurde. Auf die Zugehörigkeit der paracelsischen Schreibweise zu dieser Tradition des sermo humilis hat Pörksen hingewiesen (Der Übergang vom Gelehrtenlatein zur deutschen Wissenschaftssprache, S. 80-83; Paracelsus als wissenschaftlicher Schriftsteller, v.a. S.37).

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Einen kurzen Überblick über die Druckgeschichte gibt Kuhn, D e nomine et vocabulo, S. 19f. - Im Unterschied zu Lorenz Fries richtet Paracelsus die Große Wundarznei jedoch nicht direkt an die Laien, sondern primär an die praktisch ausgebildeten Wundärzte, an »Bader« und »Scherer«, aber auch an gebildete Ärzte, an Fachpersonen also, denen es an grundlegendem Wissen mangelt. Vgl. dazu die »Vorred« zur Großen Wundarznei, in: Paracelsus, Bücher und Schrifften VI, Bl. [6]. Zur Adressatenfrage bei Paracelsus vgl. auch - zu grundsätzlich anderen Resultaten kommend - Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S. 106, und Kuhn, D e nomine et vocabulo, S. 68-76.

185 Daß Paracelsus seine Schriften in seiner Muttersprache verfaßte, steht in direktem Zusammenhang mit seiner von religiösen Ideen durchwirkten Sicht der Natur und seiner Vorstellung von einer Aufgabe Gottes an den Menschen, die natürlichen Dinge zu erkennen und für sich nutzbar zu machen. Die Schöpfung versteht Paracelsus als einen Akt des allumfassenden göttlichen Wortes, der sich in jedem Augenblick neu vollzieht: Die Schöpfung ist somit göttliches Wort. Der mit dem »natürlichen Licht«, d.h. mit Vernunft, begabte Mensch erkennt zwar die Gegenstände der Natur, die »Jrdisch ding«; diese unterstehen jedoch jederzeit der Macht Gottes: Nuhn ist im Jrdischen gar nichts / aber im Wort ist es. Dann der die Sonne hatt heissen stille stehen / der sie geschaffen hatt zu gehn / das hatt die Sonne auß demselbigen Wort: vnd so lange das Wort lebet vnd will / so lange ist die Sonne in jrem gewalt. Also auch / wir alle leben auß dem Wort [...].258 Deshalb führt auch erst die Verbindung zwischen natürlicher Weisheit und himmlischer Weisheit 259 , die auf göttlicher Intuition beruht und die nur durch Spiritualität zu erlangen ist, zur Erkenntnis der Dinge. Empirische Naturbeobachtung und Spiritualität bedingen sich gegenseitig: Darumb hatt er [Gott, A.d.V.] vns heissen suchen / anklopffen / bitten / von der Vrsach wegen / daß wir nicht alle ding auß der natur vermögen / sondern seiner Hûlffe täglich bedòrffen: Darumb wir jhn täglich bitten / vnd suchen sollen / damit das jhenig / das vns die Natur nicht geben mag / von jhm geben werde. Dabey sollen wir wissen / daß wir in keinen Sachen mögen ohne solche erbettenen Hülff vollkommen sein.260 Wie kann die Natur dem Menschen mitteilen, was in ihr verborgen ist? Für Paracelsus sind alle körperlichen Dinge im weitesten Sinne zeichenhaft und verweisen dadurch auf ihre Eigenschaften. Es gibt nichts Äußeres, was nicht auf ein Inneres verweist. Diese paracelsische Lehre von den Signaturen umfaßt zwei Aspekte: Sie hilft nicht nur, vom äußeren Erscheinungsbild einer Sache auf ihre innere Beschaffenheit zu schließen 261 , sie hilft darüber hinaus auch, die Dinge angemessen zu benennen:

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Paracelsus, Bücher und Schrifften V, S. 355. Vgl. auch ebenda, S. 357: »Dabey sollen wir wissen / daß wir in keinen Sachen mögen ohne solche erbettenen Hülff vollkommen sein. Dann das Wort muß mitlauffen / Vrsach / es were kein Element nichts / so das wort es nicht gemacht hett: Jtem es were auch von allen Creaturen nichts / so das Wort nicht were. Also noch auff die Stundt ist es alles nichts / allein es sey dann das Wort auch da: Dann es ist das Leben vnd die Krafft / wo das die Artzney ist / da ist Himmlische Mediana Adepta.« Vgl. Paracelsus, Bücher und Schrifften V, S.282: »Also bleiben zwo Weißheit im Menschen / nemlich die Natürlich vnd die Himmlisch.« Paracelsus, Bücher und Schrifften V, S.357. Vgl. Paracelsus, Bücher und Schrifften V, S.471: »Alle ding eröffnen sich in seinen Proprieteten / Qualiteten / Form / Gestalt / etc. was in jhm ist / Kreutter / Sahmen / Stein /

186 Vnd die Kunst signata lernet die rechten Nammen geben einem jeglichen / wie jhm angeboren ist. Nit daß ein Wolff ein Schaff heisse / nicht daß ein Taub ein Fuchs heisse / sondern wie ein jeglicher selbst in der Natur ist / ein nammen emphahe. 262 Die Namengebung erscheint hier als eine »Kunst«, die es ermöglicht, mit Hilfe des Lesens der Signaturen, den Dingen ihren angeborenen, natürlich mit ihnen verbundenen Namen zu geben. 263 Das Lesen der Signaturen ermöglicht es Paracelsus aber auch, Krankheiten, die von ihm in ihrem Ursprung neu erkannt und verstanden wurden, neue Namen zu geben, was ihm heftige Kritik seiner Widersacher eintrug. 264 Wichtiger als die Namengebung ist jedoch die auf die Praxis ausgerichtete Erkenntnisleistung der Signaturenlehre. 265 Der Name interessiert nur in zweiter Linie: Mich bekümmert das allein / den Vrsprung einer kranckheit vnnd seine heilung zuerfahren / vnnd den Nammen in dasselbig zu concordieren. 266 Das Lesen der Signaturen ist die eine Voraussetzung, um etwas über die Wirksamkeit und Verwendungsmöglichkeit der Dinge der Natur zu erfahren. Zweite Voraussetzung ist die göttliche Inspiration, sind die vom »Himmlischen / Ewigen lauff« kommenden »Influential]«, welche dazu führen daß vnser Zungen mit Einer Sprach reden / vnd sie wirdt von allen Menschen vnd Sprachen verstanden / zugleicher weiß als were es ein Gottlich Sprach an jhr selbs. Vnnd nicht allein daß die Sprach so treffenlich in vns ist / sondern auch vber das / daß doch der Sprach halb nicht hoher mag sein.267

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Wurtzen / etc. Das ist / sie werden all durch jhr Signatum erkennt / vnnd durch das Signalum haben alle gelerte Leuth gefunden / was in den Kreuttern gesein ist / Steinen / Sahmen. D o aber das Signatum auß dem Sinn kommen ist / vnnd das Schwetzwerck an die statt / do ward es vmbsonst / do verdarb die Philosophey vnd Medicin.« - Stellvertretend für viele Ausführungen zur Signaturenlehre bei Paracelsus und auch zu ihrer Vorgeschichte und ihrer Weiterentwicklung sei auf die Studie von Klein, Am Anfang war das Wort, v.a. S. 121-144, verwiesen. Paracelsus, Bücher und Schrifften V, S.77f. Daß es Paracelsus jedoch nicht darum geht, in deutschen Wörtern den ursprachlichen Sinn und Überreste der Ursprache Adams nachzuweisen, wie sie diejenigen Forscher zu erkennen glauben, welche Paracelsus mit der Kabbala in Verbindung bringen oder von Jakob Böhme her deuten, kann Michael Kuhn sehr präzise nachweisen (Kuhn, De nomine et vocabulo, v.a. S. 141-155). Der Weg zu neuer Erkenntnis führt für Paracelsus nicht über die Analyse der Wörter, sondern allein über das Lesen der Signaturen, d.h. nicht von den Namen zu den Sachen, sondern von den Sachen zu den Namen. - Eine Grundlage für Jakob Böhmes Natursprachenlehre ist jedoch die Signaturenlehre, wie sie Paracelsus ausgebildet hat. Vgl. dazu »Die ander Defensión«, in Paracelsus, Bücher und Schrifften I, S. 164-168. Vgl. oben in diesem Kapitel Fußnote 261. Paracelsus, Bücher und Schrifften I, S. 167. Paracelsus, Bücher und Schrifften V, S.283.

187 Es ist dies die Sprache der Schöpfung, der Natur, gleichsam das göttliche Wort, das keiner Sprache zuzuordnen ist und deshalb auch von denjenigen, welche es als inneres Wort vernehmen, in jede natürliche Sprache - wenn auch nur annäherungsweise - >übertragen< werden kann.268 Für Paracelsus garantiert nicht die Sprache an sich Wahrheit, sondern erst der Erkenntnisprozeß, der sich aus der »erfahrenheit«269 der natürlichen und göttlichen Dinge zusammensetzt. So kann jede natürliche Sprache zum Träger der Wahrheit werden. Daß Paracelsus seine Texte in seiner deutschen Muttersprache verfaßte, ist demnach die logische Folge seiner auf Empirie und Spiritualität gegründeten Erfahrungswissenschaft. Die auf Anschauung und Erfahrung beruhende Orientierung an der Sache selbst ist es denn auch immer wieder, welche Paracelsus der >bloßen< Rhetorik seiner Gegner entgegenstellt. Seine Absicht sei, »mitt dem maul nichts gewinnen / allein mit den wercken«270, im Gegensatz zu den »Pseudomedicis«, deren »beste kunst [...] ihr Rethorick«271 sei. Ja das lateinische »Schwetzwerck« der akademischen Gelehrten habe sogar die Kunst des Signaturenlesens verdrängt und somit die Grundlage der Philosophie und Medizin zerstört.272 Paracelsus sieht sich demnach als Wiederentdecker einer ursprünglichen Erkenntnismethode, die allein zur Wahrheit führt und die an Autoritäten orientierte Wissenschaft ersetzen soll.273 Dieser Wahrheit teil-

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Bei diesem Übertragungsvorgang geht zwar die wesenhafte Verbindung von Name und Sache, wie sie der göttlichen Sprache und der Sprache Adams eigen ist, verloren (vgl. dazu Kuhn, De nomine et vocabulo, S. 155). Die auf Naturbeobachtung und göttlicher Inspiration beruhenden und in der Muttersprache ausgedrückten Erkenntnisse stellen jedoch für Paracelsus die bestmögliche Annäherung an diesen Idealzustand dar. Bei Paracelsus besitzt das Wort >erfahren< durchaus eine räumliche Komponente. So weist er in der 4. Defensión »Von wegen meines Landtfarens« darauf hin, daß die ganze Vielfalt der Natur nur durch ausgedehnte Reisen erforscht werden könne: »Dann das wil ich bezeugen mit der Natur: Der sie durchforschen wil / der muß mit den Füßen jhre Bücher tretten. Die geschrifft wird erforschet durch jhre Buchstaben / die Natur aber durch landt zu landt / als offt ein Landt als offt ein Blat. Also ist Codex Naturae, also muß mann jhre Bletter vmbkeren« (Paracelsus, Bücher und Schrifften I, S. 177). Erst die so erworbene Erfahrung befähigt zur medizinischen Tätigkeit: »Die Artzney ist ein kunst die mit grosser gewissen / vnnd grosser erfahrenheit gebraucht soll werden / auch mit grosser forcht Gottes [...]« (Paracelsus, Bücher und Schrifften I, S. 182). - Zur Erkenntnis durch Erfahrung vgl. auch oben das Kapitel 9.2. Paracelsus, Bücher und Schrifften I, S. 183. Paracelsus, Bücher und Schrifften I, S. 159. Siehe oben in diesem Kapitel Fußnote 261. Paracelsus kritisiert die sich nur an überliefertem Bücherwissen orientierenden Ärzte: »sein auch etlich mehr vrsachen / So newe kranckheiten zusuchen zwingen: Als nemlich / der Himmel ist alle tag in newer wirckung / verendert sich tlglich in seinem wesen: Dann vrsach / Er gehet auch in sein alter. [...] So sich nun ein jedoch ding in das alter endert / so endern sich auch dieselbigen werck: [...] Darumb mag sich der Artzt deß nicht hehelffen / der da spricht / ich behilff mich der Bücher die vor zwey tausent jaren geschriben sind« (Paracelsus, Bücher und Schrifften I, S. 168).

188 haftig und/oder mit einer bestimmten Fähigkeit ausgestattet können aber auch noch für Paracelsus nur die von Gott dazu Berufenen sein.274 Sowohl der im Buch der Bibel als auch der im Buch der Natur Lesende bedürfen, um verstehen und erkennen zu können, eines göttlichen Gnadenaktes. Und die Sprache dieses mit dem Licht der Natur und des Geistes begabten Menschen ist seine Muttersprache. Sie ist das Instrument, in dem das »gott- bzw. sachunmittelbare Einzelsubjekt«275 das Erkannte zum Ausdruck bringen kann. Nur die im Gegensatz zur lateinischen, artifiziellen Bildungssprache als natürlich empfundene Muttersprache hat auch das Potential, neu erkanntes Wissen angemessen zu benennen. Dieses auf Erfahrung beruhende Denken und Sprechen ist individuell und innovativ276 und steht somit im Gegensatz zur humanistischen Sprachauffassung, die Sprache »als a priori intersubjektive und geschichtlich konstante Form des Menschseins« 277 versteht. Der Buchgelehrsamkeit stellt Paracelsus das Erfahrungswissen gegenüber, dem autoritativ abgesicherten Traditionswissen ein mit Hilfe Gottes und natürlicher Vernunft autogen erworbenes Wissen.278 Es gibt jedoch ein Buch, das für Paracelsus »als letzte Autorität höchste Bedeutung« 279 besitzt: die Bibel. Fragt man nach seiner Theologie und seinen Beziehungen zu den verschiedenen reformatorischen Strömungen der Zeit 280 , zeigt sich immer mehr das »Reformatorische, ja sogar eine Nähe zum

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»Nuhn bedenckt die Wesen der Menschen / daß der Mensch gemacht ist / hie auff Erden zu sein ein kurtze Zeit / vnnd was er in der zeit erlangt / das folget jhm Ewig nach. So er nuhn will ein gutt Erlangen thun / so muß er [...] sich in die Himmlische Wirckung richten / auff das er ein Magus Coelestis sey / ein Apostolus Coelestis, ein Missus Coelestis, ein Medicus Coelestis, etc. vnnd endtlich die Gaben Gottes / darinnen er beruffen ist / gewißlich erkennen / damit das er dieselbig im Willen Gottes vollbring.« (Paracelsus, Bücher und Schrifften V, S. 279) - Zu der Vorstellung einer göttlichen Rollenverteilung unter den Menschen vgl. auch in Kapitel 9.2. v.a. Fußnote 37. Apel, Die Idee der Sprache, S.274. Zur stark ausgeprägten Tendenz zu Wortbildungen in der deutschen Mystik und dann v.a. auch im frühneuhochdeutschen Fachschrifttum vgl. Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, v.a. S.203-219. Apel, Die Idee der Sprache, S.273f. Zur humanistischen Sprachauffassung vgl. auch ebenda, S.272f.: Der »Humanismus« verkörpert »ein relativ mittelbares Verhältnis zur Sprache. Bildungswissen ist [...] wesenhaft tradierbar und schulmäßig erlernbar; es >ent-spricht< nicht [...] einer gottunmittelbaren religiösen [...] Seinsoffenbarung, sondern ist als mehr oder weniger kanonisches >BildungsgutTopik< des Redners [...] eben der >Bildungssprache< zu entnehmen, deren >Form< auch die öffentliche Lebensform des gebildeten Menschen bestimmt.« Bei Paracelsus ein erwachendes Nationalgefühl als einen Grund für den Gebrauch der deutschen Sprache anzunehmen, wie es Dietlinde Goltz (Die Paracelsisten und die Sprache, S. 342) tut, ist abzulehnen. Paracelsus ging es in keiner Weise um eine wie auch immer geartete Stärkung der Nation; sein Interesse galt allein der Erkenntnis der Sache. Goldammer, Aufgaben der Paracelsusforschung, S. 11. Nach dem näheren Bekanntwerden auch seiner theologischen Schriften sind diese Fra-

189 sog. >LinksprotestantismusAlt< und >neu< in der Epochenerfahrung um 1500, wo unter anderem gezeigt wird, wie zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht nur in den humanistischen Kernfächern die Neuheit als Rückkehr zum Ursprünglichen und damit zum guten Alten definiert wird, sondern auch in den entstehenden, mehrheitlich die Muttersprache verwendenden empirischen Naturwissenschaften. »Da ich erkandte das mich Gott über dises sein ampt setzen wolt / das lesewerck zügebrauchen in seinem hof vnd regiment auff diser erden / hab ich nach dem vrsprung des lesens gedacht / das hatt mir Gott so klar zaiget / das ich nit achten kan / das dise kunst hoher gefurt werden / oder jrem vrsprung näher kommen künd / zu welchem alle ding (wie man sagt) wider kummen sollen vnd müssen / vnd dann das ende / das woll Gott ge-

191 laufenden Pervertierung des ursprünglichen Idealzustandes aller Dinge ausgeht, war im reformatorischen Diskurs und vor allem bei deren linkem Flügel weit verbreitet. 2 9 3 Eschatologische Endzeiterwartung und engagiertes Eintreten für eine gerechtere und humanere Welt schließen sich bei Ickelsamer jedoch nicht aus, ja bedingen sich geradezu. Sein Fortschrittsdenken grenzt sich einerseits von der als schlecht empfundenen Vergangenheit ab, andererseits orientiert es sich an - utopischen - Idealen, die im Reich Gottes ihre Erfüllung finden. Auch wenn das Weltende bald erwartet wird, ist für Ikkelsamer die Jetztzeit eine Handlungszeit. 2 9 4 E r will dem Lernwilligen eine Methode aufzeigen, die es ihm ermöglichen soll, auch »one Schulmaister vnd Bûcher« 2 9 5 lesen zu lernen. Hier zeigt sich eine Vorstellung von individuellem Handeln, die in die Zukunft weist. Wie sieht nun aber diese Leselernmethode aus, und welches Sprachverständnis ist damit verbunden? »Lesen heyßt die buchstaben nennen« 2 9 6 ; so definiert Ickelsamer selber seine Methodik. Sie geht im Unterschied zur lateinischen Schultradition 2 9 7 nicht von den Zeichen der Schriftsprache aus, nicht vom geschriebenen, sondern vom gesprochenen Wort. Denn »die buchstaben nennen« heißt für Ickelsamer nicht, ihre Namen wie im A b c als Silben auszusprechen 2 9 8 , sondern beim langsamen Sprechen von ganzen W ö r t e r n auf die Differenz der einzelnen L a u t e zu achten 2 9 9 . Ickelsamer gilt damit als der Begründer der sogenannten Lautiermethode. 3 0 0 In einem

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ben bald vnd mit gnaden Amen« (Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 123). Vgl. dazu Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S. 141. Zum Zusammentreffen von neuzeitlichem Aufbruchsdenken und apokalyptischen Ängsten an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit vgl. u.a. Kleinschmidt, Neuzeit und Endzeit. Kleinschmidt zeigt auf, wie sich sowohl bei apokalyptischen Ängsten als auch in der Utopie das Bedürfnis nach Veränderung äußert (S.294). Auch im reformatorischen Diskurs sieht er eine Tendenz, »einem Endzeitbewußtsein Zukunftsglauben und -gewißheit entgegenzustellen« (S.296). Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 123. Ickelsamer ist sich dabei durchaus bewußt, daß jemand, der noch nicht lesen kann, sich aus einer schriftlichen Lehranweisung nicht das Lesen beibringen kann. Diese Formulierung - vgl. auch diejenige im Titel der Teütschen Grammatica (vgl. oben in diesem Kapitel Fußnote 285) - soll vielmehr die unmittelbare Erkenntnismöglichkeit des Laien auch bei der »Kunst« des Lesens zum Ausdruck bringen. Ickelsamer, Die rechte weis, hg. von Pohl, A2V. Vgl. dazu Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S. 134-137. Vgl. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 125. Der Schüler »höre vnd merck auff die verenderte tayl aines worts / darein setz er das wort ab / vnd wieuil nun das wort verenderten tayl / stymm oder laut hat / so vil hatt es buchstaben / als in disem wort / Hans / da sein vier verenderung / das sein vier buchstaben« (Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 132). Vgl. z.B. Giesecke, Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, S. 134.

192 zweiten Schritt verweist er dann auf verschiedene Möglichkeiten, wie dem Schüler der Zusammenhang zwischen diesen Lautwerten und den ihnen entsprechenden Buchstaben, d.h. den graphischen Zeichen, gezeigt werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich für Ickelsamer die Frage nach dem ursprünglichen Verhältnis zwischen »stymm oder laut«301 und »form vnnd gestalt«302 der Buchstaben, wobei er zwei Hypothesen nennt: Einerseits werde von vielen angenommen, daß die Buchstaben gar künstlich / vnd villeicht auß des Circkels Schliessung / oder ander kunst-

mâssiger form gemacht seine worden303, andererseits äußert er die Vermutung und gibt dieser These - vor derjenigen der konventionellen Zuordnung von Lauten und Zeichen - den Vorrang, daß die graphischen Zeichen bei ihrer Entstehung wesenhaft mit den Lauten verknüpft waren. Da die jetzigen Buchstaben aber nicht mehr ihre ursprüngliche Gestalt haben, lasse sich dieser Zusammenhang nicht mehr oder nur noch in Ansätzen erkennen. In einem ursprünglichen Idealzustand könnte aber ein Zusammenhang sowohl zwischen der Stimme oder dem Ton eines Tieres oder sonst eines Gegenstandes und dem Lautwert eines Buchstabens als auch zwischen der Gestalt des Tieres oder Gegenstandes und der Form des graphischen Zeichens bestanden haben. 304 Ickelsamer ist sich jedoch bewußt, daß diese mögliche Identität zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem längst zerstört und dieser Idealzustand nicht zu rekonstruieren ist.305 Dennoch knüpft er hier an, wenn er fordert, man solle dem Schüler eine Tafel mit Bildern von Tieren oder anderen Dingen zeigen, damit er sich deren Stimme oder Ton vorstellen könne und somit den Zusammenhang zwischen dem je charakteristischen Laut und dem graphischen Zeichen herstellen könne. Diese Tafel gibt es für Ickelsamer noch nicht, und er fordert diejenigen auf, welche »die bûchstaben also recht züuerbilden« 306 wüßten, dies zu tun.

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Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 135. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 134. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 135. Vgl. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 135. - Als Beispiel, das diesen Zusammenhang noch am ehesten anzeigen könne, nennt Ickelsamer den Buchstaben /s/, der nicht nur »der schlangen gestalt« sondern auch deren »thon oder stimm« habe (ebenda, S. 135). Der Interpretation Hankamers (Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung, S.65), Ikkelsamer sehe »Ding und Wort in einem geheimen Zusammenhang« und lasse damit einen neuen Sprachbegriff ahnen, der in der Natursprache Jakob Böhmes ihren vollendeten Ausdruck erhalte, ist daher nicht zuzustimmen. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 136. Als zweite Möglichkeit der Veranschaulichung nennt Ickelsamer das Abbilden von Gegenständen, bei denen der Anfangsbuchstabe ihrer Namen auf den gesuchten Buchstaben hindeuten, wobei aber verhindert werden müsse, ein Ding zu wählen, das mehrere Namen habe (ebenda, S. 136f.).

193 Paracelsus glaubt, mit Hilfe Gottes die Zeichen der Natur unmittelbar lesen zu können. Ickelsamer hingegen ist sich bewußt, daß sich die Sprache von der Natur und damit von einem ursprünglichen Zustand weit entfernt hat.307 Auch ihm geht es jedoch um eine Art von unmittelbarer Erkenntnis, um eine Lesedidaktik, die im Rückgriff auf den ursprünglichen Zusammenhang von gesprochener und geschriebener Sprache einem jeden ermöglichen soll, so selbständig wie möglich sich diese elementare Bildung anzueignen. Selbständiges Handeln und Alphabetisierung bilden für Ickelsamer die Voraussetzungen eines Frömmigkeitskonzepts, das einen individuellen Wandlungsprozeß fordert. Obwohl Freund spiritualistischer Ideen, lehnt er das geschriebene Wort denn auch keineswegs ab: Nit sag ich das man nitt fleyssig studieren vnnd der Bûcher gebrauchen soll / sondern das man nit so stoltz / vnglaubig / vnnd vndanckbar sey.308 Er polemisiert nicht gegen die Bücher im allgemeinen, sondern gegen die »vilen und grossen Bücher deren, die zu unser zeyt allain mayster und lerer des volcks wollen sein«, wie er im Vorwort zu einem Buch Schwenckfelds schreibt.309 Dieser Anspruch einer Vormachtstellung der Gelehrten führt für Ickelsamer auch dazu, daß diese dem gemeinen Nutzen förderliche Dinge verschweigen: Wie man aber die buchstaben recht nennen sol / ist nicht bey vilen ym brauch / vnnd Wissens auch vil nicht / die es aber wissen / die sind so gerne allein gelert damit geacht vnnd gesehen / das sie es niemands getrewlich leren / vnd behaltens nur yn yhren Schulen vnd kôpffen.310

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Michel Foucault (Die Ordnung der Dinge, S. 66-68) schreibt zum Verhältnis von Natur und Sprache im 16. Jahrhundert: »Die Sprache gehört zur großen Distribution der Ähnlichkeiten und Signaturen. Infolgedessen muß sie selbst als eine Sache der Natur untersucht werden [...]. Die grammatischen Studien beruhen im sechzehnten Jahrhundert auf der gleichen erkenntnistheoretischen Disposition wie die Naturwissenschaft oder die esoterischen Disziplinen. Als einzige Unterschiede sind festzuhalten, daß es eine Natur und mehrere Sprachen gibt.« Babel hatte neben der Vielsprachigkeit auch zur Folge, daß »die Sprache nicht mehr den Dingen ähnelt, die sie bezeichnet [...]. Gewiß ist sie nicht mehr die Natur in ihrer ursprünglichen Sichtbarkeit, aber sie ist andererseits auch kein mysteriöses Instrument, dessen Kräfte nur einige Privilegierte kennten. Sie ist vielmehr die Gestalt einer Welt, die im Begriff ist, sich loszukaufen, und sich endlich wieder auf das Hören des wahren Wortes konzentriert.« - Auch wenn manches in den Ausführungen Foucaults eher vage bleibt - so bleibt z.B. völlig offen, was er unter dem »wahren Wort« versteht - , kann seiner These der prinzipiell ähnlichen Betrachtungsweise der Natur und der Sprache auf der Suche nach ursprünglichen Zusammenhängen und Erkenntnismöglichkeiten durchaus zugestimmt werden.

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Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 124. Zitiert nach Gilly, Das Sprichwort »Die Gelehrten die Verkehrten«, S.320. Ickelsamer, Die rechte weis, hg. von Pohl, A2V. - Diese Aufforderung, Wissen mitzutei-

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194 Daß der gelehrte Ickelsamer keineswegs die Gelehrsamkeit an sich in Frage stellt, sondern sich vielmehr gegen ein eigennütziges Bildungsprivileg weniger ausspricht und gegen eine scholastische, spekulative Erkenntnismethode, welche dazu führte, daß ursprüngliche und damit einfache Wissensinhalte verlorengingen, zeigt sich auch darin, daß für ihn ein vertieftes Verständnis der deutschen Sprache nicht ohne Kenntnis der alten und neuen Sprachen möglich ist. Denn keine Sprache sei »lauter«, besonders die deutsche, »sonder sein all vnter ainander vermischet«311. Auch etymologisches Wissen gehört für Ickelsamer zur elementaren muttersprachlichen Grundausbildung, die so viele wie möglich erlangen sollten. Was Ickelsamer anprangert, ist ein Wissen, das zu Macht über andere verhilft, ist die Verfilzung von Gelehrsamkeit und Macht. 9.3.5 Zusammenfassung Grundsätzlich lassen sich die hier exemplarisch zu Wort gekommenen Autoren, die sich, wie gezeigt worden ist, in irgendeiner Form mit dem Thema >Latein und Deutsch< beschäftigen, drei Gruppen zuordnen: den Humanisten, den Vertretern der hergebrachten Kirchen- und Herrschaftsstrukturen und den diese in Frage stellenden Reformern. Während sich die Humanisten primär als geistige Elite verstehen, reklamiert die zweite Gruppe Bildungswissen für bestimmte Schichten, das damit zu Herrschaftswissen wird, und die Reformer haben zum Ziel, Bildungswissen und durch eigene Erfahrung erworbenes Wissen in Form von Arbeits- und Erlösungswissen so vielen wie möglich zugänglich zu machen. Dem Bildungswissen der Humanisten wie auch dem Herrschafts- und Machtwissen der Apologeten hergebrachter Gesellschaftsstrukturen entspricht mehrheitlich die lateinische Sprache, wobei letztere jedoch je nach Situation und Adressatenkreis sehr wohl auch die deutsche Sprache einzusetzen wissen. An Thomas Murner ließ sich dieser sehr pragmatische Umgang mit den Sprachen Deutsch und Latein zeigen. Zur Sprache des Arbeitsund Erlösungswissens, welches die Reformer immer mehr für sich in Anspruch nehmen, wird hingegen die Muttersprache. Die lateinische Sprache und das mit dieser Sprache aufs engste verknüpfte Bildungswissen ist erlernbar und tradierbar und somit gemeinschaftsstiftend für eine Bildungselite. Die Humanisten haben ein mittelbares Verhältnis zur Sprache; ihr Sprachbegriff ist rhetorisch. Im Humanistenlatein können zwar durchaus gesellschaftskritische und reformerische Inhalte formu-

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len und den Gemeinnutz vor den Eigennutz zu stellen, findet sich schon bei Dürer, wie weiter oben in diesem Kapitel bereits dargestellt wurde; vgl. S. 181. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichts, S. 149.

195 liert werden, wie es z.B. Erasmus getan hat, sie bleiben aber zwangsläufig nur dieser Bildungselite zugänglich. (Daß einzelne Schriften Erasmus' dennoch einem größeren Kreis bekannt wurden, ist der Übersetzungstätigkeit reformfreudiger Männer zu verdanken.) Die »gemeineuropäische Standesideologie der lateinischen Schulgelehrsamkeit«312 behauptet sich sogar dann noch, wenn dem kulturellen Monopolanspruch der italienischen Humanisten deutscher Nationalstolz entgegengestellt wird, wie dies Conrad Celtis getan hat. Ebenfalls konstitutiv für die jeweilige Standeszugehörigkeit sind die Sprachen Latein und Deutsch den Reformgegnern. Da sie soziale Mobilität als Gefahr wahrnehmen, kommt aus ihren Reihen heftige Kritik am Über- oder Unterschreiten der jedem Stand angemessenen Sprachkompetenz; es wird gefordert, daß jeder nach seinem Stand reden soll. Damit verbindet sich die Vorstellung einer klaren Zuteilung der verschiedenen Wissensformen an die einzelnen Stände - so bleibt z.B. das Erlösungswissen allein der Kirche vorbehalten. Demgegenüber bringen die Reformer durch die Hervorhebung der subjektiven religiösen Selbsterfahrung und der empirischen Naturerfahrung ohne - oder mit nur teilweiser - Absicherung durch gelehrtes, tradiertes Buchwissen Wissens- und damit auch Standesschranken in Bewegung. Und diese neuen Wissensformen verlangen nach einem unmittelbaren Verhältnis zur Sprache, wie das nur die eigene Muttersprache bieten kann. Der Suche nach dem ursprünglichen und damit noch unverdorbenen Zustand der Dinge entspricht die Reflexion auf die eigenen Wurzeln, welche ihren Ausdruck im Gebrauch der Muttersprache findet. Nur in ihr können Gottes Wort und die Natur >er-fahren< und formuliert werden. Die vermehrte Verwendung der Muttersprache ist aber nicht nur anthropologisch motiviert. Ebenfalls nur in der Muttersprache können dem >gemeinen Nutzen< dienliche, aber auch für den einzelnen Menschen wertvolle Wissensinhalte eine größere Verbreitung finden. Sieht man im Gebrauch der deutschen Sprache primär den Ausdruck eines zu Beginn des 16. Jahrhunderts gesteigerten Nationalbewußtseins, verkennt man die Vielschichtigkeit dieses Prozesses.313 Den hier behandelten Reformern geht es bei der Verwendung, der Verteidi-

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Apel, Die Idee der Sprache, S.271. Vgl. z.B. Dietlinde Goltz, Die Paracelsisten und die Sprache, S.342 (vgl. auch oben in Kapitel 9.3.4, Fußnote 278). - Ebenfalls zu hinterfragen gilt es die Aussage von Schnell, Deutsche Literatur und deutsches Nationsbewußtsein, S.302: »Insgesamt darf der wachsende Drang nach volkssprachlicher Artikulation als Teil der Laikalisierung und somit als ein Element des wachsenden volkssprachlichen Nationsbewußtseins gesehen werden.« Die Laikalisierung geht vielmehr mit einem Emanzipationsprozeß einher, einer Emanzipation nicht nur von der Bevormundung durch die römische Kirche, sondern auch von anderen überkommenen Herrschafts-, aber auch Wissenschaftsstrukturen. Nicht die Nation an sich soll gestärkt werden, sondern ganz konkret der >gemeine Mannneuem< Wissen oder von tradierten Wissensinhalten, welche bis anhin einige wenige für sich beansprucht haben.

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Was bedeutet »gestryfft«? - Von der Beziehung zwischen dem Optischen und dem Sozialen

10.1 Historische Semantik und Metaphorik Das Adjektiv >gestreift< in seiner übertragenen oder metaphorischen Bedeutung, wie es in der Flugschrift verwendet wird, findet sich in der heutigen deutschen Sprache nicht mehr. Überliefert ist es zum ersten Mal im Narrenschiff von Sebastian Brant, es erlebt dann eine Blütezeit in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts und verschwindet vollständig im Verlauf des 17. Jahrhunderts. Als Wort, das einen Angehörigen eines Standes oder einer anderen definierbaren Gruppe näher charakterisiert, gehört es zum politisch-sozialen Wortschatz. Es stellt sich nun erstens die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der metaphorischen Verwendung dieses Lexems - dabei stellt die Metapher eine Bedeutungsveränderung dar, die als Bedeutungsübertragung erklärt wird - , und d.h. im besonderen nach dem Signalcharakter gestreifter Oberflächenstrukturen, was wiederum die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Optischen und dem Sozialen in der damaligen Gesellschaft aufwirft. Und da dieses Wort in seiner übertragenen Bedeutung in den verschiedenen Verwendungszusammenhängen und Kontexten Bedeutungsschattierungen und -Veränderungen aufweist, gilt es zweitens zu fragen, inwiefern alternative gesellschaftliche Sichtweisen und Interessen der Zeit zu diesen unterschiedlichen Bedeutungsprägungen geführt haben, welche sich konkurrenzieren, aber auch wechselseitig beeinflussen. Dieses Kapitel versteht sich als Beitrag zur historischen oder diachronen Semantik, deren eigentliches Thema die Frage nach Ursachen und Folgen der Schaffung neuer Bedeutung ist. Die historische Semantik ist seit einigen Jahren auch im deutschen Sprachraum im Begriff, sich als Teil der Sozialgeschichte aufzufassen. 1 Wie bei der traditionellen Begriffsgeschich-

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Einen guten Überblick über die Forschungsansätze der historischen Semantik (im Kontext der historischen Diskursanalyse) im Zusammenhang mit sozialgeschichtlichen Erkenntnisinteressen in Frankreich, im anglikanischen und im deutschen Sprachraum gibt Schöttler, Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse. Vgl. weiter die Aufsatzsammlung hg. von Busse/Hermanns/Teubert, Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte; Busse, Historische Semantik; Stierle, Historische Semantik und die

198 te 2 ergibt sich hier das Textkorpus zwar auch aus solchen Texten, in welchen das Wort in seiner eigentlichen oder übertragenen Bedeutung erscheint.3 Als semantische Diskursanalyse versteht sich dieses Kapitel jedoch insofern, als hier »der Blick auf die Voraussetzungen« gelenkt wird, »die das in einem gegebenen Zeitpunkt (und mit bestimmten Zeichen) Sagbare überhaupt erst möglich machen«4. Dabei wird sich zeigen, wie in den verschiedenen Diskursen der Zeit unterschiedliche Bezeichnungsbedürfnisse zu Bedeutungsschattierungen derselben metaphorischen Wendung geführt haben. Daß sich das Lexem >gestreift< in seiner metaphorischen Verwendung besonders gut eignet aufzuzeigen, wie sich verändernde geschichtliche Verhältnisse im Medium der Sprache spiegeln, ergibt sich daraus, daß es zur Bezeichnung gesellschaftlicher Erscheinungen dient. Diese Tatsache bewirkt auch, daß dieses Lexem besonders stark semantischen Veränderungen ausgesetzt ist. Ebenso haben sein Aufflammen und sein Erlöschen hohe sozialgeschichtliche Signifikanz.5 Daß es sinnvoll ist, der Semantik des Wortes >gestreift< im 16. Jahrhundert eingehender nachzuforschen, zeigt sich auch an der offensichtlichen Mühe, welche Editoren, Kommentatoren und Interpreten, aber auch Lexikographen mit diesem Wort bekundeten. Ein paar derjenigen, welche sich auf irgendeine Art mit der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur beschäftigten, versuchten dieses Wort zu deuten. Während Bächtold und Ermatinger einen Bezug zur Kleidung des Bauern herstellen6, bezieht Schieß das

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Geschichtlichkeit der Bedeutung. - Vgl. auch Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, wo ebenfalls für eine sozialgeschichtlich und kommunikationsgeschichtlich orientierte Sprachgeschichtsschreibung plädiert wird, die seit der pragmatischen Wende< der Linguistik erst möglich geworden sei (S.21). Vgl. dazu das grundlegende Lexikon von Brunner/Conze/Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Das Textkorpus setzt sich hauptsächlich aus solchen Texten zusammen , auf welche in den einschlägigen Wörterbüchern unter dem Wort >gestreift< verwiesen wird, aber auch aus Textstellen, auf welche ich selber gestoßen bin. Es sind dies die verschiedensten Textsorten, so u.a. Kleiderordnungen, spätmittelalterliche Predigten, Moralsatiren, Flugschriften der Reformation, Fachliteratur, verschiedene Chroniken und historische Wörterbücher. Diese verschiedenen Textsorten repräsentieren die unterschiedlichsten Sprachstile; auch verfolgen sie sehr unterschiedliche Intentionen. Dies gilt es bei der Interpretation der Texte zu berücksichtigen. Gerade die Vielfalt der herangezogenen Textsorten ermöglicht es aber, das metaphorische >gestreift< in seinen vielfältigen Bedeutungsvarianten überhaupt verstehen zu können. Ergänzt wird das Textmaterial durch bildliche Darstellungen. Busse/Teubert, Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?, S.27. Stierle (Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung, S. 185) fordert für absterbende Wörter eine »>negative Begriffsgeschichtegestreift< sei7. Winkler macht aus dem >gestreiften< Schweizer Bauern - vermutlich in Anlehnung an das Grimmsche und an das Schwäbische Wörterbuch - einen schlauen, geriebenen und gewandten Bauern 8 , und bei Köhler wird aus ihm ein »[ges t r a f t e r ) ] Schwyzer Baur« 9 . Auch die Wendung »Der gestryflet ley« in Thomas Murners Narrenbeschwörung10 wird in der Forschung kontrovers interpretiert. Für Spanier als Herausgeber dieses Murnerschen Textes bezieht sich das Wort auf die modische und damit zwei- oder mehrfarbige Kleidung der Laien, was den Eindruck von halb und halb ergeben habe. In übertragenem Sinne sei der »gestryflet ley« deshalb ein Halbwissen 11 Dem hält Hess entgegen, die Wendung sei eindeutig »auf die Komödie der Zweisprachigkeit zu beziehen« 12 . Nimmt man nach der Lektüre all dieser divergierenden Deutungen das Deutsche Wörterbuch zur Hand in der Hoffnung, eine Erklärung für diesen offenbar sehr großen Bedeutungs- und Interpretationsspielraum zu finden, wird man enttäuscht. Am Eintrag zum Wort >gestreiftgestreift< allein und auch die Verbindung >gestreifter Laie< sei vorerst in rein sachlich-feststellendem Sinne gebraucht worden und bezeichne den Gebildeten allgemein. Diese Bedeutung habe bis ins 17. Jahrhundert nachgelebt. Eine polemische Färbung habe die Wendung erst in der satirischen Literatur der Zeit und dann vor allem in der Reformationsliteratur erhalten. 16 Daß >gestreift< in seiner metaphorischen Verwendung jedoch nie wertneutral, sondern je

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Schieß, Drei Flugschriften aus der Reformationszeit, S.301f. Winkler, Der Wortbestand von Flugschriften, S.204f. Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Bd. 1, S.542. Murner, Narrenbeschwörung, S.333. Murner, Narrenbeschwörung, S.549. Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft, S.28. Vgl. DWb 10,3, Sp. 1260-1264. Vgl. dazu Weinrich, Semantik der Metapher, S.5. DWb 10, 3, Sp. 1262, Vgl. DWb 10, 3, Sp. 1262f.

200 nach weltanschaulicher Sichtweise des Autors positiv oder negativ konnotiert war, soll in dieser Studie gezeigt werden. Doch kann man bei der Wendung »Der gestryfft Schwitzer Baur« oder »Der gestryflet ley« überhaupt von einer Metapher sprechen? Geht man davon aus, daß es einen Standardgebrauch von >gestreift< gibt, denjenigen der Beschreibung von zwei- oder mehrfarbigen natürlichen oder künstlich hergestellten Oberflächen, liegt hier eine Übertragung dieses Lexems auf ein anderes Sachgebiet, auf dasjenige der Charakterisierung bestimmter Menschen oder Menschengruppen, und somit eine Metapher, genauer eine attributive Metapher17, vor.18 Dabei wird nicht angenommen, daß diese Metapher ein einziges >eigentliches< und damit ursprüngliches Wort ersetzt; sie steht vielmehr für ein ganzes Bündel von Ausdrücken 19 und bezeichnet somit eine semantische Leerstelle20. Nicht zwischen dem vermeintlichen e i gentlichem Wort und dem es veranschaulichenden Ausdruck besteht somit eine Ähnlichkeit 21 , sondern zwischen dem Sachgebiet, aus welchem das Wort stammt, und demjenigen Sachgebiet, in welches es übertragen wird. Diese Ähnlichkeit gilt es genauer zu beschreiben. Fragt man nach der Entstehung neuer Bedeutung, so bietet sich als Untersuchungsgegenstand die Metapher in besonderem Maße an, ist sie doch eine der großen Möglichkeiten, das Bedeutungskontinuum 22 zu erweitern. Wenn sie nun nicht nur eine semantische Leerstelle bezeichnet, sondern diese auch besetzt, schafft sie neue Bedeutung, wodurch sie ihren Charakter als

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Z u den verschiedenen prädikativen Grundstrukturen der Metaphern vgl. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, S.22. Vgl. dazu Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, S. 17. Diese unterschiedlichen Vorstellungen der Metapher unterscheiden die sogenannte Substitutionstheorie - sie geht auf Aristoteles zurück - von der Interaktionstheorie. Während erstere gänzlich vom Kontext der Metapher absieht, geht letztere davon aus, daß Bedeutung und Funktion der Metapher nur unter Einbezug des Kontexts geklärt werden kann. Vgl. dazu Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, S.7-21. - Die hier untersuchte metaphorische Wendung ist denn auch nicht gemäß der antiken Metapherndefinition bloß Tropus, mit der Funktion, die Rede zu schmücken (vgl. dazu Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, S. 295f.), sondern sie hat meistens eine wichtige Funktion im Argumentationszusammenhang der Texte. Vgl. Stierle, Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung, S. 179. Aristoteles hat das Verhältnis von eigentlichem und uneigentlichem Ausdruck als eines der Ähnlichkeit bestimmt: »Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag« (zitiert nach Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, S. 295). Zum Begriff des Bedeutungskontinuums vgl. Stierle, Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung, v.a. S. 167ff.: Stierle geht davon aus, daß ein Wort nicht bloß mehrere sich ablösende Bedeutungen haben kann, sondern daß ein prinzipiell rekonstruierbarer, motivierter Zusammenhang zwischen seinen einzelnen Bedeutungen besteht. Dabei kann jede neue Bedeutung selber wieder Bedeutungspotentialität erzeugen. Fixiert werden bestimmte Bedeutungen aus dem Bedeutungskontinuum durch die Diskurse.

201 Metapher verliert. 23 Daß sich jedoch die Bedeutung des metaphorischen >gestreift< in den Diskursen des untersuchten Zeitraums kaum je stabilisiert, sondern daß immer mehrere Bedeutungsschattierungen nebeneinander stehen bleiben, welche eine Lexikalisierung verhindern, kann hier gezeigt werden. In der fehlenden Bedeutungsstabilisierung ist denn schließlich auch der Grund für das Verschwinden des metaphorischen >gestreift< zu suchen. Eine Metapher, die aufgrund veränderter historischer, soziokultureller und sozialer Verhältnisse den neuen Kommunikationsbedürfnissen nicht mehr entspricht, stirbt aus. Nach Weinrich wird die »aktuell geprägte oder vernommene Metapher [...] von einem in der sprachlichen und literarischen Tradition vorgegebenen Bildfeld getragen«. 24 Dabei unterteilt er diese Felder in einen >bildspendenden< und einen >bildempfangenden< Bezirk. Das hier wirksame Bildfeld könnte man als Farbmetaphorik bezeichnen. Bildspendender Bereich sind die Farben und die durch sie strukturierten, natürlichen oder künstlich hergestellten Oberflächen, ist somit die Haut des Menschen, sind die Felle der Tiere, sind Gemälde von Künstlern und auch Stoffe, aus welchen Kleider hergestellt werden. Bildempfangender Bereich ist der Mensch als soziales Wesen, ist der Mensch in seinem intellektuellen, moralischen und ethischen Handeln und schließlich der Mensch mit seiner Sprache, seinem Wissen und Verstand. Das tertium comparationis dieser zwei Bereiche ergibt sich aus dem im Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit angenommenen engen Verhältnis zwischen dem optischen Erscheinungsbild des Menschen und seiner Geisteshaltung, seinen Fähigkeiten und auch seinem sozialen Status. Äußeres verweist auf Inneres. 25 Ein zweites zentrales Bildelement des Bildfeldes ist neben dem Adjektiv >gestreift< das Lexem >färben< bzw. >gefärbtstreifeln< wird hier im Zusammenhang mit der Sprachmischung gebraucht. Das Gewand der Sittenlehre solle jedoch einfarbig, d.h. in nur einer Sprache verfaßt sein; die gleichzeitige Verwendung zweier Sprachen würde die Eindeutigkeit und Geschlossenheit einer Sittenlehre beeinträchtigen. Ordnung verlangt eindeutige, verständliche Aussagen.

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Zum Topos von den lügenden Dichtern und zur Entwicklung einer literarischen Fiktionsidee im 16. Jahrhundert, welche der Dichtung eine gewisse Eigenwirklichkeit mit regulativer Wirkung auf die Realität zuspricht, vgl. Kleinschmidt, Die Wirklichkeit der Literatur. Eine gute Übersicht über den Inhalt dieser Flugschrift gibt Humbel, Ulrich Zwingli und seine Reformation, S. 202-206. Zu Fabri vgl. Immenkötter, Johann Fabri.

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203 vorgeworfen, er gehe darin »mit jtel geferwten luginen vmb« und verführe damit »wie die gougler vnd zoubrer / die einualtigen«32. Fabri wird nicht nur der Verbreitung von Unwahrheiten bezichtigt, sondern auch des gezielten Einsatzes rhetorischer und damit manipulierender Rede. Ebenfalls die Bedeutung des Schmückens und Ausstaffierens kommt dem Wort >färben< im Narrenschiff Sebastian Brants zu. Vom auf unverdienten Lohn hoffenden Narren heißt es: Man fyndt gar manchen narren ouch Der ferbet vß der gschrifft den gouch Vnd dunckt sich stryffecht vnd gelert So er die bucher hat vmb kert Vnd hat den psaltter gessen schyer Biß an den verß / Beatus vir [...].» Auch hier haben Farben eine schmückende, gleichzeitig aber auch eine beschönigende Funktion. Sie verdecken die Diskrepanz zwischen Sein und Schein und geben etwas vor, was nicht der Wahrheit entspricht. Der schöne, farbige, aber trügerische Schein hält den Narren davon ab, der Wahrheit, auch derjenigen des Todes, ins Antlitz zu schauen: Aber die narrheyt dut vns ferben Das wir gedenken nit dar an Das vns der dot nit hie wurt lan [...].* Bei allen hier aufgeführten Beispielen hat >färben< die Bedeutung der schmückenden Entstellung und der täuschenden Beschönigung. Etwas wird gefärbt, um die Wahrheit zu entstellen und falsche Tatsachen vorzuspiegeln. Dieses Mißtrauen gegenüber den Farben hat eine lange Tradition. In Äußerungen zur Farbenlehre finden sich seit der Antike immer wieder Vorbehalte hinsichtlich der Verführungskraft und des Täuschungseffekts der Farben, so z.B. bei Piaton und auch bei Quintilian. Hildegard von Bingen verurteilt die Buntheit (varius color) als Ausdruck der Vielzahl der Laster. Und die Frage nach der Rangfolge von Zeichnung und Farbe wurde bereits von Aristoteles, im Mittelalter z.B. auch von Thomas von Aquin und dann vor allem in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts in der italienischen Literatur zur Kunsttheorie zugunsten der Zeichnung beantwortet. Gegenüber dem intellektuellen disegno verkörpere der color bloß das emotionale Element. Auch Erasmus von Rotterdam äußert im Hinblick auf die Graphik Dürers, daß

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Das gyren rupffen, aij'. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S. 139, v. 1-6. - Zur Bedeutung von »stryffecht« im Narrenschiff siehe unten in Kapitel 10.3.1, S. 237-240. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.223, v. 22-24.

204 der wahrhaft große Künstler der Farbe nicht bedürfe; Farben würden seinem Werk nur schaden.35 Ist es beim Bildelement >färben< vor allem die Malerei - und die theoretische Reflexion über sie - , welche als wichtige kulturelle Erscheinungsform den bildspendenden Bereich bildet, bieten sich für das Bildelement >gestreift< dafür in erster Linie Stoffe und die aus ihnen gefertigten Kleider an. Die Kleidermode der Zeit als ein alle Schichten und Gruppen der Gesellschaft miteinbeziehender Kulturbereich stellt den wichtigsten Kontext dar für die Analyse des metaphorischen >gestreiftRitter und doktor< über die ^ermöglichen Bürger< bis zu >allem baurn volckuneinheitlichen< Gewebe zu tragen. 90 In der Bibelallegorese, welcher der Gedanke der Kleidung als Ausdruck der Geisteshaltung des Trägers geläufig ist91, findet sich die Auslegung, daß ein aus zwei verschiedenen Materialien gewobenes Kleid Ausdruck sei für die Unmöglichkeit, zweien Herren gleichzeitig, wie Gott und dem Teufel oder auch dem Gesetz und dem Evangelium, dienen zu können. 92 Und im Zusammenhang mit den biblischen Geboten zum Aussatz an Haut und Kleidern 93 wird Mehrfarbigkeit »als Zeichen für die Unbeständigkeit in der Lehre, für das Fehlen der Wahrheit, die sich durch Einfachheit auszeichnet, gedeutet«. 94 Diesen in Sachen Material oder Farben uneinheitlichen und deshalb geteilten Kleidern kontrastiert der ungeteilte, aus einem Stück gewobene Rock Christi 95 ;

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3. Buch Mose 19,19 und 5. Buch Mose 22,11. Vgl. dazu Mertens, Mi-parti als Zeichen, S.73f. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Sylva allegoriarum (1575) des Hieronymus Lauretus, der zu Beginn des Kapitels über die Kleider schreibt, daß diese die Werke anzeigen können, seien das nun die guten oder die schlechten. Vgl. Mertens, Mi-parti als Zeichen, S.74. (Diese Bibelauslegung stammt von Hieronymus Lauretus.) - Pastoureau ( D e s Teufels Tuch, S.6) verweist auf mittelalterliche Bibelexegeten, welche den Vers 3. Buch Mose 19,19 (»Veste, quae ex duobus texta est, non indueris«) dahingehend auslegten, daß nicht ein zweifarbiges Kleid getragen werden dürfe. 3. Buch Mose 13. Mertens, Mi-parti als Zeichen, S. 74. Mertens zitiert Hieronymus Lauretus im Wortlaut: »Color diversus in cute, désignât inconstantiam doctrinae, ubi non est simplex Veritas, & diversos errores.« E b e n d a . Vgl. Johannes 19,23.

217 er gilt in der Bibelallegorese als Zeichen für den unteilbaren Glauben. 9 6 Sind das nun verschiedene Materialien, die miteinander verwoben werden, oder verschiedene Farben, die als Flecken oder Streifen aufeinandertreffen, entscheidend ist der Eindruck von Verschiedenheit, der dabei entsteht. Und dieser Verschiedenheit oder Andersartigkeit genau gegenüber auf der Werteskala steht das Einheitliche, das Unzerteilte und Einfarbige. 9 7 So läßt sich auch erklären, weshalb Johannes Geiler von Kaysersberg in einer Predigt aus dem Jahr 1509 im Zusammenhang mit der Frage nach der Gestalt des Engels, der Maria die Geburt eines Kindes verkündet, darauf besteht, dieser habe weiße Kleider getragen und nicht »rot / gel / oder geteilt gestrifflet kleider«. 9 8 Drei Gründe würden für diese »veste candida« sprechen: Zürn ersten des engels halb, wann er ist ein vnschuldig geschópfft / gantz luter / pur / rein vnd vnlydlich. Darumb hatt jm gezimpt ein wiß / hell / clor vnd glestig kleid / vnd solt nüt rot da sein / das da betüte liden. Zum andern was das füglich vnser frawen halb, wann sye ist gewesen an sünd / gantz rein vnd luter / hat nye kein mackel gehaben / weder erbsünd / teglich sünd / noch todsünd. Darumb zympt es sich auch / das der engel erschine in einem wissen kleid das da wer on alle moß vnd mackel. Zum dritten / ist es auch füglich gewesen vnsers herren halb / der vns wolt rein vnd wyß machen vnd reinigen von Sünden. Wann er ist der Spiegel on moß / das liecht von dem liecht. Darumb was billich vnd recht / das es wer ein wyßglestig kleid / vnd nit ein swartz vermosigt kleidt." Weiß als die Farbe mit der Eigenheit, das Licht voll zu reflektieren, ist deshalb auch diejenige Farbe, deren Ausdruckskraft durch den kleinsten Makel am empfindlichsten gestört würde. Deshalb ist es für Geiler die geeignetste Farbe für solche Wesen, welche wie der Engel die vollkommene Reinheit, wie Maria die vollständige Freiheit von Sünde und wie Christus das göttliche Licht verkörpern. 1 0 0 Vehement in Abrede stellt Geiler deshalb auch die B e -

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Vgl. Mertens, Mi-parti als Zeichen, S.74. Pastoureau (Des Teufels Tuch, S. 34f.) weist darauf hin, daß >gestreift< und >anders< (vaniis) während des ganzen Mittelalters oftmals als Synonyme verwendet worden seien. Dabei könne ein guter Christ, ein ehrenhafter Mann niemals varius sein. Ein Hinweis auf varíelas sei für den mittelalterlichen Menschen aber auch eine gefleckte Oberfläche, was zu der Vorstellung geführt habe, gestreifte und gefleckte Tiere wie das Zebra oder der Leopard müßten gemieden werden. In diesem Zusammenhang stellt Pastoureau die These auf, daß es für den mittelalterlichen Menschen keinen Unterschied zwischen binären, temaren, quaternären etc. Strukturen gegeben habe: »Auf der einen Seite das Einfarbige [...], auf der anderen Seite alles Nicht-Einfarbige: das Gefleckte, das Gestreifte, das Unterteilte, alles Strukturen mit gleichen Wertigkeiten« (S.35). Ebenso habe man auch nicht zwischen bichrom und polychrom unterschieden. Geiler von Kaysersberg, Doctor Keiserszbergs Postill, 4. Teil, fv'. Geiler von Kaysersberg, Doctor Keiserszbergs Postill, 4. Teil, fvr. Zu den mittelalterlichen Symbolvorstellungen für die Farbe Weiß, welche auch heute

218 hauptung eines gewissen Dionysius, »das kleid solt sein gewesen / wyß / rot vnd gel«. 101 Weiß würde dann für die Menschwerdung Christi, die rote Farbe für sein Leiden und »gel oder bleych« 102 für seinen Tod stehen. 103 Nicht nur weiß und »on alle moß vnd mackel« stellt sich Geiler das Gewand des Engels vor, sondern auch ohne weitere Farben, welche nicht Ausdruck wären der einen zentralen Botschaft des Engels, der Geburt Christi, denn, und damit schließt er seine Betrachtungen zur Frage nach der Beschaffenheit des Kleides ab, ein yegkliche erschynung soll sichtbarlich erkleren das vnsichtbarlich / das zum ersten / fürnemlich vnd für sich selbs verkündet würt oder vermeynt.104 Die Vorstellung der Zeichenhaftigkeit der Kleidung findet sich aber nicht nur im Zusammenhang mit biblischen Gestalten. Vor allem von der Geistlichkeit wurde erwartet, daß ihre Kleidung Zeugnis ihres geistlichen Lebenswandels geben soll. Angesichts des in den Kleiderordnungen erhobenen Vorwurfs der Hoffärtigkeit bunter Kleider als Inbegriff von modischer Eleganz und damit auch Weltlichkeit erstaunt es deshalb nicht, daß seit dem 12. Jahrhundert in unzähligen Beschlüssen von Synoden und Konzilien den Priestern verboten wurde, zwei- oder mehrfarbige Kleider zu tragen. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts richteten sich diese Verbote dann ausdrücklich gegen geteilte, gestreifte oder schachbrettartig gemusterte Kleider. 105 Diese immer wieder ausgesprochenen Verbote zeigen, wie beliebt bunte Kleider nicht nur beim Adel und Bürgertum, sondern auch bei der Weltgeistlichkeit gewesen sein müssen. Als unwürdig befunden wurden aus verschiedenfarbigen Stoffteilen zusammengesetzte Kleider nicht bloß für die Geistlichen, sondern für jeden ehrenhaften Christen. So tadelt im 13. Jahrhundert Berthold von Regensburg, der wortgewaltige Franziskanerprediger, diesen Kleiderluxus in der höfischen Mode. Ob es denn nicht genüge, so Berthold, daß Gott ihnen die Wahl gelassen habe, ob sie ihre Kleider braun oder rot wollten, oder blau,

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noch in der Festkleidung für Taufe, Erstkommunion, Firmung und Hochzeit nachleben, vgl. Nixdorff/Müller, Weiße Westen - Rote Roben, v.a. S. 90-96. Geiler von Kaysersberg, Doctor Keiserszbergs Postill, 4. Teil, fvr. Geiler von Kaysersberg, Doctor Keiserszbergs Postill, 4. Teil, fvv. - Auf die Vorstellung, daß das Gelbe in Beziehung zum Fahlen steht und somit den Tod symbolisiert, verweisen auch Nixdorff/Müller, Weiße Westen - Rote Roben, S. 111. Ein weiß, rot und gelb quergestreiftes Gewand trägt der Hohepriester Kaiphas, dem Jesus nach seiner Gefangennahme vorgeführt wird, auf einem Glasfenster in der Kirche Sainte Madeleine in Troyes (um 1500). Hier erscheint es als sehr naheliegend, daß die Farben rot und gelb auf das bevorstehende Leiden und den nahen Tod Christi verweisen. Abgebildet ist dieses Glasfenster in Pastoureau, Des Teufels Tuch, S.23; vgl. hier Abb. 33. Geiler von Kaysersberg, Doctor Keiserszbergs Postill, 4. Teil, fvv. Vgl. dazu Mertens, Mi-parti als Zeichen, S. 50-52; Pastoureau, Des Teufels Tuch, S. 19f.

219 weiß, grün, gelb oder schwarz. Vielmehr treibe ihre Hoffart sie dazu, die Stoffe in Stücke zu zerschneiden und hier das Rote in das Weiße und dort das Gelbe in das Grüne zu setzen. 106 Während Bertholds Adressaten vorwiegend Mitglieder des Adels waren, richtete Geiler von Kaysersberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine ähnliche Modekritik in einer seiner Narrenschiffpredigten an ein städtisches Publikum: [S]ich die hossen an wie sie geteilt seint wie ein schachbret wie von deinen bletzlin sie zammen gestücket seint also daz sie me kosten ze machen den das thüch wert ist, lautet diese Kritik an mehrfarbigen Hosen in der Übertragung des Johannes Pauli. 107 Solche Hosen geben mehr vor, als was sie eigentlich wert sind. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Wert des Stoffes und der aufwendigen und zeitintensiven Herstellung eines solchen Kleidungsstücks. Nicht nur die Buntheit an sich, sondern vor allem auch die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, welche solche Hosen verkörpern, sind für Moralisten des frühen 16. Jahrhunderts Ausdruck von Hoffart. Wie sehr modische, farbenfreudige Kleidung auch noch im späteren 16. Jahrhundert mit extremer Weltlichkeit und Gottesferne gleichgesetzt wurde, zeigt sich anhand von Kostümvorschriften aus einem Luzerner Bühnenrodel von 1583. So wurde vorgeschrieben, daß im Osterspiel die Schergen Kleider zu tragen hätten kostlich und suber gemacht, zerhowen, zerhackt, kriegisch, doch nit lang, off heidnische seltzame Manier belegt, gemalet und geziert, einer nit wie ander, ye seltzamer ye ansichtiger.108 Im Gegensatz dazu traten in solchen Osterspielen wie auch in anderen geistlichen Spielen Personen wie Gott, Engel oder Heilige in langen, einfarbigen Gewändern als Ausdruck der Zeitlosigkeit und Beständigkeit auf. 109

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Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S.209 (Bumke zitiert: Berthold von Regensburg, Predigten, hg. v. F. Pfeiffer, Bd. 1-2,1862-80; die von Bumke im Wortlaut zitierte Stelle lautet: »Iuch genüeget niht, daz iu der almehtige got die wal hât verlân an den kleidern, wellet ir brûn, wellet ir sie rôt, blâ, wîz, griiene, gel, swarz: dar an genüeget iuch niht. Unde dar zuo twinget iuch iuwer grôziu hâhvart. Man muoz ez iu ze flecken zersnîden, hie daz röte in daz wîze, dà daz gelwe in daz grüene.« Sie befindet sich in Bd. 1, S. 396). Zitiert aus einem längeren Textausschnitt von: Johannes Pauli, Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narrenschiff so er gepredigt hat zu straßburg [...] uß latin in tiitsch bracht. Straßburg 1520 (Universitätsbibliothek 0 3078), abgedruckt in Schtippert, Bezeichnung, Bild und Sache, S. 130. Die lateinische Vorlage von Geiler lautet: »Vide caligas scacatas divisas et scissas consutasque ex minutissimis pictaciis, ut merces pro earundem consuitione expósita plus valeat quam caligae ipsae.« Zit. nach Brant, Narrenschiff, hg. von Zarncke, S. 259. Zitiert nach Mertens, Mi-parti als Zeichen, S.21. Vgl. Mertens, Mi-parti als Zeichen, S.21.

220 Im 16. Jahrhundert kam die Kleiderkritik jedoch vor allem aus protestantischen Kreisen. Von Melanchthon existiert zum Beispiel eine Predigt mit dem Titel De vestitu, in der aufs heftigste - wobei auch Gedanken Luthers aufgenommen werden - lebendige Farben, reich geschmückte Kleider, Christen ausstaffiert wie Pfauen und geistliche Kleidung vergleichbar derjenigen von Komödianten kritisiert werden. 110 Stattdessen empfiehlt er, wie alle Reformatoren, dunkle und würdevolle Kleidung. Pastoureau stellt in diesem Zusammenhang die These auf, daß die Reformation, indem sie zu einem Zeitpunkt begann, in dem das gedruckte Buch und in der Kunst die Graphik dominierte und man somit sozusagen von einer Kultur und einem Bildverständnis »in schwarz und weiß« sprechen könne, ganz ein Kind ihrer Zeit gewesen sei. Und diese protestantische >Unfarbkultur< m der Achse schwarz-grau-weiß habe sich dann auf alle Bereiche des religiösen und sozialen Lebens ausgewirkt, so unter anderem auch auf die Kunst und die Kleidung. 112 Am deutlichsten zeigte sich eine gewisse Wirkung der reformatorischen Kleiderkritik auf die Mode vermutlich darin, daß die schwarze Schaube, das bevorzugte Kleidungsstück von Zwingli (Abb. 25), Luther (Abb. 26) und anderen reformatorischen Geistlichen, sich nach der Reformation auch im Bürgertum durchsetzte. 113 Verdrängen ließ sich die Lust an farbigen, d.h. geteilten, gestreiften und zerschnittenen Kleidungsstücken jedoch nicht, weshalb auch die Kritik daran nicht verstummte. So kombiniert Sebastian Franck in seinem Weltbuch aus dem Jahr 1534 die Beschreibung der Bewohner der Kanarischen Inseln indirekt mit einer Kritik an einheimischen Modetorheiten: Wie die vnsern getheylte kleyder etwa tragen / also lassen dise sich ettwa so sy prangen wollen / an dem leib malen / mit safft / grün / rot vnd geel / das ist ein wol stand bey yhn.114 Hoffart in Form von äußerer Prachtentfaltung und Angeberei gibt es für ihn demnach überall und in jeder Form, seien das nun gestreifte Kleider nördlich der Alpen oder bemalte Körper bei südlichen Inselbewohnern.

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Vgl. Pastoureau, L'église et la couleur, S. 229. Erst im Zeitalter der Reformation schied man die Farben schwarz und weiß von den übrigen Farben, eine Unterscheidung, welche das Mittelalter nicht kannte. Vgl. dazu Pastoureau, L'église et la couleur, S. 230. Vgl. Pastoureau, L'église et la couleur, S. 229f. Er spricht geradezu von einer »décoloration protestante«, die es aber noch weitgehend zu beschreiben gelte. Sicher ist für Pastoureau jedoch, daß »cette éthique chromoclaste restera celle des pays protestants jusqu'à l'époque contemporaine et deviendra, par la même, celle de la société industrielle et du capitalisme jusqu'au début de notre siècle.« Vgl. ebenda, S. 230, und die dort angegebene Literatur. Vgl. Loschek, Reclams Mode- und Kostümlexikon, S.178; Thiel, Geschichte des Kostüms, S. 169; Boehn, Die Mode, S. 187f. Franck, Weltbüch, CCXijv.

Abb. 25

Hans Asper, Huldrych Zwingli, Zürich, um 1549, Tempera und Öl auf Holz, Schweizerisches Landesmuseum (Inv.-Nr DEP-3534). Foto: Schweizerisches Landesmuseum, Zürich

Abb. 26

Lucas Cranach d.J., Martin Luther, Holzschnitt, Kunstsammlungen der Veste Coburg (Inv.-Nr. 1.45. 133). Foto: Kunstsammlungen der Veste Coburg

223 Ein besonderes Ärgernis für gegenüber modischen Erscheinungen negativ eingestellte Moralisten stellte die Mode der geschlitzten Hosen 115 und dann etwa seit der Mitte des Jahrhunderts deren Weiterentwicklung, die Pluderhose, dar. Auch diese Hosen zeichneten sich, indem die Schlitzungen mit andersfarbigen Futterstoffen unterlegt wurden oder bei der Pluderhose eine Futterhose aus einem leichten Seidenzeug oder oft aus farbig unterschiedlich zusammengesetztem Taft 116 getragen wurde, durch große Farbenfreudigkeit aus. Die Pluderhose hielt sich bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts, obwohl sie immer wieder Gegenstand moralischer Entrüstung war, so auch in der Flugschrift »Vom Hosen Teuffei« mit dem Untertitel »Vom zuluderten zucht vnd ehr erwegnen / Pluderichten Hosen Teuffei / vormanung vnd warnung« 117 aus dem Jahr 1556 des Stadtpfarrers in Frankfurt an der Oder, Andreas Musculus, dem eigentlichen Wortführer des Kampfes gegen diese Beinkleider. 118 Zuerst von den Landsknechten getragen (Abb. 27), wurde sie rasch von allen anderen Ständen aufgegriffen. Und entgegen den Erwartungen, so Musculus, seien die Pluderhosen nicht etwa in den katholischen Ländern weit verbreitet, sondern in den protestantischen. 119 In Form einer Predigt zählt er die Sünden und die daraus resultierenden Gefahren des Hosenteufels in Gestalt der Pluderhosen auf. Neben der Beeinträchtigung des gemeinen Nutzens in Form von merkantilistischen Nachteilen, da Geld für teure Seidenstoffe in fremde Länder abfließe 120 , sieht er vor allem die Sittlichkeit des einzelnen Menschen in Gefahr: Demnach ob dich deine zuhackte Hosen nicht vor dämmen / so verdampt dich doch dein eigen hertz / das du durch solche Kleidung offenbar machest / an deinen Kleidern siehet man / was du fur sinn / gedancken vnd muth hast / [-]121 Für Musculus ist es vor allem die hoffärtige Prunksucht, welche zu solch modischen Verirrungen führt; so sei ihm berichtet worden,

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Vgl. oben in diesem Kapitel, S. 205-207, die bereits erwähnte Kritik Valerius Anshelms an dieser Mode. Besonders verwerflich und gefährlich für das allgemeine Wohl ist für Anshelm die »hochfart«, welche nach Prunk und stets modischen Neuerungen verlangt, weil sie viele »Unkosten« verursacht und deshalb aller »betrug und list, gelt zehaben« zunehmen (Anshelm, Die Berner Chronik, 4. Bd., S.463). Anshelm verknüpft hier das moralische Motiv der Hoffart mit einem ökonomischen. Vgl. Loschek, Reclams Mode- und Kostümlexikon, S.381. Musculus, Vom Hosen Teuffei, Aijr. Andreas Meusel (Musculus) wurde 1514 in Schneeberg geboren und wurde nach Studien in Leipzig und Wittenberg Theologieprofessor und Pfarrer in Frankfurt an der Oder. Auch war er brandenburgischer Generalsuperintendent. Er starb 1581. Vgl. Eisenbart, Kleiderordnungen der deutschen Städte, S. 100 und 122. Musculus, Vom Hosen Teuffei, Djv. Vgl. Musculus, Vom Hosen Teuffei, Eiijr. Musculus, Vom Hosen Teuffei, Dij v -Diij r .

Abb. 27

Der Reysigen Wachtmeister, Holzschnitt aus der lateinischen Ausgabe des Ständebuchs von Jost Amman: Panoplia omnium illiberalium mechanicarum aut sedentariarum artium genera continens, Frankfurt/M.:Sigismund Feyerabend 1568. Aus: Jost Amman, Das Ständebuch. 133 Holzschnitte mit Versen von Hans Sachs und Hartmann Schopper, hg. von Manfred Lemmer, Leipzig 1975, S. 129; Faksimile. Foto: Zentralbibliothek Zürich

225 nach dem jetzunder 20.30. oder 40. eilen karteck 122 gemein ist zum vnterfuter vnd hellischen flammen (wie man es aber dorein bringet / do laß ich die Schneider fur sorgen / ich achte wol sie behalten auch jhr theil daruon) das jm ein Landsknecht habe lassen 99. ein vnter futern / do er ist gefragt worden / warumb er nicht hab 100. elen genomen / hat er geantwort / 99. sey ein lang wort / vnd guth Landsknechtisch /100. aber sey kurtz / vnd nicht so prechtig zu reden / [,..].123 Und da mit solchen Hosen bekleidete Landsknechte ja vor allem bewundert werden wollen, solle doch die Obrigkeit, wenn sie schon solche Unzucht nicht direkt bestrafe, wenigstens »bóse[n] Buben bestelle[te]n / die jn als Meerwundern vnd Fasnacht narren nach lieffen«. 124 Musculus denkt sich hier eine Strafe aus, die härter als irgendwelche Geldstrafe ist. Sie bewirkt, daß eine solche modische Kleidung nun nicht mehr Bewunderung hervorruft, wie sie das wohl normalerweise tut, sondern im Gegenteil deren Träger der Lächerlichkeit preisgibt und sie somit an den Rand der Gesellschaft drängt. Mit Freude nimmt Musculus denn auch zur Kenntnis, daß bereits etliche weltliche und christliche Obrigkeiten, da die Stimme der Prediger dazu zu schwach sei, sich ihres Amtes als Bewahrer der Sittlichkeit angenommen haben und ein gebot lassen ausgehen / das sich alle hencker inn jren Landen / also bübisch vnnd zuludert sollen kleiden / solche hosen antragen / das die hellischen lappen die schue erreichen / Damit auch die kinder auff der gassen können vrteilen / wenn sie solcher Lumpichte hosen junckern sehen / wo fur sie die sollen halten vnd ansehen [...].125 Diese Art, ehrbare Leuten vom Tragen modischer und gerade auch deshalb oft als unsittlich empfundener Kleidung abzuhalten, indem diese randständischen Gruppen der Gesellschaft geradezu verordnet wurde, hat eine lange Tradition. (2) Waren es in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts die Pluderhosen, welche den Henker als Angehörigen eines ehrlosen Standes 126 kennzeichnen sollten, so kam Anfang des Jahrhunderts den gestreiften oder schachbrettartig gemusterten Hosen diese Funktion zu. Auf unzähligen Bildern des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden frühen Neuzeit werden Henker und Scharfrichter in mehrfarbig strukturierter Kleidung abgebildet, so unter anderem auf einem Holzschnitt von 1508, auf dem die verschiedenen Hinrichtungs- und Verstümmelungsarten abgebildet sind (Abb. 28). Von Kopf

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Kartek ist ein leichter Seidenstoff. Musculus, Vom Hosen Teuffei, Ciijv. Musculus, Vom Hosen Teuffei, Diiijv. Musculus, Vom Hosen Teuffei, Ejr. Vgl. dazu oben S. 215.

Abb. 28

Hinrichtungs- und Verstümmelungsszenen, Holzschnitt aus: Ulrich Tengler, Der neü Leyenspiegel, fol. CXL, Straßburg 1514. Zürich ZB: Cb VIII 32 / 1 . Foto: Zentralbibliothek Zürich

227 bis Fuß in ein gestreiftes Gewand gekleidet ist der Scharfrichter auf einem Gemälde Albrecht Altdorfers, das die Enthauptung der heiligen Katharina zeigt (Abb. 29).127 Aber auch bereits ein kleines mehrfarbiges Dekor am Ärmel genügte, um einen Henker als solchen zu kennzeichnen. Eine Frankfurter Verordnung aus dem Jahr 1543 schreibt vor, der Henker solle dreyerley färbigte rothe, weiße und grüne Lippen oben an des Wamses Ermelen [...] öffentlich [...] tragen, [...] damit er abgesondert vor ehrlichen Leuthen erkant werden möge.128 Aber nicht nur die Henker selber wurden stigmatisiert, sondern auch ihr Hausgesinde. So gebot bereits Mitte des 14. Jahrhunderts der Rat von Zittau den Mägden des Henkers, um den (ehrbaren) Frauen das Tragen männlicher Kapuzen zu verbieten - jeder/jede hatte sich nicht nur nach seinem/ihrem Stand zu kleiden, sondern auch nach seinem/ihrem Geschlecht - , ebensolche Gugeln, d.h. Kapuzen, zu tragen.129 Bei diesen Vorschriften geht es immer darum, Abstand zu schaffen, indem mit Hilfe von Kleidercodes sogenannt unehrliche Leute und ihre Sippschaft gekennzeichnet werden, um zu verhindern, daß sie für ehrbare Bürger gehalten werden. Eine marginalisierte Gruppe waren im Mittelalter auch die Spielleute. Die umherziehenden, sich an weltlichen und geistlichen Höfen, in Städten und Dörfern als Possenreißer, Akrobaten, Fechter, Tänzer und vor allem als Musikanten und Sänger betätigenden Spielleute waren an sich recht- und ehrlos, obwohl sie meist gern gesehen waren.130 In den Augen strenger Sittenprediger aber, so auch Bertholds von Regensburg, waren die Spielleute das Ingesinde des Teufels und ihre Tätigkeiten Inbegriff des sündigen Welttreibens.131 So sehr ihre Kunst einerseits nicht nur vom Publikum eines höfischen Festes, sondern auch von Stadt- und Landbewohnern, wenn sie auf offener Gasse, im Wirtshaus oder auf dem Dorfplatz zum Tanz aufspielten, geschätzt wurde, so sehr wurden sie andererseits von kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten verurteilt. Auch in städtische Dienste genommene Spielleute, die als Stadtpfeifer bei den verschiedensten privaten und öffentlichen Anlässen mitzuwirken hatten 132 , blieben beargwöhnte Außenseiter, die sich

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Vgl. weiter z.B. Lucas Cranach, Das Martyrium der heiligen Katharina (1506), abgebildet in Pastoureau, Des Teufels Tuch, S. 52/53. Ebenfalls geteilte und gestreifte Beinkleider tragen die Henker in der Luzerner Chronik (1513) von Diebold Schilling. Vgl. z.B. die Abbildungen daraus in Meyer, Hirsebrei und Hellebarde, S.334. Zitiert nach Mertens, Mi-parti als Zeichen, S.22. Vgl. Eisenbart, Kleiderordnungen der deutschen Städte, S.97. Einen guten, reich bebilderten Überblick über das Leben der Spielleute und ihre Musik gibt Bachfischer, Musikanten, Gaukler und Vaganten. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 694-698. Vgl. dazu Bachfischer, Musikanten, Gaukler und Vaganten, S. 167-193.

Abb. 29

Albrecht Altdorfer, Die Enthauptung der Hl. Katharina (Ausschnitt), um 1506, Öl auf Holz, Wien, Kunsthistorisches Museum (Inv.-Nr. G G 6426). Foto: Kunsthistorisches Museum, Wien

229 meistens als solche auch äußerlich zu kennzeichnen hatten. 133 Den nicht bediensteten Spielleuten erlaubte gerade ihr Leben ohne festen Wohnsitz, ihre Standes- und Ehrlosigkeit eine große Freiheit in der Kleidung. Ihnen war gestattet, was ehrbaren, ständisch gebundenen Leuten durch Kleiderordnungen eigentlich verboten wurde: das Tragen mehrfarbiger, buntscheckiger und gestreifter Kleider. Unter den zahlreichen mittelalterlichen Darstellungen von Spielleuten in solch farbenprächtigen Kleidern 134 ragt eine Miniatur aus der Manessischen Liederhandschrift, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden ist, besonders hervor. Sie zeigt Meister Heinrich von Meißen, gen. Frauenlob als Spielmannskönig, der einer Gruppe von Spielleuten vorsteht. Sowohl er selber als auch die meisten der Musikanten tragen quer- und diagonalgestreifte Gewänder in allen Farben 135 (Abb. 30). (3) Quergestreifte Kittel und diagonalgestreifte Beinlinge tragen auch die Bauern, die eine weitere Miniatur der Manessischen Liederhandschrift zusammen mit Neidhart von Reuental, dem Begründer der dörperlichen Dichtung, zeigt (Abb. 31). Zusammen mit den Dolchen und Schwertern, welche die Bauern tragen, aber eigentlich Standesattribute des Adels sind, verweisen diese bunten Kleider auf eine Übertretung gesellschaftlicher und moralischer Normen. 136 Während nun die gestreiften Kleider der Spielleute durchaus Abbild der Realität sein können, sind diese Streifen in erster Linie ein ikonographischer Code. Auf dieser Illustration zu denjenigen Liedern Neidharts, in welchen er die tölpelhaften Bauernburschen und ihr hoffärtiges Benehmen verspottet, stehen die Streifen generell für Abweichung und Unordnung. In der Fiktion werden Streifen somit auf ihre zentrale Funktion reduziert, >schlechte< Menschen, und das heißt, vor allem solche Menschen zu kennzeichnen, welche, wie diese Bauern, in ihrem Verhalten gegen die gottgegebene Gesellschaftsordnung sowie auch moralische Normen versto-

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Vgl. dazu oben S.215. Vgl. dazu die Abbildungen in Bachfischer, Musikanten, Gaukler und Vaganten, v.a. auf S.36,41,53,71 etc. In der Manessischen Liederhandschrift zeigen noch weitere Miniaturen buntgekleidete Spielleute. Es sind dies Tafel 4 (neben den Spielleuten trägt auch der thronende König Wenzel II. von Böhmen als bekannter Schirmherr der Spielleute ein diagonalgestreiftes Gewand), Tafel 6 (Markgraf Otto spielt mit seiner Dame Schach; gleichzeitig werden sie durch vier Spielleute unterhalten) und Tafel 126 (der Sänger Rubin von Rüdeger trägt einen einseitig gestreiften Mi-parti-Ärmelrock). Abgebildet sind diese Miniaturen in: Codex Manesse. Die Miniaturen, S. 9,13 und 259. Zum Ausdruck gebracht wird die Diskrepanz zwischen dem Verhalten sowie der Aufmachung der jungen Bauern und ihrer sozialen Stellung auch durch die Physiognomie vor allem der beiden Figuren rechts auf dem Bild. Bereits die Darstellung im Profil normalerweise werden im Mittelalter Gesichter in der 3/4-Ansicht gezeigt - deutet auf Inferiorität (oder auch auf das Böse im allgemeinen) und darüber hinaus im besonderen das stark ausgeprägte Kinn, die Knollennase und der große Mund. Zur mittelalterlichen Bildersprache vgl. Garnier, Le langage de l'image au moyen âge.

Abb. 30

Meister Heinrich Frauenlob mit einer Gruppe von Spielleuten, Miniatur aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift, fol.399r, Heidelberg UB: Cod. pal., Germ. 848 (Codex Manesse). Foto: Universität Heidelberg, Universitätsbibliothek

per ttttter.

Abb. 31

Herr Neidhart wird von Bauern bedrängt, Miniatur aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift, fol.373r, Heidelberg UB: Cod. pal., Germ. 848 (Codex Manesse). Foto: Universität Heidelberg, Universitätsbibliothek

232 ßen. 137 Hier wird nicht die soziale Realität abgebildet; diese Miniatur und die Lieder Neidharts sind jedoch Ausdruck einer sich abzeichnenden gesellschaftlichen Umschichtung: des langsamen Niedergangs des Ritterstandes und eines selbstbewußter werdenden Bauerntums wie auch des beginnenden Aufstiegs der Städte. Seit Neidhart gehört die Übernahme von Kleidungsstücken höherer Stände zur literarischen Topik der Bauernschelte, seit dem 15. Jahrhundert vor allem auch in den städtischen Fastnachtspielen. Die literarischen Darstellungen des Bauern als dumm, töricht und närrisch sind jedoch nicht, und darin ist man sich in der Forschung weitgehend einig, im Sinne einer höfischen und bürgerlichen Polemik gegen die Bauern als Stand zu verstehen. Ebenso geben sie kein Abbild der bäuerlichen Welt wieder. 138 Der sozialen Wirklichkeit näher stehen im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn des 16. Jahrhunderts jedoch diejenigen Stimmen, welche sozialen Aufsteigern - und das sind zu dieser Zeit vor allem die wohlhabenden Bauern 139 - , die zu Geld gekommen waren und dies unter anderem in einer besseren Kleidung zum Ausdruck bringen wollten, eine Verletzung gesellschaftlicher und moralischer Normen zum Vorwurf machten. Diese Situation des Aufstiegs bäuerlicher Schichten spiegeln auch einige Kleiderordnungen wider, gestatten sie den Bauern doch um und nach 1500 bereits seidene Gewandteile. 140 Dies zeigt, daß sich diese Ordnungen, um nicht völlig unbeachtet zu bleiben, wenigstens ein Stück weit den Zeitumständen anpassen und Konzessionen machen mußten. In der Kostümforschung gelten besonders die 20er Jahre des 16. Jahrhunderts denn auch als eine Zeit, in der die Standesunterschiede in der Kleidung kleiner waren als je zuvor.141 Diese Nivellierung in der Kleidung stellte für konservative Kritiker eine Gefahr für die Stabilität der ständischen Ordnung dar. Vor allem der Konnex von Bauer und Seide wurde

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Pastoureau (Des Teufels Tuch, S. 22) verweist auf Figuren in vulgärlateinischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts, im Heldenlied und im höfischen Roman, welche als schlecht oder böse gelten und mit gestreiften Emblemen oder Kleidungsstücken versehen sind: »Unbotmäßige Ritter, usurpatorische Seneschalle, ehebrecherische Frauen, rebellische Söhne, meineidige Brüder, grausame Zwerge, habgierige Diener, alle können [...] gestreifte Kleider tragen.« Zur Darstellung des Bauern als Narr im Fastnachtspiel vgl. u.a. Ragotzky, Der Bauer in der Narrenrolle; zum Verhältnis von literarischer Darstellung und sozialer Realität des Bauern vgl. Wunder, Der dumme und der schlaue Bauer. Vgl. Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit, S.300. Vgl. Kühnel, Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung, S. 26. Vgl. dazu Thiel, Geschichte des Kostüms, S. 168. Eine Rückwendung zu den höfischen Moden, die von Spanien ausging, fand erst nach der Niederlage der sozialen Bewegungen und dann vor allem nach dem Einsetzen der Gegenreformation statt. Diese Rearistokratisierung kündigte sich bei den Schuhen bereits in den 30er Jahren an: Sie begannen sich wieder zuzuspitzen (ebenda, S. 172).

233 geradezu als Widerspruch in sich empfunden und immer wieder beanstandet, so auch von Sebastian Brant, im 82. Kapitel seines Narrenschiffs: Die buren tragen syden kleit Vnd gulden ketten an dem lib Es kunt da har eyns burgers wib Vil stóltzer dann eyn gräfin düt. 142 Ähnlich formuliert neun Jahre später Valerius Anshelm sein Unbehagen an der Verwischung von ständisch festgelegten Kleiderprivilegien, wenn er kritisiert, daß »ietz [...] ouch d'buren [hond] angfangen siden tragen« und daß die Seide jetzt auch in »stal und kûche kommen« sei. 143 Unstandesgemäßes Verhalten zeigen die Bauern für Sebastian Brant jedoch nicht nur in der Verwendung kostbarer ausländischer Stoffe, sondern auch in der Verarbeitungsweise und der Farbwahl der Kleidung: Jn [den Bauern, A.d.V.] schmeckt der zwilch nit wol / als ee Die buren went keyn gyppen me Es muß sin lündsch / vnd mechelsch kleit Vnd gantz zerhacket / vnd gespreit Mit aller varb wild / über wild.144 Vor allem diese von Brant beschriebene, infolge der Schlitzung und der Unterlegung mit andersfarbigen Stoffen sehr farbige Kleidung der Bauern stellte eine krasse Verletzung der ständischen Kleiderordnung dar, wurde ihnen doch während des ganzen Mittelalters nur das Tragen von naturfarbenem sowie grauem, braunem oder an Festtagen von blauem Zeug erlaubt. 145 Sowohl bei Brant als auch Anshelm steht das Streben nach sozialem Aufstieg und damit verbunden nach einem höheren Einkommen mit einem Niedergang ethischer und moralischer Werte in direktem Zusammenhang. Brant beklagt die verlorene Einfalt und Gerechtigkeit in der Welt, seit »[d]die buren stecken gantz voll gelt« 146 , und Anshelm zitiert einen Reim, der zum Streben nach Geld auffordert und der gerade auch von sonst ehrbaren Personen beherzigt werde:

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Brant, D a s Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.213, v. 3 9 ^ 2 . Vgl. auch oben in Kapitel 9.3.2, S. 167. Anshelm, Die Berner Chronik, 2. Bd., S.389f. Brant, D a s Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.213, v. 14-17. Vgl. Nixdorff/Müller, Weiße Westen - Rote Roben, S.39; vgl. auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 181. Farbenprächtige Kleider waren ein Privileg des Adels. Im Ritterspiegel des Johannes Rothe (Anfang 15. Jahrhundert) heißt es etwa: »Über den Körper eines Ritters ziemt sich wohl ein buntes Kleid« (zitiert nach ebenda, S. 181). Als besonders vornehm galt die Farbe rot. So war denn auch eine der Hauptforderungen von Bauern in Thüringen während des Bauernkrieges, auch rote Schauben tragen zu dürfen. Vgl. Boehn, D i e Mode, S. 192. Brant, D a s Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.213, v. 24.

234 Wags, lüg um gelt So koufstu d'welt! Schlecht, from schaft nut: List, falsch gwint d'but. 147 Im wörtlichen Sinn des Teufels sind alle sich nicht an den strengen StändeOrdo haltenden Menschen in der anonymen in vier Fassungen überlieferten Ständerevue Des Teufels Netz, die in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts im schwäbischen Bodenseeraum entstanden sein dürfte. 148 Hier kommt kein Stand ungeschoren weg, doch besonders große Sünden begehen diejenigen Menschen, welche ihren Geburtsstand nicht als von Gott gegeben hinnehmen. So heißt es von einem Bauernsohn, der nicht bereit ist, das karge Leben seiner Eltern fortzuführen: Wan man hat wuocher gar so werd Darum sin menger begert Des vatter und muoter warent biderbluot Und begiengent sich mit hacken und rüten Und hand im ain klain gelan Da facht er mit wuochern an Das kain sin vorder hat getan Und ist er derselben lüt Und wil weder hacken noch rüten Und wil sich mit wuocher began Und treit geteilt hosen an Und tuot in aim langen mantel schwenken Und tuot lützel bedenken Das sich sin vatter mit eren began Und trug zwen alt stiffel an Und liesz sich der wol begnügen Und alles daz das im gott hett zuofügen Das bestuond er als ain biderbman. 149 Seinen anvisierten sozialen Aufstieg versucht der Sohn auch in der Kleidung zum Ausdruck zu bringen. Deshalb trägt er Mi-parti- oder gestreifte Hosen und einen langen Mantel, Kleidungsstücke, die seinem angeborenen Stand

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Anshelm, Die Berner Chronik, 2. Bd., S.391. Vgl. dazu Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur, S. 712-714; VL, Bd. 9, Sp.723727. - Im Dichter kann man einen Mann vermuten, »der zwar in enger Beziehung zur Geistlichkeit stand, vielleicht selbst Kleriker war, aber mit seiner radikalen Haltung oder gar mit persönlichem Asketentum sich außerhalb der Institutionen fühlen konnte« (Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur, S.714). Barack (Hg.), Des Teufels Netz, S.287, Anmerkung. Diese Textstelle erscheint nur in den beiden Handschriften Β und C aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts und von 1449, welche in Neustadt/Aisch und Augsburg (cod. Oettingen-Wallerstein) aufbewahrt werden. Vgl. VL, Bd. 9, Sp. 723-726.

235 nicht gemäß sind. Wegen seines Hochmuts und seiner Hochstapelei wird er denn auch in des Teufels Netz gefangen. Sowohl dieser anonyme Autor als auch Anshelm und Brant tadeln diejenigen, welche etwas anderes sein wollen, als was sie qua Geburt sind, und damit gegen eine von Gott gegebene Ordnung verstoßen. Sie verweisen damit auf real existierende Rivalitäten innerhalb der Gesellschaft. In einer Zeit vermehrter sozialer Mobilität gilt es, das Erreichte zu bewahren und sich nach unten abzugrenzen. Und da das Durchbrechen bestehender Kleidercodes eine Gefahr für die in solchen Zeiten nicht sehr stabile soziale Ordnung darstellt, haben die Ständedidaxen, Moralschelten und Narrensatiren die Intention, die soziale Ordnung zu stabilisieren. Daß die zitierten bäuerlichen Kleiderschelten nicht bloß in der Tradition der literarischen Bauernsatire stehen, sondern durchaus ein Stück weit Abbild der Realität sind, zeigt sich vor allem darin, daß sie zum Teil wortwörtlich mit entsprechenden Stellen aus Kleiderordnungen übereinstimmen. In der Reichsordnung von 1530 wird den »Bawerssleuten auf dem land« unter anderem vorgeschrieben: Vnd erstlich setzen / ordnen vnd wollen wir / dass der gemeyn Bawerssman / vnd arbeyte leut / oder tagöner auff dem land / keyn ander dücher / dan inlendisch / so in Deutscher nation gemacht. Doch stammet / lündisch / mechlisch / lirisch / vnd dergleichen gemeyne dücher / aussgescheyden / tragen vnd anmachen mögen. Vnd die röck nit anders / dan zum halben waden / auch daran nit über sechs falten machen lassen sollen. Doch mögen sie hosen von eynem lündischen / lirischen oder mechlischen douch / nach dem das selbig / seiner art nach / zu hosen wierig / vnd eyn barchen Wammes / on grosse weite ermein / machen lassen aber in alle weg vnzertheylt / vnzerschnitten vnd vnzerstükkelt.150 Geht man nun davon aus, daß sich diese Kleidervorschriften an der Realität orientieren, und das heißt, daß sie einerseits zu Konzessionen, wie der Verwendung gewisser ausländischer Stoffe, bereit sind, andererseits aber ganz klare Verbote, was die Menge und die Verarbeitung der Stoffe angeht, aussprechen, zeigt sich, daß vor allem die Brantsche Beschreibung der - in seinen Augen unstandesgemäßen - bäuerlichen Kleidung der Realität durch-

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Zitiert nach Thiel, Geschichte des Kostüms, S. 184, aus: »Des Heyligen Rom. Reichs Ordnungen. Sampt der Guldin Bull. u. aller Reichstäg Abschiden. Worms, Sebastian Wagner, 1536. Fol. Blatt 175ff.: Reformation guter Policei zu Augsburg 1530. auffgericht.« - Die Bürger der Städte werden in dieser Kleiderordnung in drei Gruppen eingeteilt: die gemeinen Bürger und Handwerker, die Kauf- und Gewerbsleute sowie die alteingesessenen Geschlechter und solche Bürger, welche im städtischen Rat sitzen. Wie den Bauern werden auch der untersten Schicht der Bürger »zerstückelt / zerschnitten [...] kleyder« (ebenda, S. 185) verboten. Nicht erwähnt wird jedoch, wie noch bei den Bauern, daß die Kleidung ungeteilt (»vnzertheylt«) zu sein habe. Keine Erwähnung findet diese modische Kleidung hingegen bei den beiden höher gestellten Schichten. Ihnen wurde somit diese farbenprächtige Kleidung nicht verboten.

236 aus entsprechen konnte. 151 Auch der Bauer auf dem Titelholzschnitt der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur mißachtet die hier formulierten Vorschriften: Sein in tiefe Falten gelegter Kittel hat modisch weite - geschlitzte? - Puffärmel. 152 Moralprediger beschreiben und verurteilen somit eine soziale Wirklichkeit und setzen dieser eine längst überkommene, sich zum Teil noch am Dreiständemodell orientierende Ordnung als Ideal gegenüber. 153 Sie setzen Statik gegen Dynamik. Auch wenn die strenge Hierarchie der ständisch gegliederten Gesellschaft auch während und nach der Reformation nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde - und sich auch nicht grundsätzlich änderte - , zeugen doch ständische Morallehren und Narrensatiren, aber auch Kleiderordnungen von einer in Bewegung geratenen, sich in Stadt und Land verstärkt ausdifferenzierenden Gesellschaft. Um so mehr galt es deshalb, gerade auch in der Kleidung neu gezogene Grenzen abzusichern und zu verteidigen. Und auf besonderen Widerstand mußte dabei eine modische, bunte Kleidung bei Bauersleuten stoßen, hatten sich deren Kleider nach herkömmlichem Verständnis doch vor allem durch Einfachheit, Funktionalität und Strapazierfähigkeit auszuzeichnen. Aus mehreren Stoffen zusammengesetzte, gestreifte und geschlitzte Kleidung war, wie gezeigt werden konnte, um die Jahrhundertwende vom 15. zum 16. Jahrhundert sehr en vogue. Waren noch im Hochmittelalter farbenprächtige Kleider ein Privileg vor allem junger Adeliger, bemächtigten sich gegen Ende des Mittelalters auch die Bürger immer mehr der Farben. Vor allem gestreifte und etwas später dann auch geschlitzte Hosen galten als Zeichen für modisches Bewußtsein, Vornehmheit und Eleganz. Andererseits deuteten gestreifte Kleidungsstücke aber immer auch auf Außenseiter, ja wurden solchen, wie beispielsweise den Henkern, geradezu verordnet, damit diese als ehrlos erkannt werden konnten. Sei das nun der modisch gekleidete Bürger, ein Henker oder ein Spielmann, Streifen fallen immer auf, heben hervor und stellen aus. Beim selbstbewußten Bürger sind sie Ausdruck von Modebewußtsein, Vornehmheit und Wohlstand. Die Streifen der Henkers- und Spielmannskleidung hingegen bringen ihre inferiore und randständische Position zum Ausdruck. Immer Zeichen von Hoffart und von einem extremen Verhaftetsein in der Welt und damit von Gottesferne sind modische, mehrfarbige, gestreifte und geschlitzte Kleider für die vielen Moralprediger sowohl des Spätmittelalters als auch der Reformationszeit. Gestreifte Oberflächen mit der ihnen inhärenten Zweideutigkeit - im Gegen-

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Vgl. oben S.232Í. Vgl. Abb. 6. So ist für den anonymen Autor von Des Teufels Netz das gesamte Handel betreibende städtische Bürgertum, obwohl bereits eine selbstverständliche Wirklichkeit, des Teufels.

237 satz zur Eindeutigkeit einfarbiger Oberflächen - bedeuten für sie Unordnung und soziale und/oder moralische Verfehlung. Somit läßt sich am Beispiel gestreifter Kleidung besonders schön zeigen, wie weit gelebte Realität und Moralvorstellungen zu jener Zeit auseinanderklaffen konnten. Je modischer und beliebter gestreifte und geschlitzte Kleidung bei fast allen Ständen wurde, um so mehr wurde sie bekämpft. Inwiefern sich diese ambivalente Haltung gegenüber gestreiften Oberflächen auf die Semantik des metaphorischen >gestreift< auswirkte, wird zu zeigen sein. Daß das metaphorische >gestreift< in direktem Zusammenhang steht mit der Mode der geteilten, gestreiften und geschlitzten Kleider, zeigt sich besonders auch darin, daß beide nicht nur gleichzeitig ihre Blütezeit erleben, sondern ebenso gleichzeitig nach der Mitte des 16. Jahrhunderts langsam verschwinden. Während jedoch >gestreift< seither nie mehr im übertragenen Sinn gebraucht wurde, erlebten gestreifte Stoffe gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Wiedergeburt. Jetzt sind es die revolutionären Streifen, die, aus Amerika kommend, in Europa auf fruchtbaren Boden fallen.154

10.3

Zum metaphorischen >gestreift< und zu seiner Semantik

10.3.1 >Gestreift< in Narrendichtung und Moralpredigt Am frühesten 155 findet sich >gestreift< im übertragenen Sinn im 57. Kapitel des Narrenschiffs von Sebastian Brant aus dem Jahr 1494: Man fyndt gar manchen narren ouch Der ferbet vß der gschrifft den gouch Vnd dunckt sich stryffecht vnd gelert So er die bucher hat vmb kert Vnd hat den psaltter gessen schyer Biß an den verß / Beatus vir Meynend / hab got eym güts beschert So werd jm das nyemer entwert.156 Der in diesem Kapitel gerügte Narr, der glaubt, »stryffecht vnd gelert« zu sein, gehört zu der nicht kleinen Gruppe von Brantschen Narren, bei denen

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Vgl. dazu und zur weiteren Entwicklung der Ikonographie und Symbolik der Streifen bis in unsere Zeit Pastoureau, Des Teufels Tuch, S. 60-130. Textsorten- und gattungsspezifische Kriterien bestimmen hauptsächlich den Aufbau dieses Kapitels. Dies führt gleichzeitig dazu, daß die Abfolge der besprochenen Texte mit wenigen Ausnahmen - auch weitgehend der Chronologie ihrer Entstehung entspricht. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S. 139, v. 1-8. - Das Adjektiv »stryffecht« (mhd. stnfecht) ist ein Synonym von >gestreiftgestreift< heranzuziehen. So lautet die entsprechende

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Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S. 140, v. 15. Während im Schweizerischen Idiotikon (Staub/Tobler, Bd. 11, Sp.2142) auch eine Beziehung zwischen der Kleidung und dem übertragenen >gestreift< angenommen wird, wie auch von Schmidt (Historisches Wörterbuch der Elsässischen Mundart, S.343: »Nur Layen und zumal vornehme trugen gestreifte Kleider; das Wort ist daher synonym mit vornehm.«), wird eine solche im Deutschen Wörterbuch (DWb 10, 3, Sp. 1262) gerade im Zusammenhang mit der Verwendung des metaphorischen >gestreift< im Narrenschiff als unwahrscheinlich betrachtet. Friedrich Zarncke (Brant, Narrenschiff, hg. von Zarncke, S.392) verweist in seinem Kommentar zu diesem Wort auf das Verbot für Geistliche, gestreifte Kleider zu tragen (vgl. dazu oben in Kapitel 10.2, S.218). Dagegen habe man vornehme Laien, weil sie bunte, gestreifte Kleider trugen, >gestreift< genannt. So überträgt denn auch Junghans (Brant, Das Narrenschiff, hg. von Mahl, S.202) »stryffecht« mit »vornehm«. Diese Übersetzung ist ausschlaggebend für den europäischen Erfolg des Narrenschiffs, ist sie doch Vorlage für die zahlreichen Übersetzungen in die französiche, niederländische und englische Sprache. Ein Verzeichnis der Ausgaben mit kurzen Kommentaren dazu gibt Manger, Das Narrenschiff, S. 66-94. Vgl. Stierle, Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung, S. 182.

239 Stelle des Kapitels mit dem Titel »De predestinatione« in der lateinischen Übersetzung folgendermaßen: Ignaui qui sunt: qui vix elementa sacrarum Gustarunt legum: docti tarnen atque periti Esse volunt: librosque reuoluunt: more sinistro.162 Aus »stryffecht vnd gelert« wird im lateinischen, für eine gebildete Schicht geschriebenen Narrenschiff, »docti [...] atque periti«. Und >peritus< bedeutet soviel wie >erfahrenpraktischkundig< und >gescheitgestreift< nur im alemannischen Sprachraum Verwendung fand, wie die überlieferten Textzeugen dies vermuten lassen, war der unbekannte Übersetzer gezwungen, »stryffecht« zu umschreiben: Men vyndet ghar manigen narren ock De vth der hylgen schryft. maket eynen goek [...] He duncket syk schriftkloek vnd ghelerd So he de boeke heft vmme ghekerd. 164 Auch hier wird aus der im Original noch hauptsächlich die äußere Erscheinung charakterisierenden Wendung eine Eigenschaft, welche zum Bereich der geistigen Fähigkeiten gehört. Von einem sich modisch in Streifen kleidenden Menschen, der mit der Zeit geht und somit beweglich ist, wird demnach auch angenommen, daß er gescheit ist, daß er aufgrund eigener Übung und Anschauung sich kundig macht und erfahren wird. Damit zeigt sich bereits hier der weite Bedeutungsspielraum des metaphorischen >gestreiftgemeinem Mann< und Gelehrtem. Indem nun in der Originalausgabe des Narrenschiffs zum Bildelement »stryffecht« das zum gleichen Bildfeld gehörende Bildelement »ferbe[n]« 165 tritt, deutet sich bereits hier das negative Bedeutungspotential dieser metaphorischen Wendung an. Der

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Brant/Locher, Stultifera Nauis, Bl. LXV V . Vgl. Manger, D a s Narrenschiff, S.87f. Brant, Dat narren schyp, Bl. CXX V . Vgl. dazu oben in Kapitel 10.1, S. 201-204.

240 Narr versucht, seine Narrheit mit Hilfe der Schrift >einzufärbengestreift< in einer Predigt Johannes Geilers von Kaysersberg (1445-1510)166 über ein Kapitel des Narrenschiffs. Vom Sonntag Quinquagesima des Jahres 1498 bis zum Sonntag drei Wochen nach Ostern 1499 - mit einem Unterbruch zwischen dem 24. Sonntag nach Pfingsten und dem Dreikönigstag des Jahres 1499 - hielt Johannes Geiler von Kaysersberg 136 Predigten im Straßburger Münster über das Brantsche Narrenschiff}61 Herausgegeben wurden sie erst 1510 in lateinischer Sprache durch Jakob Otther (um 1485-1547), der Geiler von 1507 bis zu seinem Tod am 10. März 1510 zur Seite stand. Ob Otther dabei auf deutsche oder lateinische Aufzeichnungen aus Geilers Feder zurückgreifen konnte, ist jedoch nicht bekannt. 168 Diese Nauicula siue speculum fatuorum bildete dann die Vorlage für Des hoch wirdigen doctor Keisersbergs narrenschiff, eine Übersetzung Johannes Paulis, welche 1520 in Straßburg erschien. Während bis vor kurzem eigentlich immer davon ausgegangen wurde, daß die »sorgfältig ediert(e)« Ausgabe Jakob Otthers eine ziemlich exakte lateinische Entsprechung der Predigten Geilers, Johannes Paulis deutsche Ausgabe hingegen nur eine »flüchtige Redaktion« davon darstelle169, wird seit neuestem die These vertreten, »daß Johannes Paulis Übersetzung Geilers Predigten über Sebastian Brants Narrenschiff weitaus authentischer überliefert, als selbst die wohlmeinendsten Pauli-Forscher zu vermuten wagten - jedenfalls weitaus authentischer, als die bislang für Geilers Intentionen eher entsprechend gehaltene Navícula fatuorum Jakob Otthers das tut«.170 Diese These stützt sich vor allem auf die Tatsache, daß sich sowohl Geiler in seinen Predigten als auch Pauli in seiner Übersetzung an ein illiterates Publikum wandten, während Otther seine Nauicula fatuorum an die Gebildeten richtete.171

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Zu Geiler vgl. VL, Bd. 2 (1980), Sp. 1141-1152 (Herbert Kraume). Siehe dazu Manger, Das Narrenschiff, S. 84. Vgl. dazu Bauer, Die Predigten Johannes Geilers von Kaysersberg, S. 94. Manger, Das Narrenschiff, S. 83. Bauer, Die Predigten Johannes Geilers von Kaysersberg, S. 109. Zur Forschungslage und zum Verhältnis der Ausgaben von Otther und Pauli vgl. ebenda, S. 103-109. Pauli (Geiler von Kayserberg, Des hoch wirdigen doctor Keisersbergs narrenschiff) äußert sich in der Vorrede selber zu diesem Unterschied: [Cr] »Auch hat er [gemeint ist Pauli, A.d.V.] mit willen vil auctoritates vnd inztig der geschrifft vnderwegen gelasen / vß vrsachen wan ein doctor zu Zeiten gar anders schreibt in ein buch / vnd auch dar neben anders prediget dem volck / als die biicher beweren deren die da biicher geschriben vnd geprediget hond.« Diese Vorrede ist abgedruckt in Heger (Hg.), Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 1. Teilbd., S. 124f.

241 Auch anhand der hier interessierenden Stelle aus der Predigt über die 66. Narrenschar 172 läßt sich zeigen, daß Pauli vor allem für die Laien übersetzt hat. 173 Diese Stelle aus der »Sextagesimasexta turba stultorum«, welche die Schar der »ween narren« 174 - solcher Narren, die wähnen, weise zu sein, es aber nicht sind - bilden, lautet bei Otther folgendermaßen: Cecitatem suam hij non cognoscunt / instar fatuelle de qua Seneca scribit: que cum esset subito ceca facta / putabat domum esse tenebrosam. Alij cecitatem cognoscunt nemo est qui nesciat se cecum si cecus est / sed superbi hoc nesciunt / vt in Summa vitiorum. Literati qui se doctos existimant: similiter laici maculati vt pardus (Gestreyflet leygen) doctrinas negligunt: non audiunt praedicationes et sic periculosissime pereunt: Petrus amputauit aurem serui sacerdotis: id est praesumpta scientia siue cognitio / aufert sacerdotibus et seruis eorum: id est laicis semidoctis aurem audientie praedicationis. Joan, ix175.176 Und nun dieselbe Stelle in der Übersetzung von Pauli : Dise erkennen ir blindheit nit / als ein tochter ein nerrin von deren Seneca saget die ward schnei blind / sie woltes aber nit glauben / das sie blind wer / sie sprach das huß wer also dunckel also ist es noch / niemantz will blind sein vnd yederman sich vnser blindheit / vnnd vnwüssenheit / den allein er selber nit / das macht die hoffart / als da seint die gestreifletten leyen / die hören kein predig vnd also verderben sie ellentlich Petrus der heuwe des bischoffs knecht ein or ab / das ist die priester vnd ir knecht / vnd ander halb gelert die das or verloren haben / damit sie predig hören solten Johannis.ix.177 Verschiedene Indizien verweisen auf die unterschiedlichen Adressaten der beiden Texte. Die primäre Ausrichtung Paulis auf den illiteraten Leser zeigt sich einerseits darin, daß er, obwohl in der Vorlage beide, sowohl die »[l]iterati« als auch die »laici«, gleichzeitig angeklagt werden, sich nur an die »leyen« wendet, die Gelehrten hingegen ausklammert. Breiter ausgeführt wird die lateinische Vorlage hingegen dort, wo eine knappe Formulierung der lateinischen Vorlage besser verständlich werden soll (»sie woltes aber nit glau-

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Diese Predigt entspricht Kapitel 67 des Brantschen Narrenschiffs mit dem Titel »Nit wellen eyn narr syn«. Vgl. die Synopse in Manger, Das Narrenschiff, S. 191. - Zum Verhältnis zwischen diesem Kapitel des Narrenschiffs und der Geilerschen Predigt vgl. weiter unten in diesem Kapitel, S. 243-245. Zur Übersetzungspraxis Paulis allgemein vgl. Bauer, Die Predigten Johannes Geilers von Kaysersberg, S. 107f. Geiler von Kaysersberg, Nauicula siue speculum fatuorum, Zijv. (Jede Predigt Geilers handelt über eine bestimmte Narrenschar, die benannt wird und deren lateinischer Bezeichnung in der Ausgabe Otthers je eine deutsche Übersetzung in Klammern beigefügt ist.) - Ich stütze mich hier auf den Erstdruck von 1510, dem noch zwei weitere (1511 und 1513) folgten. Vgl. dazu VL, Bd.2, Sp. 1146. Vgl. Johannes 18,10. Geiler von Kaysersberg, Nauicula siue speculum fatuorum, Ziij". Geiler von Kayserberg, Des hoch wirdigen doctor Keisersbergs narrenschiff, Zijr.

242 ben / das sie blind wer«) oder wo ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß das von Seneca stammende Exempel auch für die damalige Gegenwart noch absolute Gültigkeit habe (»also ist es noch«). Ebenfalls dem besseren Verständnis dient der Einschub »vnnd vnwüssenheit«, stellt er doch die Verbindung her zwischen dem Exempel, das von der Blindheit spricht, und der Anklage des Predigers an die Adresse der »gestreifletten leyen«, die glauben, über genug Wissen zu verfügen und deshalb die Predigt verschmähen zu können. Auch in der Nauicula siue speculum fatuo rum erscheinen die »Gestreyflet leygen«; sie werden in Klammern dem lateinischen Text hinzugefügt. Ob es sich dabei um die originale Formulierung Geilers handelt, und, wenn dem so ist, Otther versucht hat, diese Wendung sinngemäß in die lateinische Sprache zu übersetzen, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Jedenfalls sind für den Prediger Geiler oder seinen Übersetzer die halbgebildeten Laien (»laici[s] semidoctifs]«), welche sich der Lehre und den Predigten der Geistlichen verweigern, nicht bloß »[gjestreyflet«, sondern - gewissermaßen als dessen Steigerungsstufe - gefleckt wie ein Panther oder Leopard (»maculati vt pardus«). Da nun Pauli diesen Vergleich des sich von der richtigen Lehre vermittelt durch die Geistlichkeit - abwendenden Laien mit einem gefleckten Tier wegläßt, kann man davon ausgehen, daß dem Leser, der Leserin von Paulis Übersetzung diese Konnotation von >gestreift< in der Verbindung »gestreiflette(n) leyen« und in einem solchen Kontext durchaus vertraut war. So standen denn auch in der mittelalterlichen Kultur das Gestreifte und das Gefleckte nahe beieinander auf der negativen Seite der Werteskala.178 Das zeigt sich unter anderem darin, daß sowohl gestreifte Tiere, wie etwa das Zebra, als auch gefleckte, wie die Katze oder der Leopard, als gefährlich, grausam und teuflisch galten.179 So erstaunt es nicht, wenn der sich von der

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Siehe dazu ausführlich Pastoureau, Des Teufels Tuch, S. 28-36. - Pastoureau nennt neben dem Einfarbigen, das den gestreiften, gefleckten und unterteilten Oberflächenstrukturen diametral gegenübersteht, auch noch das Gestreute, die regelmäßige Verteilung kleiner Muster oder Motive auf einer einfarbigen Oberfläche, als gleichsam »verdichtetes, aufgewertetes Uni«, dem »etwas Feierliches, etwas Majestätisches, ja sogar etwas Heiliges« zukomme (ebenda, S.30). Vgl. Pastoureau, Des Teufels Tuch, S. 14 und S.34f. Vgl. auch oben in Kapitel 10.2 die Fußnote 97. Auch in der Emblematik kann der Panther für die Wildheit, die Unersättlichkeit, die Tyrannis, ja die Unveränderlichkeit des Bösen an sich stehen. Vgl. dazu Emblemata, Sp. 404-407. - Diesem sehr negativen Bild des Panthers seit dem Hochmittelalter (vgl. Pastoureau, Des Teufels Tuch, S. 132) kontrastiert hingegen das positive Bild, das der in frühchristlicher Zeit, vermutlich bereits im 2. Jahrhundert, entstandene Physiologus vom Panther zeichnet. Durch seine Buntheit wird er zum Symbol Christi, von dem es heißt: »Ganz bunt ist Christus, der selbst ist Jungfräulichkeit, Reinheit, Erbarmen, Glaube, Tugend, Eintracht, Frieden, Großmut« (Physiologus, S.35f.). Vgl. dazu oben, S. 217, die Behauptung Geilers, Christus habe ein makellos weißes Kleid getragen. Hier zeigt sich, wie unterschiedlich die Buntheit beurteilt werden konnte.

243 Predigt abwendende Laie mit dem zum Bestiarium des Teufels gehörenden Panther verglichen wird: Auch er gehört als hochmütiger, auf sich und die Welt bezogener Narr der Welt des Teufels an. Mit diabolischen und übernatürlichen Kräften in Verbindung brachte man jedoch nicht nur diesen sündigenden, sich nicht an die sozialen und religiösen Schranken haltenden Narren der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Narrenliteratur, sondern auch die anderen Narrentypen, sei das nun der Geisteskranke oder Wahnsinnige, sei das der Gaukler, Spaßmacher oder Fastnachtsnarr, oder sei das der Hofnarr. 180 Und ein ikonographisches, äußeres Merkmal all dieser Narren sind bunte, geteilte, gestreifte oder gefleckte Kleider181, Kennzeichen von gesellschaftlichen oder moralischen Übertretungen. Wenn deshalb in dieser Predigt Geilers über die Schar der sich weise wähnenden Narren der hochmütige, ungläubige, die Belehrung der Prädikanten zurückweisende Laie und Narr, dem das Verderben vorausgesagt wird, >gestreift< genannt und sogar mit einem - gefleckten - Panther verglichen wird, ist es dieser ikonographische Code der Übertretung, der die Bedeutung dieser sprachlichen Bilder festlegt. Hier zeigt sich, wie aus visuellen Zeichen sprachliche Bilder entstehen können. Die Predigt Geilers über die »ween narren« entspricht dem 67. Kapitel des Brantschen Narrenschiffs,182 Auch wenn nun aber beide über das gleiche Thema, die Uneinsichtigkeit der eigenen Narrheit, handeln, ist doch deren inhaltliche Ausführung sehr verschieden. Spricht Brant ziemlich unsystematisch über verschiedene uneinsichtige, sich selbst überschätzende und ihre Umwelt falsch einschätzende Narren, wobei er Exempel aus der griechischen Sage und der Bibel anfügt, bringt Geiler eine systematische Ordnung in seine Predigt, indem er nach einer Einleitung diese Narren in fünf Gruppen einteilt. Entsprechen nun die ersten vier Gruppen oder Schellen, wie Geiler sie nennt - die einzelnen Schellen der Narrenkappe stehen für die verschiedenen Narrentypen - , einzelnen Narren bei Brant, wobei diese jedoch durch Hinweise auf konkrete Sachverhalte und Personengruppen an Gestalt gewinnen, scheint Geiler bei der fünften Gruppe, die am ausführlichsten behandelt wird und zu der die »Gestreyflet leygen« gehören, vollkommen von der Vorlage abgewichen zu sein. Es ist dies die »schel« derjeni-

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Zu den verschiedenen Narrentypen vgl. Bachorski/Röcke, Narrendichtung, S.203f. Siehe dazu z.B. die Abbildungen in Pastoureau, Des Teufels Tuch, S.30 (Geisteskranker in gestreifter Kleidung, Ausschnitt aus flämischer Miniatur, um 1480), S.29 (Hofnarr in Ferrara, Porträt von Gonella, früher Jan von Eyck zugeschrieben, um 1435, Wien Kunsthistorisches Museum) und S. 68 (Fastnachtsnarr in geteilter und gestreifter Kleidung in der Mitte des Bildes von Pieter Brueghel, Kampf des Karnevals gegen die Fasten, 1559, Wien, Kunsthistorisches Museum). Vgl. dazu auch Mertens, Mi-parti als Zeichen, S.37^t6. - Siehe dazu auch oben, S. 227-229, den Abschnitt zu den Spielleuten, die in ihrer Kleidung auch eine gewisse >Narrenfreiheit< genossen. Vgl. oben in diesem Kapitel die Fußnote 172.

244 gen, die »sich hochschetzen yn sunderley kunst«183. Dazu zählt Geiler neben Vertretern der verschiedensten Berufe, Wissenschaften und Künste, die alle glauben, besser als die anderen zu sein, auch diejenigen, die im Zusammenhang mit der »heiligen geschrifft« »zeuil gelert wolten sein / hofften zeuil in ir eigen hirn«, was seit einiger Zeit zu »irrungen vnnd ketzereyen« geführt habe.184 Die eigenen Bibelkenntnisse überschätzt auch der in den einleitenden Versen zum 57. Kapitel des Narrenschiffs von Brant erwähnte, sich »stryffecht vnd gelert« wähnende Narr.185 Vergleicht man dieses Kapitel des Narrenschiffs mit der entsprechenden Predigt Geilers186, sieht man, daß Geiler diese Verse Brants, die eigentlich nicht so recht zum übrigen Kapitel passen wollen - ist das eigentliche Thema doch die Prädestination und nicht die Selbstüberschätzung - , ausklammert. Es scheint nun aber, als habe sich Geiler bei der Ausgestaltung seiner Predigt über die »ween narren« doch noch an diese Verse Brants erinnert, passen sie ja auch sehr gut zum Thema dieser Predigt. Nennt sich aber im Narrenschiff der seine Gelehrsamkeit überschätzende Narr selber »stryffecht«, wird nun in der Predigt der sich der christlichen Belehrung verweigernde Laie »gestreyflet« genannt. Aus einem, der ansehnlich, vornehm, klug und gelehrt zu sein glaubt, wird ein hochmütiger, mit moralischen Makeln versehener und »halb gelert[er]« Narr. Verweist »stryffecht«, wenn ein Laie diese Eigenschaft für sich reklamiert, auf die eleganten Streifen der damaligen Mode, so verweist das von einem konservativen Moralprediger ausgesprochene oder geschriebene »gestreyflet«, vor allem in der Verbindung »gestreyflet leygen«, auf diejenigen Streifen (oder eben auch Flecken), die gesellschaftliche und moralische Grenzüberschreitungen symbolisieren. Bedeutet >gestreift< zu sein für den Laien, vornehm, klug und gebildet zu sein, so verwendet es der Vertreter der Kirche, der seine Autorität gerade durch solche »gestreyflet leygen« in Frage gestellt sieht, im Sinne von >hoffärtigeingebildet< und >halb gelehrte Gerade für solche halbgebildeten, zwar das Lesen und Schreiben in der Muttersprache, nicht jedoch die lateinische Sprache beherrschenden - und auch deshalb >gestreiften< - Laien wird Luther kurze Zeit später die Bibel übersetzen und dadurch den Anspruch der Kirche, alleinige Vermittlerin der Gnade zu sein, radikal in Frage stellen. Und gefördert wurde die reformatorische Bewegung nicht zuletzt durch die Kritik gerade auch solcher halbgebildeter Laien an einer

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Geiler von Kayserberg, Des hoch wirdigen doctor Keisersbergs narrenschiff, Z v . Geiler von Kayserberg, Des hoch wirdigen doctor Keisersbergs narrenschiff, Zijr. - Zuzustimmen ist deshalb der neuerdings vertretenen These, daß die Predigten Geilers keineswegs »die ausführlichste Interpretation des >Narrenschiffs< darstellen« (Manger, Das Narrenschiff, S. 83), sondern vielmehr ganz auf die Bedürfnisse der Kirche und des Predigers zugeschnitten sind. Vgl. z.B. Müller, Das nüv Schiff von Narragonia, S.81. Siehe oben S. 237-240. Es ist dies die 56. Predigt Geilers.

245 Kirche, deren »Fiskalismus« in einem krassen Widerspruch stand zur Frömmigkeit und Heilssehnsucht ihrer Mitglieder. 187 Vielleicht wollen die »gestreyflet leygen«, die Geiler anklagt, die Predigt der Prädikanten ja auch deshalb nicht hören, weil die Diskrepanz zwischen deren Leben und ihren Forderungen zu offensichtlich ist. Jedenfalls sind die in der Flugschriftenliteratur der Reformationszeit eine wichtige Rolle spielenden >gestreiften< Laien, ob sie nun von ihren Gegnern so genannt werden oder sich selbstbewußt selber so nennen, in der Regel durchaus bibelkundige Leute, die versuchen, auch ohne die Vermittlung durch die Kirche ihr Seelenheil zu finden. 188 Wie sehr Johannes Pauli 189 von Johannes Geiler von Kaysersberg fasziniert gewesen sein muß, zeigt sich nicht nur an seinen überaus zahlreichen Editionen von Geiler-Predigten, sondern auch in seiner Geschichtensammlung mit dem Titel Schimpf und Ernst, greift er doch auch hier sehr oft auf Material von Geiler zurück 190 - so auch im Kapitel »Von Schimpff das 97.« mit dem Untertitel »Wan einen ein Lauß oder Floch beißt«. 191 Mit dieser Geschichte rügt Pauli alle diejenigen - und das sind neben Angehörigen des Adels 192 auch die »gestiflette[n] Doctores und gestreiflette[n] Leyen« - , welche den Geistlichen, den »gelerten Lüt«, »hohe seltzame Fragen« stellen, um deren Wissen zu testen: >Wa was Got, ee er Himmel und Erdtreich beschuff? Und wie kan so ein groser Man, als Cristus ist, in dem heiligen Sacrament sein under so ein kleiner Hostien?< Die einzig richtige und der Frage angemessene Antwort auf solche Fragen sieht Pauli darin, ähnlich »dorrechte Fragen« an die närrischen Frager zu richten. So habe »Doctor Keisersperg« in einer solchen Situation folgende Frage gestellt: >Ir lieben Herren und Junckern, sagen mir eins! Wan euwer einen ein Lauß beißt, so wurt ein Blatter da, ein Buhelin, und wan einen ein Floch beisset, so wurt ein Rotzbletzlin da, und wan einen ein Muck beisset, so wurt nichtz da, wie kumpt es?< Und auf ihre Antwort, daß sie es nicht wüßten, habe er gesagt:

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Vgl. dazu Blickle, Die Reformation im Reich, S.33f. Vgl. dazu unten das Kapitel 10.3.3. Zu Johannes Pauli vgl. auch oben in Kapitel 9.3.2, S. 162f. Vgl. Mühlherr, Johannes Pauli, S. 128. Pauli, Schimpf und Ernst, 1. Bd., S.67f. »[D]ie uff den Schlössern und Bergen wonen und geil sein, erschrockenliche und ernstliche Ding finden, davon sie gebessert werden«, sieht Pauli zusammen mit den »geistlichen Kinder[n] in den beschloßnen Klostern« und den »Predicanten« - ihnen soll diese Geschichtensammlung vor allem Exempel zur Hand geben - als die eigentlichen Adressaten seines Buches. Pauli, Schimpf und Ernst (Die Vorred dis Buchs).

246 >So sollen ir euch schammen, das ir die Heimlichkeit Gottes wollen erfaren in dem Himmel, und wißen die dorechten kindlichen Werck nit.gestiefelt< und die illiteraten Laien >gestreift< nennt, zeigt sich, daß auch er im Hochmut die Ursache der eitlen Neugierde sieht, sind dies doch metaphorische Wendungen, die den Zusammenhang von äußerem Erscheinungsbild und geistiger Gesinnung sehr anschaulich zum Ausdruck bringen. Es sind die »gestiflette[n] Doctores«, die herausgeputzten Gelehrten 197 , und die »gestreiflette[n]« Leyen«, die sich vornehm in Streifen kleidenden Ungebildeten 198 , die gerade durch ihre Kleidung sich als hoffärtige, zu sehr am Diesseits orientierte und zu selbstbewußte Menschen zu erkennen geben.

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Alle Zitate Pauli, Schimpf und Emst, 1. Bd., S.67f. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S.413. Vgl. Kraume, Die Gerson-Übersetzungen Geilers von Kaysersberg. Eine Liste der Übersetzungen gibt Kraume in VL, Bd. 2, S.p. 1143f. Vgl. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 413^115. Vgl. DWb 4,2,1, Sp.4232f. - Zarncke (Brant, Narrenschiff, hg. von Zarncke, S.308) zitiert in einem Stellenkommentar zum 4. Kapitel des Narrenschiffs das Sprichwort: »Buntschuh stiffel hört nit zusamen«. Stiefel wurden denn auch vor allem vom reitenden Adel getragen. Die Wendung »gestiflette Doctores« stellt einen interpretativen Kontext für die Metapher »gestreiflette Leyen« dar, legt >gestiefelt< doch nahe, die Ausgangsbedeutung von >gestreift< ebenfalls im Bereich der Bekleidung und der Mode zu suchen.

247 Als besonders hochmütig und unangemessen mußten Geistlichen wie Geiler und Pauli genuin theologische Fragen von Laien wie diejenige nach der Realpräsenz Christi bei der Eucharistie erschienen sein. Die von Laien gestellte Frage: >Und wie kan so ein groser Man, als Cristus ist, in dem heiligen Sacrament sein under so ein kleiner Hostien?gestreiften< Laien in der Predigt Geilers über die 66. Narrenschar 200 die Predigt nicht hören, so konfrontieren sie hier die Geistlichen mit theologischen Fragen, um sie zu »versuchen«, um ihr Wissen auf die Probe zu stellen. So zeigt sich, daß >gestreifte< Laien sich nicht grundsätzlich der biblischen Lehre verweigern, sondern im Gegenteil großes Interesse auch an schwierigen theologischen Fragen zeigen. In jedem Fall sind sie es aber, die durch ihr Verhalten den kirchlichen Lehrbegriff antasten und die klerikale Autorität in Frage stellen. Auch »Der gestryflet ley«, so lautet gleichzeitig der Titel des 61. Kapitels aus Thomas Murners Narrenbeschwörung (1512) 201 , stellt den Geistlichen [...] scharpffe question Von der dryualtigkeiten fron, Ob es ein got sy dry person, Vnd wa gott vnser herre was, Ee er beschüschffe loub vnd graß Ouch wie maria kynn geberen Vnd blyben by iunckfrówlicher eren. 202 Die zweite Frage stimmt sogar inhaltlich mit einer der beiden Fragen in der Geschichte Paulis überein. 203 Ebenfalls von solchen spitzfindigen Fragestellungen wird in Kapitel 27 des Brantschen Narrenschiffs mit dem Titel »von vnnutzem studieren« berichtet. Murner verwendete davon nicht nur den

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Pauli, Schimpf und Ernst, Bd. 1, S.68. Vgl. oben in diesem Kapitel, S. 243-245. Vgl. dazu bereits oben in Kapitel 9.3.2, S. 161f. und S. 164f. Murner, Narrenbeschwörung, S.535. Vgl. oben in diesem Kapitel das Zitat auf S. 245. - D a die Narrenbeschwörung 1512 gedruckt wurde und somit 10 Jahre vor Schimpf und Ernst, kann es sein, daß sich Pauli hier an Murner anlehnt.

248 Holzschnitt für sein Kapitel über den »gestryflet ley«, auch inhaltlich lassen sich einige Parallelen finden, bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen. 204 Bedeutsam sind jedoch die Unterschiede, die deutlich werden lassen, daß in der Narrenbeschwörung ein Bettelmönch und Volksprediger spricht. Sind es bei Murner die »gestryflet leien«, die der Unwissenheit bezichtigten Schüler, die solche Fragen stellen, so sind es bei Brant die akademischen Lehrer selber. Auch handelt es sich im Narrenschiff nicht so sehr um theologische, als vielmehr um philosophische, der Schulung von Logik und Dialektik dienende Fragen. 205 Brant kritisiert grundsätzlich die damals herrschenden Lehrmethoden im grammatischen und philosophischen Unterricht 206 , bei Murner hingegen richtet sich die Kritik nur an die sich zuwenig dem Studium widmenden Schüler. Trägt für Brant auch der schlechte Unterricht dazu bei, daß die Studenten ein liederliches Leben führen und es höchstens zu Drukkergesellen bringen 207 , so tragen für Murner die »verdorbne[n] schüler« 208 die Verantwortung für ihre Unfähigkeit und Unwissenheit ganz allein. Um sich aber doch als Gelehrter ausgeben zu können und um »by synen eren« 209 bleiben zu können, werfe ein solcher ehemaliger Schüler nicht nur bei jeder Gelegenheit mit seinen vier lateinischen Wörtern um sich, sondern stelle eben auch, in der Meinung, sich damit profilieren zu können, den wirklich Gelehrten, den Klerikern, solche Fragen. Diese sind für Murner Ausdruck der Selbstüberschätzung ehemaliger Schüler, die in ihrer Jugend, anstatt sich bloß Vergnügungen hinzugeben, hätten lernen sollen Latyn vnd künstryche gschrifft, Was nutz vnd heil vnd sei antrifft. 210 Während Geiler, wie Pauli in seiner Geschichte berichtet, den hochmütigen Fragen von Adeligen, Gelehrten und eben auch >gestreiften< Laien mit einer ebenfalls spitzfindigen Gegenfrage begegnet, reagiert Murner auf solche Fragen mit der Aufforderung, daß

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Spanier (Murner, Narrenbeschwörung, S.24f.), der Herausgeber der Narrenbeschwörung, stellt die ähnlich klingenden Verse von Kapitel 27 des Narrenschiffs und Kapitel 61 der Narrenbeschwörung einander gegenüber. - Vgl. zur Beurteilung der Abhängigkeit der Narrenbeschwörung vom Narrenschiff oben, Kapitel 9.3.2, Fußnote 136. Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.70, v. 13-15: »Ob es well tag syn / oder nacht / Ob hab eyn mensch / eyn esel gmacht / Ob Sortes oder Plato louff«. - Zarncke (Brant, Narrenschiff, hg. von Zarncke, S. 356) vermutet in diesen drei Fragen »vexierformeln aus der zahl der Insolubilia«, welche Gegenstand sophistischer Disputationen waren, kann sie aber in Lehrbüchern der Zeit nicht nachweisen. Vgl. zu diesen Lehrmethoden des Spätmittelalters ausführlich den Kommentar von Zarncke (Brant, Narrenschiff, hg. von Zarncke, S.346-355). Brant, Das Narrenschiff, hg. von Lemmer, S.70, v. 30: »Der truckery sint wir dann fro«. Murner, Narrenbeschwörung, S. 334, v. 32. Murner, Narrenbeschwörung, S.335, v. 36. Murner, Narrenbeschwörung, S. 335, v. 56f.

249 Sy solten vorhin lernen fragen, Dann kundt man in die antwurt sagen. Ja ein »narr von hohen sinnen« frage Me, dann viertzig gelerter kinnen Antwurt geben vnd berichten, Die krummen fragen wider schlichten. Darumb stat er am narren reien; Man nennet sy gestryflet leien.211 Auch diese »gestryflet leien« stehen, wie diejenigen Paulis, unter dem Vorwurf der superbia und der curiositas. Es sind Laien, die zwar nicht über gute Lateinkenntnisse verfügen, aber durchaus in der Lage sind, den Geistlichen, wenn auch in deutscher Sprache, hochtheologische Fragen zu stellen. Und gerade darin äußert sich für Murner ihr Hochmut und ihre eitle Selbstüberschätzung: Sogar als bloß halbgebildete, der lateinischen Sprache nicht mächtige Laien maßen sie sich an, in Bereiche klerikalen Arkanwissens vorzudringen, stellen doch Lehren wie diejenige der Einheit der Trinität, der Ursprungslosigkeit Gottes und der Jungfrauengeburt dogmatische Grundlagen der katholischen Kirche dar, die, wenn überhaupt, nur von Theologen hinterfragt werden dürfen. 212 Murner verknüpft hier eine allgemeine Moralschelte an die Adresse der sich nicht fleißig dem Studium widmenden, sondern sich lieber vergnügenden Schüler mit einer gezielten Kritik an diesen als »gestryflet leien«. Als ehemalige Studenten mit höchst mangelhaften Kenntnissen, auch der lateinischen Sprache, verfehlen sie den ihnen eigentlich zustehenden Gelehrtenstand; als »gestryflet leien« dringen sie in den geistlichen Kompetenzbereich der Glaubensfragen ein. So verhalten sie sich auf zweifache Weise nicht standeskonform und verstoßen damit gegen das Bedürfnis der Zeit nach klaren Sozialhierarchien: Sie sind zwar mehr als ungebildete Laien und gehören doch nicht zu den Gelehrten, und sie sind Laien im Gegensatz zu den Klerikern, stellen jedoch diese Dichotomie in Frage - sie sind >gestreiftgestreiften< Laien nicht nur die Gehorsamspflicht gegenüber dem geistlichen Stand, sondern sie wollen vor allem auch in religiöse Wissensbereiche vordringen, die der Klerus als Geheimwissen vor ihnen verborgen halten will. 10.3.2 >Gestreift< in deutschsprachiger Fachliteratur Der >gestreift< Laie war nicht nur ein viel gescholtener Protagonist und Adressat von Narrendichtung und Moralpredigt. Daß diese metaphorische Wendung allgemein dazu gedient haben muß, eine bestimmte Gruppe von Laien zu benennen, läßt sich anhand einer Schrift der deutschsprachigen Fachliteratur zeigen, am Spiegel der Arznei von Lorenz Fries.217 Diesem zwar noch von der mittelalterlich-scholastischen Schulmedizin geprägten Werk über Theorie und Praxis der Medizin kommt wegen seiner Deutschsprachigkeit der »Rang einer Frühform der medizinischen Aufklärungsliteratur für den >gemeinen Mann gestreift< auf »die modische Kleidung der Laien« bezieht: »Die Zweifarbigkeit der Kleidung gibt das Bild von halb und halb« (Murner, Narrenbeschwörung, S.549). Zu den im Mittelalter aufgestellten Trennlinien in Fragen des religiösen Wissens vgl. Schreiner, Laienfrömmigkeit, v.a. S.22ff. Schreiner, Laienfrömmigkeit, S. 14. Vgl. Schreiner, Laienfrömmigkeit, S.24. Vgl. zu Fries und seiner Schrift bereits in Kapitel 9.3.4, S. 178-181. Joachim Teile, Artikel »Fries, Lorenz«, in: LL, Bd. 4, S.31. Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Aiir. Der vollständige Titel lautet: »Spiegel der Artzny des geieichen vormals nie von keinem doctor in tiitsch vßgangen ist nützlich vnd gut allen denen so der artzet radt begerent / auch / den gestreiffeiten leyen / welche sich vnderwinden mit arzney vmb zegon. Jn welchem du findest bericht aller hendel der artzney / gezogen vß den fürnemsten bûchera der alten / mit schonen bewerten stücken vnd kürtzwylgen reden / gemacht von

251 welche sich gar leichtlich on wissenheit vnder winden die kranckheit zu artzneien. 221 Ihnen will Fries mit diesem medizinischen Lehrbuch beistehen, will sie damit straffe[n] vnd auch vnderwiße[n] / die vnweysen vngelerten / welche sich dißer kunst so leichtlichen on alles wissen vnderziehen / dar auß dann folget das vil leüten ehe zeit jr leben abgeschnitten wiirt / welches dann ein groß laster von Gott vnd der weit zu achten ist222, wie es in der für die Ausgabe von 1532 neu verfaßten Vorrede heißt, zu der er sich nach dem Vorwurf gewisser Berufskollegen, medizinisches Fachwissen gehöre nicht in die Hände von Laien 223 , veranlaßt sah und in der er deshalb noch einmal seine Gründe für die Veröffentlichung dieses Buches in deutscher Sprache präzisiert. Hauptziel, das Fries mit seinem Spiegel der Arznei verfolgt, ist es, den Laien über die verschiedenen Krankheiten, ihre Ursachen und Erscheinungsformen, zu unterrichten. Von der eigenen Zubereitung von Medikamenten rät er jedoch ab; dies sei Sache der Apotheker. 2 2 4 Zum Elend auf dem Gebiet der Krankenversorgung hat für Fries aber nicht nur das Unwissen der Laien selbst beigetragen, sondern ebenso dasjenige von »[b]lind ärtzt on vernunfft« 225 , von »vngelerten Ärzten«, die »sich annement den krancken zü helffen« 226 , wie »scherer« und »hodenschneider« 227 . Deshalb soll der Spiegel der Arznei diejenigen Laien, welche die Hilfe eines Arztes in Anspruch neh-

Laurentio Phryesen von Colmar / der Philosophy vnd Artzney Doctor« (Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Titelblatt). - Im Titel erscheinen die »gestreiffeiten leyen « als Adressaten außer in der Erstausgabe auch noch in der Ausgabe von 1519 und in derjenigen vom 17. März 1529; in den beiden folgenden vom 18. August 1529 und vom 14. März 1532, die von Otto Brunfels überarbeitet wurden, werden bloß noch die »Leyen« genannt. Vgl. die vollständigen Titelangaben der verschiedenen Ausgaben des Spiegels der Arznei bei Öhlschlegel, Studien zu Lorenz Fries und seinem »Spiegel der Arznei«, S. 107-117. 221 222 223 224

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Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Biii r . Fries, Spiegel der artzney, 1532, Aii r . Vgl. dazu oben in Kapitel 9.3.4, S.179f. Vgl. dazu auch Öhlschlegel (Studien zu Lorenz Fries und seinem »Spiegel der Arznei«, S. 61f.), der betont, daß es sich beim Spiegel der Arznei um kein Hausarzneibuch handle. - Rezeptbüchlein, die dem Laien auch eine Selbstmedikation ermöglichen sollten, gab es jedoch auch schon. So lautet der Titel eines solchen 1529 in Wittenberg und in Erfurt erscheinenden Büchleins: » Apoteck für den gemainen man / der die Ertzte zü ersuchen / am gut nicht vermugens / oder sonst jn der not / albege nicht erraichen kan.« Zitiert nach dem Titelblatt, das abgedruckt ist bei: Schenda, Der »gemeine Mann« und sein medikales Verhalten im 16. und 17. Jahrhundert, S. 11. Fries, Spiegel der Artzny, 1518, C v . Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Cii r . Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Aii r .

252 men können, dazu befähigen, einen guten Arzt, einen »truwen knecht der natur«228, und nützliche Behandlungsmethoden und medikamentöse Therapien erkennen zu können. 229 Der Spiegel der Arznei will aufklären, er will dem Laien ein medizinisches Wissen vermitteln, das es ihm erlaubt, sich vorerst selber ein Bild seiner Krankheit zu machen und somit auch besser abschätzen zu können, welche ärztlichen Maßnahmen geeignet sind. Die Verbreitung von medizinischem Fachwissen auch in Laienkreisen heißt für Fries nichts weniger als Not zu lindern und Leben zu retten. Dies setzt aber lesekundige Laien voraus, was die »gestreiffeiten leyen« sind. So gibt der Laie, mit dem Fries im Spiegel der Arznei ein Gespräch führt 230 , beim Thema über die menschlichen »complexionen« zu verstehen, daß er bereits einiges wisse über die Temperamentenlehre und die Säftemischung, habe er doch als gestreiffter ley /[...] daruon gelesen in dem tütschen kalender / der ist hübsch gemacht [...]. Das Interesse des >gestreiften< Laien muß also nicht erst für die Medizin gewonnen werden. Er liest bereits diejenigen Informationen, die ihm zur Verfügung stehen. Die medizinischen Informationen, die den deutschsprachigen Jahreskalendern meist in einem Anhang beigefügt wurden, waren jedoch nur sehr allgemeiner Art, wobei dem Aderlaß am meisten Platz eingeräumt wurde.232 Der Spiegel der Arznei hingegen, der in seiner Verbindung von Theorie und Praxis dem Bedürfnis medizinischer Laien nach praktischem Nutzen näher kommt, beschreibt den menschlichen Körper und seine Krankheiten detaillierter. So belehrt Fries den Laien denn auch ausführlich über die »vier zusamengesatzten complexionen«, wobei er bemerkt, daß

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Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Ciir. Abgedruckt sind die »Zueignung« und Ausschnitte aus dem Kapitel »Wie der Artzt sol sein«, aus dem die vier letzten Zitate stammen, bei Heger (Hg.), Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 2. Teilbd., S.834ff. Zur Dialogform in Fachprosatexten vgl. bereits oben in Kapitel 9.3.4, S. 178f. Fries, Spigel der Artzny, 1 5 2 9 , 0 . - In der Erstausgabe von 1518 sagt der Laie nur, daß aber nicht wo - er von den »complexionen« gelesen habe. Entweder handelt es sich hier um eine Ergänzung von Fries in der Ausgabe von 1529 oder um ein Versehen des Buchdruckers beim Setzen der Erstausgabe. Vgl. dazu Knopf, Die deutsche Kalendergeschichte, S.33 und 43f. Knopf kommt zum Schluß, daß man die Kalender des 16. und 17. Jahrhunderts nicht mit »>medizinischer Praxis< in Verbindung« bringen könne (ebenda, S. 43). - Vgl. dazu auch Müller-Jahncke, Medizin und Pharmazie in Almanachen und Kalendern der frühen Neuzeit. MüllerJahncke beschreibt in seinem Aufsatz vor allem die Almanache, seit den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts erschienene Einblattkalender (im Unterschied zu den Buchkalendern), die ebenfalls astromedizinische Ratschläge enthalten und besonders häufig »bei Barbierern oder Scherern sowie in Badehäusern Verwendung« fanden (ebenda, S. 36). Dabei berichtet er auch von knappen Merkversen, die empfehlen, »die Säftemischung (>Komplexiongestreifte< Laie, wie er sich im Spiegel der Arznei präsentiert, ist zwar »vngelert« im Vergleich zu den »gelerten«, den akademisch Gebildeten, kann jedoch muttersprachliche Literatur lesen und hebt sich somit gegen unten von den nicht alphabetisierten Laien ab. Auch zeichnet er sich nicht nur durch einen großen Wissensdrang aus, sondern ebenso durch seinen Mut, gegenüber Autoritätspersonen Kritik zu äußern, macht er doch im Gespräch mit dem Autor (Abb. 32)234, der sich mit »lieber meister« ansprechen läßt, einmal die Bemerkung, daß dieser nun »eben wie die pfaffen« spreche, die sagen auch nur was inen gut ist darmitt sie gelt vberkummen / leren vns vil / thuns selbs nit235. Auch versucht sich der >gestreifte< Laie, wenn er krank ist, selber zu kurieren, was dem Schulmediziner Fries mißfällt. Die Hauptschuld für diesen in den Augen von Fries mit Sünde behafteten Dilettantismus gibt dieser aber nicht den »gestreiffeiten leyen«, sondern vielmehr den Ärzten selber - den »vngelerten« wegen ihrer mangelnden Kenntnisse, aber auch den »gelerten«, die sich weigern, ihre Wissen einer muttersprachlichen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.236 So erstaunt es nicht, daß Fries den >gestreiften< Laien nicht nur als Adressaten anspricht, sondern daß er auch seinen Dialogpartner im Spiegel der Arznei von sich sagen läßt, er sei ein so gearteter Laie. Für diesen nicht akademisch gebildeten und damit des Lateins nicht mächtigen, aber intelligenten, klugen, wissensdurstigen und kritikfähigen Laien, der den Wunsch hat, sich auch selber helfen zu können, hat Lorenz Fries seinen Spiegel der Arznei verfaßt. Wie für Geiler, Pauli und Murner ist zwar auch für Fries ein Laie dann >gestreiftgestreiften< Laien wirklich zu beantworten und damit auch schwierige theologische Sachverhalte in der Öffentlichkeit darzulegen, so sucht der Arzt Fries die Schuld für ihr Verhalten nicht bei diesen selber, sondern vielmehr bei den Gelehrten, die ihr Wissen geheimhalten und so dem gemeinen Volk doch sehr nützliches Wissen vorenthalten. Fries sieht es deshalb geradezu als seine Pflicht an, den Wis-

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Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Diiir. Dieser Holzschnitt, der den Laien im Gespräch mit dem Arzt zeigt, findet sich in der Ausgabe von 1519 (Exemplar ZB Zürich: FF 56, fol. C iiiiii'). Fries, Spiegel der Artzny, 1518, Ciiiiiv. Vgl. dazu oben in Kapitel 9.3.4, S. 179-181.

Abb. 32

Der Laie im Gespräch mit dem Arzt, Holzschnitt, Illustration aus Lorenz Fries: Spiegl der Artzny, Ciiiiiir, Straßburg: Johann Grüninger 1519. Zürich ZB: FF 56. Foto: Zentralbibliothek Zürich

255 sensstand der Laien mit Hilfe der Veröffentlichung medizinischen Fachwissens in deutscher Sprache zu verbessern - in der Hoffnung, daß der >gestreifte< Laie nach der Lektüre des Spiegels der Arznei über das nötige Maß an Fachwissen verfügt, um selbstbewußt und eigenverantwortlich mit dem eigenen Körper umgehen zu können und ihm, wenn er krank ist, die richtige Behandlung zukommen zu lassen. 10.3.3 >Gestreift< in der Literatur der K a m p f j a h r e der R e f o r m a t i o n Mit der Klärung der Verwendungsweise und des Bedeutungsfeldes des metaphorischen >gestreift< in Narrendichtung und Moralpredigt, aber auch in einem Text der volkssprachlichen medizinischen Fachliteratur, in Diskursen also, an die der reformatorische Diskurs anknüpft, sind die Voraussetzungen für die Beschäftigung mit dieser Metapher in der Literatur der Reformationszeit geschaffen worden. Wie im Spiegel der Arznei ebenfalls an prominenter Stelle, im Titel nämlich, erscheint ein >gestreifter< Laie in der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur. Auch dieser Bauer gehört zu denjenigen Laien, die in deutscher Sprache geschriebene Bücher lesen können und dies auch häufig tun, was dem »prediger münch« mißfällt. So wird von diesem berichtet, daß er in seiner Predigt gerügt habe die gestryfften leyen / die do täglich in den teütschen bucheren lasen / vnd gesprochen es sy ein verfürung vyler menschen / dann sy es nit können verston [Alb], Nicht nur die Lektüre deutschsprachiger Bücher - damit können neben volkssprachlichen Bibeltexten auch andere religiöse Schriften in deutscher Sprache 237 gemeint sein - , sondern vor allem die mangelnde Kompetenz macht demnach für den Vertreter der römischen Kirche Laien zu >gestreiften< Laien. Zu diesen gehört nun aber nicht nur der fiktive Autor, der sich als ein guter einfeltiger schwitzer Baur / der do vyl der selben bûcher hinder imm hat [Alb] bezeichnet; auch die Adressaten dieser Flugschrift sind demnach als »liebhaber der Teütschen bûcher« [A2a], wie sie vom Autor in der »vorred« begrüßt werden, >gestreifte< Laien. Ist im Spiegel der Arznei der Autor ein gelehrter Arzt, der sich als Lehrer an die >gestreiften< Laien als seine Schüler wendet, so stellt sich in dieser reformatorischen Streitschrift der Autor gewisserma-

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Zu denken ist dabei an in deutscher Sprache verfaßte katechetische Traktate und mystische Texte des späten Mittelalters, die sich an die gesamte lesefähige christliche Öffentlichkeit richteten, an Gelehrte und Ungelehrte. Vgl. dazu Schreiner, Laienfrömmigkeit, v.a. S.28ff.

256 ßen auf die gleiche Stufe mit den Rezipienten seiner Schrift. Die Flugschrift kann denn auch als Aufforderung an die Laien gelesen werden, sich, wie der »Schwitzer Baur«, selber für die eigenen Interessen einzusetzen und sich gegen Anfeindungen zu wehren. Wie stark die Wendung >gestreifter< Laie immer noch als Metapher wahrgenommen wird und daß sie weit davon entfernt ist, lexikalisiert und damit ein normales Lexem zu sein, zeigt sich darin, daß der Autor auf deren Herkunftsbereich zurückgreift 238 , um im argumentativen Kampf gegen die Gegner der muttersprachlichen (Bibel-)Lektüre diese doch eigentlich als Schimpfwort gebrauchte Metapher gegen diese selbst zu richten. So zeigt er auf, daß die »gelerten« selber die eigentlichen >Gestreiften< sind, weil sie und hier beruft er sich auf Matthäus 23,13 - wie die Schriftgelehrten und Pharisäer das Himmelreich vor den Menschen zuschließen würden und nicht nur nicht selber hineingingen, sondern auch diejenigen, die hineingehen wollten, nicht hineinließen. Christus habe hier - in seiner Strafrede gegen die Pharisäer - denn auch eygentlich vnß zu verston geben wár gestrifft geheissen soll werden der ley oder die gelerten der göttlichen geschryfft. Wár woren die gelerten deß gesats die phariseier vnd gelißner anders dann gestryfft. Jch wolt gern wüssen was ein glyßner anders wer dann ein gestryffter / der do eim zeigt wiß do es schwartz ist / vnd blow do es grün ist / vnd braun do es gài ist. Als thetten die glißner vnd phariseier ouch. Si verstünden in der geschryfft vnd wüsten das Jhesus christus der war got was / vnd gaben den einfältigen das widerspyl für. Also thund ouch jetzund vnsere gelerten / so sy schon wol wissen den rechten wag des helgen ewangelis vnd der geschryfft / lond sis nit dar by beliben / sunder zeigen vnß blow vnd wiß / grün vnd gài / vnd machen mancherlei stryffen vber die wort deß helgen ewangelis / hie mit Aristotelischer vnd Platonischer leer / dort mit Poetischen gedichten vnd Philocopischen argumenten / hie mit menschlichen Satzungen / dort mit erdichten exemplen vnd márlinen / vnd wirt die ewangelisch leer also gestryfft mit diser üppigen leer / das sy nit anders sieht / dann als das antlütz Jhesu christi / als er auß dem hauß Pilati gieng / vnd ich gloub das vnß das ein figur sy siner gottlichen leer / das sy ouch also vermoßget solle werden vnd vnerkantlich die ir nit wirdig sind [B2b-B3a], Und der Heiligen Schrift nicht würdig sind für den Autor der Flugschrift deshalb solche gelehrten, aber unfähigen und gottlosen Prädikanten, die »gestrifften verfurere[n]«, wie er sie jetzt nennt, die do die leer Christi vnd pauli verachten vnd für ein tandtmár halten / vnd wellen got sine vrteil vnd willen ab erröten vnd den einfeltigen da mit blenden [C3a],

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Bei lexikalisierten Metaphern geht in der Regel das Bewußtsein ihrer Übertragenheit und damit ihres Herkunfts- oder bildspendenden Bereichs verloren. Vgl. dazu z.B. Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, S.55.

257 Im Rückgriff auf die lexikalische Bedeutung von >gestreift< gelingt es dem Flugschriftenautor zu zeigen, daß diese Metapher doch viel eher die »gelerten der göttlichen geschryfft« charakterisiert als die Laien. Die »gelerten deß gesats«, die jüdischen Schriftgelehrten, sind >gestreiftGestreiftengestreiften< Laien wird mit Hilfe dieser Argumentation eine Anklage gegen die Geistlichkeit selber. Nicht der bibellesende Laie verstößt gegen die göttliche Ordnung, sondern der Geistliche, der sich unstandesgemäß verhält, wenn er seinem Auftrag der Verkündigung der biblischen Botschaft nicht nachkommt. Überschreitet für den theologisch Gebildeten der »gestryfft Schwitzer Baur« seine Kompetenzen, so werden diese in den Augen des Flugschriftenautors vom Geistlichen unterschritten. Indem auf die eigentliche Bedeutung von >gestreift< zurückgegriffen wird und dabei auf negative Streifen, Streifen, die täuschen und die Wahrheit verdekken, kann das metaphorische >gestreift< an seine Urheber, an die Geistlichen, retourniert werden, die somit als die wahrhaft >Gestreiften< demaskiert werden. Wenn man weiß, welche zentrale Rolle Thomas Murner als ein die altkirchliche, konservative Position vertretender Autor und dann auch als verspottete Figur in der Literatur der Reformationszeit spielt, so stellt sich die Frage, ob sich nicht auch die Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur gegen Murner richtet. 243 So wurde auch schon die These aufgestellt, daß der Predigermönch der Flugschrift eine »Personifikation der 1520 erschienenen, aber erst 1521 recht zur Verbreitung gekommenen Schriften Murners gegen Luther« darstelle. 244 Sucht man nun aber nicht nur nach übergreifenden thematischen Bezügen, sondern nach feineren Verweisen, nach wörtlichen Anspielungen etwa, so stößt man auf einen früheren Text Murners, das bereits mehrfach erwähnte Kapitel »Der gestryflet ley« aus der Narrenbeschwörung. Als erstes fällt die Ähnlichkeit der Titel auf. Ein zeitgenössischer, mit der Literaturgattung der Narrensatire im allgemeinen und mit diesem Text Murners im besonderen vertrauter Leser hätte also nach der Lektüre nur des Titels der Flugschrift annehmen können, auch mit dem »gestryfft Schwitzer Baur« einen Narren vorgeführt zu bekommen, der mehr wissen will, als was seinem Stand geziemt. Mit diesem Titel ruft der Autor ganz bewußt den gesamten Kontext auf, dem diese metaphorische Wendung entstammt, um dann im Verlauf der Argumentation um so eindrucksvoller die Gelehrten als die wirklichen Narren entlarven zu können. Darüber hinaus liest sich eine Stelle aus der Flugschrift geradezu als Antwort auf einige Verse Murners. Heißt es vom »gestryflet ley « in der Narrenbeschwörung, der den Gelehrten Fragen stellt, die von diesen nicht beantwortet werden können:

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Zum »publizistischen Kampf um Murner« vgl. zusammenfassend Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur, S. 975-980. Schieß, Drei Flugschriften aus der Reformationszeit, S.301. Vgl. dazu bereits oben in Kapitel 9.3.2 die Fußnote 82.

260 Vnd fragt der narr von hohen sinnen Me, dann viertzig gelerter kinnen Antwurt geben vnd berichten, Die krummen fragen wider schlichten. [...] Sy solten vorhin lernen fragen, Dann kundt man in die antwurt sagen245, so steht in der Flugschrift: Deßglichen wo jetzund ein priester zu den leyen kumpt vnd er gefragt wirt durch ein einfältigen leyen es sy im niiwen oder alten testament / dodurch er in solt vnderwisen / dar vmb er sin narung hat / so sitzt er wie ein gans vnd ist der hirt narrechter dann sine scháfflin / vnd werden also zu spot. Was thünd sy aber wann man sy zü vyl fragen will das sie nit verantworten können / sprächen sy ein narr fragt me dann hundert wysen mögen verantworten vnd allegieren Salomonen in Prouerbijs. Nun wolt ich gern wissen ob der einfei tig solt fragen oder der wiß. Oder ob der narr ein frog thüt / die der wyß nit verantworten kan / welcher der wysest wâr / sprich ich der froger [C4b-Dla], In den Sprüchen Salomos, in denen eindringlich vor dem Narren gewarnt wird, dem törichten Gegenspieler des Weisen 246 , findet sich zwar ein Vers, der gewisse Ähnlichkeit mit den Formulierungen bei Murner und in der Flugschrift aufweist 247 , deren fast wortwörtliche Übereinstimmung jedoch legt die Vermutung sehr nahe, daß der Flugschriftenautor hier ganz direkt den Murnerschen Text anzitiert, wobei er, um seiner Argumentation noch mehr Nachdruck zu verleihen, die Zahl der von ihm als die wahren Narren enttarnten »wysen« von vierzig auf hundert erhöht. Mit solchen kleinen, aber prägnanten Verweisen tritt die Flugschrift ganz direkt in einen Dialog mit dem Text Murners, und über diesen wiederum auch indirekt in einen Dialog mit solchen Texten, in deren Tradition Murners vorreformatorische Schriften stehen. Und das sind hauptsächlich Texte, die man unter dem Begriff der Narrendichtung zusammenfassen kann, das ist in erster Linie Brants Narrenschiff \ oder das sind etwa auch Geilers Predigten über das Narrenschiff, Texte also, die - wie hier gezeigt werden konnte - ebenso scharf mit Laien, die ständisch gebundene Wissensschranken überschreiten, ins Gericht gehen. Dabei wird ein intertextueller Verweis um so intensiver, je größer die Differenz zwischen der Semantik und dem alten Kontext des zitierten Wortes und seiner neuen Semantik und Kontextualisierung ist, oder anders ausgedrückt, je »stärker der ursprüngliche und der

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Murner, Narrenbeschwörung, S.535, v. 45-52. Zum Narren und Weisen in den Sprüchen Salomos vgl. z.B. Nigg, Der christliche Narr, S. 16f. S p r ü c h e S a l o m o s 26,16: » D e r Faule d ü n k t sich selber w e i s e r als s i e b e n , die kluge A n t -

worten erteilen.«

261 neue Zusammenhang in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen«.248 Eine besonders deutliche und pointierte intertextuelle Anspielung ist deshalb die der Flugschrift nicht nur den Titel gebende, sondern diese auch ein Stück weit strukturierende metaphorische Wendung des g e streiftem Laien. In der Flugschrift Der gestryfft Schwitzer Baur erreicht der semantische Konkurrenzkampf um die Metapher seinen Höhepunkt. Das metaphorische >gestreift< ist und bleibt in Texten der frühen Reformationszeit jedoch eine sowohl von reformatorischer als auch von altkirchlicher Seite oft gebrauchte Wendung, um sich gegenseitig Mängel und/oder Verfehlungen vorzuhalten, und bleibt somit eher negativ besetzt. Daneben finden sich in einigen Flugschriften jedoch auch >gestreifte< Laien, die sich durch ihre Bibelkenntnisse auszeichnen und diese im Kampf mit altkirchlichen Geistlichen auch geschickt einzusetzen wissen. Geht es um das richtige Schriftverständnis, kann es sich erweisen, daß eine >gestreifte< einer gelehrten Bildung durchaus überlegen ist. Ebenfalls als Antwort auf Murners Schriften kann die als Flugschrift erschienene Satire Novella249 gelesen werden. In diesem vermutlich 1523 von Pamphilus Gengenbach in Basel gedruckten, jedoch anonym erschienenen »büchlin«, einer Verserzählung - die Frage, ob Gengenbach, wie mehrfach vermutet wurde, auch der Autor ist, muß hier offenbleiben 250 -, tritt Murner nicht nur als Person auf, sondern es werden auch mehrere seiner Schriften genannt 251 wie auch anzitiert. Es wird von einem Pfarrer berichtet, dem ein Geist erscheint. In der Annahme, es handle sich um den Geist des verstorbenen Karsthans, läßt er durch seinen Mesner, einen wortgewandten und sowohl in der Bibel als auch in den Schriften Murners bewanderten Anhänger der Reformation, den Narrenbeschwörer Murner rufen, um den Geist zu beschwören. Es stellt sich dann aber heraus, daß es sich beim Geist nicht um denjenigen des Karsthans handelt, sondern um den »groß[en] narr[en]«252 d.h. die universale Verkörperung aller Mächte, die durch die reformatori -

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Pfister, Konzepte der Intertextualität, S.29. Abgedruckt ist die Novella in Goedeke (Hg.), Pamphilus Gengenbach, S. 262-291; Anm. auf S.514 und S. 658-661. Die Autorschaft Gengenbachs vertritt neben Goedeke (Pamphilus Gegenbach) - er hat diesen Text unter die Werke Gengenbachs aufgenommen - etwa auch Humbel (Ulrich Zwingli und seine Reformation, S. 213), sie wird hingegen von Wehrli (Geschichte der deutschen Literatur, S. 980) eher abgelehnt. Neben der 1522 erschienenen Dichtung Von dem großen lutherischen Narren (v. 846) werden in der Novella auch vorreformatorische Texte genannt, wie die Narrenbeschwörung (v. 649), Schelmenzunft (v. 400), Die Geuchmat (v. 406), Die Mühle von Schwindelsheim (v. 675) oder auch die »institutiones Murnerlin« (v. 390), Murners Übersetzung der Institutiones des Justinian. Novella, S. 287, v. 962.

262 sehe Bewegung entfesselt worden sind - , dem Murner in seiner Schrift Von dem großen lutherischen Narren die kleineren Narren, die fünfzehn Bundesgenossen des Eberlin von Günzburg etwa, Karsthans oder auch Luther, ausgetrieben hat. Anstatt ihn besiegen zu können, wird Murner vom Geist verschluckt. Zuvor kommt es noch zu einem Wortkampf zwischen dem Mesner und Murner, wobei Mumer dem reformatorisch gesinnten Mesner höhnisch zu verstehen gibt, daß er ihm, dem Meister der satirischen Spottrede, noch lange nicht gewachsen sei: Wolst du mich also bald erfâren, So verstost du noch nit tandt mären. Du bist in er sach noch gstryfft, Auch weist nit wie man dzungen schlyff. do mit man den liiten fill den kragen. 253 Der Mesner erwidert darauf, daß es auch nicht seine Absicht sei, seine Zunge »schlyffen vnd wenden« 254 zu können und über jedermann zu lästern. Murner fühlt sich dem Mesner als Satiriker und auch als Gelehrter weit überlegen (»Aber er ist mir vyl zu schlecht, / Ich bin ein doctor beider rächt« 255 ), auch wenn er eingestehen muß, daß sein Einfluß als Narrenbeschwörer am schwinden ist.256 Murner wird hier das metaphorische >gestreift< in den Mund gelegt, wie er es auch selber im Kapitel »Der gestryflet ley« seiner Narrenbeschwörung gebraucht, um damit diejenigen zu kennzeichnen, die sich in ein Wissensgebiet, in das Gebiet schwieriger theologischer Fragen, vorwagen, das sie nichts angeht und von dem sie auch nichts verstehen. Auch hier spricht Murner dem Mesner eine bestimmte Fähigkeit ab, wenn er sagt, daß dieser »in der sach noch gstryfft« sei, wobei mit der »sach« die satirische Rede gemeint ist. Diese im »Der gestryflet ley« von Murner angewandte Taktik, den Laien, indem er ihn >gestreift< nennt, abzuqualifizieren und ihm damit auch zu verstehen zu geben, daß er aufgrund mangelnder, nicht gelehrter Bildung nicht ein adäquater Gesprächspartner darstelle, wird ihm auch in der Novella unterstellt, eine Taktik, die hier zum

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Novella, S. 284, v. 836-840. Novella, S. 284, v. 842. Novella, S.284f., v. 864f. Novella, S. 285, v. 874-883, w o Murner von sich sagt: »Dann w o ich noch geprediet hab, / So liiff der schelm allzyt imm trab, / Dar zu die güch vnd auch die narren. / Man setzts nit all jetz vff die karren, / Als man mir eins mois hat gethon, / Mir ward worlich der recht Ion. / Dann von mir vyl gerlernet hendt, / Wie man ein jeden narren kânt. / D e ß h e l b ich dann jetzund laß bliben, / Ich forcht min sichel werd nümme schniden.« - Murner hat sich denn auch »nie mehr die Narrenkappe übergestreift« (Heger, Thomas Murner, S. 303), nachdem der Straßburger Rat seine Satire Von dem großen lutherischen Narren sofort nach Erscheinen verbot, da die Stadt bereits offen zur Reformation Stellung genommen hatte.

263 Ausdruck bringen soll, wie defensiv sich doch eigentlich der von einem klugen und gewandten Laien herausgeforderte Murner verhält. Mehr Respekt vor >gestreiften< Laien zeigt ein Geistlicher in Eberlin von Günzburgs, 1522 bei Thomas Wolff in Basel gedruckter Flugschrift Sieben fromme, aber trostlose Pfaffen klagen ihre Not257. Einer dieser sieben Pfarrer, die sich versammelt haben, um über die Mühsal des geistlichen Standes zu klagen, spricht über die Schwierigkeiten, eine Predigt zu halten in einer Zeit, in der »die weit [...] täglich gelerter, und eins besseren vrteyls« werde, seien doch jetzt »[d]er teutschen bûcher vil«, und »in teutscher sprach « finde man yetzt alle gottliche vnd menschliche weißheit, auch aller ständ güts vnnd bosß.258 Sich seiner »vnwissenheit« 259 aber auch seiner nicht gerade vorbildlichen Lebensweise bewußt, kommt er deshalb zur Einsicht, daß die Pfaffen »den gestrifften leyen keinen widerstandt mer thün« sollten, denn, so fährt er fort, vnser leben ligt züvil an der sonnen, predige ich nit den klaren text der Bibel in biblischem verstandt, so hab ich ein grosses gewissen darumb, auch wird ich veracht von gemeynen leyen vnd ob ich auch gut ding predigte, so aber mein leben der leere nit gemäß ist, würd ich aber veracht. 260 Auch hier, in dieser Schrift Eberlins, einem der einflußreichsten Autoren der Reformationszeit, ist es ein altkirchlicher Geistlicher, der die gegen die Mißstände in der Kirche aufbegehrenden Laien >gestreift< nennt. Weil dieser nun aber, seit er Johann Eberlin von Günzburg »zu Oberbaden im schwytzerland« predigen gehört hat - wie er selber berichtet - , »scrupulisch« geworden ist und deshalb die Fehler und Mängel eher bei sich sucht als bei den Laien, verliert hier >gestreift< seine negative Färbung weitgehend. Die »gestrifften leyen « sind hier keine Halbwisser mehr; es sind Laien, die, nicht mit unnötigem lateinischen Traditionswissen belastet 261 , sich selber genau jenes

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Diese Schrift ist abgedruckt in: Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 5 7 77. - Eine gute Inhaltsübersicht bei Peters, Johann Eberlin von Günzburg, S. 92-98. Ebenda, S. 357-359, sind die verschiedenen Drucke dieser Schrift verzeichnet. - D i e Schrift bildet eine Doppelschrift zusammen mit Der frommen Pfaffen Trost (Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 79-93), in der die Fünfzehn Bundesgenossen als Ratgeber auftreten.

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Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 69. Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, Bd. 2, S.69. Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, Bd.2, S.71. Vgl. die Aufzählung verschiedener spätmittelalterlicher in lateinischer Sprache verfaßter Predigtsammlungen und -anleitungen, von denen der Pfarrer sagt, daß man jetzt gemerkt habe, »das solicher bucher leer vngelert sey vnd ist, fünffzehen jlrig knaben bringen für yetzt baßgegründeter leer dann alle gemalte bucher« (Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften, Bd.2, S.69).

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264 in deutscher Sprache vorliegende Alltags- und Heilswissen aneignen, das sie wirklich benötigen. Sehr bewandert in der Bibel ist auch ein >gestreifter< Laie im Das Wolfsgesang262, einer etwa 1521/22263 in Basel gedruckten, unter dem Pseudonym Judas Nazarei 264 erschienenen Flugschrift. Der Autor macht sich zum Ziel, den »einfaltig schlecht burs oder hantwerks man«265 vor den Wölfen, dem Papst und seinen Würdenträgern, zu warnen und ihm zu zeigen, an welchen Merkmalen 266 man sie erkennen kann. Und dazu zählt er auch die Art und Weise ihrer Reaktion auf an ihnen geübter Kritik. Vor allem wenn man ihnen eine Bibelstelle, die gegen ihr Verhalten spreche, entgegenhalte, kämen sie mit dem list, nemen ein wortlin daruß, dem geben si nach gefallen ein besundern verstand, so inen wol kompt, ziehen daruß ein geistlichen sin, denn, so fährt er fort, ist kein sin in der geschrift so klein, den si nit der maßen ußlegen können, daß si uß einer floch ein geiß machen.267 Ebenso könne es auch vorkommen, daß ein solcher Wolf, anstatt die in Form eines Bibelspruchs an ihn gestellte Frage zu beantworten, einfach einen anderen Bibelspruch, »wie wol er sich nit rimbt«, zitieren würde, »uf daß uß dem antworter ein frager werd«. Oder er gebe dem Frager einfach zu verste-

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Der Text liegt in einer Edition vor bei Schade (Hg.), Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S. 1-35 und 221-238. Während Schade (Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S.238) diese Schrift ins Jahr 1520 datiert, verlegt Humbel (Ulrich Zwingli und seine Reformation, S.59) ihre Entstehungszeit in die Zeit nach dem Frühjahr 1521, der Entstehungszeit des Passional Christi und Antichristi, das der Verfasser offenkundig benutzt hat. Dieser These wird hier beigepflichtet. Hofacker (»Vom alten und nüwen Gott, Glauben und Ler«, v.a. S. 164-177) sucht den Verfasser, der unter diesem Pseudonym noch weitere Flugschriften verfaßt hat, im Umkreis der oberdeutschen und schweizerischen Humanisten und stößt dabei auf Ulrich Hugwald, einen im Dienste des Druckers Adam Petri stehenden Korrektor. Dabei gelingt es ihm, Übereinstimmungen im Gegenwarts- und vor allem Geschichtsverständnis, aber auch in der Verwendung von Bildern in den lateinischen Schriften Hugwalds und in den Schriften Nazareis nachzuweisen. Die in der älteren Forschung - einen Überblick dazu gibt Hofacker, ebenda, S. 164 - einmal vertretene These, Vadian verstecke sich hinter diesem Pseudonym, kann mit Sicherheit verworfen werden. Schade (Hg.), Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S.5. Unter den 17 Merkmalen findet sich auch die Farbe, an der man einen Wolf erkennen könne: »Zum sechsten ist ein wolf gemengter färb« (Schade [Hg.], Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S. 12). Zur Abwertung von Tieren mit einem »gemengte[n]«, d.h. mehrfarbigen, gefleckten oder gestreiften Fell, vgl. Pastoureau, Des Teufels Tuch, S. 34f. Vgl. dazu auch oben in diesem Kapitel, S. 242f. Schade (Hg.), Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S.32.

265 hen, »daß sich nit zim, geistlich oberkeit zu ergründen«. 268 Gelingt es den »Wölfen« also bis jetzt immer, die Fragen mehr oder weniger geschickt zu kontern und sich so die Jäger vom Leibe zu halten269, so ändert sich das, wenn »ein gestreifter lei so hart an si gesetzt« ist, »helt inen für ein spruch der geschrift (wie dann das ganz evangelium wider si stritet).« Jetzt kann der Wolf nur noch mit Gewalt reagieren, fängt an, umb sich zu bißen und zwackt, wo er mag, mit schmachworten, verkert alle red ins widerspil.270 Erst dem >gestreiftengestreifter< Laie in den frühen 20er Jahren des 16. Jahrhunderts sich dadurch auszeichnet, daß er ein Anhänger des neuen evangelischen Glaubens ist und sich in der Bibel auskennt, bestätigt auch eine gegen die Reformation gerichtete Flugschrift mit dem Titel Der Laie. Ob der Glaube allein selig macht271, die 1523 entstand und 1524 in Straßburg von Johannes Grüninger gedruckt wurde. Deren Autor ist Johannes Dietenberger, der seit 1523 mit zahlreichen in deutscher Sprache verfaßten, sich auch etwa der Dialogform oder der volkstümlichen Versform bedienender Flugschriften in den literarischen Kampf mit den Reformatoren eintrat. 272 Dietenberger gilt als einer der ganz wenigen altkirchlichen Kontroverstheologen, die sich zwischen 1520 und 1530 intensiv mit dem lutherischen Schriftprinzip auseinandersetzten. 273 Seine Bereitschaft, sich ohne persönliche Invektive mit den reformatorischen Positionen zu befassen und auf gegnerische Argumente einzutreten, zeigt sich auch in der hier näher betrachteten Schrift, wo der Beichtvater, mit dem sich ein Laie über die Frage, ob der Glaube allein heilsentscheidend sei oder ob es dazu auch der >guten Werke< bedürfe, unterhalten möchte, sich mit der Forderung dieses Laien einverstanden erklärt, seine »meynung nit mit unnützen menschen geschwetz, sunder mit schrifft«274 darzulegen. Für Dietenberger hat das Traditionsargument denn auch nur eine

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Schade (Hg.), Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S.32. Schade (Hg.), Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S. 32: »do mit so tribt der wolf abermals die jäger von im.« Schade (Hg.), Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, S.32f. In einer Edition liegt diese Schrift vor bei Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation, S. 545-563. Zu Leben und Werk des Frankfurter Dominikaners Johannes Dietenberger (14751537), der eng mit Johannes Cochlaeus, einem der erbittertsten Gegner Luthers, befreundet war, vgl. Fabisch, Johannes Dietenberger. Vgl. Fabisch, Johannes Dietenberger, S.88f. Dietenberger, Der Laie, S. 547.

266 untergeordnete Funktion, und er greift nur dann auf Kirchenväter zurück, wenn es gilt, sein Verhältnis von Schrift, Tradition und Kirche darzulegen. Schrift und Tradition, d.h. das Evangelium und die Auslegung des Evangeliums durch die Kirche, sind jedoch schlußendlich auch für ihn nicht voneinander zu trennen, was bedeutet, daß die Kirche allein, und das heißt ihre Hirten und Lehrer als vom Heiligen Geist Inspirierte, den wahren Sinn der Schrift erkennen und sie auslegen kann. 275 So läßt Dietenberger denn auch den eigentlich bereits mit der lutherischen Lehre sympathisierenden Laien zum Beichtvater sagen, daß er aus seinem Mund dasjenige hören wolle, was seinem Seelenheil diene, und daß er von ihm über sein Anliegen aus der Schrift unterrichtet werden wolle. »Denn es ist geschriben«, fügt der Laie an: Ir solt uß dem mundt des priesters (nit der gestryffelten leyen) fragen und suchen das gesatz [Haggai 2,11], dan er ist ein engel und bot Gotes. Wil also von dir, als ein unverstendiger leye, demutiklich fragen, zu meynem nutz hören und meiner besserung leren [...].276 Damit legt Dietenberger in der Rolle des Beichtvaters seinem fiktiven Gesprächspartner sein Verständnis der kirchlichen Lehrgewalt in den Mund, ein geschicktes Vorgehen, um damit auch die Rezipienten dieser Schrift dazu aufzufordern, sich in Glaubensfragen an einen Geistlichen zu wenden und eben nicht an die »gestryffelten leyen«, denen er die Fähigkeit, die Schrift in ihrer Wahrheit erfassen zu können, abspricht. Hier spricht ein katholischer Geistlicher, der die Lehrautorität der Geistlichkeit durch das Auftreten bibelkundiger und dieses Wissen auch weitergebender Laien, »gestryffelte[r] leyen« eben, ernsthaft bedroht sieht. Wieder gegen einen Vertreter der alten Kirche ausgedeutet, wie in der Schrift Der gestryfft Schwitzer Baur, wird das metaphorische >gestreift< in der 1523 in Zürich bei Christoph Froschauer gedruckten Flugschrift mit dem Titel Das gyren rupffen,277 Diese von sieben reformatorisch gesinnten Zürcher Bürgern 278 in Prosa verfaßte Flugschrift ist eine Antwort auf eine

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Vgl. dazu Fabisch, Johannes Dietenberger, S.88. Dietenberger, Der Laie, S. 546. - Haggai 2,11 lautet: »So spricht der Herr der Heerscharen: Frage doch die Priester um das Gesetz [...].« Den Titel dieser in keiner Neuedition vorliegenden Flugschrift erklärt Heinrich Bullinger, der Nachfolger Zwingiis als Leiter der Zürcher Kirche, in seiner Reformationsgeschichte folgendermaßen: Dieser Titel komme »von dem spil har, dasjunge gesellen mit einandren üebend, da einer in mitte sitzen muoss, einer in hiieten, die andren all herzoulaufend, den sitzenden zuo roufen.« Zitiert nach Humbel, Ulrich Zwingli und seine Reformation, S.202. -Vgl. zu dieser Flugschrift bereits oben in Kapitel 10.1, S.202. Als Autoren werden genannt: Konrad Luchsinger, Hans Hab, Hans Hager, Heinrich Werdmüller, Heinrich Wolf, Konrad Escher und Ueli Funk. Baechtold (Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, S. 135 [Anm.]) kann nachweisen, daß es sich dabei um historisch verbürgte Bürger handelt, von denen die meisten ein öffentliches Amt bekleideten.

267 Schrift Johann Fabris, in welcher dieser die Beschlüsse der Ersten Zürcher Disputation vom 29. Januar 1523, an der er als Konstanzer Generalvikar teilnahm, angreift. Über die Art und Weise der Gemeinschaftsarbeit geben die sieben Verfasser in der »Vorred« gerade selber Auskunft: Vnd habend wir nach benempten sin lugenbuchlin vnder vns geteilt vnd jeder etliche stuck verantwurtet / damit er die schnyder vnd schûchmacher ze Zürich lernete kennen / die er aber so schon verachtet hat redennde: ob er vor schnyderen vnd schüchmacheren sòlte disputieren. 279 Fabri könnte dies durchaus gesagt haben, wurde doch diese vom Rat der Stadt einberufene Disputation, deren Resultat war, daß Zwingli keine Irrlehren verbreite und daß er weiterhin das Wort Gottes wie bisher verkünden solle, in deutscher Sprache geführt, damit die Stadträte und andere illitterati - rund 600 Personen nahmen an dieser Disputation teil - den Diskussionen auch folgen konnten. 280 Fabri habe sich denn auch, so wird im Das gyren rupffen berichtet, zu Beginn der Disputation geweigert, überhaupt etwas zu sagen, weil es sich nit gezimme nach dem spruch der helgen lerer / an allen enden vnd orten offenlich vor vnd von einem jeden zu disputieren von gott vnd gütlichen dingen281, was auch die Ansicht von Erasmus 282 sei. Worauf ihm entgegnet wird: Was darffstu Erasmum anlügen / bsich jnn in der vor red des nüwen testaments / da meint er es sèlle der pur in der geitzen / nit allein von dem Euangelio reden / sunder singen.283 Vnd wenn er schon glych das nit redt / was gadt vns Erasmus an? ist er denn vnser got dem wir losen sollend?284 Daß er sich an den Kirchenvätern und nicht an der Heiligen Schrift orientiere, wird ihm in dieser Schrift immer wieder vorgehalten, so auch an jener Stelle, wo ihm vorgeworfen wird, er verdrehe Aussagen Zwingiis und versuche ihn mit spitzfindigen Bemerkungen zu widerlegen. Aber damit entlarve er sich nur selber, diese Argumente seien nit eins tuben drecks wärt / dann das man hör wie ein gestryffter schmid syest. Ein hoch berumter Jurist / das ist in Tütsch ein weltpschysser / ein gelerter Heyd ein subtyler sophist. Aber keinn Euangelisten noch Apostel gehört kei-

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Das gyren rupffen, ajv-aijr. Vgl. dazu Stucki, Das 16. Jahrhundert, S. 191. Das gyren rupffen, [aiiijv]. - Zu den von der Kirche gezogenen Grenzlinien in Fragen des religiösen Wissens vgl. Schreiner, Laienfrömmigkeit, S. 17-26. Vgl. Das gyren rupffen, br. Die Stelle lautet in der deutschen Übersetzung der Paraclesis: »Wolt gott das der paur am pflüge / redet vns sunge hieruon etwas [...]« (Erasmus von Rotterdam, Erasmi Roterodami Paraclesis Teiitscht, Bjv). Das gyren rupffen, b r -b v .

268 ner. Du bist in dinen vâttern versuncken vnd der selben so gantz voll / vnd der gots lereren so gar lár / das ich vermeint du hettest gottes ouch vergessen Fabri wird denn auch in der ganzen Schrift mit Hans Schmid angesprochen, obwohl er einmal betont habe, »er sye nit ein schmid / er heisse aber also«286. Fabri war sein Humanistenname, der sich vom Beruf seines Vaters herleitet, der Schmied war; eigentlich hieß er Hegerlein.287 Indem nun die Verfasser dieser Schrift den Namen Schmid wörtlich nehmen, d.h. ihn als Berufsbezeichnung verwenden, wird ihr Spott überaus beißend, machen sie doch auf diese Weise aus Fabri selber einen Handwerker, gerade aus ihm, der ja gesagt haben soll - wie oben bereits zitiert - , er wolle nicht vor ungebildeten Handwerkern disputieren. Und >gestreift< ist dieser Schmied deshalb, weil er sich nicht wie ein Vertreter seines Standes verhält, sondern vorgibt, gebildet zu sein. Das metaphorische >gestreift< fand innerhalb der Reformationspublizistik jedoch nicht bloß in Flugschriften gerne und oft Verwendung. So findet es sich auch noch im Diarium von Joachim von Watt (Vadian) (1484-1551). In diesem Tagebuch berichtet Vadian - er war zu dieser Zeit Bürgermeister der Stadt St. Gallen - von den Ereignissen der Jahre 1529 bis 1533, der Zeit der endgültigen Durchsetzung der Reformation in St. Gallen. Nun erfährt man in diesen Aufzeichnungen unter anderem von der Räumung des Münsters im Auftrag des Rates im Februar 1529 und von den bald darauf erfolgten Schadenersatzforderungen des Abtes, die im Wortlaut wiedergegeben werden. Zu diesen Forderungen gehört auch die Rückgabe der Schlüssel, die nun im Besitz von Vadian waren, zu »ainem gwelb« des Münsters, »darinnen die bûcher von 700 jaren har verschlossen sind«.288 Vadian aber weist diesen Vorwurf der unrechtmäßigen Inbesitznahme zurück, indem er nachzuweisen versucht, daß diese Bücher erst jetzt in den richtigen Händen liegen würden, und zwar in den Händen von »liebhaber[n] der büecher« 289 Und dies seien die Äbte und Mönche des Klosters in ihrer »torhait und unglerte« seit geraumer Zeit nicht mehr, könnten sie die Bücher doch nicht nur nicht lesen, sondern sie würden sie auch nicht in Ehren halten, sonst hätten sie sie nicht so leichtfertig weggegeben, nach Konstanz etwa oder nach Flo-

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Das gyren rupffen, [fiiijv]. Das gyren rupffen, [aijv]. Zu Johann Fabri, der 1478 in Leutkirch im Allgäu geboren wurde, als Theologe und Doktor beider Rechte zu seinem Freundeskreis etwa auch Vadian und Erasmus zählte, anfänglich durchaus Sympathien für Luther hegte, sich seit der Leipziger Disputation dann aber von ihm abwandte und nach verschiedenen wichtigen Ämtern schließlich Bischof von Wien wurde und dort auch 1541 starb, vgl. Immenkötter, Johann Fabri. von Watt (Vadian), Deutsche historische Schriften, 3. Bd., S.361. von Watt (Vadian), Deutsche historische Schriften, 3. Bd., S.362.

269 renz, und die restlichen noch vorhandenen Bücher würden sie nicht »ellenklich uner den wurmen und schaben verschlossen« halten, wo sie »weder zü gutem noch zü nutz komend, geschwigen, daß si iemand ain trost sin soltend«.290 Und um seiner Argumentation noch mehr Gewicht zu geben, vergleicht er die Klosterleute mit den »gstrifleten narren«, von denen der »from gelert man doctor Sebastian Brant in siner büecher ainem, das er das narrenschiff genent hat«, berichtet, »die vil buecher hand, sich derselben rüemend und aber nimer oder doch selten darüber gond«, obwohl doch Bücher, die nicht gelesen würden, keinen Nutzen hätten. 291 Stärker noch als Brant im 1. Kapitel seines Narrenschiffs292, das den Büchernarren behandelt und auf das sich Vadian hier bezieht, prangert Vadian als Reformator die Hüter von Traditionswissen an, die auf ihren ungelesenen Büchern sitzen und nicht gemerkt haben, daß Wissen dazu da ist, öffentlich zu werden, um den Menschen Trost zu spenden oder von praktischem Nutzen zu sein. Und diese ungelehrten Geistlichen nun, die Wissen als ihr Eigentum betrachten, obwohl es - gerade auch nach der Erfindung des Buchdrucks - doch eigentlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müßte, sind für Vadian >gestreifte< Narren. Auch hier werden also nochmals solche Personen mit diesem Attribut versehen, die sich in den Augen ihrer Kritiker nicht standesgemäß verhalten, indem sie ihren eigentlichen Aufgaben und Pflichten nicht nachkommen. Und das können je nach ideologischem Standpunkt die sich der priesterlichen Autorität entziehenden Laien oder aber die Geistlichen selber sein, die wegen mangelnder Bildung nicht in der Lage sind, nützliches und tröstliches Wissen weiterzugeben. >Gestreift< sind demnach solche Personen, die sich nicht so verhalten, wie es eigentlich von ihnen aufgrund ihrer Standeszugehörigkeit erwartet werden könnte. Sie stiften Verwirrung. Ihr >gestreiftes< Verhalten steht für die Unordnung einer Zeit im Umbruch. Vor allem diese sind gefordert, ihre Position in einer instabil gewordenen ständischen Gesellschaft neu zu definieren, in einer Gesellschaft, die nicht zuletzt deshalb in Bewegung geriet, weil dank des Buchdrucks einerseits bisher nur einer kleinen Elite zugängliches Traditionswissen erstmals eine breitere Öffentlichkeit erreichte und andererseits neue Erkenntnisse rasch verbreitet wurden.

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von Watt (Vadian), Deutsche historische Schriften, 3. Bd., S.361. von Watt (Vadian), Deutsche historische Schriften, 3. Bd., S.361. - Vgl. auch oben in Kapitel 9.3.2 die Fußnote 146. Vgl. dazu oben Kapitel 9.3.2, S. 165f.

270 10.3.4 >Gestreift< ab 1550 - Ein Nachspiel Nach den Kampfjahren der Reformation begegnet man der übertragenen Verwendung von >gestreift< nur noch selten. Als diese metaphorische Wendung in der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Lexikographie zum ersten Mal erwähnt wird, scheint sie schon nicht mehr sehr gebräuchlich gewesen zu sein. Zum ersten Mal in einem Wörterbuch Erwähnung findet das metaphorische >gestreift< in einem lateinisch-deutschen Wörterbuch des Johannes Fries' (Frisius; 1505-1565), der ab 1537 oder 1538 Schulmeister an der Lateinschule in Zürich war und vor allem durch seine lexikographische Tätigkeit bekannt wurde. Seit 1554 erschien in unzähligen Ausgaben bis ins frühe 18. Jahrhundert sein sogenannter »Kleiner Fries«, ein lateinisch-deutsches Wörterbuch, dem in einem Anhang auch ein deutsch-lateinisches beigefügt ist, da es sich vor allem an Schüler richtete. 1556 gab er ein umfangreicheres lateinisch-deutsches Wörterbuch heraus, den sogenannten »Großen Fries«, das im Unterschied zum für die Schule konzipierten Wörterbuch auch Klassikerzitate enthält. Auch dieses Wörterbuch erlebte viele Neuauflagen. 293 Im »Großen Fries« von 1556 findet man nun unter dem Stichwort »lautus homo« (es wird auf Cicero verwiesen) folgende deutsche Synonyme zur Auswahl: Sauber / Wol gebutzt / wol gerüst / Hoflich / Außgestrichen / Gstryfft / Prachtlich / Kostlich / Ein wolgelàbter mensch / vnd wol gehalten.294 Und »lautitia« wird mit »Pracht vnnd herrligkeit / oder hofligkeit in kleideren vnd malzeyten«295 wiedergegeben. Auch im »Kleinen Fries« in der Ausgabe von 1568 steht folgender Eintrag: Lautus, ta, tum [...] Gewäschen vnd gesüberet / Jtem sauber / wolgebutzt / gstryfft.296

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Zu Johannes Fries, seinem Leben und Wirken, vgl. ADB, Bd. 8, S. 105-107. Fries, DICTIONARIVM Latinogermanicum, S.760. - Ebenfalls eingesehen werden konnte eine Ausgabe von 1574, in welcher dieser Eintrag abgesehen von orthographischen Abweichungen identisch ist. - Beim Stichwort »lautus« (mit der eigentlichen Bedeutung von »sauber«) wird im Georges, Bd. 2, S. 594, vor allem Cicero zitiert, um die vielfältigen übertragenen Bedeutungen dieses Adjektivs aufzuzeigen, unter anderem: »homines lauti et urbani« (ansehnliche, vornehme und städtische Leute), aber auch »valde iam lautus es, bist schon gewaltig vornehm, setzest dich gewaltig aufs hohe Pferd«. Fries, DICTIONARIVM Latinogermanicum, S.760. Fries, NOVVM DICTIONARIVM, S. 350. - Während eine weitere Ausgabe des »Kleinen Fries« aus dem Jahr 1596 ebenfalls unter anderem »gstryfft« als semantisches Äquivalent zu »lautus« erwähnt, fehlt es in der Ausgabe von 1680. Dieses Wörterbuch unterscheidet im Unterschied zu den früheren zwischen eigentlicher und übertragener Bedeutung: »Lautus, a, um. 1. Gewlschen. lauta manus, gewaschene hand / Hör. 2. Herr-

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Das lateinisch-deutsche Wörterbuch von Fries wiederum diente dem Theologen Josua Maaler (1529-1599) als Grundlage für sein Wörterbuch Die Teiitsch spraach von 1561, das als Höhepunkt der frühneuhochdeutschen Lexikographie gilt.297 Conrad Gessner soll ihn dazu veranlaßt haben 298 , einer der größten Universalgelehrten und Naturforscher des 16. Jahrhunderts, der selber Autor von naturkundlichen Fachlexika war.299 Die Teiitsch spraach ist ein nach deutschen Stichwörtern gegliedertes Synonymwörterbuch, d.h. es wird versucht, die Bedeutung der Wörter mit Nachbarausdrükken einzukreisen.300 Im Unterschied zum Wörterbuch von Johannes Fries gilt das Interesse in erster Linie der deutschen Sprache, auch wenn die lateinischen Begriffe den deutschen Wörtern beigefügt werden. So heißt es unter dem Stichwort >gestreiftausstreichengestreift< in einer ganzen Reihe von bedeutungsähnlichen Adjektiven steht, findet sich bei Maaler nur noch ein aus dieser Reihe stammendes Synonym, um die Semantik von >gestreift< zu benennen. Man kann also davon ausgehen, daß Maaler deshalb das Adjektiv >ausgestrichen< ausgewählt hat, weil es für ihn der Semantik von >gestreift< am nächsten kam, ein Adjektiv, das wie >gestreift< die sinnliche Vorstellung von Farben und der Tätigkeit des Färbens hervorruft. Der Farbe nun kam im damaligen codierten Zeichensystem der Kleidung eine eminente Bedeutung zu, denn mit ihr wurde eine Hierarchisierung signalisiert. Und da die kräftigen Farben den höheren Ständen, dem Adel und allenfalls noch dem Bürgertum 303 , vorbehalten waren, erklärt sich, weshalb >ausgestrichen< und >gestreift< in einer Reihe mit solchen Adjektiven genannt werden, die die Vornehmheit und die Pracht der äußeren Erscheinung einer Person zum Ausdruck bringen. In dieser Reihe von hauptsächlich der Beschreibung der visuellen Erscheinungsweise dienenden Adjektiven findet sich jedoch auch »Hoflich«, das neben äußeren vor allem auch innere Qualitäten bezeichnet. Von einer Person, die sich vornehm kleidet, wird auch erwartet, daß sie höflich und von einer feinen Wesensart ist.

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lieh / kostlich, in lauta & bene aueta parte esse, sein außkommen reichlich haben / Ter. lautum Patrimonium, grosses Gut / Cie. lauti cibi, köstliche speisen« (Fries, JOHANNIS FRISIITIGURINI DICTIONARIUM BILINGUE, S. 378). Vgl. Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, S.218. Vgl. ADB, Bd. 20, S.138. Zu Gessner und seinem Werk vgl. Stucki, Das 16. Jahrhundert, S.260ff. Vgl. Hölscher, Zeit und Diskurs in der Lexikographie der frühen Neuzeit, S. 329f. Maaler, Die Teütsch spraach, Bl. 197r. Maaler, Die Teütsch spraach, Bl. 46v. Vgl. dazu oben in Kapitel 10.2, v.a. S. 229-237.

272 Angesichts der negativen Bewertung von >gestreift< in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erstaunt die positive Bedeutung, die diesem Wort in den Wörterbüchern zugeschrieben wird. Eine moralische Wertung im Sinne von >nicht der Norm und den Erwartungen entsprechend< und A n ordnung anzeigend^ wie sie >gestreift< in Moralsatiren und polemischen Texten zur Reformation anhaftet, fehlt. Hier bedeutet >gestreift< zu sein nicht, zu sündigen, sich nicht standesgemäß zu verhalten oder Außenseiter der Gesellschaft zu sein, sondern - im Gegenteil - gerade als besonders vornehm zu gelten. Für diese große Bedeutungsspannbreite findet sich eine Erklärung: Bezieht das polemische >gestreift< seine Semantik noch von den negativen, abwertenden Streifen, wie sie das Mittelalter kannte, so spiegelt das >gestreift< dieser Wörterbücher die Aufwertung der Streifen, wie sie an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit stattfand, wider. Zu dieser Zeit kamen längsgestreifte Kleider bei den höheren Ständen sehr in Mode und waren bald auch bei den unteren Gesellschaftsschichten sehr beliebt.304 >Gestreift< im Sinne von >vornehm< ist eine Bedeutungsvariante, die somit auch dem Bürgertum durchaus vertraut gewesen sein dürfte. An dieses richteten sich denn auch sowohl die Friesschen Wörterbücher als auch Maalers Wörterbuch, die zu einer Kategorie von seit dem frühen 15. Jahrhundert entstehenden Vokabularien gehören, die nicht mehr klerikal, sondern städtebürgerlich orientiert waren.305 Fries und auch Maaler beschränken sich bei der semantischen Beschreibung der deutschen Wörter auf die Nennung von Synonymen, ohne sie z.B. durch die Beifügung zeitgenössischer Zitate in einen Kontext zu stellen. Gerade für >gestreift< hätte die Suche nach passenden Zitaten mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch schwierig ausfallen dürfen. Ein mögliches Beispiel für >gestreift< wäre die Stelle aus dem 57. Kapitel des Narrenschiffs Sebastian Brants gewesen, auch wenn sich dort bereits die pejorative Bedeutungsentwicklung abzuzeichnen beginnt.306 So scheint denn auch das kritische und polemische >gestreift< über das positive dominiert und es an den Rand gedrängt zu haben. Die Wörterbücher von Fries und Maaler dokumentieren somit nur einen Bruchteil der Bedeutungsspannbreite des metaphorischen >gestreiftgestreift< im Sinne von >von vornehmem und elegantem Äußeren< zu einer Zeit, in der Streifen langsam, aber sicher aus der Mode verschwanden.307

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

dazu oben das Kapitel 10.2, v.a. S.209f. dazu Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, S.216ff. oben in Kapitel 10.3.1, S. 237-240. oben in Kapitel 10.2, S.237.

273 Daß diese positiv konnotierte Bedeutung jedoch nie völlig in Vergessenheit geriet, beweist ein metaphorisches >gestreiftgestreift