Homo Legens: Vom Ursprung der Theologie im Lesen [Reprint 2013 ed.] 3110149699, 9783110149692, 9783110810615

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Homo Legens: Vom Ursprung der Theologie im Lesen [Reprint 2013 ed.]
 3110149699, 9783110149692, 9783110810615

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
SOLA SCRIPTURA. Die Dialektik von homo legens und homo lectus
1. SCHRIFT IM ZWIELICHT. Macht und Ohnmacht der Schrift
1.1 Das philosophische Schriftprinzip
1.1.1 Schrift als Spur. Das mimetische Schriftdenken (Derrida)
1.1.2 Schrift als Gast. Das szenische Schriftdenken (Levinas)
1.1.3 Schrift als Appell. Das humanistische Schriftdenken (Ricoeur)
1.2 Das theologische Schriftprinzip
1.2.1 Der affizierte Mensch. Reformatorische und altprotestantische Schriftlehre
1.2.2 Dichter lügen viel. Transformationen der Inspirationslehre
1.2.3 Autogramm, Dokument, Szene. Positionen der Schriftlehre im 20. Jahrhundert
2. IN DEN NETZEN DER SCHRIFTWELT. Grammatik und Hermeneutik einer Lese-Theologie
2.1 Das Gesicht der Schrift. Die absolute Metapher einer Lese-Theologie
2.1.1 Konkrete Lebenswelt. Die Inkarnierung des Aprioris
2.1.2 Buchgestalt. Die Ausdrucksdimension Heiliger Schrift
2.1.3 Die Welt im Buche. Die Rückbindung des Lesers an die Schriftwelt
2.1.4 Ausgelegt werden. Das Prinzip der Skripturaloffenbarung
2.1.5 Besinn dich! Das Verhältnis von Schrift und Vernunft
2.2 Die verkörperte Schrift. Eine Schauspiellehre durch Geschichten
2.2.1 Lektor- und Skriptorinspiration. Wie denn zu lesen und zu schreiben sei
2.2.2 Selbstbeglaubigung. Über die Autorität der Schrift
2.2.3 Durchsichtigkeit. Über die Grundgestimmtheit des Verstehens
2.2.4 Vollständigkeit. Über den Gestaltkanon der Schrift
2.2.5 Wirksamkeit. Über die Nachbildung des Christusporträts
2.2.6 Libri canonici. Über Varianz und Invarianz der Schrift
2.2.7 Das Prinzip der Wiedererkenntnis. Über die Aufgabe Systematischer Theologie
Literaturverzeichnis
Namensverzeichnis

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Klaas Huizing Homo legens

W G DE

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle • H.-P. Müüer

Band 75

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

Klaas Huizing

Homo legens Vom Ursprung der Theologie im Lesen

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Eirtheitsaufnahme Huizing, Klaas: Homo legens : Vom Ursprung der Theologie im Lesen / Klaas Huizing. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 75) ISBN 3-11-014969-9 NE: GT

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Seiner Form, seines Rhythmus, seines Tonfalls nach: ein Buch aus der Nacht der Zeiten. Das trifft zu, und zugleich kann der Leser unserer Tage, der von heute, in der Bibel, Buch für Buch, seine eigene Geschichte lesen, wie in keinem anderen Buch: er kann sie da entdekken, dann sie verstehen, dann sich ihr stellen. Der Leser ist der tragikomische Held aller biblischen Geschichten. Peter Handke, Fragment zur Heiligen Schrift

Vorwort Die Arbeit macht das Angebot einer Neubeschreibung protestantischer Schriftlehre aus der Perspektive des Bibellesers: Schrifttheologie als Lesetheologie. Sie fragt, wie der Leser durch das literarische Porträt des Jesus von Nazareth zu einer Wiedererkenntnis seiner Kreatürlichkeit gelangt, und wie es dem Porträt gelingt, Leserinnen affektiv so zu betreffen, daß sie zu einer Nachbildung dieses urbildlichen Lebens inspiriert werden. Eine Leseästhetik, die diese Fragen am porträtierten Jesus von Nazareth konkretisiert, nenne ich 'Physiognomik1. Die Schrift hat ein die Leserinnen betreffendes Gesicht. Das unterscheidet sie normativ von der fundamentaltheoretisch gewendeten Textphilosophie, die in Frankreich von Derrida vertreten wird. Nach der Studie "Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie" erscheinen jetzt also die "Prolegomena einer physiognomischen Theologie". Eine etwa gleichzeitig erscheinende Monographie "Lukas malt Jesus. Ein literarisches Porträt" macht die Probe aufs Exempel. Ich habe vielfachen Grund meinem Lehrer, meinen Freunden und Mitarbeitern zu danken. Hermann Timm danke ich herzlich für die langjährigen Anregungen und die gewährte Muße beim Schreiben der hier in überarbeiteter Form erscheinenden Habilitationsschrift. Ohne seine Ermutigung wäre dies Buch nicht entstanden. Zusammen mit Giovanni Gurisatti arbeite ich schon seit langem an der Konzeption einer physiognomischen Wahrnehmungslehre. Markus Buntfuß und Christian Bendrath standen mit Rat und Tat zur Seite. Stephan Schwarzenberger hat die Druckvorlage erstellt und Matthias Eckert das Typosskript durchgesehen und das Register erstellt. Danken möchte ich auch herzlich den Herausgebern dieser Reihe für die Aufnahme der Arbeit in der "TBT".

Berg bei Starnberg, Uelsen, Juli 1995.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

VII

Einleitung SOLA SCRIPTURA Die Dialektik von homo legens und homo lectus

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1. SCHRIFT IM ZWIELICHT Macht und Ohnmacht der Schrift

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1.1 Das philosophische Schriftprinzip 1.1.1 Schrift als Spur Das mimetische Schriftdenken (Derrida) 1.1.2 Schrift als Gast Das szenische Schriftdenken (Lévinas) 1.1.3 Schrift als Appell Das humanistische Schriftdenken (Ricoeur)

1.2 Das theologische Schriftprinzip

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χ

Inhaltsverzeichnis

1.2.1 Der aflBzierte Mensch Reformatorische und altprotestantische Schriftlehre 1.2.2 Dichter lügen viel Transformationen der Inspirationslehre 1.2.3 Autogramm, Dokument, Szene Positionen der Schriftlehre im 20. Jahrhundert

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2. IN DEN NETZEN DER SCHRIFTWELT Grammatik und Hermeneutik einer Lese-Theologie

2.1 Das Gesicht der Schrift Die absolute Metapher einer Lese-Theologie

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2.1.1 Konkrete Lebenswelt Die Inkarnierung des Aprioris 2.1.2 Buchgestalt Die Ausdrucksdimension Heiliger Schrift 2.1.3 Die Welt im Buche Die Rückbindung des Lesers an die Schriftwelt 2.1.4 Ausgelegt werden Das Prinzip der Skripturaloffenbarung 2.1.5 Besinn'dich! Das Verhältnis von Schrift und Vernunft

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2.2 Die verkörperte Schrift Eine Schauspiellehre durch Geschichten

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2.2.1 Lektor- und Skriptorinspiration Wie denn zu lesen und zu schreiben sei 2.2.2 Selbstbeglaubigung Über die Autorität der Schrift 2.2.3 Durchsichtigkeit Über die Grundgestimmtheit des Verstehens

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Inhaltsverzeichnis

XI

2.2.4 Vollständigkeit Über den Gestaltkanon der Schrift 2.2.5 Wirksamkeit Über die Nachbildung des Christusporträts 2.2.6 Libri canonici Über Varianz und Invarianz der Schrift 2.2.7 Das Prinzip der Wiedererkenntnis Über die Aufgabe Systematischer Theologie

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Literaturverzeichnis

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Namensverzeichnis

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Einleitung

SOLA SCRIPTURA Die Dialektik von homo legens und homo lectus Die Idee des Buches ist die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten; diese Totalität kann eine Totalität nur sein, wenn vor ihr schon eine konstituierte Totalität des Signifikats besteht, die deren Einschreibung und deren Zeichen überwacht und die als ideale von ihr unabhängig ist. Jacques Derrida, Grammatologie

I. Schrifthermeneutik contra Buchhermeneutik. Wer heute die Publikationsangebote der Philosophieverlage studiert, wird registrieren, daß das Schlagwort "Schrift" bisher gängigen Vokabeln wie "Kommunikation" oder "Dialog" den ersten Rang streitig macht. Es ist ein Schlüsselbegriff des Fin de Siècle geworden. Neu entworfen wurde die "philosophische Schriftlehre" zunächst in Frankreich als Folge einer produktiven Fortschreibung der Freiburger Phänomenologie um Husserl und Heidegger. Will man mit einem Stichwort die Vertiefung phänomenologischer Recherche andeuten, dann mit dem der "Schrift". Die radikalste Position vertritt Jacques Derrida in dem "Grammatologie" genannten Projekt. "Schrift" fungiert zunächst als Kontrastbegriff zur Identitätslogik einer Transzendentalphilosophie, für die immer Bewußtsein und Sinn zusammengehören und fur die Andersheit grundsätzlich in Selbigkeit überfuhrt werden kann. "Schrift" dagegen benennt die subjektivitätskritische Tendenz einer avancierten Phänomenologie, die den Wahn

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Einleitung

transzendentaler und transmundaner Subjektivität, mit dem Ursprung von Sinn überhaupt zu koinzidieren, als Wahn aufdecken will. Hartnäkkige Exterioritäten verweigern sich dem Bewußtsein: die Sprache, der Leib, die Arbeit oder allgemeiner: die Schrift. "Schrift" ist als unvordenkliche Passivität dem Ich eingeschrieben und sperrt sich reflexiver Durchsichtigkeit. Im Medium der Lektüre - Schrift im engeren Sinne - wird diese Dimension der Passivität erfahrbar, und zwar immer dann, wenn der Leser nicht das Ganze eines Textes wirklich überschauen und nicht den Sinn, das Signifikat hinter der unübersichtlichen Menge der Signifikanten, identifizieren kann. Der Leser gerät in einen Verweisungsstrudel, der ihn entsockelt und ihn nötigt, aus seinem alten Verstehenshorizont auszusteigen. Es ist diese Erfahrung: gefangen zu sein im indefiniten Verweisungsgeflecht von Texten, von Signifikanten, und dabei nicht das Sinnmuster, das Signifikat, überschauen zu können, die die französische Grammatologie Schrifterfahrung nennt. Weil das Klassifikat des Buches aber immer noch den Eindruck erweckt, es gebe eine für den Leser überschaubare Anzahl von Signifikanten und ein identifizierbares transzendentales Signifikat - letztlich Gott -, das die Einheit des Sinnes verbürge, verwirft namentlich Denida die zur Selbstverständlichkeit gewordene Äquivokation von Schrift und Buch. Sola scriptura - ja, solus liber nein. Eruiert man das Rezeptionsrisiko, das den Eintritt der Theologie in diese Schriftdebatte, ihrer alten Domäne, verzögert, erkennt man sehr schnell, wie unmittelbar zumindest die radikale Schrifttheorie, wie sie von Derrida vertreten wird, das Selbstverständnis der Theologie herausfordert. Das Christentum ist eine Buchreligion und deshalb gehört die Äquivokation von Schrift und Buch zu den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten: Das Buch = Bibel = Die Heilige Schrift. Wenn, wie Derrida meint, die Bedeutungskraft nicht mehr im Gegenüber von Signifikat und Signifikant, sondern im diakritischen Spiel der Signifikanten besteht und Schrift nicht mehr äquivok mit Buch verwendet werden darÇ weiß sich die protestantische Theologie vital betroffen, denn für den Protestantismus ist die Bibel das Medium schlechthin. Es gibt nicht nur einen ausgezeichneten Mittler, sondern auch ein ausgezeichnetes Medium: das eine Buch.

Sola Scriptura

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Offensichtlich sind die semantischen Verschiebungen im Schriftbegriff so groß, daß Anschlußmöglichkeiten zwischen theologischer und grammatologischer Schriftlehre nicht unmittelbar auszumachen sind. Entspricht also die Alternative zwischen theologischer und grammatologischer Schriftlehre der von Buch-Hermeneutik und Schrift-Hermeneutik? Derrida vertritt innerhalb der von der Phänomenologie ausgehenden französischen Schriftphilosophie nur eine prominente Position. Andere, wie Lévinas und Ricoeur, halten zwar an der Äquivokation von Buch und Schrift fest, ruinieren aber ebenfalls den Anspruch transzendentaler Subjektivität, das Ganze im theoretischen Zugriff transparent machen zu können. Die transzendentalphilosophische Subjekt-Objekt-Relation wird abgelöst durch die Beziehung von Text und Leser. Die Autoren moderner philosophischer Schrifttheorie treffen sich darin, daß für sie die Grundsituation des Menschen im Gegenübersein zum Text oder Buch besteht. Die seit Kant bis hin zum frühen Husserl mitgeschleifte aporetische Verdoppelung des Ich zum transzendentalen Sinnstifter und empirischen Ich wird subjektivitätskritisch durch die unhintergehbare Situierung der (Lese)Vernunft unterlaufen. Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus, weil die opaken Fundamente leistender Subjektivität immer schon von einer Fremdheit heimgesucht werden, von einer Passivität, die sich nicht zur Räson bringen läßt. Das Ich ist immer schon ein anderer, kommt immer zum Rendezvous mit sich selbst zu spät, ist immer auf der 'Suche nach der verlorenen Zeit'. Nur eine radikale Anerkenntnis der eigenen Endlichkeit entmachtet das Ideal einer Koinzidenz mit dem eigenen Ursprung. Verständnis von sich gibt es immer nur vermittelt über ein stets schon vorgegebenes Set von Zeichen, Texten, Symbolen oder eben: Schrift(en). Wir sind von der Schrift (Derrida) oder vom Buche her (Lévinas, Ricoeur). Am Anfang steht die Formungskraft materialer Schrift. Der Mensch - so lautet der common sense der Schriftdenker - ist ein homo legens. Die drei vermessenen Punkte: die Inkarnierung der (Lese)Vernunft, die Ablösung der Bewußtseinsphilosophie durch eine Schriftphilosophie und die Aufdeckung der Formungskraft des Schriftmediums markieren eine Denkrichtung, die durch das Stichwort "französische Schriftphilosophie" enzyklopädische Eigenart beansprucht.

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Einleitung

II. Erinnerung an das literar-ontologische Apriori Wie groß die Herausforderung ist, die namentlich durch Derrida an die Theologie herangetragen wird, entdeckt man sehr schnell, wenn man in Erinnerung ruft, daß für die Reformation die Schriftlektüre ebenfalls eine grundstürzende Erfahrung darstellte - freilich mit anderen Konsequenzen. Alle Evidenzen und Plausibilitäten christlichen Glaubens finden sich im Spielraum der Heiligen Schrift ein und sind dort zu erheben - so lautete der auf die Kurzformel "sola scriptura" elementarisierte Grundkonsens reformatorischer Theologie. Die Reformationsbewegung war eine Reduktionsbewegung zurück zu den Quellen. Darin bestand ihr Spezifikum: Die reformatorische Epoché ad fontes erhob das Schriftmedium in einen letztbegründenden Rang, indem sie die anthropologischontologische Konstitutionskraft der Schrift für den Christenmenschen herausstellte. Erst diese reformatorische Urreduktion, der phänomenologische Schritt zurück auf die Ursituation der Lektüre, entdeckte das Korrelationsapriori von homo legens und homo lectus: In der lesenderlesenen Neuformierung des Menschen erfüllt sich die Intentionalität der Schrift. Die Darstellung integralen Lebens im Medium der Schrift, die den Leser zur Nachbildung stimulieren soll, diese Intentionalität der Lektüre also, bezeichneten die Reformatoren, namentlich Luther, durch den - begrifflich nie genau geklärten - Titel einer "Affektion der Schrift". Der Titel "Affektion der Schrift" benennt eine Kontrastharmonie: Affektivität meint nämlich die plastische Formbarkeit des Subjekts auf der Ebene des Gefühlslebens, während die Schrift für den Härtegrad normativer Präskription steht. Die Lexik von "Affektion" und "Affektivität" beschreibt einen Modus von Subjektivität, der allen kognitiven und voluntativen Prozessen vorgelagert ist. In der Elementarschicht sinnlich-passiver, vorpropositionaler Subjektivität spielen sich Formationsprozesse ab, die den Leser prägen. Dieser flexible und bildbare Aggregatzustand von Subjektivität ist die Bedingung für die impressiv-expressive Dramatik des Lektüregeschehens. Durch das Fixierungsmedium der Schrift wird der weiche Aggregatzustand von Subjektivität fest und dem Leser ein untilgbarer Charakter eingestiftet: Der Leser wird der Schrift konformiert. Die historische Anthropologie des neuzeitlichen Christentums

Sola Scriptura

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verdankt sich also einer spezifischen Medialität: dem Lesen. Sola scriptura geschieht die Konstitution des Christenmenschen. Hier hat die Schriftanthropologie ihr historisches Datum., Die Theologen der Altprotestantischen Orthodoxie fächerten die sinnlich erfahrbaren, quasi personalen Anmutsqualitäten der Schrift auf: Autorität, Durchsichtigkeit, Vollständigkeit und Wirksamkeit sind Affekte der Schrift, die den in die Lektüre verstrickten Leser am Geschehen der Heiligen Schrift beteiligen. Nur über diesem Fundament, nur über den Prolegomena zur Schrift, erhob sich seitdem das veritable Denkgebäude der Theologie. Offensichtlich gilt dieser literar-ontologische Apriorismus heute nicht mehr. Sichtet man die dogmatischen Entwürfe von Rang, erkennt der Leser sofort: Für viele moderne theologische Richtungen bildet die Schriftlehre nicht länger, wie ehedem, das tragende Fundament systematischer Denkbemühungen. Verantwortlich für die neuzeitliche Dauerkrise des Schriftprinzips ist der ins Zentrum gerückte Inspirationsbegriff geworden, der, wie zu zeigen sein wird, die Affektionenlehre einseitig überlagerte. Dadurch wurde die Grundspannung von affektiver Plastizität und skripturaler Fixierung zugunsten einer einseitigen Orientierung auf die Urhebersubjektivität und die Verursacherperspektive aufgehoben. Das hat - pro wie contra - zur Verdrängung der Schriftlehre aus den Prolegomena der Dogmatik geführt. III.

Anschlußsuche

Läßt sich mit den aufgelesenen Denkmitteln der Gegenwart das protestantische Prinzip des sola scriptura in den Prolegomena reinstallieren? Kann man das bei Luther vormodern geprägte Prinzip spätmodern neu konturieren? Wie steht es um die Möglichkeit theologischer Schriftlehre? Bei aller Verschiebung im Kontext der Schrifttheorie besteht offensichtlich zumindest in einigen Punkten eine strukturelle Affinität zwischen vormoderner Affektionen- und spätmoderner Lesetheorie. Eine Scharnierfunktion zwischen beiden Modellen bietet, so meine ich, die aktuelle Parabeldiskussion in theologicis. Es bedeutete einen Sprung innerhalb neutestamentlicher Theoriekultur, den ästhetischen Status der Gleichnisse im Neuen Testament reflektiert und eine neue Theorie der Schríñer/ahrung entworfen zu haben, die zeigt, wie ein Leser sich

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Einleitung

wandelt, wenn er an der religiösen Form poetischer Gleichnissprache partizipiert und mit dem Textgeschehen gleichzeitig wird. Das ästhetische Kunstwerk der Parabel erschließt, so läßt sich die neue Einsicht in nuce verdichten, als Ausdruck des Seins Christi (Via) fiktiv eine ganz andere Welt, die der Leser bewohnen soll. An einer exemplarischen Geschichte tut sich eine von der alltäglichen Weltdeutung befreite Weltsicht auf. Dem Leser wird eine Entdeckungssituation erschlossen, die ihm ganz individuell evident sein muß. Von dem Text muß eine affektive Anmutung, eine einnehmende Atmosphäre ausgehen, damit der Leser, von der Lebensbedeutsamkeit der Sache restlos überzeugt, das textuell Vorgespielte, das die kreatürliche Sicht des Lebens neu erschließt, nachbildend in seiner Lebensfigur darstellt. Ich plädiere dafür, die fiktionalen Texte Jesu, sprich: die Gleichniserzählungen, als Schriften zweiten Grades zu interpretieren (Relektüretexte), in denen der Leser wiedererkennt, was es heißt, Bild Gottes zu sein, was sinnvoll nur gelingen kann, versteht man das Leben Jesu als urkundliche Reaffirmation wahren Menschseins. Das Neue Testament ist die Fixierung einer derartigen Lektüre des Alten Testaments. In der Figur des Zweiten Adam als des neutestamentlichen Hermeneuten Christus bietet das Neue Testament einen intertextuellen Abschluß, der gegen Derridas Anti-Hermeneutik beansprucht, dekonstruktionsresistent, also vollständig zu sein. Entsprechend zum Selbstausdruck Jesu in den Gleichnissen, verdichteten die urchristlichen Schriftsteller das Leben Jesu zum dramatischen literarischen Porträt. Ich bestimme die ontologische Struktur der vier Evangelien als literarische Kunstwerke, genauer: als literarische Porträts, durch die der Leser erneut die kreatürliche Sicht des Lebens erschlossen bekommt. Zusammengenommen bieten die literarischen Porträts mit den darin eingeschriebenen Gleichnissen eine Schauspiellehre durch Geschichte(n), die dem Leser selbst vorführt, wie gelesen und damit urbildlich gelebt werden muß. Die Bibel schreibt vor ("sui ipsius interpres"), wie denn zu lesen sei, um Theologie als reflektierenden Nachvollzug lektoraler Offenbarung verstehen zu können. Ist von einer Schauspiellehre durch Geschichte(n) die Rede, läuft ein möglicher Vorwurf leer, hier werde der Text der Schrift als Roman mißverstanden. Davon kann keine Rede sein. Auch die fiktiven, romanähnlichen Geschichten, die Gleichnisse, sind gleichsam "nur" die schonende

Sola Scriptura

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Darstellung des bereits mit dem einen außerordentlichen Leben bezeugten urbildlichen Verhaltens. Weil dieses Verhalten aber regel- und kontexttranszendent ist, besteht ein Hang zur literarischen Verdichtung. Der Leser stößt auf das vierfach ausgeschriebene literarische Porträt Jesu, das fur ihn zu einer Erfahrung wird, die ihn verwandelt. Weil systematische Theologie es im Text der Bibel mit einer Schauspiellehre zu tun hat, gerät sie in ein kritisches Gefalle zu Ansätzen, die die Lehre ohne die Geschichten haben wollen. Wer einzelne Themenfelder oder Probleme von den Geschichten abschält, macht das Unvergleichliche vergleichbar und die ganze literarische Geschichte, die zur Aufhellung der Problemlösung erzählt wurde, zur vernachlässigenswerten Einkleidung. Einmal ihrer dramatischen Bewegtheit beraubt, können die Geschichten nicht mehr leisten, was sie sollen, nämlich ein Transzendieren in einer ganz charakteristischen Situation vorzuspielen. Transzendieren meint: Der Leser tritt aus dem alten Spielraum heraus, um sich dem neuen, der sich in den Geschichten erschließt, einzufügen. Dabei unterweisen die meisterlichen Geschichten nicht mit Gewalt - das täten sie nur, würden sie den Leser begrenzen - , sondern sie lüften die durch die Selbstverständlichkeiten der Alltagssprache gewebte Decke, die bisher vor dem Gesicht hing und das Verstehen verstellte. Die gesamte Selbst- und Fremdwahrnehmung wird durch das erlesene Okular verwandelt. Dem in der dramatischen Lektüre verstrickten Leser widerfahrt die ganz individuell-persönliche Erfahrung, daß seine vertrauten Handlungsmuster nicht mehr greifen. In der Entdeckungssituation der Lektüre erscheint eine scheinbar vertraute Situation plötzlich in einem ganz neuen Licht. Die Bibel ist in zentralen Partien des literarischen Porträts ein Beispiel-Buch, das ununterbrochen Szenen inszeniert, um auf die vielfaltigen Möglichkeiten des Transzendierens und der Verwandlung aufmerksam zu machen. Die emotional eingestimmte Lektüreerfahrung vollzieht sich dabei immer in einer bestimmten sprachlichen Interpretation, die Ausdruck einer integralen Lebensform ist. In der Lektüre müssen nicht Deutungen an außerordentliche Alltagserfahrungen herangetragen werden, sondern umgekehrt: Im Text der Lektüre werden mögüche Alltagserfahrungen in einer bestimmten Sprach- und Lebensform erschlossen, die das alltägliche Wahrnehmungsokular umstellt. Situation und Interpretation sind hier immer schon eine Synthese eingegangen. Glücken und Mißlingen

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Einleitung

christeninenschlichen Lebens wird dem Leser nachvollziehbar vorgespielt. Deshalb spreche ich von Schauspiel/e/zre. Geht es um das durch den Vollzug der Lektüre ausgelöste Transzendieren in die "Neue Ordnung", dann muß Theologie die Textfiguren und die Bildersprache untersuchen, die den Umschwung stimulieren und die Bewegung beim Leser einstiften. Wie inszeniert die Bibel textuell die Transzendenz? Wie geschieht Offenbarung durch Lesen anhand eines literarischen Porträts? Mein Plädoyer für eine lektorale Wendung in der Theologie reflektiert deshalb die Ausdrucksfiguren, die den Leser bewegen sollen, die christliche Lebensdeutung nachzuspielen. Namentlich der poetischen Sprache ist eine Formkraft eigen, die den Menschen in seiner Sinnlichkeit-Leiblichkeit affiziert. In den Szenen und bilderreichen Parabeln stößt der Leser, wie ich zeigen möchte, auf das sinnlich-inkarnatorische Apriori der Sprache, das dem historisch zunehmend entsinnlichten Zeichengebrauch zugrunde liegt. Die inkarnatorische Struktur des Menschen wird durch die inkarnatorische Sprache der neutestamentüchen Entdeckungssituationen leiblich angesprochen und der Leser in das Ausdrucksbild eines homo christianus verwandelt. Eine Lesetheologie muß zeigen, wie es dem Text gelingt, Jesus im literarischen Porträt erscheinen zu lassen. Welche Porträtzüge wirken auf den Leser so anmutend, daß er eingeladen wird, sich in die Geschichte zu verstricken? Eine Theologie, die diese Eindrucksmächtigkeit der Porträtzüge Jesu untersucht, nenne ich eine physiognomische Theologie. Und eine Theologie, die diese Formungskraft biblischer Bilder-Sprache untersucht, nenne ich Morphologie. Die Eigentümlichkeit neutestamentlicher Bilder besteht im inkarnationslogischen Profil. Eine Grammatik dieser Bilder-Sprache muß die Verschränkungsregeln von Text-Bild (Porträtzug) und Körper-Bild (Körperzug) genauestens untersuchen. Nochmals: Ich plädiere nicht für eine radikale Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Dichtung und Theologie, will aber die Reflexion zurücklenken auf eine tiefenstrukturelle Formungskraft der neutestamentlichen Bilderwelt, die im aussagentheoretischen Diskurs nicht reflektiert wird. Im selbstinterpretativen Kunstwerk der Bibel stellt sich das urbildliche Christenleben von der Geburt bis zur Auferstehung authentisch porträtiert dar. Die affektive Intentionalität der Schrift, besser: der Bilderhaushalt der Texte, weckt die Intentionalität der Sinnlichkeit: das nachspielende Darstellen. In der Sinnlichkeit, nicht primordial im

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Denken, geschieht das Drama der Transzendenz. Spreche ich von der Intentionalität der Schrift, dann deshalb, weil der in der Schrift inkarnierte Christus den Leser leibhaft meint und zugleich eine Antwort, nämlich das eigenverantwortliche Darstellen des Erlesenen im Leben ermöglicht. In nuce läßt sich das physiognomisch-morphologische Modell der Lesetheologie so zusammenfassen: Im Text der Bibel stößt der Leser auf das von vier Schriftstellern ausgearbeitete literarische Porträt des Jesus von Nazareth, sprich: auf den porträtierten Christus. In der literarischen Repräsentation, in der porträthaften Darstellung verdichtet sich das zertreute Sein des historischen Jesus und erreicht dadurch einen "Seinszuwachs" (Gadamer), sodaß auch späte Leser mit dem im Text inkarnierten Christus gleichzeitig werden können (Christus praesens). Vor den Augen des Lesers entsteht ein gleichermaßen plastisches und bewegtes Leben, das prototypisch gelingendes Leben von der Geburt bis zur Auferstehung vorspielt und dem Leser - namentlich in der Bildersprache der Gleichnisse und der Leseszenen die Kreatürlichkeit seines Seins erneut erschließt. Im Vollzug der Lektüre erkennt der Leser wieder, was es heißt, Kind Gottes zu sein. Die so im Text erfahrbare, sprich: erlesbare soteriologische Mittlerleistung Christi stellt das Formpotential fur die lebensweltliche Nachbildung bereit. Eine physiognomisch-morphologische Theologie untersucht, wie es der Schrift, genauer: der neutestamentlichen, der inkarnatorischen Bilderwelt gelingt, den Leser in das Inbild Christi zu verwandeln. Eine physiognomisch-morphologische Theologie entfaltet also die Grammatik einer Hermeneutik der Wiedererkenntnis im Text, nochmals: in der inkarnatorischen Bildersprache der Heiligen Schrift. Als Grammatik klärt sie den Leser über die Regelmäßigkeit inkarnatorischer Semantik auf Als Kritik markiert sie die Stellen im Text, die die normative Regelmäßigkeit ruiniert haben. Als Hermeneutik der Wiedererkenntnis zeigt sie am Text, wie es dem Textgeschehen gelingt, die Kreatürlichkeit des eigenen Seins zu erschließen.

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Einleitung

IV. Leitfäden der Lektüre Der erste Teil dieser Arbeit sondiert das Terrain, um den Textboden für eine Schriftlehre abzustecken. Zunächst messe ich den außertheologischen Motivationsdruck durch Autoren wie Derrida, Lévinas und Ricoeur. Derrida, gleichsam der Vater der neueren philosophischen Schrifttheorie, entmachtet die binär-rationale Zeichenlogik und setzt linter Umgehung eines transzendentalen Signifikats die Bedeutung generierende Differenz als Differenz auf der Signifikantenebene an; Lévinas besetzt die frei gewordene Lücke einer Aussagensemiotik durch den selbstreferentiellen Ausdruck der Performanz; und Ricoeur verankert die mimetische Erfahrung in einer breit entwickelten Logik der Fiktion. Mimetisch-affektiv wird das neuzeitliche Paradigma bei-sich-seiender Subjektivität also revidiert. Die Modelle reichen, wie zu zeigen sein wird, von personaler Stellvertretung bis hin zur unpersönlichen Mimesis, einer Nachahmung ohne Vorbild. Bleibt bei Derrida die Entmachtung fundierender Subjektivität eigentümlich gesichtslos, geht es bei Lévinas und Ricoeur dagegen um eine quasi-personal zu verstehende Affektion des Subjekts durch den (A)anderen oder das andere der Schrift (1.1). Nach einer Präsentation der reformatorischen und altprotestantischen Affektionenlehre der Schrift inventarisieren die folgenden Abschnitte die Verfallsgeschichte der Schriftlehre, die sich am Pro und Contra der Inspirationslehre ausgerichtet hat. Noch die dogmatischen Entwürfe von Rang unseres Jahrhunderts werden unterschwellig von dieser Problemstellung gesteuert. Nach dem Verfall der Inspirationslehre erhielten die Prolegomena in der Theologie einen problematischen Stellenwert (1.2). Auf die dekonstruktive Inventarisierung der Baustelle folgt die architektonische Skizze einer Lesetheologie, die immer eine Theorie emotionaler Subjektivität impliziert. Die Arbeit macht das Angebot einer Neubeschreibung der Schriftlehre des evangeüschen Protestantismus aus der Perspektive des Bibellesers: Schrifttheologie als physiognomischmorphologische Lesetheologie, die das Fundament abgeben muß für eine materiale Glaubensdogmatik. Dabei wird nicht bei der Inspirationslehre qua Verursacherperspektive eingesetzt. Stattdessen wird im Rekurs auf Parabeldiskussion und philosophischer Grammatologie der Anschluß an die Affektionenlehre der Reformation gesucht. Um nicht die Willkür

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einstiger Autorensubjektivität auf die Leserrolle zu verlagern, thematisiert die Arbeit das Korrelationsapriori des lesend-erlesenen Menschen. Methodisch schließe ich mich der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition des späten Husserl, dem Husserl der Lebenswelt, Heideggers und Gadamers an, die dann in Frankreich produktiv weiterentwickelt wurde (2.1.1). Was aber ist die Sache der Theologie? Die Sache der Theologie ist das "Antlitz der Schrift". Leben = Leben im porträtierten Angesicht der Schrift (2.1.2). Die Prolegomena entwickeln eine Ausdrucks- als Eindruckstheorie, die sich inkarnationslogischer Evidenz verdankt. Ich bestimme das "Antlitz der Schrift" als absolute Metapher, die das Lesen und damit das Leben orientiert. Eine Lesetheologie denkt aus dem Innern dieser erzählenden Metapher heraus; ihr Spezifikum ist die faciale Anmutung des porträtierten Christus. Plausibilisiert wird die These im Rekurs auf den ontologischen Status der Schrift. Die ästhetisch-dramatische Bedeutungserweiterung religiöser Leseerfahrung über das Kognitive und Moralische hinaus legt nahe, die Schrift als literarisches Vermächtnis, als Testament zu rezipieren, das den Leser affektiv betroffen macht und zu lebenspraktischen Aufführungen inspiriert (2.1.3). Das literarische Porträt des bibüschen Christus bindet die Aufmerksamkeit des Lesers und fordert ihn auf, sich spielerisch mit den vorgeführten Möglichkeiten dieses prototypischen Menschenlebens zu identifizieren. Sein = Gesichtetsein vom literarischen Porträt des biblischen Christus. Das ist die Quintessenz einer Angesichts"ontologie". Die bibliomorph gewendete Antlitzmetapher will deutlich machen, was es heißt, das Himmelreich schriftlich verbucht aber lebensfähig nahezubringen. Eine intentionale Schichtenanalyse der Lektüre untersucht die Strukturen jener Texte, in denen sich eine neu erschlossene Wirklichkeit offenbart. Wie stellt sich das Prinzip der Offenbarung in lektoraler Perspektive dar? Immer geht es um die Erfahrung, vom Text der Schrift ausgelegt zu werden. Der Leser trifft im Text auf seine eigene Lebensgeschichte (2.1.4). Wenn Schrifterfahrung sich aber an bildgesättigten Ausdrucksgestalten orientiert, kommt es darauf an, alle Facetten der Offenbarungsfiguren zu erfassen. Dazu bedarf es einer inkarnierten Vernunft, die die sinnlich-affektiven Anmutsqualitäten auch wahrzunehmen in der Lage ist (2.1.5).

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Einleitung

Der zweite Teil der ausgeführten Prolegomena phänomenalisiert anhand der Ursituationen und Leseszenen des Neuen Testaments, wie der Leser durch die Investierung einer Inkarnationssemantik: etwa InnenAußen, Oben-Unten, Verschleiert-Entschleiert, Gebeugt-Gerade lesend zur Wiedererkenntnis integralen Lebens gelangt. Denn das ist die Mitte der Schrift: Gleichnisse und Leseszenen führen vor, wie der Leser die den Blick verstellenden sprachlichen Perspektiven, durch die hindurch er die Welt wahrnimmt, transzendiert und das Urbild christenmenschlichen Lebens wiedererkennt. 2. Kor 1,13 gibt mit der Gleichung von Lesen und Wieder-Erkennen (άναγινώσκειν) den hermeneutischen Leitfaden vor: Wiedererkennen als Sichverstehen auf die urbildliche Schriftkörperlichkeit Jesu, sofern sie als Reaffirmation der Imago Dei aus Genesis 1 verstanden wird. "Inkarnationshermeneutik als Hermeneutik der Wiedererkenntnis" lautet der Schlüssel. Wiedererkenntnis ist das Schriftprinzip christologischer Hermeneutik. Namentlich die Gleichnisse geben dabei schriftintem das Wie der Lektüre als Wiedererkenntnis an. Transzendentale Voraussetzung und Anlage für die Wiedererkenntnis bleibt die leibliche Gestalt des Lesers, die auf die physiognomisch-morphologische Grammatik reagiert und zur Einbildung des Erlesenen in die eigene Lebensform stimuliert wird. Eine Grammatik zur neutestamentlichen Bildersprache muß die Regeln dieser Einsichtgewinnung transparent machen. Alle vier Affekte der alten Schriftlehre werden von der Mitte dieser Wiedererkennungs-Szenen her reformuliert. Über die Autorität der Schrift (2.2.2) entscheidet die Autorität der offenbarten Wirklichkeit: die Entbergung eines integralen kreatürlichen Lebens. Der Durchsichtigkeit der Schrift (2.2.3) entspricht die okularisierte Evidenz, die die Aura fröhlicher Gestimmtheit um sich verbreitet. Vollständigkeit (2.2.4) kommt der Schrift dann zu, wenn sie potentiell alle Leser der Schrift und jeden Leser ganz erreicht. Wirksamkeit (2.2.4) kann man der Schrift bescheinigen, wenn es ihr gelingt, alle Leser von der entfremdeten Außenseite ihrer Subjektivität zu befreien und eindeutig zu machen. Gerahmt wird die Affektionenlehre von zwei Kapiteln über die Inspirationslehre (2.2.1) und die Kanonfrage (2.2.6). Der erste Teil plausibilisiert die These vom Vorrang der Lektor- über die Skriptorinspiration und beschreibt das Maß, anhand dessen Texte auf ihre Inspiriertheit hin untersucht werden können. Im zweiten Kapitel kommt die Dialektik von

Sola Scriptura

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Kanonprozeß und Kanonabschluß zur Darstellung. Grund für den Kanonprozeß sind Ausdruckserfahrungen, um die herum Wachstumsringe der Fortschreibung sich anlagern. Fragen zum Kanonabschluß konzentrieren sich auf die These, die JohannesofFenbarung sei der denknotwendige Abschluß der dramatischen Geschichte Jesu Christi, die dem Leser die Möglichkeit gibt, dem ganzen Geschehen beizuwohnen und es als literarisches Erbe zu übernehmen. Die Gründe für den krönenden Kanonabschluß sind literardramatischer Natur. Ein letztes Kapitel (2.2.7) rekapituliert die Inkarnationshermeneutik der Wiedererkenntnis. Wenn einmal der "lectoral tum" auf solche Weise in den Blick gekommen ist, dann wird man von einer Relektüre der überlieferten Affektionenlehre der Schrift sprechen dürfen. Eine grammatisch-hermeneutisch geschärfte und lektoral gewendete Theologie, die das literarontologische Apriori des evangelischen Christenmenschen erneut freilegen will, beschreibt das Pensum der Wiederholung.

1. SCHRIFT IM ZWIELICHT Macht und Ohnmacht der Schrift Thema der Recherche in diesem Kapitel ist zunächst die Schriftbegeisterung in weiten Teilen der Geisteswissenschaften, die einen Druck auf die Theologie ausübt, sich der eigenen Geschichte zu erinnern. Zunächst inventarisiere ich drei idealtypische Positionen philosophischer Schriftlehre: 1. Die Schrift als Spur (Derrida); 2. Die Schrift als Gast (Lévinas); 3. Die Schrift als Appell (Ricoeur). Wo Hegen die Motive für eine denkbare Parteinahme in theologicis, oder muß man die drei auch untereinander konkurrierenden Schriftlehren nochmals dekonstruieren? Nach der Inventarisierung der philosophischen Schriftlehre folgt die Skizze der reformatorischen und altprotestantischen AfFektionenlehre der Schrift. Warum wurde sie aus ihrem fundierenden Status gedrängt? Als Ursache wird die auf Druck der Gegenreformation formulierte Lehre von der Verbalinspiration ausgemacht, die bis in die Gegenwart hinein die Wahrnehmung des Schriftmediums geprägt hat. Wenn überhaupt, dann tritt eine Theologie der Schrift heute nur in der subjektiven Genitiwerbindung in den Blick: daß die materiale Schrift dagegen konstitutiv für den Begriff von Theologie, und daß der Seinssinn von Gott vielleicht sogar nur aus der Schriftlichkeit zu erheben sei, diese Grammatik wird kaum noch erwogen. Drei Repräsentanten evangelischer Theologie werden deshalb schließlich daraufhin befragt, wie sie das Medium der Schrift in ihrer Theologie gewichten, nachdem keine Inspirationslehre mehr die Wahrheit der christlichen Lebensdeutung vorab garantiert. Mir geht es um eine dekonstruktive Lektüre, die den Prämissen dieser Ansätze nachspürt.

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Schrift als Spur

Ich unterscheide drei idealtypische Schriftverständnisse: 1. Die Schrift als Autogramm (Barth); 2. Die Schrift als Dokument (Pannenberg); 3. Die Schrift als Szene (Ebeling).

1.1 Das philosophische Schriftprinzip I. 1.1 Schrift als Spur Das mimetische Schriftdenken

(Derrida)

Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch. Jacques Derrida

Derridas gleichermaßen starke und einseitige Lesart der Tradition1 lautet: Seit ihren platonischen Anfangen versteht die Philosophie unter Wahrheit die Präsenz im Bewußtsein. Gegen diese als "metaphysisch" denunzierte Einstellung richtet sich Derridas kritische Lektüre. Bereits seine philosophischen Debüts - eine umfangreiche Einleitung zu Husserls Schrift "Vom Ursprung der Geometrie"2 und "Die Stimme und das Phänomen"3 - revidieren in buchstäblicher Lektüre den Anspruch transzendentaler Subjektivität, mit dem Ursprung von allem im Akt intentionaler

Treffend schreibt Rorty: "Derrida verhält sich zu Heidegger wie Heidegger zu Nietzsche. Beide sind die intelligentesten Leser und vernichtendsten Kritiker ihres jeweiligen Vorgängers. Beide haben sie von jenem Vorgänger am meisten gelernt, und beide wollen sie ihn unbedingt übertreffen." In: Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, (engl. 1989), Frankfurt am Main 1992, S. 202. Jacques Derrida: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der "Krisis", (frz. 1962). Aus dem Französischen von Rüdiger Hentschel und Andreas Knopp, mit einem Vorwort von Rudolf Bernet, München 1987. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls; (frz. 1967). Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Jochen Hörisch, Frankfurt am Main 1979.

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Das philosophische Schriftprinzip

Sinnstiftung zu koinzidieren. Als Hybris wird der Anspruch enttarnt, das opake Fundament sinnstiftender Akte vollständig reflexiv einzuholen und transparent zu machen. Derrida versteht sich - wie viele französische "Philosophen der Differenz"4 - als Anwalt des nicht assimilierbaren Fremden. Spätestens seit seiner "Grammatologie"5 nennt Derrida diesen toten Winkel der Utopie vollständiger Selbstpräsenz "Schrift". Es ist ein Passepartout-Begriff für kritische Markierungen, die sich wie "windows" unter den Stichworten: Subjektivitätskritik, Zeichenphilosophie, Schriftgeschichte und logozentrikfreie Ethik nacheinander aufrufen lassen. 1. Zunächst steht "Schrift" für das anonyme Leben von Subjektivität, das sich niemals reflexiv vollständig transparent machen läßt. Immer schon ist dem inkarnierten Bewußtsein ein vorprädikatives Moment von Fremdheit, seine Leiblichkeit eingeschrieben, die sich nicht durchgängig mit Sinn beseelen läßt. An dieser Heteronomie bricht der hybride Versuch des sinnzusprechenden Bewußtseins zusammen, sich von allen Vorgaben, die heimlich in es Eingang gefunden haben, zu emanzipieren, und die Dialektik der versuchten Aufklärung schlägt um in die Einsicht, die intendierte Selbstgegenwart niemals erreichen zu können. Derrida deformalisiert diesen ersten subjektivitätskritischen Gedankenschritt glücklich an zwei Beispielen: einmal an der intendierten Selbstpräsenz einer redenden Person und zweitens an einer Textgattung, die mit dem Aufklärungsschub der Moderne ursprungslogisch zusammenhängt: an der Autobiographie. Buchstäblich rechnet Derrida Husserl vor, daß die intendierte Selbstpräsenz des Bewußtseins scheitert, weil es das leiblich vermittelte Ausdrucksgeschehen nie vollständig willentlich kontrollieren, also mit Einen ersten Überblick bietet Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich, (frz. 1979); 1933-1978. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff, Frankfurt am Main 1981. Vgl. auch: Heinz Kimmerle: Derrida. Zur Einführung, Hamburg 1988; Sarah Kofman: Derrida lesen, Wien, Graz 1988; Bernhard Waldenfels: Phänomenolgie in Frankreich, Frankflirt am Mainl983; Luc Ferry und Alain Renault: Antihumanistisches Denken. Gegen die französichen Meisterphilosophen, München, Wien 1987. Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, (frz. 1967), Frankfurt am Main 1974.

Schrift als Spur

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intendierter Bedeutung beseelen kann. In jedem Ausdruck drückt das willentliche Bewußtsein durch Gesten und Mienenspiel - Schrift - immer mehr und auch anderes aus, als es intendiert. "Die Sichtbarkeit und die Räumlichkeit können die Selbstpräsenz des Willens und der geistigen Beseelung, die den Diskurs ermöglicht, nur verfehlen. Sie sind deshalb buchstäblich deren Tod."6 Das Scheitern einer Koinzidenz mit sich selbst zeigt Derrida dann ausführlich an Rousseaus "Confessions" - nach Derridas Einschätzung eine idealtypische Autobiographie, die den allenfalls aus vielen Perspektiven narrativ zugänglichen Ursprung nicht beherrschen kann. Zeitlebens jagt der Held dem verschatteten Anfang seiner Geburtlichkeit hinterher. Alle Selbstmitteilungen werden als "Suche nach der verlorenen Zeit" dechiörierbar, und in jedem verkleisterten Bruch der eigenen Geschichte verbergen sich Mitteilungen über das eingekapselte Fremde.7 2. Durch den Terminus "Schrift" markiert Derrida zeichentheoretisch8, was phänomenologische Subjektphilosophie als blinden Fleck oder tote Zeit nicht in den Blick bringt. Traditionelle Zeichentheorie ist eine Theorie der Repräsentation: Zeichen repräsentieren, so etwa Aristoteles, seelische Zustände9. An ihnen selbst sind die Zeichen ohne J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, loc. cit., S. 87 f. Derrida hat hier folgendes Husserlzitat im Blick: "Dagegen schließen wir das Mienenspiel und die Geste (vom Ausdruck, K.H.) aus, mit denen wir unsere Reden unwillkürlich (...) begleiten. (...) Solche Äußerungen sind keine Ausdrücke (...), in ihnen teilt der eine dem anderen nichts mit, es fehlt ihm bei ihrer Äußerung die Intention, irgendwelche 'Gedanken' in ausdrücklicher Weise hinzustellen. (...) Kurz, derartige Ausdrücke haben eigentlich keine Bedeutung. "Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, 2/1 § 8, zitiert nach Derrida, loc. cit., S. 88. Weil diese Zeit als nichteinholbare und nichtrevitalisierbare Zeit die tote Zeit des Subjekts ist, war es durchaus konsequent, polemisch - wie viele französische Meisterphilosophen dieser Jahre es tun - vom Tod oder Ende des autonomen, des starken Subjekts zu sprechen. Vgl. Derridas doppeldeutigen Titel: Les fins de l'homme, in: Marges de la Philosophie, Paris 1972, S. 129-165. Derrida wertet in seinem Oeuvre die angesprochene Erfahrung betont zeichentheoretisch aus, nicht etwa konsequent leibtheoretisch wie Merleau-Ponty und der späte Lévinas. In dieser Arbeit betone ich ebenfalls die leibtheoretische Interpretationsvariante der angesprochenen Erfahrung. Derrida verweist hier auf Aristoteles, der in der "Lehre vom Satz" Zeichen als Verlautbarungen seelischer Zustande definiert hat; vgl. Aristoteles: Kategorien, Lehre vom Satz, (Organon I/II), übersetzt, mit einer Einleitung und erklärenden

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Das philosophische Schriftprinzip

Bedeutung und nur ein konventionell festgelegtes Transportmittel zur Weitergabe des in der Seele präsenten Sinns. Derrida charakterisiert den Logozentrismus, die Orientierung am verlautbarten Sinn deshalb auch immer als Phonozentrismus, weil nur das gesprochene Wort die Eigenschaft besitzt, an die Präsenz des Sagenden gebunden zu bleiben und in seiner Flüchtigkeit immer sofort hinter den Sinn, das Signifikat, zurücktritt. Weil Derrida zeigen kann, daß die "Schrift" sich nicht der Rede unterordnen läßt - in den genannten Beispielen markierte Schrift den Unterschied von Leiblichkeit (Schrift) und Seele (Rede), von anonymem oder vorreflexivem und bewußten Leben -, geht er in seiner "Grammatologie" auch nicht vom Signifikat aus, sondern vom materiellen Träger, dem Signifikanten10. Zeichen, so die Einsicht, beziehen sich diakritisch aufeinander, gleiten subjektlos von einer Bedeutungskette zur nächsten, ohne je ans Ende einer absoluten Bedeutung zu kommen. Käme das diakritische Spiel an ein finîtes Bedeutungsziel, müßte man ein transzendentales Signifikat voraussetzen, das das Gleiten des Sinns abblockte und die Schrift zu unterdrücken vermöchte. Wenn es aber nur die Ur-Differenz "gibt" und damit das endlose Gleiten des Sinns im diakritischen Spiel, dann wird auch die abendländische Idee eines abgeschlossenen Buches und erst recht die Utopie des Buches der Bücher ruiniert. In seiner "Grammatologie" schreibt Derrida deshalb: "Die Idee des Buches ist die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten; diese Totalität kann eine Totalität nur sein, wenn vor ihr schon eine konstituierte Totalität des Signifikats besteht, die deren Einschreibung und deren Zeichen überwacht und die als ideale von ihr unabhängig ist. Die Idee des Buches, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd. Sie schirmt die Theologie und den Logozentrismus enzyklopädisch gegen

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Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Hamburg 1974,1, 16 a 3: "Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute." Bereits der späte Heidegger wendet sich verstärkt dem materiellen Bedeutungsträger zu. Die Nichtpropositionalität oder, in seiner Sprache, das Jenseits der Weltbilder, wird im Rekurs auf immer ursprünglichere Worte eingekreist, die in spekulativen Etymologien freigelegt werden.

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den sprengenden Einbruch der Schrift ab, gegen ihre aphoristische Energie und (...) gegen die Differenz im allgemeinen."11 Die Folgen dieser ursprünglichen Einsicht sind drastisch: Es gibt kein Buch des Buches, letztlich überhaupt kein Original und erst recht keine Realpräsenz eines transzendentalen Signifikats im Text. Alle Texte und Textgattungen sind streng genommen gleichrangig, weil sie sich nicht sei es verfallend, sei es entwickelnd - vom Ursprung entfernen können. Texte spielen unaufhörlich miteinander, sind mimetisch aufeinander bezogen, ohne daß fur die Mimesis eine normierende Urgestalt vorläge: "Schrift" ist deshalb anfangslose Mimesis. Hinter die Ur-Differenz der Signifikanten - von Derrida "differance"12 genannt - zurückzutragen, macht keinen Sinn. 3. In Derridas Diskurs sind also Schrift und Buch nicht synonym zu verwenden, und deshalb geht die Ablehnung des Buchcharakters13 auch bruchlos zusammen mit einer Verteidigung der Schrift gegen deren Verächter, Piaton etwa, der im "Phaidros"14 der Schrift die oralen Leviten liest. Die Schrift ist ein Waisenkind, das eine lebendige Einsicht nur nachahmt, ohne sie selbst mit Hilfe des Vaters erzeugt zu haben. Deshalb bedarf es eines Adoptiv-Vaters, der ihr als Vormund die Zunge löst. Genau diese Aufgabe übernimmt Derrida in der buchstäblichen Lektüre des Platon-Mythos über die Erfindung der Schrift, um den Text unendlich mehr und anderes sagen zu lassen, als er zu sagen vorgibt. Ist die Entdeckung der Schrift, die im platonischen Mythos dem GottKönig zur Prüfung vorgelegt wird, für das ägyptische Volk ein Gift oder ein Heilmittel? Theuth, selber auch Gott der Medizin, muß die Bedeutungsambivalenz des griechischen Begriffs "Pharmakon", die zwischen Gift und Heilmittel oszilliert, in seiner Stellungnahme austragen: Weil Schrift, so das Urteil, die lebendige Ursprungssituation von Erkenntnis 11 12

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Ebd., S. 35. Derrida schreibt "differance" mit a - ein Unterschied in der Schreibweise, der sich stimmlich nicht markieren läßt -, weil er deutlich machen will, daß die Differenz zwischen den Zeichen selbst produktiv ist und eine temporale Binnendifferenzierung aufweist. Derrida wird nicht müde, den Buchstatus seiner Schriften bereits in der ersten Zeile zu widerrufen: "Ceci (donc) n'aura pas été un livre." In: Jacques Derrida: La dissémination, Paris 1972, S. 9 Phaidros 274cff.

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nicht vermitteln kann, sediert sie die Kunst des vitalen Innewerdens und ist deshalb auf dem Markt nicht zuzulassen. Wem das, was die Schrift abbildet, selbstverständlich wird, und wer die sprachlichen Perspektiven, in die sich die Erkenntnis einschreibt, für die Sache selbst hält, gewinnt keinen Zugang mehr zur originären Erkenntnis. Nicht zufallig nennt sich Sokrates selbst einen "Pharmakeus" und bezeugt am eigenen Leben und Tod die Doppeldeutigkeit dieses Begriffs: einmal ist er der oralistische Giftpilz, der die Selbstverständlichkeiten der Sophisten und ihrer Traktate, die nur Wissen mimen, verdirbt15; sodann aber dient er zugleich der Polis auch als Heilmittel für die durch ihn ausgelöste Krise, weil er als Sündenbock das instabil gewordene Bündnis mit dem Tod durch den Giftbecher festigt16. Dekonstruktionsziel dieser hier nur kurz angedeuteten buchstäblichen Lektüre Derridas ist es, zu zeigen, wie Sprache/Schrift in ihrem Verweisungsspiel selbst produktiv ist und sich nicht an eine ontologischmetaphysische Kette legen läßt. Eher gilt umgekehrt: Piatons Grenzziehungen wollen ein Spiel zur Räson bringen, das unabhängig vom philosophischen Schiedsrichter längst mit sich selber spielt. Im "Dissémination" betitelten Essayband zeigt Derrida an einer Lektüre von Mallarmé, wie namentlich die Dichtung sich des Korsetts, das ihr von Piaton verschrieben wurde, allenfalls Abbildung eines Äußeren zu sein, entledigt und den aufrechten Gang übt. Eine Rose ist eine Rose ist ein Rose. Schrift befreit sich vom externen Referenten und damit vom ästhetischen Richtschwert der Wahrheit und wird semantisch autonom. "Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch. Die eigentümliche Abwesenheit des Subjekts der Schrift ist auch die Abwesenheit der Sache oder des Referenten."17 Zunächst also ist das Urspiel der Schrift, das auch auf der zweiten Ebene, der des fixierten Aufschreibesystems, dem Buch, durch eine buchstäbliche Lektüre aus dem Fixismus befreit

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Der Phaidros-Dialog führt vor, wie ein begeisterter Rhetorik-Adept am Text einer Rede klebt und dabei nichts vom Inhalt verstanden hat. Die mimetische Tiefenbedeutung des Sündenbockmechanismus hat René Girard untersucht. Vgl. La violence et le sacré, Paris 1972; s. u. Jacques Derrida, Grammatologie, loc. cit., S. 120f.

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werden kann18. Der dekonstruktive Philosoph, der das Spiel der Sprache mitspielt, steigt auf zum mimetischen Mit-Spieler. Noch in einem seiner neuesten Texte verweigert sich Derrida nachdrücklich jeder Vereinnahmung durch eine wie auch immer konzipierte negative Theologie: "(D)ies, was die 'difference', die 'Spur ' und so weiter 'sagen will' - was von nun an nichts sagen will -, dies wäre "vor' dem Begriff, dem Namen, dem Wort, 'etwas', das nichts wäre, das nicht mehr dem Sein, der Anwesenheit oder der Gegenwärtigkeit des Gegenwärtigen, nicht einmal mehr der Abwesenheit und noch weniger der Hyperessentialität angehörte."19 Was nach der Erstürmung des metaphysischen Olymps bleibt, ist, so antiplatonisch wie nur möglich, der geniale (Schrift)Künstler, der das zeichenmimetische Spiel spielend, alles darstellen und produzieren kann, weil er alles der Gabe des Spiels verdankt20.

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Michael Wetzel spricht in der Spur Derridas von einer Quadrographie: "In diesem Sinne lassen sich vier Momente der Schrift unterscheiden, deren Überlagerung oder Komplementarität als Quadrographie schon eine historische Linerarität unterläuft: 1. die 'archaische' Schrift der Spur; 2. die 'klassische' Schrift literaler Aufschreibsysteme; 3. die 'ästhetische' Schrift dinglicher Chiffrierungen; 4. die 'transklassische' Schrift medientechnischer Spurensicherung." Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, Weinheim 1991, S. 47; vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibsysteme 1800-1900, München 1985. Während die französische Schriftphilosophie die grundsätzliche Unhintergehbarkeit der materialen Schriftspuren thematisiert, untersucht die Toronto-Schule die Übertragungstechnologien und Speicherkapazitäten von oralen und literalen Kulturen. Zur Toronto-Schule zählen so bekannte Denker wie Marshall McLuhan, Eric Havelock oder Walter J. Ong. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, (engl. 1982), Opladen 1987; vgl. Eric A. Havelock: The Muse Learns to Write. Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present, New Haven and London 1986; ders.: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revoution, (engl. 1982), Weinheim 1990; Marchall Me Luhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typological Man, Toronto 1962. Jacques Derrida: Wie nicht sprechen, Verneinungen, (frz. 1987), Wien, Graz 1989, S. 19. Vgl. hierzu Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis, Kultur - Kunst - Gesellschaft, Reinbek 1992. Gebauer/Wulf verweisen in diesem Zusammenhang auf Texte aus dem Buch: Mimesis des articulations, Paris 1975, und charakterisieren Mimesis treffend als essentielle Poiesis, loc. cit., S. 420.

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Im Zeitalter der Post-Moderne wird er zum Postillion, der Postkarten verschickt - mit dem (unbescheidenen Anspruch, ein Briefträger (facteur) der Wahrheit zu sein21. Das spielerische Moment kommt im Stil von Derridas späten Schriften dabei immer prominenter zum Ausdruck. Lassen sich seine ersten Arbeiten noch als (anti)hermeneutische Interpretationen seiner Vorgänger lesen und als transzendentalen Versuch, ein Vokabular zu erarbeiten, das völlig kontingent ist, so gibt der späte Derrida diesen Weg auf, weil ein vertrauter Prozeß der Dialektik der Aufklärung - sein Vokabular an den Universitäten längst zu einem kanonischen Vokabular geworden war. Der späte Derrida dagegen ist ein Spieler, der den privaten Witz und das Sprachspiel absichtsvoll überdehnt, er ist Philosoph als "Privatier"22, der in seinem verwickelten Stil Joyce näher steht als Kant. 21

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Jacques Derrida: Die Postkarte, 2 Bde: Von Sokrates bis an Freud und jenseits, (frz. 1980), Berlin 1982 ; Der Facteur der Wahrheit, (frz. 1980), Berlin 1987. Auf dieses Element im Derridaschen Diskurs hebt besonders Richard Rorty ab. Mit Heidegger und Derrida teilt Rorty die Einsicht, daß sich die erkenntnistheoretisch ausgerichtete Philosophie einer ungeklärten Metaphorik bedient, der des Bewußtseins als eines Spiegels, der ganz verschiedene Darstellungen enthält, die, sollten sie nicht akkurat sein, gleichwohl rein erforscht werden können. Eine "Philosophie ohne Spiegel" bestimmt Rorty dagegen als bildende Philosophie, die keinem solitären Vokabularium einen privilegierten Status zuerkennt: "Der bildende Diskurs versucht die Gefahr abzuwenden, daß irgendein Vokabular, irgendeine künftige Beschreibungsmöglichkeit ihrer selbst, die Menschen zu der Täuschung veranlassen könnte, von nun an sollten und könnten alle Diskurse normale Diskurse sein." Vgl. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Übersetzt von Michael Gebauer, Frankfurt am Main 2 1984, S. 408f. In seinem neuesten, grandiosen Buch: Kontingenz, Ironie und Solidarität, loc. cit., plädiert Rorty deshalb für eine friedliche Koexistenz der kontingenten Vokabularien. Idealtypisch im Gespräch mit der (literarischen) Kunst übt der Leser die Kunst des Seinlassens oder, wie Rorty sagt, das Ethos der Solidarität ein, das sich am Kleinen und Schwachen, genauer, am Leiden und der Demütigung Anderer orientiert. Allerdings: Rorty bestimmt dieses Seinlassen inhaltlich viel stärker als Derrida, und hier liegen auch die Gründe für einen deutlich anders konturierten Mimesis-Begriff. Kunst stellt nicht nur das Andere schonend dar, sondern bildet auch das verkümmerte Sensorium der Leser aus, um im Alltag verwandte Erfahrungen solidarisch austragen zu können. "Ethnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Dokumentarstücke", "Kino, Fernsehen" und "vor allem Romane" sind Medien der Sensibilitätsschulung (16), oder, wie Rorty mit Vorliebe sagt: des "Einfühlungsvermögens" (ebd.). Wie

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4. Es bleibt abschließend die ethische Dimension dieser "Schrifterfahrung" zu skizzieren. Bereits im Colloque de Cérisy, veranstaltet unter dem Titel: Les fins de l'homme, à partir de J. Derrida, spricht Derrida von einer "interpellation" durch das Andere und charakterisiert die Aufgabe der Dekonstruktion als "retrait", um dem Anderen Raum zu lassen23. In seinen späten Schriften nennt er diesen Prozess die "Gabe" und verspricht eine logozentrikfreie, sprich: herrschaftsfreie Ethik der Diskussion24. Hier auch hat der Derridasche Geistbegriff seinen Ort. In "De l'esprit" wird freilich auch dieser philosophische Großbegriff eigentümlich gewendet. Derrida schließt ihn kurz mit dem Heideggerschen Begriff des Risses (trait). Der Riß des Geistes meint dann die Spur unendlicher Lektüre, die nie an ein definitives Ende kommt, vielmehr wird ironisch die hermeneutische Arroganz, den Autor besser zu verstehen als er es selbst vermag, auf den Interpreten angewendet: "Le malentendu, c'est que vous nous entendez mieux que vous ne croyez ou que vous n'affectez de croire. En tout cas, pas de malentendu de notre part, désormais, il suffit de continuer à parler, de ne pas interrompre entre le poète et nous, c'est-à-dire aussi bien entre vous et nous, cette Zwiesprache. Π suffît de ne pas interrompre le colloque, même quand il est déjà très tard."25

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Rorty an Beispielen aus dem Gebiet der Literatur deutlich machen kann, eignet sich nicht jeder Roman zur Sensibilisierungsschulung, weil oft die Helden der Romane dem ausgegebenen Ideal der Solidarität zuwider handeln. Deshalb bedarf es des Literaturkritikers, der, und hier überwintert der amerikanische Pragmatismus, schlicht "mehr Bücher gelesen" (139) hat und die "Bildungsromane" vorsortiert. Literaturkritiker müssen also eine außerordentliche Sensibilität besitzen, die sie selbstredend durch die mimetische Lektüre idealtypischer "Bildungsromane" ausgebildet haben. Ob Rorty selbst ein guter Literaturkritiker ist, muß man an seinen Interpretationen zu Nabokov überprüfen Les fins de l'homme, à partir de J. Derrida, hrsg. von Philippe Lacoue Labarthe und Jean-Luc Nancy, Paris 1981, S. 183. Vgl. Jacques Derrida: Vers une éthique de la discussion, in: Limited ine, Paris 1990. J. Derrida: De l'esprit. Heidegger et la question, Paris 1987, S. 184.

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Nur wenn das Gespräch unendlich einfach, d.h. ohne hermeneutische Sinn-Regeln im engeren Sinne geschieht, lassen sich alle Mißverständnisse beheben. Derridas Theorie bietet, akzeptiert man die Prämissen, wenig Angriffsflächen26. Wenn das Subjekt nur noch als Effekt der Schrift dechiffrierbar wird, macht es wenig Sinn, nach den (historischen) Gründen für diesen Ursachverhalt zu fragen. Natürlich kann Derrida diese Frage nicht abwehren, natürlich kann man auch ihn instrumentalisieren, indem man seinem Denken doch eine negative oder inverse Theologie unterstellt, es versucht - wie das Denken des späten Heidegger27, auf den er in einer unendlichen Meditation zurückkommt - die Alternative von realer Abwesenheit und realer Gegenwart Gottes hinter sich zu lassen. Wer wie Derrida den Logozentrismus bekämpft, muß sich selbstredend fragen lassen, wie er zu einem Denken stimuliert wurde, das diesem Verblendungszusammenhang nicht unterhegt. Aber auch hier bleibt Derrida die Antwort nicht schuldig: Mallarmés Texte sind die quasi ideale Darstellung eines translogozentrischen Denkens, so daß man von hier aus in die Geschichte der Metaphysik und Ontologie zurückfragen 26

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Dupuy und Varela haben in einem Essay versucht zu zeigen, wie sich Derridas Dekonstruktivismus und radikaler Konstruktivismus in der Figur kreativer Zirkelschlüsse spiegeln. Derridas Modell der Dekonstruktion beschreiben sie so: "Jedesmal wenn in einem theoretischen Text ein Terminus auftaucht, der einen Logos, einen Begriff als sich selbst genügend zitiert, setzt ein circulus vitiosus ein, der von innen heraus den Anspruch auf Autonomie untergräbt. Dies geschieht, weil ein anderer Terminus, der angeblich sekundär und untergeordnet ist und der nichts weiter sein sollte als eine Ableitung oder Unterkategorie des ersten Begriffs (...), als unerläßlich für die Aufstellung des letzteren erscheint. Der Ursprung erscheint als vollständig und rein, würde aber ohne die Ergänzung, die dennoch aus ihr folgt, jegliche Konsistenz verlieren. So erscheint der sekundäre Begriff völlig überflüssig und völlig unerläßlich gleichzeitig. Selbst die auf ganz offensichtliche Weise perfekte Totalität leidet notwendigerweise an einem grundsätzlichen Mangel." Genau die gleiche Form zirkulärer Kausalität zeigen beide Autoren für autopoietische Systeme auf. Jean-Pierre Dupuy und Francisco Varela: Kreative Zirkelschlüsse: Zum Verständnis der Ursprünge. In: Paul Watzlawick, Peter Krieg (Hrsg.): Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus (Festschrift Heinz von Foerster), München, Zürich, 1991, S. 247-277. Zu ihrem Lösungsvorschlag vgl. S. 257. Vgl. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt am Main 1989, S. 405flf.

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und zurücksteigen kann, um den Spuren dieser anderen Ordnung dedektivisch nachzuspüren. Ebensowenig sticht die Invektive, Derridas Denken sei als radikale Kritik der Bedeutungstheorien selbst bedeutungslos. Das Gegenteil ist der Fall: Derrida sucht die Bedeutungskraft im diakritischen Spiel der Signifikanten, dem, als notwendiges Verweisungsspiel auf anderes, durchaus ein subjektkritisches Ethos inhärent ist. Das ist der Clou. Vokabeln wie Verantwortung und Ethik kommen Derrida relativ leicht über die Zunge. Und sie machen sogar guten Sinn. Schwerwiegender scheint mit ein anderes Argument zu sein: Wenn das transzendental verbohrte Subjekt auf das Fremde qua Schrift aufmerksam werden kann, muß es für die Fremdheit offen sein. Wie aber muß man die Affektivität beschreiben, die sich hier einzeichnet? Bleibt sie nicht sehr neutrisch und äußerst formal, wenn man immer nur wiederholt, es ginge um die Anfrage (interpellation) durch das Andere? Was 'sagt' mir das gesichtslose Andere? Bleibt die Anfrage nicht chaotisch und diffus? Hat nicht nur gesichtshafter Anspruch28 eine Bedeutungskraft? Gibt es eine gesichtslose Affektion, die weder ängstigt noch nur zum Spielen reizt, sondern Güte einstiftet?29 Gibt es ein Ethos ohne (humanistische) Gestalt?30 28 29

Vgl. Phaidros251 ä f f . Gegen Derridas Vorbehalte hat René Girard hartnäckig die Rede vom Ursprung kultureller und sozialer Institutionen beibehalten und verteidigt. Seine fundamentalanthropologischen Prämissen lauten. 1. In jedem Menschen steckt verborgen ein beträchtliches Zerstörungspotential. 2. Menschen werden sozialisiert durch das Nachahmen. Wir sind codierte Wesen, die Vorbilder nachspielen. Nimmt man beide Prämissen zusammen, ergibt sich aus dem Nachahmeverhalten heraus eine spezifische Form agonaler Destruktivität. Weil alle ihren Mimesistrieb ausagieren, gibt es aggressive Zielkonflikte. Wer andere in seinen Wünschen und Zielen nachahmt - dabei kann der Wert des intendierten Objekts nahezu wertlos sein -, gerät unweigerlich mit ihnen in Streit. Gilt die Struktur fiir alle gleichermaßen, wird der Krieg aller gegen alle unausweichlich Als Regelmechanismus zur Selbstbefahigung des gesellschaftlichen Miteinanders tritt die Sanierungsinstitution des Opfers auf den Plan. Das Opfer ist ein spezifischer Nachahmeritus, der die generelle Triebabfuhr in gesellschaftserhaltende Formen kanalisiert. Um diesen Konflikt auszutragen, wird stellvertretend ein Mitglied der Gruppe zum Sündenbock gestempelt und geopfert. In dieser Gründungsgewalt, die das agonale Chaos in gesellschaftskonstituierende Ordnung überführt,

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liege, so Girard, der Ursprung der sozialen und kulturellen Institutionen. Im Opfer komme zur Darstellung, wie es sich mit der Sozialität des Menschen verhalte: Wir brauchen den Sündenbock, um unsere Aggressivität zu kanalisieren. Eine gestörte Gemeinschaft - und eine Gemeinschaft ist zunächst strukturell immer agonal gestört - kann nur therapiert werden durch das Opfer einer Repräsentationsfigur. Nur die szenisch inszenierte, theatralische Triebabfuhr befähige das Kollektivsubjekt zu einem gewaltreduzierten Zusammenleben, ohne daß freilich die Ursachen der Gewalt damit bereits aus der Welt seien. Girard hat angeben können, an welcher Stelle dieser stellvertretende Opferritus durchbrochen wurde: in der Leidensgeschichte Hiobs und Jesu nämlich. Zwar wird auch Jesus unschuldig geopfert, aber es entsteht - und das ist entscheidend - kein Nachahmeritus, der die Opferhandlung immer wieder reinszeniert. Im wissenden Satz über das Unwissen seiner Mörder: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lukas 23, 34) - sprich: sie durchschauen nicht das mimetische Begehren -, wird das Phänomen des Heiligen seiner Gewaltambivalenz entkleidet. Gewalt ist nicht länger ambiguitäres Merkmal des Göttlichen. Zunächst hatte Girard seine Strukturformel mimetischen Begehrens nur für die Epoche des 19. Jahrhunderts behauptet, in: René Girard: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961. Vgl. ferner René Girard: La violence et le sacré, Paris 1972; René Girard: Origins as Literature. In: Jean-Pierre Dupuy, Francisco Varela (Hrsg.): Understanding Origins: Contemporary ideas on the genesis of life, mind and society, Dordrecht 1991, René Girard: Le bouc émissaire, Paris 1982. 30

Eine theologische Auseinandersetzung mit Derrida hat bisher im deutschen Sprachraum kaum stattgefunden. Einen ersten tastenden Versuch unternimmt Walter Lesch: Wer hat Angst vor Dekonstruktion? Jacques Derridas Herausforderung der Theologie. In: Walter Lesch, Georg Schwind (Hrsg.): Das Ende der alten Gewißheiten. Theologische Auseinanderstzung mit der Postmoderne, Mainz 1993, S. 27-48. Vgl aber: Mark C. Taylor: Garing. A postmodern Atheology, Chicago, London 1984; David Tracy: Theologie als Gespräch. Eine postmoderne Hermeneutik (engl. 1987), Mainz 1993.

Schrift als Gast

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1.1.2 Die Schrift als Gast Das szenische Schriftdenken (Lévinas)

Die Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung. Emmanuel Lévinas

Neben der 'mimetischen Logik der Zertreuung'31 wuchs innerhalb der phänomenologischen Bewegung als arme Verwandte die 'mimetische Logik der Stellvertretung und Gastfreundschaft' heran. Beide Denker: Derrida und Lévinas - dabei ist durchaus nicht ausgemacht, wer wen mehr beerbt hat - entwickeln ihre konzeptionellen Strategien nicht nur im produktiven Dissens mit den phänomenologischen Gründervätern, sondern auch in einer divergierenden Interpretation Piatons. Zwischen der Relektüre Husserl-Heideggers und der Piatons spannt sich der gegenwendige Diskurs. 1. In einer seiner kurzen Selbst Interpretationen behauptet Lévinas, die platonische Formel, die die Idee des Guten jenseits des Seins ansiedle (επέκεινα της ο υ σ ί α ς 32), sei die allgemeinste und leerste Andeutung dessen, was seinem Vorhaben zugrunde hege33. Lévinas radikalisiert die platonische Position, indem er das έπέκεινα ontologiekritisch wendet: die Idee des Guten (Unendlichkeit) ist exterior zur Totalität des Seienden (Endlichkeit). Seine beiden Hauptwerke lauten deshalb: "Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität" (1961) und "Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht" (1974). 31

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Vgl. zum Mimesis-Begriff die oben angeführte Arbeit von Gunter Gebauer und Christopf Wulf: Mimesis, loc. cit. Pol 509 b. Emmanuel Lévinas: De l'éxistence à l'éxistant, zweite verbesserte Auflage, Paris 1981, S. 9. Auch Heidegger bemüht Piaton, wenn er davon spricht, das Verstehen von Sein gründe "im Entwurf eines έπέκεινα της ουσίας" In: Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe Bd. 24. hrsg. von F.W. Herrmann, Frankfurt am Main 1975, S. 402. Die Auseinandersetzung zwischen Lévinas und Heidegger habe ich diskutiert in der Monongraphie. Das Sein und der Andere: Lévinas Auseinandersetzung mit Heidegger, Frankfurt am Main 1988.

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Das philosophische Schriftprinzip

In prätentionslosem Stil beschreibt Lévinas, wie sich das alltägliche Ich in seiner "natürlichen Einstellung" genießend, arbeitend und ausruhend eine kleine Welt erobert, in der es selbständig existiert. Gestört wird diese natürliche Einstellung, die Einstellung des "Carpe diem" nur, wenn der Andere von außen in diese Totalität eintritt. Lévinas nennt es die Epiphanie des Anderen. Ich zitiere die entscheidende Sequenz: "(D)ie Epiphanie des Anderen trägt ein eigenes Bedeuten bei sich, das unabhängig ist von dieser aus der Welt empfangenen Bedeutung. Der Andere kommt uns nicht nur aus dem Kontext entgegen, sondern unmittelbar, er bedeutet durch sich selbst. Seine kulturelle Bedeutung, die offenbart und sich offenbart, beides in gewisser Weise horizonthaft, - die sich offenbart von der historischen Welt her, der sie angehört, und die gemäß der phänomenologischen Redeweise die Horizonte dieser Welt offenbart - diese weltliche Bedeutung wird gestört und umgestoßen durch eine andere, abstrakte, der Welt nicht eingeordnete Gegenwart. Seine Gegenwart besteht darin, auf uns zuzukommen, einzutreten. Dies läßt sich so ausdrükken: Das Phänomen, das die Erscheinung des Anderen ist, ist auch Antlitz, oder auch folgendermaßen (um dieses Eintreten, das in jedem Augenblick in der Immanenz und Geschichtlichkeit des Phänomens stattfindet, zu zeigen): Die Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung. "34 Piaton beschreibt die angesprochene Erfahrung so: "Wer noch frische Weihung an sich hat und das Damalige vielfältig geschaut, wenn der ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten, hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott. "35 Zwar deckt die Semantik des Ausdrucks "Heimsuchung" auch das verstörende Moment der platonischen Ursituation mit ab, gleichwohl deformalisiert Lévinas den Gedanken durch die pointierte Verwendung anderer Prädikate: Das Antlitz, das das autonome Subjekt heimsucht, ist nicht schön, sondern nackt und

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Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg, München 1983, S. 220f. Phaidros 25 la ff.

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verletzlich wie der Fremde, die Witwe oder die Waise36. Einmal ist mit dem Prädikat der Nacktheit die konkrete Verletzlichkeit und Verwundbarkeit gemeint, sodann auch die Unmöglichkeit, das Antlitz vergleichend als etwas aufzuweisen und mit dem Gewebe innerweltlicher Bedeutung zu bekleiden. Weil das Antlitz der sinngebenden Intentionalität nichts verdankt, bedeutet es sich selbst und setzt den homogenisierenden Verstehensgelüsten erkennender Subjektivität einen ethischen, wehrlosen Widerstand entgegen, der Gerechtigkeit einfordert. Damit in der Situation der Heimsuchung der Hausherr sich nicht ein objektivierendes Bild vom Anderen machen kann, bestimmt Lévinas das Antlitz als ein Sagen (dire), als ein nonverbales Sprechen oder als Ausdruck, der unbedingt und kontextlos angeht. Jede auf die stumme Anrede antwortende Aussage bricht die abgeriegelte Totalität der autonomen Subjektivität auf - "Bitte, kommen Sie herein" - und teilt dem anderen wie Lévinas sprachspielend sagt - die Welt mit. Ursprungslogisch verdanken sich Aussagen, das objektivierende Vorstellen von etwas, so will Lévinas deutlich machen, der Intrige der Heimsuchung: Objektivität, die Sachlichkeit der Aussage (frz.: proposition: auch Anerbieten) ist nur umwillen und wegen des Anderen: "Der Andere ist Prinzip des Phänomens."37 Er stiftet im Selben ein Begehren38, das sich nicht wie ein Bedürfiiis befriedigen läßt, sondern als Begehren des Unendlichen nie ins Ziel kommt. Nur das mimetische Begehren ist Ursprung der sozialen Institutionen, gemeinsamer Welt überhaupt. Das ist Lévinas Pointe. Wie immer in Lévinas Diskurs, so ruft auch die hier betonte Lebendigkeit des Ausdrucksgeschehens eine vielstimmige Reminiszenz hervor: a) "Lebendigkeit" bleibt das zentrale Stichwort, das Lévinas ganz im Sinne Piatons zur Denunzierung bildender Kunst einsetzt: Verkommen 36

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Diese alttestamentliche Trias ist so antigriechisch wie nur möglich, weil bei Aristoteles der Fremde als Feind die Grenze des ethischen Handelns bestimmt. Dazu: Günter Figal: Fremdheit und Feindschaft. Erörterungen zur Grenze des Ethischen, in: Wort und Dienst 1985, S. 229-251. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, (frz. 1980), übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg, München 1987, S. 129. Lévinas macht eine ontologische Differenz auf zwischen dem Bedürfnis und dem Begehren, zwischen dem Bedürfnis nach innerweltlich begegnenden Dingen und dem Begehren des unendlichen Anderen.

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Artefakte39 als Standbilder zur karikaturhaften Verdoppelung der Realität, die keinen Zugang zur Wirklichkeit und damit zur Begegnung des Anderen erlauben, so erschließt der lebendige Ausdruck eine gemeinsame, mitteilbare Welt. Man darf sich also kein Bild vom Anderen machen. b) Die Denunzierung des Bildes transformiert gleichzeitig das alttestamentliche Bilderverbot im philosophischen Kontext: "Mein Anliegen ist immer wieder d(en) Nichthellenismus der Bibel in hellenistische Termini zu übersetzen."40 Der Andere kommt von Jenseits des Sichtbaren und hält sich in der Spur - ein Begriff, den Lévinas in der Exegese neuplatonischer Philosophie konturiert41 - des Abwesenden, ohne den Abwesenden selbst präsent zu machen. Nur in der ethischen Situation der Heimsuchung, nur in der Störung der egozentrischen Ordnung geht diese Abwesenheit des Unendlichen den Menschen wirklich an. Das έπέκεινα της ουσίας gewinnt Bedeutung in der rätselhaften Vieldeutigkeit dieser Spur. Und obwohl die anarchische Spur niemals Gegenwart einer Vorstellung war und nur in der außerordentlichen Gegenwart des Anderen mir in den Sinn kommt, denkt Lévinas die Idee des Guten als personale Gestalt, als eine, wie er im Anschluß an eine jüdische Gebetsformel sagt: Dleität, die den heimsuchenden Anderen schickt. "Auf ihn (auf Gott, K.H.) zugehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen. Es heißt, auf die Anderen zugehen, die sich in der Spur dieser Oleität halten."42 c) Gleichermaßen dient das Stichwort der Lebendigkeit schließlich zur kritischen Markierung einer Grenze der Husserlschen Phänomenologie: "Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes lebendig."43 "Epiphanie" und "Phänomen" werden so zu 39

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Vgl. Emmanuel Lévinas: La realité et son ombre, in: Les Temps Modernes 38 (1949), S. 769-789. Emmanuel Lévinas: Wenn Gott ins Denken einfallt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, übersetzt von Thomas Wiemer. Mit einem Vorwort von Bernhard Casper, Freiburg, München 1985, S. 107. Vgl. Bernhard Casper: Illéité. Zu einem Schlüssel"begrifl" im Werk von Emmanuel Lévinas, in: Philosophisches Jahrbuch 91 (1984), S. 273-288. Emmanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, (frz. 1972), übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg 1989, S. 59. Die Spur des Anderen, loc. cit., S. 221.

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Kontrastbegriffen. Erfüllt sich für Husserl jeder meinende Akt in der sachnahen Anschaulichkeit - der intentionale Akt, durch den das Ich immer schon 'draußen' bei den Sachen ist, wird durch den Augenschein bestätigt oder revoziert -, dann tritt hier an die Stelle der Husserlschen Anschauung die ethische Geste. "Die Transzendenz ist keine Optik, sondern die erste ethische Geste."44 2. In der produktiven Anverwandlung der platonischen Idee des Guten erkundet Lévinas also das Jenseits der Husserlschen45 Vorstellung, um den Ehrgeiz des transzendentalen Ich mit dem Ursprung von Sinn zu koinzidieren zu zertreuen: Der Andere ist das Prinzip des Phänomens. Im Frühwerk dominiert die Strategie, mit Hilfe der Phänomenologie über das Sichtbare hinauszufragen: Die Epiphanie markiert das Jenseits der Vorstellung. Im Spätwerk konzentriert sich die Dekonstruktionsarbeit darauf, das Diesseits der Intentionalität auszuleuchten. "Sinnlichkeit" lautet der Titel für das gesuchte Kraftfeld diesseits transzendentaler Sinngebungsakte. Lévinas' beeindruckende Interpretation der Husserlschen Analysen zur passiven Synthesis des Bewußtseins zeigt, wie die lebendige Gegenwart der Urimpression im Fluß des Bewußtseinsstroms nur passiv synthetisiert werden kann. Hier hegt die transzendentalphilosophische Schwelle, über die das Andere immer schon in das Selbe eintritt. Weü das Bewußtsein den Augenblick der "Nichtkoinzidenz mit 44 45

Totalität und Unendlichkeit, loc. cit., S. 253. Im späteren Diskurs bleibt oft unentscheidbar, welchen Autor Lévinas dekonstruiert. So hat etwa der frühe Lévinas die ontologische Differenz Heideggers als ontologische Trennung ausgelegt. Das lag zumal an unterschiedlichen Erfahrungen von Unbestimmtheit, die beide Sein nennen. Erfuhr der frühe Heidegger "Unbestimmtheit" oder "Offenheit" als die Möglichkeit von Entdeckungen, so erfuhr Lévinas die Unbestimmtheit als die Abgründigkeit der eigenen Sinnlichkeit, die die Stabilität des Ichs bedrohe. Nur im Kind, so Lévinas Pointe, könne das Ich die chaotische Unbestimmtheit des eigenen Seins dauerhaft transzendieren. Der späte Lévinas deutet, wie zu zeigen, die Sinnlichkeit anders: im Sinnlichen selbst wohnt das Andere, und die Erfahrung der Unbestimmtheit, die Lévinas im Frühwerk negativ bewertet hatte, wird jetzt als Angst vor dieser Andersheit gedeutet. Im Spätwerk klärt sich Lévinas also über seine eigenen Erfahrungen und seinen ontologischen Traum einer Trennung vom Sein qua Sinnlichkeit auf. Ich habe deshalb in meiner Monographie zu Lévinas von einer 'Kehre' gesprochen: Klaas Huizing: Das Sein und der Andere. Lévinas' Auseinandersetzung mit Heidegger, loc. cit.

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sich selbst"46 nicht reflexiv einholen kann, weil in der Zeitkadenz der Trennung von Empfindung und Empfundenem das Bewußtsein selbst erst erwacht - und in jedem Augenblick erwacht - ist es schlechtes Gewissen: "conscience". Das Ich ist niemals Herr im eigenen Haus. Mit einer von ferne an Bubers Rede vom "eingeborenen Du" erinnernden Formulierung spricht Lévinas deshalb vom "l'autre dans le même"47. Hier hegt die Bedingung der Möglichkeit, von etwas angesprochen zu werden, das jenseits der Intentionalität bedeutet: Nur weil im Selben das Andere immer schon eingeschrieben ist, bleibt es offen für den Anspruch des Anderen und erwacht erst jetzt wirklich aus dem selbstgerechten Traum des Bei-sich-seins. "Das Bewußtsein ist immer verspätet beim Rendezvous mit dem Nächsten, in dem Bewußtsein, das das Ich von dem Nächsten hat, ist es immer angeklagt und schuldhaft, schlechtes Gewissen."48 Dieses Erwachen nennt Lévinas eine Umwendung des Bewußtseins, eine Emphase oder auch eine Intrige. Auf der Bühne der Sinnlichkeit geschieht das kathartische Spiel: gleichermaßen innen und außen. Bevor der Verstand ein Urteil fallt und der Wille befragt wird, bricht in der Intrige der Sinnlichkeit die Dimension der Transzendenz auf, eine "Kernspaltung des Ich", die gleichwohl dem Ich eine neue Identität einstiftet: "Von der Sinnlichkeit her ist das Subjekt für den Anderen: Stellvertretung, Verantwortung, Sühne"49, eine "Verantwortung, die in keinem vorgängigen Engagement gründet" und die doch kein anderer als der Angesprochene übernehmen kann. Lévinas nennt es den Ernst der Geiselschaft: "Dieser Geiselstand oder -unstand wird daher zumindest eine wesentliche Modalität der Freiheit sein, die erste, und nicht ein empirischer Zufall der in sich stolzen Freiheit des Ich."50 Lévinas versteht Mimesis also als Konstitution einer gemeinsamen Welt im Akt des Aussagens; anders gewendet: ethische Verantwortung, die Umkehrung der natürlichen Einstellung, verdankt sich einer Intrige der Heimsuchung. Der Begriff der "Intrige" wird im Spätwerk nicht 46 47

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Die Spur des Anderen, loc. cit., S. 172. Emmanuel Lévinas: Autrement qu' être ou au-delà de l'essence, Den Haag 2 1978, S. 32. Die Spur des Anderen, loc. cit., S. 282. Humanismus des anderen Menschen, loc. cit., S. 94. Die Spur des Anderen, loc. cit., S. 329.

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zufällig zum Schlüsselbegriff der szenischen Phänomenologie51. Weil das transzendentale Ich anarchisch von einer Fremdheit, einer Passivität heimgesucht ist, die es wie eine offene Wunde mit sich herumträgt, bleibt es empfindlich für außerordentliche Ereignisse, bleibt es sensibel für Überraschungen. Lévinas verstört die Zuschauerposition des transzendentalen Ego in der Husserlschen Phänomenologie, indem er szenisch das Ego ununterbrochen aus seinen transzendentalen Träumen aufrüttelt. Diesseits und Jenseits der Vorstellung spielt sich das Drama der "unnatürlichen Einstellung" ab. Aufgabe szenischer Phänomenologie bleibt es, die Situationen zu beschreiben, in denen dieses Erwachen, das Transzendieren, sich ereignet. "Die hier geübte Methode besteht durchaus darin, die Bedingung der empirischen Situationen aufzusuchen; aber sie schreibt den sogenannten empirischen Ausprägungen, in denen sich die bedingende Möglichkeit erfüllt - sie schreibt der Konkretisierung - eine ontologische Rolle zu, die den Sinn der begründenden Möglichkeit präzisiert, einen Sinn, der in der Bedingung selbst unsichtbar bleibt."52 So ist die Bedingung der Situation der Gastfreundschaft der Besitz eines Hauses und damit die Möglichkeit, dem Anderen etwas anzubieten. An dieser Bedingung der Möglichkeit läßt sich aber nicht die ontologische Konsequenz ablesen, die sich in der Konkretisierung ereignet: die Konstitution einer gemeinsamen Welt im aussagenden Mitteilen51. Szenisch verfahrt dieser Denkgestus schließlich auch auf der Ebene der Darstellung. Die Intrige, um die es Lévinas geht, spielt sich im 51

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Seit dem Frühwerk beschreibt Lévinas eine Fülle kleiner Situationen, die ihre Einheit in der Situation der Heimsuchung finden. Vgl. besonders: De l'éxistance à l'existant, loc. cit., und: Die Zeit und der Andere, (frz. 1979), übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler, Hamburg 1984. Totalität und Unendlichkeit, loc. cit., S. 25If. "Diejenigen, die ihr Leben lang Methodologie getrieben haben, haben viele Bücher geschrieben, die interessantere Bücher ersetzen, die sie hätten schreiben können." Emmanuel Lévinas: Wenn Gott ins Denken einfallt, loc. cit., 113. Es ist naheliegend, Lévinas' mimetische Theorie vor dem Hintergrund der Mimesis-Konzeption Girards zu profilieren. Beide versuchen, die Kanalisierung von Gewalt, die zur Konstitution von Welt führt, ursprungslogisch zu ergründen. Lévinas dehnt - einmal mit den Augen Girards gelesen - den Sündenbockmechanismus universalontologisch aus: Alle werden gegen ihren Willen und trotz ihrer Unschuldigkeit zu Stellvertretern für die Anderen.

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Diesseits der Vorstellung, im Diesseits der Aussagbarkeit, auf der Ebene des Sagens also ab. Und das ist die Malaise: Diese Ebene läßt sich im philosophischen Diskurs nicht eigentlich darstellen, sondern der philosophische Diskurs muß sich immer selbst widerrufen, um auf seine Wurzeln im Sagen hinzuweisen. In diesem Widerstreit von Sagen und Aussagen oszilliert die dichte Schreibe. Ohne selbst zur Dichtung zu werden, inszeniert der Text ethikkonstitutive Entdeckungssituationen, die auch beim Leser die vergessene Nichtkoinzidenz mit sich selbst in Erinnerung rufen will: eine neue Identität ereignet sich lesenderseits. Vom Ursprung eines Humanismus des anderen Menschen im Lesen also - so ließe sich das Programm des späten Lévinas zusammenfassen54. Nur im Vollzug einer szenischen Phänomenologie glaubt Lévinas den Nichthellenismus der Bibel angemessen in griechische Termini übersetzen zu können. In einer unaufhörlichen Meditation auf seine jüdischen Wurzeln, die sich in zahlreichen talmudischen Studien niedergeschlagen haben, untersucht er die Mikrostruktur dieser Methode. Lévinas liest die Bibel als große Schriftspur des Anderen, dessen einzelne Geschichten er minutiös auf den komplexen Situationsgehalt hin befragt und dessen Reinszenierung bei anderen Autoren er aufspürt. Wesentüch sind "wir vom Buche her"35, sagt Lévinas und betont damit das letztlich buchreligiöse Theorieprofil dieses Denkens56. 54

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Vgl. Elisabeth Weber: Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Lévinas "Autrement qu'être ou au-delà de l'essence", Wien, Graz 1990. Weber erarbeitet sehr präzise Stilanalysen zum Oeuvre. Einen werkgeschichtlichen Leitfaden zur Lektüre bietet Wolfgang Nikolaus Krewani: Emmanuel Lévinas: Denker des Anderen, Freiburg, München 1992. Emmanuel Lévinas: Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe. Ein Gespräch, in: Concordia 4 (1983), S. 48-62, hier: S. 53. Vgl. dazu auch Jacques Derrida: Eben in diesem Moment, in diesem Werk findest du mich. In: Michael Mayer, Markus Hentschel (Hrsg.): Lévinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie. Parabel 12, Gießen 1990, S. 30-42. Lévinas widmete mehrere Aufsätze denjenigen Schriftstellern, die die Schriftspuren in Texten reflektiert haben, namentlich etwa Celan und Blanchot. Vgl. zu Blanchot: Sur Maurice Blanchot, Paris 1975. Lévinas versteht, wenn ich recht sehe, die Bibel als idealen Kanon transzendenzkonstitutiver Situationen. Diese These werde ich noch eingehend diskutieren. Georg Steiner forciert die bei Lévinas entwickelte Phänomenologie der Heimsuchung in seinem vieldiskutierten Essay: "Von Realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?", München, Wien 1990. Das Szenario, das er entwirft, geht nicht über das bei Lévinas

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1.1.3 Schrift als Appell Das humanistische Schriftdenken (Ricoeur) Jenseits der Alternative von trübem Ineinanderfließen und starrem Fremdbleiben stellt die anzustrebende Konvergenz von écriture und Lektüre eine analogisierende Beziehung her. Paul Ricoeur

Ricoeur übersetzt den transzendentalen Idealismus Husserls in eine hermeneutische Textphänomenologie, indem auch er die von Husserl versuchte bewußtseinstheoretische Einholung vorgegebener Exteriorität subjektivitätskritisch als Schrifterfahrung spiegelt57. Anders als bei Derrida ist es nicht die Erfahrung der Zerstreuung durch den Text, auch nicht wie bei Lévinas die Erfahrung vom Anderen des Textes in Dienst genommen zu werden, sondern für Ricoeur besteht die Schrifterfahrung darin, in die Welt eines Textes einrücken und sich dazu angemessen verhalten zu können. Den Nullpunkt der Orientierung bildet auch für Ricoeur nicht mehr die transzendentale Subjektivität, sondern der Text ist das konstitutive Gegenüber; nicht länger horizontalisiert die synthetische Kraft des inneren Zeitbewußtseins die Zeit der Erfahrung, sondern fíktionale Zeiterfahrung horizontalisiert die temporalen Bezüge einer neu eröffneten Lebenswelt; verstehen meint auch nicht länger nur noch - wie beim frühen Heidegger - ein vorprädikatives Verstehen auf etwas, to know how,

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hinaus, wird allerdings durch den Begriff der "cortesia", den Herzenstakt, weiter deformalisiert: "Was uns besuchen, 'uns heimzusuchen' kommt, meldet sich sehr häufig unerbeten. Selbst wo eine gewisse Bereitschaft vorhanden ist, wie im Konzertsaal, im Museum, im Moment ausgewählter Lektüre, findet der Eintritt in unser Selbst meist nicht vermittels eines Willensaktes statt." (236) Vgl. Paul Ricoeur: Phénoménologie et herméneutique, in: Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.): Phänomenologie heute. Grundlagen und Methodenprobleme, Freiburg, München 1975, S. 31-75.

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sondern Heideggers Einsicht des Kunstwerkaufsatzes58 schlägt durch, wenn Selbstverstehen den externen Referenzbezug abdeckt: verstehen angesichts eines Werks, das Welt erschließt; an die Stelle wissenschaftlicher Letztbegründung in der Anschauung tritt schließlich die auf "Umwegen" geschehende Erforschung von Ausdrucksmodi authentischer Lebendigkeit in Texten, die für den Leser Appellcharakter haben; kurz: die bei Husserl beinahe vollständig abgeschattete Mimesisproblematik für das Selbstverstehen tritt ins Zentrum des Interesses. Fragt man nach der Leistungskraft dieser Synopse von Hermeneutik und Phänomenologie, so muß man zunächst den zentralen Status des Werk-RsgàSs klären, um dann in einem zweiten Schritt die Verschränkung von Text (Werk)-Welt und Lese-Welt aufzuhellen59. 1. Mit dem Begriff" des Werkes stellt Ricoeur sicher, daß Texte sich einer Intention verdanken. Von einem Werk spricht Ricoeur, wenn sich ein textuelles Gebilde nicht als eine Anhäufung von Sätzen, sondern als strukturiertes, überlegt komponiertes Ganzes in einer genauer zu bestimmenden Gattung (Erzählung, Essay etc.) zu erkennen gibt. Der gestalthafte Charakter von Werken bildet die Basis für deren immanente Intelligibilität. Gleichermaßen gegen die Versuche gerichtet, den Sinn eines Werkes durch eine subjektunabhängige Kombinatorik zu erklären oder im Akt ummittelbaren Verstehens qua Einfühlung den Sinn zu vernehmen, plädiert Ricoeur für eine Dialektik von Verstehen und Erklären: "Als Verstehen begreife ich das Vermögen, in sich selber die Arbeit der Strukturierung des Textes zu übernehmen. Unter Erklären verstehe ich die Operation zweiter Stufe, die auf diesem Verständnis aufgebaut ist und darin besteht, die Kodes an Tageslicht zu holen, die dieser Strukturierungsarbeit zugrunde hegen, die den Leser begleitet."60 2. Damit ist freilich nicht behauptet, der Sinn des Werkes gehe in der Intentionalitätsstruktur des Autors auf. Ricoeur wendet hier positiv, was 58

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Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, S. 1-74. Vgl. Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Paul Ricoeur, Eberhard Jiingel: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh (Sonderheft), München 1974, S. 24-55. Einen schnellen Einblick in das Denken Ricoeurs verschafft der Text: Paul Ricoeur: Erzählung, Metapher und Interpretationstheorie, in: ZThK 1986, S. 232-253.

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Piatons Schriftkritik als warnendes Szenario entwarf: Texte entfernen sich von der Intention des Sprechers, der ursprünglichen Sprechersituation und dem Dialogpartner und erhalten damit einen semantischen Autonomiestatus. Diesen Mehrwert, der über die subjektive Intention des Autors hinausgeht, bestimmt Ricoeur als Stil. Dabei steht der Stil für die unvergleichliche kompositorische Binnenstrukturierung des Werkes. 3. Eine vom Primat der Subjektivität befreite Hermeneutik befragt nicht nur die innere Dynamik des Werkes, sondern erforscht auch die durch das Werk geschehene Eröffnung einer Welt. Der Referenzstatus des Werkes wird somit fimdamentalontologisch gedehnt: Im Idealfall ubiquitär zugänglich, erschließen Werke einen Sinnzusammenhang - den einer möglichen Wirklichkeit -, der einen Verhaltensspielraum für die Leser eröffnet. Wirkliches Selbstverstehen ist textvermitteltes Selbstverstehen: Es gibt nur den Umweg über den Text. "Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere. Die Lektüre bringt mich in die imaginative Veränderung des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel ist auch die spielerische Verwandlung des Ich. (...) Was ich mir schließlich aneigne, ist ein Entwurf von Welt; dieser findet sich nicht hinter dem Text, als dessen verborgene Intention, sondern vor dem Text als das, was das Werk entfaltet, aufdeckt und enthüllt. Daher heißt Verstehen SichVerstehen vor dem Text."61 4. Werke zielen durch den quasi-personalen Anspruch an den Leser auf eine lebenspraktische Antwort, sprich: auf die Refiguration durch den kompetenten Leser. Ricoeurs opus magnum "Zeit und Erzählung"62 bietet ein Tableau aller avancierten Zeit- und Texttheorien, aus denen er eine gegen Derrida lancierte "humanistische Neukonzeption des Mimesisbegriffs"63 herausfiltert. Sein im Unterschied zu den frühen Arbeiten zur Texttheorie um viele Nuancen verfeinertes Theoriekonzept verdankt sich namentlich 61

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Paul Ricoeur: Philosophische und theologische Hermeneutik, loc. cit., S. 33, 40. Vgl auch Johan Huizinga: Homo ludens Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Göttingen 1939 Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung, München 1988; Bd. II: Zeit und literarische Erzählung, München 1989; Bd. III: Die erzählte Zeit, München 1991. Vgl. Jörg Villwock: Zerstreute Einheit. Eine humanistische Neukonzeption des Mimesisbegriffs, in: Philosophische Rundschau 39 (1992), S. 111-125.

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einer imposanten Interpretation der aristotelischen "Poetik". Aristoteles betont die produktive Dimension der Mimesis, in einem taxonomen Gefiige das Universale - oder wie Ricoeur sagt: das Geistige64 - zum Ausdruck zu bringen. Fiktive Geschichten, nach Aristoteles Mythos oder Fabel - im Französichen "intrigue"65 -, mimen eine "Nachahmung der Handlung", und zwar in einem geschlossenen Handlungsablauf so daß "dieses Tun doch der phronesis (der praktischen Klugheit, K.H.) nahe(kommt)".66 Wie vollzieht sich aber genauer diese poietisch-geistige Kraft der Mimesis? Ricoeur unterscheidet drei aufeinander bezogene Mimesisebenen, die er auf die semantische Trias Präfiguration, Konfiguration und Refiguration bringt. Mimesis I liefert den Boden und bezieht sich auf die Fähigkeit ein integrales "Vorverständnis vom menschlichen Handeln"67 hinsichtlich seiner semantischen, symbolischen und phänomenologischen Kriterien zu erarbeiten. Mimesis II fügt das phänomenale Feld virtueller Handlungen entsprechend der gewählten Gattung kompositorisch zu einem homogenen Ganzen zusammen. Ziel der poietischen Leistung bleibt eine Sensibilisierung für mögliche Handlungsvollzüge. Eine ästhetische Schulung wird zur Elementarbedingung für eine neu zu strukturierende praktische Vernunft erhoben. Mimesis III bedenkt die Vermittlung zwischen der Welt des Textes und der Welt des Lesers: das Werk als (intentionales) Vehikel (I) erzeugt eine innere Erfahrungsgeschichte (II), die sich physiognomisch und gestisch entlädt (III). Weil die fiktive Erzählung die Tiefen der Einbildungskraft stimuliert, erreicht der Hörer/Leser eine Distanz zu seinen willentlichen und verstandesmäßigen Vollzügen, die durch die Texterfahrung neu ausgerichtet werden (katharsis). Mimesis III fächert Ricoeur anhand gängiger Theoriemodelle, die die Konfigurationsstrategie eines Textes auf die lebenspraktische Wirkung hin untersuchen, in dreifacher Hinsicht auf: a) als Autorintention, b) als Rhetorik zwischen Text und Leser und c) als Antwort des Lesers, als Phänomenologie der Lektüre. 64 65

66 67

Bd. I, loc. cit., S. 68. Bei Lévinas wird, wie oben gesehen, der Begriff der "Intrige" zum Schlüsselbegriff seines szenischen Denkens. Bd. 1, loc. cit., S. 68. Ebd., S. 103.

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a) Offensichtlich kollidiert die erste Strategie, die die Rhetorik des Textes als Autorintention auslegt, mit dem common sense einer semantischen Autonomie des Textes. So will sie freilich nicht verstanden werden, weil nur die im Werk auffindbaren Strategien der Überzeugung, namentlich der Stil, befragt werden sollen: "Daraus ergibt sich, daß die einzige Art von Autor, dessen Autorität hier ins Spiel kommt, nicht der reale Autor als möglicher Gegenstand einer Biographie ist, sondern der implizierte Autor."68 Isoliert man allerdings die Perspektive, bekommt der implizierte Autor alle Macht, einen Leser zu schaffen. Vertreter dieser Theorien müssen deshalb dem Autor immer hehre Ziele unterstellen und zugleich die moderne Literatur, die die magna Charta der Menschenrechte nicht platt inszeniert, denunzieren: "Daß die moderne Literatur gefährlich ist, ist unbestreitbar. Die einzig würdige Antwort, die man ihren Kritikern, allen voran Wayne Booth, geben kann, ist die, daß diese heimtückische Literatur einen neuen Lesertyp erfordert: einen Leser, der antwortet."69 b) Wenn in der Moderne der Erzähler unzuverlässig und damit der mündige Leser eingestandenermaßen unverzichtbar wird, könnte eine vermittelnde Position darin bestehen, nicht länger den Hauptakzent auf die Überzeugungsstrategie des implizierten Autors zu legen, sondern zu untersuchen, "wie ein Text seine wirkliche oder mögliche Lektüre - explizit oder nicht - selbst thematisiert, ja theoretisch fundiert"70. In einem Paradox läßt Ricoeur seine differenzierte Erörterung der Position kulminieren: Einerseits führt die "These von der 'Lektüre im Text', nimmt man sie, wie der Autor (Michel Charles, K.H.) es wiederholt verlangt, absolut, nicht mehr bloß auf das Bild eines manipulierten Lesers, wie es der von Wayne Booth beschriebene Leser zu sein schien, der von einem unzuverlässigen Erzähler verführt und verdorben wird, sondern auf das eines Lesers, der durch die dekretierte Prädestination seiner eigenen Lektüre terrorisiert wird. Andererseits gibt die Perspektive einer unendlichen Lektüre, die unaufhörlich den Text, der sie

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Bd. III, loc. cit., S. 258. Ebd., S. 264. Bd. III, S. 265, Anm. 17. An dieser Stelle zitiert Ricoeur die Arbeit von Michel Charles: Rhétorique de la lecture, Paris 1977

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vorschreibt, strukturiert, der Lektüre eine beunruhigende Unbestimmtheit zurück."71 c) Bleibt noch diejenige Lektüretheorie, die das Hauptaugenmerk auf den Akt der Lektüre legt, der die "Strategeme des implizierten Autors" auslegt. Weil in dieser Perspektive die "Erforschung der mannigfaltigen Weisen, wie ein Werk durch seine Wirkung den Leser affiziert "72, intendiert wird, spricht Ricoeur nicht mehr von der Rhetorik, sondern der Ästhetik der Lektüre - Ästhetik hier in seiner urgriechischen Bedeutungsfülle von "aisthesis", Wahrnehmung, verstanden. Ricoeur schlägt nach seiner Sondierung des Terrains vor, Isers Wirkungsästhetik und Jauß' Rezeptionsästhetik als Wechselwirkung zu interpretieren: Iser73 untersucht die Wirkung des Textes auf seinen individuellen Leser, Jauß74 die "Antwort des Publikums auf der Ebene seiner kollektiven Erwartungen". Beide aber setzen sich gegenseitig voraus, "denn einerseits offenbart der Text seine 'Appellstruktur' im individuellen Lesevorgang; und andererseits wird der Leser dadurch zu einem kompetenten Leser, daß er an den im Publikum sedimentierten Erwartungen partizipiert; der Akt des Lesens wird so zu einem Kettenglied in der Geschichte der Rezeption eines Werks durch das Publikum."75 Wolfgang Iser, der auf Vorarbeiten Roman Ingardens76 zurückgreift, untersucht den Text auf Schemata hin, die die Phantasietätigkeit, genauer: die Verbildlichungsleistung des Lesers steuern. Diese Verbildlichung verläuft im Pendelschlag von "ständig zu modifizierenden Erwartungen und erneut abgewandelten Erinnerungen"77. In den Akten dieser 71 72 73

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Bd. III, S. 269f. Loc. cit., S. 270. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, München 1984, ders: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, in: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis (UTB 303), München 1975, S. 228 -252. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfiirt am Main 1970; ders.. Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1982. Bd. III, loc. cit., S. 271. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, Tübingen 2 1961; ders.: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968. Zitiert nach Ricoeur, loc. cit., S. 273. Hier läßt sich die Husserlsche Verschachtelung von Protentionen und Retentionen im inneren Zeitbewußtsein unschwer

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Verbildlichungsleistung und in der Konfigurationsarbeit, die der moderne Roman dem Leser seit Joyce zusätzlich aufbürdet, herrscht also eine wirkliche Interaktion zwischen Text und Leser, in der sich Anspruch und mündige Antwort entsprechen. Zwischen den Zwängen der Fiktion und der Freiheit der Phantasievariationen oszilliert also die Dialektik der Refiguration. Nur der Wirkungs- oder Rezeptionsästhetik gelingt es, die Dialektik von Freiheit und Zwang zu vermitteln: Will die Rhetorik der Fiktion den Leser identisch machen, zeigt die Theorie des Lesekalküls, wie sich Leser von den Strategien terrorisiert fühlen können. Erst eine analogisierende Beziehung zwischen den Erwartungen des Textes und des Lesers läutet einen glücklichen Mittelweg der "Horizontverschmelzung" ein, der gleichermaßen den Leser zu einem Neuaufbruch nötigt und ihm zugleich die Freiheit läßt, die im Werk eröffnete Welt nach eigenem Stil zu bewohnen. Abgeschattet blieb in dieser Skizze Ricoeurs bisher diejenige Seite des opus magnum, die den zweiten Konkretionstyp der Narrativität thematisiert: das historische Erzählen. Ricoeur behauptet eine funktionale Einheit der beiden Erzählweisen in ihrem zeitlichen Charakter. Integral läßt sich die Geschichtlichkeit des Menschen nur bestimmen, wenn historisches und fiktives Erzählen in ihrer "Überkreuzung"78 plausibel werden. Das ist Ricoeurs verwegene These. Weil der Mensch unlösbar in 'Geschichten verstrickt'79 ist, gehören fiktives und historisches Erzählen zur einheitlichen narrativen Lebensform. Diese Thesen sind sicherlich nicht selbstverständlich, denn wie soll sich etwas überkreuzen, das im ontologischen Sinn keinen Berührungspunkt hat? Handlungstatsachen werden in Aussagen aufgewiesen, während poetische Fiktion in der Schwebe des 'als ob' verharrt. Spätestens seit Nietzsches Kritik historistischer Vernunft hat die Geschichtstheorie allerdings die 'imaginative Rekonstruktionsleistung' im Prozess der

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reidentifizieren Dazu Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Husserliana Bd. X, Den Haag 1966, S. 29ff. Ebd., S. 294 Der Ausdruck stammt von Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt am Main ^ 1985.

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Geschichtsschreibung herausgestellt: Fakten müssen anhand etwa eines organischen Werk-Modells piaziert oder aber als Handlungsplots in den Gattungen der Tragödie oder sogar der Satire angeordnet werden. Geschichtsschreibung ist als Werk beides: ein "literarisches Kunstwerk"80 und eine Darstellung von Wirklichkeit. Behauptet wird also eine Gleichung von Narration und Tradition. Ricoeur konkretisiert seine These am Beispiel der biblischen Hermeneutik, die hier einwenden könnte, die alttestamentliche Theologie der Überlieferung weise "nichtnarrative Segmente auf, vor allem Gesetze, die aus diesem Teil der hebräischen Bibel eine Lehre machen, eine Tora; worauf man antworten könne, daß das Massiv der Gesetzgebungen, das später auf die emblematische Figur des Moses bezogen wurde, der Theologie der Überlieferungen nur aufgrund einer Narrativierung des gesetzgeberischen Moments selber integriert werden konnte; die Gebung des Gesetzes wird zu einem Ereignis gemacht, das würdig ist, erzählt zu werden, und wird so in die große Erzählung integriert."81 Parallel zur Fiktionalisierung der Historie diskutiert Ricoeur die Historisierung der Fiktion82, ist doch die fiktive Erzählung eine schöpferische Neubeschreibung oder neuschöpferische Beschreibung von Wirklichkeit. Als epochale Eröflhung von Welt erschließt sie Handlungsmöglichkeiten, die die Struktur des bisherigen Lebens umzukehren vermögen. Ihre referentielle Funktion besteht zudem darin, "die quasi stumme Zeiterfahrung"83 des Alltags auszubilden. Auch wenn historische und fiktive Erzählungen ihren Wirklichkeitsbezug also unterschiedlich gewichten und einen unterschiedlichen Wahrheitsanspruch haben, ist damit zunächst die Möglichkeit der Überkreuzung erhellt: Fiktive Erzählungen haben eine wirklichkeitserschließende Dimension qua Möglichkeit, aber auch die Geschichtsschreibung harter Fakten kommt ohne das Moment der Fiktionalität nicht aus. Wenn ich ihn recht verstehe, behauptet Ricoeur: Die universalgeschichtliche Weltzeit und die subjektpsychologische Zeit überkreuzen sich im narrativen Bewußtsein des Menschen und finden zur transitorischen Einheit. Das 80 81 82 83

Paul Ricoeur: Bd. III, loc. cit., S. 302. Ebd., S. 415, Anm. 23. Ebd., S. 306f. Paul Ricoeur: Erzählung, Metapher und Interpretationstheorie, loc. cit., S. 238.

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Humanuni existiert nur als Humanuni, wenn es beide Dimensionen - und Ricoeur wirft Husserl und Heidegger vor, die der Weltzeit unterschlagen zu haben - bewahrt. Die Unmenschlichkeit der vergehenden und alles zersetzenden Zeit wird nur durch die fiktive und historische Erzählung vermenschlicht, weil sie die Distentionalität der Zeit, ihre Zerstreuung, in eine Intentionalität, eine Offenbarung neuer Möglichkeiten umkehrt. Hierin besteht die humane Tiefendimension narrativer Fiktionalität84. Von hier aus läßt sich relativ leicht eine Brücke schlagen zur theologischen Hermeneutik. Ricoeur deutet sie in einigen Aufsätzen nur kurz an 85 : In der Figur Jesu Christi überkreuzen sich beide Konkretionsmodi von Narrativität: Einmal wird seine Geschichte als universalgeschichtüch bedeutsames Ereignis zu einem Werk verdichtet - sogar in vierfacher Perspektive - , andererseits erzählt er Geschichten, die die Zeitstruktur der Wirklichkeit schöpferisch aufbrechen. Beide Ebenen kreuzen sich in seiner Figur, weil die erzählten Geschichten die eigene Geschichte nochmals verdichtend schematisieren und damit das Muster für die künftig zu schreibende Geschichte Jesu in nuce präsentieren. Die biblische Erzählung entwirft also eine humanistische Mimesiskonzeption, weil sich hier Weltzeit und subjektive Zeit schneiden86. 84

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Entkräftet werden damit auch kritische Stimmen, die den Schwenk Ricoeurs von der Theorie der Metapher zur Theorie der Erzählung als Bruch hinstellen. Zunächst: Der Sinn metaphorischer Ausdrücke liegt nicht darin, ein außersprachliches Ziel zu erreichen, sondern Wirklichkeit neu zu schaffen. Diesen Mechanismus entdeckt Ricoeur in allen fiktionalen Werken, auch denen der Geschichtsschreibung. Zweitens: Ricoeur löst die Metapher aus der engen tropischen Bestimmtheit heraus, indem er sie in einem ersten Schritt auf der Ebene des Satzes verortet. Sodann wird ihre semantische Innovations- und produktive Einbildungskraft herausgestrichen und der Akzent auf den verständlichen Charakter gelegt. Diese Strukturmomente bilden auch die tragenden Elemente jeder Fabel, wie Ricoeur einsichtig machen kann Poetische Fiktion und religiöse Rede, in: CGG 2, S. 96-105; La Bible et l'imagination, in: RHphR 62 (1982), 339-360; Temps biblique, in: Marco M. Olivetti (Hrsg.): Ebraismo, Ellenismo, Christianismo, Archivio di Filosofia, Padua 1985, S. 23-35. Ricoeur verweist in "Zeit und Erzählung" auch auf das Alte Testament: "Eine erste Überkreuzung charakterisiert den Pentateuch: bereits im Text des Jahwisten sind Erzählungen und Gesetze miteinander verflochten; es kreuzt sich demnach das Unvordenkliche der Narration, dem durch die Vorworte von Vorworten, die den Erzählungen des Bundes und der Erlösung vorangehen, eine

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Ricoeurs temporale Bestimmung des Kunstwerks - dort erhebe "die Ewigkeit die Zeit zu sich"87 - erhält vor Ort der Gleichnisse zusätzliche Überzeugungskraft: Die Distentionalität der Zeit wird radikal gekehrt, wenn den Gleichnissen zugestanden wird, Gleichnisse88 vom Himmelreich zu sein. Und wenn die Gleichnisse gleichsam das Muster für die fiktive Historie der Person des Geschichtenerzählers bilden, muß diese Lebensgeschichte das Moment der Ewigkeit zentral positionieren. Fragt man rekapitulierend nach den Stärken der Ricoeurschen Schriftphilosophie, dann muß man fünf Punkte herausstreichen: 1. Allenfalls sehr verdeckte Hinweise gibt Ricoeur auf den geistesgegenwärtigen Gegner seines humanistischen Mimesiskonzeptes, Derrida, wohl deshalb, weil er diesem nicht die alleinige Verantwortung für die "Dekonstruktion des Humanen" aufladen will: Die Argumentation ist viel subtiler, weil die Zerstreungsmalaise temporal-ontologisch gedehnt der chronologischen Zeit zugerechnet wird. Das entlastet den Diskurs Ricoeurs von allen apokalyptischen Aufgeregtheiten über den entzauberten Status quo und bewahrt die Schreibe vor kulturpessimistischen und reaktionären Ausfallen. 2. Für das Humanuni gibt es nur die doppelte Erfahrung, hinter die nicht zurückgefragt werden kann: den erfahrbaren Nihilismus und den

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zeitliche Tiefe gegeben wird, mit dem Unvordenklichen des Gesetzes, das in der Offenbarung am Sinai seinen dichtesten Ausdruck findet. Weitere bedeutsame Überkreuzungen kommen zum vorigen hinzu: die prophetische Öffnung des Zeithorizonts ruft rückwirkend einen Umsturz in der Überlieferung hervor, wie sie im Pentateuch entwickelt wird. Alsdann sieht sich die Geschichtlichkeit, sowohl die der Rückschau wie die der Vorausschau, die den Überlieferungen und den Prophetien gemeinsam ist, mit einer anderen Gestalt des Unvordenklichen konfrontiert, mit der Weisheit nämlich, die in den Sprüchen, im Buch Hiob und im Prediger Salomo gesammelt ist. Und schließlich werden alle Gestalten des Unvordenklichen noch einmal reaktualisiert in Klage und Lobpreis, die in den Psalmen gesammelt sind. Durch eine Kette nichtnarrativer Vermittlungen erreicht also die biblische Erzählung, in der Bibel selbst, das Ausmaß einer Bekenntnisschrift." Loc. cit., S. 415. Bd. I, loc. cit., S. 50. Vgl. dazu: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: Paul Ricoeur/Eberhard Jüngel: Metapher, loc. cit., hier: S. 24-45. Vgl. auch Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991.

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erfahrbaren Humanismus der Zeit. Und immer schon war es die Erzählung, die den Menschen vor dem anfangslosen Nihilismus der Zeit bewahrte. Bei Ricoeur besteht die Funktionsbestimmung der Werke in einer eschatologischen Präsenz anderer Zeit, einer präsentischen Eschatologie, die die chronologische Zeit, die Zeit der Zerstreuung, gleichsam erinnernd-fiktiv zusammenliest und gelingendes Leben vorführt. Entsprechend besteht die Strukturbestimmung der Werke darin, Präsenz einer erfüllten Zeit zu sein. Seit es Zeit gibt, gibt es die Zeit der Zerstreuung und gegenwendig die Zeit der Offenbarung. Gab es einen glücklichen Anfang, dann ist er nur fiktiv-erzählend erinnerbar, und über die Lebendigkeit stiftende Kraft dieses Mythos entscheidet, ob er mehr zu denken gibt als der Mythos vom ursprungslosen Anfang. 3. Humanistisch darf man Ricoeurs Mimesis-Konzept nennen, weil diese Mimesis eine Erfahrung erlaubt, die der Zerstreuung widerstreitet und eine neue Identität verspricht. Dieser Humanismus läßt sich freilich nicht mit dem Levinas'schen Ausdruck des "être otage", des Geiselseins für den Anderen, restlos verrechnen, weil für Ricoeur das Moment der Distanzierung von Ansprüchen integral zur hermeneutischen Erfahrung gehört. Allerdings verbleibt diese Erfahrung auch nicht auf der formalen Daß-Ebene - daß es eine Zeit der Offenbarung gibt - haften. Sie bleibt offen für eine konkrete Bestimmung humaner Was-Gehalte. Biblische Hermeneutik etwa wird die Realpräsenz Christi im Text als Bürge einer urbildlichen Ordnung näher bestimmen und fragen, wie sich die Gegenwart des Urhumanen in den Zügen des Textes bekundet und eine Postfiguration stimuliert. Eine solche Textphilologie wird auch die Frage nach den Anknüpfungspunkten für eine Refigurierung des urbildlich dargestellten Menschseins klären müssen. 4. Wenn ich recht sehe, läuft die Gigantomachie zwischen Mimesis nach Vorbild und Mimesis ohne Vorbild, zwischen restitutivem und disseminativem Mimesis-Modell, auf eine unterschiedliche Bewertung der Zeiterfahrung hinaus. Derrida - und mit ihm verwandte Modelle wenden das Moment der Zerstreuung subjektivitätskritisch und erkennen gerade darin einen posthumanistischen Appell; Ricoeur und Lévinas erkennen namentlich im literarischen Kunstwerk eine intentionale Zeit wieder, die einen humanistischen Postfigurationsappell aussendet. Beide Modelle achten die Fremdheit des ästhetischen Subjekts, beide allerdings bewerten sie gegenwendig. Geht es um das Andere oder den Anderen,

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um einen neutrischen oder einen quasi-personalen Appell? Christliche Theologie wird sich für die zweite Seite der Alternative entscheiden müssen. 5. Ricoeurs Modell läßt sich schließlich als Ergebnis einer Leseerfahrung beschreiben: Die Mimesis der Dissemination will sich den Leser identisch machen, indem sie ihn durch die Verfuhrungskünste der Lektüre entsockelt und zerstreut; die Mimesis der Stellvertretung verfolgt den Leser, der sich vom Text vielleicht aus Überforderung abkehrt; die Mimesis eines urbildlichen Lebens dagegen plädiert fiir eine verantwortliche Postfiguration des Vor-Geschriebenen.

1.2 Das theologische Schriftprinzip Den abendländischen Common-sense, die Identität des Menschen erfülle sich in der Selbstpräsenz, dann nämlich, wenn das Bewußtsein alle Vorgaben reflexiv eingeholt habe, kündigt die philosophische Schrifttheorie auf und entdeckt, jede der inventarisierten Positionen in eigenständiger Physiognomie, die mimetische Tiefenstruktur der Schrift. Gelingende Existenz ist nur in einer Schriftformigkeit erreichbar. Sieht man genauer hin, dann zeigt sich, daß die heutigen Schriftlehren der theologischen Schrifthermeneutik durchaus eine Übersetzungsmöglichkeit eröffnen. Namentlich protestantische Theologie bietet in ihren Ursprüngen einen theoretischen Entwurf, den man ebenfalls unter dem Stichwort der Schriftformigkeit verrechnen muß: Ich meine die durch Luther nahegelegte und im Altprotestantismus ausgearbeitete Affektionenlehre der Schrift. Sie hatte allerdings nur kurzen Bestand. Es war die durch den Druck der Gegenreformation zur Verbalinspiration umgemünzte Inspirationslehre, die die Affektionenlehre der Schrift ruinierte. Die in der Affektionenlehre geglückte Verzahnung von subjektiver Erfahrungsgewißheit und objektiver Präskription wurde jetzt aufgebrochen und aller Nachdruck auf die Autorität der Schrift gelegt. Die theologische Dogmatik überlagert seitdem die Hermeneutik. Als die historisch-kritische Forschung die Autorität der Inspirationslehre unterminierte, fiel auch das präskriptive Moment der alten Affektionenlehre aus. Damit war sie hinfallig. In der Folgezeit wurde entweder der Nachdruck auf die subjektive Glaubensgewißheit oder aber auf die jetzt verstärkt dogmatisch begründete Objektivität der Schrift gelegt. Eine glückliche Verzahnung beider Momente gelang nicht mehr, weil man immer davon ausging, die Inspirationenlehre sei die Mitte der alten Affektionenlehre gewesen. Dieses Vorurteil, das noch die theologischen Entwürfe unseres Jahrhunderts unterschwellig bewegt, will ich in diesem Kapitel abtragen. Den Anfang macht eine kurze Präsentation der Affektionenlehre Luthers und die Ausdifferenzierungen der Affektionen in ihre vier Merkmale durch die Altprotestantische Orthodoxie. Danach folgt die Eruierung der strategischen Funktion des Inspirationsbegriffs. Eine historische Reminiszenz soll die Verschiebung und Engführung des

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Begriffs aufzeigen. Schließlich wird die Interpretationsthese, der problematische Status der Inspirationslehre habe die Wahrnehmung des Schriftmediums in der Folgezeit gesteuert, ausgeschrieben. Diese These erlaubt es, gegenwärtige theologische Entwürfe von Rang unter dieser Fragehinsicht zu inventarisieren. 1.2.1 Der affilierte Mensch Reformatorische und altprotestantische

Affektionenlehre

Will man den Stellenwert der altprotestantischen Affektionenlehre ermessen, muß man an die Anfange dieser Lehre beim frühen Luther erinnern. 1 Luther kultivierte die von Bonaventura und Hugo v. St. Victor gebahnte These einer affektualen Schriftkonformität, die bei ihm eine prominente christologische Zuspitzung erfuhr und zum Mittelpunkt seiner hermeneutischen Theorie der sich selbst auslegenden Schrift wurde. Im Unterschied zur mystischen Devotion ist für Luther der Ausgang bei der Exegese entscheidend. Im hermeneutischen Vollzug buchstäblicher Lektüre erfolgt eine Verwandlung des exegetisierenden Lesers, die ihn der Schrift konform macht. Christliche Existenz vollzieht sich nach Luther als Schriftförmigkeit qua Christusförmigkeit. Das ist die These. Man kann es den affektualen Zirkel nennen: Das Achten auf die emotionale Instrumentierung der Texte geht zusammen mit der Einstimmung auf den Gefuhlshaushalt der Schrift, die ein neues, den ganzen Menschen betreffendes Selbstverstehen einläutet, was wiederum - jetzt kreist der Zirkel ein zweites Mal - ein tieferes Verstehen der Schriftaffekte erlaubt. Für Luther ist die Schrift also Subjekt jeder Auslegung. Die Schrift eröffnet einen

Kirchenhistorische und dognienhistorische Forschung hat Luthers - auf die mönchische Affekterziehung zurückreichendes - Interesse am Affekt der Schrift genauestens untersucht. Günther Metzger: Gelebter Glaube. Die Formierung reformatorischen Denkens in Luthers erster Psalmenvorlesung, dargestellt am Begriff des Affektes, Göttingen 1964. Reinhard Schwarz: Fides, spes und Charitas beim jungen Luther. Unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, Berlin 1962. Auf die Arbeiten beider Autoren greife ich dankbar zurück. Auf die Bedeutung des Affekt-Begriffs bei Melanchthon verweist jetzt erneut Dietrich Korsch: Bildung und Glaube. Ist das Christentum eine Bildungsreligion?, in: NZSTh 36 (1994), S. 190-214.

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hermeneutischen Prozeß, der zu einer Verwandlung des Lesers/Hörers fuhrt. Die Wirklichkeit christenmenschlichen Lebens konstituiert sich in einer vis-à-vis-Relation zum vorliegenden Text oder - bezogen auf die Predigt - zum gepredigten Text. Im vis-à-vis zum Text erfahrt der Leser/Hörer zweierlei: einmal das Gestimmtwerden durch die Affekte der Schrift und dann die daraus erwachsende Vitalität, sich zu dieser dort eröffneten Welt auch verhalten zu können. Die Verschränkung von Passivität und Aktivität, von Gestimmtwerden und (ermöglichtem) Verstehen auf Möglichkeiten2 heißt Schriftkonformität. Dieser Verstehensprozeß gelingt nur, wenn jeder Intellektualismus zurückgenommen wird in ein umfassenderes Verstehen. Der Leser/Hörer macht die Erfahrung, daß die Bibel mehr als den Intellekt anspricht. Die Umkehrung der Intentionalität von einer Intentionalität intellektuellen Verstehens hin zu einer den ganzen Menschen ansprechenden schriftvermittelten Intentionalität, dieser Subjektwechsel wird mit dem Titel des Affekts belegt. Ein Standardwerk zum Thema bestimmt den Titel des Affekts bei Luther so: "Der Affektbegriff (übrigens von Luther nie ausdrücklich definiert!) enthält zwei Schwerpunkte: einmal bringt 'Affekt' die konkrete kreatürliche Befindlichkeit der Person zur Sprache. Menschsein ist für Luther immer 'Affekt'; der Begriff meint die irrationale Wirklichkeit des Menschen, die Personmitte (vgl. die Vertauschbarkeit von affectus, voluntas, cor, conscientia etc.), nicht als fixierbare, autarke Instanz, sondern als den Ort, auf den hin alle Lebensäußerungen gesehen werden können, durch die wir mit Begegnendem in Kommunikation stehen. Für Luther ist dabei existentielle Erfahrung, ungehemmt durch analytische Begriffsschemata, gegenwärtig. Zum anderen sagt Affekt aus, daß das menschliche Sein in seiner komplexen Einheit konstituiert wird durch die Relationen, in welchen es steht. Die Affekte beteiligen den Menschen am gegenwärtigen Geschehen; sie weisen aus, was die Wirklichkeit ist, von der her und auf welche hin der Mensch faktisch lebt. Affekt ist Signum der Wirklichkeit, die für den Menschen in concreto gültig ist."3 Auf die strukturelle Nähe dieses Verstehensbegriffs zur Philosophie Martin Heideggers gehe ich oben näher ein. Günther Metzger: Gelebter Glaube, loc cit., S 221

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Zieht man den Begriff des Affektes mit dem der Schrift zusammen, dann ergibt das die Kontrastharmonie der Schrift-Affektion: AfFektivität steht für die plastische Formbarkeit des Lesers/Hörers, und Schrift steht für die Materialität und Festigkeit urbildlicher Normierung. Entlädt sich die Grundspannung zwischen der affektiven Einstimmung und der skripturalen Fixierung, dann leuchtet dem Leser/Hörer das erlesene oder gepredigte Wort Gottes (äußere Klarheit) ein (innere Klarheit)4 und er wird der Schrift konform. Luthers morphologischer Zirkel - zunächst und zumeist in der Exegese entdeckt - umschreibt drei Erfahrungsmomente: 1. Die emotionale Sprache der Schrift stimmt den Leser auf eine lebensverändernde Erfahrung ein. Der Leser/Hörer erfährt, daß die Welt, die sich ihm dort erschließt, eine Welt ist, die nicht dem alltäglichen Erfahrungshorizont und somit seinem eigenen Verständnis und Wollen entspringt. Das primordiale Verwiesensein auf das sich textlich erschließende Andere erzeugt dabei einen Druck der Verähnlichung, der im vorreflexiven Leibesleben aufsteigt und den ganzen Menschen integral betrifft. Weil sich dem Leser/Hörer diese Welt in der Weise der Gestimmtheit erschließt, geht das Verstehen vor Ort der Lektüre oder der Predigt über das noetische Gegenstandsbewußtsein hinaus. Der Mensch als ganzer Mensch: als fühlender, handelnder und denkender Mensch erfahrt sich beansprucht. Indem der Text eine Welt erschließt, Luther unterscheidet bekanntlich zwischen der inneren und äußeren Klarheit der Schrift. Diese Prädikate beziehen sich aber nicht eigentlich auf den materialen Text, sondern sind Prädikate des Umgangs mit dem Text. Treffend schreibt Klaus Weimar: "Luthers Verwendung der traditionellen Unterscheidung von Buchstabe und Geist liegt quer zu der zwischen buchstäblichem und geistlichem (allegorischem, tropologischem, anagogischem) Schriftsinn, denn sie ist nicht Prädikat des Textes, sondern des Verstehens selbst. (...) (D)ie claritas interna ist die claritas des verbum internum, d.h. wenn das im Menschenwort verborgene verbum externum sich als verbum Dei internum erweist, als ein solches, das als Gottes Schöpfimgswort im Menschen bewirkt, wovon es redet, Heil nämlich und Rechtfertigung und Erlösung - und wenn das geschieht, dann ist das Wort im Innersten klar als Wort Gottes, und diese Klarheit heißt Glaube: Ex his tribus fit unum: fide, verbo, corde." Das Buch Weimars: Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, Tübingen 1975, hier: S. 30f., bietet zugleich die wohl immer noch beste kritische Einleitung in die Probleme theologischer Hermeneutik.

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ist diese Erfahrung in einem hohen Maße auch praxisbestimmend. Und diese Leseerfahrung bestimmt das Denken, weil die Reflexion der stimmungshaften Erschlossenheit immer nachdenkt. 2. Der Verwandlungscharakter der Schrift wird von Luther christologisch zentriert. Die Mitte der Schrift ist der Christus crucifixus: "Ego non intelligo usquam in Script, nisi Christum crucifixum."5 Aber erst wenn das erlesene oder gepredigte Wort Gottes dem Leser/Hörer so klar einleuchtet, daß es mit dem: "Eia vere sic est" bestätigt wird, entsprechen sich äußere und innere Klarheit der Schrift. Vom innerlich bezeugten Christusgeschehen her ereignet sich die Metamorphose des Lesers oder Hörers. 3. Die Autorität des Wortes Gottes hängt also mit der Wirksamkeit der Verwandlung zusammen. Gottes Wort im Menschenwort ereignet sich als verbum efficax. Der Text der Heiligen Schrift ist für Luther Ausdruck der Kondeszendenz Gottes, die es dem Leser/Hörer erlaubt, ihm im menschlichen Wort zu begegnen6. Nur wenn der Mensch wirklich versteht, wenn er vom verbohrten Nichtverstehen befreit wird und die Fröhlichkeit der Erkenntnis auf seinem Gesicht Einzug gehalten hat, dann ist er mit Christus gleichzeitig7. Ihre Attraktivität erhält die lutherische Affektenlehre von der konkreten Beziehung zwischen Text und Leser/Hörer. Hautnah erfahrt der Leser die Kraft des Wortes in der Betroffenheit durch den Text. Metzger hat die Pointe genau getroffen, wenn er schreibt: "Luther vermeidet es also, eine starre Inspirationsvorstellung zu entwerfen. In dem Maße, als 5 6

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Zitiert nach G. Metzger, loc. cit., S. 153, vgl. Phil 2,6. Vielleicht ist Johann Georg Hamann diesem Verständnis der AfFektionenlehre Luthers von allen Späteren am nächsten geblieben: "Gott ein Schriftsteller! - Die Eingebung dieses Buches ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und die Menschwerdung des Sohnes. Die Demut des Herzens ist daher die einzige Gemüthsverfassung, die zur Lesung der Bibel gehört, und die unentbehrliche Vorbereitung zur selbigen." J G. Hamann, Sämtliche Werke, historisch-kritische Ausgabe von J. Nadler, Bd. 1, S 5 Wie Luther, so versteht auch Hamann die biblischen Anthropomorphismen als Ausdruck der Herablassung. Für Hamann ist die Bibel Ausdruck einer 'privilegierten Anthropomorphie', die den Leser darauf verpflichtet, seinerseits zur Feder zu greifen, um der Gottebenbildlichkeit gerecht zu werden. In den ausgeführten Prolegomena wird gezeigt, wie dem Text der Schrift diese Wirksamkeit durch semantisch-pragmatische Instrumentierung gelingt.

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der Schrift ein objektiver Geistgehalt, eine für sich bestehende göttliche Qualität, zugeschrieben würde, müßte auf der anderen Seite betont werden, wie es geschehen kann, daß das übernatürliche Wort der Schrift im natürlichen, geschichtlichen Menschen lebendig wird. Dies war später im Bereich der Schriftauffassung das Problem der lutherischen Orthodoxie. Luther geht zwischen starrer Schriftinspiration und einem stark verselbständigten testimonium spiritus sancii internum jenen mittleren Weg, in dem auf die Situation der Begegnung abgehoben wird: der Mensch erfahrt die Kraft des Wortes im Umgang mit dem Wort, in der Hinwendung an das Wort." 8 Die gegenreformatorische Polemik unterlief die Erfahrungstheorie Luthers, indem sie die behauptete Autorität der Schrift nicht als Prädikat des hermeneutischen Vorgangs gelten ließ, sondern zu einem Merkmal der Schrift stilisierte: "Deinde sciendum est, quod scriptura est tanquam nasus cereus, quia flecti potest hinc inde. Sed ecclesiae determinatio est fixa et stabilis."9 Auf diese Argumentationsschiene ließ sich die altprotestantische Theologie festlegen. Als Erkenntnisprinzip der Theologie schien die Schriftlehre nur bestehen zu können, wenn eine Inspirationslehre die Wahrheit des Buches vorab garantierte. Mit dem Namen Abraham Calov 10 verbindet sich die in ihrer Strenge konsequente Lesart, die Schrift sei unfehlbar, weil verbal inspiriert. Nur wenn diese These sticht, läuft die gegenreformatorische Polemik leer, die Schrift sei eine wächserne Nase, die jeder nach Gutdünken bossieren könne. Um der Schrift den prinzipiellen Stellenwert zu sichern, sah sich die Altprotestantische Orthodoxie genötigt, die lutherische Affektionenlehre auszudifFerenzieren. Jochte Luther noch Autorität und Wirksamkeit im Begriff der Schrifterfahrung zusammen, fächerte die Orthodoxie dieses Gezweit in ein Geviert aus. Als Neuprägungen kamen die Perspikuität oder Klarheit und die Suiflüenz oder Vollkommenheit hinzu. Die Verschiebungen, die damit einsetzten, waren folgenreich. Zunächst einmal machte der Begriff des Affektes einen Bedeutungswandel durch. Luther setzte ihn erfahrungstheoretisch ein, indem er die konkrete Relation 8

Günter Metzger: Gelebter Glaube, loc. cit., S. 207. CR 7, S. 31. Vgl. dazu Klaas Huizing: Wächserne Nase. Kleine Apologie einer Theologie des Lesens. In: NZSTh 34 (1992), S. 200 - 218. 10 Yg] Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 1, loc. cit., S. 42.

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zwischen Text und Leser herausstellte. Durch die Kontroverstheologie gezwungen, deutete die altprotestantische Theologie die Affektionenlehre zu einer Merkmalslehre um. Eine Folge davon war die Auflösung des inneren Zusammenhangs von Autorität und Wirksamkeit. Bisher war die Wirksamkeit eine notwendige Folge der in der Schrift erfahrbar autoritativ erschlossenen Weltsicht, die Altprotestantische Orthodoxie schwächte die Wirksamkeit zu einer notwendigen Konsequenz der von vornherein festgelegten Wahrheit der Schrift ab. Einseitig wurden die ausgegebenen Prädikate zu Merkmalen der Schrift und beschrieben nicht länger den henneneutischen Prozeß zwischen Text und Leser/Hörer. Eine dogmatische Schriftlehre überlagerte jetzt den hermeneutischen Prozeß. Auch die Neubildungen der lutherischen Orthodoxie wie Vollkommenheit und Durchsichtigkeit gerieten prompt in die Abhängigkeit des Autoritätsmerkmals, was nicht notwendig hätte geschehen müssen11, hätte man die lutherische Schrìàerfahrungstheorie weiter ausgeschrieben. Die pietistischen Hermeneutiken August Hermann Franckes12 und vor allem Johann Jacob Rambachs13 verstehen sich zwar als 11

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Die Ausdifferenzierung in die vier Momente muß man, so meine ich, nicht rückgängig machen, sondern nur aus der einseitigen Abhängigkeit vom theologisch-dogmatisch gefüllten Begriff der Autorität befreien. Nur so bleibt der Glaube ein integraler Bestandteil des hermeneutischen Geschehens und ist nicht dessen Voraussetzung. Erhard Peschke hat in seinen "Studien zur Theologie Hermann Franckes", Bd II, Berlin 1966, S. 97ff, die Affektenlehre Franckes genau untersucht. Francke hat freilich noch nicht die Mittel gehabt, die Affektenlehre angemessen darzustellen, weil er die geistlichen Affekte dem geistlichen Schriftsinn zuschlägt, für den nur die Wiedergeborenen empfanglich seien. Nur eine an Gadamer geschulte ästhetische Theorie der Schrifterfahrung kann, wie ich zeigen werde, die ästhetischaffektive Qualität der Lektüre plausibilisieren ohne Rekurs auf eine Theorie der Wiedergeburt nehmen zu müssen. Auch Francke traut dem hermeneutischen Prozeß zwischen Text und Leser nicht genügend Evidenz auch für unbefangene Leser zu. Praelectiones Hermeneuticae, ad viam dextre indagrandi et exponendi sensum scripturae S. Theolgiae Studiosis ostendendam, Halle 1723. In den im gleichen Jahr erschienenen "Institutiones Hermeneuticae Sacrae" Rambachs wird die Texttheorie dahingend ausgeweitet, daß zum Verständnis der Affekte der Schrift (subtilitas intelligendi) das Erklären (explicare) und die subtilitas applicandi, die Kunst, den Affekt der Schrift dem Affekt der Hörer einzuschreiben,

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Fortschreibungsversuche Luthers. Und in der Tat suchen sie erneut den Anschluß an die lutherischen Affektenlehre, trennen dabei aber streng zwischen den natürlichen und den geistigen Affekten. Geistliche Affekte als Voraussetzung für die Auslegung besitzt aber nur der wiedergeborene Mensch und damit wird die Verbalinspirationslehre letztlich undiskutiert vorausgesetzt. 14 Es gelingt diesen Hermeneutiken dabei nicht, die Erleuchtung als Wirksamkeit der Schrift auszulegen, sodaß

zusammengehören. Hans-Georg Gadamer hat wiederholt auf diese Zusammenhänge hingewiesen, vgl. etwa: H.-G. Gadamer, G. Boehm: Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1977. Bei Rambach heißt es, daß "man die Worte eines auctoris nicht vollkommen verstehen und interpretieren kann, wenn man nicht weiß, aus welchem Affekt sie geflossen sind." In dreifacher Hinsicht ist eine 'Pathologie der Schrift' nützlich: Man lernt "(1) den sensum verborum profundis einsehen, wenn man mit dem Auge des Verstandes in intimum pectus & adfectum loquentis eindringt und den Affekt, als die Quelle der Gedanken und Worte, beschaut. (2) Die Rede wird dadurch schmackhafter und lebhafter gemacht. Affectus enim est anima sermonis, er ist gleichsam die Seele der Rede. Wenn man z.B. die Worte Jesajas, ein Kind ist uns geboren, u. Jes. 9.6 als indicia gaudii ansieht, die er empfunden, da er im Geist sich unter den spectatoribus des neugeborenen Jesuleins befunden, welche dieses Heils teilhaftig worden, so werden diese Worte viel angenehmer und einen viel lebhafteren sensum haben als sonst. (3) Diese Betrachtung der geheiligten Affekte der scriptorum S. ist zugleich ein Kanal, durch welchen auch auf unsere Affekte eine indoles spiritualis geleitet werden kann. Denn wir müssen nicht nur von den Worten, sondern auch von den Affekten der heiligen Männer zu profitieren suchen und müssen daher die Schrift auch um deswillen lesen, damit unsere unordentlichen und bösen Affekte emendiert und unser Herz mit guten und heiligen Affekten erfüllet werde." Zitiert nach dem Original S. 377f, das Zitat findet sich gekürzt bei Gadamer, Boehm, loc. cit., S. 62ff. Freilich bleibt auch für Rambach die Erleuchtung zunächst die Voraussetzung der hermeneutischen Arbeit. Der Gedanke der adplicatio practica als Prüfstein der Wahrheit nimmt diese Voraussetzung gleichsam schrittweise zurück. Pietistische und rationalistische Hermeneutik werden so stillschweigend verschränkt. Vgl. auch: D. Joh. Alberti Bengelii: GNOMON NOVI T E S T A M E N T I , in quo ex nativa verborum vi simplicitas, profunditas, concinnitas, salubritas sensuum coelestium indicatur (1742), Tübingen 1835; vgl. dazu den ausgezeichneten Aufsatz von Johannes von Lüpke: Theologie als "Grammatik zur Sprache der heiligen Schrift". Eine Studie zu Luthers Theologieverständnis, in: NZSTh 34 ( 1992), S. 227-251. 14

Vgl. hierzu die ausgezeichente Arbeit von Klaus Weimar: Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, loc. cit., S. 56ff.

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doxie, sondern erbaulich-dogmatisch die Erfahrungstheorie Luthers unterlaufen wird. Als die historische Erforschung der Schrift die Theorie der Verbalinspiration ruinierte, geriet das Erkenntnisprmzip der Theologie, das sola scriptura, mächtig unter Druck. Die AfFektionenlehre der Schrift überstand den Angriff nicht unbeschadet. Die Konsequenzen, die daraus erwuchsen, soll der nächste Abschnitt verdeutlichen. Das geschieht, indem Vor- und Nachgeschichte der Inspirationslehre abgeschritten werden. Ich beginne die Vorgeschichte zunächst mit Piaton, weil Piaton den Topos der Inspiration im Kontext der Wiederinnerungslehre verankert und dabei einen Verständnishorizont aufspannt, der für die biblische Inspirationslehre nicht ohne hermeneutisches Interesse sein kann, weil auch nach biblischem Verständnis Inspiration und Wiedererinnening oder Wiedererkenntnis zu einem Sprachspiel gehören.

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1.2.2 Dichter lügen viel Transformationen der Inspirationslehre Piaton weiß zwischen drei Formen von Begeisterung zu unterscheiden, die von ihm sehr unterschiedlich beleumundet werden: den Enthusiasmus des Dichters und Propheten, den des rezitierenden Rhapsoden und schließlich den des Philosophen, der im Zustand göttlicher Eingebung die Ideen schaut. Weit unter dem philosophischen Formniveau stehen Dichter und Rhapsode; der Dichter, weil er, seinen eigenen Sinnen nicht mächtig, in seinem Furor keine Rechenschaft geben kann, auf welche Erfahrung hin er seine Sprachbilder fertigt15; der Rhapsode, weil er sich den Einfall nur vom Dichter leiht und von ihm nur, wie es im "Ion" heißt, "magnetisiert"16 wird. Anders der philosophische Enthusiasmus: Für ihn ist eigentümlich eine Erfahrung, die persönlich betrifft und verändert. Piaton prägt für diese Erfahrung folgende idealtypische Szene: Wenn ein Geweihter "ein gottähnliches Angesicht als ein vollkommenes Abbild der Schönheit (sieht) (...), so erfaßt ihn zunächst ein Schauder, und es befallt ihn etwas von den Ängsten von damals. Dann aber blickt er es an und verehrt es wie einen Gott. (...) Bei seinem Anblick befallt ihn, wie nach einem Fieberschauer, eine Verwandlung."17 Beschrieben wird von Piaton eine erhebende Geschichte, die dem Anbück einer schönen Gestalt entspringt. Das ausgezeichnete Schöne nennt Piaton das "εκφανέστατον", das Unverborgenste, das Hervorleuchtendste, und das "έρασμιώτατον", 18 das Liebreizendste. Was ist damit gemeint? Um den Sachverhalt zu verstehen, muß man kurz auf die platonische Grundüberzeugung eingehen, Philosophie nach dem Modell der Techne zu konzipieren. Der Ausdruck "Techne" wird zunächst bezogen auf die Erstellung eines Werkes, eines "Ergon". Ein Technit muß wissen, wie er etwas zu der geordneten Gestalt eines Ergon 15 16

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Politela 596 äff. In seinem Buch "Hermeneutik und Metaphysik" hat Jean Greisch Piatons "Ion" als philosophischen Traktat über Hermeneutik gelesen; München 1993, S. 53ff. Phaidros 25 laf. Vgl. den Abschnitt zu Lévinas. Ebd., 25Od.

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zusammenfügt. Er muß seine Arbeit immer wiederholen und darüber Rechenschaft ablegen können. Nun bezeichnet Piaton als "Ergon" nicht nur ein zu verfertigendes Ding, sondern ebenso etwa die Gesundheit und die Ordnung der Seele, also alle Bestandselemente der Wirklichkeit. Heißt es nun von dem schönen Gesicht, es sei das Hervorleuchtendste, dann deshalb, weil es in seiner Geordnetheit und Lebendigkeit sofort verstehbar ist. Es ist das auf einen Blick Verständliche, weil es die geordnete und in ihrer Ordnung sichtbare Zusammenfügung von Momenten darstellt. Diese Gestalt entspricht also dem platonischen Modell eines Ergon, von dem der Technit, hier: der philosophische Technit, Rechenschaft ablegen kann, "έκφανέστατον" ist die Gestalt, weil in ihr die Idee des Guten, die Ιδέα του αγαθού als Grund der Geordnetheit und Verstehbarkeit des Seins zur Darstellung kommt. In dem Augenblick, in dem der frisch Geweihte, und das heißt hier: deijenige, der mit dem Mythos vom Seelenleben vertraut ist, auf eine schöne Gestalt trifft, erinnert er sich an die Ordnungsprinzipien als Garanten des Verstehens selbst und versteht das Gesicht als dessen Darstellung. Das nennt Piaton die Anamnesis, die Wieder-Erinnerung. Ausgelöst wird in dem Augenblick das Begehren, selbst zur Darstellung der Idee des Guten zu werden, plakativ gesagt, ein schön geordnetes Leben zu führen. Die Philosophie will dann auch nichts anderes, als die Griechen zu einem entsprechend gestalteten Leben zu erziehen (Paideia), d.h. jeder soll sein "Leben schlechthin nach der Liebe richten"19. Nach Piaton bildet die philosophische Rede, genauer: die dialektische Rede, ein Verhalten aus, das diese Erfahrung zu bewähren erlaubt, weil es sich ihr Prinzip von der Ordnung einer schönen Gestalt vorgeben läßt. Die dialektische Kunst besteht nämlich in der Wechselwirkung, das "vielfach Zerstreute zusammenzuschauen zu einer Gestalt" und eine Gestalt "nach den Gliedern, wie sie von Natur gewachsen sind" auseinanderlegen zu können20. Diese dialektische Geordnetheit der platonischen Dialoge ist gleichsam der Ausweis für die Inspiriertheit jener Texte, die sich einer Schlüsselsituation verdanken21. 19 20 21

Ebd., 257b. Ebd., 265d,e. Wie zu zeigen, geben auch die neutestamentlichen Schriftsteller ein Maß an, woran die Inspiriertheit jedes Textes gemessen werden kann.

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Das "εκφανέστατον" ist der Fokus eines Spielraums, in den der Liebende eintaucht. Alles, was in diesem Spielraum begegnet, bleibt auf das Schöne als das ideal Geordnete ausgerichtet: Möglichkeiten, die neu entdeckt werden, bestätigen den neuen Möglichkeitsspielraum, und bestehende Möglichkeiten werden als gewordene Gestaltwerdungen dieses Möglichlichkeitsspielraumes entdeckt22. Eine dialektische Lebenskunst besteht also darin, sich in dem eröflheten Spielraum angemessen zu verhalten: nur dann wird die eigene Lebensform auch integer und schön. "Philosophischer Enthusiasmus", dieser Titel minimiert demnach die durch eine außerordentliche Erfahrung ausgelöste Lebenspraxis, die, wie der Mythos23 lehrt, sich an jene himmlische Aufenthaltsweise erinnert, die noch nicht durch eine starre Selbstbehauptung oder, wie der sokratische Piaton sagt, noch nicht durch eine triebhafte Erdenschwere und die Befangenheit durch Meinungen geprägt ist. Gesprächshaft inszeniert Piaton deshalb immer mögüche Übergänge zu einer entsprechenden Erfahrung, und der Mythos will Erfahrungen solcher grundstürzenden Ereignisse lebensnah darstellen. Die Texte setzen dabei als philosophische Rede auf eine literarische Form der Darstellung, die der menschlichen Gestalt entsprechend aufgebaut wird, mithin Kopf, Hand und Fuß hat24, um den Menschen, als ganzen Menschen affektiv zu betreffen. Der Begriff der Inspiration hat bei Piaton also seinen Ort im Rahmen der szenisch nahegebrachten Anamnesis-Lehre, der Wiedererinnerung an

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"Wer in der Liebe die Schönheit eines Menschen derart erfahrt, daß sich in ihm ein Spielraum ereignet, in dem er selbst auf neue und veränderte Weise sein kann, dem zeigt sich in diesem Spielraum auch alles andere als verständlich. Verstandlich aber ist immer nur das Geordnete, und insofern zeigt sich alles als wohlgeordnet, daß heißt als einheitlich und doch in unterschiedenen Gestalten." So treffend in seinem ausgezeichneten Essay Günter Figal: Im Spielraum des Schönen. Geliehene Rede nach Phaidros. In: Das Untier und die Liebe. Sieben platonische Essays, Stuttgart 1991, S. 140. Rüdiger Bubner untersucht in seinem Essay "Dialektik als Topik" die Bedeutung der eingestreuten Mythen fiir den Fortgang eines Dialogs. Rüdiger Bubner: Dialektik als Topik. Bausteine zu einer lebensweltlichen Theorie der Rationalität, Frankfurt am Main 1990, S. 54. Phaidros 264 c.

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das Sein der Ideen als Garanten des Verstehens25. Philosophische Texte müssen entsprechend so aufgebaut sein, daß sie diese Wiedererinnerung szenisch veranlassen. In einer Szenensequenz im Alten Testament kommt die Urzelle biblischer Inspirationslehre zur Darstellung. In Exodus 31, 18 heißt es lapidar: "Und da der Herr ausgeredet hatte mit Mose auf dem Berge Sinai, gab er ihm 2 Tafeln des Zeugnisses; die waren steinern und beschrieben mit dem Finger Gottes"26. Sie haben keinen Bestand, denn der Gottesknecht Moses zerschmettert sie im Eifer, als er das Volk vor dem goldenen Kalb tanzen sieht: Er "warf die Tafeln aus seiner Hand und zerbrach sie unten am Berge"27. Erst nach der Buße des Volkes Israel kommt es zur wiederholten Fixierung göttlicher Worte, jetzt allerdings mit einer merkwürdigen Verschiebung. Gott ist nicht länger eigenhändiger Schriftsteller, sondern er diktiert: "Und der Herr sprach zu Mose: Haue dir zwei steinerne Tafeln, wie die ersten waren, daß ich die Worte darauf schreibe, die auf den ersten Tafeln waren, welche du zerbrochen hast. (...) Und der Herr sprach zu Mose: schreib diese Worte; denn nach

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Bringt nicht auch eine verwandte Erfahrung Epheser 1,10 zur Darstellung, wenn Paulus sagt, in Christus habe alles ein Gesicht bekommen? Wird in dem Spielraum, der sich angesichts Jesu eröffnet, nicht alles andere ( τα πάντα ) verständlich, so daß derjenige, der sich dem eröffneten Spielraum entsprechend verhält, diese andere Lebensform einübt? Die Strukturparallele ist evident. Sie wird weiter zu vertiefen sein. In den ausgeführten Prolegomena will ich die Inspirationslehre an eine christliche Theorie der Wiedererinnerung zurückbinden. Treffend bemerkt dazu Ludwig Muth: "In seinem Kern versteht sich also das alttestamentliche Gesetzbuch nicht als Predigt, Aufzeichnung oder Meditation, sondern als Eingabe Gottes selbst. Es übertrifft darin noch die muslimische Vorstellung. Während der Koran als die arabische Abschrift eines himmlischen Buches gilt, wird an entscheidender Stelle der israelitischen Geschichte Gott selbst Autor in dem gewaltigen Bild des Gesetzgebers, der keines Sekretärs bedarf, sondern sein Wort mit eigenem Finger in den harten Stein unvergänglich eingräbt." Ludwig Muth: Glück, das sich entziffern läßt. Vom Urmedium des Glaubens. Freiburg, Basel, Wien 1992, S. 36. Ob diese Stelle eventuell eine Rückprojektion darstellt, untersucht Christoph Dohmen: Was stand auf den Tafeln vom Sinai und was auf denen vom Horeb? Zur Geschichte und Theologie eines Offenbarungsrequisits, in: Vom Sinai zum Horeb (Festschrift Erich Zenger), Würzburg 1989, S. 9-50. Exodus 32, 19.

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diesen Worten habe ich mit dir und mit Israel einen Bund gemacht."28 Zwar wird der Bundesschluß im gleichen Medium besiegelt, aber jetzt ist es Mose, der die Feder fuhrt29. Erst in der Prophetie wechselt das Medium. Nicht mehr die Schreibsondem die Redesituation dient als Denkbild der Inspirationslehre: "Wo du dich zu mir hältst, so will ich mich zu dir halten, und sollst mein Prediger bleiben. Und wo du die Frommen lehrest sich sondern von den bösen Leuten, so sollst du mein Mund sein."30 Typisch für den Traditionsüberschritt von der Tora zu den Propheten ist der antikultische Umgang mit der Geschichte. Die geschichtliche Erinnerung wird einem Subjekt in den Mund gelegt. Indem der Aggregatzustand des Pentateuchs eine Theologisierung erfahrt und die geschichtliche Erinnerung in die Selbstaussage Gottes transportiert wird, erschließt sich erst die eschatologische Dimension der Geschichte. Der antikultische Umgang mit der Tradition nötigt auch dazu, den Bundesschluß personal zu verankern: "(D)as soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel machen will nach dieser Zeit, spricht der Herr. Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben."31 Es ist diese Ichrede der Prophetie, die später der Hermeneut Jesus in der Synagoge in Nazareth zum Schlüssel erhebt, um sein hermeneutisches Gottesbewußtsein zu demonstrieren. Alle Diskussionen zur neutestamentlichen Inspirationslehre beziehen sich auf die zentrale Stelle aus 2. Tim 3, 16: πάσα γραφή θεόπνευστος, was die Vulgata als 'omnis scriptura divinitus inspirata' wiedergibt. Diese Übersetzung machte, wie gesehen, auf Druck der Gegenreformation ab dem Ende des 16. Jahrhunderts als Verbalinspiration 28 29

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Exodus 34,1; 34,27. Dieser Bund und die damit aufgerichtete Gedächtniskultur wird allerdings im Laufe der Jahrhunderte vergessen. 2. Könige 22, 2-13 beschreibt deshalb die Urszene erneuerter Erinnerungstradition: Der Hohepriester Hilkia findet im Tempel Jerusalems eher zufällig das inzwischen vergessene Buch des Bündnisvertrages - es dürfte sich nach Exegetenmeinung um das Deuteronomium handeln - wieder. Durch diesen Fund und den Schock angesichts der pietätlosen Veruntreuung der eigenen Wurzeln angetrieben, veranlaßt Josia eine großangelegte Reform der Erinnerungspflege. Jeremía 15, 19. Jeremía 31, 33.

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Karriere: der Heilige Geist habe den Skribenten den Text wörtlich in die Feder diktiert (dictamen in calamum)32. Die gegenreformatorische Polemik brachte den problematischen Status der Schrift, sprich: die Schwachheit ihrer testamentarischen Struktur, bereits früh auf das bereits genannte Denkbild: "Deinde sciendum est, quod scriptura est tanquam nasus cereus, quia flecti potest hinc inde. Sed ecclesiae determinatio est fixa et stabilis."33 Die apologetischen Versuche die Verbalinspiration zu retten, blieben letztlich erfolglos - nur dieses Denkbild blieb. Aufgeklärte Theologie nämlich widmete das Denkbild der wächsernen Nase nach dem Verfall der Inspirationslehre durch die historisch-kritische Forschung um und wendete es gegen deren moderate Verteidiger: "Die innere Wahrheit ist keine wächserne Nase, die sich jeder Schelm nach seinem Gesichte bossieren kann, wie er will."34 Das ist die Antwort Lessings an seinen orthodoxen Kontrahenten Goeze, die in der Folge zu der - freilich von der Polemik gesteuerten - These Lessings vom "buchlosen Christentum" führte35. Vorangegangen war diesem Wechsel vom Objektivismus der Schrift hin zur subjektiven Evidenzerfahrung das Erstarken der Lehre vom testimonium spiritus sancti internum, die sich nach dem Verfall der Inspirationslehre immer prominenter als nun wiederum einseitiges Erkenntnisprinzip herausstellte. Auch hier liegt eine Vereinseitigung reformatorischer Einsichten vor. Johannes Calvin ist es gewesen, der das innere Zeugnis als Wechselspiel der Wiedererkenntnis herausstellte: "So kommt es einerseits erst 32

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So etwa heißt es bei Hollaz sogar hinsichtlich Lukas 1,3 ('habe ich's auch für gut angesehen, nachdem ich alles von Anbegin mit Fleiß erkundet habe'): "Quas res gestas Lukas ante descriptionem earundem a testibus humanis, in ipso scriptionis actu divinitus ipsi sunt inspiratae, ut decenti ordine, convenientibus verbis et adjectis cognitu necessariis circumstantiis sine lapsu memoriae aut errore ullo scriberet." Examen theologicum acroamaticum, Stargard 1707, S. 121. CR 7, S. 31. Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Hrsg. von Hans Georg Göpfert, München 1970 ff., Bd. 8, S. 150. Gegen die harmonistische Exegese höhnt er, sie sei eine "Harmonie wächserner Nasen, die einen jeden Evangelisten in jeder Sylbe retten will." Ebd., S. 72. Ich darf nochmals abkürzend auf meinen Aufsatz zum Lessing-Goeze-Streit verweisen. Klaas Huizing: Wächserne Nase, loc. cit..

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dann in unserem Herzen zu einer festen Bindung an das Wort, wenn der Geist uns entgegenstrahlt, der uns darin Gottes Antlitz schauen läßt. Und andererseits empfangen wir den Geist ohne alle Furcht vor Täuschung, wenn wir ihn an seinem Bilde, an dem Worte wiedererkennen."36 Traute man dem Materialobjekt nicht mehr37, konnte sich keine korrelative Wiedererkenntnis ereignen38. Dann blieb nur, wie

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Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion, Institutio Religionis Christianae, übersetzt von O. Weber, Neukirchen 1936, Bd I, 9,3, S. 68. Man kann Calvins Schrifttheorie als skripturale Anverwandlung der platonischen Anamnesis-Lehre lesen. Im Rahmen dieser Arbeit muß es unterbleiben, diese hermeneutische These auszuschreiben. Hier ist auch nicht der Ort Calvins typologische Hermeneutik zu interpretieren. Die Metapher vom "Antlitz der Schrift" hat zu Zeiten der Gegenreformation Flacius neu aufgenommen und zur hermeneutischen Regel erhoben: "Wenn du an die Lektüre eines Buches herangehst, so richte es gleich am Anfang, soweit es geschehen kann, ein, daß du zuerst den Gesichtspunkt, den Zweck oder die Absicht dieser ganzen Schrift, was wie das Haupt oder das Gesicht derselben ist, unverwandelt und gehörig im Auge behälst." Matthias Flacius Illyricus: De ratione cognoscendi sacras literas, lateinisch-deutsche Parallelausgabe, (1719) Düsseldorf 1968, S. 91. Damit wird nochmals jenes Szenario bestätigend aufgerufen, das Piaton in grellen Farben ausmalte: Texte können sich, wenn sie sich von ihrem ursprünglichen Sitz im Leben entfernen, gegen falsches Fragen nicht wehren und drücken somit nicht mehr das aus, was sie sollen, ein Innewerden ursprünglicher Einsicht. "Ist sie aber einmal geschrieben, so treibt sich eine Rede überall umher, bei denen, die sie verstehen, ganz ebenso wie bei denen, für die sie sich nicht ziemt, denn sie weiß nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Wird sie aber beleidigt und ungerecht geschmäht, so bedarf sie stets der Hilfe ihres Vaters. Denn allein vermag sie sich nicht zu ehren noch sich zu helfen". Phaidros 275 df. Abgeschattet bleibt hier die Denkgesittung der frommen Aufklärer, die an anderer Stelle zu Wort kommt. Entdeckte der frühe Luther das Korrelationsapriori von homo legens und homo lectus, so hat die pietistische Bewegung an diesem Korrelationsapriori jenseits kognitiver oder instruktiver Engführung festgehalten und nachdrücklich die Erfahrungsdimension im Akt der Buchkonformierung herausgestrichen. Die fromme Aufklärung reflektierte die dramatische Form der Wiedererkenntnis, namentlich Lavater, der von der Bibel als "Schauspiellehre durch Geschichte" (s.u.) spricht. Wenn man, wie ich es tun werde, die Spur aufnimmt und sich primär an die Gleichnisse hält, an fiktive Geschichten, kommt der Inspirationslehre nicht mehr der Stellenwert zu, die Wahrheit historischer Begebenheiten vorab sichern zu müssen.

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an der radikalen Position Lessings gesehen, die einseitige Berufung auf die auf die innere Wahrheit. Alle folgenden Transformationen im Aufbau der Prolegomena orientierten sich nach der Erosion der objektiven Autorität der Schrift verstärkt an der subjektiven Glaubenserfahrung. Dieser Wechsel ging zusammen mit der schrittweisen Abschwächung der Verbalinspirationslehre in eine Real- (Eingebung der biblisch berichteten Ereignisse) oder Personalinspiration (Eingebung an auserwählte Personen, ohne für alle Niederschriften Inspiriertheit vorauszusetzen)39. Schrift galt jetzt nicht länger als Urkunde, sondern als zeitbedingtes Zeugnis von Offenbarung. Wenn der Geist sich bei der Niederschrift an den historischen Bildungsstand seiner Zeit akkomodierte, bedurfte es einer historischen Untersuchung der literarischen Vorlage, um die temporären Einkleidungen abzuschälen. Allein der Titel der Epoche machenden Arbeit "Abhandlung von freyer Untersuchung des Canon" (1771-1775) durch Johann Salomo Semler markiert den Wechsel in der Mentalitätslage. Semler scheidet streng zwischen Heiliger Schrift und Wort Gottes und resümiert: "Es ist mir unbegreiflich, wie es geschehen kann, daß nachdenkende Christen (...) heilige Bücher oder Schriften der Juden und das hie und da, nicht durch und durch, darin enthaltene, mitgeteüte, eingekleidete Wort Gottes oder allgemeine moralische Belehrung immer verwechseln."40 In der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts vertritt Semler das Gegenmodell zur erbaulichen Hermeneutik der Wiedergeburt, wenn er betont: "Es muß durchaus erstlich die richtige historische Erkenntnis entstehen; und nachher erst die heilsame abgewartet werden."41 Das Kriterium

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Dazu Gottfried Hornig: Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Bonn 1961, S. 84ff. Johann Salomo Semler: Abhandlung von freyer Untersuchung des Canon, hrsg. von Heinz Scheible, Gütersloh 1967, S. 43. Vgl. die Zusammenfassung bei Hans-Joachim Kraus: Die Biblische Theologie. Ihre Geschiche und Problematik, Neukirchen 1970, S. 197. Johann Salomo Semler: Vorbereitung zur theologischen Hermeutik, zur weiteren Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelehrten, Halle 1760, S. 149.

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freilich, das Semler aufbietet, um die göttliche Autorität zu testen, ob nämlich die Texte moralisch bessern42, ist selbst ein zeitbedingtes Kriterium. Es führte ihn zu einer beinahe behebigen Auswahl von Texten und einer weitgehenden Verwerfung des Alten Testaments. Schleiermacher brachte schließlich die Entwicklung im 19. Jahrhundert auf den Punkt, als er die subjektive Glaubenserfahrung an die Stelle des alten Schriftprinzips setzte43. Das spiegelt sich bereits sehr deutlich am Stellenwert, den er in den "Reden" der Heiligen Schrift zugesteht. "Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religioni,) ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann?"44 Schleiermacher hat auch in seinen späteren Schriften eine Inspirationslehre und damit eine spezifische Hermeneutik des Neuen Testaments abgelehnt. In seiner "Glaubenslehre" bestimmt er das Wirken des Heiligen Geistes vielmehr umfassend: "Gehen wir auf den Begriff des H. Geistes als Gemeingeist der christlichen Kirche zurück, daher auch als Quelle aller Geistesgaben und guten Werke: so ist auch alle Gedankenerzeugung, sofern sie dem Reiche Gottes angehört, auf ihn zurückzuführen und also von ihm eingegeben. (...) Dagegen würde man die Einheit des Lebens dieser apostolischen Männer auf die abenteuerlichste Weise zerstören, wenn man, um die Eingebung der heiligen Schrift recht vorzüglich herauszuheben, behaupten wolle, sie wären in andern Teilen ihres apostolischen Amtes weniger von dem H. Geist beseelt und getrieben worden, als in den Akten des Schreibens."45 Aus dieser das ganze apostolische Amtsleben bestimmenden Inspirationslehre lassen sich zwei 42 43

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Ebd., S. 197. Zur Beurteilung der Schleiermacherschen Umformierung der Tradition vgl.: Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, S. 50ff. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, (1799) Hamburg 1958, S. 68. Hier ist die Folie der platonischen Schriftkritik unübersehbar. Schriften sind vaterlose Gesellen und oft nur ein schwacher Abdruck wirklicher Geistpräsenz. Vgl. Phaidros 274f. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin 1960, S. 293f.

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Konsequenzen ablesen: 1. Die Bibel ist nur eine Quelle des lebendigen Ausdrucksgeschehen; 2. Der biblische Text muß psychologisch durchsichtig gemacht werden vor dem Hintergrund des apostolischen Lebens des Autors, ohne vorab der Urkunde Wahrheitsautorität zuzugestehen. Damit ist endgültig die Objektivität der Urkunde abgelöst worden von der Evidenz subjektiver Erfahrung46. Wie Piaton beschreibt Schleiermacher die Geburtsstunde der Einsichtgewinnung am Beispiel lebendiger Ausdruckserfahrung, dann, wenn man von der Nähe einer schönen Gestalt wirklich berührt wird47. Wer eine solche religiöse Anschauung authentisch ausdrückt und in der Form der Rede darstellt, ist ein Lehrer der Religion. Christliche Glaubenssätze bestimmt der spätere 'Kirchenlehrer' deshalb als Auffassungen des "christlich frommen Gemütszustandes in der Rede dargestellt"48, ein Gemütszustand, den die "Reden" im Anschluß an die johanneischen Abschiedsreden als "heilige Wehmut"49 charakterisieren. Diese von Schleiermacher fokussierte Tendenz blieb für das ganze 19. Jahrhundert denkbestimmend.50 Erst Paul Althaus reformulierte den 46

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Konsequenterweise ist es Schleiermacher gewesen, der in späteren hermeneutischen Entwürfen die literarische Form der Einsichtgewinnung genau reflektiert und dem gebildeten Publikum eine Hermeneutik des Stils vorgelegt hat. Texte dürfen als inspiriert gelten, wenn sie dem Leser die religiöse Anschauung authentisch präsentieren Folgerichtig kann auch anderen Schriften das Prädikat "heilig" zugesprochen werden, sofern sie die Kraft besitzen, religiöse Anschauungen authentisch darzustellen: "Die heiligen Schriften sind Bibel geworden aus eigener Kraft, aber sie verbieten keinem anderen Buche auch Bibel zu sein oder zu werden, und was mit gleicher Kraft geschrieben wäre, würden sie sich gerne beigesellen lassen." In: Reden, loc. cit., S. 169. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion, loc. cit., S. 41f.. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, loc. cit., S. 105. Friedrich Daniel Ernst Schleiermachen, Reden, loc. cit., S. 166. Pannenberg ist zuzustimmen, wenn er schreibt: "Die Erweckungstheologie, besonders Julius Müller, und die spätere Greifswalder und Hallenser Bibeltheologie Martin Kählers versuchten, Glaubensprinzip und Schriftautorität wieder enger aufeinander zu beziehen. Aber dabei blieb doch die subjektive Glaubenserfahrung nun das Grundlegende. Auch die lutherische Theologie der Erlanger Schule suchte die Glaubenserfahrung, die Kirchenlehre und deren Grund in Schrift und Heilsgeschichte enger als Schleiermacher miteinander zu verbinden,

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Problembestand, wenn er erneut eine Verbindung zwischen der Wahrheitsanmutung der Schrift und der subjektiven Evidenz aufmachte. "Die Inspiriertheit des Zeugnisses wird erkannt durch die Inspiration der Hörer."51 Abgelehnt hat Althaus die Möglichkeit einer Theorie der Inspiration im engeren Sinne: "Aber jede Theorie der Inspiration als eines besonderen Vorgangs ist unmöglich. Die Inspiration der Schrift läßt sich weder als geschichtlicher Akt aus der Gesamtgeschichte der Schrift, die durch Gottes Geist geleitet wird, heraus und für sich nehmen; noch läßt sich die Göttlichkeit, die Geistesgewirktheit des Ganzen von seiner Geschichtlichkeit und Menschlichkeit theoretisch unterscheiden."52 Damit ist freilich nur das Problem und die mögliche Lösung des Problems angezeigt. Die theologische Denkbewegung des 20. Jahrhunderts sucht erneut eine Rückbindung subjektiver Glaubensevidenz an die Objektivität der Schrift. Drei idealtypische Positionen will ich unter dieser Fragehinsicht vorstellen.

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setzte dabei aber die Glaubenserfahrung als Basis voraus. (...) Die Begründung der Theologie und besonders der Dogmatik auf eine vorgängige Glaubensgewißheit oder Glaubenserfahrung findet sich auch bei außerhalb des Einflusses der Erweckungsfrömmigkeit stehenden Theologen des 19. Jahrhunderts, so vor allem bei Albrecht Ritschi." In: Systematische Theologie, Bd. 1, loc. cit., S. 52f. Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh 1949, S. 216. Ebd., S. 216.

Autogramm, Dokument, Szene

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1.2.3 Autogramm, Dokument, Szene Positionen der Schriftlehre im 20. Jahrhundert Obwohl das Ende dieses Jahrhunderts noch nicht erreicht ist und die Vertrautheit mit theologischen Entwürfen zuweilen die für eine Inventarisierung notwendige hermeneutische Distanz zu unterschreiten droht, lassen sich doch idealtypische Positionen sichten, die auf die einseitige Ausrichtung der Theologie am Subjektivismus des 19. Jahrhunderts reagiert haben. Die Wort-Gottes-Theologie, die universalgeschichtliche Theologie und die hermeneutische Theologie versuchen in jeweils eigenständigem Profil erneut ein Gleichgewicht zwischen der Objektivität des Glaubensgrundes und subjektiver Glaubensgewißheit herzustellen. In ihren Grundentscheidungen werden sie dabei auch weiterhin geleitet von der Überzeugung einer 'Krise des Schriftprinzip s'53 in der Moderne. Ich will deshalb das immanente Schriftverständnis der genannten theologischen Richtungen skizzieren54 und vor dem Hintergrund der ausgeschriebenen philosophischen Schriftlehre kritisch befragen. Die Wort-Gottes-Theologie reagiert auf den durch den ersten Weltkrieg ausgelösten dramatischen Evidenzschwund des Sittlichen55, auf der die liberale Theologie aufruhte. Wenn das Wort 'Gott' auch nach den 53

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Dieser Ausdruck stammt von Wolfhart Pannenberg, in: "Grundfragen systematischer Theologie", Göttingen 3 1979, S. 1 Iff. Selbstredend kann es hier nicht um eine Gesamtdarstellung dieser Ansätze gehen, sondern nur um eine perspektivisch motivierte Erörterung der den Ansätzen eigentümlichen Schriftlehren. Initialzündung für Barths differenztheologischen Ansatz bildete eine persönliche Erfahrung: Die Evidenz, auf der die liberale Theologie aufruhte, die 'Evidenz des Sittlichen', wurde durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges desavouiert. Die Idee eines Reiches der höheren Zwecke, das sich sukzessiv entwickeln sollte, zerrieb sich im Stellungskampf auf den Schlachtfeldern Es war die neue Wortprägung des Weltkrieges, die eine theologische Deutung des Ereignisses anhand der überkommenen Äonenschematik zwingend nahelegte: Dieser Weltkrieg war die Apokalyse über die liberale Theologie, die einen entsprechend radikal neuen Typ von Theologie verlangte. Der verbürgerlichte und domestizierte Christus war obsolet geworden und die Evidenz des Sittlichen verdunkelt. Auf welcher primären Evidenz aber sollte künftige Theologie aufruhen? Vgl. dazu: Christofer Frey: Die Theologie Karl Barths. Eine Einfuhrung, Frankfurt am Main 1988.

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für einen anthropologisch-religiösen Optimismus desaströsen - Erfahrungen des ersten Weltkrieges noch Bedeutung haben soll, dann muß es sich prominent von den innerweltlichen Erfahrungen abheben. Der prominenteste Vertreter der Wort-Gottes-Theologie, Karl Barth, sucht deshalb die neue Evidenz in der radikalen Andersheit des Gotteswortes: Deus dixit.

Als Urszene des Barthschen Theologieverständnisses dient die Selbstvorstellung Gottes in Exodus: "Ich bin, der ich bin".56 Das Rätsel der Koexistenz von Theos und Logos wird durch diese Selbstvorstellung gelöst. Nur die unmittelbare Offenbarung seines Selbstwortes verbürgt die Wahrheit, an die kein Zweifel heranreicht: sie ist als autoritatives Wort schlechterdings objektiv und kritikresistent. Nicht falsifizierbar kann der Logos der Theologie nur sein, sofern Gott der Herr des Wortes bleibt. Nur die Souveränität des Sprechersubjektes garantiert die unverrechenbare Andersheit im wörtlich zu verstehenden theologischen Diskurs. Die hochgradig redundant anmutende Programmformel von Barths dogmatischer Arbeit spiegelt den logozentrischen Zirkel: Das Wort Gottes ist Aufgabe der Theologie57. Wenn der Maßstab des Theologisierens die reine Selbstvorstellung Gottes bleibt, dann hängt zwar nicht der Offenbarungsbegriff vom religiösen Erfahren ab, andererseits schrumpft der Eigen-Sinn kreatürlichen Daseins zum hermeneutischen Nullwert.

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Exodus 3, 14. Vgl. Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, I, 2, Die Lehre vom Wort Gottes, Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik (1932), Zürich 1970, S. 59. Eine sprachkritische Analyse durch Rüdiger Bartelmus hat alternative Übersetzungen erhellt: HYH. Bedeutung und Funktion eines hebräischen "Allerweltswortes". Zugleich ein Beitrag zur Frage des hebräischen Tempussystems, St. Ottilien 1982. Vgl. dazu den Aufsatz: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Anfänge der dialektischen Theologie, Bd. 1. 1, hrsg. von Jürgen Moltmann, München 1962; vgl. ferner: "Die Vokabel 'Theologie' enthält den Begriff des Logos. Theologie ist eine durch den Theos allererst ermöglichte und dann auch bestimmte Logia, Logik, Logistik." Karl Barth: Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962, S. 24f.

Autogramm, Dokument, Szene

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Wie Jahrzehnte später Lévinas58 intendiert Barth ein heteronomes Denken. Theologische Arbeit gibt Zeugnis von der Störung durch den ganz Anderen, eine "Ohren und Lippen öffnende Krisis"59, die den radikalen Subjektwechsel, das Denken vom Anderen her einstiftet. Hier hegen auch die Gründe für den höchst eigentümlichen Stil des überarbeiteten Römerbrief-Kommentars60. Weil sich das unanschaulich Andere - unanschaulich, weil sich anschaubare Phänomene kontextualisieren lassen und damit ihre Andersheit einbüßen - nicht in der Aussagenlogik einfangen läßt und ein Jenseits des Aussagbaren umkreist, weil das paradoxale Ereignis also nicht zum Gesamt innerweltlicher Tatsachen gehört, greift Barth auf einen expressionistischen, stark metaphorisch getönten Stil zurück, der die Erfahrung des Ausdrucks mimetisch nachstellt und an die Zustimmung des Lesers appelliert. Die Intentionalitätsstruktur der Selbst-Offenbarung nimmt Barth zum Ausgangspunkt seiner Erörterung. Theologie muß sich nach Barth darauf beschränken, die ursprünglich biblisch bekundete Expressionsleistung Gottes zu bezeugen.61 58

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Die Nähe dieser dialektischen Theologie zur Philosophie von Emmanuel Lévinas betont Johan F. Goud: Emmanuel Lévinas und Karl Barth Ein religionsphilosophischer und ethischer Vergleich, (ndl. 1984), dt. Bonn, Berlin 1992. Karl Barth: Der Römbrief (1922), Zürich 1984, S. 123. Die Alternative "Kant oder Hegel", die Barth einmal mit Thurneysen erwog, wurde zugunsten des Tertiums der Bibel entschieden. Der Rückstieg ad fontes weist zumindest im Gestus einen Husserl und Heidegger verwandten phänomenologischen Zug auf - selbst wenn im überarbeiteten Römerbriefkommentar die phänomenologische Lexik von Anschauung und Intuition unterbleibt -, den, einen von sekundären Diskursen unbelasteten Ursachverhalt freizulegen. Freilich fuhrt der metakritische Rückgriff auf den Anfang, das Begehren einer Wiederholung, leicht in einen engen Begriff von Ursprung, weil allenfalls das reine göttliche Diktat des Dekalogs als Signatur, als Unterschrift für die unverstellte Ausdrucksdimension des Schriftlichen im Buch der Bücher herhalten kann. Pannenberg kritisiert dieses Projekt so: "Das Beispiel Karl Barths zeigt die tragische Verwicklung der Theologie an dieser Stelle: Solange man daran festhält, die Wahrheit des christlichen Glaubens aller Erwägung seiner Inhalte vorweg sicherzustellen, bleibt nach der Abkehr von einer unfehlbaren Lehrautorität kirchlicher Amtsträger und nach dem Zerfall der altprotestantischen Inspirationslehre kaum ein anderer Weg dazu als die Berufung auf den Glaubensakt, sei es als Erfahrung oder als 'Wagnis.'" In: Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, S. 57.

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Ihren Anhalt findet sie dabei an der Glaubwürdigkeit der ersten Zeugen: "Wir müssen uns vielleicht begnügen mit der Feststellung, daß Jesus Christus gesagt ist von seinen ersten Zeugen. Auf ihr Zeugnis hin zu glauben an die Verheißung und also Zeugen von ihrem Zeugnis zu sein, als Schrifttheologen, das wäre dann unsere Aufgabe."62 Impliziert die angemahnte Forderung eines "Treueverhältnisses" zum Text aber nicht Verzicht zu leisten auf jede durch eine wissenschaftliche Methode abgesicherte theologische Arbeit? Auf Harnacks "Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen"63 (1923), die ein moderates, vernünftiges, der historisch-kritischen Methode verpflichtetes Theologisieren einfordern, antwortet Barth, indem er die von Harnack geforderte Wissenschaftlichkeit der Theologie zurückbindet an die "Erinnerung, daß ihr Objekt zuvor Subjekt gewesen ist und immer wieder werden muß." Für Barth ergibt sich daraus die Forderung, daß die Aufgabe jeder Theologie "eins mit der Aufgabe der Predigt (ist). Sie besteht darin, das Wort des Christus aufzunehmen und weiterzugeben."64 Namentlich geht es in diesem Streit um das Wesen der Parabeln und um die ontologische Struktur des Evangeliums: "Das schlichte Evangelium, aus welchem heraus Jesus seine faßlichen und trostreichen Parabeln zur Errettung der Seelen gesprochen hat, paßt Ihnen nicht, vielmehr könne die christliche Predigt 'wunderliche Wege dem menschlichen Denken und Reden nicht ersparen'."65 So von Harnack. Barth antwortet: "Ich kann jetzt auch gegen Ihre Bezeichnung der Gleichnisse Jesu als 'faßlicher und trostreicher' Parabeln nur im Vorbeigehen Protest einlegen."66 Barths Vorbehalte beziehen sich auf die scheinbare Selbstverständlichkeit historischer Kritik, die die Geistdimension der Schrift immer unterbelichtet lasse: "Wogegen ich mich zur Wehr setzen muß, das ist nicht die historische Kritik, wohl aber die durch ihre heutigen Äußerungen charakterisierte Selbstverständlichkeit, mit der man die Aufgabe der Theologie entleert, das heißt an die Stelle dessen, was die Alten 'das 62 63

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Karl Barth: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, loc. cit., S. 178. Barths Auseinandersetzung mit Harnack wird dokumentiert in: Karl Barth: Theologische Fragen und Antworten, Zürich 1957. Ebd. S. 10. Ebd., S. 16. Ebd., S. 23.

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Wort' (die Korrelation von 'Schrift' und 'Geist') nannten, dies und jenes durch die historische Kritik jenseits der 'Schrift' und abgesehen vom 'Geist' eruierte sogenannte 'schlichte Evangelium' gesetzt hat, ein Evangelium, das nur noch tropisch 'Wort Gottes' genannt werden kann, weil es tatsächlich bestenfalls ein menschlicher Eindruck ist."67 Barth dient deshalb nur die "Korrelation von Schrift und Geist" als "zureichender Erkenntnisgrund aller Offenbarung"68. Inhäriert aber diesem heteronomen Denkmodell nicht notwendig "metaphysische" Gewalt? Harnack jedenfalls spricht von der Gefahr einer "theologische(n) Diktatur"69. Versteht man den Vorwurf wörtlich, verfehlt er nicht sein Ziel: Theologie ist als Sache Gottes für Barth immer "Diktat". Wie aber steht es um die Möglichkeit eines autogrammatischen Schriftverständnisses? In einer "Nachschrift" befürchtet Harnack: "Vollends aussichtslos aber ist der Versuch, ein 'Wort' dieser Art als etwas so rein 'Objektives' zu fassen, daß das menschliche Sprechen, Hören, Aufnehmen und Verstehen sich in seiner Einwirkung ausschalten läßt."70 Genau das ist der Punkt. Das Ideal des heteronomen Denkens kann sich

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Anders als die Orthodoxie unterscheidet Barth aber zwischen dem verkündigten, dem geschriebenen und dem geoffenbarten Wort Gottes. Nur durch diesen dreistelligen Gestaltcharakter läßt sich, so meint er, die Andersheit des Wortes Gottes differenzlogisch einklagen. Ebd., S. 17. Vgl. Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, bes. S 523ff, hier: S. 570. Wagners spekulative, sich philosophisch nennende Theo-Logie, will in einer Theorie des Absoluten die von jedem "religiösen Bewußtsein vorausgesetzte Gottesbeziehung" begründen (ebd.). Das geschieht aus dem Grundsatz heraus, die Dependenz des Absoluten, in die es "durch das beziehende Tun des religiösen Bewußtseins" zu geraten droht, aufzuheben - um den Preis der Lebendigkeit des religiösen Lebens allerdings, wie Wagner sich selbst einwirft. Der Preis scheint mir entschieden zu hoch zu sein. Nicht nur ignoriert ein solcher Ansatz die Situationslogik biblischen Christentums, sondern weist, bei mangelnder inkarnationslogischer Profilschärfung, ein Defizit an integraler Wahrnehmung von Ausdrucksereignissen auf. Affektive Betroffenheit wird auch hier logo-logisch anästhesiert. Wolfhart Pannenberg hat Wagners Theolgie als "hegelianisierenden Barthianismus" bezeichnet. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. I, loc. cit., S. 174. Karl Barth: Theologische Fragen und Antworten, loc. cit., S. 31.

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in der nüchtern aufweisenden Aussage nicht ange-messen inkarnieren71. Erst Jahrzehnte später wird Lévinas - wie oben gesehen72 - den Unterschied zwischen dem heteronomen "Sagen" und dem "Aussagen" angemessen zur Sprache bringen. In der "Kirchlichen Dogmatik" nimmt Barth den Gedanken der Unanschaulichkeit in der christozentrischen Reformulierung schrittweise zurück: Gott ist Gott (Ich bin, der ich bin) in Christus. So lautet seine produktive Fortschreibung. Dieses Sein Gottes in Christus steht für die Versöhnung zwischen Gott und Welt. Im Fokus der Versöhnungschristologie werden alle Themenbestände der Theologie neu erschlossen. An der für Barths Theologie konstitutiven Idee der Selbstoffenbarung Gottes aber wird festgehalten und die Christologie darin eingezeichnet: Gott offenbart sich als Jesus Christus. Damit verbleibt freilich die Christologie im heteronomen Zirkel der Offenbarungsvorgabe, denn die Rede vom wahren Menschen und vom wahren Gott und vom wahren Zeugen ist nur die breitere Entfaltung dieser Struktur. Erst gegen Ende seiner Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik findet Barth die gültige Antwort auf die seit der Hamack-Debatte liegengebliebene Frage nach der Objektivität des Gotteswortes. Die Lehre von dessen dreifacher Gestalt als verkündigtes, geschriebenes und geoffenbartes Wort, die die Prolegomena entfalten, wird jetzt daraufhin befragt, wie die Wahrheit des Wortes Gottes73 sich zu den Wahrheiten kreatürlicher Welt verhält. "Es müßte also diesen Menschen und ihren Worten

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Barth unterläßt es, die Problematik eines heteronomen Denkens eingehend zu reflektieren. Aus der Angst, den ganz Anderen vom menschlichen Erkennen abhängig zu machen, muß er beide Bereiche radikal trennen, denn wenn der Mensch einen Anknüpfungspunkt für das Verstehen des Anderen hätte, würde der Andere seiner Andersheit beraubt. Unklar bleibt freilich dann, warum der eine, wenn er vom Anderen frei und selbständig ist, sich dem Geschehen öffnen soll und nicht in der Icheinsamkeit verharrt. In die gleiche Problemlage gerät der frühe Lévinas bei dem Versuch, ein heteronomes Denken in den griechischen Kontext zu übersetzen. Ich habe die epistemischen Schwierigkeiten eines heteronomen Denkens ausführlich diskutiert in meiner Monographie: Das Sein und der Andere, loc. cit. S. S. 33. Karl Barth: KD IV, Die Lehre von der Versöhnung, 3,1, Zürich 1959, vgl. S. 115.

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die Gnade seiner Realpräsenz erwiesen sein" - lautet die Antwort74. Barth erläutert seine überraschende These einer quasi-liturgischen Qualität menschlicher Sprache anhand der Gleichnisse, die er, weil sie biblisch vermeldet werden, zunächst sekundäre Gestalten nennt75, so: "Das eine wahre Wort Gottes selbst macht diese anderen zu wahren Worten. Jesus Christus spricht, schafft ja diese Gleichnisse, redet vom Reich und also vom Leben und also von sich selbst und tut das in Erzählungen von Vorgängen, die scheinbar auch jeder andere so erzählen könnte und nun doch nicht könnte, weil allein sein Wort das Reich mit diesen Vorgängen, diese Vorgänge mit dem Reich gleichsetzen kann, sodaß das Reich ihnen und sie dem Reich, indem er sie erzählt, tatsächlich, real, gleich werden und sind, sodaß die Erzählung von ihnen gerade nicht nur 'Bildrede', sondern enthüllende und verhüllende Offenbarung, Selbstdarstellung, Selbstdarbietung des Reiches, des Lebens und also seine eigene Selbstoffenbarung ist. (...) Es geschehen in den Gleichnis-Geschichten zwar keine Wunder, es geht in ihnen aber doch sehr wunderlich zu. Zu einem einigermaßen einleuchtenden Zeitungsbericht würde sich kaum eine dieser Erzählungen eignen, weil es zu offenkundig ist, daß ihre Figuren von einer unsichtbaren Hand sehr absonderlich geformt und in ihrem Tun sehr absonderlich geleitet sind - einer Hand, die sie, indem sie sie im Alltagsbereich agieren läßt, diesem nun doch auch deutlich entfremdet. (...) (D)ie neutestamentlichen Gleichnisse sind so etwas wie das Urbild der Ordnung, in welcher es neben dem einen Wort Gottes, durch dieses geschaffen und bestimmt, ihm genau entsprechend, ihm vollkommen dienend und darum in seiner Macht und Autorität auch andere, wahre Worte Gottes geben kann."76 Nicht nur gelingt hier dem späten Karl Barth die Reformulierung einer starken Schrifttheologie77, sondern zugleich eine sehr verspätete 74 75 76 77

Ebd., S. 124. Ebd., S. 125. Ebd., S. 125f. Barth wählt in seinen späten Vorlesungen "Einführung in die evangelische Theologie", loc. cit., zwei Begriffe, um abschließend seine hermeneutische Arbeit zu kennzeichnen: ",Dogmati sehe' Exegese? Sie ist das nur insofern, als sie ein Dogma ablehnt, das ihr diese Erwartung (daß ihr in den Schriften das prophetisch-apostolische Zeugnis begegne, K.H.) zum vornherein verbieten, deren Erfüllung zum vornherein unmöglich erklären möchte, pneumatische' Exegese?

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Antwort auf die Harnacksche Frage nach der strengen Objektivität des Wortes. Zwar nennt er die Gleichnisse entsprechend dem Aufriß seiner Prolegomena zunächst sekundäre Gestalten, bekennt aber nur wenige Zeilen später, es seien Selbstdarstellungen oder Selbstoffenbarungen, die Urordnung wahrer Worte. Hier ist deshalb der Ort, an dem eine produktive Dekonstruktion der Theologie Karl Barths anzusetzen hätte: 1. Im § 69 der Kirchlichen Dogmatik: 'Die Herrlichkeit des Mittlers' betitelt, entwickelt Barth zwar den Gedanken einer schriftlich fixierten Urordnung nicht breit, gibt aber ein formales Kriterium für die Wahrheit der anderen Worte an. Es gibt eine singuläre Sprachmitte, eine Selbstdarstellung, die sich schriftlich objektiv verwortet hat. Wie aber muß man die kategoriale Struktur dieser Sprachform - die zugleich eine der Lebensform ist - genauer bestimmen? Und: Wie muß eine SchriftTheologie konzipiert sein, die ihr Maß an diesen realpräsenten Gestaltwerdungen findet? 2. An dieser Schnittfläche ergibt sich auch die Möglichkeit, die problematische Heteronomiethese Karl Barths, der immer eine metaphysische Gewaltsamkeit eigen ist, fragend zu dekonstruieren. Wie attraktiv ist die in den Gleichnissen erschlossene Ordnung, damit sich der Leser der dort dargestellten Realpräsenz mit Freuden lebenspraktisch konformiert? Antipodisch zur Wortsprachenaxiomatik Barths setzt die universalgeschichtliche Theologie Wolfhart Pannenbergs ein. Nicht die autogrammatische Selbstvorstellung Gottes bildet den Leitfaden theologischer Besinnung, sondern der Rekurs auf die dokumentarischen Spuren der proleptischen Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus78. Die Heilige

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Sicher nicht, sofern sie etwas aus irgendeinem ihr vermeintlich eigenen Geistbesitz heraus über die Schrift verfügen zu können meinte. Sie mag aber so genannt werden, sofern sie sich die doch aus der Schrift selbst zu begründende Freiheit nimmt, ernstlich, letztlich und entscheidend nur eben die Frage nach dem in ihr vernehmbaren Selbstzeugnis des Geistes an sie zu richten." S. 194. Pannenberg selbst bezeichnet sein Vorgehen im frühen christologischen Entwurf mit der Metapher einer "Christologie von unten", und deshalb ist es naheliegend, die Eruierung des impliziten Schriftverständnisses durch die gleiche metaphorische Instrumentierung anzudeuten: Schrifttheologie von unten. Wolfhart Pannenberg: Grundzüge der Christologie, Gütersloh "1982, S. 26f. In der imposanten "Systematischen Theologie" betont Pannenberg aber: "Sie rekonstruiert lediglich die offenbarungsgeschichtliche Basis, die die klassische Christologie

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Schrift dient hier als Medium der archäologischen Erforschung eines tatsächlichen Sinngehalts, der zukunftsweisend ist. Will Theologie nach dem Verfall der Inspirationslehre nicht im Subjektivismus des Glaubensaktes aufgehen, bedarf Theologie, so die Überzeugung Pannenbergs, der Absicherung durch historische Erkenntnis. Nach dem Verfall der Inspirationslehre und damit der "vorgängige(n) Sicherstellung ihres Wahrheitsbewußtseins"79, muß das Glaubensbewußtsein mithilfe etwa der historisch-kritischen Methode die Klarheit80 der schriftlich bezeugten Tatsachen allererst erheben und, beharrend auf die zur Bewährung81 ausstehende Allgemeingültigkeit des Geschehens, die dokumentierten Ereignisse als verbindlich für jeden Menschen auch philosophisch verantworten. Fragt man nach dem diesem Projekt zugrundehegenden Schriftverständnis, dann besteht der Wert der Schrift zunächst im dokumentarischen Charakter82, der aber sofort mit dem hypothetischen Charakter einer zukunftsweisenden, universalontologischen Realisierbarkeit des Geschehens, das in Jesus Christus bezeugt ist, aufgeladen wird. Der hypothetische Charakter der Schrift soll dabei zugleich den Anschluß an die wissenschaftstheoretischen Standards der Moderae leisten83. Auch faktisch immer schon vorausgesetzt hat, ohne sie eigens zu explizieren. Nur unter methodischem Gesichtspunkt kommt der Argumentation 'von unten' ein Vorrang zu, - vorausgesetzt natürlich, dieses Verfahren fuhrt zu dem Ergebnis, daß der Inkarnationsgedanke nicht eine Verfälschung, sondern eine sachgemäße Entfaltung der schon dem Auftreten und der Geschichte Jesu implizit eigenen Bedeutung ist. Dann gilt: Den sachlichen Primat hat der ewige Sohn, der durch seine Inkarnation in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist." Systematische Theologie, Bd. II, Göttingen 1991, S. 327. 79 Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1968, S. 57. 80 vgl. Wolfhart Pannenberg: Was ist eine dogmatische Aussage? In: Grundfragen Systematischer Theologie, Gesammelte Aufsätze, Göttingen •'1979, S. 159-180. 81 Die Identität von immanenter und ökonomischer Trinität glaubt Pannenberg am besten durch ein Kohärenz-Modell der Wahrheit vertreten. Vgl. Systematische Theologie, Bd. 1, loc. cit., S. 31, 63, 64. 82 "Das Dokument wurde immer als die Sprache einer jetzt zum Schweigen gebrachten Stimme behandelt, als deren zerbrechliche, glücklicherweise aber entzifferbare Spur". Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 14. Und wenn die Schrift zunächst und zumeist weder Dokument noch Hypothese wäre? 83 Dazu Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt am Main 2 1987.

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die Theologie ist Prognosewissenschaft, die das schwer Verständliche mithilfe von Hypothesen und Modellen beschreiben will. Der dokumentarische Charakter der Schrift verlangt, so folgert Pannenberg, eine historische Hermeneutik. Zwar geht es nach Pannenberg in der Theologie wie in den anderen geisteswissenschaftlichen Fächern primär um eine Interpretation von Texten, "(a)llerdings geht es (...) hier nicht nur um Texte. (...) Das hängt zusammen mit der Eigenart der biblischen Texte, die im Unterschied zu andern Texten von Gott und seinem Handeln in bestimmten Ereignissen sprechen. Damit muß sich die Frage verbinden, ob die Ereignisse wirklich stattgefunden haben und ob sie wirklich etwas mit Gott zu tun haben. (...) Solche Texte erfordern eine Interpretation, die die Frage nach der Tatsächlichkeit der Ereignisse, von denen sie reden, nicht ausklammert. Darum muß die theologische Hermeneutik in größerer Nähe zu den Verfahren historischer Textinterpretation durch Rückschlüsse aus den Texten auf die darin behaupteten Ereignisse stehen als zu einer rein literarischen Hermeneutik, wie sie in den Literaturwissenschaften mit Recht geübt wird und in der das Erzählte hauptsächlich als Produkt menschlicher Phantasie gewürdigt wird."84 An dieser These überrascht nicht der implizite Vorwurf an die säkulare Geschichtswissenschaft, die die geschichtliche Wirklichkeit integral ohne die mögliche göttliche Einwirkung verstehen will - dieser Vorwurf ist vom Ansatz her begründet -, es überrascht aber 1. die Unterbewertung der dramatischen Erzählstücke des Neuen Testaments, die den höchst strittigen Vorzug historischer vor literarischer Hermeneutik nach sich zieht, und 2. die Abschattung fiktionaler Elemente der Geschichtsschreibung. 1. Rhetorisch wird der literarischen Hermeneutik begegnet: "Heißt interpretieren hier (in der Theologie, K.H.) dasselbe wie bei der Odyssee oder einem modernen Roman oder bei einem Märchen wie Rotkäppchen

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Wolfhart Pannenberg: Eine philosophisch-historische Hermeneutik des Christentums, in: ThPh 66 (1991), S. 481-492. Bultmann hat dagegen unmißverständlich bekannt: "Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur." Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen, Bd. II, (1952), Tübingen 1968, S. 231.

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und der Wolf?"85 Die implizierte Antwort läuft leer, weil der Anspruch auf Tatsächlichkeit an einem begrenzten biblischen Textkorpus ausgemacht wird. Pannenberg umgeht die Schwierigkeit, weil er sich in der Auseinandersetzung mit der literarischen Hermeneutik nicht an den Parabeln, was plausibel wäre, orientiert. Und das mit gutem Grund, weil der implizite Schriftbegriff bei Pannenberg diese Textsorte nicht abzudecken vermag, klagen doch namentlich die Gleichnisse vom Himmelreich einen tatsachenfreien Präsenzmodus ein86. Hermeneutisch wäre vielmehr zu fragen, warum der Text der Bibel zu einer fiktionalen Struktur tendiert und dabei anderes will als Märchen zu erzählen. Weil Jesu Verhalten regel- und kontexttranszendent ist, besteht ein Hang zur fiktionalen Verdichtung. Das ist die These. Ob eine herkömmliche literarische Hermeneutik die Eigentümlichkeit dieser fiktionalen Verdichtung angemessen beschreiben kann, ist damit durchaus nicht entschieden, behauptet wird nur, daß die historische Hermeneutik zu kurz greift, weil sie das literarische Zentrum der Heiligen Schrift87, die literarische (Selbst)Porträtierung, die selbstredend eine andere als die der Tatsächlichkeit ist, verfehlt. Pannenberg unterschätzt zudem 2. die fiktionalen Elemente jeder Geschichtsschreibung88. Allein durch die porträthafte Rekonstruktionsleistung einer Geschichte zu einem homogenen Ganzen erhält das erzählte Leben einen Bedeutungszuwachs, der sich nicht auf Tatsächlichkeit hin verrechnen läßt und durchaus nicht nichtig

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Wolfhart Pannenberg: Eine philosophisch-historische Hermeneutik des Christentums, loc. cit., S. 483. Die Basisstruktur von Verheißung und Erfüllung wäre dabei durchaus flexibel genug, diese Textsorte aufzunehmen, allerdings bei einem Verzicht auf eine worttranszendente Tatsächlichkeit, die Pannenberg zum Maßstab der Hermeneutik erhebt. Die ist hier selbstredend nicht zu haben. Die Behauptung, die Parabeln bildeten das Zentrum der Heiligen Schrift, übernehme ich zunächst vom späten Barth. Vgl. etwa Henry White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historisches Diskurses, Stuttgart 1986; H.-I. Marrou: Über die historische Erkenntnis, Darmstadt 1973. Vgl. dagegen: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hrsg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994.

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ist - wie Ricoeur gezeigt hat89. Dieser Zuwachs aber geht verloren, wenn immer nur die sprachfreie Tatsächlichkeit im Blick steht. Über Fakultätsgrenzen hinweg scheint Pannenberg eine Koalition mit deijenigen philosophischen Richtung einzugehen, die vehement gegen eine Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie/Theologie und Literatur ihr principiis obsta verlauten ließ: die von Habermas90. I. Als selbstverständlich setzt Pannenberg die Zuordnung von Propositionalität und Philosophie (Theologie) einerseits und Nichtproposi89

Weil Pannenberg nicht zwischen Fiktionalität (Gleichnisse) und Fiktivität oder Illusion einen Unterschied macht, werden alle Denkmodelle, die einem Illusionsverdacht, der Religionskritik also unterliegen könnten, anathematisiert. Das mag der Grund gewesen sein, den Parabeln nicht einen zentralen Stellenwert zuzuschreiben. Wissenschaftstheoretisch betrachtet ist diese Abschattung unnötig, weil Fiktionen im Unterschied zur Illusion (Fiktivität) Kunstgriffe des Denkens sind und einen (notwendigen) Umweg beschreiben, um die Erfahrungswissenschaft voranzubringen. Hier empfiehlt sich grundsätzlich zwischen Hypothese und Fiktion zu unterscheiden: "Es ist natürlich, dass die Fiktion eine ganz andere Methodologie haben muss als die Hypothese. Die Methodologie dieser besteht wesentlich darin, dass die Annahme nicht bloß denkmöglich, sondern auch faktisch möglich sei; sowie dass alle Erfahrungstatsachen damit stimmen: eine einzige damit unvereinbare Tatsache kann die Hypothese stürzen. Von solchen Dingen ist nun bei der Fiktion nicht die Rede: der Widerspruch der Erfahrung und selbst der Einspruch der Logik kümmern sie nicht oder wenigstens nur in ganz anderer Weise als die Hypothese. Das Prinzip der methodischen Regeln der Hypothese ist die Wahrscheinlichkeit, das der Fiktionsregeln die Zweckmäßigkeit der Begriffsgebilde". So Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit. Aufgrund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Leipzig ^1927, S. 152. In seiner "Systematischen Theologie" lehnt Pannenberg alle Denkmodelle ab, die etwa den Begriff der Erzählung (story) zum Ausgangspunkt nehmen: "Durch eine Entscheidung für die Kategorie der 'stoiy' im Unterschied zur Geschichte würde das Interesse an der Realität des Erzählten jedoch zumindest sekundär." Systematische Theologie, Bd. 1, loc. cit., S. 253. Pannenberg kritisiert hier Dietrich Ritsehl: Zur Logik der Theologie, München 1984. Auch diese Kritik spiegelt die nichtgestellte Frage, warum Jesu Leben zur fiktionalen Darstellung tendiert.

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Dazu Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985; ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1988.

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tionalität und Dichtung andererseits voraus. Wenn es aber richtig ist, daß die Parabeln eine neue Urordnung erschließen - wenn sogar Barth zuzustimmen ist, die Parabeln seien das realpräsente Wort schlechthin dann erschließen diese Parabeln den Raum von Verständigung, in den hinein auch künftig die binäre Schematik von wahr-falsch ihren angemessenen Ort findet. Heidegger hat die These einer Vorgängigkeit von Offenheit und Welterschlossenheit im Kunstwerk gegenüber der verspäteten Dichotomie wahr-falsch plausibel machen können.91 Die Rede von einer in den Gleichnissen Gestalt gewordenen Urordnung verlangt freilich, die dort geschehene Welterschließung als ultimative zu beschreiben und alle anderen Welterschließungen durch die Kunst daraufhin maßstäblich zu beziehen. II. Bleibt ein zweites Argument. Fiktionale Texte erheben, das scheint Pannenberg zu argwöhnen, keinen Geltungsanspruch an die Leser. Zuzugeben ist das nicht einmal für fiktive Phantasiegebilde wie "Rotkäppchen und der (böse) Wolf', erst recht problematisch wird die These für die hier zur Diskussion stehenden Parabeln und die dramatische Tiefenstruktur der Evangelien. Weil die Gleichnisse vom Himmelreich die Selbstverständlichkeit des durchschnittlichen Dahinlebens ruinieren, wirken sie nicht etwa handlungsentlastend oder bieten gar ein weltflüchtiges Kompensationsgeschäft an. Was in diesen poetischen Manfred Frank, der Vertreter einer schleiermacherschen Position in der Gegenwart, wählt in seiner Auseinandersetzung mit Habermas ein analoges Argument: "Darum bestreite ich auch Habermasens (...) These, wonach der philosophische Diskurs propositional, also wahrheitsdifferent sei, während der literarische allenfalls die Wahrhaftigkeit von Gefühlen (Expressionen) repräsentiere. Denn die Ausdrucks-Möglichkeiten, als die das literarische Kunstwerk 'schematisiert' ist, sind ebenso viele Kandidaten fur wahre (bzw. falsche) Sätze. An dieser Stelle bricht nun auch die übliche Abgrenzung der Philosophie als ein System wahrheitswertsensibler Propositionen von der Literatur als wahrheitswert-unsensibel zusammen. Poesie liefert Protopropositionen. Was in ihr geschieht, hat Heidegger 'Welterschließung' genannt. Gemeint ist damit die Eröffnung eines Raums von Verständlichkeit, in den Propositionen allererst einziehen können. (...) Dichtung ist in dem Sinne nicht wahrheitsindifferent, als sie die Distribution von Wahrheitswerten in sprachlichen Kontexten allererst ermöglicht; sie hat aber nicht notwendig auch teil an der Wahrheit im engeren Sinne dieses Terms, nämlich als Aussage-Wahrheit." Manfred Frank: Stil in der Philosophie, Stuttgart 1992, S. 72f.

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Texten vorgespielt wird, gilt es als Möglichkeit gelingenden Lebens zu verstellen. Der Appell, der vom Text ausgeht, will vom Leser eigenverantwortlich übernommen werden. So sehr von der Evidenz des Gelesenen überzeugt, übersetzt der Leser das schriftlich porträtierte Leben im Horizont seiner eigenen Möglichkeiten. Wie fremd auch immer diese Texte sind, wie selbstreferentiell sie sich der alten Welt gegenüber auch verhalten müssen, so sind sie doch nicht areferentiell dem Leser gegenüber92. Der von den Gleichnissen und vom porträtierten Leben Christi ausgehende mimetische Appell bezieht sich auf eine lebenspraktische Nachbildung, ein Angebot, dem sich der Leser aus wohlverstandenem Eigeninteresse heraus gar nicht entziehen kann. Solange Theologie mit dem Anspruch auftritt, eine universitäre Wissenschaft zu sein, ist sie zwar gut beraten, auf die Objektivierung und Darstellung von Erkenntnis in theoriegesättigten diskursiven Gebilden nicht zu verzichten. Hinter die erreichten Standards zurückzufallen wäre ruinös. Hier droht andernfalls die Skylla, Gattungsunterschiede zwischen Dichtung und Theologie vollständig einzuebnen, mit der Konsequenz, auf eine systematische Darstellung theologischer Erkenntnis ganz zu verzichten. Ein schierer theologischer Dekonstruktivismus wäre die Folge. Gleichermaßen gefahrlich aber erscheint mir der Versuch, Propositionalität anzustreben, ohne die Ebene zu erreichen, die die Ebene von Propositionahtät erst erschließt: die des (Kunst)Werkes. Pannenbergs Auseinandersetzung mit Heidegger um eine Rehabilitierung der Aussage93 vermag deshalb nicht zu überzeugen, weil er gegen ihn eine "spezifische Sachlichkeit des den Menschen kennzeichnenden Weltverhältnisses" ins Feld fuhrt, die in der Aussage am angemessensten zur Darstellung komme94. Sachlichkeit in dem hier verstandenen Sinne aber ist abkünftig von einem Ereignis, in dem sich eine Welt eröffnet, und der man zwar sachlich begegnen kann, aber erst dann, wenn man einmal in sie eingerückt ist. Daraus folgt nicht, wie Pannenberg argwöhnt, eine Entleerung der Theologie zur Existenzerhellung, weil, wie sich zeigen 92

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Namentlich Ricoeurs Hauptwerk "Zeit und Erzählung" führt den Prozess der Fiktionalisierung der Geschichte und der Historisierung der Fiktion vor. S.o. Wissenschaftstheorie und Theologie, loc. cit., vgl. S. 174. Ebd. S. 178.

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läßt, in den Parabeln und den verdichteten (fiktionalisierten) Evangelienerzählungen Wirklichkeit durchaus zur Sprache kommt - aber eben in unhintergehbar fiktionaler Verdichtung, die den Leser affiziert. Pannenbergs Theologie versteht sich als Reaktion auf den kritischen Zustand des Schriftprinzips in der Moderne95. Ich zitiere die entscheidende Sequenz: "Das Verhältnis der Theologie zu den biblischen Schriften stellt sich heute in zweierlei Hinsicht anders dar als zur Zeit Luthers: Erstens, für Luther war der Wortsinn der Schriften noch identisch mit ihrem historischen Gehalt. Für uns hingegen ist dies beides auseinander gerückt; das Bild der verschiedenen neutestamentlichen Verfasser von Jesus und seiner Geschichte kann nicht mehr ohne weiteres als identisch mit dem tatsächlichen Hergang der Ereignisse gelten. Damit hängt ein Zweites zusammen: Luther konnte noch seine eigene Lehre mit dem wörtlichen Inhalt der biblischen Schriften gleichsetzen. Für uns hingegen ist der historische Abstand jeder heute möglichen Theologie vom urchristlichen Zeitalter unübersehbar und zur Quelle der uns am meisten bewegenden theologischen Probleme geworden."96 Wie steht es also um den Abstand der Schriften vom historischen Geschehen und um den Abstand zur gegenwärtigen Situation, wenn man den literarontologischen Status der Texte ernst nimmt? Wir Spätgeborenen sind auch nach dem Verfall der Inspirationslehre nicht nur Luther, sondern auch den Augenzeugen gegenüber privilegiert. Das ist meine These, die ich im Laufe der Arbeit plausibilisieren möchte. Weil das prototypische Leben Jesu Christi in der porträtierten literarischen Darstellung verdichtet wird, dessen Wirklichkeit also eine literarische Bedeutungsintensität erlangt, kehrt sich die These, die Spätgeborenen seien den Augenzeugen gegenüber im Nachteil, um. Das Gegenteil ist der Fall. Oft betrachtet haben (literarische) Porträts im Unterschied zu der historischen Persönlichkeit ein ästhetisches Surplus, weil Porträts die Momente des Ausdrucks, dann, wenn Innen und Außen korrespondieren, auf dem Hitzepunkt verdichten. Was sonst nur flüchtig wahrnehmbar, wird im (literarischen) Porträt vom Zufalligkeitsbefall gereinigt. 95

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Pannenberg beginnt seine frühe Aufsatzsammlung "Grundfragen systematischer Theologie", Göttingen -*1979, nicht zufallig mit dem Aufsatz: "Die Krise des Schriftprinzips". Ebd., S. 15.

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Porträts sind weder Foto-Kopien noch autonome Schöpfungen, sondern vielmehr übersetzende Verdichtungen. Im literarischen Porträt präsentiert sich das Phänomen des Ausdrucks in seiner Reinheit: "Der Fall des Porträts ist nur die Zuspitzung einer allgemeinen Wesensverfassung des Bildes. Jedes Bild ist ein Seinszuwachs und ist wesenhaft bestimmt als Repräsentation, als Zur-Darstellung-Kommen. Im besonderen Falle des Porträts gewinnt diese Repräsentation einen personhaften Sinn, sofern hier eine Individualität repräsentativ dargestellt wird."97 Eine Schrifttheologie, die die Bibel als Schauspiellehre98 durch Geschichten des porträtierten Jesus interpretiert und vom ästhetischen Realpräsenzcharakter der Schrift ausgeht, wird auf diesem von Gadamer gebahnten Weg weitergehen müssen. Soviel also ist sicher: Ein dokumentarisches Schriftverständnis, aus einer bestimmten Wissenschaftssituation heraus leicht erklärbar, ist nur die halbe Wahrheit, weil sie zentrale Passagen nicht angemessen interpretieren kann und die Zündungssituation von Theologie, die der Lektüre vor Ort der realpräsenten Gestaltwerdung des göttlichen Wortes, um97

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Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1986, S. 38f. Das Plausibilitätsdefizit einer historischen Hermeneutik des Christentums besteht darin, den Ausdrucksstatus der Texte übersehen zu haben. Weil die Urschriftsteller den auch künstlerischen, beileibe nicht bloß dokumentarischen Blick für die Schlüsselsituationen hatten, kann der späte Leser vom historischen Druck der zufälligen Situation entlastet die Urszenen viel unbelasteter anschauen. Die Sache der Theologie, die Gestalt Jesu Christi, existiert nicht hinter den Texten, sondern in den verdichteten Zügen der Schrift. In den Parabeln hat Jesus diese Bedeutungsintensivierung selbst vorgeführt, und die Pointe bliebe stumpf, wollte man sie auf Tatsächlichkeit befragen. Was heute ansteht, ist primär kein historisches, sondern ein literarisch-lektorales Bewußtsein. Dagegen Pannenberg: "Die 'Sache' der Schrift, die Luther im Sinne hatte, nämlich Person und Geschichte Jesu, ist für unser historisches Bewußtsein nicht mehr in den Texten selbst zu finden, sondern muß hinter ihnen erschlossen werden." In: Grundfragen systematischer Theologie, 1979, S. 15. Für Pannenberg bleibt deshalb nur der Rekurs auf das geschichtliche Ereignis der Auferstehung. Auch Luther hat die Bibel wiederholt als dramatisches Epos, als "göttliche Aeneis" bezeichnet. Vgl. dazu Oswald Bayer: Theologie, Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 1, Gütersloh 1994, S. 64, ferner Reinhard Schwarz: Beobachtungen zu Luthers Bekanntschaft mit antiken Dichtern und Geschichtsschreibern, in: LuJ 54, 1987, S. 7-22.

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geht. Besetzt werden muß die Leerstelle durch eine Gestalt- und Figuren- Hermeneutik von Theologie, die ich die physiognomischmorphologische99 nenne. Daraus ergeben sich zwei Forderungen: 1. Künftige Theologie ruuß zwischen "Forschung" als Erforschung realpräsenter Ausdruckgestalten christenmenschlichen Lebens, die den Leser affizieren, und der Sachlichkeit historisch-philosophischer Wissenschaftshermeneutik strenger unterscheiden. Indem Pannenberg den theologischen Diskurs am wissenschaftstheoretischen orientiert, unterläuft er gerade dasjenige enthusiasmierende Moment, das die Theologie als geisteswissenschaftliche Disziplin im Streit der Fakultäten anzubieten hat. 2. Pannenberg ist unumwunden zuzustimmen: Die Berufimg auf den subjektiven Glaubensakt allein vermag die Wahrheit des christlichen Glaubens nicht zu verbürgen. Der objektive Anhalt freilich ist nicht hinter den Texten im Vollzug einer historischen Signifikationshermeneutik zu suchen, sondern in der objektivierten Ausdruckserfahrung des Textes: im literarischen ( Selbst)Porträt. Die Reflexionsgestalt der Hermeneutik unterscheidet sich von der Wortsprachenaxiomatik und dem dokumentarischen Schriftverständnis universalgeschichtlicher Deutung durch einen therapeutischen Präsentationsstil: Wie, so die Grundfrage, läßt sich der als garstig breit betitelte Graben zwischen Text und Gegenwart überbrücken? Extensional umfassend definiert, bietet die Hermeneutik eine Theorie der Verständlichkeit der Lebenswelt, eng verstanden eine Lehre vom Verstehen schriftlich fixierter Dokumente; entsprechend geht es in der theologischen Hermeneutik um die Verständlichkeit des Glaubens überhaupt und im engeren Sinne um das Verstehen antiker Texte, die normative Geltung beanspruchen und in der begegnenden Wirklichkeit verantwortet werden wollen. So der sensus communis. Gerhard Ebeling, kompetentester Vertreter hermeneutischer Theologie, will diese Regionalisierung theologischer Hermeneutik nicht mitmachen: Nicht ist sie neben literarischer und historischer Hermeneutik eine weitere Regionalhermeneutik, sondern, als 99

Das physiognomisch-morphologische Paradigma habe ich untersucht in der Monographie: Das Erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992. Vgl. Reiner Piepmeier: Art.: Morphologie, in: HWPh, Bd. 6, Sp. 200-205.

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Lehre vom Wort Gott(es), das den Menschen unbedingt angeht, Paradigma ererbten Verstehens überhaupt. Dieser Anspruch auf eine Entregionalisierung theologischer Hermeneutik erscheint auf den ersten Blick überzogen. Um ihn einzulösen, unterscheidet Ebeling zunächst zwischen einer harten und einer weichen therapeutischen Aufgabe der Hermeneutik. Als Verstehenshilfe im engeren Sinne tritt die Hermeneutik nur auf den Plan, wenn "das Wortgeschehen aus irgendeinem Grunde gestört ist"100. "Hermeneutik will also nicht zur Sprache etwas hinzutun, sondern nur dasjenige ausräumen, was ihrer Wirksamkeit im Wege steht. (...) Sie ist also eine Lehre von der Überwindung der Sprachstörung."101 Den Grund für diese Sprachstörung entdeckt Ebeling nicht in der Seins - sondern in der Situationsvergessenheit moderner Sprachtheorien, die die Ausdrucksgeschehnisse wie Versprechen, klagen oder fluchen' nicht mehr repräsentieren können, weil sie den konkreten, situativen Anlaß für diese Sprachhandlungen in kognitiv-signifikativer Verkürzung verfehlen. "Wort ereignet sich als zeitliches Geschehen. Zum Wort gehört deshalb die Situation, der es entspringt, in die hinein es geschieht und die es verändert. Demgemäß konkretisiert sich und modifiziert sich auch das Sprechen in vielfacher Weise: als ansprechen oder versprechen, als belehren oder sich unterhalten, als fragen oder um Hilfe rufen, als klagen oder anklagen, als fluchen oder beten."102 Fundamentalontologische Bedeutung für alle Menschen erlangt theologische Hermeneutik aber erst, sofern denn gezeigt werden kann: "Theologische Sprache redet, in welcher Weise auch immer, von dem, was den Menschen in der ihn angehenden Wirklichkeit unbedingt angeht und letztlich trifft, ist also auf das bezogen, was jeden angeht, weil es mit seiner Existenz gegeben ist."103 100

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Gerhard Ebeling: Wort Gottes und Hermeneutik, in: Wort und Glaube, Tübingen 31967, S. 334. Gerhard Ebeling: Einführung in theologische Sprachlehre, Tübingen 1971, S. 188f. Hier berührt er sich mit Grundüberzeugungen Heideggers. Gerhard Ebeling: Wort und Glaube, Bd. 2, Tübingen 1969, S. 409. Gerhard Ebeling, Wort und Glaube, Tübingen -^1967, S. 430. Bereits in seiner Erstlingsarbeit thematisiert Ebeling das hermeneutische Problem, dort bei Luther: Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942.

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Weil jeder Mensch immer unvordenklich in eine Wortwelt hineingeboren wird, die Ansprüche und Anfragen an ihn stellt, weil jedes Verstehen immer nur in einem eröffneten Verstehenshorizont gelingt, weil der Stand des Menschen in der Welt radikal instabil und fraglich ist, bestimmt Ebeling die "Grundsituation des Menschen" als "Wortsituation"104. Der sprachtechnische Kunstgriff von Wort und Antwort impliziert, das ist die Grundprämisse, eine nichtsubjektzentrierte, sondern relationale Ontologie. "Unter der Grundsituation des Menschen verstehe ich diejenige Situation, die für das Menschsein konstitutiv ist und die allen nur denkbaren Situationen des Menschen als letztlich bestimmend zugrunde hegt und in ihnen präsent ist. (...) Ich bezeichne die Grundsituation als Sprachsituation, weil sich in ihr ein vielfaltiges Sprachgeschehen105 vollzieht, in dem Ansprüche verantwortlich wahrgenommen werden unter der Herausforderung durch ein letztinstanzliches Angegangensein ,"106 Wenn die Sprache komplett versagt, wenn die relationalen, zwischenmenschlichen Sprachsituationen überfremdet und die Ausdruckskraft der Sprache verstummt ist, dann kann neue Sprachgewährung nur geschehen durch den relationalen Urgrund des Menschen schlechthin: durch Gott. Nur wenn das Wort schlechthin, Gott, die Situation des Menschen trifft und erhellt, weil es Möglichkeiten gelingenden Lebens erschließt, nur dann kann man resümieren: "Der Sinn des Wortes 'Gott' (ist) die Grundsituation des Menschen als Wortsituation."107 In seiner "Dogmatik des christlichen Glaubens" konkretisiert Ebeling seine These vielleicht am überzeugendsten im Rekurs auf die Anredequalität der Gleichnisse, die nichts anderes erreichen wollen als ein Aufdecken wirklichen Lebens: "Es soll eine Lebenssituation aufgedeckt werden. (...) Es sind Situationen des Verwundems, des Glücks, der Not, 104

Gerhard Ebeling: Wort und Glaube, Bd. II, loc. cit., S. 416. 105 v g l dazu ¿ig Schriften von Ernst Fuchs: Das Sprachereignis in der Verkündigung Jesu, in der Theologie des Paulus und im Ostergeschehen, in: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation, Gesammelte Aufsätze, Bd. I, Tübingen 1965, S. 281 - 305, ders. Jesus. Wort und Tat, Tübingen 1971. 106 Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I, Tübingen 1979, S. 189 Hervorhebung von mir. 107 Wort und Glaube, Bd. Il, loc. cit., S. 416.

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der Verlegenheit, der Enttäuschung, der überwältigenden Freude, der totalen Hingabe - lauter Ansätze zur Glaubenssituation."108 In ihrer erhellenden Kraft haben diese Gleichnisse Verkündigungscharakter, sofern sie "den Blick für die eigene Lebenssituation unter dem Anspruch und Zuspruch der nahen Gottesherrschaft (öflhen), und zwar so, daß dadurch die eigene Lebenssituation als wahrhaft getroffen erkannt wird."109 Weil sich der Mensch durch einen Anspruch in Frage gestellt weiß, ist er genötigt, Stellung zu beziehen. Diese höchstinstanzliche Konfrontation entscheidet über Sein und Nichtsein. "Wo warst du, Adam?" "Logon didonai."110 Warum hast du dich aus der konkreten Situation des Miteinanders zurückgezogen und damit die Grundsituation eigenmächtig verletzt?111 108 109

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Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 2, Tübingen 1979, S. 442. Ebd., S. 444. "Situationsgerechtes Wort geht nicht an der besonderen Situation vorbei und über sie hinweg, sondern trifft sie genau, jedoch nicht so, daß es sie kasuistisch isoliert, sondern so, daß es ihr auf den Grund geht und sie deshalb in ihren weitesten Zusammenhängen erkennen läßt." S. 445. Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I, loc. cit., S. 104. Diese letztinstanzliche Coram-Relation verwendet Ebeling in seiner "Dogmatik des christlichen Glaubens" als hermeneutischen Schlüssel, der, bei richtiger Drehung, alle Themenbestände erschließt: so etwa wird in der Gotteslehre die Gebetssituation zur hermeneutisch-phänomenologischen Plausibilisierung der gängigen Rede von der Nichtobjektivierbarkeit Gottes. "Als Lebensphänomen unterstreicht das Gebet die Nichtobjektivierbarkeit Gottes. (...) Das Gebet ist der völlig einzigartige Fall im Gebrauch der Sprache, in dem ein anderweitig nicht feststellbarer Adressat angesprochen wird, von dem aber zugleich aufs entschiedenste bestritten wird, daß es sich um einen nur potentiellen oder imaginären Adressaten handele." Dogmatik des Christlichen Glaubens, Bd. 1, loc. cit., S. 199, 20If.. Sehr präzise beschreibt Ebeling die in der Gebetssituation ablaufenden somatischen Prozesse, hier: die imaginative Nachbildung der Situation des Gegenüberseins: "Das Beten sucht unwillkürlich auch einen Ausdruck im Leiblichen und wird durch entsprechende Formen gefordert, selbst wenn sie als rein konventionell erscheinen. Für sie alle ist die Abkehr von der Tätigkeit charakteristisch: das Falten der Hände, um sie gleichsam zu binden, ihr Emporheben im Gestus der Empfangsbereitschaft, das Niederknien als Zeichen der Unterwerfung" (199). Immer aber ist es auch das Selbstwort Gottes, das sich dem Beter in dieser Rechtfertigungssituation direkt zusagt. Diesem Selbstwort hat er aufs Wort zu glauben und deshalb betitelt Ebeling seine Aufsatzbände auch folgerichtig "Wort und Glaube". Wer nicht aufs Wort glaubt und nachschauen will, zweifelt an der ehrenwörtlichen Zusage. Weil Ebeling sich an der Ur-Szene

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Ebeling reformuliert das protestantische Schriftprinzip auf der Grundlage dieser hermeneutischen Überlegungen: "Die Heilige Schrift, so formulierte Luther, ist sui ipsius interpres. Das ist übrigens auch, genaugenommen, der Skopus der orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration und von den affectiones scripturae, ihrer auctoritas, perfectio und perspicuitas. Daß die Heilige Schrift sui ipsius interpres sei, trat nicht als ein Zweites zum 'sola scriptura1 hinzu, sondern explizierte nur dessen hermeneutischen Sinn. Zum reformatorischen Schriftprinzip gesellte sich nicht etwa ein hermeneutisches Prinzip, vielmehr ist das reformatorische Schriftprinzip, recht verstanden, nichts anderes als ein hermeneutisches Prinzip. Es besagt: Die Schrift ist nicht dunkel, so daß es zu ihrem Verständnis der Tradition bedürfe. Der Schrift eignet vielmehr claritas, d.h. sie hat erhellende Kraft, so daß von ihr klärendes Licht ausstrahlt."112 Allerdings will Ebeling nicht - was er der (Neo)Orthodoxie vorrechnet - Wort Gottes und Schrift identifizieren, sondern er klagt nachdrücklich das Geschehen ein, das vom Text zur Predigt führt, selbst wenn er Predigt im "prägnanten Sinne von Verkündigung überhaupt"113 verstanden wissen will. "Die Grundstruktur des Wortes ist darum nicht Aussage - das ist eine abstrakte Abart des Wortgeschehens -, sondern Mitteilung, gewiß nicht in dem abgeblaßten Sinne von Information, sondern in dem gefüllten Sinn von Partizipation und

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ehrenwörtlicher Zusage orientiert, bleiben visuelle Amplifizierungen der Offenbarungssituation weitgehend abgeschattet. Trotz einer beträchtlichen inkarnationstheologischen Profilschärfung und der ansatzweise ausgeführten Somatik dieser Glaubenslehre überwiegt doch weiterhin der oralistische Duktus. Er wäre allerdings leicht um die Körpersprachlichkeit des Menschen zu erweitern, ohne daß die Prämissen der Ebelingschen Hermeneutik preisgegeben werden müssen. Dazu Hermann Timm: Gottes Vater- und Sohnschaft im Christentum. Über die Nachbildung der Inkarnationssymbolik, in: Theologia Practica 3 (1988), S. 161179. Hermann Timm untersucht die eigentümliche Oben-Unten-Vorne-HintenTopographie des Beters in: Geerdete Vernunft. Von der Lebensfrömmigkeit des Okzidents. Hamburg, Zürich 1991, S. 91ff. Vgl. auch Oswald Bayer: Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. Gerhard Ebeling, Wort und Glaube, Bd. 1, loc. cit., S. 320. Ebd., S. 326. Vgl. auch: "Die Frage nach dem Verstehen hat für die Theologie offenbar ihren eigentlichen Ort in der Ausrichtung der Verkündigung an die Welt, in der Begegnung des Nichtglaubenden mit dem Wort des Glaubens. "In: Wort und Glaube, Bd. II, S. 101.

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Kommunikation."114 Damit wird die Frage drängend: "Wo begegnet Wort so, wo geschieht Wort so, daß darin das Wortgeschehen selbst in Erscheinung tritt? (...) Ich gebe unter Hinweis auf den eigentlichen Ort des Wortgeschehens die Formulierung zu bedenken: Hermeneutisches Prinzip ist der Mensch als Gewissen."115 Ebeling interpretiert die Zentralstellung seines Gewissensbegriffs als hermeneutische Übersetzung gleich zweier Kirchenväter: Luthers und Schleiermachers. Einmal besetzt bei Ebeling der Gewissensbegriff die lutherische Dialektik von Gesetz und Evangelium Es ist das Gesetz, das sich in der Stimme des Gewissens meldet und die Kluft zwischen Sein und Sollen aufzeigt, sodaß nur das Wort des Evangeliums, indem es gelingendes Leben ermöglicht, die Kluft auch schließen kann116. Ebeling will den Gewissensbegriff aber zugleich als Übersetzung des Schleiermacherschen Gefühlsbegriff verstanden wissen. Ich zitiere die entscheidende Sequenz: "Wenn Schleiermacher das Problem der psychologischen Ortung des Glaubens neu aufgriff und ihm seinen Platz nicht im Wissen oder im Tun anwies und damit weder in der Metaphysik noch in der Moral, sondern im Gefühl als dem spezifisch Religiösen, so ist dies immer wieder dahin mißverstanden worden, als verschiebe sich die Ortung nur in eine andere Seelenpotenz. Schleiermacher ging es im Gegenteil darum, dem Glauben in der Weise seinen Sitz im Leben zu bestimmen, daß es dabei um die Grundausrichtung des Lebens selbst geht, um das, was für das Leben einschließlich auch des Wissens und des Tuns konstitutiv ist. (...) Der Vorzug des Gewissensbegriffs könnte bei rechter Interpretation einmal darin bestehen, daß ihm die Ausrichtung auf das Personsein selbst eigen ist; ferner darin, daß sich in ihm das ganze Leben versammelt, nicht etwa der gegenwärtige Moment isoliert wird; und schließlich darin, daß ihm der Extembezug eigen ist, das Angesprochensein, das Gehörsein, das einer Urteilsinstanz Ausgesetztsein."117 114 115 116

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Gerhard Ebeling, Wort und Glaube, loc. cit., S. 342. Hervorhebung von mir. Ebd., S. 337,348. Selbstredend ist hier auch die oben besprochene Denkgesittung des frühen Luther mit abgedeckt, der affectus, voluntas und conscientia synonym verwendet. S.o. Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, loc. cit., S. 107. In seinen Lutherstudien notiert Ebeling dazu: Gefühl sei der "Quellgrund innerer Lebendigkeit, die den Menschen als ganzen bestimmt und darum den Dimensionen des

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Wenn, wie Ebeling will, die Grundstruktur des Wortes Partizipation und Kommunikation ist, dann profiliert sich das verbum incarnatimi konsequent als Mittlergestalt: "Weil das Verständnis des Kommunikativen dort, wo es am Wortgeschehen orientiert ist, sogleich auf diejenige Kommunikation hinlenkt, durch die sich Jesus anderen mitteilt, deshalb verweilt die Besinnung nicht bei dem inneipersonalen Geheimnis des Zusammenseins von Gott und Mensch in Jesus, als könnte man dies Erkennens und Handelns vorausliegt, zwischen ihnen vermittelt und sie begleitet. Das Gefühl signalisiert den Primat des Empfangens vor und in allen Weisen menschlicher Tätigkeit und weist deshalb über sich hinaus auf eine externe Bedingung seiner selbst. Es trifft den Menschen in seiner Unvertauschbarkeit als Einzelnen, und zwar als solchen gerade in seinen Relationen zur Welt und zur Mitmenschlichkeit. Und da nicht bewußtlos, sondern unmittelbares Selbstbewußtsein, ist ein wie immer auch näher zu definierendes Verhältnis zur Sprache im Gefiihl mitgesetzt. Diese Grundskizze vom Gefühl bei Schleiermacher lenkt die Aufmerksamkeit auf eine überraschende Entsprechung bei Luther: auf die Funktion, die bei ihm der Begriff des Gewissens ausübt." Gerhard Ebeling: Lutherstudien Bd. III, Begriffsuntersuchungen - Textinterpretationen - Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985, S. 418. Mir scheint die Übersetzung plausibel, aber nicht die einzig mögliche zu sein. Weil es guter hermeneutischer Brauch ist, Begrifflichkeit nicht mit der Sache zu verwechseln, böte sich an, den gesuchten Sachverhalt, hier durch Gefühl und Gewissen thematisiert, durch den umfassenden Begriff des Affektes zu markieren, zumal Luther selbst in seiner Schriftauslegung die Bedeutung des Affiziertseins herausgestrichen hat. Gesichert wäre damit: I. die externe Relation - die affectiones der Schrift - affiziert und bestimmt das Wesen des Menschseins; II. der Anspruchcharakter bezieht sich auf das Ganze des Menschen; III. der Lebens- und Erfahrungsbezug ist mimetisch fundiert. Ebeling selbst deutet diese Perspektive, die ein Promovend von ihm entfaltet hat, an, betont aber: "Wenn ich trotzdem an dieser Stelle primär an Luthers Gewissensbegriff erinnere, so zum einen deshalb, weil sich im Beieinander von affectus und conscientia eine bis ins Sprachliche verwandte Beziehung zur Affektivität von Gefiihl und Selbstbewußtsein einstellt." Gerhard Ebeling, Lutherstudien, Bd III, S. 419. Der Zusammenhang von Affekt und Mimesis wird später zu behandeln sein. Zu der angesprochenen Schülerarbeit vgl. Günter Metzger: Gelebter Glaube, loc. cit. Wie zu zeigen, halte ich dieses tertium für die angemessene Interpretation des erfragten Sachverhalts. Vgl. auch die Aufsätze: Frömmigkeit und Bildung; Beobachtungen zu Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl als Gottesbewußtsein; alle in: Wort und Glaube, Bd. 3, S. 60-137. Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften in: Wort und Glaube, Bd. II, S. 305-343; Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 2, S. 264ff.

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gleichsam vom Throne Gottes her beobachten. Vielmehr wird aus der Perspektive des davon Betroffenen das Ereignis der Person Jesu als des Mittlers zwischen Gott und Mensch erfaßt, in welchem er Gott vor den Menschen und die Menschen vor Gott vertritt."118 Namentlich der Gleichniserzähler besitzt die mittlerische Macht, neue Sprachsituationen zu stiften und die Hörer in die Geschichten hineinzuverstricken. Als Aufdeckung des Lebens gewähren die erzählten Gleichnisse dem Hörer die Möglichkeit, sich in die Grundsituation erneut versetzen zu lassen. Wie Sprache neue Kraft gewinnt, schreiben die Gleichnisse explizit vor. Das freilich markiert auch die Grenze der Ebelingschen Hermeneutik: Die Dogmatik des christlichen Glaubens fuhrt nicht aus, wie diese Partizipation als mimetischer Lebensakt genauer auszusehen hat. Eine Formen· und Stilanalyse der Schrift, in denen dieses Leben Gestalt gewonnen hat, unterbleibt. Ebelings Hermeneutik sprengt die verbalis-tische Engfuhrung nicht, sondern ist fast ängstlich darum bemüht, die viva vox evangelii auch in der codifizierten Gestalt herauszulesen. Noch die Gleichnisse sprechen verkündigungsanalog in eine Situation hinein, um sie dann in einem zweiten Schritt metakritisch zu verwandeln. "Darin sind sich Altes und Neues Testament eigentümlich konform: Beide sind Prozesse sukzessiver Verkündigungsermächtigung in neue Situationen hinein, Prozesse sich erneuernder Sprachgewährung. Beide sind nicht einfach selbst das zu Überliefernde. Das eigentlich zu Überliefernde ist vielmehr das, was Quelle des Wortgeschehens bleibt und nicht einzufangen ist in nur eine, ausschließliche, invariable Sprachgestalt."119 Hier liegt die Sollbruchstelle dieser Hermeneutik: Die innerhermeneutische Dialektik von Schrift und Wort wird letztlich doch zu einer Überlegenheitsunterstellung des Wortes, des solo verbo, umgeschichtet. Eine bibliomorphe Gestaltwerdung dessen, was in Jesus zur Sprache kommt, tritt nicht in das zentrale Blickfeld. Die textuelle Verfaßtheit der Schrift bleibt noch unausgeschöpft. Dabei ist die Frage nicht von der Hand zu weisen: Warum vermögen ausgezeichnete Textgestalten, namentlich die Gleichnisse, die Situation des Menschen gegenwärtig zu erhellen? Warum drückt sich in ihnen urbildliches, theomorphes Leben am besten aus? Durch welche Stilmittel vermag der Mittler und seine inspirierten 118 119

Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. II, S. 81f. Wort und Glaube, Bd. II, loc. cit., S. 425.

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Schriftsteller die Grundsituation des Gegenüberseins zu stiften, in denen sich der Leser wiedererkennt? Wie also läßt sich der Gedanke der Partizipation ausschreiben? Drei idealtypische Antworten auf den Verfall der altprotestantischen Inspirationslehre wurden inventarisiert. Barth wagt ein heteronomes Schriftdenken; das bleibt solange Beteuerung, bis nicht die Realpräsenz des göttlichen Wortes im prototypischen Bildwort der Parabel aufgezeigt und ihre attraktive Formkraft gedeutet wird; Pannenberg sucht im Rekurs auf eine schrifttranszendente Tatsächlichkeit die Wahrheit des Christentums zu sichern, die Funktion der Schrift wird festgelegt auf die Dokumentierung sprachfreier Tatsachen und die hypothetische Prognosebildung zwecks wissenschaftlicher Verifikation; die eigentümliche Literalität christenmenschlichen Lebens wird so nicht erreicht; Ebeling plädiert treffend für eine relationale Ontologie: zunächst und zumeist stiftet die Schrift eine neue Partizipation zwischen Gott und Mensch; wie aber läßt sich dieser Gedanke lesetheoretisch ausdeuten?

2. IN DEN NETZEN DER SCHRIFTWELT Grammatik und Hermeneutik einer Lese-Theologie 2.1 Das Gesicht der Schrift Die absolute Metapher einer Lese-Theologie

Die Metapher ist niemals unschuldig. Sie orientiert die Forschung und fixiert ihre Ergebnisse. J. Derrida

Im ersten Kapitel ging es um mehr als um eine bloße Inventur von Positionen. Die aufgelesenen philosophischen Entwürfe - summarisch unter dem Stichwort Schriftkonformität oder Mimesis vorgestellt - erinnerten an die Grundintention der Reformation: Der Christenmensch existiert im Gegenüber zur Schrift, die ihn affektiv betrifft (Luther) und orientiert, weil er hier auf das Antlitz der Schrift trifft (Calvin); Sein heißt: Gesichtet sein vom Antlitz der Schrift. Die nachgeschriebene Geschichte des Schriftprinzips dokumentierte den Verfall der relationalen Beziehung zwischen Text und Leser, wie er von Luther und Calvin angemahnt worden war. Wenn in der Verbalinspirationslehre die Wahrheit der Urkunde vorab sichergestellt wurde, dann führte das dazu, den Leser von der Wiedererkenntnis urbildlichen Lebens zu entlasten. Desaströs mußte sich dann entsprechend der Verfall der Inspirationslehre auswirken. Jetzt konnte nur noch die Wahrheit des Evangeliums im Rekurs auf die innere Wahrheit abgesichert werden. Die Theologie des 20. Jahrhunderts versuchte deshalb erneut - so wurde gezeigt - die Objektivität der Urkunde mit der Glaubensgewißheit zu verbinden: Barth entdeckte im Spätwerk die Realpräsenz Gottes im Text der Gleichnisse - wie aber die konkrete Anverwandlung durch den Leser geschieht, beschrieb er nicht mehr; Pannenberg liest die Schrift als

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Das Gesicht der Schrift

Dokument einmaliger Geschehnisse, die einen zukunftstiftenden Wert haben, die Lebensfähigkeit der Geschehnisse ward dabei aber nicht dem Textleben entnommen; Ebelings phänomenologisch arbeitende Hermeneutik kommt dem Konsens französischer Phänomenologen sehr nahe, wenn er die anthropologische Grundsituation als Gegenübersein zum Text faßt, die mimetischen Prozesse beschreibt aber auch Ebeling nicht. Das "Gegenübersein zum Text" war die Quintessenz der französischen Philosophen: Menschen sind Mängelwesen, die ihre eigene Unvollständigkeit und Offenheit nur therapieren können im Gegenübersein zum Text. Bei Derrida wird daraus ein freies, aber orientierungsloses Spiel, orientierungslos, weil kein transzendentales Signifikat, hier vorläufig mit der Metapher des Gesichts der Schrift anvisiert, gültige Orientierung verspricht. Lévinas verwendet zwar die Orientierungsmetapher des Gesichts, reduziert freilich dessen Anschaulichkeit vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Bilderverbots. Ricoeur schließlich beschreibt sehr genau die Formierungskraft von Texten. Christliche Theologie wird hieran anknüpfend diese Formierungskraft im Rekurs auf eine nicht-ikonoklastisch verschattete Rede vom Antlitz der Schrift ausdeuten müssen: "Das Wort ward Fleisch, und wir sahen seine Herrlichkeit."1 Anders als der gesichtslose Gott des Seins zeigt dieser textuelle Anspruchscharakter faciale Züge. Das Gesicht der Schrift ist die absolute Metapher der Theologie. Das ist die These. Wie steht es um die Grammatik dieses Sprachbildes, das die Lebensform eines Christen regulieren soll? Nur dann kommt einer Metapher das Prädikat "absolut" zu, wenn sie prinzipiell nicht durch eine begriffliche Redeweise ersetzt werden kann2. 1 2

Joh 1, 14. Dazu Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 10f.: "Dann aber können Metaphern, zunächst rein hypothetisch, auch Grundbestände der philosophischen Sprache sein, 'Übertragungen', die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen. Wenn sich zeigen läßt, daß es solche Übertragungen gibt, die man absolute Metaphern nennen müßte, dann wäre die Feststellung und Analyse ihrer begrifflich ablösbaren Aussagefunktion ein essentielles Stück der Begriffsgeschichte." Absolute Metaphern setzen an die Stelle der binären Logik eigentlich-uneigentlich die Selbstreferenz des Ausdrucks, sprich: die Performanz. Die Funktion absoluter Metaphern besteht darin, theoretisch die Totalitätsfrage und pragmatisch die Orientierungsfrage einzufangen. Weil Totalitäts- und Orientierungsfragen auch in der Moderne nicht

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Ist eine Metapher3 absolut, dann orientiert sie die lebenspraktische Anverwandlung des Erlesenen: Leben = Leben im Angesicht der Schrift. Das Gesicht der Schrift ist das Pars pro toto des Neuen Seins, eine Fokussierung neuer Weltsicht, die, wie zu zeigen ist, eine bestimmte ganzheitliche Haltung dem Leser einstiftet.4 Der Hymnus des Epheserbriefs bringt diese faciale Verdichtung auf den knappsten Nenner:

verstummen, kann man auf absolute Metaphern kaum verzichten. Blumenberg freilich ist skeptisch, ob man noch neue absolute Metaphern bilden könne. Zudem bleibt für Blumenberg ausgemacht, daß der Metaphorologie treibende Philosoph sich der Möglichkeit beraubt - gleichsam reflexiv in der Metapher stehend -, auf die nicht verstummenden Fragen eine Antwort zu finden, weil die Antwortmächtigkeit absoluter Metaphern nur funktioniert, wenn diese selbstverständlich sind. Weniger skeptisch als Blumenberg ist Ricoeur, der von der lebendigen Metapher spricht. Paul Ricoeur betont zwar im Sinne Heideggers den Verschleißprozeß der metaphorischen Begrifflichkeit in der metaphysischen Tradition, verweist aber darauf, Heidegger selbst habe auch im "nachmetaphysischen Denken" nicht auf Metaphern wie "Geschick" oder "Lichtung" verzichtet: Die Metapher, so Ricoeur, ist lebendig, sie lebt: La métaphore vive, Paris 1975. Derridas Auseinandersetzung mit der Metapher setzt sich von der Ricoeurs noch einmal ab: Heidegger überwindet die Metapher nicht, weil selbstredend auch der Ausdruck "Verschleiß" metaphorisch konnotiert ist. Der Rückzug der Metapher ist also janusköpfig: Neue Metaphern treten an die Stelle der alten, sind supplementär, so daß es nicht gelingen kann, den Bezug zwischen Denken und Metaphorik von Außen - z.B. als "metaphysisch" zu benennen. Jacques Derrida: Le retrait de la métaphore, in: Poésie 7 (1977), S. 103-126; ders.: La mythologie blanche, in: Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 249-324. Ich verwende die Rede von der absoluten Metapher hier freilich so, daß sie im Ricoeurschen Sinne vor dem Hintergrund der Erzählung Kontur gewinnt, genauer: vor dem Hintergrund des porträtierten Christus. Zu jeder "Metapher gehört ein Kontext, der eine spielerische Identifizierung lebhaft nahelegt: die sprachliche Darstellung dieser spielerischen Identifizierung (...) ist dann die Metapher. Zur geglückten Metapher gehört die Aussicht, durch die spielerische Identifizierung eine Situation (...) zu stiften." So treffend Hermann Schmitz: System der Philosophie, III/4, Bonn 1977, S. 557. Die Intention, Metaphern unter dem Stichwort des Pars pro toto zu bestimmen, stammt von Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1969, S. 151.

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ά ν α κ ε φ α λ α ι ώ σ α σ θ α ι τα πάντα έν τώ Χριστώ - "auf daß alle Dinge zusammengefaßt (gesichtshaft versammelt) würden in Christo" 5. Vom Gesicht der Schrift, genauer: den literarisch-porträthaften Gesichtszügen der Schrift her eröffnet sich ein Möglichkeitsspielraum, in dem der Leser in neuer Weise sein kann. Es ist das Gesicht einer neuen Welt. Das Antlitz der Schrift eröfthet einen Totalhorizont, in dem die unüberschaubare Nähe des Himmelreichs verdichtend dargestellt wird. Das emphatische Verständnis des Gegenübers als mich meinender Gesichtszug markiert den Integritätsanspruch dieser Lebensdeutung und beschreibt die Ursituation der Lektüre. Darauf sich zu besinnen ist die vornehmste Aufgabe der Theologie. Theologie ist die grammatischhermeneutische Besinnung auf die im porträtierten Gesicht der Heiligen Schrift erschlossene christliche Lebenswelt. Eine Lesetheologie fragt, was es heißt, das Himmelreich schriftlich verbucht aber lebbar nahezubringen. Totalitäts- und Orientierungsfünktion, diese anti-derridaschen6 Prädikate der absoluten Metapher, müssen weiter entfaltet werden, um den formativen Status von Texten und damit die vorgeschlagene Definition von Theologie zu plausibilisieren. Theologie wird hier wiederholen müssen, was die Philosophie in der Geschichte ihrer Selbstkritik einholte: Philosophie ist nur dann eine kritische Philosophie, wenn sie ihre Ergebnisse rückbindet an die Lebensbedeutsamkeit von Theorien. Derrida, Lévinas mid Ricoeur sind die Meisterphilosophen dieser Selbstkritik. Welche Bilder und Metaphern steuern und versteuern das Denken? Eine Kurzgeschichte der phänomenologischen Bewegung will diese Geschichte der Selbstkritik kurz abschreiten. Eine phänomenologisch operierende Theologie muß die erlesenen Ansätze kritisch prüfen und ausschreiben. Im zweiten Abschnitt erfolgt deshalb die Erprobung der erfahrungsleitenden Erschließungskraft des neuen Phänomenbegrifls vor Ort der Eph 1,10. Die Fokussierung der Welt in der Gestalt Christi untersucht bekanntlich einer der ersten großen christlichen Traktate: Athanasius: De Incarnatione, in: Contra Gentes and De Incarnatione, ed. & transi, by R. W. Thompson, Oxford 1971, bes.. §41, vgl. §55ff. Die erfahrungtheologische Struktur dieses frühchristlichen Denkens ist es wert, erneut gründlich studiert zu werden; vgl. dazu auch Paul Tillich. Die Lehre von der Inkarnation in neuer Deutung, in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, Stuttgart 1970, S. 205-219. Vgl. oben.

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Heiligen Schrift. Der dritte Abschnitt will plausibel machen, daß der Text der Heiligen Schrift die quasi-gesichtshafte Verdichtung der christenmenschlichen Lebenswelt darstellt. Was "ist" ein Gesicht der Schrift? Antwort: Das Evangelium hat die Form eines literarischen Porträts. Abschnitt vier profiliert den Autoritätscharakter der im Porträt erschlossenen Wirklichkeit. Schließlich zeigt der fünfte Abschnitt die lektoral sich ereignende Umwidmung eines szientifischen Vernunftbegriffs zu einem szenischen, der sensibel genug ist, die Ausdrucksdimension christenmenschlichen Lebens mit allen Sinnen vor Ort der Lektüre zu vernehmen. 2.1.1 Konkrete Lebenswelt Die Inkarnierung des Aprioris Als Leitfaden für eine Kurzgeschichte der "Phänomenologischen Bewegung"7 bieten sich die differenten Primärsituationen intentionaler Sinnstiftung an. Husserl, der Patron der neuzeitlichen Phänomenologie, wählte in seiner Frühphase die transzendentale Zuschauerposition, in die er sich erst durch eine schrittweise reduktive Befreiung aus dem natürlichen Zusammenhang hinauskatapultierte, um Erfahrungsdaten im intentionalen Akt einheitlich zu organisieren. Das methodische Instrumentarium der Phänomenologie dient dazu, die von jedem sachfernen Interesse abgekoppelte Beziehung zwischen einer vermeinten Sache und der Bewährung dieser Meinung (Intention) in der Anschauung qua Vorstellung als Grundsituation phänomenologischer Arbeit auszuweisen. "So besteht die phänomenologische Einstellung mit ihrer Epoché darin, daß ich den denkbar letzten Erfahrungs- und Erkenntnisstandpunkt gewinne, auf dem ich zum unbeteiligten Zuschauer meines natürlich-weltlichen Ich und Ich-Lebens werde."8 Das ist ein transzendentaler Voyeurismus, der sich gegen jede leibliche Affektivität abschottet und dabei dem Ideal nachjagt, mit dem Einen vorzüglichen Überblick über die Phänomenologie bieten Herbert Spiegelberg: The Phencmenological Movement, Den Haag 1983; Bernhard Waidenfels: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main 1983. Edmund Husserl: Cartesische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, S. 15, Hervorhebung von mir

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Ursprung von allem zu koinzidieren. Ihre Evidenz schöpft dieser Ansatz aus der Auszeichnimg des okularen Gesichtssinnes, ist er es doch, der urimpressiv Andrängendes und Begegnendes auf Distanz halten und randscharf etwas als etwas in der Unterscheidung von anderem aufweisen kann. Heidegger und andere haben diesen okularen Apriorismus, der vorhandene Gegenstände im zentralen Gesichtsfeld auszeichnet, als Derivat einer anderen Ursituation ausgegeben und die Hervorhebung des Gesichtssinnes zurückgenommen. Zunächst und zumeist bewegt sich das multiple Körpersubjekt mit allen fünf Sinnen umsichtig in einem Verhaltensspielraum. Erst Zäsuren im Verhalten verlangen danach, die ideelle Dimension des Sinnbegriffs auf der Ebene der Denk- und Erkenntnisleistungen ausdrücklich zu machen. Man darf das von Heidegger erarbeitete alternative Angebot also als reduktiven Test verstehen, die scheinbare Selbstverständlichkeit der Husserlschen Ursituation zu erproben. So verstanden, ist die Phänomenologie vor aller konstruktiven und methodischen Arbeit das kritische Geschäft, die scheinbare Selbstverständlichkeit von Vokabularien - etwa das der bewußtseinsmäßigen Vorstellung, das den Gesichtssinn auszeichnet und eine bestimmte Grundstellung vorgibt - zu hinterfragen. Der späte Husserl hat - namentlich in der Arbeit "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie"9 - die nichthinterfragte Selbstverständlichkeit philosophischer Haltungen - vor allem den Objektivismus der neuzeitlichen Naturwissenschaften, aber auch die scheinbare Selbstverständlichkeit der phänomenologischen Zuschauerposition, kritisch beleuchtet Die Abkoppelung der Theorie von der Lebensbedeutsamkeit ihres Forschens wird jetzt als Problem benannt. "Lebenswelt"10, der Raum des Vorkategorialen und Vorsprachlichen, lautet deshalb das zentrale Stichwort des späten Husserl für eine 9

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Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1976. Konturiert wird der Begriff von Rüdiger Welter: Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt, Übergänge, Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, hrsg. von Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels, Bd. 14, München 1986. Vgl. auch Peter Kiwitz: Lebenswelt und Lebenskunst. Perspektiven einer kritischen Theorie des sozialen Lebens, Übergänge Bd. 9, München 1986.

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neu anzugehende Grundlegung der Wahrnehmungswelt. Wer dem "Logos der ästhetischen Welt"11 auf die Spur kommen will und tief in die sinnliche Welt eintaucht, kann nicht länger dem Ideal anhangen, allen Sachen Sinn zusprechen zu können, sondern muß zugeben, daß er selbst durch die Situation, in der er sich in der Lebenswelt vorfindet, passiv mitkonstituiert ist. Das zieht selbstredend eine Entmachtung selbstsicherer phänomenologischer Recherche nach sich. Die Zuschauerposition ist verwaist, das souveräne Bewußtsein der Vorstellung verabschiedet12. Heidegger verschiebt die Husserlsche Intuition einer Phänomenologie der Erkenntniserlebnisse zu einer Phänomenologie der Faktizität des Daseins in historischer Perspektive. Bereits der frühe Heidegger orientiert sich in einer von Hans-Georg Gadamer betitelten "theologischen Jugendschrift"11 - es handelt sich um eine frühe Einleitung zu Aristoteles - an Texten, in denen sich die Theorie noch nicht von der lebendigen Erfahrung abgelöst habe und das "unmittelbare Leben der Subjektivität" authentisch hervortrete. In den Aristoteles-Texten, so Heidegger, komme das Leben in seiner Grundbewegtheit, die "Situation des faktischen

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Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Husserliana Bd. 17, Den Haag 1974, S.297. Zu dieser Stelle vgl. Bernhard Waldenfels: Lebenswelt zwischen Alltäglichem und Unalltäglichem, in: Phänomenologie im Widerstreit; Zum 50. Todestag Edmund Husserls, hrsg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Frankfurt am Main 1989, S. 106-121. Ob Husserl das gelingt, kann nur beurteilen, wer zeigt, daß die mit dem Titel der "Lebenswelt" angezeigte Sache nicht länger ein aus Erfahrungen herausgeschältes Konstrukt darstellt. Gleichermaßen kritisch und konstruktiv sichtet Bernhard Waldenfels diesen Aspekt in: Die Abgründigkeit des Sinnes. Kritik an Husserls Idee der Grundlegung. In: ders.: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1985, S. 15 - 34. Vgl. auch Alwin Diemer: Edmund Husserl Versuch einer systematischen Darstellung seiner Phänomenologie, Meisenheim am Glan 2 1965. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch fur Philosophie und Geisteswissenschaften, Bd. 6, Göttingen 1989, S. 237-269. Heideggers Umformulierung des Phänomenbegrifls untersucht Otto Pöggeler: Heideggers Neubestimmung des Phänomenbegriffs, in: Neuere Entwicklungen des Phänomenbegriffs, Phänomenologische Forschungen Bd. 9, Freiburg, München 1980, S. 124-162.

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Lebens"14 in der Sorge um das eigene Sein zum adäquaten Ausdruck, namentlich im 6. Buch der Nikomachischen Ethik, das in der integralen Bestimmung der fünf Wissensformen die "Grundlebendigkeit des Vernehmens als solchen"15 verwahre. Zwar bewege sich auch heutige Philosophie weiterhin im Begriffsfeld aristotelischer Philosophie, dabei habe aber diese Begrifflichkeit ihre Ausdrucksintensität stark eingebüßt und damit die Rückbindung an das lebendige Veraehmen verloren16. Historisch-philosophische Forschung bleibt deshalb "darauf verwiesen, die überkommene und herrschende Ausgelegtheit nach ihren verdeckten Motiven, unausdrücklichen Tendenzen und Auslegungswegen aufzulokkern, um im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen der Explikation vorzudringen"17. Spätestens bei Heidegger wird die Phänomenologie zur eminent kritischen, sprich destruktiven Wissenschaft, die die Philosophiegeschichte kritisch auf Ausdrucksleistungen gelebter Erfahrung befragt, um sie situationsgerecht zu wiederholen18. Heideggers späte Versuche, dichterische Ausdrucksformen angemessen zu explizieren, dürfen dabei als gültige Antwort auf Husserls PhänomenologieaufFassung der "KrisisAbhandlung" verstanden werden, den Logos der ästhetischen Welt konkret-geschichtlich - nicht als universales, transgeschichtliches Fundament - zu übersetzen, um die Chancen des Lebens, die sich dort ausdrücken, dem Leser anzudienen. Wenn Heidegger den LebensbegrifF als Schnittstelle der abendländischen Welt und den "Grundsinn der faktischen Lebensbewegtheit" als

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Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, loc. cit., S. 243. Ebd., S. 265. Ganz entsprechend bestimmt Husserl in seiner "Krisis"-Schrift die Problematik ererbter Erkenntnisse im Hinblick auf die Geometrie: "Für die ererbte geometrische Methode waren ja diese Leistungen nicht mehr lebendig bestätigte, geschweige denn reflexiv als innerlich den Sinn der Exaktheit zustandebringende Methoden in das theoretische Bewußtsein erhoben." Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, loc. cit., S. 49. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, loc. cit., S. 249. Vgl. S. 239.

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"Sorgen (curare)" begreift19, so mag es überraschen, daß er Aristoteles zum Kronzeugen lebendiger Ausdrucksdichte aufruft und nicht etwa biblische Texte oder - wie noch in der Habilitation - christliche Scholastiker. Leichter nachvollziehbar bleibt die Retraktation hinsichtlich seiner Habilitationsschrift, wenn er betont, die "mittelalterliche Theologie, ihre Exegese und Kommentation (sei) als bestimmt vermittelte Lebensauslegung zu verstehen"20, für den Text der Heiligen Schrift wird man dieser These aber nicht unumwunden zustimmen dürfen. Erstmals trennt Heidegger hier scharf zwischen Philosophie als Phänomenologie und Theologie, indem er sehr entschieden die phänomenologische Artikulation des Selbstverstehens auf die eigenen faktischen Möglichkeiten beschränkt wissen will. "Jede Philosophie, die in dem, was sie ist, sich selbst versteht, muß als das faktische Wie der Lebensauslegung gerade dann, wenn sie dabei noch eine 'Ahnung' von Gott hat, wissen, daß das von ihr vollzogene sich zu sich selbst Zurückreißen des Lebens, religiös gesprochen, eine Handaufhebung gegen Gott ist. Damit allein aber steht sie ehrlich, d.h. gemäß der ihr als solcher verfügbaren Möglichkeiten vor Gott; atheistisch besagt hier: sich freihaltend von verführerischer, Religiosität lediglich beredender, Besorgnis."21 Selbst wenn man Heidegger zugesteht, die aktuelle Situation dieser Jahre - die durchaus nicht mehr die heutige ist - sei nicht die einer lebendigen Religiosität und eher durch die Metapher vom Vorbeigang des Gottes angezeigt, sodaß eine Besinnung auf die eigene Präsenzkraft der Philosophie anstehe, wird man doch nicht diese Anzeige der hermeneutischen Situation als letztgültige anerkennen müssen. Im Gegenteil. Antithetisch vorgreifend formuliert: Nicht bei Aristoteles, sondern im Text der Heiligen Schrift drückt sich "die Idee des Menschen und des Menschendaseins" authentisch aus22. Authentizitätsentbergung geschieht im Text der Heiligen Schrift. Das soll die These sein. 19

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"Dazu ist grundsätzlich im Auge zu behalten, daß der Terminus ζωή, vita, ein Grundphänomen bedeutet, in dem die griechische, die alttestamentliche, die neutestamentlich-christliche und die griechisch-christliche Interpretation menschliches Daseins zentrieren." Ebd., S. 241. Ebd., S. 250. Ebd., S. 246. Zwischenzeitlich hatte Heidegger in 'Sein und Zeit1 die Kraft der elementarsten Worte noch durch die existentiale Begrifflichkeit einfangen wollen:

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Schließlich Hermann Schmitz. Er verschiebt die "Bürgschaft für Subjektivität vom Denken auf das affektive Betroffensein"23. Die von Husserl ausgemachte Krisis der europäischen Wissenschaften, die Abschottung gegen "Betreffbarkeit", muß, so Schmitz, durch eine "Wissenschaft" ersetzt werden, die von der Betreffbarkeit als Ursprung von Theorien ihren Ausgang nimmt. Bereits Husserl hatte im Begriff der "Horizontintentionalität" die unabschließbare Offenheit des agierenden Subjekts, die das Subjekt anfallig macht für unvorhersehbare Ereignisse, ausgezeichnet. Hieran schließt Schmitz an, indem er diese Offenheit als Atmosphäre beschreibt, die den Menschen ganz umgibt und seltsam betroffen macht. "Situationen und Atmosphären ergreifen die Menschen heute so dramatisch wie je."24 Gemeint sind unwillkürliche Lebenserfahrungen, in denen sich die Vitalität des Lebens meldet. Deshalb bestimmt Schmitz Phänomenologie als Sprachschule für die bisher ungenutzten und ans Licht zu bringenden Möglichkeiten des Lebens. "Das

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"(G)leichwohl ist es am Ende das Geschäft der Philosophie, die Kraft der elementarsten Worte, in denen sich das Dasein ausspricht, davor zu bewahren, daß sie durch den gemeinen Verstand zur Unverständlichkeit nivelliert werden, die ihrerseits als Quelle für Scheinprobleme fungiert." Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt am Main 1979, S. 291. Hermann Schmitz: Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 22. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 37. Zum Begriff der Situation vgl. auch Jean Paul Sartre: "Meine Stellung inmitten der Welt, bestimmt durch die Beziehung der Zeughaftigkeit oder Feindseligkeit der mich umgebenden Wirklichkeiten zu meiner eigenen Geworfenheit, das heißt die Entdeckung der Gefahren, die ich in der Welt laufe, der Hindernisse, denen ich dort begegnen kann, der Hilfen, die mir geboten werden können, diese Entdeckungen im Lichte einer radikalen Nichtung meiner selbst und einer radikalen und innerlichen Verneinung des An-sich, beides durchgeführt vom Standpunkt eines frei gesetzten Zieles aus - das eben nennen wir die Situation." Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1985, S. 690. Eine weitere Dimension ist dem Situationsbegriff namentlich in der Strukturanthropologie Rombachs zugewachsen. Heinrich Rombach. Strukturanthropologie. Der menschliche Mensch, Frankfurt am Main 1987. Schließlich gehört der Begriff der Situation zu den Schlüsselwörtern der analytischen Religionsphilosophie: Ian T. Ramsey: Religious Language. An Empirical Placing of Theological Phrases, London 1957. Dazu: Ingolf U. Dalferth. Religiöse Rede von Gott, München 1981.

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Sprechenlernen mit Bezug auf die unwillkürlichen Erfahrungen, wozu die Phänomenologie die Menschen befähigen soll, hat die noch wichtigere Aufgabe, verdeckte und ungeschützte Möglichkeiten des Lebens ans Licht zu bringen."25 Bei Schmitz werden die drei Ebenen, die sich am Sinnbegriff ausfindig machen lassen, integral bearbeitet: die Ineinsbildung von Erfahrungsdaten im Ideengebilde des Sinnes, die Körpersubjektivität der fünf Sinne und die Partizipation am sensus communis, der bei Schmitz durch das Abrufen geflügelter Worte und Redewendungen angemahnt wird. Zwar bleibt die Erfahrung unwillkürlicher Möglichkeiten eine unvertretbare, gleichwohl gibt es die "wagende Voraussetzung, daß es für alle eine gemeinsame Wahrheit gibt" - kurz: auf den consensus omnium als regulativer Idee bleibt phänomenologische Forschung verwiesen26. Geschickt zusammengenommen werden die drei Sinnebenen im Begriff der "Besinnung", wenn Schmitz Philosophie bestimmt als "ein Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung"27. Will man die Phänomenologie Schmitzscher Provenienz auf eine kurze Formel bringen, dann durch den gleichermaßen erstaunten und besorgten Ausruf: "Was ist hier denn jetzt passiert?" Gemeint ist die Reaktion auf ein grundstürzendes Ereignis, in dem sich die Realität authentisch offenbart. Nimmt man die drei besprochenen idealtypischen Positionen des ersten Teils hinzu, die zweite Generation der Phänomenologie: Derrida, Lévinas und Ricoeur, dann läßt sich folgender Konsens in phänomenologicis herausschälen: I. Phänomenologie versteht sich als Hinterfragung einer Befangenheit in sprachlichen Bindungen, Perspektiven, Konventionen und Modellen. Dazu gehört namentlich die scheinbare Selbstverständlichkeit des neuzeitlichen Weltbildes. Die Lebenswelt, jenes Terrain diesseits der Sprache, der Raum des Vorprädikativen und Vorkategorialen, ist ursprünglicher als das wissenschaftliche Weltbild. Sie ist immer schon vorgegeben

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Hermann Schmitz: Neue Phänomenologie, loc. cit., S. 25. Ebd., S. 22, vgl. S. 46. Ebd., S. 5. Auf den Begriff der "Besinnung" lassen sich nahezu alle Phänomenologen - anfangend mit dem späten Husserl - verpflichten.

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und von keiner transzendentalen Warte aus vereinnahmend in den Blick zu bringen. II. Phänomenologie intendiert eine Entdeckung und Beschreibung gelebter Erfahrungen, in denen sich der Reichtum, sprich: die Bedeutungskraft des Lebens, dessen ungeahnte Möglichkeiten (Schmitz) also, melden, und zwar so, daß in dieser Beschreibung die Lebendigkeit der Erfahrung bewahrt bleibt. Diesseits des Feldes der Bedeutung hegt das große Terrain der Bedeutungskraft, die den Betroffenen unmittelbar angeht. Oft zeigen sich besonders Dichter sensibel für eine Darstellung dieser Erfahrungen, die von Phänomenologen in einem zweiten Schritt mit neuem deskriptiven Vokabular schonend ausgelegt werden müssen. III. Phänomenologie, die die Situiertheit lebendiger Erfahrung ernst nimmt und das Apriori inkarniert, verfahrt selbst szenisch, um die Leser auf verwandte Erfahrungen im Alltag vorzubereiten. Das "mise-enscène" (Lévinas) will den Wesenswandel des Lesers dramatisch vorbereiten. Da es sich um Möglichkeiten für das Leben handelt, mit denen sich der Leser spielerisch identifizieren kann, verdichtet sich Phänomenologie zur Schauspiellehre durch situatives Training. Die Bandbreite der Versuche reicht von der Mimesis mit bis zur Mimesis ohne Vorbild. Die vollzogene Inkarnierung des Aprioris28 bleibt für die semantische Instrumentierung des Phänomen-Begriffs nicht ohne Folgen. Das klare und eindeutige Gegenüberverhältnis ist dahin, wenn ein Phänomen nicht mehr länger als Gegenstand gedacht wird, den sich ein Betrachter vorstellt. Heutige Phänomenologie erkundet deshalb die Dimensionen "diesseits und jenseits der Vorstellung." Wilhelm Schapp und Bernhard Waidenfels bringen den Positionswechsel metaphorisch auf den Punkt.

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Zur Strukturformel des inkarnierten Prinzips vgl. folgende Stelle bei MerleauPonty: "Das Fleisch ist nicht das Sichtbare, es ist nicht Geist, nicht Substanz. Um es zu bezeichnen bedürfte es des alten Begriffes 'Element' in dem Sinne, wie man ihn früher benutzt hat, um vom Wasser, von der Luft, von der Erde oder vom Feuer zu sprechen, d.h. im Sinne eines generellen Dinges, auf halbem Wege zwischen dem raum-zeitlichen Individuum und der Idee, als eine Art inkarniertes Prinzip." Maurice Merleau-Ponty. Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen, hrsg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Claude Lefort, Reihe: Übergänge Bd. 13, München 1976, S. 183.

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Wir sind in Geschichten verstrickt 29 und in den Netzen der Lebenswelt30 gefangen. Die aussagentheoretische, vorstellungsmäßige Ordnimg ist im Zwielicht31, weil die Lebendigkeit anderswo spielt. Es bedarf deshalb des schrägen Blicks und der schrägen Rede32, um das der vorstellungsmäßigen Ordnung Andere auszuloten. Das ist Ganoven- und Detektivenmetaphorik: Der Phänomenologe ist ein Detektiv (und Ganove), der sich im zwielichtigen Milieu bewegt und die Bedeutungskraft, die er sucht, nie grenzscharf und puristisch rein erhält. Er gerät immer zwischen die Fronten 33 . Weil er in seiner Sinnlichkeit, in seiner Leiblichkeit, in diesem Milieu situiert bleibt, muß er die vielsinnigen Implikationen seiner intentionalen Akte aushalten. Relationen vergegenwärtigender Vorstellung, die schlichte Subjekt-Objekt-Beziehung, die klassische Zuschauer- oder Verhörsituation also, taugt nicht länger zur Beschreibung der originären phänomenologischen Situation. In der Passivität seiner Sinnlichkeit ist der Phänomenologe rundum offen für Infragestellungen seiner selbst durch anderes, gleichgültig, ob durch die Chiffren des Anderen, des Heiligen oder der Schrift bezeichnet. Die konkrete, unüberschaubare Situation ist die schier unerschöpfliche Quelle für Momente immer neuer Sinngebung. Darauf sich zu besinnen ist die Aufgabe der genetischen

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Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt, loc. cit., ders.: Philosophie der Geschichten, Frankfurt am Main ^1981. Hemann Lübbe: 'Sprachspiele' und 'Geschichten'. Neopositivismus und Phänomenologie im Spatstadium. In: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität (MachHusserl-Schapp-Wittgenstein), Freiburg 1972, S. 81-114. Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1985. Bernhard Waidenfels: Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987. Vgl. Bernhard Waldenfels: Lebenswelt zwischen Alltäglichem und Unalltäglichem, loc. cit., S. 116 Der Martin Heidegger der "Beiträge zur Philosophie", untertitelt: Vom Ereignis, loc. cit., dehnt dieses "Zwischen" geschichtsontologisch aus. Die ganze Geschichte, so Heidegger, vollzieht sich in dem "Zwischen" eines unverfiigbaren Anfangs und eines unverfiigbaren Endes, aber so, daß dieser Anfang und dieses Ende in ihrem Entzugscharakter die Gegenwart - nochmals: das meint die ganze Geschichte - bestimmen. Der späte Heidegger ist, das wird oft übersehen, ein Theoretiker der Gegenwart: sofern es Geschichte gibt, gibt es immer nur Gegenwart, die allerdings durch den Entzugsmodus des Anfangs und des Endes bestimmt bleibt.

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Phänomenologie, die den Sinn des Selbstverstehens in statu nascendi erkundet. Um die durch die Inkaraierung des Apriori bewirkte Neuformatierung des Phänomenbegriffs deutlich zu machen, will ich noch einmal zwischen der noch beim frühen Husserl gültigen direkten Noesis-Noema-Korrelation intentionaler Vorstellung und der lateralen Beziehung zum Phänomen in der konkreten Situation unterscheiden. Eine Lesephänomenologie wird daran anzuknüpfen haben: 1. Im Akt der intentionalen Vorstellung bleibt die Beziehimg zum intendierten Phänomen durch Erföllung bestimmt. Nach Husserl ist in jeder Anschauung das Objekt selbst gegeben und die Intention vollständig erfüllt. Anders die konkrete Situation oder die konkrete Intentionalität, die die vergegenwärtigende Vorstellung immer überschreitet: "Die klassische Relation zwischen Subjekt und Objekt ist Gegenwart des Objektes und Gegenwart bei dem Objekt. Die Beziehung ist nämlich so gedacht, daß das Gegenwärtige das Sein des Subjektes und des Gegenstandes erschöpft. Der Gegenstand ist in jedem Augenbück genau das, als was das Subjekt ihn aktualiter denkt. Anders gesagt, die Subjekt-ObjektBeziehung ist zur Gänze bewußt. Trotz der Zeit, die sie dauern kann, beginnt diese Beziehung ewig neu diese durchsichtige und aktuelle Gegenwart und bleibt im etymologischen Sinne des Wortes Repräsentation. Die Intentionalität hingegen trägt in sich die zahllosen Horizonte ihrer Implikationen und denkt unendlich mehr 'Sachen' als allein den Gegenstand, den sie fixiert. Die Intentionalität behaupten heißt also, das Denken in seiner Bindung an das Implizite sehen, in das es nicht zufällig fallt, sondern in dem es sich kraft seines Wesens hält."34 Statt auf den Terminus der Erfüllung, wird die konkrete, sinnlich-leiblich situierte Phänomenologie auf den Begriff der "Lateralität" zurückgreifen müssen. Das ist der Preis für die Entdeckung der Horizontintentionalität. 2. Vorgestellte Phänomene verdanken ihre Explizitheit den evidenten Sinngebungsakten, die etwas als etwas aufweisen, randscharf gegen anderes abgrenzen und in die bestehende Ordnung eingliedern. Konkrete Intentionalität denunziert den Versuch, das Implizite restlos explizit machen zu wollen aufgrund der Einsicht in die konkrete Situation mit ihren 34

Emmanuel Lévinas: Der Untergang der Vorstellung, in: Die Spur des Anderen, loc. cit., S. 129f.

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zahllosen Implikationen als unangemessen und bleibt einem "anonymen und dunklen Leben verpflichtet"35. Es ist die Bedingung dafür, von etwas jenseits der Vorstellung betroffen zu werden. 3. Zum okularen Schematismus gehört die okulare Erschlossenheit des Phänomens. Das ist allenfalls die halbe Wahrheit, denn Stimmungen, Atmosphären oder Bewegungsanmutungen lassen sich nicht vorstellend sehen und nur ganzleiblich erspüren. 4. Wird ein Phänomen vorgestellt und aufgewiesen, dann ist es statuarisch gegenwärtig. Nicht so, wenn man das Apriori inkarniert. Allein der phänomenale Ausruf: 'Was ist hier denn jetzt passiert?', deutet die konstitutive Nachträglichkeit sinngebender Ereignisse an. Etwas hat sich seitlich oder sogar hinter dem Rücken ereignet. Das Bewußtsein kommt immer zu spät zum Rendezvous mit dem phänomenalen Ereignis. So nahe ist es einem auf den Leib gerückt, so real präsent, so außerordentlich gegenwärtig, daß man sich allenfalls nachträglich darauf besinnen kann. 5. Ein vorgestelltes Phänomen beruhigt den agierenden Intellekt. Nach dem Untergang der Vorstellung ist auch das Moment der Eindeutigkeit, das die Phänomenologie in ihrem Feldzug gegen das bloße Meinen zu geben intendierte, dahin36. In ihrer Vielsinnigkeit sind die Phänomene ambiguitär. Es bedarf eines neuen deskriptiven Vokabulars, will man die konkrete Situation der vielfaltigen Sinngebung offenlegen. Nicht zufallig greifen ausnahmslos alle Phänomenologen auf Dichter zurück, die diese Verknüpfungen zwischen Situation und Phänomen aufhellen. "Es sind dies Verknüpfungen, die sich bislang nur die Dichter und die Propheten in der Metapher und in der 'Vision' erlaubten und die in den Etymologien der Sprachen aufbewahrt sind. Himmel und Erde, Hand und Werkzeug, Leib und Anderer bedingen a priori Erkenntnis und 35 36

Ebd., S. 130. Der späte Husserl kann sogar folgenden Satz schreiben: "Das wirklich Erste istdie 'bloß subjektiv-relative' Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens. Freilich für uns hat das 'bloß' als alte Erbschaft die verächtliche Färbung der δόξα. Im vorwissenschaftlichen Leben selbst hat sie davon natürlich nichts; da ist sie ein Bereich guter Bewährung, von da aus wohlbewährter prädikativer Erkenntnisse und genau so gesicherter Wahrheiten, als wie die ihren Sinn bestimmenden praktischen Vorhaben des Lebens es selbst fordern." In: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, loc. cit., S. 127f.

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Sein."37 Nur wer die Metaphorizität der Sprache ausnutzt, vermag die transzendentalen Sinngebungspotentiale des anonymen Lebens angemessen darzustellen. 6. Aufgewiesene Phänomene haben eine durchgängige Gültigkeit für alle an einem Diskurs partizipierenden Teilnehmer. Unwillkürliche, gelebte Erfahrungen dagegen lassen sich nur bezeugen. Allgemeingültige Verbindlichkeit tritt nur als Appell an den sensus communis auf den Plan. Metaphern, Bildungssprache, Gemeinplätze transportieren den Fundus dieser gelebten Erfahrungen. 7. Husserls methodisches Rüstzeug der verschachtelten Reduktionen findet ihre Erfüllung in der Reduzierung auf die konkrete Situation mit ihren zahllosen Implikationen und Horizonten. Die Monotonie und Starrheit der Vorstellung wird bereits beim späten Husserl zurückgeführt auf die konkrete Bewegungserfahrung und damit die Sinnlichkeit rehabilitiert: "So ist die Sinnlichkeit, das ich-tätige Fungieren des Leibes bzw. der Leibesorgane, zu aller Körpererfahrung grundwesentlich gehörig. (...) Der Leib ist in ganz einziger Weise ständig im Wahrnehmungsfeld, ganz unmittelbar, in einem ganz einzigen Seinssinn, eben in dem, der durch das Wort Organ (hier in seiner Urbedeutung) bezeichnet ist: das, wobei ich als Ich der Affektion und Aktionen in ganz einziger Weise und ganz unmittelbar bin, als worin ich ganz unmittelbar kinästhetisch walte."38

37 38

E. Lévinas, Der Untergang der Vorstellung, lex;, cit., S. 136. Ebd., S. 109. Vgl. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Husserliana Bd. XIII, Den Haag 1973, 329ff; besonders: Edmund Husserl: Ding und Raum, Vorlesungen 1907, Husserliana Bd. XVI, Den Haag 1973, S. 154ff. Zur Umwidmung des Phänomenbegriffs vergleiche auch die ausgezeichnete Arbeit von Goud, loc. cit., S. 134ff.

Buchgestalt

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2.1.2 Buchgestalt Die Ausdrucksdimension

Heiliger Schrift

Die vorgeschlagene Definition, Lese-Theologie sei die grammatischhermeneutische Besinnung auf die im porträtierten Gesicht der Heiligen Schrift erschlossene christliche Lebenswelt, soll nach der Erstellung des phänomenologischen Begriffsplateaus jetzt schrittweise plausibilisiert werden. Das geschieht zunächst so, daß der Minimalkonsens in phänomenologicis (Hinterfragung der Befangenheit in sprachlichen Bindungen; Aufdeckung ungeahnter Lebensmöglichkeiten; Inszenierungstechnik) vor Ort der Schrift reidentifiziert wird. 1. Eine Interpretationsschiene wurde in der Diskussion mit Heidegger bereits installiert: Im Text der Bibel spricht sich das wirkliche Leben authentisch aus, sodaß die dort in Textgestalten offerierten Möglichkeiten den Zeitspielraum gelingenden Lebens umgrenzen. Plausibel ist die These freilich nur, wenn man den Menschen mit Heidegger als ein Seinkönnen bestimmt und seine Umwertung im Zuordnungsverhältnis der Modalbegriffe Möglichkeit und Wirklichkeit mitmacht: Wirklichkeit wird jetzt nicht mehr verstanden als Vernichtung der Möglichkeit, sondern das modallogische Gefalle wird umgekehrt: Wirklichkeit ist nur eine Bestätigung des Möglichkeitscharakters. Gelingendes Leben ist ein Leben im Möglichen39. Macht also die ausgegebene These Sinn, im Text der Schrift, im porträtierten Leben Jesu erschließe sich der Möglichkeitsspielraum eines freien Seinkönnens, dann gewinnt der Leser vor Ort des Textes ein Verstehen, das seiner existentialontologischen Anlage wirklich entspricht. Kommt aber die Idee des Menschen und des Lebens in der Schrift zur prototypischen 40 Darstellung, muß Theologie immer 39

40

Das Verhältnis der Modalbegriffe untersucht Wolfgang Müller-Lauter: Möglichkeit und Wirklichkeit bei Heidegger. Bonn 1960; vgl. Eberhard Jüngel: Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, in: EvTh 29 (1969), S. 417-442. Vgl. zum Begriff "Prototyp" Carsten Colpe: Archetyp und Prototyp. Zur Klärung des Verhältnisses zwischen Tiefenpsychologie und Geschichtswissenschaft, in: Jan Assmann u.a. (Hrsg.): Studien zum Verstehen fremder Religionen, Bd. 6, Gütersloh 1993, S. 51-78. Colpe reserviert für den Begriff des "Prototypischen" den konkreten geschichtlichen Anlaß, "archetypische" Strukturen sind dagegen nach Colpe völlig geschichtslos: quasi in der Mitte steht Max Webers Begriff des

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Das Gesicht der Schrift

wieder in diesen Anfang zurücksteigen, um zu testen, ob die zwischenzeitlich entwickelte Begrifflichkeit die Ausdruckskraft des Anfangs gespeichert oder ob sich die Begrifflichkeit vom Ursprung gelöst und verselbständigt hat. So gelesen, ist der reduktive Schritt eine Befreiung von möglichen Bindungen durch sprachliche Perspektiven und eine Befreiung zu Grunderfahrungsmöglichkeiten. Nur wer die urschriftlich dargestellten Ausdrucksmöglichkeiten erliest, bildet sich in die urbildliche christliche Lebensform ein. Der Begriff der "Lebensform" läßt sich bei Piaton bereits reidentifizieren, wurde aber erst durch Schleiermacher und dann namentlich durch Spranger, Schütz und Wittgenstein zu einem Begriff von unerwarteter Durchschlagskraft41. Er bringt die analytische Polarität zwischen dem

41

"Idealtypus", der zwar von einem geschichtlichen Geschehen ausgeht, dieses aber dann idealisiert. Der Begriff Lebensform läßt sich zurückverfolgen bis zu Piaton. Entsprechend der Dreiteilung der Seele unterscheidet Piaton in der "Politela" die genußorientierte, die ehrorientierte und die weisheitsorientierte Lebensform (Pol. 586af). Aristoteles kennt die Lebensformen des Genusses, der Politik und der Betrachtung, vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übersetzt und hrsg. von Olof Gigon, München ^1975, ab 57af.. Augustin entdeckt in seiner Kommentierung von Rom 5,14 den Begriff der Lebensform neu: "Für diejenigen, die durch Christus erlöst werden, gilt das Vorbild des Todes von Adam her zwar zeitlich, in Ewigkeit aber wird für sie das Vorbild des Lebens, Vitae forma, durch Christus gelten." Diese Stelle zitiert Achim Borst: Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1978, S.16. G. Mittelstädt verzeichnet in seinem Beitrag zum 'Historischen Wörterbuch der Philosophie' auch eine Notiz aus Schleiermachers Psychologie, für den derjenige "der größte (ist), der eine neue Lebensform in das Gesamtleben bringt, in welches er eintritt." In: HWPh, Bd. 5, Sp. 118. Im Titel geführt und ins allgemeine Bewußtsein gehoben wurde der Begriff von Eduard Spranger: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, erweiterte Auflage Tübingen 1950. Für Spranger ist die religiöse Lebensform nur eine von sechs möglichen. Im Untertitel führt den Begriff Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 11 1975. Mächtigen Auftrieb bekam der Begriff durch die Anverwandlung bei Wittgenstein: "Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen." In: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1., Frankfurt am Mainl989, S.246. Treffend interpretiert Dalferth "Wittgensteins Beschreibung des religiösen Glaubens als einer durch Bilder regulierten Lebensform." Ingolf U. Dalferth: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische

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pulsierenden Leben und der Festigkeit der endlichen Form, Flüssigem und Festen, auf dichtestem Sprachraum zum Ausdruck42. Spreche ich von urbildlicher Lebensform, dann meine ich eine integrale, nicht einzelnen Vermögen prototypisch entsprechende Lebensform, die von einer inkarnationslogisch gespeisten Bildwelt reguliert wird. Weil sich diese Lebensform, das ist die Arbeitshypothese, in der Bilder-Sprache der Heiligen Schrift ausdrückt, muß Theologie die Grammatik dieser Bilder untersuchen. Die absolute Metapher vom Gesicht der Schrift ist, wie ich zeigen will, die Kurzformel dieser Ursprache. Die hier zunächst nur formal urbildliche Lebensform genannte Ordnung von allen sprachlichen Bindungen, die sie zwischenzeitlich überlagert haben, zu reinigen, darin besteht die kritische Forscherarbeit einer Schrifttheologie. Theologie muß die urgestiftete Lebensform erforschen, die in Systemen und Strukturen, die sich immer weiter von der Urstiftung entfernt haben, bis zur Unkenntlichkeit verdeckt wurde. Anders gewendet: Weil die Genese dieser ganz einmaligen Welteröflhung durch eine passive Sedimentierung oder Habitualisierung in theologischen Systemen und Strukturen immer wieder in Vergessenheit geriet - oder zumindest zu geraten droht -, kann es Theologie immer nur um eine präsentative Wiederholung oder Neu-Entdeckung des konkret eröffneten Zeitspielraums gehen. Immer ist die Theologie auf der Suche nach dem verlorenen Spielraum, um von dort her erneut eine Lebenskompetenz auszubilden, die die Sedierung der Lebendigkeit im kompetenten Lehrbuchwissen der Doctrina fidei zurücknimmt. Als versuchter Rückstieg zur urchristlichen Lebendigkeit erfüllt Theologie damit das erste Kriterium neuerer Phänomenologie, die Selbstverständlichkeit sprachlicher Perspektiven, Bindungen oder Weltbilder zu hinterfragen. Sieht man genauer zu, dann lebt diese These nicht (nur) von der möglichen Rückübersetzung avancierter Einsichten

42

Transformation der Theologie, Freiburg, Basel, Wien 1993, S. 223. Fortgeführt wird der Gedanke bei Peter Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt am Main 1974. Vgl. jetzt Rudolf Reuber: Ästhetische Lebensformen bei Nietzsche, München 1988. Eine ausgezeichnete Hinführung bietet: Pierre Hadot. Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991. Dazu Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Das individuelle Gesetz, hrsg. von M. Landmann, Frankfurt am Main 1985.

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philosophischer Theorie, denn das, was bei Heidegger als Programm angemahnt wird, findet sich bereits im Text der Heiligen Schrift ratifiziert, weil sich in der Hauptfigur der Aufstand gegen die lebenstötende, sekundäre Ordnung, die immer dann entsteht, wenn sich Formationen von ihrem ursprünglichen Ausdrucksgeschehen entfernen, manifestiert. Dabei ver-steht sich, das macht die Rückübersetzung so attraktiv, dieser "Neue Anfang" als Wiederholung eines ersten Anfangs, der zwischenzeitlich seine Ausdrucksmöglichkeiten einbüßte. Neutestamentliche Theologie verwendet dafür die Typologie43 "erster und zweiter Adam". Jesus fuhrt selbst vor - so gilt es nachher materialiter zu zeigen -, wie die Befreiung aus sprachlichen Bindungen sich ereignet. Er ist - recht verstanden - der erste Phänomenologe. Die Urgemeinde interpretierte ihrerseits die Geschichte Jesu und die erzählten dramatischen Geschichten im Kontext des Erlesenen. Die Art, wie gelesen wurde, verdichtete sich dabei zu einer Lesart, die - etwa den Gleichnissen als Appendix angereiht - selbst Text wurde. Die Resümees verraten dabei alles über das lesende Verstehen und Mißverstehen dieser (Gemeinde)-Theologen. Ging es in Jesu Relektüre um die Wiederholung des Anfangs - sprich: die neuschöpferische Lebendigkeit eines zweiten Adams -, dann muß man die Relektüre der Urgemeinde darauf befragen, ob sie den Spielraum offengehalten oder aber verstellt hat. Gelegentlich hat sich die Gemeinde verschrieben - und das ist, wenn es sich um literarische Vermächtnisse handelt, immer bedenklich44. 2. Mit Heidegger, Gadamer und Ricoeur behaupte ich den für ein neues Selbstverstehen notwendigen Umweg über textuelle Ausdrucksleistungen, in denen die Situationen des urbildlichen Lebens zur Darstellung kommen. Authentizitätsentbergung geschieht im Text der Bibel. Das ist der Methodenschritt, den phänomenologische Lese-Theologie innerhalb der phänomenologischen Bewegung vollziehen muß. Sie unterstreicht damit den literarontologischen Apriorismus christlicher 43

44

Die typologische Denkform erschließt ganz neu Karlfried Gründer in seinem inzwischen klassisch zu nennenden Buch: Figur und Geschichte. J G. Hamanns "Biblische Betrachtungen" als Ansatz einer Geschichtsphilosophie, Freiburg, München 1958. Im engeren theologischen Kontext stammt die wichtigste Arbeit zum Thema von Leonhard Goppelt: Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh 1939. Siehe 2.2.1.

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Buchkultur und unterscheidet sich markant von Schlüsselsituationen, von denen aus Phänomenologie bisher ihr Forschungsfeld freilegte: bildet für den späten Husserl die Lebensweltsituation, bildet für Schmitz die somatische Atmosphärik und für Heidegger das faktische Sorgen die Ursituation phänomenologischer Besinnung, dann entdeckt phänomenologische Theologie als Ursituation die der Lektüre. In der Lektüre nämlich entbirgt sich das christenmenschliche Leben authentisch. Darüber hinaus behaupte ich, daß diese Situation integral die anderen Situationen mit abdeckt. Heuristisch formuliert: Im Text der Bibel verdichtet sich die christenmenschliclie Lebenswelt; die porträtierte Person erzeugt Atmosphären, die unmittelbar affektiv ergreifen und unerschlossene Möglichkeiten des Lebens erschließen; schließlich transformiert der Text die Sorgesituation des Lesers. Im Text der Bibel geht es zunächst und zumeist nicht um die objektiven Tatsachen der historischen Person, sondern darum, daß mir die erzählte Situation "nahegeht" und mich wirklich betrifft. Nur dann bin ich aufmerksam und wirklich präsent, bin ich "da", und laufe nicht weg, indem ich mich an die scheinbar sicheren Begriffe und Denkmodelle der Tradition oder an die scheinbar ausweisbaren Tatsachen halte. Phänomenologische Lese-Theologie unterscheidet sich von Operationen positiver Wissenschaften und ihrer Präsentationsstile dadurch, daß es der Theologie als grammatisch-hermeneutische Besinnung auf die Sprachformen und Bilderwelt der Heiligen Schrift gar nicht primär um objektive Tatsachen geht, die an und fur sich, gleichsam sprachfrei existieren und nüchtern konstatiert werden können. Die Sprachbewegung des Textes und die Welt- und Selbstveränderung gehören zusammen.45 Die hier vorgeführte Schrifttheologie besetzt das Niemandsland zwischen einer Schrifttheologie von unten und einer Schrifttheologie von oben: eine Schrifttheologie von unten sucht im Text die dokumentarischen heilsgeschiclitlichen Spuren des Menschen Jesu, um den zukünftigen Status integraler Existenz für alle zu extrapolieren; eine Schrifttheologie von oben geht zunächst von der Selbstoffenbarung Gottes aus und fragt dann nach der Modalität seiner Selbstverschriftlichung qua Diktat. Eine physiognomisch-morphologische Lese-Theologie dagegen 45

Vgl. dazu Oswald Bayer: Sprachbewegung und Weltveränderung. In: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, S. 26-40,

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fragt nicht hinter die Textgestalten zurück, sucht auch nicht die einseitige Absicherung im Glaubensakt, sondern untersucht die Ausdrucksgestalten des Textes in ihrer initialen Fremdheit, die dem Leser nahegehen und einen Besinnungsschub verlangen. Sie liest die dramatische(n) Geschichtein) Jesu als ästhetisch verdichteten Ausdruck urbildlichen Lebens. Da es sich um eine ästhetische Verdichtung des regeltranszendenten, sprich: unkonventionellen Lebens handelt, tendiert der Text der Bibel in den zentralen Passagen folgerichtig zu einer erzählerischen Sprachform, die in den fiktionalen Partien der Parabeln eine nochmalige ästhetische Verdichtung erfährt. Nicht die objektiven Tatsachen, sondern die mit Subjektivität aufgeladenen Geschichten sind zu befragen; nicht die hinter dem Text zu vermutende absolute Subjektivität, sondern die festen, ikonologischen Figuren oder die porträtierten Gesichtszüge der Schrift, die den Raum des Evangeliums erschließen46. Die grammatisch-hermeneutische Besinnung versteht die textuell andringende Wirklichkeit, sprich: das affektive Nahegehen der Geschichtein) als jemeinige Sache und nimmt sie engagiert auf. Harmlos ist die dort erzählte Wirklichkeit, solange sie nicht eine auf die jemeinige faktische Situation gemünzte Dringlichkeit hat. Was kann ich mir zutrauen angesichts des urbildlichen Lebens? Was kann ich als meine Sache wirklich übernehmen? Thema sind die Anmutsqualitäten der Schrift in ihrer spezifischen Verbindlichkeit, die eine nachahmende Handlungsintentionalität stiften. Vor der Diskursivität der Verständigungspraxis steht die Statuierung von Sinnhaftigkeit im Gegenüber von textuell verdichteten, unwillkürlichen Erfahrungen. Phänomenologische Lese-Theologie in dem hier vorgeschlagenen Sinne ist also eine eminent praktische Theologie. Theologia practica 46

Oswald Bayer bestimmt in seinem Buch 'Autorität und Kritik' die Theologie als Sprachwissenschaft und Formenlehre. "Fragt Theologie vornehmlich nach der 'Form' und geht sie dabei von der Zusage als der Urform aus, so ergibt solches Fragen im Blick auf die menschlichem Handeln und Leiden vorgegebene und zum Lernen befähigende Freiheit, daß diese im Kern weder die begriffene der historia contemplativa, noch die postulierte der historia activa, sondern zugesagte Freiheit ist. Anthropologie und Ethik haben sie als Urdatum zu bedenken." Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, S. 199. Vgl. jetzt Oswald Bayer: Theologie. Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 1, Gütersloh 1994.

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also, die allerdings von der Beschreibung direkter praktischer Ziele absieht. Immer geht es um den ganzen Menschen, der sich nicht additiv aus kognitiven und voluntativen Vollzügen zusammensetzt. Wenn sich im Text der Bibel eine urbildliche Lebensform sprachlich so darstellt, daß sie das Seüikönnen des Menschen prototypisch umgrenzt, dann kann es nur darum gehen, die dort aufgelesene Lebensfigur ganzheitlich zu postfigurieren. Das wäre ein wahrhaft lebensmäßiges Verhalten zum phänomenalen 'Gegenstand'. Nochmals: Im Text der Bibel kommt das integrale Erscheinungsbild christlicher Urgestalt zur Darstellung. "Gestalten" sind Ausdrucksphänomene, die sich seinsoriginär darstellen. Das plastisch geformte Erscheinungsbild will aus spiritueller Binnenperspektive wahrgenommen werden. Die Zwiegestalt des Plastischen und Pneumatischen verlangt ein Beschreibungsmodell, das sich den klassischen Dichotomien gegenüber spröde verhält. Es geht um eine Wirklichkeitstypik, die weder metaphysisch auf die Dualität von Geist und Materie oder Idee und Phänomen, noch transzendental auf Subjekt- und Objektbewußtsein, noch wissenschaftstheoretisch auf Induktion oder Deduktion, noch zeichentheoretisch auf Signifikat und Signifikant verrechnet werden kann. Als Realidealität stehen Ausdrucksgestalten jenseits der Alternative von Formalund Materialprinzipien. Verstanden hat sie nur, wer sie postfiguriert. Ich werde die Ausdrucksgestalt deshalb später buchstäblich als literarisches Porträt konkretisieren, das in seiner Anmutsqualität den Leser verwandelt. Wer eine Ausdrucks- als Eindruckslogik favorisiert, wird sich auch Modellen gegenüber abstinent verhalten, die die zeichentheoretische Dualität aufgeben und die Sinnproduktion synchron auf der Signifikantenebene ansiedeln. Zur Schriftphänomenologie Derridas hält die Ausdrucks-phänomenologie vornehm Distanz. Sie kann den lektoralen turn mitmachen, indem sie die literarische Gestaltautonomie von Texten plausibilisiert; sie vermeidet es aber, die Diachronizität von Texten in einen großen synchronen Metatext aufzulösen. Das entbindet sie nicht davon, die historische Transzendentalität dieses außerordentlichen Buches zu plausibilisieren. Das geschieht, indem ich die These, in der Heiligen Schrift gehe es um eine integrale Schauspiellehre durch Geschichten, ausschreibe.

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Das Gesicht der Schrift

3. Wie eine postfigurative Anverwandlung unwillkürlicher Erfahrungen gelingen kann, dafür gibt es urbildliche Übersetzungshilfen im Text der Bibel selbst: Jesu Parabeln zeigen exemplarisch, wie Menschen auf das, was sie wirklich angeht, in objektiver Gestalt reagieren. Anders gewendet: der Text der Bibel inszeniert selbst Entdeckungssituationen wirklicher Lebendigkeit, die mit den alltäglichen Erfahrungen nicht kompatibel sind. Es sind Szenen der Betroffenheit von Transzendenz. Die Bibel schreibt und spielt vor, wie denn zu lesen sei. Nun verharrt allerdings die Rede von Betroffenheit noch solange in einer neutrischen Schwebe, sofern man nicht den intentionalen Bezug herausstreicht: Nicht das "Ich" meint etwas, sondern es wird affektiv betroffen in personam gemeint. Der Leser der Schrift vernimmt nicht irgendeinen Anspruch, sondern einen persönlichen. Die Sache selbst der Theologie, der instantem zugegene Möglichkeitsspielraum neuschöpferischen Seins, erschlossen durch Jesu Lebensform, ist nicht das neutrische Sein der Philosophen und philosophischen Theologen. Das wäre nur die halbe Lösung 47 . Sache selbst der Theologie ist das porträtierte Gesicht der Schrift. 48

47

48

Heideggers Anspruch, die Philosophie von Grund auf revolutioniert zu haben, wird man zustimmen müssen, wenn man im gleichen Atemzug mit Lévinas betont, die Betroffenheitsmetaphorik des späten Heidegger bleibe eigentümlich unpersönlich. Kann das Sein den Menschen anrufen und meinen? Ist das rufende Sein wirklich eine absolute Metapher? Martin Kähler hat bekanntlich dem historischen Jesus das Prädikat "sogenannt" beigesellt. Die Lösung, die Kähler allerdings vorschlägt, halte ich für unbefriedigend, weil sie das Potential des Schriftmediums nicht hinreichend ausschöpft und den "Christus praesens" im Text - nicht erst in der Predigt - unterbelichtet läßt. Vgl. Martin Kähler: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, (1892), München 4 1969.

Die Welt im Buche

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2.1.3 Die Welt im Buche Die Rückbindung des Lesers an die Schriftwelt Die Metapher vom Gesicht der Schrift als Anzeige der religiösen Lesesituation ist durchaus nicht selbstverständlich. Ich will deshalb diese fremd anmutende Wortsynthese in drei Argumentationskreisen glaubwürdig machen. Welche Gestalt gewinnt eine Theologie, die aus dem Innern dieser Metaphernsynthese denkt? a) Lebensweltliche Plausibilisierung. Um die Glaubwürdigkeit der Metapher vom "Gesicht der Schrift" zu steigern, muß man phänomenologisch nur die Bedeutungsschichten abrufen, die mit dem extraordinären Schriftstück eines Testaments 49 (I.) und eines (Uterarischen) Vermächtnisses (II.) evoziert werden. I. Handelt es sich um ein Testament, dann ist deijenige, dessen letzter Wille dort notiert wurde, textuell ganz präsent - quasi leibhaft anwesend. Mit dem Ableben eines Familienoberhauptes endet nicht seine gegenwartsbestimmende Macht. Obwohl aber im Text präsent, entzieht sich die Person den Nachfragen. Letzte Worte sind schlechterdings kanonisch. Der Autor läßt nicht mehr mit sich reden. Hier stößt jede Verhaltensstruktur, die im Alltag gilt, an ihre Grenze. Retourkutschen sind unmöglich. Die Nezessität des do-ut-des, die Perspektive des Alltags, wird ausgesetzt und im Gegenzug dem Leser, den das Testament meint, ein Handlungsspielraum definitiv zugesagt. Unanfechtbar. In dieser parusialen Struktur der Zukunft als Gegenwart des Textes hegt die latente Pflicht, sich kindlich zu verhalten. Einmal angeredet, muß der Leser das Erbe antreten, indem er das dort Erlesene mit Kindersinn und nicht mit der unterkühlten Empfindlichkeit eines Juristen aufnimmt. Asymmetrisch gekrümmt ist der quasi-intersubjektive Raum dieser Lektüre, asymmetrisch, weil durch dieses außerordentüche Schriftstück, dem der Leser einseitig konfrontiert wird, eine (Gottes)Kindschafi quasi-rechtlich installiert wird. Hinzufügungen sind bei Strafe verboten, Nachfragen

49

Dazu Marita-Rödszus Hecker: Der buchstäbliche Zungensinn. Stimme und Schrift als Paradigmen theologischer Hermeneutik, Diss. München 1992.

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gleichermaßen unerwünscht und unmöglich: "Verwirft man doch eines Menschen Testament nicht, wenn es bestätigt ist, und tut auch nichts dazu."50 Wie immer, so gilt auch hier, daß der Mensch die Grenze seines Verhaltens gewaltsam überschreiten kann, etwa so, daß der Leser die an ihn ergangene Anrede negiert. Das geschieht in der Regel mit dem Aufschrei der Entrüstung, weil das, was sich dort urbildlich erschließt, dem an der alltäglichen Aktionsstruktur eingeübten Verhalten ein unverdauliches Ärgernis bleibt. Die Drohgebärde ist zwiefach. Entweder wird mit einem "Schlag" das Buch zugeklappt und damit das Testament angefochten oder in der "Verstehenswut" kommt die Bedeutungskapazität des Textes zum Erliegen. Wer aber so reagiert, negiert den schwachen51 physiognomischen Widerstand der Textur. Als vergängliches Schriftstück kann das Antlitz der Schrift auf den Gewaltakt nur mit seinem schwachen physiognomischen Widerstand reagieren. Es bedeutet dem Leser, daß er ihn meint. Genau in diesem "meinen" besteht der Antlitzcharakter der Schrift. Nicht ich schaue die Schrift an, sondern die Schrift schaut mich an. Nicht ich lese den Text, sondern der Text liest mich. Immer schon, wenn der intentionale Blickstrahl auf diese Textur trifft, hat der Text 50

51

Gal 3, 15. Zum Begriff der δ ι α θ ή κ η vgl. Johannes Behm, Art. δ ι α θ ή κ η , ThWNT 2 (1935), S. 127-137. Der Ausdruck "Schwachheit" hat in der italienischen Philosophie durch Vattimo, Nachmieter im Denken Nietzsches und Heideggers, Karriere gemacht. Wenn "starke Seinspositionen" (Sein als Grund, Ontotheologie, transzendentale Gründung) durch Nietzsche und Heidegger destruiert wurden, kann es heute nur noch um schwache hermeneutische Gründungsleistungen gehen. '"Sein und Zeit' hat zwar die Suche nach dem Sinn von Sein in Gang gesetzt, als handelte es sich um die Entdeckung einer transzendentalen 'Bedingung der Möglichkeit' unserer Erfahrung, aber diese Bedingung der Möglichkeit hat sich sogleich auch als geschichtlich-endliche 'Bedingung' des Daseins entpuppt, das wohl Entwurf (und daher eine Art transzendentaler Schirm), aber eben geworfener Entwurf ist (der sich durch ein je und je anderes Vorverständnis bestimmt, dessen Wurzeln aus seiner emotionalen Situation, aus seiner Befindlichkeit mit entspringen). Die Gründung, die auf diese Weise nicht 'erreicht wird', sondern sich bestenfalls 'abzeichnet' (da sie niemals ein Fixpunkt ist, den man erreicht, um dort zu verweilen), kann nur mit einem Oxymoron, einer hermeneutischen Begründung, definiert werden." In: Gianni Vattimo, Jenseits vom Subjekt: Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, Graz, Wien 1986, S. 78f., Sperrungen aufgehoben. Vgl. auch Gianni Vattimo, u.a. (Hrsg.): 11 pensiero debole, Mailand 1983.

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mich angeschaut. Christenmenschliches Leben ist die angemessene Erbschaftsverwaltung des letzten Willens. "Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Erben Gottes und Miterben Christi."52 Entgegnet könnte dem Vorschlag einer situativen Verortung der Lektüre nach dem Modell der Testamentseröflhung mit dem Vorwurf werden, der potentiellen Kinder, der einverleibten subjektiven Leseerben seien zu viele, sodaß das objektive Werk, sprich: das Testament, kaum alle zu bedenken in der Lage sei, und darüber würde die ganze Situation falsch, weil der exklusiven Gesellschaft der Testamentseröflhung die protestantische Demokratisierung des Mediums entgegen stünde. Dem ist zu erwidern: Dieses Testament ist genau deshalb ein universales, weil es - wie ich zeigen werde - in der Fülle seiner Geschichten schlechterdings alle Menschen anspricht. Wie für jedes Testament, so gilt auch hier der unausgesprochene Imperativ, die Erben mögen selbst erlesen, welche Sätze sie wirklich angehen. Soviel ist sicher: Glaubt der Leser, die auf ihn gemünzten Sätze verstanden zu haben, evidentermaßen, dann gewinnt sein Leben an Eindeutigkeit. Als Charakteristika des Testament-B egrifFs muß man also folgende Momente herausheben: 1. die Asymmetrie der Vorgabe; 2. die Präsenz des Verstorbenen im Text; 3. die Eröffnung eines Spielraums für den Erben; 4. die eigenverantwortliche Darstellung des Erlesenen im eigenen Leben. II. Ahnlich gelagert liegt der Fall, wenn Testament im Sinne von (literarischem) Vermächtnis verstanden wird, gespeichert etwa in der Wendung: Dieses außerordentüche Stück sei das Vermächtnis des Autors, weil es in seiner Überbedeutsamkeit für alle folgenden Generationen Geltung besitze.53 Diese Situation vor Augen, lassen sich die narrativen Miniaturstücke als Vermächtnisse des Geschichtenerzählers Jesu an die Welt begreifen, außerordentüche Beispielgeschichten, die jeden betreffen und angehen. In ihnen porträtiert sich der historische Jesus selbst. 52 53

Rom 8, 17. Dabei scheint mir Bayers Hermeneutik der "letzten Zettel" besonders geeignet, die testamentarischen Endgestalten von Autoren zu präsentieren. Vgl. etwa: Oswald Bayer: Vom Wunderwerk, Gottes Wort recht zu verstehen. Luthers Letzter Zettel, in. KuD 37 (1991), S. 258-279, Oswald Bayer und Christian Knudsen: Kreuz und Kritik J G. Hamanns Letztes Blatt. Text und Interpretation, Tübingen 1983.

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Das Porträt, das die urchristlichen Schriftsteller vom historischen Jesus erstellen, bleibt an dieser Selbstdarstellung orientiert.54 Die Intuition, die ontologische Struktur des Neuen Testaments als literarisches Porträt zu explizieren, entnehme ich der Philosophie HansGeorg Gadamers. Ich zitiere den oben bereits im anderen Kontext zitierten Schlüsselsatz: "Der Fall des Porträts ist nur die Zuspitzung einer allgemeinen Wesensverfassung des Bildes. Jedes Bild ist ein Seinszuwachs und ist wesenhaft bestimmt als Repräsentation, als Zur-DarstellungKommen. Im besonderen Fall des Porträts gewinnt diese Repräsentation einen personhaften Sinn, sofern hier eine Individualität repräsentativ dargestellt wird."55 Ein literarisches Porträt ist beides: plastisch und zuhöchst bewegt. Sofern es ein von Meisterhand gefertigtes Porträt ist, hat der Leser an diesem Leben wirklich teil. Von Anteilnahme oder Partizipation - auf diesen Begriff brachte oben auch Ebeling die Tiefendimension des Schriftlichen - zu sprechen, schließt hier aber zugleich einen Prozess der Selbsterkenntnis ein: "Aber wenn wir jemanden in seiner Individualität erfassen oder in einem Porträt, das diese Individualität wiedergibt, dann ist darin immer zugleich etwas von Wiedererkennung unserer selbst, nämlich des Menschlichen in der anderen Individualität."56 Selbst wenn wir die historische Gestalt des Porträtierten nicht kennen, macht es also Sinn, hier von Wiedererkenntnis zu sprechen. Wendet man diese Einsicht, die noch weiterer Entfaltung bedarf auf das Neue Testament an, ergibt sich eine zusätzliche Pointe: Der porträtierte Christus ist der prototypische Ausdruck des Menschlichen und erinnert an die ursprüngliche Ausdrucksdimension des ersten Adam, von dem der Mythos im Buch "Genesis" berichtet. Nun ist der zweite Adam 54

55 56

In meinem Buch "Lukas als Porträtist. Eine Seh- und Leseschule des dritten Evangeliums", Düsseldorf 1996, habe ich in einer Auseinandersetzung mit der formgeschichtlichen Schule versucht deutlich zu machen, daß die Form des Evangeliums angemessen als Porträt zu bestimmen ist. Vom Porträtbegriff aus sind alle anderen Formen des Testaments aus in den Blick zu bringen. Vgl. zum Thema auch Klaus Berger: Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, S. 25ff. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, loc. cit., S. 38f. Hans-Georg Gadamer: Plato als Porträtist, in: Gesammelte Werke, Band 7, Griechische Philosophie III, S. 252. Gadamer hat in diesem Aufsatz die äußerst komplizierte Debatte um den Methexis-Begriff Piatos durch den Begriff der Anteilnahme konkretisiert.

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aber nicht eine einfache Wiederholung des ersten, sondern das bereits Bekannte wird jetzt aus der kontingenten Erzählung herausgelöst und in seiner eigentlichen Bedeutung erkannt. Was also ein Mensch ist, zeigt sich erst in der erneuten Darstellung und bekommt dadurch einen Seinszuwachs. Dieser ontologische Mehrwert kommt auch dem (selbst)porträtierten Jesus zu. Jesus selbst hat sein eigenes Leben in seinen Parabeln verdichtet und die gelingende Lebensform in Miniaturdramen zur SelbstDarstellung gebracht. Er hat sich damit selbst entkontextualisiert und "ontologischen" Mehrwert zugesprochen. Wer dieses literarische Vermächtnis übernimmt und sich den vorgeschriebenen Bewegungsordnungen der Miniaturdramen unterstellt, wer am idealtypisch dargestellten Leben partizipiert, übernimmt das Vermächtnis und wird seinerseits zum animierten-animierenden Selbstdarsteller57. b) Sprachmorphologische Plausibilisierung. Lebensweltlich eröffnet jemand dann mit einem fremden Gesicht ein Gespräch, wenn die vorsprachliche, genauer: die nonverbale Ausdrucksqualität des Gegenübers im Fixum der festen Züge - gewollt oder nicht - einen Sprachdruck erzeugt. Unmöglich, sich dazu nicht zu verhalten. Das subjektiv gefühlte und äußerst schwer zu beschreibende atmosphärische Angegangensein erschließt erst den Raum für die Kommunikation. Wo sich diese Erfahrung nicht ereignet, kommt es entweder gar nicht oder nur zu einem schleppenden Gesprächsbeginn. Überträgt man die Situation auf die Lektüre, dann ergibt das: Antlitz steht für die atmosphärische Betroffenheit, das reine Mich-Angehen vor jeder verbalisierten Aussage. Noch bevor die diskursive Verständigung über einzelne Sachverhalte anhebt, schreibt mir der nahegehende Text etwas zu. Dieses vorprädikative Gemeintsein ist die transzendentale Voraussetzung für die diskursive Verständigungspraxis. Wer diese 57

Heute hat der Begriff des Selbstdarstellers einen pejorativen Klang, weil der Hörer zurecht vermutet, hier gehe es um eine Zur-Schaustellung der eigenen Person. Das ist hier selbstredend nicht gemeint. Ich darf hier noch einmal auf Schleiermacher verweisen: "Selbstmitteilung nämlich gibt es auf keine andere Weise als durch eine erregend wirkende Selbstdarstellung, indem die durch Nachbildung aufgenommene Bewegung des sich darstellenden in dem empfanglich aufgeregten Aufnehmenden eine Kraft wird, welche dieselbe Bewegung hervorruft." In: Der christliche Glaube, loc. cit.. S. 309.

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Ebene abschattet, unterbietet die Anmutsqualität der Schrift, ihr quasifaciales Sinnangebot. Indem das außerordentliche Gesicht und entsprechend das porträtierte Gesicht der Schrift dem Leser eine Bedeutung zumutet, die nicht im kontext- oder strukturreduzieiten Netz des vorstellungsmäßigen Sinnes zappelt, wird das Wort Fleisch: Ausdruck oder porträtierte Gestalt. Verstehen kann der lebensweltlich betroffene oder lesend engagierte Mensch die Gestalten nur, weil er selbst Gestalt ist und die Ausdrucksschematik am eigenen Leibe trägt58. Läßt man sich auf die etymologischen Anmutsqualitäten der Sprache ein, die Gesichtszüge und Schriftzüge zusammenbindet, liegt es nahe, den Chiasmus: "Gesichter haben Schriften und Schriften Gesichter" vorzuschlagen. Hier freilich taucht eine hohe Verständnisbarriere auf: der Text der Bibel hat viele porträtierte Schrift- oder Gesichtszüge. Sieht man nun genauer hin, dann erlaubt just dieser problematische Sachverhalt die Rückübersetzung des avancierten Phänomenbegriffs in die Lese-Theologie. 1. Weil der Text der Bibel ein Netz von Geschichten entwirft, die miteinander komplex verknüpft sind - primäre Ausdrucksgestalten (erster Adam) mit deren Wiederholung etwa (zweiter Adam); oder das ästhetisch verdichtete Leben Jesu mit dessen nochmaliger fiktionaler Verdichtung in den Parabeln - denkt der mitverstrickte Leser an unendlich mehr Sachen als an die eine Textpassage, auf die er sich gerade fixiert. Dem integralen Gesicht der Schrift kann man sich nur lateral über die vielen porträtierten Gesichtszüge nähern. 2. Die Asymmetrie der Vorgabe und die Implizitheit der konkreten Lesesituation verhindern, alle Gesichtszüge vollständig transparent zu machen. Sie bleiben, weil sie sich dauernd überlagern, zumindest teilweise dunkel und unscharf. Die lektorale Autopsie verharrt in partieller Verschattung. 3. Nicht im Sinne eines vorstellbaren Gegenstandes ist das Gesicht der Schrift sichtbar. Es hält nicht stille, sondern ist als vitales Ausdrucksgeschehen immer in Bewegung und erzeugt eine ganz bestimmte Atmosphäre, die den Leser ganzleiblich berührt.

58

Wie diese Gestaltwahrnehmung im Text der Bibel inszeniert wird, bespreche ich unten.

Die Welt im Buche

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4. Indem die porträtierten Gesichtszüge die Lese-Sinne vital befallen, sind sie zu nahe, als daß der Leser sich davon distanzieren könnte. Die logologisch-diskursive Aufweisung kommt immer zu spät. Was ist hier jetzt gesichtet worden? - ruft aus, wer die gelebte Erfahrung im erstaunten Ausruf mitteilt. Die außerordentliche Präsenz zieht sich in ihrer brennenden Nähe immer wieder zurück. 5. Wer im Rekurs auf die Textzüge Sicherheiten - etwa im Sinne stringenter Handlungsanweisungen - erwartet, wer also das Gesicht der Schrift als Vorbild sucht, muß sich mit der symbolischen Vitalpräsenz der urbildlichen Gesichtszüge begnügen. Weil die Geschichten im ambiguitären "als ob" verharren, wird das intendierte Sicherheitsdenken immer unterboten. 6. Jeder Leser macht - im Idealfall - einen porträtierten Gesichtszug zur Zentralanschauung seiner Lebensdeutung. Nur deijenige, der eine Zentralanschauung zum Organisationsprinzip seines ganzen Lebens erhebt, bezeugt die Erfahrung durch die eigene Lebensfigur (Postfiguration). 7. Gesichtszüge oder Charakterzüge des porträtierten Christus offenbaren sich in konkreten Szenen. Idealtypisch spielt der Text der Heiligen Schrift mögliche Reaktionsweisen auf das Nahegehen dieser Ausdrucksintensität vor (Schauspiel/e/ire). C) Religionsphänomenologische Plausibilisierung. Die Metapher vom "Gesicht der Schrift", das den Leser affektiv betroffen machen soll, will schließlich als religionsphänomenologischer Schlüsselsatz verstanden werden. Er beschreibt die metakritische Totalitätssphäre einer ganzheitlichen Lebensführung, den über die fragmentierten kognitiven, normativen und kommunikativen Lebensvollzüge hinausreichenden umfassenden Horizont als Gesicht einer Welt. Dieser Horizont, an den menschliches Leben immer zurückgebunden bleibt, heißt seit Schleiermachers fünf fingierten Sermonen "Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799)59 "Religion". In der Verklammerung mit dem Religionsbegriff erscheint die Metapher gleichsam als Inbegriff eines urbildlichen Lebens, das zur mimetischen Anverwandlung auffordert. Ich will im Folgenden die Metapher vom Gesicht der Schrift als Korrektiv der Schleiermacherschen Religionsbegründung 59

Zitiert wird nach der Ausgabe: Hamburg 1958

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Das Gesicht der Schrift

plausibilisieren, indem ich die erfahrungstheoretische Begründung von Religion an den Gegenstand der Schrift zurückbinde. Religion, so die These, läßt sich angemessen nur in einer Metakritik Schleiermachers schrifttheoretisch begründen. Die Autonomie der religiösen Sphäre verteidigt Schleiermacher nach zwei Seiten hin: Moral und Metaphysik, so Schleiermachers Volte, bereiten keinen Königsweg zur Religion. Vielmehr gilt umgekehrt, daß sich Religion gleichermaßen hinsichtlich metaphysischer Letztbegründungsversuche und praktischer Handlungsnormierung abstinent verhalten soll, weil eine durch Religion gestützte Metaphysik die prätendierte Transparenz des hartnäckig Exterioren im Akt der Selbstkonstitution verspielt und eine durch Religion korsettierte Moral die Autonomie der praktischen Vernunft in eine Heteronomie überfuhrt. Religion, so der apologetische Gegenschluß, hat eine "eigene Provinz im Gemüte"60. Bei gleichem Gegenstandsbezug - Religion, Metaphysik und Moral haben es alle gleichermaßen mit dem Universum zu tun - geht es in der Religion um die "Anschauung" und das korrespondierende "Gefühl" einer unaufhörlichen "Affektion" durch das Universum. "Anschauung und Gefühl" lautet die Schleiermachersche Leitformel, die freilich immer nur die nachträgliche Besinnung auf den ursprünglichen Akt der "heilige(n) Umarmung"61 umschreibt, denn zur Anschauung kommt es erst, wenn sich die liebende Gestalt bereits wieder aus der taktilen Nähe entfernt. In dieser affektiven Erfahrung liebender Umarmung liegt für Schleiermacher "die Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion"62. Sie ist zugleich der Initialpunkt für die Konturierung einer positiven Religionsfigur. Eine positive Religion oder "ein Individuum der Religion, wie wir es suchen, kann nicht anders zustande gebracht werden, als dadurch, daß irgendeine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür (...) zum Zentralpunkt der Religion gemacht, und Alles darauf bezogen wird."63 Wer eine solche Fundamentalanschauung als lebenspraktisches Organisationsprinzip anverwandelt, der wird eine "religiöse Person mit einem Charakter und festen und bestimmten Zügen"64. 60

Ebd., S. 20.

61

Ebd., S. 42.

62

Ebd.

63

Ebd., S. 144.

64

Ebd., S. 145.

Die Welt im Buche

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Auch Schleiennacher beschreibt also die Geburtstunde von Religion durch die Metaphorik des Nahegehens bis hin zur Umarmung, so daß einem Hören und Sehen vergehen. Dabei bleibt allerdings die Rede vom Universum für heutige Ohren eigentümlich konturlos, weil die Wissenschaftsgesinnung der letzten Jahrhunderte den Glauben an eine höhere Dignität der Sinnenwelt, gleichsam das Element der Religion, erschüttert hat. Im sogenannten "Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus"65 von 1796, in dessen Atmosphäre Schleiermacher denkt, wird dagegen noch die höhere Dignität der Sinnenwelt gegen die sinnenfeindliche Aufklärung enthusiastisch gefeiert. Dieser Weg scheint heute versperrt. Nicht so, wenn man ihn über den Umweg der Textwirklichkeit neu erschließt.66 Schleiermacher war dieser Zugang offensichtlich aus mehreren Gründen unmöglich. Die platonische Schriftkritik im PhaidrosDialog dürfte in der Verschränkung mit der Kritik der Verbalinspirationslehre das Mißtrauen in die Wirkmächtigkeit der Schrift verstärkt haben. Bezieht Schleiermacher sich affirmativ auf die Schrift, dann wählt er mit Vorliebe die Reden Jesu, in denen sich authentisch fromme Gemütszustände darstellen. Nicht zufallig hält er sich in seiner "Religionsschrift" an die johanneischen Abschiedsreden, in denen sich der Gemütszustand heiliger Wehmut ausdrückt.67 Ich schlage vor, Luthers Schriftaffektionenlehre mit Schleiermachers Rede von der Affektion durch das Universum schrifttheoretisch zu vermitteln. Auch die Metaphemsynthese vom Gesicht der Schrift kommt nämlich ohne die Rede vom Universum - über das hinaus nichts mehr gedacht werden kann - nicht aus. Sie reflektiert eine Sprachschöpfung der neutestamentlichen Hymnen, die die 65

66

67

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe), Bd. I, Frankfurt am Main 1971, S. 234-236. Wir haben es hier mit einer staunenswerten Umschichtung zu tun: Schleiermacher glaubte den Anschauungsbegriff, wie gesehen, nicht mehr am Buch konkretisieren zu können, mit den postmodernen Denkmitteln der Gegenwart fallt uns das heute leichter als am Begriff des Universums. Vgl. die wichtige Arbeit von Edgar V. McKnight: Postmodern Use of the Bible. The Emergence of Reader-oriented Criticism, Nashville ^1990. Vor dem Hintergrund der platonischen Schriftkritik das Schriftverständnis des Platon-Übersetzers Schleiermacher genauer zu untersuchen, bildet ein bisher noch nicht eingelöstes Desiderat der Schleiermacher-Forschung. Ich hoffe, diese Lücke an anderem Ort schließen zu können.

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Das Gesicht der Schrift

Fokussierung des ganzen Universums in einer neuschöpferischen (restait bezeugen: άνακεφαλαιώπασθαι τα πάντα έν τω Χριστώ 68, das Gesichtwerden des ganzen Universums, des ganzen Weltinnenraums in Christus. Das Sprachbild spricht fur sich selbst: die Auszeichnung der Antlitzmetaphorik steht für den Integrations- und Universalitätsanspruch dieser Mittlergestalt69. Das Universum steht jetzt im Buche. In Jesu urbildlichem Leben drückt sich die Urlebendigkeit des Menschseins aus und strahlt auratisch aus auf die ganze Welt. Damit ist zugleich behauptet, daß zwischenzeitlich das Universum (τά πάντα) oder die Lebenswelt die Ausdruckskraft eingebüßt hat, weil sie nur noch im Blickkranz einer erfahrungsfernen Lebensführung wahrgenommen wurde. Christenmenschliche Lebenswelt erschließt sich angemessen nur im Rekurs auf das porträtierte Gesicht der Schrift. Auch eine schrifttheoretisch begründete Religionstheorie bezieht sich dabei durchaus auf die Anmutsqualität des Sinnlichen - jetzt aber - anders als Schleiermacher es will - textuell vermittelt. Und sie kann dies tun, weil nach dem aktuellen Paradigmenwechsel vom oralen zum literalen Diskurs die sinnlich anmutenden Textgestalten der neutestamentlichen Bilder die Sinnlichkeit neu ausbilden können.70 Weil sich das authentische Leben in ikonischen Sinn-Gestalten darstellt, muß Theologie sich auf sie besinnen und darf nicht hinter sie zurücktragen. Die absolute Metapher vom Gesicht der Schrift will die sinnliche Erfahrung der Affektion durch das im Buch fokussierte Universum integral bezeichnen. Das gelingt nur, wenn die Neutralisierung der Sinne im wissenschaftlichen Methodenbegriff, die Unterordnung der Erfahrung unter die Erkenntnis, die Abschottung gegen jede Form der Heterogenität und die Zurichtung der Phänomene als Gegenstände von Aussagen unterlaufen wird. Das Gesicht der Schrift hat in seinen festen Zügen eine nicht vollständig verbalisierbare ikonische Signifikanz und Bedeutungskraft, vergleichbar der leeren Mitte, die nie vollständig ausgeschöpft werden kann.

68 69

70

Eph 1, 10. Den Universalitätsanspruch der Physiognomik untersucht Johannes Saltzwedel: Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit, München 1993. Phil 1, 9 fordert entsprechend eine Zunahme an Erkenntnis und sinnlicher Erfahrung ( α ϊ σ θ η σ ι ς ).

Ausgelegt werden

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Im Gesicht der Schrift handelt das Universum wie es im Buche steht auf uns. Hier ist die Geburtsstunde der Lebendigkeit in der Buch-Religion. Wenn die Metapher vom Antlitz der Schrift die Situation eines wirklichen Transzendierens in eine andere als die alltägliche und selbstverständliche Ordnung stiftet; wenn die außerordentliche Antlitzerfahrung eine (literarische) Identität, einen "Charakter mit festen Zügen" verleiht; wenn also in dieser metaphorischen Situation par excellence Subjektivität durch Erbschaft definiert und Sein als Darstellersein definiert wird dann ist die Metapher vom Antlitz der Schrift zurecht Prototyp theologischer Theoriebildung, dann ist sie die absolute theologische Metapher, absolut, weil sie nicht in einen Klartext zu übersetzen ist und die Lebendigkeit unmittelbar orientiert. Der Wert dieser Metapher muß sich daran messen lassen, ob die Personal-Metapher die Erfahrung anleiten kann oder nicht. Justifiziert ist sie nur dann, wenn sie die Integrität urbildlicher Lebenspraxis nahebringt. 2.1.4 Ausgelegt werden Das Prinzip der Skripturaloffenbarung Macht die vorgeschlagene These Sinn, die Metaphernsynthese vom Gesicht der Schrift sei die absolute theologische Metapher, weil sie das Selbstverstehen orientiert, dann wird man die faciale Leseerfahrung zur identitätsstiftenden Fundamentalkategorie befördern dürfen: Wer vom Gesicht der Schrift - von einem porträtierten Gesichtszug - betroffen wird, dem offenbart sich die Tiefendimension der Wirklichkeit. Sein = Gesichtetsein. Physiognomische Lese-Theologie denkt die Ontologie facial konstituiert. "Wer ist hier denn gesichtet worden?" - lautet der doppeldeutige - phänomenale Expressionssatz in der Entdeckungssituation der Lektüre. Um den Ereignischarakter des Verstehens anzudeuten, erweitere ich also die substanzontologische Grundfrage "Was ist?" zu der von "Wer oder was ist hier jetzt gesichtet worden?" Damit ist nochmals die Urszene der Testamentseröflnung (Vermächtnis) gemeint. Erst am Ende, in den letzten Worten, rundet sich das Bild desjenigen, der nur noch im Text präsent ist. Es ist das definitive, ikonische Sprachgesicht des Lebens. Das antwortende Verhalten der Lese-Erben wird auf die dort zugesagte Lebensmöglichkeit hin

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Das Gesicht der Schrift

ausgerichtet, weil der Leser weiß, daß er in der zugesagten, vom Text erschlossenen Lebensmöglichkeit sein kann. "Wer ist denn hier jetzt gesichtet worden?" ist zweitens die erstaunte Frage des Lesers, der in der erzählten Geschichte sich selbst erkennt. Im porträtierten prototypischen Leben erkennt er wieder, was es heißt ein Mensch zu sein. Im dramatischen Geschehen um den biblischen Christus und in den handelnden Personen erliest er seine eigene Lebensgeschichte. Was aber sind die Bedingungen der Möglichkeit dieses Wiedererkennens? Darin kommen phänomenologische Philosophie und phänomenologische Buch-Theologie überein, ihren Ausgang von gelebter Erfahrung zu nehmen, in denen sich die Wirklichkeit erschließt. Zu komplex ist die menschliche Situation, als daß ich ihrer Herr werden könnte. Offenbar greift ein am alten substanzontologischen Modell orientiertes Wirklichkeitsverständnis mit dem ihm zugehörigen Gegenstandsbewußtsein zu kurz, das intrigante Wesen der Wirklichkeit zu begreifen. Wer sich auf ein Objekt oder auf einen Sachverhalt intentional fixiert, wird von unendlich vielen Implikationen und Horizontfluchten umgeben. Umschlossen bleibt das Zentrum der Konzentration von einem Hof difluser Momente, die plötzlich auffällig werden können. Deshalb ist das ontologische Substanz- , Festkörper- oder Vorhandenheitsmodell und dessen Agent, das souveräne Gegenstandsbewußtsein, eine Engführung, das der wirklichen Situiertheit des Menschen nicht entspricht. Weil der Mensch nicht als reiner intentionaler Blickstrahl existiert, sondern sinnlichleiblich, ist er anfällig für Ereignisse, die sich aus den Horizonten, die ihn ganz umgeben, abheben: Das vermeintlich souveräne Gegenstandsbewußtsein kann sich nicht schützen, von Ereignissen hinter seinem Rükken heimgesucht und in Frage gestellt zu werden. Die transzendentale, durch die Sinnlichkeit bezeichnete Lücke der Apperzeption ist Bedingung dafür, von anderem betroffen zu werden. Erst jetzt also, da auch avancierte Philosophie, namentlich Hermann Schmitz, wieder von der "Autorität des Gefühls" und der "Autorität der Wirklichkeit" spricht, jetzt, da das situative Existieren durch Wilhelm Schapp in das Sprachbild des Verstrickt-seins-in-Geschichten inkarniert wurde, jetzt, da Phänomenologie die von Nietzsche eingeläutete Destruktion der leibnizschen Elementarformel Metaphysik = Logik reflektiert und die Beziehung von Metaphysik und Sinnlichkeit erforscht, jetzt

Ausgelegt werden

129

also, da die literarästhetische Umsetzung des Denkens einer anderen Ordnung ausdrücklich thematisch wird, erst jetzt läßt sich das Problem auch nach hinten verlängern, zurück zur affektiven Schrifttlehre evangelischer Theologie. Diesen Transfer will ich jetzt ein Stück forcieren und zunächst untersuchen, wie sich eine avancierte Phänomenologie die Offenbarung der Wirklichkeit denkt, um schärfer dann den prototypischen Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift herausarbeiten zu können. Eine Stadienlehre der Auffälligkeit soll die Frage beantworten. Ich untersuche im Anschluß an die phänomenologischen Untersuchungen von Lévinas in "Totalité et Infini" phänomenologische Schichten der lektoralen Wirklichkeitsoffenbarung und unterscheide drei idealtypische Szenen: das Baden im Erzählstrom der Geschichte, der wissenschaftliche Besitz eines Textes, und schließlich die Erfahrung, daß der Text den Leser auslegt. Der Nötigungscharakter der Situation reicht vom Automatismus bis hin zum Angebot spielerischer Identifizierung, in der sich eine ganz andere Wirklichkeit manifestiert71. Was geschieht einem Leser, wenn ihm entgegen seiner Erwartungshaltung bei der Lektüre eine novellierende Einsicht widerfahrt? Ganz unten auf der Skala rangiert der Genuß, der unmittelbar leibhaft betroffen und fur Momente nur die alte Wirklichkeit vergessen läßt. Umgangssprachlich heißt die sinnliche Existenzform Baden im Genuß. Deutlich davon unterschieden der wissenschaftlich erarbeitete Besitz eines Textes. Ganz oben auf der Skala situativer Dramatik steht die attraktive Verstörung der Ordnung: die Heimsuchung. Gibt es ein dramatisches Geschehen, in dem ein neuer Verhaltensspielraum Ereignis wird, der den Agenten des Alltags, der alles nur mit gutem Grund tut, zu einem neuen Verhalten nötigt? Für alle Szenen lektoraler Wirklichkeitserschließung gilt dabei folgende Situationsbeschreibung: Leser haben ein Buch vor Augen; verstellt ist die lebensweltliche Aussicht, frei bleibt dagegen der Rücken.

71

Vgl. auch Michel Henry: L'éssence de la manifestation, Paris ^1990; ders.: Philosophie et phénoménologie du corps, Paris 1965. Zu dieser im deutschen Sprachgebiet allenfalls durch die Vermittlung von Lévinas bekannt gewordenen Phänomenologie ist jetzt eine wichtige Studie erstellt worden: Rolf Kühn: Leiblichkeit als Lebendigkeit. Der lebensphänomenologische Gründungsanspruch der Subjektivität als Affektivität, Wien 1991.

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Wer in die Textwelt tritt, distanziert sich - ob abrupt oder schrittweise liegt an der Qualität, am Grundriß der Lektüre - von der Alltagswelt. a) In die Lektüre vertieft oder versunken sein. Der Leser, der den Gehörsinn abschaltet, um sich ganz den Stimmen und der Stimmung eines Textes zu überlassen, transzendiert - selbst wenn es kein endgültiger Überstieg, keine große Transzendenz ist. Man hat den Rücken frei72, sich ganz den Bildern der Geschichte zu widmen. Genußvoll badet der Leser im Erzählstrom der Geschichte. Andererseits trübt das drohende Ende der Lektüre - man hat in einer Stunde einen "Termin" - bereits das Baden in den Erzählelementen. Das ist die interne Dialektik des Badens im Genuß. Gleichwohl: Im Augenblick des Genusses erhebt sich der homo legens als homo gaudens über die (graue) Wirklichkeit des Alltags. Allerdings ist die Autorität dieser Wirklichkeit zu schwach, um den Leser originär zu verwandeln. b) Aus dem Erzählstrom auftauchen, um die Erzählwelt zu besitzen: Die zweite idealtypische Szene beschreibt die wissenschaftliche Arbeit am Text. Der routinierte Leser erschließt sich seine eigene Textwelt, erarbeitet sich ein eigenes Vokabular, um sich die Texte einzuverleiben. Ein stufenweise zusammengetragenes Zitatkartell macht ihn wissenschaftlich autark. Der die Texte zum Besitz umwandelnde Leser lebt in der fröhlichen Gewißheit, grundsätzlich alle Texte bewohnen und besitzen zu können. c) Ausgelegt werden. Bleibt also die dritte Stufe der Leseerfahrung: Du mußt dein Leben ändern!73 Plakativ formuliert: In der Lektüre macht 72

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Dazu Schmitz: "Die unwillkürlichen, häufigen, oft nur angedeuteten Bewegungen des Reckens, Pendeins, Sichaufrichtens, Sichzurücklehnens usw. beim Gehen, Schreiben, Sprechen u. dgl. weisen darauf hin, daß sich der Mensch dann auch nach hinten frei weiß, so daß im Rückfeld mindestens Weite gegeben ist." In: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 281. "Der archaische Torso in Rilkes berühmtem Gedicht sagt zu uns: 'Du mußt dein Leben ändern.' Und das sagen alle Gedichte, Romane, Dramen, Gemälde, Musikstücke, denen zu begegnen sich lohnt. (...) In einem gänzlich fundamentalen, pragmatischen Sinne werden das Gedicht, die Statue, die Sonate nicht so sehr gelesen, angeschaut oder gehört als vielmehr gelebt." Georg Steiner: Von realer Gegenwart, loc. cit., S. 199. Rorty schlägt vor, zwischen zwei Arten von Büchern zu unterscheiden. "Die erste Gruppe suggeriert (manchmal unumwunden, manchmal nur andeutungsweise), daß man sein Leben ändern müsse (in mehr oder weniger gravierender Weise). Die zweite Gruppe hat damit nichts zu tun;

Ausgelegt werden

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der Leser die Erfahrung, daß der Text ihn meint und ihn auslegt. Ich denke etwa an die Situation der Lektüre bei nur durchschnittlicher Aufmerksamkeit, bis zu dem Zeitpunkt, an dem der vagabundierende Leseblick jäh auf eine Stelle trifft, die ihm urplötzlich zu einem Schlüssel seiner ganzen (Lese)Geschichte wird. Vielleicht hat er schon viele Male die Geschichte gelesen, aber erst jetzt geht ihm das sprichwörtliche Licht au£ wie sie denn zu verstehen sei. Der Leser ist hier gemeint. Er liest seine eigene Lebemgeschichte74. Und wie von selbst spiegelt sich die Einsicht auf seinem Gesicht wider. Changierend zwischen Glück und Schrecken. Halb verschreckt, halb fasziniert. Oft begleitet von der Erfahrung, wie von innen her die Schamröte auf die Wange steigt. Evidentermaßen hat man sich bisher falsch verhalten. Es fallt einem siedendheiß ein, siedendheiß, weil der Leser es immer schon gewußt hat. Das leibliche Erröten ist gleichsam der somatische Außenaspekt für die Einsicht in das bisherige Fehlverhalten. Wem urplötzlich der Abstand zwischen dem erlesenen Urbild des Lebens und dem eigenem Leben aufgeht, tritt die Röte heiß auf das Gesicht. Es ist Scham über den eigenen Regelkanon. Irrig hat man sich selbstsicher im Alltag bewegt und positioneil auf eine Sicht der Welt festgelegt. Als vorreflexiver, somatischer Ausdruck markiert die Scham eine grundsätzliche Negation des bisherigen Verhaltens. Sie ist Bedingung für eine qualitative Neuschöpfüng. Der Einfall, die

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sie führt uns in eine Welt oline Herausforderungen." Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, loc. cit., S. 233. Rorty nimmt wiederholt Bezug auf den Scholem-Schüler Harold Bloom Bloom hat zu dem hier verhandelten Thema ein großartiges Buch geschrieben: Harold Bloom: Die heiligen Wahrheiten stürzen. Dichtung und Glaube von der Bibel bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1991. Besonders imponiert hat mir der Teil über das Alte Testament, wo er die Pudenda des Textes freilegt: Exodus 4, 24f. etwa, oder Jeremía 20, 7. So hat Johann Georg Hamann sein lektorales Erweckungserlebnis beschrieben. "Ich erkannte meine eigen(en) Verbrechen in der Geschichte des jüdisch(en) Volks, ich las mein(en) eig(enen) Lebenslauf, und dankte Gott für seine Langmuth mit diesem seinen Volk, weil nichts als ein solches Beyspiel mich zu einer gl.(eichen) Hoffnung berechtig(en) konnte." Hier zitiert nach: Johann Georg Hamann: Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer und Bernd Weißenborn, München 1993, S. 343. Vgl. dazu auch die ausgezeichnete Einführung der beiden Herausgeber. Hamann greift freilich damit auf ein Textverständnis zurück, das Luther in seiner Auslegung des Psalm 119 vorgeführt hat; dazu Oswald Bayer, Theologie, loc. cit., S. 67ff.

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Idee macht das Gesicht. Eine Begegnung zwischen Text und Leser hat statt, die sich in der Errötung des Inkarnats meldet. Der Leser wird zur augenblicklich inkarnierten Idee. Wer die Erfahrung macht, vom Text ausgelegt zu werden, dem fallt es "wie Schuppen von den Augen." Der Sitz im Leben dieser Metapher ist biblisch. Sehr genau speichert das heute geflügelte Wort aus Apg 9,18 den ursprünglichen Bedeutungsknoten des revelatio-Begriffs. "Velum" meint Hülle, Plane, Vorhang, Schleier - ergo revelatio die Enthüllung oder die Entschleierung. Das Drama namentlich um die Person des Paulus und der Niederschlag dieser Erfahrung in seiner Theologie gewinnt von diesem Stichwort her Plastizität, denn es war Paulus, von dem berichtet wurde, es fiele ihm wie Schuppen von den Augen. Seine Geschichte steht stellvertretend für alle Leser. In seinem Korintherbrief leitet Paulus die Dekonstruktion oder die Relektüre des Alten Testaments durch eine Zentralstellung des Schleierbegriffs ein: Was ihm wie Schuppen von den Augen fiel, war 1. die Dekke oder der Schleier, den sich Moses vor das Gesicht hing, wenn er den Israeliten aus der petrifizierten, steinernen Wahrheit vorlas, weil sonst die Abstrahlung der Gottesschrift vom Augenspiegel des Moses übermächtig auf die Zuhörer zurückstrahlte. Mose ist der Schleiermacher des Alten Testaments. Diese Decke glaubt Paulus weggezogen, weil die Schrift Gottes in Jesus Christus lebendig geworden sei. Diese, die inkarnierte Schrift, drohe nicht mehr mit Annihilation, sondern mache einen schleierlosen, offenbaren Verkehr mit Gott möglich wie in den Tagen vor Mose - und dies gelinge auch nach dem Tode Christi, wenn man die Geschichten, die sich um diese Person ranken, ernst nehme. Paulus deutet auch an, wie das zu geschehen habe: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig."75 Sichtet man die diskursleitenden Stellen, dann intendiert Paulus für die Christen ein lebendiges Ausdrucksgeschehen im Lebens-Stil76. Paulus verdichtet in seinem hermeneutischen Schlüsselsatz die hermeneutische Praxis des Jesus von Nazareth zu einem Denkbild. Nicht denunziert Paulus hier das Medium der Schrift, sondern er warnt davor, den Buchstaben vom lebendigen, sprich: transparenten Ausdrucks75 76

2. Kor 3,6b. 2. Kor 3, 18.

Ausgelegt werden

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geschehen abzulösen. Wer sich nur an den Buchstaben hält und die authentische Subjektivität, die sich in ihnen ausgesprochen hat, nicht erinnert, der bleibt in sprachlichen Bindungen und im juridischen Gespinst befangen und erkennt sich gerade nicht im Text wieder. Moderner formuliert: Eine szenische Ausdruckstheorie soll die Willkürlichkeit einer arbiträren, juridischen Semiotik rückgängig machen und Wiedererkenntnis ermöglichen. "Schleier" meint also 2. den Sprachschleier, der sich immer über die Ausdrucksdichte des Textes zu legen droht. Den gilt es zu lüften, will man die natürliche Expressionsenergie der Sprache, ihren anfanglichen Zustand, freilegen. Und das gelingt nur in Entdeckungssituationen, die die alte Ordnung, die eine sprachliche willkürlicher Bindungen ist, ruinieren77. Urchristliche Schriftsteller führen immer wieder vor, worin die Differenz zwischen einem willkürlich-juridischen, und einem natursprachlichausdruckstheoretischen Lektüreverfahren besteht. In Streitgesprächen mit den Schriftgelehrten setzt Jesus78 oft die literarische Autorität der 77

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Wenn von einer Relektiire des Alten Testaments die Rede ist, die den vorjuridischen Verkehr mit Gott freilegen soll, dann ist damit nicht das ganze Alte Testament als Verfallsgeschichte anathematisiert. Im Text des Alten Testaments gibt es viele Versuche, den Sprachschleier zu lüften: etwa in den Weisheitstexten und namentlich bei Hiob, wie die ausgezeichnete Arbeit von Gerd Theobald gezeigt hat: Hiobs Botschaft. Poetische Theodizee als typologische Hermeneutik, Gütersloh 1993. Am geschlossensten bebildert neben Lukas Johannes die Szene: Die Juden, bereits im Vertrauen auf einen totsicheren Beweis die Steine zum Vollzug des Todesurteils aufnehmend, mußten die Steine fallen lassen, weil ihnen eine Schriftstelle offensichtlich nicht präsent war. "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10, 30), dieses Bekenntnis Jesu bildete den Stein des Anstoßes. Ausgesetzt wurde der Vollzug der Steinigung, weil Jesus den Vorwurf der Gotteslästerung mit einem biblischen Zitat kontern konnte: "Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: 'Ich habe gesagt: Ihr seid Götter'?" (Joh 10, 34) Die Autorität aus Psalm 82,6 reicht hin, die Vorwürfe zum Verstummen zu bringen, nicht aber, die Ankläger vom Gegenteil zu überzeugen: "Sie suchten abermals ihn zu greifen" (Joh 10, 39). Die naheliegende Frage der Hohenpriester und Schriftgelehrten nach der Vollmacht (εξουσία) Jesu, wird von Jesus dem juridischen Sprachspiel entsprechend durch den Rekurs auf einen Präzedenzfall entschieden, die Frage durch eine Gegenfrage beantwortet: "Ich will euch auch ein Wort fragen; saget mir's: Die Taufe des Johannes, war sie vom Himmel oder von Menschen? Sie

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Alten ein, um seine Gegner mundtot zu machen. Hintersinnig zeigt er, wie das juridische Paradigma, die forensische Zeichen- und Urteilslogik überhaupt nicht greift, wenn es um eine Sicht der Dinge geht, die im wohlverstandenen Sinne grundlos ist. Seine Parabeln dagegen wollen, wie die nächsten Kapitel zeigen werden, eine Lebendigkeit bei den Hörern einstiften, die nicht mehr am Buchstaben der Schrift und der Logik des Alltags klebt. Die Schrift wird erfüllt, wenn der Leser den Kopf aus der Lektüre hochnimmt, um das Erlesene lebendig zu bezeugen. Ganz anders die Schriftgelehrten, die, etwa durch einen Konter von Jesus matt gesetzt, sofort wieder den Kopf ins Regel-Buch stecken, mit dem Ziel, den juristischen Angriff besser vorzubereiten. Sie bleiben in ihrer Rechts-, Aussagen- oder Buchstabenlogik inkurviert. Regel- und Beispielbuch, willkürlich juridische und inkarnatorische Bild-Sprache - zwischen diesen Extremen spannt sich das Welt- und Sprachverständnis der Kontrahenten. Wie in den ausgeschriebenen Prolegomena zu zeigen, gelingt es nur einer inkarnatorischen Sprache, sprich: einer leibbildlichen Ausdruckssprache, den Leser in den Text zu verstricken und zum Wiedererkennen zu bewegen.

aber gedachten bei sich selbst und sprachen: Sagen wir: Vom Himmel, so wird er sagen: Warum habt ihr ihm denn nicht geglaubt? Sagen wir aber: Von Menschen, so wird uns alles Volk steinigen; denn sie stehen darauf, daß Johannes ein Prophet sei. Und sie antworteten, sie wüßten's nicht, wo sie her wäre. Und Jesus sprach zu ihnen: So sage ich euch auch nicht, aus was für Macht ich das tue." Lk 2o, 3 ff.

Besinn dich!

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2.1.5 Besinn dich ! Über das Verhältnis von Schrift und Vernunft Die Fokussierung der lektoralen Offenbarungssituation durch die absolute Metapher vom "Gesicht der Schrift" rückt die Thematik von Schrift (Offenbarung) und Vernunft in eine bestimmte Perspektive. Sichtet man die Theologiegeschichte, dann haben sich an beider Zuordnungsverhältnis bekanntlich oft die Geister geschieden. Unversöhnlich wurde der Streit immer dann, wenn ein szientifisch geregelter Vernunftbegriff die Offenbarungsmächtigkeit epiphaner Entdeckungssituationen auf inhärente Schlüssigkeit untersuchte. Allein die Bildlogik der Metapher vom Gesicht der Schrift in der Konkretion der Testamentssituation zeigt die Absurdität eines autokratischen Befragungskalküls. Hier fehlt es an inkarnierter Pietät. Offensichtlich besitzt die fragende Vernunft kein Sensorium für ein situativ angemessenes Verhalten Ausdrucksgestalten gegenüber. Wer die Ausdrucksgestalt der fiktionalen Texte, ihre testamentarische Figur in Frage stellt, zerstört die Situation. Vernünfteln79 lautet deshalb die pejorative Verballhornung einer angestrengten Entsorgung von der aufreizenden Widerständigkeit dieser Ausdrucksgestalten. Erschließt die vorgeschlagene Wende zum ausdruckstheoretischen Diskurs nicht auch einen Rückgewinn des Vernunftbegriffs, der die binäre Oppositionsschematik von Offenbarung und Vernunft vermittelt? Wird in der Lesesituation die Vernunft nicht inkarniert und von der Herrschaftspotenz des Cogito befreit? Zurück von der wahrmachenden, aus eigener Spontaneität agierenden und die Welt apriori konstruierenden Vernunft zur wahrnehmenden Vernunft (schriftlich vermittelter) sinnhafter Bedeutungskapazität80? Und: Gehört nicht die Wiederfreilegung einer Wissensform, die sich von der Willkürlichkeit arbiträrer Zeichensetzung abhebt, zum Projekt von Aufklärung, das die Vernunft in ihrer reinen, sprich: natursprachlichen Ausdrucksdichte untersuchen will? 79

80

Vgl. dazu: "Deutsches Wörterbuch" von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. XII, 1 Abt., S. 936f, Leipzig 1956. Vgl. Hermann Timm: Das Ästhetische Jahrzehnt Zur Postmodernisierung der Religion, Gütersloh 1990, S. 154f.

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Moderne Phänomenologie bietet einen Begriff der Vermittlung an, wenn sie die angemessene Reaktion auf das Verhalten in grundstürzenden Situationen, in denen sich die Wirklichkeit offenbart, "Besinnung" nennt. Ruft man die Minimalsemantik des Besinnungsbegriffs ab und bindet sie an ein idealtypisches Szenario zurück, dann offenbart die Sprache selbst eine intime Nähe der Begriffe Besinnung und Vernunft. Wer situativ sich dem Imperativ "besinn dich!" konfrontiert sieht, wird selbst zur Räson gerufen. Umgangssprachlich läßt sich die Aufforderung restfrei zurückübersetzen in den Satz: "Komm zur Vernunft!" Offensichtlich besteht eine semantische Achse, eine tiefe Liaison zwischen beiden Begriffen. "Besinn dich!" wird demjenigen entgegengebracht, der sich hoffnungslos verrannt hat, etwa, weil er sich von anderen Perspektiven hat erschließen lassen, die seinem eigenen Leben und seinem Möglichkeitsspielraum nicht angemessen sind. Deshalb bedarf es einer Besinnung auf die eigene Umgebung, in der er sich leibkörperlich, in der Multiplität seiner fünf Sinne, vorfindet. Vernunft wäre dann das synästhetische Vernehmen dessen, was seine Sache ist. Am Anfang der turbulenten Geschichte des Vernunftbegriffs instrumentiert Aristoteles in seiner Metaphysik die Szene des unmittelbaren Vernehmens nicht zufällig durch die haptische Metaphorik. Für Aristoteles ist das Einfache als das im eigentlichen Sinne wahre Sein zugleich das eigentlich Präsente: "Vielmehr ist es beim Wahren oder Falschen hier so, daß jenes ein Berühren und Sagen (θιγγάνειν και φάναι), denn Sagen ist nicht dasselbe wie Aussagen über etwas, das Nichtwissen aber ist 'Nicht-Berühren'."81 Gemeint sind Kontingenzerfahrungen, die so unmittelbar berühren, daß man sich von ihnen nicht distanzieren kann, um sie als etwas auszusagen. Wie aber soll man die Sprache des Kontakts beschreiben, wenn sie diesseits der Aussagenlogik bedeutet? Wie läßt sich das Sagen aussagen? Wie die Bedeutungskraft in Bedeutung ausdrücken? Lévinas etwa hat den hörfalligen Kontakt zwischen Nähe und Nächster ausgenutzt und ethische Sprachformen zur Beschreibung der Situation ausgezeichnet. Er übernimmt beinahe wörtlich die aristotelische Diktion: "Das Sagen dieser Berührung sagt und lehrt nichts als die Tatsache dieses Sagens und Lehrens selbst. (...) (D)ie Sprache als Kontakt 81

Metaphysik 105 lb23f.

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berührt den Nächsten in seiner nichtideellen Einheit. Es fehlt ihm der Horizont der Mannigfaltigkeit. (...) Was unmittelbar einen Sinn hat, bevor es ihm verliehen wird, genau das ist der Nächste."82 Religiöse Phänomenologie muß, so Lévinas, sich konsequent auf jene Sprache besinnen, die diese Dimension hautnahen Vernehmens darzustellen erlaube: "Le langage éthique auquel la phénoménologie a recours pour marquer sa propre interruption - ne vient pas de l'intervention éthique plaquée sur les descriptions. D est le sens même de l'approche qui tranche sur le savoir. Aucun langage autre qu'éthique n'est même d'égaler le paradoxe où entre la description phénoménologique qui, partant du dévoilement du prochain, de son apparaître, le lit dans sa trace qui l'ordonne visage selon une diachronie non-synchronisable dans la représentation. Une description qui ne connaît au départ qu'être et au-del de l'être, tourne en langage éthique."83 Man muß sich fragen, ob ethische Sprache wirklich das leistet, was ihr hier zugetraut wird. Mangelt es ihr nicht an ideogrammatischer Prägung, sodaß die Beschreibung der Ursituation doch dem vertrauten Vokabular der Ethik zugeschlagen wird? Und: Bleibt die Besinnung hier nicht medienspezifisch auf die Haptik begrenzt? Schließlich: Diktiert nicht die Selbstverständlichkeit einer Lebensdeutung Lévinas diese medienspezifische Engfuhrung? Was ändert sich situationslogisch, wenn das Wort des Lebens sich leibhaft inkarniert hat: "Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsren Augen, das wir beschaut und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens"84? Und welche semantischen Uminstrumentierungen wird man dann am Vernunftbegriff vornehmen müssen, wenn er synästhetisch verstanden werden will? Bestritten wird nicht die Primordialität des haptischen Urereignisses auf diese Schnittstelle können sich Griechen-, Juden- und Christentum verständigen, anvisiert aber wird eine medienspezifische Aufgipfelung dieses Geschehens. Nochmals Schleiermacher. Auch er betont das haptische Urereignis: "So wie sie sich formt die gehebte und immer gesuchte 82 83

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Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, loc. cit., S. 21,25. Emmanuel Lévinas: Autrement qu'être ou au-delà de l'essence. Den Haag ^1978, S. 120. l.Johl, 1

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Gestalt, flieht ihr meine Seele entgegen, ich umfange sie nicht wie einen Schatten, sondern wie das heilige Wesen selbst. Ich hege am Busen der unendlichen Welt(.) (...) Die geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich messe sie, und sie spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entschwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings. (...) Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion. Könnt ich ihn Euch schaffen, so wäre ich ein Gott."85 Schleiermacher wählt die Szene liebender Umarmung zum Ausgangspunkt einer Plausibilisierung der religiösen Ursituation. Dichter kann die Rückbindung (religio) kaum gedacht werden. Allerdings bleibt der Augenblick präsentischer Eschatologie, diese Rundumergossenheit sinnvoller Wirklichkeit, nur ein transitorischer Moment, der post faktum lebensweltlich bezeugt werden will. Dazu bedarf es des Ansichtigwerdens dessen, der die Besinnung auf die Ursituation des Menschenlebens als eines Lebens vom anderen her bewirkt hat. "Anschauung" in dem hier pointierten Sinne meint nicht die selbstoriginäre Perspektivierung eines irgendwie Vorliegenden, sondern ein Ansinnen dessen, der sich in seiner abschiedlichen Flüchtigkeit immer wieder entzieht, dabei in seiner ontologischen Schwachheit respektiert und im Beweis des Geistes und der Kraft bezeugt sein will. Idealtypisch fokussiert glaubt Schleiermacher die Ursituation religiöser Erfahrung nicht zufallig in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums, sprich den testamentarischen Vermächtnissen Christi. Theologie versteht Schleiermacher in diesen Jahren als Besinnung auf diese finalen Sprachformen, eine Sprachform, die seinem eigenen theologischen Stil den ganz unverwechselbaren Grundton heiliger Wehmut verleiht. Vor Schleiermacher sind es Lavater, Herder und Hamann gewesen, die Theologie als synästhetische Besinnung auf Sprachformen verstanden haben, in denen die religiöse Offenbarungssituation, jenes inkarnatorische Sagen vor dem Aussagen also, zur Darstellung kommt. Ich will deren Positionen kurz inventarisieren. An silhouettierten menschlichen Physiognomien will Lavater die Ursprache des Menschengeschlechts erneut freilegen, die zwischenzeitlich 85

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Reden über die Religion, loc. cit., S.41f.

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dem arbiträren Zeichengebrauch gewichen ist: "Nach und nach wurde das Natürliche von dem Nachgeahmten, dieses von dem Willkürlichen verdunkelt und verdrängt. Die Tonsprache verdrängte die Natursprache des ganzen Menschen - die physiognomische, die Gebärdensprache; so wie die Buchstaben die Bilder verdrängt haben mögen."86 Seine epochale Entdeckung - von eigenen Überzeichnungen oft verschattet - läßt sich konzise so zusammenfassen: 1. Nicht die Umarmung, wohl aber die religiöse Erschließungserfahrung vor Ort des vis- -vis, die Widerstandserfahrung angesichts eines Gesichts in der Individualität der Darstellung, läßt sich an Drucken und Silhouetten nachstellen. In den festen Zügen des Gesichts stellt sich die Ursprache dar. Physiognomik ist eine Hermeneutik der natürlichen Zeichen. 86

Johann Caspar Lavater: Aussichten in die Ewigkeit, Bd. III, Zürich 1768-1778, S. 103f. Bereits vor Lavater hat Georg Freidrich Meier, wie Lavater typischer Repräsentant der Leibniz-Kultur, in seinem "Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst" (Halle 1757), Düsseldorf 1965, den Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen bestimmt: "Der bezeichnende Zusammenhang zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung hanget entweder zunächst von dem Willkühr desjenigen ab, der sich des Zeichens bedient, oder von dem anderweitigen Zusammenhange des Zeichens mit der bezeichneten Sache. Ist das letzte, so ist das Zeichen ein natürliches Zeichen (signum naturale); ist das erste, so ists ein willkührliches (signum arbitrarium), welches ein künstliches Zeichen ist (signum artificiale), wenn es nach den Regeln einer Kunst eingerichtet ist. Ein Ausleger im weitern Verstände legt also entweder natürliche Zeichen aus, oder willkührliche und künstliche" (§ 28). Für die von Gott geschaffenen natürlichen Zeichen gilt, daß sie niemals zweideutig sein dürfen. Diese metaphysiche Grundüberzeugung setzt ein religiös geprägtes hermeneutisches Ethos voraus: "Die hermeneutische Billigkeit (aequitas hermeneutica) ist die Neigung des Auslegers, diejenigen Bedeutungen fur hermeneutisch wahr zu halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erwiesen wird. Diese Billigkeit, wenn sie in Absicht auf Gott betrachtet wird, kann die hermeneutische Ehrerbietung gegen Gott (reverentia erga deum hermeneutica) genannt werden" (§ 39). Es ist diese hermeneutische Billigkeit, die sich in Lavaters Betonung spiegelt, die physiognomischen Fragmente dienten der Förderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Leipzig und Winterthur 1775-1778, Bd. III (1777), photomechanischer Nachdruck Leipzig und Zürich 1969.

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2. Unmittelbarster Reflex der Anschauung ist das physiognomische Gefühl, das eine ganz eigene Ideogrammatik aufweist und nicht - wie später Lévinas will - mit der moralischen Lexik zu verwechseln ist. "Noch ein anderer eben so auffallender, obgleich nicht genug bemerkter, Beweis für die Allgemeinheit dieses physiognomischen Gefühls, das ist, dieser dunkeln Empfindung des Unterschiedes des innern Charakters nach dem Unterschiede des Aeussern - ist die Menge physiognomischer Wörter in allen Sprachen und bey allen Nationen; die Menge moralischer Benennungen, die im Grunde bloß physiognomisch sind. (...) Aufrichtig welch ein moralisches Wort - zugleich, wie physiognomisch - der aufgerichtet, gerade steht; der die Augen nicht niederschlagen, der gerade vor sich hinsehen darfl - Tückisch, der sich mit dem Angesichte tuckt, oder bückt, das ist, gegen die Erde kehrt. Aufgeblasen - hochtragend, (ein Schweizerwort) hofíartig, hochfahrend, hitzig, kalt, plump, unbeständig - (vielleicht auch leichtsinnig?) schielender Charakter - massiv, grob, u.s.w.." 87 Hier werden die metamoralischen und metarationalen Sinnbestände des Daseins in der physiognomischen Lexik ausgemacht, die, so Lavaters Pointe, einen unmittelbaren Formungsappell auf den Leser dieses Gesichts ausüben. 3. Überzeugender als an den physiognomischen Fragmenten hat Lavater diese Intuition einer Formungskraft natürlicher Sprache an der Sprachform der Bibel ausgewiesen. "Von der Biblischen Geschichte, überhaupt oder theilweise betrachtet, muß ich sagen, daß ich nichts Dramatischeres, Schauspielmäßigeres kenne. (...) Was ist dramatisch? Was klein anfangt, ununterbrochen fortschreitet, sich immer rührender entwickelt, durch jeden dazwischenkommenden Zufall oder Umstand genährt, bezeitigt, wichtiger, treffender wird, bis es zum höchsten Punkte vollendet ist, was Eins ist und doch successif und sehr mannichfaltig!88 Ein Eins, aus dem sich, als aus Einer Wurzel, Einem Stamme 87 88

Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, loc. cit., S. 139f7 II, 1. In diesem Satz spiegelt sich das Vollkommenheitskriterium der Leibniz-Kultur, mit einem möglichst einfachen Prinzip eine Mannigfaltigkeit der Erscheinungen erklären zu können. Im § 6 des "Discours de métaphysique" heißt es: "Man kann deshalb sagen, daß die Welt, wie auch immer sie Gott geschaffen hatte, stets regelmäßig und in einer bestimmten Ordnung entsprechend gewesen wäre, Gott hat aber diejenige gewählt, die die vollkommenste ist, d.h. diejenige, die zugleich die einfachste an Prinzipien und die reichhaltigste an Erscheinungen ist."

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viele viele interessante Mannichfaltigkeiten ergeben, was hinstrebt zu einem großen Ziele! Was unerwartet und doch höchst schicklich, höchst erwünscht, den leisesten menschlichen Ahndungen analog, gleichförmig, oder über dieselben erhaben, und doch der Hauptperson der Geschichte höchstgeziemend und würdig ist. Anfang, Fortgang, Ende eines Kampfes! Widerstand, Kampf, Sieg, Triumph in genauer unmittelbarer Verbindung. (...) Die Schrift, das Buch (κατ' εξοχήν, par excellence) stellt uns den Menschen (par excellence) dar, das Sonderbarste, Größeste, was die Menschheit hatte! Sie ist eine Menschenbibliothek! Ein Geschichtsbuch der interessantesten Menschen, eine Sammlung der besondersten und allgemeinsten Menschengeschichten, eine Dramaturgie, eine Schauspiellehre durch Geschichte."89 Theologie in dem hier vorgeschlagenen Sinne wäre also eine Besinnung auf die festen Porträtzüge des biblischen Christus und auf die dramatische Formungskraft der mit - wie ich zeigen werde - inkarnatorischer Bildlichkeit gesättigten Geschichten, die exemplarische Szenen der Betroffenheit von Transzendenz zur Sprache bringen und die komplexe Situation der Postfiguration anzeigen. Wie aber gelingt es der außerordentlichen Sprache der Heiligen Schrift, die Gefühle so zu kanalisieren, daß der Leser sich bewegt und sich dem Geschehen einbildet? Wie steht es um die natürlichen Sinnensprache der Heiligen Schrift? Etwa gleichzeitig mit Lavater bestimmt auch Hamann die Theologie als Besinnung auf den synästhetischen Charakter der Heiligen Schrift. An Jacobi schreibt er am 27.4.1787: "Verstehst du nun (...) mein Sprachprincipium der Vernunft und daß ich mit Luther die φφιε zu einer Grammatik mache, zu einem Elementarbuch unserer Erkenntnis"90? Dieser Satz ist mißverständlich, wenn man unter Grammatik die Regelkunde von Aussagensätzen verstünde. Das ist primär nicht intendiert, sondern vielmehr eine metasprachliche Besinnung auf die neutestamentlichen Sprachformen, namentlich die neutestamentliche Bildersprache, die das

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Gottfried Wilhelm Leibniz: Metaphysische Abhandlungen, Hamburg 1985, S. 15. Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke, hrsg. von Ernst Staehelin, Bd. III, Zürich 1943, S. lOlf. Johann Georg Hamann, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 27. April 1987, in: Briefwechsel, Bd 7, hrsg. von Arthur Henkel, Frankfurt am Main 1978, S. 169.

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dem Aussagenkalkül andere zur Sprache bringt. Wenn, wie Hamann sagt, Gott ein Schriftsteller ist91 und er sich schriftlich inkarniert hat, wenn der Zugang zur göttlichen Offenbarung also vornehmlich durch die Schrift geschieht, und "(w)enn also auch die göttliche Schreibart auch das alberne - das seichte - das unedle - erwählt, um die Stärke und Ingenuität aller Profanscribenten zu beschämen: so gehören freylich erleuchtete, begeisterte, mit Eyfersucht gewaflhete Augen eines Freundes, eines Vertrauten, eines Liebhaber dazu, in solcher Verkleidung die Strahlen himmlischer Herrlichkeit zu erkennen."92 Hamanns hermeneutisches Credo lautet also: "Argumenta haben Ausleger genug: affectus und mores gar keine oder sehr wenige gehabt"93. Und mit einer Anspielung auf Lavater nennt er sich selbst einen 'Physiognomiker des Styls'94, der eine metakritische Nachbildung biblischen Stils betreibt, um mit gelehrtem Zitat-Witz geschichtlich tradierte Sprachfiguren in Gegenwart zu übersetzen. Weil für Hamann der Sündenfall der Sprache in der "Abstraction"95 der Sprache vom materialen, sinnlichen Bedeutungsträger besteht, muß man die Tiefenschicht der Sprache, ihre affektive Bilderdimension erneut freilegen96. Mit Herder, Hamanns Freund und Schüler, bleibt die Ineinssetzung von Vernunft und Besinnung als Besonnenheit ursprünglich verbunden. So heißt es in der preisgekrönten 'Abhandlung über den Ursprung der Sprache': "Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei

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Siehe oben Fußnote 109. Johann Georg Hamann, Erster Hellenistischer Brief: Sämtliche Werke, loc. cit., Bd II, S. 171. Johann Georg Hamann, Brief an den Bruder vom 12. Februar 1760, in: Briefwechsel, Bd. 2, hrsg. von Walter Ziesemer und Arthur Henkel, Wiesbaden 1956, S. 10. Vgl. den Brief an Johann Gottfried Herder vom 20. Dezember 1774: "Sie wissen, daß ich ein anderer Lavater in der Physiognomia des Styls bin." In: Briefwechsel, loc. cit., Bd. 3, S. 135. Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hrsg. von Josef Nadler, Bd. II, Wien 1950, S. 206. Vgl. ebd., S. 197: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, - als Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse. Tausch, - als Handel."

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wirkend, hat Sprache erfunden."97 "Besonnenheit" beschreibt hier die Dialektik der von allen Seiten anströmenden Sinnlichkeit und einer ersten Disposition dieser Sinnlichkeit in eine bestimmte "Richtung". Immer ist der Mensch eingespannt zwischen der Passivität der Sinnlichkeit und der - freilich gesetzten - Freiheit der Besonnenheit. Genau diese Zweiseitigkeit fuhrt zur Besinnung (Reflexion) und damit zugleich zur Anerkennung des immer schon Vorgegebenen. Wohlverstanden besteht Zeichensinn in der Korrespondenz der durch die Sensorien vernommenden Anmutung und dem besonnenen, darauf sich beziehenden Ausdrucksakt. Wie auch bei Hamann besteht der Sündenfall der Sprache für Herder darin, die urimpressive Dimension des Vernehmens im abstrakten Sprachakt verleugnet zu haben. Herder reflektiert deshalb zeitlebens die hebräische Urpoesie - namentlich das Archipoem der Schöpfungsdichtung - als Ideal eines von Gott geprägten Sprachgebrauchs. Theologie als grammatisch-hermeneutische Besinnung auf das porträtierte Gesicht der Heiligen Schrift zu bestimmen, schließt also an die von Hamann mit Luther98 ausgegebene Formel, Theologie sei die Grammatik zur Sprache der Heiligen Schrift, an. Nochmals: Ich verstehe darunter die Untersuchung physiognomisch-morphologischer Sprachformen, genauer: die Untersuchung der normativen Kraft neutestamentlicher Inkarnationssemantik und Bilderwelt.99 Die im nächsten Kapitel

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Johann Gottfried Herder: Frühe Schriften 1764-1772, hrsg. von Ulrich Gaier, Frankfurt am Main 1985, S. 722.

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Ursprünglich dürfte er sie von Bengel aufgelesen haben, wie von Lüpke hat deutlich machen können. Vgl. Johannes von Lüpke: Theologie als "Grammatik zur Sprache der heiligen Schrift", loc. cit; vgl. jetzt O. Bayer: Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 1, Theologie, 1994.

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In seinen neuesten Arbeiten favorisiert auch Dalferth den Grammatik-Begriff und bestimmt "Dogmatik als Grammatik christlichen Glaubenslebens". In. Jenseits von Mythos und Logos, loc. cit., bes. S. 216ÉF. Treffend fordert Dalferth eine "Morphologie der Bilderwelt" (300, vgl. 306) und treffend klagt Dalferth gegen Drewermann die Eigentümlichkeit der neutestamentlichen Bilderwelt ein. Dabei übersieht Dalferth, daß die Eigentümlichkeit neutestamentlicher Bilder im inkarnationslogischen Profil bestehen. Der Kontext von Schrift und Leben stellt sich her über die Verschränkung von Textbild und Körperbild. Dalferth verkennt die morphologische Eigentümlichkeit dieses Geschehens und bleibt dem Text der Schrift gegenüber eigentümlich unsensibel Auch die Verhältnisbestimmung von Mythos und Logos bleibt ungeklärt, solange nicht die Einsicht durchschlägt,

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vorgeschlagene grammatisch-hermeneutische Besinnung entdeckt eine regelgeleitete physiognomische Inkarnationssemantik oder Inkarnationsmorphologie, die für die christliche Religion eigentümlich ist. Dieses grammatisch-hermeneutische Unternehmen hat aber so zu geschehen, daß dem gleichermaßen szenischen und synästhetischen Vernunftbegriff der Lektüre Rechnung getragen wird. Eine Schauspiel/eAre ist ohne die erzählten Geschichten nicht zu haben, sondern impliziert eine Besinnung auf die Bildfiguren, in denen die Erfahrung dieser anderen Ordnung Gestalt gewinnt, um den Leser über die regelgeleiteten religiösen Lebensvollzüge aufzuklären und um gleichzeitig die Sinnlichkeit auszubilden. Nochmals: Im porträtierten Leben des biblischen Christus stellt sich die urbildliche Lebensform gelingenden Lebens dar, die einen morphologischen Appell an den Leser aussendet. Die Sprache, in der diese Lebensform zum Ausdruck kommt, darf nicht exklusiv moralische oder alternativ rationale Vokabularien verwenden, weil sonst die Ganzheit des Menschen verfehlt und allenfalls additiv als die Summe zweier Vokabularien vorstellig würde. Wer eine Betroffenheit des Menschen als ganzen erreichen will, muß - das ist die These - sich dem physiognomischmorphologischen Vokabular verschreiben. Nur so bleibt zugleich die intentionale Weckung durch eine Anmutung von außen gewahrt, die dem Leser ein neues, inkarnationslogisch ausdifferenziertes Selbstverstehen gewährt. Die Metaphernsynthese vom Gesicht der Schrift bietet eine Strukturformel dieser Grammatik, die der Text der Schrift selbst nahelegt. Wie wird diese Grammatik gelernt? Sie wird erlesen. Die Partikel er steht dabei für den revelatorischen Akt im Lesen, dann, wenn das dort niedergeschriebene Sinnangebot als lebenspraktische Möglichkeit für das eigene Leben verstanden wird. Weil der Text der Schrift diese Möglichkeiten selbst vorspielt, besteht das Lernen darin, die Sprache dieser durch Leibbilder regulierten Lebensform besonnen nachzuspielen. Der Spielcharakter dieses Geschehens verhindert, das neue Selbstverstehen auf die Entscheidungstat eines Augenbücks konzentrieren zu müssen.

daß die Hermeneutik der Wiedererkenntnis das Zentrum des Neuen Testaments bildet.

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Das nächste Kapitel wird die physiognomisch-morphologische Grammatik der Sprache der Heiligen Schrift untersuchen. Einige thetische Interpretamente sollen die konkrete Arbeit andeuten: a) Physiognomisch-morphologische Lese-Theologie orientiert sich an der Leib-Semantik Oben-Unten, Innen-Außen, Auf-Ab, VerschleierungEntschleierung, Gebeugt-Gerade100 Diese Leib-Semantik wird so inszeniert, daß sich der Möglichkeitsspielraum des Evangeliums: die Wiedererkenntnis christenmenschlichen Lebens ereignet. Im Text der Heiligen Schrift, namentlich in den Zitaten der Gleichnisse, kommt das Urspiel der Wiedererkenntnis in festen Gestaltschemata zur Darstellung. Es ist der Urspielraum des Christenmenschen, die Leibhaftigkeit der Sprache. b) Zugleich pflegt eine physiognomisch-morphologische Hermeneutik auch die Philologie, die die affektiven Bedeutungsresonanzen, die leiblichen und emotiven Konnotationen zentraler Begriffe freilegt. Σπλαγχνίζομαι, χ α ί ρ ε ι ν und άναγίγνωσκειν sind zentrale - mit Vorliebe vom dramatischen Schriftsteller Lukas verwendeten - neutestamentlichen Begriffe, die das szenisch vorgespielte neue Selbstverständnis, die Hermeneutik der Wiedererkenntnis101, lexikalisch einfangen: Σπλανγχνίζομαι bezieht sich auf das affektive Zentrum, wo nach biblischem Sprachgebrauch das Selbstverstehen des Menschen seinen Ort hat: das Herz. Eingesetzt wird das affektive Schlüsselwort immer, wenn es gilt, die Urfigur des Menschlichen auch in der gestalthaften Deformation wiederentdeckend freizulegen: so im Gleichnis vom "Barmherzigen Samariter", so in dem vom "Schalksknecht", in der Parabel "Vom verlorenen Sohn", der Heilung eines Aussätzigen, so aber auch in der Paulinischen Figur des "Lebens in Christo", χ α ί ρ ε ι ν steht für die somatisch sich spiegelnde Einsicht auf dem Gesicht des Verstehenden und beschreibt die Grundgestimmtheit des von Evidenz Heimgesuchten: Fröhlichkeit. Theologie ist eine fröhliche Wissenschaft.' Αναγίγνωσκειν 100 Vgl auc ·!! ausgezeichnete Arbeit von Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1988, bes. S. 241 f. 101 Ich darf noch einmal betonen, daß es sich hier um eine Schauspiel/e/ire handelt, d.h. der dramatische Sinn der einzelnen Szenen ist reflexiv zu erheben. Um die Gestaltverläufe der Texte zu ermitteln, bedarf es keiner besonderen spirituellen Einstellung. Der morphologische Tiefensinn läßt sich sauber philologisch den Texten ablesen.

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schließlich beschreibt die Dialektik von Lesen und Wiedererkennen urbildlichen Lebens diesseits aller selbstverständlich gewordenen Sprachund damit Lebensformen. Die physiognomisch-morphologische Grammatik untersucht die "Bewegungssuggestionen" leibhafter Sprachspiele, die den somatisch reflektierten Prozess der Nachbildung oder Nachspielung stimulieren. Lesenderseits übt sich der "lector in fabula" in die Gefuhlsbasis und Spielpraxis christlicher Lebensform ein. Eine physiognomische Hermeneutik will also zeigen, wie das porträtierte Leben eine Wiedererkenntnis des kreatürlichen Menschseins ermöglicht, eine Wiedererkenntnis, die dem Leser eine fröhliche Gestimmtheit als Fundament aller Handlungen einstiftet102.

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Im Anschluß an die Ausdruckshermeneutik der Leibniz-Kultur kann man davon sprechen, es gehe darum, die festen Porträtzüge, die feste Ausdrucksform des Menschlichen (Physiognomik) und die beweglichen Porträtzüge des Menschlichen, die Stimmungen (Pathognomik) einzufangen. Für den biblischen Christus freilich gilt, daß das Fundament der Stimmungen immer die Fröhlichkeit der Liebe ist. Dieser Grundstimmung soll sich der Leser konformieren.

2.2 Die verkörperte Schrift Eine Schauspiellehre durch Geschichten

Die wahre Hermeneutik des Dramas liegt in seiner Bühnenauffiihrung. George Steiner

Die Schwierigkeiten, das Urteil zu revidieren, das einzelne Theologen von Rang über das Schriftprinzip verhängten, sollen in diesem Schlußkapitel schrittweise ausgeräumt werden. Mit Ebeling protestiert dieser Entwurf gegen eine Sprachtheorie, die sich von den konkreten Situationen der Einsichtgewinnung ablöst, über Ebeling geht sie hinaus, indem der Entwurf seinen Ausgang nimmt von den verbuchten Schlüsselsituationen, die die Heilige Schrift inszeniert, und fragt, wie Offenbarung lesend motiviert wird. Durch die Investierung physiognomischer LeibSemantik will der Text der Bibel die Sinnlichkeit der Leser lektoral erwecken und ihn in Lesesituationen verstricken, in denen ein prägnantes Verhältnis, die Situation des littéral verschatteten Von-Angesicht-zuAngesicht1 erfahrbar wird. Das erste Kapitel dieses zweiten Teils reformuliert den Topos der unter Druck geratenen Inspirationslehre als Dialektik von lektoraler und skripturaler Inspiration - in dieser scheinbar widersinnigen Reihenfolge. Nur so läßt sich die Hypothek dieses Gesamtunternehmens, nämlich die Inspirationslehre aus der Ursacherperspektive herauszuschälen und der Affektenlehre der Schrift emeut einzufügen, abtragen. Zweitens folgt das Nacherzählen der alten Affektionenlehre der Schrift: auctoritas, perspicuitas, perfectio und efficacia. Drittens versuche ich eine

Dazu Hermann Timm: Von Angesicht zu Angesicht. Eine sprachmorphische Anthropologie, Gütersloh 1992; vgl. Hermann Timm: Zwischenfalle. Die religiöse Grundierung des All-Tags, Gütersloh 1983.

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Neuformatierung der Kanonfrage. Theologie, die die ästhetischtestamentarischen Strukturen von Texten besinnt, wird die Frage nach der Endgestalt am letzten Buch der Bücher festmachen. Der letzte Abschnitt unternimmt schließlich eine Besinnung auf die Notwendigkeit systematischer Arbeit. Die absolute Metapher vom Gesicht der Schrift gibt einen Hinweis, wie organisch-integer systematische Sätze gebaut sein müssen. 2.2.1 Lektor- und Skriptorinspiration Wie denn zu lesen und zu schreiben sei "Inspiration" lautet das große Scheidewort der Religionskultur. Wer den Standards aufgeklärter Verständigungspraxis nicht genügt, wird mit diesem Stichwort ironisch etikettiert. Die Karriere des Begriffs habe ich oben inventarisiert. Indes wachsen die Zweifel, ob die pejorative Instrumentierung unumkehrbar sei. Wer das Schriflgewebe zum Ausgangspunkt der Besinnung wählt, wer sich für die textuellen Konfigurationen sensibilisiert und die Vernunft dabei an die Affekte der Lektüre zurückbindet, wird vielleicht auch dem Topos Inspiration neue Schließkraft zusprechen. Man muß nur die differenzierte Orchestrierung des Begriffs zu einer neuen Tonlage zusammenfügen. Das geschieht hier in einem Zweierschritt. In einem ersten Anlauf wird die idealtypische Lektüreinspiration des exegetisierenden Jesus untersucht. Der zweite Teil interpretiert das im zweiten Korintherbrief aufzulesende Schriftmaß der Inspiration, das Lesern die Inspiriertheit von Texten zu beurteilen hilft. I.) Lektorinspiration. Lukas tradiert die idealtypische Szene der Lektoralinspiration im vierten Kapitel seines dramatischen Evangeliums. Jesus besucht die Synagoge seiner Heimatstadt am Sabbath2. Ihm wird das Buch des Propheten Jesaja gereicht und sein Auge fällt auf die messianische Prophetie: "Der Geist des Herrn ist bei mir, darum, daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und lebendig sein sollen, und zu verkündigen das Thomas Walker: What Jesus read, London 1925, bietet eine Rekonstruktion der Texte, die Jesus mutmaßlich gelesen hat.

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angenehme Jahr des Herrn."3 Dann schlägt er das Buch zu und nimmt erneut Platz. Erstaunt richtet sich der Blick der Zuhörerschaft auf ihn. Daraufhin lautet der Kommentar zur Stelle: "Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren."4 Die hermeneutische Logik der Szene ist eindeutig. Die Egologisierung der Prophetie erlaubt dem Leser, das Ich auf sich anzuwenden. Schrift-Ich und Sprecher-Ich werden semantisch kurzgeschlossen. Die naheliegende Frage, wer denn im Text der Bibel mit dem Ich gemeint sein könne, wird affirmativ mit dem Rekurs auf das Ich des Lesers beantwortet: 'Ihr habt doch gehört durch meinen Mund, wer gemeint ist.1 Das Erstaunen (θαυμάζενν) auf Seiten der Zuhörer verwundert nicht. Wie oft wurde die Stelle bereits öffentlich verlesen, ohne daß jemand je auf diese unglaubliche Idee gekommen wäre: Jesu Identifizierung mit dem verschriebenen Ich Tritojesajas. Der Einwand: "Das könnte doch jeder sagen", liegt natürlich auf der Hand. Aber Jesus hat die Pointe der Nichtdistanzierbarkeit des Subjekts im Lektürevollzug zuerst erlesen. Seitdem ist sie in der Welt. Sein hermeneutisches Gottesbewußtsein war offensichtlich am stärksten ausgebildet. Ihm kommt deshalb die Entdeckerwürde zu; ein Erstgeburtsrecht und eine Macht (εξουσία), die von Gott eindeutig bestätigt wurde. Alle Zuhörer nehmen, das zeigt die folgende Sequenz, das Erstaunen - bei den Griechen bekanntlich der Ausgangsspunkt der Philosophie nicht zum Anlaß einer wirklichen Besinnung, sondern ausnahmslos wird dieser außerordentliche Anspruch kontextualisiert. Zwar haben die Anwesenden die Verlesung gehört, die intendierte Identifizierung aber vom prophetischen Ich der Jesaja-Stelle und dem Ich des Vor-Lesers wird verhindert, weil sich das Bild des historischen Jesus vor den Gehörgang schiebt. "Ist das nicht Josephs Sohn?" (22) Offensichtlich haben die Zuhörer die Evidenz auf seinem Angesicht nicht erkannt, obwohl doch die 3 4

Lk 4, 18,19 Lk 4, 21. Jesu Antrittspredigt wird wiederholt, sowohl von Barth, Ebeling als auch von Pannenberg zur Bestimmung eines integralen Begriffs von Evangelium herangezogen Gegen Ebeling moniert Pannenberg: "Für den Begriff des Evangeliums jedoch als Botschaft vom Anbruch der Gottesherrschaft, aber auch im paulinischen Sinne als Inbegriff der apostolischen Missionsbotschaft von Jesus Christus, ist die Beziehung zum Gesetz nicht konstitutiv." In: Systematische Theologie, Bd. II, loc. cit., S. 507.

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Weihung durch die Jesaja-Stelle ganz frisch war. Statt anzubeten, verlangen sie einen Beweis. Jesus kontert lapidar: "Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande." (24) Auch dieses ein immanentes Zitat, das, so zeigt der Fortgang, an die Aussendung der Propheten ins Heidenland erinnert. Prompt schlägt die Stimmung des Erstaunens in die des Zornes um. Sieht man genauer hin, dann umlagert Lukas diese Sequenz mit mehreren Geschichten, die die Evidenz beim Lesen erleichtern sollen. Er verwendet im Text eine Lexik, die dem Leser jenen Vorsprang verschafft, den er fraglos den Augenzeugen gegenüber besitzt: 1. Entkontextualisierung. Der Leser besitzt durch den dramatischen Plot des Lukasevangeliums einen deutlichen Vorteil den Augenzeugen gegenüber, weil Lukas in einer verdichteten spekulativen Chronologie Jesus entgrenzt. Die würdevolle Macht des redehandelnden Jesus geht nicht zusammen mit dem Zimmermannssohn. Das insinuiert auch prompt das im Kapitel 3 des Lukasevangeliums vorgeschaltete Geschlechtsregister: Jesus ward "gehalten fur einen Sohn Josephs"5 dessen Geschlechtsregister über Abraham bis hin zu Adam reicht, von dem es heißt: "der war Gottes "6 ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Strategisch ist der Leser des Lukasevangeliums also in einem deutlichen Vorteil. Das belegt noch einmal meine These, die Leser der Schrift seien durch die dramatische Exposition der Stücke privilegiert. 2. Sprachspielerische Anmutung. Verraten wird der hermeneutische Clou der Szene bereits in Vers 16: Και ανέστη άναγνώναι. Zumindest die zweite Stelle schillert semantisch. ' Αναγιγνώσκειν meint lesen und wiedererkennen gleichermaßen, so daß die Stelle auch wiedergegeben werden könnte: "Und er stand auf und er wollte wiedererkennen." 3. Topographische Rahmung. Lukas baut die Szene so, daß sie fraglos an eine andere erinnert. Aus dem Inneren der Synagoge wird Jesus von den Zuhörern auf den höchsten Punkt der Stadt geführt, einzig zum Zweck, ihn hinunterzustürzen. Bereits einige Seiten vorher im Text steht er an ausgezeichnetem Ort, auf der Zinne des Tempels, und wird aufgefordert, selbst hinabzuspringen. Eine mörderische Fallhöhe des Geistes.

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Lk 3, 23. Lk 3, 38.

Lektor- und Skriptorinspiration

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"Arzt, hilf dir selber."7 Wer nicht versteht, kommt also in schlechte Gesellschaft. 4. Erfiillungsmetaphorik. Erfüllt ist etwas dann, wenn es mehr als voll ist. Worin besteht aber dieser seltsame Überschuß, dieses Surplus? Es besteht darin, das Buch schließen zu können8 um die Möglichkeiten, die sich dort im Verstehen erschlossen haben, lebenspraktisch zu bezeugen. Anschlüsse für die Anthropomorphisierung des Schriftlichen hegen dabei in der Ich-Form des Textes beschlossen. Auch der Leser darf jetzt Ich sagen, aber so, daß die hermeneutische Erschließung dieser Stelle Jesus zu verdanken ist. Leser dürfen aber dieses hermeneutische Patent erben und anverwandeln. Integral zur Erfiillungsmetaphorik gehört der Liebreiz oder die Gnade, die sich aus dem Überschuß ergibt und sich auf dem Gesicht spiegelt. Lukas bebildert die Szene genau, wenn er das Erstaunen der Zuhörer mit den "holdseligen" (χάριτος) Wörtern verknüpft. Das Verstehen eines neuen Handlungsspielraums ist liebreizend. Wer den neuen Spielraum verstanden hat, wird fröhlich gestimmt9. Auf wen freilich die Stimmung nicht überspringt, der bleibt noch im Sprachschleier seiner alten Einsichten gefangen und versteht nicht zu hören/lesen. II.) Skriptorinspiration. Soweit die Lektorinspiration; bleibt die Skriptorinspiration. Sie wird der Lektorinspiration nachgeordnet, weil sie die Lesepraktik Jesu zum Maßstab nimmt. Ich zitiere eine der wenigen Stellen, wo die Schriftsteller des Neuen Testaments Rechenschaft über ihre Darstellungspraxis ablegen. "Denn wir schreiben euch nichts anderes, denn was ihr leset und auch befindet."10 Der Satz gewinnt kaum an Luzidität, wenn man länger über die Buchstaben nachsinnt. Wer den Urtext liest, erkennt zumindest sofort, daß es sich hier um ein Wortspiel handelt: "Ού γαρ ά λ λ α γράφομεν ύ μ ΐ ν α λ λ ' ή ά άναγινώσκετε ή κ α ί έπιγινώσκετε." Überträgt man das Wortspiel ins Deutsche, dann ergibt das: "Denn wir schreiben euch nichts anderes, denn was ihr lesend wiedererkennt und erkennt (= versteht)." Wiedererkennen meint ein Sichverstehen auf die Schriftkörperlichkeit und Körperschriftlichkeit 7 8 9

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Lk 4, 23. Lk 4, 20. Das ist Lukas' Überzeugung. Siehe dazu unten die Lektüre-Szene des Kämmerers aus dem Morgenland. 2. Kor 1, 13.

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des Christenmenschen. Die Pointe dabei ist, daß im Wiedererkennen das "Bekannte" erst zur eigentlichen Wirklichkeitsdichte kommt, wie Gadamer hat deutlich machen können. Ich zitiere noch einmal die zentrale Stelle: "In der Wiedererkenntnis tritt das, was wir kennen, gleichsam wie durch eine Erleuchtung aus aller Zufälligkeit und Variabilität der Umstände, die es bedingen, heraus und wird in seinem Wesen erfaßt. Es wird als etwas erkannt. (...) Das "Bekannte" kommt erst in sein wahres Sein und zeigt sich als das, was es ist, durch seine Wiedererkennung. (...) Im Hinblick auf Erkenntnis des Wahren ist das Sein der Darstellung mehr als das Sein des dargestellten Stoffes."11 So ist entsprechend die Wiedererkennung wahren Menschseins im biblischen Christus ontologisch "mehr" als der erste Adam und der historische Jesus. Nimmt man diese aufgelesene Formel als Regel der Inspirationslehre, dann müssen inspirierte Texte so gebaut sein, daß die Leser das Mitgeteilte als Möglichkeiten und Gestaltwerdungen der in Christus eröffneten Lebensform wiedererkennen und verstehen. Man wird den Satz sogar weiter pressen dürfen: Nur wenn die Gemeinden in dem, was die Apostel mitteilen, Sachverhalte verstehen, die dem in Jesus erschlossenen Spielraum entsprechen, können die Apostel als Apostel gelten12

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Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, loc. cit., S. 109. Pannenberg setzt die Inspirationslehre an das Ende der Versöhnungslehre: "Im Hinblick auf die Funktion der neutestamentlichen Schriften als Niederschlag und Dokument der apostolischen Verkündigung des Evangeliums (...) läßt sich von der Schrift ebenso wie von der apostolischen Verkündigung sagen, sie sei vom Geiste Gottes inspiriert. (...) (D)ie Behauptung der Inspiration der Schrift setzt die Überzeugung von der Wahrheit der Offenbarung Gottes in Person und Geschichte Jesu, von der Gottheit Jesu und dem Handeln des dreieinigen Gottes im Versöhnungsgeschehen des Todes Jesu Christi, in seiner Auferweckung von den Toten und im apostolischen Dienst der Versöhnung bereits als anderweitig begründet voraus. Darum gehört die Aussage über die göttliche Inspiration der Heiligen Schrift und über ihre Autorität in der Kirche an das Ende der Versöhnungslehre und nicht in die Prolegomena zur Dogmatik, aber auch nicht erst in die Lehre von der Kirche." In: Systematische Theologie, Bd. II, loc. cit., S. 510511. Dieser Behauptung wird man kaum zustimmen dürfen. Die Schrift hat eine anderweitige Begründung ihres Wahrheitsgehaltes nicht nötig. Wer das behauptet, verkennt das literarhermeneutische Korrelationsapriori von homo legens und homo lectus. Aussagen über die Inspirationskraft der Heiligen Schrift haben in den Prolegomena zur Dogmatik ihren sinnvollen Platz.

Lektor- und Skriptorinspiration

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Nennen will ich dieses Verstehen (gemeinde)theologische Dialektik13: wem sich angesichts Jesu Leben ein Spielraum erschlossen hat, in dem er sich neu versteht, dem ist alles in diesem Spielraum verständlich; der versteht alles einheitlich und doch als unterschiedliche Gestaltwerdungen dieses Spielraums. Entsprechend besteht die Lektorinspiration der Gemeindeleser darin, ihrem Verstehen eine lebenspraktische Form zu geben. 1) Die Schriften des (Neuen) Testaments sind also 'Ausdruck von Transzendenzerfahrung. ' 14 2) Sie müssen sich daran messen lassen, ob sie dem in Jesus eröffiieten Spielraum entsprechen (theologische Dialektik von Wiedererkennen und Verstehen). 3) Der Text der Bibel zeigt in objektiver Gestalt, wie einzelne Personen ihrem Verstehen (oder Nichtverstehen) eine Form gegeben haben (etwa in der Person des Paulus, in den Agenten der Gleichnisse). 4) Der Text der Heiligen Schrift fuhrt das Prozedere der Kanonbildung, Szenen einer Erfahrung von Transzendenz, die Lebensformen aus sich entwickeln, ausdrücklich vor15 Schriftinspiration und Kanonbildung. 13

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Der hier in Fage stehende "Dialektikbegriff" wurde in 1.2.2 im Rekurs auf Piaton entwickelt. Pierre Grelot: Zehn Überlegungen zur Schriftinspiration, in: Glaube im Prozeß (Festschrift Karl Rahner), Freiburg, Basel, Wien 1984, S. 563-579, hier S. 576: "Einzige, letztlich entscheidende Kriterien sind die Anerkennung und der Gebrauch der Bücher als durch das Wort Gottes Autorität gebend innerhalb der Gemeinde, die Hüterin des wahren Glaubens, und artikuliert durch die Dienste, die sie lebendig machen und die darüber wachen. Diese Gemeinschaft hatte zwei aufeinander folgende Formen: zuerst war sie das Volk Israel im Laufe seiner Geschichte bis zur Zeit des Judentums hebräischer (oder aramäischer) und griechischer Sprache, dessen Erbe die Kirche antrat. Dann war es nach der 'radikalen', in Jesus Christus gekommenen 'Umwandlung', die apostolische und nachapostolische Kirche." Vgl. auch: Karl Rahner: Über die Schriftinspiration, Freiburg u.a., 2 1959„ S. 5 8 . In ihrem Buch: Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie, Freiburg, Basel, Wien 1992, schreiben Christoph Dohmen und Manfred Oeming. "Zusammenfassend kann man sagen, daß Schriftinspiration nach diesem Verständnis eingebettet ist in den Kontext einer konkreten Gemeinschaft (Israel/Kirche), die ihren Ursprung im Willen Gottes hat, so daß Schriftinspiration ein Moment der 'Gemeindegründung' (Erwählung Israel/ Kirchenstiftung) ist. Daraus folgt, daß die Offenbarung über die Inspiration einer bestimmten

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gehören also zusammen. Für die Kanonbildung ist die Regel der Wiedererkenntnis entscheidend. Im nächsten Kapitel will ich zeigen, wie diese Regel lektoral ausgestaltet wird und dem Leser vorschreibt, wie gelesen werden muß. Die Schrift legt sich im Projekt einer Schauspiellehre durch Geschichten selbst aus. Die vom urchristlichen Hermeneuten vollzogene Relektüre der Imago Dei aus Genesis 1 beschreibt einen transzendentalhermeneutischen, innertextuellen Zirkel, der in den nächsten Kapiteln durch die Reformulierung der reformatorischen Affektionenlehre nachgezeichnet werden soll.

Schrift dadurch ergeht, daß diese Schrift als Lebensvollzug der Glaubensgemeinschaft entsteht und in dieser Glaubensgemeinschaft (produktiv) rezipiert wird. Diese spezifische Form der Rezeption, die das zutage fördert, was Inspiration aussagen will, stellt zugleich den Ausgangspunkt des kanonischen Prozesses dar, so daß letztendlich Inspiration und Kanon dieselbe Wurzel haben und untrennbar miteinander verbunden sind." Loc. cit., S. 48. Einen vorzüglichen Überblick über Kanonfragen des Alten und Neuen Testaments bieten Gunther Wanke: Die Entstehung des Alten Testaments als Kanon, in: TRE 6 (1980), 1-8; Eckhard Plümacher: Die Heiligen Schriften des Judentums im Urchristentum, in: TRE 6 (1980), S. 8-22; Wilhelm Schneemelcher: Die Entstehung des Kanons des Neuen Testaments und der christlichen Bibel, in: TRE 6 (1980), S. 22-48.

Selbstbeglaubigung

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2.2.2 Selbstbeglaubigung Über die Autorität der Schrift Die absolute Metapher vom Gesicht der Schrift betont den integralistischen Anspruch physiognomischer Theologie und wurde gebildet als Korrektiv zweier problematischer Entwicklungen: 1. Die Hypertrophie historisch-kritischer Forschung vollzog sich nicht immer als dialektische Kunst, eine Figur in ihre integralen Teile zu zerlegen und gegenwendig Teile zu einem kompositorischen Ganzen zu ergänzen. Die Integrität des Ganzen blieb häufig unterbelichtet. Eine unorganische Segmentierung des Schriftkörpers war die Folge. 2. Nach dem Verfall der altprotestantisch-orthodoxen Inspirationslehre verankerte Theologie in der Nachfolge Lessings und Schleiermachers die Evidenz in der persönlichen Erfahrung. Dabei geriet a) der anmutende Charakter des porträtierten Urbildes Christi aus dem Blick und wurde b) die sakramentale Tiefenschicht des Textmediums allenfalls versteckt unter dem Stichwort "de mediis salutis" verhandelt. Im Gegenzug will die absolute Metaphernsynthese vom Gesicht der Schrift die quasi-sakramentale Gleichzeitigkeit des Urbildes in einzelnen Zügen, also Uterai verschattet, pointieren. Das gelingt, wenn man die porträtierten Gesichtszüge der Schrift als Quasi-Subjekte von Affekten deutet, die eine Grundstimmung erzeugen, die alles Handeln und Denken der Leser durchstimmen. Das soll die These sein. Angestoßen wird dieser Perspektivenwechsel von der französischen Phänomenologie und Post-Hermeneutik, die das subjektkritische Geschehen der Lektüreerfahrung auszeichnet und von Lévinas auf den Punkt gebracht wird: "Wir sind vom Buche her"16 Wie gesehen: Französische Philosophie beschreibt den Prozess durch den einer Mimesis oder Schriftkonformität, und Luther hatte den gleichen Sachverhalt im Blick, wenn er von "affectus" sprach. Der Begriff des "afifectus" teilt mit dem der Mimesis die qualifizierte Unschärfe - die so justiert wurde: - Die Tiefendimension menschlicher Lebendigkeit offenbart sich in konkreten Relationen. In diesen Relationen erfahrt der Mensch die

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Emmanuel Lévinas: Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe, loc. cit., S. 53

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Wirklichkeit hautnah. Kognitive Wirklichkeitsbeschreibungen greifen zu kurz, um den intriganten Charakter der Wirklichkeit auszuloten. - Affekt meint sodann die konkrete Befindlichkeit des Menschen oder die Personmitte, auf die hin alle Lebenserfahrungen integral bezogen werden 17 . - Ist die Bibel ein Subjekt von Affekten18 dann begegnet der Leser hier einer Wirklichkeit, zu der er sich nicht nicht verhalten kann. In der Pluralität der porträtierten Gesichtszüge drängt sich dem Leser eine Wirklichkeit auf, zu der er sich verhalten muß. Über die Autorität der Wirklichkeit, die sich dort erschließt, entscheidet das Verhalten des Lesers, der auf das Angebot zu reagieren hat. Erst die sogenannte Altprotestantische Orthodoxie transformierte unter dem Druck der Gegenreformation die affectus-Lehre Luthers, die sich zunächst nur auf den Titel der Autorität beschränkte, zu der Lehre von den vier affectiones: auctoritas, perspicuitas, efficacia und

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Ich darf hier noch einmal abkürzend auf die ganz ausgezeichneten Arbeiten von Günther Metzger: Gelebter Glaube, loc. cit., und Reinhard Schwarz: Fides, spes und Charitas beim jungen Luther, loc. cit., verweisen. Schwarz erinnert an die Facies-Lehre Luthers, die der von Gerson übernommen hat: "Die von Gerson übernommene Bezeichnung facies für die mens mit ihren zwei Kräften des Verstandes und Willens prägt Luther eigenwillig um, indem er nicht nur dem Angesicht der mens das sinnliche Vermögen als Rücken entgegensetzt, sondern auch die mens nur in der Hinwendung zu Gott als Angesicht anspricht und damit dem Begriff'facies' den neutralen Charakter nimmt. (...) 'Facies' ist die mens nur dann, wenn sie in der Erkenntnis Gottes von Gott erleuchtet und für Gott erkennbar ist, wenn die Korrelation des von Gott-Erkanntwerdens und des Gott-Erkennens hergestellt ist." (118f.) Bei Schwarz fällt auch bereits das Stichwort der affektiven Betroffenheit: "Die affektive Betroffenheit von der erkannten Wahrheit schließt den Willen ein, sich jener Wahrheit gemäß zu verhalten und nach ihr zu handeln." (130) Einen Abriß zur Wortgeschichte bietet das Historische Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gerd Ueding; Tübingen 1992, Bd. 1, S. 218-253; vgl. auch Birgit Stolt: Lieblichkeit und Zier, Ungestüm und Donner. Martin Luther im Spiegel seiner Sprache. In: ZThK 86 (1989), S. 286f.

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Daß bereits bei Luther die Bibel Subjekt von Affekten sei, legt die Interpretation von Metzger nahe. Ganz ausdrücklich vertritt die Barocktheologie dann diese These.

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sufficientia19 Welches Gesicht bekommt zunächst der Begriff der Autorität, wenn die Idee verbaler Inspiration unzumutbar geworden ist? Evangelisten und Apostel sind Schriftsteller, die keine Beteuerungsprosa geschrieben haben und alles andere als literarisch unschuldig waren. Das allein macht es unmöglich, hinter dem Text der Bibel einen "reinen" historischen Jesus ausfindig machen zu wollen. Der biblische Christus ist immer eine ästhetisch verdichtete Person. Drei Teile soll das Kapitel haben. In einem ersten Kapitel untersuche ich die Rede vom Autor unter den genannten Bedingungen. Im zweiten Teil interpretiere ich eine Leseszene, die Wirklichkeit autoritativ erschließt. Schließlich folgt ein Abschnitt über Autorität und Kritik: Wo haben sich die Schriftsteller verschrieben? Wie also steht es um die urchristliche Lektüre? I.) Von impliziten Autoren und impliziten Lesern. Soviel ist sicher: Die Urschriftsteller intendieren in ihrer fiktionalen Arbeit, den Leser in die Geschichte zu verstricken, und zwar so, daß er beim lesenden Nachschreiben der konfigurierten Textwelt selbst zu einer Postfiguration genötigt wird. Wie aber muß man den Prozess beschreiben: als Strategie des Autors, als immanente Strategie der Konfiguration oder als emanzipierte Antwort des Lesers?20 a) Wer die Autorenperspektive und damit die Rhetorik ins Spiel bringt, macht sich nur dann unmöglich, wenn die These semantischer Autonomie schlechterdings Maßstab philosophischen Geschmacks ist und sich somit die Frage nach dem Autor verbietet. Von Autonomie zu reden macht durchaus Sinn, wenn man den Gestaltcharakter außerordentlicher Texte profiliert. So perspektiviert, droht kein Rückfall in die Autorenpsychologie, weil gar nicht der reale, sondern der implizite Autor Gegenstand der Untersuchung ist. Wer aber wäre der implizite Autor der Heiligen Schrift? Offenbar gibt es deren viele, die darin konvergieren, eine oral vorgeführte Strategie individuell umzusetzen. Das ergibt nur dann ein homogenes Ganzes, wenn der Leser alle Bücher und Stile 19

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Vgl. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu herausgegeben und durchgesehen von Horst Pöhlmann, Gütersloh 1 1 1990, S. 17-79; ferner: Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, 2 Teile, Gütersloh 1964, 1966 Das sind die Fragen, die Ricoeur oben aufgeworfen hat.

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als vielfaltige Gestaltungen von Ausdruckserfahrungen begreift. Hier besitzt die Rede vom impliziten Autor ihren angemessenen Platz und die Rhetorik der Fiktion ihre Berechtigung. b) Verschoben wird die Sichtweise, wenn eine Rhetorik zwischen Text und Leser oszilliert. Gibt es eingeschriebene Lektürevorschriften im Text der Heiligen Schrift? Ricoeur dechiffrierte, wie oben gesehen, die Rede von einer eingeschriebenen Lektürevorschrift als latenten Terrorismus, weil der Leser durch die gewollte Prädestination von Lektüresichtweisen ständig heimgesucht wird. Und: Inhäriert nicht oft den Enden der Parabeln, dem fabula docet, eine latente Gewalt? Fraglos ist den "Festschreibungen" lektorale Gewalt eigen. Wie also müßte man den Sachverhalt beurteilen, wenn sich diese gewaltsamen Abschlüsse als Verschreibungen zu erkennen geben, als antiinspirierte Appendixe? c) Der Text der Heiligen Schrift überschreitet die rhetorische Perspektive der Lektüreerfahrung - gleichwie, ob dabei der Akzent auf den impliziten Autor und dessen Botschaft oder auf die eingeschriebene Lektürevorschrift fallt - indem der Text der Bibel selbst zeigt, wie Leser auf die ausgelegten Strategeme des Textes reagieren: einmal etwa anhand der beteiligten Personen der Parabeln und Leseszenen, dann aber auch an der (zuweilen verfehlten) Lektüreperspektive der Urgemeinden. Wie also affiziert ein Werk durch seine Wirkung den Leser? Diese Frage beantwortet nicht länger nur eine Rhetorik, sondern damit verschränkt eine Ästhetik der Lektüre. Nochmals: der Gestus einer Rhetorik der Überzeugung lebt von dem ehrenwerten Antrieb, dem Leser die Sache leichtmachen zu wollen. Eine Phänomenologie oder Ästhetik der Lektüre stellt die Perspektive moderat um: Wer eine Sicht der Wirklichkeit einklagen will, die nicht kompatibel mit der vertrauten Ordnung ist, kann es dem Leser nicht immer leicht machen. Die Strategie ist eine doppelte: einerseits baut der Autor mit dem Leser ein Vertrauensrepertoire auf, indem er seine Geschichten im vertrauten Alltagsleben spielen läßt; andererseits praktiziert er die Strategie des radikalen Unvertrautmachens aller alltäglichen Normen, die dem Leser den Boden unter den Füßen entzieht. Biblische Texte kommen dem Leser entgegen, indem sie ihm nicht nur eine, sondern viele Szenen vorspielen, die die Phase der Desorientierung und der neuen Orientierung vorspielen; sie machen es dem Leser schwer, weil sie eine

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Erfahrung inszenieren, die der latenten Desiüusionierungsunwilligkeit der Leser immer entgegensteht. Verlangte altprotestantisch-orthodoxe Lektüretheorie einen unmündigen Leser, so erfordert dagegen der Text der Bibel offenbar einen mündigen Leser, der den dynamischen Vorgang zwischen konfigurierter Erfahrung auf der Strukturebene und der refigurierten auf der affektiven Erfahrungsebene nachvollziehen kann: am Anfang wird der Leser bei der alltäglichen Wahrnehmung abgeholt; dann folgt die Phase der Instabilisierung; abgelöst wird sie durch die fiktionale Desillusionierung der Wirklichkeitserfahrung; schließlich die aufgenötigte Postfiguration: Der Leser identifiziert sich mit einer Weltsicht, einem Helden, und verdichtet das Gelesene zu einem Gesichtszug, nach dem er sein eigenes Leben formt. In der Fülle der Geschichten bieten sich dem Leser viele Gesichtszüge oder Schemata, die er auf sich metaschematisieren muß21. Gelingen und Mißlingen dieser Metaschematisierung zeigt der Text - hierin kommt er dem Leser entgegen - etwa am impliziten Leser22 der Parabeln, der sich im wirklichen Leser konkretisieren muß. Anders gewendet: Das vorgegebene Schema muß durch den wirklichen Leser in die Wirklichkeit umgesetzt werden und jede neue Formgebung, die er dem Schema, das er nie füllen kann, abnötigt, bringt eine neue Facette religiöser Lebensform dem christlichen Gesamtleben hinzu23. Offen bleibt damit folgende Frage: Kommt dem Werk eine transhistorische Autorität, Klassizität also zu, oder bleibt das dialogische Verhältnis zwischen Text und Leser abhängig von den Zeitstellen beider, 21 22

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1. Kor 4, 6 Wolfgang Iser hat die Kategorie des impliziten Lesers eingeführt: "Fassen wir zusammen: Das Konzept des impliziten Lesers ist ein transzendentales Modell, durch das sich allgemeine Wirkungsstrukturen fiktionaler Texte beschreiben lassen." In: Der Akt des Lesens, loc. cit., S. 66. Dient die Kategorie des impliziten Autors dazu, den Vorwurf der "intentional fallacy" auszuräumen, so die des impliziten Lesers dazu, dem der "affective fallacy" vorzubeugen. Treffend schreibt Ricoeur: "Die Phänomenologie des Akts des Lesens dagegen bedarf, um dem Thema der Interaktion wirklich gerecht zu werden, eines Lesers aus Fleisch und Blut, der dadurch, daß er die im und durch den Text vorstrukturierte Leserolle ausfüllt, diesen transformiert." In: Zeit und Erzählung, Bd. III, loc. cit., S. 277.

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hier der Text, dort der Leser, so daß der Leser erst einmal zu eruieren habe, auf welche Frage der Text jeweils eine Antwort gibt? Gadamer bestimmt in der Spur Hegels den Begriff des Klassischen wie folgt: "Klassisch aber ist, wie Hegel sagt: 'das sich selbst Bedeutende und damit aus sich selber Deutende.' - Das aber heißt letzten Endes: Klassisch ist, was sich bewährt, weil es sich selbst bedeutet und sich selber deutet; (...) eben das besagt das Wort 'klassisch', daß die Fortdauer der unmittelbaren Sagkraft eines Werkes grundsätzlich unbegrenzt ist."24 Hier springt ins Gehör, wie nahe Hegel - mutmaßlich bewußt - in seiner Ausdeutung des Klassischen dem reformatorischen Schriftverständnis geblieben ist: scriptura sui ipsius interpres, die Schrift interpretiert sich selbst, oder wie Calvin sagt: "(D)ie Schrift trägt ihre Beglaubigung in sich selbst "25. Nun mag man hier einwenden, die Anknüpfung, dort also, wo der Leser abgeholt wird - z.B. in den Parabeln -, beziehe sich auf eine Welt, die nicht mehr die unsere sei. Das trifft fraglos zu. Gleichwohl bleibt das Argument in Geltung, die Struktur der Refiguration von konfigurierter Erfahrung sei unabhängig vom zeitlichen Index: Die Ordnung der natürlicher Ausdruckskraft oder die Ordnung relationaler Lebendigkeit setzt sich fiktional gegen eine andere sekundäre Ordnung durch, wie auch immer diese sekundäre Ordnung im einzelnen zeichentheoretisch konstituiert sein mag. Es differiert zwar der Anknüpfungspunkt, das Repertoire der Verunsicherung aber bleibt in Geltung. Dieses Argument allein genügte, der Heiligen Schrift das Prädikat "klassisch" zuzusprechen. Es kommt ihr in zweiter Potenz zu, weil die Schrift, wie gesagt, in exemplarischen Gestalten vorfuhrt, wie man auf die außerordentliche Erfahrung in objektiven Gestalten reagieren kann. II.) Die Autorität der Wiedererkenntnis. 'Gesicht der Schrift' lautet die absolute Metapher der Theologie. Das war die These. Sie bringt die Ausdrucksdimension, die natursprachliche Leib-Semantik der Schrift auf den knappsten Nenner. Jetzt geht es um die Grammatik dieser Metapher. Die Arbeitshypothese lautet: Die Grammatik dieser Metapher bedient sich sinnlich perzipierbarer Ausdrucks- oder Leib-Semantik. Räumliche Oppositionen: oben - unten, innen - außen werden verschränkt mit 24 25

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, loc. cit., S. 273f. Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion, loc. cit., S. 48.

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visuellen Oppositionen wie etwa verschleiert - entschleiert, und die Leseevidenz szenisch motiviert. Inszenatorisch baut der Text einen durch Leib-Semantik strukturierten Plot au£ der den Leser26 affektiv lenkt und sein Sensorium schult. Das die Rezeption steuernde Lenkseil, das den Verstehensprozess leitende Repertoire sinnlicher Kommunikationsleistungen trifft idealtypisch auf die Parabeln zu: der Urdramaturg erzählt Parabeln vom Himmelreich (oben) zu ebener Erde (unten), der Körper (außen) ist symbolischer Ausdruck des Inneren (innen) und erlaubt eine neue Weltsicht (Entschleierung) im Unterschied zur alten (Verschleierung). Eine über die Gestalt-Semantik, über das leibliche und emotive Vokabular narrativ ausgelöste Aufmerksamkeit weist den Leser in eine Wahrnehmungssituation ein, die ihn der Souveränität von handlungs- und erkenntnistheoretisch bestimmter Wirklichkeitsdeutimg beraubt. Eine Reflexion auf den leib-räumlich gesättigten Bilderhaushalt eröffiiet einen sinnentheoretischen Zugang zum Geschehen der Wahrnehmungsneujustierung und macht zudem deutlich, wieso primordial nicht eine diskursive Wortsprache sinnkonstitutiv sein kann: Sinn konstituiert sich in der Transparenz des Ausdrucks. Wahrnehmen und Verstehen, Ausdruck und Bedeutungskraft sind identisch. Soviel läßt sich an der Binnenstrukturierung der Texte ablesen: immer geht es um eine sinnliche Ansprechbarkeit durch die Ausdrucks- oder Leib-Semantik der Texte27. Sie ist dem Menschen wörtlich auf den Leib geschrieben. Physiognomik oder Morphologie als Leib- oder Gestaltkunde profitiert davon, daß der Mensch am eigenen Leib das Raumschema oben-unten, innen-außen, entschleiert-verschleiert erfährt und sofort anspringt, wenn Texte das Schema anlegen. Ausdrucksgestalten 26

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Dieses Thema wird aktuell neu diskutiert bei Walter Seidel (Hrsg.): Offenbarung durch Bücher? Impulse zu einer Theologie des Lesens, Freiburg, Basel, Wien 1987: Ludwig Muth: Lesen - ein Heilsweg. Vom religiösen Sinn des Buches. Freiburg, Basel, Wien 1987. Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher, Freiburg, Basel, Wien 1985; bereits 1952: Romano Guardini: Lob des Buches, Basel 1952. Das wichtigste Buch zum Thema stammt von Edgar V. McKnight: Postmodern Use of the Bible. The Emergence of Reader-oriented Criticism, Nashville ^199o. Daß physiognomische Romane betont räumliche und leibliche Metaphorik investieren, zeigt die oben zitierte fulminante Arbeit von Andreas Käuser, loc. cit., S. 241 ff.

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vermag der Mensch zu verstehen, sprich: wiederzuerkennen, weil er - die Sprache verlangt jetzt einen ontologischen Satz - Ausdrucksgestalt ist, dem es in seiner Gestalthaftigkeit um diese selbst geht. In den gelungensten Partien konstelüeren biblische Texte eine Ur-Figur, die auf dieses Wiedererkennen abzielt. Wie gesagt: Urfigur, eine Figur, die sich spröde gegenüber jeder wie auch immer lancierten historistischen Relativierung zeigt. Alle Vorwürfe, die Rede einer Urfigur sei "der Versuch, bestimmte Sprachspiele, Sozialpraktiken oder Selbstauffassungen zu verewigen" 28 , laufen leer. Offensichtlich gibt es ein das Verstehen dominierendes Modell, eben jenes, das zur Leibhaftigkeit, in theologischer Sprache: zur Urbildlichkeit des Menschen gehört. Irreduzibel. Auf der Basis einer physiognomisch-moiphologischen Tiefengrammatik will ich jetzt an einem exemplarischen Fall die Gestalt-Metaphorik testen - alle Metapherngebirge zu durchklettern wäre die Aufgabe einer ausgeführten Metapherngeschichte des Alten und Neuen Testaments. Gleichermaßen leicht und schwierig ist die Wahl eines Textes, in dem der Raum einer anderen Ordnung Ereignis wird, weil alle zentralen Geschichten nach einer Semantik des Leibraumes geordnet sind29, die die Nähe des Himmeheichs verbuchen. Ich wähle, ohne zunächst die Kriterien für die Wahl anzugeben, die Beispiel-Geschichte des "Barmherzigen Samariters" und frage also, wie in dieser Geschichte Leseevidenz durch die qualifizierte Anordnung von Leib-Semantik erreicht und eine Grundstimmung durch emotives Vokabular erzeugt wird. Keine andere Parabel verfahrt bei einem minimalen Aufwand topographisch so genau wie die aus Lk 10. Ort des Geschehens: der Weg vom höhergelegenen Jerusalem hinab nach Jericho. Offenbar für die Zuhörer eine bekannt unsichere Wegstrecke, die nur evoziert werden muß, damit der vorverständige Adressat sich minutiös die Szene ausmalen kann. Zugleich unterbreitet der Text durch die topographische Vorgabe ein Angebot, wem der Überfallene zuzurechnen ist: den dort ansässigen Juden nämlich. Dieser, von Räubern seiner Kleider beraubt und halbtot 28 29

Richard Rorty: Der Spiegel der Natur, loc. cit., S. 20. Vgl. auch Lk 11, 34ff.: "Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn nun dein Auge einfältig ist, so ist dein ganzer Leib licht; so aber dein Auge ein Schalk ist, so ist auch dein Leib finster. So schaue darauf, daß nicht das Licht in der Finsternis sei. Wenn nun dein Leib ganz licht ist, daß er kein Stück von Finsternis hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn ein Licht mit hellem Blitz dich erleuchtet."

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geschlagen, sich krümmend vor Schmerzen, auf weniger als die nackte Existenz reduziert, darf Hilfe erwarten, so wird insinuiert, von einem sich nahenden Priester. Obwohl aber der Kleriker ihn sieht, setzt er den Weg nach unten fort. So der lakonische lukanische Bericht. Mit aufreizender Parallelformulierung notiert der Text, wie auch der zweite Vertreter der Kultklasse, ein Levit, ohne jeglichen Anflug von Emotion vorübergeht. Ein himmelschreiender Skandal also. Erst durch das Auftauchen der dritten Figur, eines Reisenden aus einer Sozietät, mit denen die Juden keinen Umgang pflegen, tritt jetzt, nach bereits doppelt enttäuschter Handlungserwartung, die ungewöhnliche Peripetie des Dramas ein. Ein Wunder demnach. Sehen und Erbarmen werden nur beim Samariter im Text zusammengejocht (σπλαγχνίζομαι) 3 0 . Die Pointe liegt in diesem Verb, denn hochgradig doppeldeutig ruft das Prädikat mehrere Konnotationen auf Abgeleitet wird es von: τό σπλάγχτον und dessen Bedeutungen sind: 1. Eingeweide (zumeist eines Opfertieres); Mutterschoß; 2. übertragen: Blutverwandte, das eigene Fleisch und Blut; das Innere, Herz, Gemüt31. Es handelt sich hier also, legt man die etymologischen Resonanzen des Textes wieder frei, um eine typisch lukanische Urbilderkennungsszene. In der geschundenen Existenz erkennt der kultische Dissident aus Samarien das wieder, was ihm denkbar nahe verwandt ist, einen Blutsverwandten nämlich, den die anderen in ihm gerade nicht entdeckt haben. Der Außenseiter tut deshalb alles Menschenmögliche, ihm zu helfen. Er setzt ihn auf sein Tier - man darf vermuten, er habe als Reisender bisher dort gesessen - und bringt ihn in die Sicherheit eines Gasthauses, wo er ihn, selber Gast, einen Tag pflegt und am andern Morgen die Pflegekosten bis zur vollständigen Genesung übernimmt. Soweit der narrative Plot. Was also leistet das Sprachspiel in der vor Augen liegenden Beispielgeschichte? Allein durch den Text gelingt es den Schleier der Wahrnehmung zu lüften: textuell vermittelt erkennt der Leser/Samariter im Anderen den Menschen schlechthin wieder. Die Rahmenerzählung tut dann auch nichts anderes, als dieses Nahegehen zu explizieren: Auf die Frage: 30 31

Lk 10, 33. Für die Griechen ist häufig die Milz Sitz des Gewissens oder des Gemüts. Das Alte Testament kennt die Milz nicht und ordnet das Gewissen den Nieren zu. Vgl. etwa Ps 7,10; 26,2; Jer 11,20.

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"Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe?", folgt als Replik die Gegenfrage, was denn im Gesetze stehe. Typisch lukanisch folgt dann die entscheidende sprachspielerische Volte: πώς άναγινώσκεις 3 2 ? Wie liest du? = Wie erkennst du wieder? Weil der Schrifñí\má\gQ nicht (wieder)erkennt und sich rechtfertigen zu müssen meint - rechtfertigen muß sich nur derjenige, der sich mißverstanden fühlt -, folgt die Bitte um eine Konkretion des Gesetzes: "Wer ist denn mein Nächster"33? Die folgende Beispielgeschichte ist die Lehre. Sie beginnt äußerst ironisch: Ein Mensch - άνθρωπος. Nicht zufallig spielt die Parabel unterhalb von Jerusalem. Die Ortsangabe signalisiert: Hier, in den Niederungen, wird jede religiöse Hochsprache gnadenlos entsockelt. Genau diese Depotenzierung kann die Kultprominenz nicht mitmachen. Eine von etlichen Exegeten hier eingeschaltete Entschuldigung, das Reinheitsgebot verhindere ein unmittelbares Zupacken, ist durchaus am Platze. Juridische Sprachschematisierungen geben den Bück nicht frei auf den Urspielraum des Menschlichen. Weil die Beispielgeschichte hier ein drastisches sensualistisches Szenario - nackt, halbtot, im Staub hegend, kriechend - investiert, wird der Zuhörer/Leser in szenischer Verdichtung affektiv betroffen und ein Resonanzboden freigelegt, der zu schwingen anfängt, bevor unhinterfragt funktionierende Weltbilder und Sprach-Schematisierungen sich melden. Was folgt, orientiert sich konsequent weiter an der morphologischen Semantik Innen-Außen, Oben-Unten, Verschleierung-Entschleierung, denn die Peripetie der Handlung wird von einem Fremden eingeläutet, der von Außen in die Regelwelt des Alltags eintritt und sie grundstürzend umstrukturiert, weil er in dem am Boden hegenden Menschen den erhabenen, urbildlichen Menschen wiedererkennt. Noch im zerschundenen Leib identifiziert der Samariter seinen Blutsverwandten und setzt alles daran, den Anderen wieder wortwörtlich aufzurichten. Alle - auf den ersten Blick hyperbolischen - Handlungen erwachsen aus diesem Entdecken34. 32 33 34

Lk 10, 26. Lk 10, 29. Wolfgang Harnisch schreibt treffend: "Die Hyperbolik, die sich in der Schilderung der Hilfsmaßnahmen abzeichnet, verweist auf einen der Wirklichkeit entzogenen Überfluß, wie er dem Reichtum der Liebe entspricht." In: Die

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Nochmals: was leistet die Gestalt-Semantik? Wie der Samariter soll der Leser/Zuhörer an den Urspielraum des Menschlichen erinnert werden. Narrativ aufgeschreckt, blättert er im Geiste in der Bibel zurück und erinnert sich an die Geschichte von Adam=Mensch, der aus dem Staub geschaffen beseelend aufgerichtet wird. Diese Pointe soll durch die Inszenierung herausspringen. Das also will die Geschichte erreichen: einen Raum zu erschließen, der bisher durch sprachliche Perspektiven verstellt war. Eine Neuschöpfiing im wahrsten Sinne des Wortes. Und äußerst ironisch wird auch der Schriftgelehrte zu dieser Neuschöpfiing genötigt, muß er doch sich mit dem am Boden liegenden Menschen identifizieren. Diese dramaturgisch nahegelegte Entsocklung ist eine in der Bildlogik der Geschichte vollzogene Bildkritik, jener Bilderwelt nämlich, die, strukturiert durch strenge Regeln, bisher die Wahrnehmung strukturierte. Die neue Bildlogik ist der Tod der alten Bilderwelt: "Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war" 35 ? Barmherzigkeit ist die urbildliche Metapher für die Eröffimng eines Urspielraums des Menschlichen, der die sprachlichen Perspektiven, die den Zugang bisher verstellten, durch einen neuen Fluchtpunkt aufhebt. Genau hier, durch die Investierung der physiognomisch-morphologischen Semantik, ereignet sich der Raum des Evangeliums36. III.) Urlektüre. Die testamentarische Form des Evangeliums ist keine reine, und somit ist ein traditionsfreier Ursprung dem Text nicht unmittelbar zu entnehmen. Das auch macht die Rede von einer sakramentalen Tiefendimension des Textes zumindest zwiespältig. Erst die späte literarund formkritische Reflexion der Urkunde ergab, daß nicht einmal die

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Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 1985, S. 284. Das ist richtig, die Pointe liegt aber - und das haben alle Interpreten bisher übersehen - im Akt des Wiedererkennens. Lk 10, 36. In einem Aufsatz streicht Ernst Fuchs heraus: Der Nächste, so Fuchs, sei "das Lesebuch Gottes." Ernst Fuchs: Das Sprachereignis in der Verkündigung Jesu, in der Theologie des Paulus und im Ostergeschehen, in: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation, Gesammelte Aufsätze Bd. I, Tübingen 1965, S. 281 - 305, hier: S. 290. Vgl. auch Ernst Fuchs: Jesus. Wort und Tat, Tübingen 1971; ders.: Marburger Hermeneutik. In: Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. IX, Tübingen 1968. Lk 10, 29.

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testamentarisch mutmaßlich reinste Form, das Gleichnis, von entscheidenden Umstellungen durch die Urgemeinde verschont geblieben war. Auf die historisch-kritische Forschung darf also keinesfalls - wie eine radikale Literarhermeneutik vielleicht will - verzichtet werden. Im Gegenteil. Der Text erfordert eine mit größter philologischer Gelehrtheit vorangetriebene Kunst der Exegese, die Formgestalt der Gleichnisse in ihrer reinsten Form - als testamentarisches Vermächtnis also - zu präsentieren -, freilich immer unter dem Vorbehalt, daß man nur eine Übersetzung der Geschichten des aramäisch sprechenden Jesus vor Augen hat. Zumeist wurden die Gleichnisse vom Himmelreich durch die Urgemeinde im legalistischen Unterton rekapituliert - mit Konsequenzen für die morphologische Formungskraft dieser dramatischen Erzählungen37. Will man also die ursprüngliche Gestaltungskraft der Gleichnisse offenlegen, muß man die Verschreibungen durch die Urgemeinde identifizieren. Physiognomisch-morphologische Theologie ist deshalb auch immer eine stilkritisch verfahrende Theologie. Nur so wird der normative Ursprung greifbar. Nur so ist der testamentarische Charakter der Urkunde zu retten. Nur so läßt sich das formbildende Apriori präsentieren. Das Vermächtnis Jesu besteht in den hinterlassenen Bühnenstücken, die freilich von ihm selbst durch seine eigene Lebensfigur prototypisch aufgeführt wurden. Urgemeindliche Theologie hat die Besinnung auf diese Gleichnisse häufig direkt Text werden lassen: das ist der Anfang ihrer Theologie. Ich will ein Beispiel geben: In der Parabel vom großen Mahl38 endet die traditionsgeschichtlich gereinigte Parabel: "Der Knecht tat, wie ihm befohlen. Und das Haus wurde voll: Gäste allüberall."39 Schließt 37

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Es ist das Verdienst von Weder, auf die rekapitulierenden Verschreibungen der Urgemeinde nachdrücklich hingewiesen zu haben. Hans Weder: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen ^ 1984. Mt 22, 2-14; Lk 14, 16-24; Thomasevangelium Log 64. Zitiert nach Wolfgang Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 2 1990. Matthäus fügt zunächst die Erzählung vom Hochzeitskleid an, dann folgt die bei Matthäus häufig anzutreffende Wendung: "Da wird sein Heulen und Zähneklappen. Denn viele sind berufen, aber wenige auserwählt." (13b, 14); Lukas schließt: "Ich sage euch aber, daß der Männer keiner, die geladen waren, mein Abendmahl schmecken wird." (24)

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dagegen die Parabel mit dem tradierten Epilog, der den Ausschhiß der Erstgeladenen unterstreicht, zeigt der Plot der Geschichte ein tragisches Ende. War das aber die ursprüngliche Intention? "Lebt die Geschichte vom Motiv des düpierten Gastgebers, der es den ursprünglich Geladenen heimzahlen will? Könnte die Schlußszene nicht ebensogut am Ereigniswerden des Festes interessiert sein?"40 Soviel ist sicher: Ginge es dem Gastgeber nur um seinen gekränkten Stolz, dann wäre die Ebene des do-ut-des, die Alltagsperspektive, nicht wirklich transzendiert, und die Geschichten vom Himmelreich blieben im Raster der Alltäglichkeit hängen. Stimmt die These, dann wird man also sagen müssen, die Urgemeinde habe durch eine Akzentsetzung die ursprüngliche Intention verdorben, weil jetzt das radikal Neue - ein nicht auf Heimzahlung gegründetes Ethos - verzeichnet wird. Die Alltagshermeneutik überschreibt hier bis zur Unkenntlichkeit den parabolisch eröffneten Zeit-Spiel-Raum. Wird damit aber nicht rigide die Bibel auf die testamentarische Reinform der Gleichnisse reduziert? Bleibt also nur ein Gleichnisbuch übrig? Das zu fordern, hieße die Pointe verfehlen. Jesu Gleichnisse gewinnen nur Kontur vor dem Hintergrund seines Lebens41. Sie sind eine doppelt intensivierte ästhetische Verdichtung urbildlichen Lebens. Andere, darin mitverstrickte Geschichten, erzählen von der Betroffenheit der Transzendenz durch diese Geschichte(n). An ihnen wird evident, wie die leibhaftig inkarnierte Geschichte des Gleichnisses vom Himmelreich andere Lebensgeschichten stimuliert. Sucht man den Anfang der Theologie im Text der Bibel, dann wird man also sagen müssen: 1. Die urgemeindliche Theologie hat ihre Besinnung auf den parabolisch eröflneten Zeit-Spiel-Raum zu einem theologischen Text werden lassen, der der Erschließung des ursprünglichen Zeit-Spiel-Raums nicht 40 41

So Harnisch, loc. cit., S. 245. Mutatis mutandis gilt das auch für die Bühnenstücke Jesu, die man streng genommen nicht von der Lebensgeschichte Jesu als deren leibhafte Erfüllung loslösen darf. Das ist Jüngels Entdeckung. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, 4. Aufl. Tübingen 1982, S. 395-403; 486f; ders.: Das Evangelium als analoge Rede von Gott, in: Wolfgang Harnisch (Hrsg.): Die neutestanientliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft (WdF 575), Darmstadt 1982, S. 340-366.

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immer gerecht wird. Anders gewendet: die urgemeindliche Theologie traute der Überzeugungskraft der Parabeln nicht und meinte, pädagogisch nachbessern zu müssen. Zwar trifft die Einsicht zu, daß deijenige, der die do-ut-des-Perspektive des Alltags nicht überschwingt, auch mit juridischen Konsequenzen rechnen muß, die Gleichnisse fuhren aber an einigen Agenten ausdrücklich vor, was passiert, wenn die Transzendenz, sprich die Wiedererkenntnis nicht gelingt. Die pädagogische Rekapitualiton ist deshalb häufig nicht nur überflüssig, sondern setzt den ästhetisch perfekten Gebilden einen falschen Kopf auf. 2. Auf die historisch-kritische Exegese darf Theologie im wohlverstandenen Eigeninteresse nicht verzichten. Sie muß allerdings in das oben entwickelte dialektische Maß eingebunden werden. Ihr Ziel kann es nur sein, die Integralität der Wiedererkennungs-Szenen freizulegen. Darin sehe ich ihre unverzichtbare Bedeutung im Gespräch mit der von etlichen Exegeten in Amerika favorisierten holistischen Lektüre. Holistische Lektüre42 geht von den Finalstrukturen der Geschichten aus und versucht, sie integral zu lesen - mit überaus spannenden Ergebnissen. Es fehlt der holistischen Exegese aber das dialektisch-ästhetische Maß, um die harmonische Integralität von Schlüsselszenen freizulegen. Eine Ausdrucksdialektik steht also zwischen einer historisch-kritisch arbeitenden Theologie, die über das Zergliedern das Zusammenfügen zur Gestalt vergißt, und einer holistischen Lektüre, die die ästhetischen Momente eines integralen Ganzen nicht zu bestimmen in der Lage ist.

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Stimmführer der holistischen Exegeten ist Brevard S. Childs. Sein Hauptwerk lautet: Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979; vgl. ferner die informativen Aufsätze: Die Bedeutung des jüdischen Kanons in der Alttestamentlichen Theologie, in: M. Klopfenstein u.a. (Hrsg.): Mitte der Schrift? Ein jüdisch-christliches Gespräch. Texte des Berner Symposions vom 6.-12. Januar 1985, Bern u.a. 1987, S. 269-281; ders.: Biblische Theologie und christlicher Kanon, ThQ 187 (1987), S. 242-251.

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2.2. S Durchsichtigkeit Über die Grundgestimmtheit des Verstehens Die von Luther veqochten Prädikate "Autorität" und "Wirksamkeit" in das Geviert "Autorität", "Durchsichtigkeit", "Vollständigkeit" und "Wirksamkeit" umzuspannen, macht nur Sinn, wenn man sich deutlich vor Augen hält, daß hier einzelne Momente im integralen Prozeß der Schriftkonformierung beleuchtet werden. Wie bereits beim Prädikat "Autorität" geschehen, sollen jeweils aus physiognomisch-morphologischer Perspektive auch die anderen Prädikate neu gefüllt werden: "Durchsichtigkeit" bezieht sich auf die Durchsichtigkeit des Lesers, "vollständig" und "vollkommen" ist eine Schrift dann, wenn sie potentiell alle Leser anspricht; und "wirksam" ist sie, wenn der Leser sein Leben als Geste der erlesenen Wahrheit lebt. Sein = Sein vom Buche her. Die Ursituation des Menschen ist die Lektüresituation. So lautete die aufgelesene Pointe. In phänomenologischer Manier läßt sich das Drama zwischen Text und Leser so beschreiben: Unaufhörlich inszeniert der Text der Bibel ein Ensemble von Situationen, die den Leser in die Grundbefindlichkeit christenmenschlichen Verstehens einüben. Szenische Dramatik investieren die biblischen Schriftsteller, damit dem Leser das sprichwörtliche Licht aufgeht und sich auf dem Antlitz spiegelt: In dem Augenblick, da er (wieder)erkennt, hebt er den Kopf aus der gekrümmten Lesehaltung nach oben und bekommt den durch das Verstehen vom Lesen entbundenen Blick frei auf die Welt, die jetzt, mit den angelesenen Augen, ein ganz neues Ansehen zeigt. Im ersten von drei Teilen skizziere ich den begriffsgeschichtlichen Hintergrund des Perspicuitas-BegrifFs. Was also meint Durchsichtigkeit für den in die Textwelt verstrickten Leser? Anschließend folgt die Konkretisierung anhand einer biblischen Szene, die die okularisierte Evidenz als ultima ratio ausgibt. Schließlich versuche ich ein hermeneutisches Experiment, wie denn die dunkle Stelle, in der von Jesu Schreibübungen im Sand berichtet wird, zu lesen sei. I.) Rückkehr der Pathosanthropologie. Wie für jede Lektüre, so gilt auch für die Lektüre biblischer Texte: Leser müssen die Bereitschaft

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eine geneigte Stimmung bilden die formalen Voraussetzungen der Lektüre. Hollaz betont deshalb ausdrücklich: "Requiritur enim 1. invocatio Dei, patris luminum. 2. notitia idiomatis, quo s. scriptura legitur sive in fonte sive in versione. 3. attenta consideratio phrasium, scopi antecedentium et consequentium. 4. depulsio praeconceptarum opinionum et pravorum affectuum, ambitionis, odii, invidiae, audaciae etc. etc."43 Bereits Luther brachte, wie die Studie von Metzger plausibel machen kann, den Zusammenhang von Verstehen und Affekt auf den Punkt: "Das Verstehen der Schrift ist dann im Ergebnis das Verstehen der Affekte der Schrift und das heißt, sofern sich in den Affekten Wirkung des Heiligen Geistes kundtut: Der mit den SchriftafFekten konforme Fromme steht in der Gleichzeitigkeit mit den vom Geist Gottes getriebenen Autoren der Schrift, so daß die Voraussetzung sachgemäßen Verstehens gegeben scheint."44 Wer sich auf die Affekte der Schrift einstimmt, versteht, oder, anders gewendet: Nur wer affektkonform ist, erkennt wieder, gründet sich durchsichtig und ist mit dem Text gleichzeitig. Niemand anderes als Martin Heidegger wiederholt - vermittelt über Kierkegaard45 - die Perspikuitätsthese in seinem frühen Opus magnum "Sein und Zeit"46. Der Kontext, in dem das Stichwort fallt, beschreibt das "In-sein" des Daseins in der "Welt". Zunächst heißt es von der Stimmung, sie erschließe das In-der-Welt-sein als Ganzes und mache ein Sichrichten auf etwas, den intentionalen Akt also, den sein Lehrer Husserl zum grundlegenden Akt erhoben hatte, überhaupt möglich. In der Stimmung erschließt sich dem Leben, daß es sich unvordenklich in der Welt vorfindet und zwischen den Möglichkeiten, die sich ihm bieten, auch wählen muß. Das macht den Lastcharakter des menschlichen Lebens aus. Nur weil menschliches Leben immer schon in der Welt sinnlich 43

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Zitiert nach Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, loc. cit., S. 61, vgl. S. 149. Mutatis mutandis gilt der Sachverhalt auch für die Kommunikation zwischen Gesprächspartnern. Günther Metzger: Gelebter Glaube, loc. cit., S. 64. Metzger weist auf Vorläufertheorien bei Bonaventura und Hugo v. St. Victor hin. "Glaube ist: daß das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig sich gründet in Gott." Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: ders., Gesammelte Werke, 24. und 25. Abteilung, übersetzt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1957, S. 81. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Gesamtausgabe Bd. 2, loc. cit..

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existiert, kann es überhaupt "gerührt" und von etwas angegangen werden. Gleichursprünglich mit der Befindlichkeit steht das Verstehen als ein Verstehen auf Möglichkeiten: nämlich das Besorgen von Welt, die Fürsorge für die Anderen und die Sorge um sich. Verstehen ist immer ein gestimmtes Verstehen, das zur Mitteilung drängt. "Die Sicht, die sich primär und im ganzen auf die Existenz bezieht, nennen wir die Durchsichtigkeit. Wir wählen diesen Terminus zur Bezeichnung der wohlverstandenen 'Selbsterkenntnis', um anzuzeigen, daß es sich bei ihr nicht um das wahrnehmende Aufspüren und Beschauen eines Selbstpunktes handelt, sondern um ein verstehendes Ergreifen der vollen Erschlossenheit des In-der-Welt-seins durch seine wesenhaften Verfassungsmomente hindurch. Existierendes Seiendes sichtet 'sich' nur, sofern es sich gleichursprünglich in seinem Sein bei der Welt, im Mitsein mit Anderen als der konstitutiven Momente seiner Existenz durchsichtig geworden ist. Umgekehrt wurzelt die Undurchsichtigkeit des Daseins nicht einzig und primär in 'egozentrischen' Selbsttäuschungen, sondern ebensosehr in der Unkenntnis der Welt. (...) Für die existentiale Bedeutung von Sicht ist nur die Eigentümlichkeit des Sehens in Anspruch genommen, daß es das ihm zugängliche Seiende an ihm selbst unverdeckt begegnen läßt."47 Übersetzt man die Situation wirklicher Selbsterkenntnis auf das Sein-in-der-Lesewelt, dann ergibt das: Jeder Leser wird in die Welt und das Netz der dort agierenden Personen mitverstrickt. Leser sein heißt: In-der-Lesewelt-sein. Wie für das alltägliche Insein nach Heidegger, so lassen sich auch hier die Momente des Inseins: Befindlichkeit, Verstehen (Auslegung) und Mitteilung (Rede) ausmachen. Jede Textwelt erschließt sich dem Leser in einer eigentümlichen Gestimmtheit, die sein Verstehen steuert. Ein vom Text her eingestimmter Leser entwirft sich spielerisch auf Identifizierungsangebote und übersetzt das Wechselspiel von ausgelegt-werden und auslegen in eine postfigurative Ausbildung des Erlesenen, die die Evidenz für Andere sichtbar, also mitteilbar macht.

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Ebd., S. 195.

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Primordial zur diskursiven Mitteilung, sprich: zur Aussage48 steht das zu verstehende Ausdrucksgeschehen, das Verstehen, das der Leser durch seinen Lebensvollzug ausdrückt. Jede diskursive Mitteilung steht immer in der Gefahr, sich vom Ort situativer Einsichtgewinnung zu entfernen. Spricht sich Rede verbaliter aus, dann - so Heidegger im poetischen Duktus - "(wachsen) den Bedeutungen Worte zu"49, die sich einem Hörenkönnen auf die Tonalität und die Gestimmtheit der erschlossenen Möglichkeiten verdanken. Perspicuitas oder Durchsichtigkeit bedeutet in der ausgearbeiteten existentialontologischen Lesart, die leicht textuell transformiert werden kann50, zweierlei: 1. Selbsterkenntnis qua Durchsichtigkeit ist kein solipsistischer Akt, sondern immer nur möglich über den Umweg der Lesewelt und ihrer Agenten. 2. Durchsichtigkeit bezieht sich nicht nur auf den Leser, sondern meint gleichursprünglich die unverdeckte Zugänglichkeit der situativ andrängenden Sache, biblisch: das Nahesein des Himmelreichs im Text, ein Nahesein, das ein neues Verhältnis zur Welt, den Anderen und ein neues Selbstverstehen fordert. Ich behaupte nun, daß die affektive Leib-Semantik den Prozeß eines Durchsichtigwerdens stimuliert. Wer auf die Tonaütät der Geschichten und die feste, normierende Gestalt-Semantik, auf das leibliche und emotive Vokabular achtet, dem erschließt sich die christenmenschliche Welt. Welche Grundstimmung aber durchzieht künftig alle Denk- und Handlungsvollzüge? Es ist - im Unterschied zum Lastcharakter des alltäglichen Lebens - die Fröhlichkeit, verstanden zu sein und verstanden zu haben. Zwei Szenen werde ich daraufhin befragen, wie der Text durch die Investierung von physiognomisch-morphologischer Semantik den gelingenden oder mißlingenden Prozess affektiver Konformität vorspielt, so 48

49 50

Heidegger bestimmt in § 33 von "Sein und Zeit" die Aussage als abkünftigen Modus der Auslegung. Ebd., S. 214. Der reife Heidegger hat bekanntlich in seiner Arbeit "Der Ursprung des Kunstwerkes", in: Holzwege, Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, S. 1-74, gezeigt, wie sich in Bauten und Bildern epochal dem Betrachter eine Welt erschließt. An diese Einsicht hat Ricoeur mit dem Stichwort der "Textwelt" (s.o.) angeknüpft

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daß deijenige, der die oben aufgezählten formalen Bedingungen der Lektüre erfüllt, gar nicht anders kann, als (wieder)zuerkennen. Wer aber (wieder)erkennt, ist gleichzeitig. II.) Okularisierte Evidenz. Zwei Grundbegriffe szenischer Einsichtgewinnung wurden bereits auf ihre affektive Grundtönung hin abgehört. Mit Vorliebe rufen die christlichen Schriftsteller eine affektive Betroffenheit auf, die auf das Innere des Menschen zielt und die Einsichtgewinnung vorbereitet: σπλαγχνίζειν. Bei Lukas taucht der Begriff wie gesehen, an prominenter Stelle in der Beispielgeschichte des "Barmherzigen Samariters" auf. Ebenso prominent in der "Schalksknechtsparabel" des matthäischen Sonderguts. Immer auf den Höhepunkten der Dramen leitet dieses Grundwort die Peripetie der Handlung ein. Immer geht es um die plötzlich sich ereignende Wiederentdeckung des Humanen in einem geschundenen, auf ein Niveau unterhalb der Menschenwürde zurückgestoßenen Individuum Immer wird mit dem Akt der Wiedererkenntnis eine Aufrichtung verbunden, eine Restitutio ad integrum: beim Verwundeten, beim verlorenen Sohn, bei der Heilung eines Aussätzigen oder als dauerhafte Haltung des Seins in Christus: Wer in Christus lebt, dem wird die Liebe zum Menschlichen eine dauerhafte AfFektion. Integral gehört neben άναγίγνωσκειν und σπλαγχνίζομαι als drittes Grundwort zur Szene das - vor allem von Lukas mit Vorliebe gebrauchte - χαίρειν. Unnachahmlich genau charakterisiert der griechische Text der Bibel die okularisierte Evidenz durch die Stimmung der Fröhlichkeit: χαίρει ν eben. Gemeint ist die inkarnierte Ausdrucksleistung des ereignishaften Verstehens. Ein verstehendes Gesicht ist immer ein schönes Gesicht - begnadet schön, denn Verstehen in dem hier gesuchten Sinne ist ein gnadenhafler Akt. Wer auf das Antlitz der Schrift, einen ausgezeichneten Gesichtszug stößt und wem dann, gleichsam reflexhaft, das Wort Gott unweigerlich auf die Zunge kommt und in sein Denken einfallt, erkennt, daß er immer schon erkannt ist. Deshalb darf er sich fröhlich aus dem Gegenüberverhältnis des vis-à-vis zurückziehen, um die Erkenntnis im nonverbalen Ausdruck des Gesichts in die Welt zu tragen. Das scheint mir die Pointe der Geschichte vom Kämmerer aus dem Morgenland zu sein, die so endet: έπορεύετο γαρ την όδόν

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αύτοΰ χαίρων 5 1 . Als Agent dieser Geschichte tritt der Spiritus Creator, der heilige Geist auf, der Philippus auf einen sich auf der Rückreise von Jerusalem befindenden Kämmerer treffen läßt; dieser repetiert laut einen Text der Propheten. Philippus stört die sakrale Repetition, indem er die Verstehensfrage aufwirft und damit deutlich macht, daß Lesen und verstehendes Lesen zweierlei ist. "Verstehest du auch, was du liesest" (αρά γε γινώσκεις ά άναγινώσκεις) 5 2 ? Bereits die Frage des Kämmerers, wer in der Jesaja-Stelle 53, die er vor Augen hat, gemeint sei, zeigt, daß jetzt das Verstehen in die Lektüre Einzug gehalten hat, ein Verstehen, das anschließend mit der symbolischen Handlung der Taufe besiegelt wird53. Die für den Leser ungewöhnliche Pointe, die den Umschlag der Handlung unterstreicht, besteht darin, daß nach dem rituellen Untertauchen und der Erhebung zum aufrechten Gang die Fortsetzung des Weges ohne Begleitung des Hermeneuten geschieht. Der hat sich zurückgezogen und konnte sich zurückziehen, weil der Kämmerer das in der Person des Philippus angebotene Verstehen jetzt lebendig ausdrückt und, so darf man die Bildregie deuten, im fröhlichen Ausdruck, der Doxa der Einsicht, seine äußere Pracht bei weitem überstrahlt und diese damit auch relativiert. Für den Leser wird diese Geschichte zum kritischen Impuls, wenn er die Spannung zwischen äußerem Glanz und verleiblichter Erleuchtung als Frage an seine eigene Person versteht. Der Text spielt dem Leser die komplexe Situation des von Einsicht Betroffenen vor. Der Verstehende erkennt, was das Wesen des Menschen ausmacht: fröhlich verstehend verstanden zu ebener Erde seines Weges zu ziehen, um in der eigenen Lebensfigur das Erkannte Gestalt werden zu lassen. Weil diese Geschichte die Szene der Erleuchtung, des fröhlichen Verstehens vorspielt, kann der Leser den Prozeß der Einsichtgewinnung hautnah miterleben. Lesenden wird in der Szene der Einsichtgewinnung ein Verstehensereignis gezeigt, ein Ereignis, das ihnen selbst zum Spielraum des Verhaltens wird, wenn sie sich in diesen Spielraum einzeichnen und den Appellcharakter der Geschichte übernehmen. 51 52 53

Acta 8, 39. Acta 8, 30. Da Lukas die Szene berichtet, darf er von seinen Lesern die Kenntnis der Geschichte des exegisierenden Jesus aus Lk 4 voraussetzen, in der Jesus sich mit der messianischen Prophetie aus Jes 61 identifiziert.

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Die ganze morphologische Topik kommt zum Einsatz: aus der Beugung über den Text folgt das verstehende Erheben des Hauptes; auf das angestrengte Rezitieren folgt die Entspannung der Gesichtszüge im fröhlichen Verstehen; die symbolische Entsocklung wird abgelöst durch den Akt der Aufrichtung: der Adept muß vom erhöhten Sitz der Kutsche hinunter, ganz hinunter - eine symbolische Handlung, die erst mit der erneuten Vertikalisierung, dem Aufstehen endet -; kurz: nichtverstehende, rituelle Repetition schlägt um in entschleiertes Verstehen, das sich im Gesicht ausdrückt. Dieser morphologische Rhythmus zeichnet die komplexe und auf den ersten Bück unübersichtliche Situation der Leseevidenz genau nach - ein Schwung, der sich an den Tiefenschichten, den morphologischen Bedeutungsresonanzen und -knoten der Wörter heftet. Die galt es abzufuhlen. Nur so kommt die morphologische Dramatik der Schriftzüge ans Licht. Wer die Bewegung, den rhythmischen Schwung der Sätze, als Leser nachstellt, tut nichts anderes, als sich in die Szene einzuschreiben. Eine dramatische Metamorphose fand statt, ein Transzendieren im wahrsten Sinne des Wortes. "Gestaltverläufe" springen auf den Lesenden über, bevor kognitiv-moralische Schematisierungen greifen. Im flexiblen Aggregatzustand von Subjektivität, in der Affektivität, tragen sich Gestaltverläufe ein und machen paradoxerweise so den Charakter des Lesers fest. Erst im Kapitel über die Wirksamkeit wird sich zeigen, daß damit dem Leser auch wirklich eine neue Identität zugesprochen wird. Systematische Theologie muß sich auf diese Formierungskraft von Texten besinnen und die Gestaltcharaktere untersuchen, die diese Einschreibung ermöglichen. Ich habe also die physiognomisch-morphologische Semantik als SpielMarke gelesen, die dem Leser eine genau nachvollziehbare Bewegungsanmutung vorschreibt. Der inkarnierte Geist hat feste Züge, die sich dem Leser in dem noch flexiblen, freilich nicht formlosen Aggregatzustand von Subjektivität, in der Sinnlichkeit, einschreiben. Nochmals: Wie gelingt es Texten, Leser zu konformieren, ihnen ein bestimmtes Lebensgefühl einzustiften? Was eine Systematik fester Formen in der Architektur für die bildende Kunst leistet, nämlich das Bewegungsgefühl, die Lebendigkeit und Gestaltungskraft einer Epoche auszudrücken, wird in der Dichtung entsprechend dem Rhythmus

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aufgebürdet54: als Schallrhythmus und als "semantischer Rhythmus der Bedeutungen und Andeutungen ", die das Lebensgefühl ausdrücken. Für die christliche Lebensform haben diese Urform Herder und Schmitz am Archipoem der Genesis und an den Psalmen ausgemacht: Herder entdeckt eine hieroglyphische, der Menschengestalt nachgebildete Grundform im Archipoem. Auf seine poetische Mikrostruktur hin befragt, zeigt der Text, so Herders Einsicht, eine leibähnliche Struktur, verweist doch die Polaritätsstruktur des Lehrgedichts der Genesis auf die zweiseitig-harmonische Gestalt des Leibes. Auch Schmitz entdeckt in den Psalmen das "Grundgesetz der hebräischen Poesie, den sogenannten Parallelismus der Glieder"55, das ständige Heben und Senken der Versfüße. Neutestamentliche Schriftsteller orientieren sich, wie deutlich geworden sein dürfte, ebenfalls an den Gestaltverläufen56 des eigenen Körperschemas: oben-unten, innen-außen, Entschleierung-Verschleierung, gebeugt-aufrecht. Nur eine Gestalthermeneutik, die die Gestaltverläufe offenlegt, kann die Perspikuität der Schrift plausibilisieren. Theologisch theoriebildend ist - jenseits der ermüdenden Debatte um Realismus und Idealismus - das Verstehen der realidealen Bewegungssuggestionen der Ausdrucksgestalt. Wenn überhaupt, dann gibt es eine Leibsynthese zwischen den Schrift- und den Körperzügen, Text-Bild und Körper-Bild. Das morphologische Schema der Schrift und das des Lesers werden konformiert. Nur weil der Leser die Gestalt in festen Zügen inkarniert hat, läßt sie sich auch im Augenblick der Einsichtgewinnung vitalisieren. Wer zunächst in kognitiv-schematisierter Engführung liest, den trifft die Frage

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In einem seiner beeindruckendsten Teile seines Systems der Philosophie: "Der Leib im Spiegel der Kunst", Bonn 1966, Bd. 2, II, hat Hermann Schmitz hier Pionierdienste geleistet. Allenfalls Herder hatte eine vergleichbare Intuition. Dazu Klaas Huizing: Das Erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 141, 464. Die Begriffe "Gestaltverläufe" und "Bewegungssuggestionen" übernehme ich von Hermann Schmitz. Vgl. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 140ff. Ich habe aus der Lektüre dieses Buches viele Einsichten gewonnen. Auch Schmitz spricht an vielen Stellen von "affektiver Betroffenheit".

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des Hermeneuten: "Verstehst du auch, was du liesest" (αρά γε γινώσκεις ά αναγιγνώσκεις) 57 = Erkennst du wieder? Erkennst du dich im Gezüge der Schrift wieder? Erkennst du, daß der Text dich in personam auslegt und inspiriert? Außerordentliche narrative Texte: hier die Ausdruckstexte der Heiligen Schrift ruinieren affektiv die verengende Perspektive, die eine kognitive oder moralische Schematisierung aufbietet, indem sie die sinnlichen Auftriebskräfte stimulieren. Dem verkopften Subjekt widerfahrt die Inspiration verstörend. Unmittelbar evident wird die Inspiration auf dem von Einsicht gerührten Gesicht. Man braucht - wie weiland Paulus - lange, um die errötende Evidenz in eine veritable Theologie zu übersetzen. Darin aber ist die Bibel ausgezeichnete Lehrmeisterin, nicht nur das Gelingen, sondera auch immer wieder das Mißlingen von Verstehen szenisch vorzuführen. Man muß nur auf die semantische Instrumentierung achten, um die affektive Konformierung auch im Scheitern nachvollziehen zu können. Ein idealtypisches Beispiel ist die Parabel vom "Schalksknecht"58. Offensichtlich gehört die Parabel vom Schalksknecht zum tragischen Fach. Zunächst überwiegt die räumliche Semantik des Aufstiegs: Der Schuldner wird zitiert, fallt auf die Knie, der Gläubiger erbarmt sich (σπλαγχνίζομαι), erläßt die Schulden, der Entschuldete steht auf und geht hinaus. Jeder gebildete Leser wird in Vers 28 das Prädikat fröhlich erwarten. Genau dieses Prädikat, gleichsam das Proprium christlicher Erzählkultur, fehlt. Nichts aber ist auffalliger als das Fehlen dieses Prädikats, denn bisher dominiert die glückende Handlungsbewegung. Die Bewegungssuggestion ist eindeutig. Weil das Verhalten des Gläubigers in hyperbolischer Übersteigerung nichts anderes als Fröhlichkeit erwarten läßt, durchschneidet die kühle Sachlichkeit des folgenden Satzes die Hochgestimmtheit des Lesers. Es ist der rhythmische, der morphologische Fehler des Textes an dieser Schnittstelle, der den Spannungsbogen jäh zusammenbrechen läßt: "Da ging derselbe Knecht hinaus." (28) Hier springt die Perspektive um. Auf dem Gesicht des Freigelassenen spiegelt sich keine Einsicht. Der Verstehensspielraum, der sich angesichts der Handlung des Gläubigers erschloß, wird nicht übernommen. Nur 57 58

Acta 8, 30. Mt 18. 23-34(35)

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Die verkörperte Schrift

halbherzig realisiert der Knecht die Möglichkeit, die sich ihm erschließt, halbherzig, weil er sein eigenes Leben nicht dem Spielraum entsprechend ausbildet. Weil das Verstehen nicht gelingt, weil er das Liebesangebot nicht akzeptiert, weil die schöne Geste nicht anverwandelt wird, werden die folgenden Handlungen notwendig häßlich. Die Folgen sind bekannt. Mit der gleichen Überzeichnung, die im positiven Auftrieb Gestalt findet, driftet jetzt die Bewegungssuggestion nach unten. Letztlich triumphiert eine abfallende Handlungsführung. Exemplarisch treffen in dieser Geschichte die zwei Ordnungen aufeinander. Einmal der eröffnete Zeitspielraum der Liebe, dann der Zeitspielraum der Vergeltung. Damit wiederholt sich auf der Bühne des Lesers kontrastscharf das Angebot: entweder im Austrag des Verstehensspielraums entsprechend schöne Handlungen zu vollziehen oder aber im hartnäckigen Nichtverstehen verharrend weiter häßlich zu agieren. So gelesen kehrt sich jetzt die Bewegungssuggestion um. Der verstehende Leser liest nochmals von hinten nach vorne und jetzt wird die fallende Bewegungssuggestion in die aufsteigende aufgehoben. Wer aber auf den Hebreizenden Akt nicht verstehend reagiert, wer hartnäckig die Transzendenz in die andere Ordnung nicht vollzieht und in der alten verharrt, auf den trifft auch weiterhin die juridische Perspektive zu. Ist die These plausibel, der Text der Bibel führe den Prozess der Einsichtgewinnung vor, so daß das Prädikat der Perspicuitas auch auf den Text Anwendung finden muß, dann wird der Leser allen Textstellen mit Zurückhaltung begegnen, die Indiz für eine esoterische Lehre sind. "Und da er allein war, fragten ihn um dies Gleichnis, die um ihn waren, samt den Zwölfen. Und er sprach zu ihnen: Euch ist's gegeben, das Geheimnis (mysterion) des Reiches Gottes zu wissen; denen aber draußen widerfahrt es alles durch Gleichnisse."59 Hier wiederholt sich vor leicht verschobener Kulisse ein Problem, das bereits die Interpretation platonischer Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt: Gibt es eine ungeschriebene Lehre von Plato - oder von Jesus? Eine esoterische Lehre? Das hieße luiterstellen, das Wissen, das Jesus mitteilen wollte, habe die (mögliche) Form einer Aussage über etwas, was der Fall ist. Das kann aber nicht gemeint sein, weil das, was Jesus intendiert, selbst niemals vorhegt. Es gibt keine diskursive Mitteilung außerordentlicher 59

Mk 4,10f.

Durchsichtigkeit

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Geheimnisse. Deshalb, weil Jesus sich von einer instrumenteil verstandenen Schriftlichkeit distanzieren will, wählt er namentlich das Gleichnis. Namentlich Gleichnisse erschließen eine Sicht der Welt, die so nicht wahrnehmbar und in einfachen Sätzen mitteilbar ist. Auch in der schriftlichen Fixierung der Gleichnisse bleibt die indirekte Mitteilung erhalten: der Leser trifft nicht auf einen Lehrtext, sondern wird im Gleichnis auf die Ebene Uterarischer Fiktion verwiesen, die eine Einsichtgewinnung vorspielt60. III.) Skotainos - wie denn das Dunkle zu lesen sei. Eine wechselwirtschaftliche Perspicuitas von Text und Leser zu behaupten, impliziert nicht die These, der Text der Bibel sei an allen Stellen vollständig durchsichtig: behauptet wird nur ein transitiver Charakter von Durchsichtigkeit. Bei leicht verschobenem Bückwinkel bestätigt dieser Satz nur den Common-sense in phänomenologicis, bleibt doch die Totalität der Lesewelt wegen der Horizontintentionalität des Lesers prinzipiell undurchschaubar. Situativ erlesen wird nur ein Ausschnitt der urbildlichen Lebenswirklichkeit, ein Gesichtszug, der freilich ausreicht, um in seinem Licht die dunklen Stellen der Bibel aufzuhellen. Darin besteht der Clou einer morphologischen Lesetheorie: zu zeigen, wie die zunächst verstörende Fremdheit der Geschichten sich plötzlich umkehrt in die Wiedererkenntnis des Uraltwahren, in der Wiedererkenntnis der Imago dei aus Genesis 1 am eigenen Leib. Abschließend eine Probe aufs ExempeL, wie es um die Durchsichtigkeit auch dunkler Textpassagen steht. Von Jesus wurde bekanntlich kein Schriftstück überliefert und die einzige Stelle, die Jesus als Schreibenden zeigt61, erschließt sich dem Leser nicht sofort, weil nicht berichtet wird, was Jesus notiert. In der Geschichte von der "Ehebrecherin" in Joh 8 führen Schriftgelehrte und Pharisäer eine Frau zu Jesus, die auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt wurde. Nach mosaischem Gesetz ein 60

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Ganz anders urteilt Pannenberg, wenn er behauptet, "daß Jesus offenbar auch anders als in der Form der Gleichnisse vom Kommen der Gottesherrschaft geredet hat, die Gleichnisse aber diese andere Form der Ankündigung der Gottesherrschaft schon voraussetzen." In. Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, S. 373, Anmerkung 26. Auch hier besteht eine erstaunliche Parallele zur platonischen Philosophie, wird doch auch von Piaton nur einmal berichtet, wie er eine mathematische Figur in den Sand zeichnet: Menon 82bf.

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Vergehen, auf das die Todesstrafe steht. "Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie ihn nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und bückte sich wieder nieder und schrieb auf die Erde."62 Die Szene ist voller Ironie, weil sie seinen Handlungsplot aufbaut, der bisheriger Praxis widerspricht. Auf eine Frage hin schreibt Jesus mit dem Finger in die Erde, wird nochmals aufgefordert zu antworten, richtet sich auf, antwortet und bückt sich erneut, um zu schreiben. Erst als er mit der Frau allein ist, redet er mit ihr auf Augenhöhe und entläßt sie. Wahrscheinlich ist Jesu Geste ein ironisches Schriftzitat, denn Jes 17, 13 notiert: "Denn, Herr, du bist die Hoffnung Israels. Alle, die dich verlassen, müssen zu Schanden werden, und die Abtrünnigen müssen in die Erde geschrieben werden; denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers." Zunächst hätten die Schriftgelehrten die Geste als Unterschrift unter das mosaische Gesetz deuten können oder zumindest als Aufforderung zu lesen. Spätestens mit der Wiederaufnahme der Schriftgeste nach der Replik an die Schriftgelehrten wird die Geste vieldeutig, weil jetzt der referentielle Bezug sich plötzlich umkehrt: Wer hat sich von der Lebendigkeit abgewandt und nimmt den Menschen nur noch durch juridische Konventionen hindurch wahr?

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Joh 8, 6f.

Vollständigkeit

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2.2.4 Vollständigkeit Über den Gestaltkanon der Schrift το δ'εύαγγέλιον λέγεται μεν πολλαχώς. Das ist die sprachspielerische Quintessenz des folgenden Kapitels. Wie das Sein der Griechen sich nach Aristoteles vielfaltig aussagen läßt - το δ'εύαγγέλιον λέγεται μεν πολλαχώς 6 3 - so auch das Sein der Neuen Welt, - το δ'εύαγγέλιον λέγεται μέν πολλαχώς - vielfältig, weil es sich immer nur paradigmatisch nahebringen läßt. Hinter dieser These verbirgt sich die knifflige Frage: Welche ist die alle mannigfaltigen Bedeutungen durchherrschende einfache und einheitliche Bedeutung des in Jesus gestaltgewordenen neuen Seins64? Fragt man noch einmal nach der Einheit aller erzählten realen und fiktionalen Situationen, in denen das Neue Sein Gestalt gewinnt - und das muß möglich sein, wenn für das Evangelium wie für das Sein der Philosophie gilt, obwohl es vielfaltig sagbar sei, so sei es doch wesentlich eines - dann geht es um die Realpräsenz des Neuen Seins im porträtierten Gesicht. Das ist die These. Gleichnisse und dramatische Szenen sind Darstellungen, in denen sich das Unsichtbare ausdrückt und die Betroffenheit von Transzendenz eine nahegehende Eindrucksgestalt gewinnt. Die Anlage zum Lesen des Unsichtbaren, das war die Prämisse, liegt transzendentallogisch im Gestaltoder Leibcharakter des Menschen begründet. Nur weil eine Gestaltverwandtschaft zwischen Texten und Lesern besteht, kann sich der Leser auch Gestaltverläufe von Texten, die ihm eine bestimmte Bewegungssuggestion zumuten, einleiben. Vollständig können diese Geschichten nur sein, wenn sie idealtypische Verhaltensmuster vorspielen und universalontologisch gedehnt jeden Menschen ansprechen65. Wie aber muß der 63

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Aristoteles: Metaphysik, Griechisch-Deutsch, in der Übersetzung von Hermann Bonitz, neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Horst Seidel, Hamburg 2 1982, 1003 a33. Entsprechend fragte Heidegger: "Welches ist die alle mannigfaltigen Bedeutungen durchherrschende einfache und einheitliche Bedeutung von Sein?" Martin Heidegger: Vorwort zu William J. Richardson: Martin Heidegger: Through Phenomenology to Thought, The Hague 1963, S XI. Die Theologie der lutherischen Orthodoxie versteht unter dem Merkmal der Vollkommenheit und Vollständigkeit: "Wenn wir überhaupt den Weg kennen

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Appellcharakter eines idealen Textes strukturiert sein, damit er jeden Menschen betrifft? In einem ersten Abschnitt untersuche ich genauer den oben bereits benannten Appell- oder Anmutscharakter Heiliger Schrift. Warum legt es sich nahe, die Bibel als Ganze ein Drama zu nennen? Damit die Frage beantwortet werden kann, werden die Naturformen der Dichtung, die Goethe unterschied, gegeneinander abgegrenzt. Ein zweiter Abschnitt bestimmt die emotiven Charakterzüge der dramatischen Hauptperson. Welchen Ausdruck zeigt das Gesicht der Schrift dem Leser? Antwort: Der Leser blickt in ein Gesicht mit gleichermaßen gütigen und ernsten Zügen. Eine Kontrastharmonie also, die Extreme in eine Gestalt bändigt. Das soll die These sein, die später materialiter auszuweisen sein wird. Ich bestimme das Antlitz der Schrift phänomenologisch durch den Begriff der Gestalt und axiologisch durch das Gezweit von Ernst und Güte. Diese Kontrastharmonie muß die Zielvorgabe sein, wenn denn der Beweis erbracht werden soll, das Gesicht der Schrift spreche alle Menschen, in der jeweiligen Eigenart ihrer Charaktere also, an. Ein dritter Abschnitt entfaltet die metakritischen Stilmöglichkeiten der urchristlichen Schriftsteller, die Kontrastharmonie gemäß der eigenen Charakteranlage zu wiederholen - oder zu verfehlen. I.) Bühnenästhetik. Die Intuition, die Heilige Schrift als Drama zu lesen, stammt - wie gesagt - von Lavater: "Von der Biblischen Geschichte, überhaupt oder theilweise betrachtet, muß ich sagen, daß ich nichts Dramatischeres, Schauspielmäßigeres kenne. (...) Die Schrift, das Buch (κατ' εξοχήν, par excellence) stellt uns den Menschen (par excellence) dar, das Sonderbarste, Größeste, was die Menschheit hatte! Sie ist eine Menschenbibliothek ! Ein Geschichtsbuch der interessantesten Menschen, eine Sammlung der besondersten und allgemeinsten Menschengeschichten, eine Dramaturgie, eine Schauspiellehre durch Geschichte."66

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sollen, der zum Leben führt, er auch vollkommen in der Hl. Schrift angegeben sein muß, und dies ist es, was mit der perfectio s. sufficientia ausgesagt werden soll. Gerh. (II, 286). Quod scriptura de omnibus, quae ad salutem consequendam sunt necessaria, piene ac perfecte nos instruat." H. Schmid, loc. cit., S. 56. In meiner ästhetischen Relektüre bestimme ich das Merkmal der Vollständigkeit so, daß alle Leser gemeint sein müssen. Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke, loc. cit., Bd. III, S. lOlf. Lavater kann hier zurückgreifen auf die Arbeit seiner Lehrer Bodmer und Breitinger. So

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Nur sehr sporadisch tauchte in der Neuzeit eine verwandte These auf: "Keine Spekulation, keine Meditation, keine Theorie weiß, daß die Beziehungen Gottes zu uns wesentlich dramatisch sind: Frage und Antwort, Bewegung und Gegenbewegung. In dem Wechsel von Schöpfung und Neuschöpfung, der Methode, nach der Gott selbst handelt, hat das Drama seinen Platz."61 So schrieb treffend Gerardus van der Leeuw. Eine weitere Ausnahme bildet die Theodramatik des Hans Urs von Balthasar, die den Mittelteil eines groß angelegten dogmatischen Triptychons ausfüllt: "Theo-phanie = Ästhetik; Theo-praxie = Dramatik; Theologie = Logik."68 Seine "Herrlichkeit" betitelte Ästhetik nimmt ihren Ausgang von der expressiven Ausdruckshandlung des Jesus von Nazareth: "Das Wort, das Bild, der Ausdruck und die Exegese Gottes, er, der als Mensch den ganzen menschlichen Ausdrucksapparat geschichtlicher Existenz zwischen Geburt und Tod mit allen Lebensaltern, Lebensständen, die einsamen und die sozialen Situationen benutzt, gibt Zeugnis. Er ist, was er ausdrückt, nämlich Gott, aber er ist nicht der, den er ausdrückt, nämlich der Vater."69 Aufgelesen hat von Balthasar seine Gestalttheorie bei Herder70: "Sein ganzes Menschenleben, Wirken, Predigen, Leiden, Auferstehen ist reiner Ausdruck Gottes, ist die höchste religiöse 'Plastik', nicht nur Bild, nicht nur Wort, sondern greifbare Leibhaftigkeit."71 Von Bathasars Theodramatik lebt von dem dramatischen Potential der Eucharistiefeier, das er allerdings ausspielt, um das dramatische Element konfessorisch für den Katholizismus meint reservieren zu können. "Sofern der christlich Handelnde, auch wenn er als 'Held' auf der Bühne agiert, immer in der Nachfolge seines Herrn steht, ja mehr: sofern sein

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stammen etwa aus der Feder Bodmers die Patriarchaden "Joseph und Zulika" (1753) und "Jakob und Joseph" (1754). Gerardus van der Leeuw: Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957, S. 121. Hans Urs von Balthasar: Theodramatik Bd. 1, Einsiedeln 1973, S. 15. Phänomenologische Forschung erarbeitete jüngst auch eine Phänomenologie des Dramas: Józef Tischner: Das menschliche Drama. Phänomenologische Studien zur Philosophie des Dramas. Übergange, Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt Bd. 21, München 1989, S. 22ff. Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 1, Einsiedeln 2 1961, S. 27. Vgl. Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, loc. cit.. Bd. 8, bes. 56, 58. Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit, loc. cit., S. 83.

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christliches Lebenszeugiiis eine dramatische Weise der Präsenz seines Herrn ist, der in seinem 'mystischen Leib' forthandelt und fortleidet, entsteht eine neue Gestalt von Dramatik - voll allerdings nur im Umkreis eines katholischen Kirchenbegriffs."72 Universalontologischer wäre es, vom Schriftkörper auszugehen, der potentiell alle Leser in das Urdrama christenmenschlichen Lebens mitverstrickt. Theodramatik ist Bibliomorphie oder Bibliodrama - lautet die entsprechende basisdemokratische Gegenthese. Besteht aber die gattungsspezifische Zuweisung des Dramas auf die Bibel überhaupt zu Recht? Und wenn ja, gilt sie für die Makrostruktur des Textes oder nur für die Mikrostruktur der Gleichnisse und der Wiedererkennungs-Szenen? Lassen sich im Text der Schrift nicht auch lyrische und epische Momente ausmachen? Um die Frage zu beantworten empfiehlt es sich, die Trias der Naturformen der Dichtung73, die Goethe idealtypisch konturierte und von Schmitz erneut aufgegriffen werden, kurz zu profilieren: die Trias Epik, Lyrik und Dramatik74. Maßstab einer Beurteilung kann nur sein zu fragen, welcher dichterischen Naturform es am besten gelingt, die Betroffenheit von Transzendenz, die zu einer Perspikuität des Lesers fuhren 72 73

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Hans Urs von Balthasar, Theodramatik, loc. cit., S. 108. Johann Wolfgang von Goethe: Naturformen der Dichtung: Noten und Abhandlungen zum Divan: "Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama " In: Johann Wolfgang von Goethe, Werke in acht Bänden, Wiesbaden 1972, Bd. 1, S. 1168f. Herder möchte diese Trias durch das Lehrgedicht erweitern. In seiner hymnisch intonierten Abhandlung: Vom Geist der ebräischen Poesie schreibt Herder: "Eine Poesie, die mir Augen giebt, die Schöpfung und mich zu sehen, sie in rechter Ordnung und Beziehung zu betrachten, überall höchste Liebe, Weisheit und Allmacht zu erblicken, auch mit dem Auge meiner Phantasie und in Worten, die dazu recht geschaffen scheinen - solche Poesie ist heilig und edel." Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, loc. cit., Bd. 11, S. 294. Herder kann zeigen, daß die Urform hebräischer Poesie ein Schema verwendet, das der Körpergestalt abgelesen wurde und damit Wiedererkenntnis ermöglicht. Das trifft auch auf die dramatischen Miniaturstücke der Parabelliteratur zu. Ich schlage vor, Lavaters Mittelbegriff der dramatischen Schauspiellehre zu verwenden, weil es im Urpoem und in den Parabeln um den dramatischen Prozeß der neuschöpferischen Wiedererkenntnis geht.

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soll, darstellend zu inszenieren. Dabei darf der Choc der Betroffenheit weder übermächtig den Leser mit Annihilation bedrohen und ihn vollständig fassungslos machen, noch ihn schwächlich in seiner Fassung sein lassen wie er ist. Dem klassischen Epos eignet eine klar erzählende und gelöste Erzählhaltung. Chocs intendiert der Erzähler allenfalls am Rande. Gelassen kann sich der Leser dem Erzähler anvertrauen, der ihn allwissend sicher durch die Geschichte geleitet. Epen sind notorisch lang, weil der allwissende Erzähler sich auf den Leser verlassen kann, wenn er ihn an einer klar strukturierten Geschichte partizipieren läßt. Weil weder Leser noch Schriftsteller die Fassung verberen, ergeben sich potentiell unendliche (Fortsetzungs)-Geschichten. Anders die Lyrik. Sie ist Ausdruck unmittelbaren Betroffenseins, die die instabile Bannung durch die überwältigende Erfahrung Form werden läßt. "Lyrik appelliert an die Subjektivität des affektiven Betroffenseins und sucht den Menschen mit Wirklichkeit heim, die ihn gewissermaßen anrührt und in die Enge treibt. Sie bringt auf diese Weise eine Rührung, eine Chance der Fassungslosigkeit mit sich, als ob das Eis, auf dem der besonnene Erwachsene sein Leben in entfalteter Gegenwart führt, für einen Augenblick etwas brüchig würde. Aber dabei bleibt es. (...) (L)yrische Dichtung (...) schwebt in lyrischer Labilität über der nur eben angerührten Möglichkeit der Primitivierung und fangt diese in objektivierender Gestaltung ab."75 Weil dieses heikle Schweben zwischen Fassungslosigkeit und Fassung einen hohen Ton verlangt, kann man ihn nicht unbegrenzt durchhalten. Lyrik tendiert deshalb zur kleinen Form, die sich nicht beliebig fortsetzen läßt. Bleibt das Drama. Es ist "wesentlich eine Institution des Angebots spielerischer Identifizierung. (...) Das Drama ruft mit einem breiten Fächer von Rollenangeboten (...) zur virtuosen Erprobung vielseitiger Möglichkeiten der Selbstobjektivierung auf, wodurch der Mensch in spielerischer Identifizierung Formen annimmt, in denen er dem (...) Zwiespalt von Subjektivität und entfremdeter Außenseite mehr oder 75

Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 467. Neben Schmitz ist es vor allem Emil Staiger gewesen, der die Grundformen der Poetik untersucht hat. Vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Freiburg 7 1966. Er hat das Drama unter dem Stichwort "Spannung" abgehandelt. Das scheint mir aber erheblich zu kurz zu greifen.

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weniger entkommt. (...) Die Zusammengehörigkeit von Drama und Affekt ergibt sich aus der Bestimmung des Dramas, Angebot spielerischer Identifizierung zu sein: Nur der Mensch im Bann eines beherrschenden Affekts und seiner Zuspitzung im Konflikt bietet dieser eine bequeme Angriffsfläche. Sonst sind die Leute meist so vieldeutig, zwiespältig oder abgelenkt, daß nicht ohne Weiteres feststeht, was der mit ihnen sich spielerisch Identifizierende als seine Rolle anzunehmen hat; der gesteigerte Affekt gibt dafür eine genaue Vorlage, indem er den Menschen zusammenfaßt und eindeutig macht."76 Durchmustert man den Text der Bibel auf die Naturformen der Dichtung hin, kann man sie unschwer reidentifizieren: die Novellenkränze der Josephsgeschichten offenbaren einen zweifellos epischen Charakter77; alt- und neutestamentliche Hymnen und Liebeslyrik präsentieren idealtypische Lyrikstrukturen und die neutestamentlichen Parabeln sind Miniaturdramen in Reinkultur78, selbst wenn man mit moderner Gleichnisforschung sie mikrologisch noch einmal sauber auf dramatische Tendenzen und Bewegungsmuster hin untersuchen muß. Setzt man eine holistische Lesebrille auf und befragt das Ganze der Bibel auf ihren Dichtungsstatus, dann hängt die Antwort ab von der Bestimmung der Mitte der Schrift. Die Mitte der Schrift habe ich ausgemacht in den Wiedererkennungs-Szenen, in denen der Leser in der Identifizierung mit einem Agenten der Geschichte die ursprüngliche Gestalt christenmenschlichen Lebens wiedererkennt und aus seiner uneigentlichen Ordnung in die Ausdrucksordnung transzendiert. Das geschieht namentlich in den Gleichnissen und Leseszenen. Man wird diesen also dramatischen Charakter zusprechen müssen, selbst wenn einzelne Gleichnisse und Szenen verstärkt lyrische und epische Stilelemente aufweisen79.

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Ebd., S. 469, 470, 469. Den Prozeß des "Eindeutigmachens" beschreibe ich im nächsten Kapitel. Man denke etwa an Thomas Manns Romane "Joseph und seine Brüder". Ich stimme Harnisch zu, wenn er schreibt, die Parabel sei "ein poetisches Kunstwerk: die Miniaturausgabe eines in Erzählung gefaßten Bühnenstücks." In: Wolfgang Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu, loc. cit., S. 105. In einer Magisterarbeit "Die Gleichnisse Jesu in poetischer Perspektive", München 1994, ist Silke Schneider dieser Frage nachgegangen.

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Im nächsten Kapitel will ich die grundsätzlich als Dramen anzusprechenden Parabeln auf ihre Ausdrucksdichte hin befragen. Wie gelingt es ihnen, potentiell alle Leser anzusprechen? II.) Kontrastharmonie. In der hochgradig differenziert geführten Gleichnis-Debatte bestimmt Dan O. Via am nachdrücklichsten die Ausdrucksdimension der Gleichnisse80 Jesu und fuhrt deren stimulierende Kraft treffend darauf zurück, sie seien der "Ausdruck seines Seins"81. Via schlägt vor, die Gleichnisse in tragische und komische zu unterscheiden82. In die morphologische Sprache übersetzt ergibt das: Eine Klasse der Gleichnisse weist tragische Züge auf weil der Spannungsbogen offensichtlich abfallt und die Hauptfigur gleichsam expatriiert, aus dem Horizont des Neuen Seins verwiesen wird. So in der Parabel vom Schalksknecht83, in der Parabel von den törichten Jungfrauen84, den anvertrauten Pfunden85, in der kurzen Parabel vom Hochzeitskleid86 oder den Arbeitern im Weinberg87. Gleichnissen mit einem 'komischen' Finale konvergieren darin, daß der Spannungsbogen nach oben zeigt und die Hauptfigur des Dramas in den Übertritt in die andere Ordnung schafft paradigmatisch im Gleichnis vom verlorenen Sohn88.

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Ich zitiere Via nach der deutschen Übersetzung: Dan O. Via: Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, BEvTh 57, München 1970. Ebd., S. 200f. Vgl. Paul Tillich: Religiöse Verwirklichung, Berlin 2 1930: "(D)ie Schrift (ist) unmittelbarer Ausdruck des in Christus anschaubaren transzendenten Seins. Alle sakramentale Wirklichkeit auf christlichem und protestantischem Boden geht auf dieses Sein zurück." Loc. cit., S. 163. Die oben vorgeschlagene weite Bestimmung des Dramatischen erlaubt es mir, alle Parabeln unter diesem Stichwort zu behandeln. Ich untersuche nicht näherhin die Frage, ob einzelne Parabeln vielleicht eher ein im traditionellen Sinne tragisches, episches, lyrisches, komisches oder dramatisches Gepräge haben. Mt 18, 23ff. Mt 25, Iff Mt 25, 14ff. Mt 22, llff. Dazu vgl. 2.4.3. Mk 12, Iff. Die genannten Parabeln rechtnet Via zu den tragischen. Lk 15, l l b f f

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Nimmt man Vias Einsicht ernst, es handle sich in den Gleichnissen um den Seinsausdruck Jesu89, dann darf man die These so umformulieren: Komische und tragische Finalstrukturen sind der gegenwendige Ausdruck von trauerndem Ernst und erhebender Freude. Parabeln sind Quietive, die die natürliche Einstellung zweckstrukturierter Aktion sistieren und eine Besinnung möglich machen. Gleichnisse erlauben der do-utdes-Perspektive des Alltags gegenüber eine literarische Epoché und zeigen das Gelingen oder Mißlingen einer Transzendierung in die neue Ordnung. Mißlingt die Transzendenz, dann folgt der Absturz in die alte Ordnung, ein tragisches Geschehen, weil keine Aussicht auf Abfuhr der bedrängenden Macht besteht; gelingt die Transzendenz, akzeptiert der Leser die Lenkung und Leitung durch die Beispielgeschichten, ändert sich sein Verhalten grundsätzlich. Bringt man diese Einsicht auf eine Kurzformel, dann ergibt das: Das Antlitz der Schrift, das in den Parabeln Gestalt gewinnt, hat einen gleichermaßen ernsten und hebreizenden Ausdruck. Die geistigen Formationen der Parabeln drohen nicht mit einem gesetzlichen Regelautomatismus, sondern erlauben spielerische Identifikationen, die den Leser behutsam auf Möglichkeiten gelingenden Lebens aufmerksam machen90. 89

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Interpretiert man die Parabeln als Gestalten oder Ausdrucksformen, kann man von einer ästhetischen Autonomie der Gleichnisse sprechen, ohne die Derridasche Überbietung mitmachen zu müssen. Wiederholt hat Oswald Bayer treffend Theologie als Formen Wissenschaft bestimmt und von der Suche nach Motiven abgegrenzt. Jetzt in Oswald Bayer: Handbuch Systematischer Theologie Bd 1, Theologie, Gütersloh 1994. Hierin scheint mir die Grundform biblischer Literatur zu liegen, dem Leser durch Geschichten und Szenen Perspikuität hinsichtlich seines christenmenschlichen Lebens zu erschließen. Alle ausweisbaren biblischen Motive sind strahlenförmig auf diese Mitte hin ausgerichtet. Mitte sind sie, weil sie nicht zählfähige Programme und Motive im engen Sinne anbieten, sondern die Plattform der Selbsterkenntnis bereitstellen, auf der sich alle Leser als Basis einfinden, um dann entsprechend zu reagieren. Die von Theißen unterschiedenen fünfzehn Motive, die den Geist der Bibel umreißen sollen: das Schöpfungsmotiv, das Weisheitsmotiv, das Wunder- und Hoffnungsmotiv, das Umkehr-, Exodus-, Glaubens- und Inkarnationsmotiv, das der Stellvertretung, des Positionswechsels, der Agape und der Selbststigmatisierung, das Gerichts- und Distanzmotiv, schließlich das Rechtfertigungsmotiv, lassen sich nur ausgehend von der Grundsituation der Perspicuitas, der schriftlich ermöglichten Wiedererkenntnis, in den Blick bringen. Gerd Theißen: Die Bibel

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ΠΙ.) Stilgesetz. Jetzt gilt es zu fragen, wie die urchristlichen Schriftsteller auf das Angebot der Gleichnisse und Geschichten stilistisch reagiert haben. Ausgehend von der Kontrastharmonie des Ernstes und der Freude versuchen die urchristlichen Schriftsteller, den dramatischen Stil der Gleichnisse zu wiederholen: Auch sie sind Poeten des Logos. Dabei gewinnt die fundamentale Einsicht in die 'affektive Betroffenheit' von Transzendenz und ihre metakritische Darstellung oder Übersetzung immer Gestalt im Anschluß an die eigenen möglichen Anlagen. Zu einem geflügelten Wort ist das Bonmot geworden, das der Graf de Buffon in seiner Antrittsrede in der 'Akademie française1 gebrauchte: "Le style est l'homme même ,"91 Diese These verweist auf die lange Tradition der humoralpathologischen Temperamentenlehre, die davon ausging, daß das Temperament auf die Eigenart des Schreibens einwirke.92

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an der Schwelle zum dritten Jahrtausend nach Chr. Überlegungen zu einer Bibeldidaktik für das 'Jahr mit der Bibel 1992', In: Theologia Practica, 27 (1992), S. 4-23. Vorgebildet wird Theißens These durch Arbeiten Ritschis, der behauptet, die Lebensdeutung der Bibel lasse sich auf einige wenige "implizite Axiome" zurückfuhren. Dietrich Ritsehl: Zur Logik der Theologie, München ^1988. Er transportiert damit nur eine Einsicht des platonischen Sokrates. "Wie, aber, sprach ich, die Art und Weise des Vortrages und auch die Rede? Folgt diese nicht der Gesinnung der Rede? - Wie sollte sie nicht - Und dem Vortrag das übrige? - Ja. - Also Wohlredenheit und Wohlklang und Wohlanständigkeit und Wohlangemessenheit, alles folgt der Wohlgesinntheit und Güte der Seele, nicht etwa, wie wir auch beschönigend auch den Dummen eine gute Seele nennen, sondern dem wahrhaft gut und schön der Gesinnung nach geordnetem Gemüt." Politela 400df. Dazu: Wolfgang G. Müller: Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1981, dort auch das Buffon-Zitat. Aufgenommen haben den Gedanken die Freunde Lavater und Hamann. Hamann bezeichnet sich in einem Brief an Lavater als einen "Physiognomiker des Styls" ( zitiert nach Ziesemer, Henkel, loc. cit., Bd. III, S 135), und Lavater wendet die fundamentale Einsicht der Verwandtschaft von Schrift- und Gesichtszügen umstandslos auch auf die Schriftsteller an. Er unterscheidet drei religiöse Hauptformen: den "gespannten" oder "hart" genannten Charakter, der sich, so Lavater, in Calvin inkarnierte; die weichlich-weibliche Gestalt, idealtypisch verkörpert durch Zinzendorf; schließlich die "(f)reidahinschwebende, der höchsten Strenge und der schmelzendsten Güte fähig - wie Paulus und Johannes". Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, loc. cit., Bd. III, S. 287f.

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Auch Rambach schrieb deshalb in seiner AfFektenlehre: "Z.B. Paulus hatte von Natur ein temperamentum cholerico-melancholicum, folglich war er in allen seinen affectibus & actionibus hitzig und vehement." 93 Die Texte der Urschriftsteller sind also antwortende Darstellungen auf die Erfahrung einer prototypischen Darstellungsgestalt94, eine Antwort, die selbstredend nicht unabhängig ist von eigenem Temperament und Charakter. Johannes, Paulus und Lukas tönen ihre Briefe und Evangelien anders als Matthäus, Markus oder Petrus und sprechen damit oft auch eine andere Leserklientel an. Es gibt Texte mit einem strengen, mit liebreizenden und Texte mit gleichermaßen Hebreizenden und strengen Zügen. Ihre stilistische Mitte freilich finden die christlichen Schriftsteller in den Zitaten des Urschriftsteilers, der alle Temperamente prototypisch in der Gestalt der christlichen Freude oder Fröhlichkeit versammelt 95 und 93

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Johann Jacob Rambach: Erläuterungen über seine eigenen Institutiones Hermeneuticae Sacrae (1723), Gießen 1738, S. 179. Rambach betont zudem, daß die "heiligen Scribenten" ihrer eigenen Affekte selbst gedenken, "die sie inter scribendum empfunden." (Ebd.) Gerd Theißen wertet in seinem Aufsatz: Die Bibel an der Schwelle zum dritten Jahrtausend nach Chr., loc. cit., diese Vielschichtigkeit als Möglichkeit zum Diskurs mit ganz unterschiedlichen Gruppen: "Das zweite Lernziel eines Bibeljahrs müßte daher lauten: Die Relevanz der Bibel im Diskurs einer multikulturellen Welt deutlich machen - auch bei Gruppen, die bisher von diesem Diskurs ausgeschlossen waren. Auch hierbei können wir uns auf die innere Struktur der Bibel selbst berufen. Sie enthält eine erstaunliche Mannigfaltigkeit: von der pessimistischen Weisheit des Predigers bis zur Christusmystik des Johannesevangeliums, vom kriegerischen Geist des Josua- und Richterbuchs bis zur Seligpreisung der Friedensstifter in der Bergpredigt, von der Liebeslyrik des Hohenlieds bis zum Lobpreis der Askese bei Paulus, von prophetischer Radikalität bis zur 'gesunden Lehre' der Pastoralbriefe. Daß diese Vielfalt durch Grundentscheidungen begrenzt wird - durch die schroffe Alternative zwischen Gott und den Götzen in der ganzen Bibel und die Bindung der Beziehung zu Gott an Jesus im Neuen Testament -, sei ausdrücklich betont. Denn eben diese Exklusivität ist eines der Probleme im interreligiösen Dialog." Loc. cit., S. 8f. Treffend auch die Einsicht: "Zwischen Text und Leser schieben sich ständig anwachsende Fachkenntnisse, Methoden, Theorien", loc. cit., S. 5. Die Religionsphilosophie hat sich sehr selten der Frage der Affekte oder Temperamente gestellt, mit einer großen Ausnahme: In der ersten Auflage seiner 'Religionsphilosophie' untersucht Heinrich Scholz den Einfluß des Charakters und des Temperaments auf die religiöse Lebensform. Heinrich Scholz, Religionsphilosophie, Berlin 1921. Unter "Temperament" versteht er den Grad und die Art

Vollständigkeit

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somit fur alle Typen von Lesern ansprechend wirkt. Die oben im Drama der Wiederkenntnis ausgelöste christliche Freude oder Fröhlichkeit kann alle charakterlichen Gemütsformen in sich aufnehmen. Wie aber spricht der Leser auf die Affekte der Schrift an? Wenn die Bibel eine Schauspiellehre durch Geschichte(n) bietet, müssen Überlegungen zur Anthropologie des Schauspielers den Antworthorizont ausleuchten.

der Erregbarkeit eines Menschen", unter "'Charakter' den Grund für die Bevorzugung bestimmter Tatbestände" (263). "Ich kann einen Tatbestand bevorzugen, weil ich ihn intensiver als einen anderen erlebe. Dann stammt die Bevorzugung aus dem Temperament. Ich kann ihn aber auch bevorzugen, weil er einem Zug meines Wesens mehr entspricht." (267) "Was für eine Religion man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist". So lautet der Schlüsselsatz bei Scholz (ebd.).

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Die verkörperte Schrift

2.2.5

Wirksamkeit

Über die Nachbildung des Christusporträts Durchmustert man die Prolegomena der Tradition, dann fallt sofort auf wie zumeist nach der schlichten Nennung der vierten Affektion, der efficacia, dem Leser die Behandlung dieses Sachverhalts in einem späteren Teil der Dogmatik, in der Lehre von den media salutis, versprochen wird96. Wer vom testamentarischen Status des Buches, wer vom sakramentalen Charakter der Schrift ausgeht und dabei den pädagogischen Eros der niedergeschriebenen Szenen herausstreicht, die immer Mißlingen und Gelingen eines Überstiege in eine andere Ordnung vorspielen, muß die Verhaltensermächtigung der Leser im Lektüreereignis plausibilisieren. 96

Moderne Autoren, die die sprach- und handlungserneuernde Wirkmächtigkeit der Gleichnisse zur Mitte ihrer Dogmatik erheben, besprechen dagegen die quasi-sakramentale Tiefendimension der Parabeln im Kontext gemeindestiftender, kerygmatischer Erfahrungen, indem sie von der ursprünglichen Erzählsituation der Gleichnisse ausgehen. Eberhard Jüngel etwa thematisiert treffend die analoge Rede der Gleichnisse unter dem Stichwort der Selbsterneuerung von Sprache, die Gemeinschaft stifte: "Die Analogie ist als Sprachvorgang ein eminent gemeinschaftsbildendes Phänomen, insofern sie nicht nur die angeredeten Hörer untereinander, sondern auch den von der Analogie angesprochenen Sprecher mit seinen Hörern zu einer Gemeinschaft verbindet, in der der Entdeckungsvorgang des Formulierenden durch seine metaphorische Sprache grundsätzlich einholbar wird. Die Entdeckung teilt sich als Ereignis des Entdeckens mit. Metaphern und Gleichnisse sind als entdeckende Sprache sozial." Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen ^1986, S. 397. Vgl. S. 403, Anmerkung 25: "Jesu Gleichnisse von der Gottesherrschaft leisten also genau das, was Luther der Synekdoche zuschreibt. Doch während die synekdochische Redeweise voraussetzt, daß eine höchst intime Nähe zweier verschiedener Dinge besteht, um daraufhin das eine mit Hilfe des anderen zur Sprache bringen zu können, bringen die Gleichnisse von der Gottesherrschaft, bringt die analogische Kraft des Evangeliums diese besondere Nähe des prinzipiell Unterschiedenen allererst zustande. Die Analogie spricht Gott und Mensch sozusagen zusammen. Insofern ist sie die Struktur des Ereignisses, indem Gott selbst sich dem Menschen so zuspricht, daß dieser von außen und innen dazu bestimmt wird, von Gott zu reden."

Wirksamkeit

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Hinsichtlich des Lesens gibt es keine 'Zulassungs-, Rollen- oder Kooperationsbeschränkungen' wie in institutionalisierten Gemeinschaften97. Wie sieht also eine Postfiguration des erlesenen Originals aus, wenn die Nachspielung des Vorgespielten keinen institutionellen und kultischen98 Beschränkungen unterliegt? Nach der einleitenden Konkretisierung der Theologie als Eindruckswissenschaft vom Vis-à-vis zwischen Leser und Antlitz der Schrift - das Neue Sein präsentiert sich als Antlitz -; nach der Eruierung unterschiedlicher Modi von Wirklichkeitsschwere in der Ursituation des Lesens - Schriftzüge haben differente Gesichtszüge -; nach der Offenlegung einer dramatischen Tiefengrammatik Heiliger Schrift - die Bibel erschließt sich als Schauspiellehre durch Geschichte(n) -; nach Einleitung, Meta-Ontologie und Ästhetik also geht es jetzt um eine Skizze zur Anthropologie des Lesers als Schauspieler. Zunächst porträtiere ich noch einmal die Kategorie des UrSchauspielers, der vielfältige Möglichkeiten der Postfiguration erschließt. Die Heilige Schrift, das ist die These, präsentiert das Bild des ausdrucksstarken Menschen, in dem die Polarität von Innen und Außen idealtypisch harmoniert. Danach folgen Brosamen einer Anthropologie des Schauspielers unter den Bedingungen der Moderne. Gelingt es der Schrift, jedem Leser eine Rolle zuzuschreiben, die ihn gegenläufig zu allen Entfremdungserfahrungen eindeutig macht? Schließlich folgt der dritte Abschnitt. Er konkretisiert die ausgeschriebene These an der Parabel "Vom verlorenen Sohn". I.) Der Urschauspieler. Alle prominenten Voten der aktuellen Gleichnistheoretiker treffen sich in der Einsicht, Gleichnisse seien, wie 97 98

Dazu Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 414. Vor allem die Wortführer der sogenannten "Liturgischen Bewegung" haben die innere Dramatik des Kultschauspiels untersucht. Stellvertretend nenne ich Odo Casel: Mysterientheologie. Ansatz und Gestalt, ausgewählt und eingeleitet von Arno Schilson, Regensburg 1986; dazu: Arno Schilson: Theologie als Sakramentstheologie. Die Mysterientheologie Odo Caséis, Frankfurt am Main ^1987; Romano Guardini: Liturgische Bildung. Versuche, Burg Rothenfels/Main 1923; Wilhelm Stählin: Ecce Homo, Augsburg 1926, ders.: Mysterium. Vom Geheimnis Gottes. Kassel 1970. Einen Pendant hat es in den Niederlanden durch Gerardus van der Leeuw gegeben. Ich nenne die zwei wichtigsten Titel. Geradus van der Leeuw: Liturgiek?, Nijkerk 1946. Sakramentstheologie, Gütersloh 1962.

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Via es stellvertretend formulierte, Ausdruck des Seins Christi, und die anderen neutestamentlichen Sprachformen situationsgebunde Reaktionen auf diese Erfahrungen. Nochmals: Was aber meint Ausdruck? Der Begriff scheint so selbstverständlich, daß er gar nicht ausdrücklich thematisiert wird. Bewußt oder nicht lebt jede theologische Ausdruckstheorie von der Leibnizschen Ausdruckskultur. Es war Leibniz, der das in der Tradition häufig diskutierte Leib-Seele-Verhältnis auf eine neue Basis stellte und damit alle bisherigen mechanischen, deterministischen und okkasionellen Erklärungsschemata überbot. Leib und Seele, so die höchst spekulative Einsicht von Leibniz, sind individuelle Ausdruckszentren, deren perfekter Parallelismus, die polare Zirkularität von Innen und Außen also, ideell ab origine gesteuert wird". Wer die symbolische Form eines Menschen als Darstellung seines Innern, seiner Idee, erfahrt100, urteilt nicht im streng szientifischen Sinne wissenschaftlich, sondern gemäß seiner ausgebildeten ästhetisch-symbolischen Erfahrungen. Nochmals: Ausdrucksgestalten beschreiben integrale Erscheinungsbilder, die sich gegen alle klassischen Dichotomien ontologischer und epistemologischer Provenienz sträuben: weder zeichnen sie sich in die ontologische Urdualität von Sein und Schein, noch in die metaphysische Urdisjunktion von Orginal und Kopie, noch in die erkenntnistheoretische von ideal oder real ein. Ausdrucksgestalten sind realideelle Erscheinungsbilder, die sich seinsoriginär und erkenntnisautonom manifestieren und eine bestimmte Anmutung aus sich erlassen, die den Raum abzeichnet, in dem künftige Verständigung sich abspielt. Übersetzt man diese Ausdruckserfahrung in das Medium der Schrift, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen einer schriftlich 99

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Vgl. Helmuth Plessner: "Im mimischen Ausdruck verhalten sich psychischer Gehalt und physische Form wie Pole einer Einheit zueinander, die man voneinander nicht ablösen und in das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem, von Hülle und Kern bringen kann, ohne ihre gewachsene, unmittelbare und willkürliche Lebenseinheit zu zerstören." In: Lachen und Weinen. Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt am Main 1982, S. 261. Ich interpretiere die Physiognomik also als im goethischen Sinne symbolische nicht als psychologische und damit dualistische - Ausdruckskunde, die untersucht, wie es dem literarischen Porträt gelingt, die Leser zur Nachbildung zu inspirieren.

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vermittelten und der lebensweltlich erfahrbaren Ausdruckserfahrimg. Lebensweltliche Ausdruckserfahrungen unterhegen, so die These, einem Kontingenzbefall, während eine ästhetische Darstellung, namentlich ein schriftliches Porträt die sonst nur flüchtig wahrnehmbare Polarität von Innen und Außen auf dem Hitzepunkt verdichtet und für die Leser leichter wahrnehmbar macht. Das gelingt freilich nur, wenn wie für Leib und Seele auch für Geist und Buchstaben ein Zeichenbinarismus keine Anwendung findet. Körper und Seele, Buchstabe und Geist, beide tiefenstrukturell verwandten Zuordnungsverhältnisse sind nur bei Strafe der Phänomenverfehlung im Kontext binärer Semiotik zu deuten. Weder ist der Körper Zeichen der Seele noch der Buchstabe Zeichen des Geistes. Bedeutung verdankt sich in diesem Konzept der Wahrnehmung einer anmutenden Ausdrucksgestalt, die selbstreferentiell das Sensorium der Leser weckt. Das geschieht, so hatte ich gezeigt, textuell, indem physiognomisch-morphologische Semantik und Stil inszenatorisch den Prozeß der Wiedererkenntnis am eigenen Leib stimulieren.101 Worin aber besteht die ontologische Eigentümlichkeit schriftlicher Porträts im Unterschied etwa zum gemalten Konterfei? Schriftliche Porträts übersetzen die malerische Fixierung in eine feste Schrift-Gestalt und stellen zusätzlich zum räumlichen Hartbild, den physiognomischen Zügen, durch Tonlage, Rhythmus und erzählte Geschichte auch das pathognomische, zeitliche Weichbild der Person dar. Nur eine Collage aus 101

Soeben ist von Gernot Böhme ein sehr interessanter Aufsatzband erschienen. In seinen 'Essays zur neuen Ästhetik', versammelt unter dem Titel "Atmosphäre", Frankfurt am Main 1995, steht die Physiognomik zentral. Auch Böhme schlägt vor, Physiognomik ohne die "fragwürdige Hypothese über das Innere des Menschen" (122) fruchtbar zu machen. Böhme rehabilitiert die Physiognomik vor dem Hintergrund der Gadamerschen Vorurteilstruktur im hermeneutischen Geschehen. Zweitens betont Böhme die Funktion der Physiognomik fur die Schauspielkunst, der es darum geht, Athmosphären - den Begriff übernimmt Böhme von Schmitz - zu erzeugen. Böhmes Interpretation trifft sich mit dem von Gurisatti und mir vorgeschlagenem Versuch, Physiognomik nicht als strenge Semiotikwissenschaft sondern als ästhetische (Lese)Erfahrungswissenschaft zu betreiben. Für eine theologischchristologische Physiognomik ist die Dialektik von Innen und Außen unproblematisch, weil im literarischen Porträt Christi hier keine Differenz besteht. Die schauspielerische Nachbildung dieser Einheit von Innen und Außen ist eine Zielbestimmung, die sich in der lebenspraktischen Figur bewähren muß.

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Schriftikone und Schriftszenik drückt integral die lebendige Ausdruckskraft eines Individuums aus: es ist der Zeit-Spiel-Raum dieser Gestalt.102 Wie für Porträts, so gilt auch für die schriftlichen Porträts: sie sind "weder eine rein oberflächliche Kopie noch eine die Tiefe lediglich symbolisierende Erfindung. Gerade darin Hegt die ontologische Grundlage: das weder nur produktiv noch nur reproduktive Bild übersetzt die dem Original eigene 'ausdruckshafte Polarität1 von der Sphäre der Wirklichkeit in die der Darstellung, um so einen Wirklichkeitszuwachs, d.h. eine ästhetische Wirklichkeit zu erlangen. In seiner Reinheit zeigt sich hier das Phänomen des Ausdrucks."103 Kommt die zirkuläre Polarität von Innen und Außen vollständig in einem Individuum zur Darstellung, dann offenbart sich in dieser Gestalt die integrale Lebensform schlechthin. Alle von den evangelischen Schriftstellern erschriebenen Porträts stellen die zu deutenden Details inszenatorisch zusammen, damit die Leser die transparente Evidenz des Ausdrucks, sprich: das Ur-Bild des Menschen, unmittelbar wahrnehmen können. Psychologische Introspektion wird unnötig, wenn die Seele identisch mit ihrem Ausdruck ist. 102

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Ich muß in diesen Prolegomena leider zumeist auf der formalen Ebene meines Theoriespiels argumentieren. Wie die urchristlichen Schriftsteller ihre Porträtarbeit verrichteten, habe ich in meiner Leseschule: "Lukas als Porträtist" gezeigt. So treffend Giovanni Gurisatti: Die Beredsamkeit des Körpers. Physiognomik des Schauspielers bei Lessing und Lichtenberg, in: Vierteljahresschrift für Geistesgeschichte, 67 (1993), S. 393-416. Vgl. Lavater: "Jedes vollkommene Porträt ist ein wichtiges Gemälde, weil es uns eine menschliche Seele von eignem persönlichen Charakter zu erkennen giebt; wir sehen in demselben ein Wesen, in welchem Verstand, Neigungen, Gesinnungen, Leidenschaften, gute und schlimme Eigenschaften des Geistes und des Herzens auf eine ihm eigne und besondre Art gemischt sind. Dieses sehen wir sogar im Porträt meistentheils besser als in der Natur'. So ist's mir einleuchtend wahr, daß sich aus einem recht guten Porträt mehr Kenntnis des Menschen schöpfen läßt, als aus der Natur." Hier belegt nach der nur schwer zugänglichen Gesamtausgabe: J.C. Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe ,loc. cit., Bd. II, Fr. IX. Lavater zitiert in dem Text aus Sulzers 'Allgemeine Theorie der Schönen Künste'. Auf Gadamers Theorie des "Seinszuwachses" habe ich bereits mehrfach verwiesen. Gadamers Hermeneutik bildete den Auslöser für den vorliegenden Versuch, die Heilige Schrift ästhetisch zu deuten. Sie geht glücklich zusammen mit der Intuition Lavaters, der die Bibel als Schauspiellehre durch Geschichte qualifizierte. Vgl. zum Begriff des Porträts auch Robert Nozick: Vom richtigen, guten und glücklichen Leben, München 1991, S. 9ff.

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Darin also besteht das textuelle Surplus der dramatischen Geschichten vom Himmelreich im Unterschied zum Bild des Menschen in der Wirklichkeit (aber auch im Unterschied zum Bild des Menschen in rein illusionärer Literatur): Die Schriftsteller verdichten die urbildliche Idee von gelebter Humanität. Die Geschichten der Bibel übersetzen ununterbrochen den Eindruck der Übereinstimmung von Innen und Außen, verdichten ununterbrochen die Ursituation wahren Menschseins, so daß erst hier die eigentliche Wirklichkeitsschwere fühlbar wird und die Idee des Göttlichen auf die Zunge kommt. Anders gewendet: Die dramatischen Texte der Heiligen Schriften machen das Urbild des Menschen bewußt, weil sie es ganz bewußt machen, nämlich verdichten. Im Alltag nur in Grenzsituationen erfahrbar, ist im historischen Apriori des christenmenschlichen Dramas die Urbildlichkeit des gotteskindlichen Menschen eigens Thema. Nur hier geht es um die dramatische Darstellung des Urbildes. Paradox formuliert: Im Zusammenhang der Züge der Schrift wird die außerordentliche Gegenwart104 des Urbildes, die außerordentliche Polarität von Innen und Außen ausdrücklicher, ausdrücklicher, weil die Autoren ununterbrochen das urbildliche Leben dramatisch verdichten und damit ontologisch auszeichnen. Weil die Schriftsteller diese außerordentliche Wirklichkeit (re)inszenieren, wird sie besonders auffällig und hebt sich betont von der alten Ordnung ab; anders gewendet: Weil die Schriftsteller im Drama hermeneutisch verfahren und das, worauf es eigentlich ankommt, expliziter machen, als es im Alltag möglich ist, prägt das porträtierte Bild die Lebendigkeit des Lesers. Diese außerordentliche Darstellung, diese Übereinstimmung von Logos und Fleisch, Innen und Außen, Wort und Tat, ist hier noch hervorgehobener als es in der Wirklichkeit je sein konnte. In der Übersetzung der historischen Gestalt in die Schriftzüge des Textes wird das lebendige Urbild, dort vielfaltig bezeugt, textuell verklärt105. In diesem Sinne steht das erzählte historische Drama jenseits der Dichtung wie auch der Realität. Zwar gibt es die traditionsfreien, testamentarischen Gestalten der Gleichnisse, die als "Zitate"106 104

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Eberhard Jüngel vertritt treffend die Auffassung, Gleichnisse hätten die Form eines Einbruchs der Gottesherrschaft in die Gegenwart der Hörer. In: Paulus und Jesus, Tübingen 1967, vgl. S. 135ff. Joh 16,14. So treffend Paul Ricoeur: Biblische Hermeneutik; in: Wolfgang Harnisch (Hrsg.), Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneu-

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dem Text der Evangelien eingegliedert sind. Den sogenannten historischen Jesus gibt es aber immer nur als verdichteten biblischen Christus107. Π.) Zur Anthropologie des Schauspielers. Die szenische Intentionalität der Bibel will den Leser in ein Gegenüberverhältnis zu dieser Lebensform bringen, um im Akt des Lesens eine spielerische Identifizierung mit dem Gezüge des Ausdrucks anzubieten, die die eigene Polarität von Innen und Außen neu prästabiliert. Das hieße Wirksamkeit.108 Jesus ist der Stifter lind der Agent von Situationen. Situation aber bedeutet: Tranzendieren und eindeutig werden109. Wie also steht es um die Postfiguration?

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tik und Literaturwissenschaft, (WdF 575), Darmstadt 1982, S. 248-339, hier: S. 315. Paul Tillichs Christologie porträtiert das Bild Jesu so: "(E)rstens und entscheidend als die ungebrochene Einheit Jesu mit Gott; zweitens als die Größe eines personhaften Lebens, in dem diese Einheit gegenüber allen Angriffen aus der entfremdeten Existenz aufrechterhalten wird; drittens als die sich selbst hingebende Liebe, die die göttliche Liebe repräsentiert und verwirklicht, indem sie die existentielle Selbstzerstörung auf sich nimmt. Es gibt keine Stelle in den Evangelien - und Episteln-, die dieser dreifachen Manifestation des Neuen Seins im biblischen Bilde des Menschen widerspräche." Paul Tillich: Systematische Theologie, Band II, Frankfurt am Main 8 1984, S. 150. Ich darf noch einmal auf Gadamer verweisen, der erneut das Moment der Applikation, das der Pietismus entdeckte, herausstreicht: "Das hermeneutische Problem gliederte sich folgendermaßen: Man unterschied eine subtilitas intelligendi, das Verstehen, von einer subtilitas explicandi, dem Auslegen, und im Pietismus fügte man dem als drittes Glied die subtilitas applicandi, das Anwenden, hinzu (z.B. bei J.J. Rambach). Diese drei Momente sollen die Vollzugsweise des Verstehens ausmachen. Alle drei heißen bezeichnenderweise 'subtilitas', d.h. sie sind nicht so sehr als Methoden verstanden, über die man verfügt, wie als ein Können, das besondere Feinheit des Geistes verlangt." Nach Gadamer besteht nun die Aufgabe darin, diese drei Momente als "einheitlichen Vorgang" zu beschreiben: "Denn wir meinen im Gegenteil, daß Anwendung ein ebenso integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs ist wie Verstehen und Auslegen. (...) Verstehen ist immer schon Anwenden." Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, loc. cit., S. 290f. Bisher ist in der Metaphern- und Gleichnisdiskussion der inkarnatorische Sachverhalt unterbelichtet geblieben. Achtet man aber auf die inkarnationslogischen Sachverhalte, dann muß man nicht mehr mit Eberhard Jüngel die Gleichnisse vom logos tou staurou her begreifen. Vgl. etwa. Eberhard Jüngel: Gott als

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Auf den ersten Blick erscheint das Modell des Schauspielers unter den Konditionen der Moderne wenig attraktiv. Setzt nicht das Modell des Schauspielers eine aktive Subjektivität voraus? Kann der moderne Mensch noch spielen oder wird er nicht vielmehr gespielt? Was bietet ihm, dem spätmodernen, auf ruinierten Fundamenten aufruhenden und in vielen Haushaltungen dillettierenden Subjekt die Lesestube? Ist das Modell von Vorspiel und Nachspiel nicht längst erodiert? Antwort: Die Lesestube bietet dem modernen Leser die Kompensation der Entfremdung durch das Angebot einer spielerischen Identifizierung. Diese Arbeitshypothese auf eine Gleichung elementarisiert ergibt: Ausdrucksbild des Textes + Charakterbild des Lesers = Ausdruckbild des homo legens. Nennen will ich es die physiognomisch-morphologische Lebensform Wie aber gelingt die mimetische Angleichung an das Urbild im Akt der Lektüre? In der Tradition bestimmt spätestens seit Kierkegaard das Bild des verzweifelten oder entfremdeten Menschen die anthropologische Debatte110. Die Existenzdialektik der "Krankheit zum Tode" etwa beschreibt das Selbst als ein Verhältnis der Synthesemomente von Unendlichkeit und Endlichkeit, Zeitlichem und Ewigem, Möglichkeit (Freiheit) und Notwendigkeit, das sich zu sich selbst verhält, ohne daß es dem Selbst aus eigener Kraft gelänge, Ruhe und Gleichgewicht, sprich: Konkretheit

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Geheimnis der Welt, loc. cit., S. 395ff; ders.: Das Evangelium als analoge Rede von Gott, in. Wolfgang Harnisch (Hrsg.); Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft (WdF 575), Darmstadt 1982, S. 340-366. Ich stimme der Kritik von Lode Aerts: Gottesherschaft als Gleichnis? Eine Untersuchung zur Auslegung der Gleichnisse Jesu nach Eberhard Jüngel, Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1990, zu: "Das sogenannte Sprachereignis vom 'logos tou staurou' ist u. E. nicht der einzige Schlüssel für das Verständnis der Gleichnisse Jesu - oder deutlicher noch, der Verstehensschlüssel ist bereits in der irdischen Verkündigung Jesu als solcher einigermaßen zu erkennen." Hier: S. 284. Ich inventarisiere im Folgenden nur die wichtigsten Ansätze. Vgl. Gerhard Knautz: Studien zur Ästhetik und Psychologie der Schauspielkunst, (Diss.) Essen 1934; Heinrich Knoll: Theorie der Schauspielkunst. Darstellung und Entwicklung ihres Gedankens in Deutschland von Lessing zu Goethe, Greifswald 1916.

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(concrescere: zusammenwachsen) zu erlangen111. Kierkegaards QuasiPseundonym Anti-Climacus112 etwa unterscheidet im Anschluß an das Synthesepaar Unendlichkeit und Endlichkeit das phantastische Selbst, dem es an Endlichkeit gebreche und das Emanzipationsbedûrfhis zu weit treibe, vom bornierten Selbst13, das einen Fehlbestand an Unendlichkeit aufweise und eher autoritätshörig sei114. Nur im Blick auf Christus, so Kierkegaard, werde das Selbst eindeutig. Präzisierend unterscheidet Hermann Schmitz den "Extravertierten", der das Fremde nicht als Fremdes gelten läßt und seine persönliche Eigenwelt beinahe phantastisch erweitert, weil er aufgrund einer hohen Reizempfindlichkeit ununterbrochen affiziert wird, vom "Introvertierten", der, an einem Mangel an Ursprünglichkeit leidend, zur Anpassung und einer beinahe ängstlichen Beschränkung auf die Eigenwelt neigt. Mit

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In den Synthesemomenten "liegt die Möglichkeit des Mißverhältnisses" - so Kierkegaard in der Krankheit zum Tode. Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester - der Zöllner - die Sünderin (1848). Aus dem Dänischen übersetzt von Emmanuel Hirsch, Gütersloh 1982, S. 130. Bei Gott noch in rechter Ordnung, wird durch das eigene Verschulden die schwierige Balance der Momente ruiniert. Kurz vor seinem Tod hat Kierkegaard das Pseudonym zurückgenommen. Man hat es hier wohl mit der elaboriertesten Selbstmitteilung aus seiner Feder zu tun. Selbstredend kommen die Ausdruckstypen nicht chemisch rein vor. Dazu Walter Dietz: Die Freiheitsthematik bei Sören Kierkegaard, Frankfurt am Main 1993, S. 90f. Geht man aus von den Synthesemomenten Möglichkeit und Notwendigkeit, kann man mit Kierkegaard das begehrend-verlangende Selbst und das schwermütige Selbst, die beide an einem Mangel an Notwendigkeit leiden, abgrenzen vom deterministisch-fatalistischen und vom spießbürgerlich-trivialen Selbst, das Mangel an Notwendigkeit besitzt. Ich schatte hier Kierkegaards subtile Unterscheidung von Formen der Verzweiflung nach dem Grade an Bewußtsein ab. Vgl. zum Thema: Günter Figal: Verzweiflung und Uneigentlichkeit. Zum Problem von Selbstbegründung und mißlingender Existenz bei Sören Kierkegaard und Martin Heidegger, in: Heinrich Anz u.a. (Hrsg.): Die Rezeption Sören Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie, (Text & Kontext 15), Kopenhagen, München 1983, S. 135-151. Einen gewissen Bekanntheitsgrad hat die Unterteilung in Grundformen tiefenpsychologischer Provenienz bei Riemann erhalten: Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, München, Basel ^1978.

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überzeugenden Argumenten konturiert Schmitz noch den "introvertierten", bedroht durch "eine Blockierung seines affektiven Betroffenseins: Er kommt an seine eigenen Gefühle nicht mehr heran. (...) Der Ultrovertierte lebt (...) über seine persönliche Situation hinweg, indem er diese und die persönliche Eigenwelt in den Dienst objektivierter Programme und Probleme stellt und sich an Themen seiner persönlichen Fremdwelt hält."115 Das Drama verspricht, das ist die These, indem es alles Gewicht auf eine spielerische Identifizierung legt und den Anteil des Subjekts auf den Sprung reduziert, dem Menschen Eindeutigkeit: Der Extravertierte oder das phantastische Selbst bekommt vorgeführt, daß die Erschließung von Möglichkeiten immer an die eigene Faktizität gebunden bleibt; der Introvertierte oder das bornierte Selbst transzendiert durch die spielerische Identifizierung aus seiner geschlossenen Innenwelt; und der Ultrovertierte erfahrt den Anspruchscharakter als Befreiung von erfahrungsfremd übernommenen Mustern. Ich zitiere noch einmal Schmitz: "Die Versöhnimg mit sich in der Objektivierung durch Kompensation der Entfremdung wird als spielerische Identifizierung von dramatischer Dichtung nahegelegt. Menschliches Tun und Leiden wird demgemäß im Zeichen des Dramas eindeutig, objektiv. Der Dramatiker will auf etwas Letztes, einen Konvergenzpunkt hinaus; er gleicht, meint Staiger, dem Richter, der im Prozeß auf die abschließende Entscheidung abzielt. (...) Sonst sind die Leute meist so vieldeutig, zwiespältig oder abgelenkt, daß nicht ohne Weiteres feststeht, was der mit ihnen sich spielerisch Identifizierende als seine Rolle anzunehmen hat; der gesteigerte Affekt gibt dafür eine genaue Vorlage, indem er den Menschen zusammenfaßt und eindeutig macht."116 Selbstredend läßt auch das christenmenschliche Drama wie jedes gute Drama ganz differente Lesarten zu, sofern diese sich innerhalb des Spielraums der Deutungsmöglichkeiten aufhalten. Sonst machte die Rede von einem Spielraum auch wenig Sinn. Nur so kann man zugleich die Gefahr eines theologischen Dogmatismus bannen, der eine Lesart als kanonisch ausgibt. Andererseits hegt in der Bedeutung des Begriffs Spielraum, daß nicht alle Lesarten möglich sind, sondern daß sich jede Lesart den 115 116

In: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 173. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 468f.

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Spielregeln des Dramas entsprechend ausrichten muß. Bestimmt man einmal Differenz im Anschluß an Aristoteles als Verschiedenheit des Selbigen117, dann vollzieht jeder Leser im Akt der Lektüre - beabsichtigt oder nicht - die ontologische Differenz. In seiner organischen Gestalt erschließt der Text eine neue Welt, die sich, eingespannt zwischen den Koordinaten von Ernst und Güte, eröflhet. Eine bestimmte Lesart entdeckt dabei eine Möglichkeit, die, sofern sie im Verhalten zum Ausdruck kommt, als reale Wirklichkeit von dem Möglichkeitsspielraum verschieden ist. Zugleich ist sie selbig, wenn man bedenkt, daß diese Wirklichkeit nur eine Möglichkeit des Verstehensspieiraums ist und andere weiterhin zuläßt118. Wenn allerdings eine Tradition oder ein kirchliches Lehramt eine Möglichkeit festschreibt, verstellt sie die ontologische Differenz, weil die Verschiedenheit des Selbigen jetzt zur leeren Verschiedenheit wird. Ist einmal eine exklusive Lesart selbstverständlich geworden - und sie kann nur selbstverständlich werden, wenn man die ontologische Differenz der Lektüre vergißt - kann der Text nicht mehr potentiell alle Leser ansprechen und somit wirksam werden.

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Metaphysik 1018 a l 2 Auf die wichtige Frage, wie es um die Dispositionen der Leser fur die Lektüre bestellt ist, geht auch Iser ein: "(D)as Werk ist mehr als der Text, da es erst in der Konkretion sein Leben gewinnt, und diese wiederum ist nicht gänzlich frei von den Dispositionen, die der Leser in sie einbringt, wenngleich solche Dispositionen nun zu den Bedingungen des Textes aktiviert werden. Dort also, wo Text und Leser zur Konvergenz gelangen, liegt der Ort des literarischen Werkes, und dieser hat zwangsläufig einen virtuellen Charakter, da er weder auf die Realität des Textes noch auf die den Leser kennzeichnenden Dispositionen reduziert werden kann. Dieser Virtualität des Werkes entspringt seine Dynamik, die ihrerseits die vom Werk hervorgerufene Wirkung bildet." Problematisch wird die These, wenn Iser nicht müde wird zu wiederholen, das Werk sei das "Konstituiertsein des Textes im Bewußtsein des Lesers." Dies zu behaupten, heißt die "Bewegungssuggestionen" und die "Gestaltverläufe" von Texten zu ruinieren. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. München 1984, hier: S. 38, 39. Vgl. vom selben Autor: Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, in: Reiner Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis (UTB 303), München 1975, S. 228-252. Unzureichend erscheint mir auch die literatursoziologische Annäherung von Robert Escarpit: Das Buch und der Leser. Entwurf einer Literatursoziologie, Köln, Opladen 1961.

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Wie für den biblischen Urdramaturgen, so gilt auch hier, daß die urbildliche Postfiguration keine einfache Nachahmung und selbstredend auch nicht die Neuerfindung einer Rolle ist, sondern die ganz individuelle Übersetzung des Erlesenen in die Figur des eigenen Leibes. Es ist eine symbolische Übersetzung, die das heilige Original, den Ausdruck, gleichsam individuell neu kopiert. Hier wird keine Wirklichkeit nachgebildet noch einfach erfunden, sondern auf morphologischer Basis neu konturiert. Paulus war es, der die Identifizierung mit einer Rolle an der Kostümierung festmachte. "(W)ir aber, die wir des Tages sind, sollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffiiung zur Seligkeit."119 Ist dem Christen die Rolle maßgeschneidert, fallt er nicht in die alte Sicht der Wirklichkeit zurück, sondern fuhrt sie aus, wohl wissend, daß andere Ausdrucksbilder möglich bleiben120. Zugegeben: Das von Paulus vorgestellte Sprachbild bietet auch Anlaß zu Mißverständnissen, weil die aufgegipfelte Trias Glaube, Hofíñung und Liebe als Rüstung vorgestellt wird, die sich gegen verlockende Anmutungen der alten Ordnung schützen muß. Zumindest heute zündet diese Metaphorik kaum noch. Sie scheint auch dem Spielcharakter, der eher auf eine weiche Form der religiösen Identität zielt, unangemessen. Das einmal zugestanden, bleibt das vorgeschlagene Sprachspiel überaus bedeutungsexplosiv, weil die Kleidermetaphorik die Urbedeutung der Textur abruft. Textilien sind wie Texturen Gewebe. Der dramaturgische Imperativ des Bildes besagt also: Spinne dich ein in die Textur heiliger Schrift. Ziehe das dir (Zu)Geschriebene an. Bekleide dich mit dem Erlesenen. Wohlgemerkt: Mit dem Erlesenen, mit der Quintessenz des 119 120

1. Thess 5, 8. Hermann Schmitz schreibt treffend: "Daher stammt die enorme Bedeutung der Trachten, Kleider und Masken für Selbstfindung und Selbstgestaltung: Der Mensch gewinnt eine künstliche Membran zwischen sich und seiner Umgebung als entfremdete Außenseite, die seinen Entwurf wie ein Korsett verdinglichend stützt und führt, so daß er leiblich spürbar und greifbar in ein dialogisches Verhältnis zu diesem treten kann, wodurch er seine Rolle sich einbildet und sich nach ihr bildet." In: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 180; vgl. 452. Ferner Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers. In: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt am Main 1982, S. 399-419.

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Ganzen. Nicht wird gefordert, sich einzelne Sätze auf den Leib zu schneidern. Verlangt wird eine verstehende, geistvolle Übersetzung der buchstäblichen Lektüre. Wer aber wirklich verstanden hat, für den wird die Textur, das Gewebe, das er sich anzieht, dicht, fast undurchlässig. Frei bleibt natürlich der Kopf, weil christliche Lektüre den Schleier vom Gesicht wegzieht und eine neue Textur am Körper anlegt. Christliche Lektüre entfernt den mosaischen Schleier der Buchstäblichkeit und ersetzt ihn durch den Geistschleier an allen anderen Körperpartien, um freien und sicheren Blick zu haben. So zurechtgelegt, läßt sich das Sprachdenkbild des Paulus angemessen in die Gegenwart übersetzen. III.) Schauspieleridentität. Wie aber steht es um das Angebot spielerischer Identifizierung? Wie machen Texte Leser eindeutig? Diese Frage soll abschließend eine Interpretation der Parabel vom 'Verlorenen Sohn' andeuten. Zunächst wende ich mich dem strategischen Plot zu, der auch in dieser Geschichte durch morphologische Rahmung besticht - beginnend mit der Aufteilung der Güter, einem erbrechtlichen Land-Riß also. Alle ererbten unbeweglichen Besitztümer wandelt der jüngere Sohn - bereits die ausdrückliche Betonung, es handle sich hier um den jüngeren Sohn, läßt erwarten, daß an späterer Stelle auch von einem älteren die Rede sein wird 121 - stante pede in bewegliche, monetäre Habe um, einzig zum Zweck der selbstindizierten Expatriierung. Heillos nennt der lukanische Text den Lebenswandel im fernen Land. Sprichwörtliche 'schlechte Zeiten' drohen jetzt, da der Sohn alles (πάντα) verprasst hat. Der drastische soziale Abstieg zum (auch kultisch) unreinen Schweinehirten mit einem hungrigen Bauch ist eine handlungslogische Konsequenz. Selbst die nackte Existenz scheint bedroht, weil der Fremde, an den er sich hängt, es an Mitleid fehlen läßt. Eine nüchterne Situationsanalyse der eigenen Krise - an Einsicht in das eigene Verschulden besteht kein Mangel - läßt den Sohn heimkehren in der Hoflhung, am väterüchen Hof ein leidliches Tertium zwischen Sohn und darbendem Schweinehirten zu finden. Angestrebte Stellung ist die der Tagelöhner, die unter der 121

Lk 15, llb-32. Dieses überzeugende Argument hält Via allen exegetischen Versuchen entgegen, die den zweiten Teil der Parabel für sekundär halten: "Angesichts der für ein Gleichnis charakteristischen Ökonomie wären die zwei Söhne im ersten Teil (15,11) vermutlich nicht erwähnt worden, wenn nicht die Absicht bestanden hätte, sie beide in Erzählung umzusetzen." Dan O. Via: Die Gleichnisse Jesu, loc. cit., S. 153.

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Patronage des Vaters "Brot im Überfluß" (17) haben, während er als Einzelner den Hungertod im fremden Land furchten muß. Bereits von Ferne erkennt der Vater den Sohn und erbarmt (σπλαγχνίζομαι, 20) sich. In der geschundenen Gestalt erkennt er fraglos seinen nächsten Blutsverwandten, den eigenen Sohn wieder. Allein durch die überschwengliche Geste des Kusses, noch vor der ausgesprochenen Selbstdenunzierung also, geschieht die vom Sohn unerwartete Restitutio ad integrum. Zur Reidentifizierung und Reinstituierung gehört die sich anschließende rollengemäße Kostümierung mit Ring und Schuhen. Nachfolgende Feier besiegelt dramaturgisch die Wiedereinsetzung: "Und sie fingen an, fröhlich zu sein" (24). Der zweite Handlungsplot wird in paralleler Bewegungsgestik analog zu Vers 18f konstruiert und beginnt mit der Heimkehr des älteren Sohnes vom Feld. Dessen Exodus beschränkt sich alltäglich auf einen Radius, der es ihm erlaubt, abends heimzukehren. Von den Knechten sachlich über den Grund der Feier aufgeklärt, weigert sich der Ältere, am Fest teilzunehmen. Auch ihm kommt der Vater entgegen und spricht freundlich auf ihn ein. Der ältere Sohn kontert die Freundlichkeit durch die Erinnerung an den Zeitspielraum des Alltags: Viele Jahre habe er die Gebote des Vaters gehalten und niemals sei sein Dienst mit einem Fest entlohnt worden. Sosehr forciert der ältere Sohn den Tun-ErgehenZusammenhang, daß er in seiner Philippica gegen den jüngeren Sohn ihm den Titel des Bruders verweigert. Die Schlußsequenz gehört wiederum dem Vater, der die außerordentliche Zeit dieses Tages - die Aufrichtung seines daniederliegenden Sohnes - als Einbruch einer anderen Zeit deutet, ohne den alten Zeitspielraum vollständig aufzuheben: "(W)as mein ist, ist auch dein" (31). Raffiniert parallel konstruiert endet auch die zweite Handlungsbewegung mit der Aufforderung zur Feier (32a). Geht man von den Einsichten der Exegeten aus, die das zunächst fur heutige Ohren ungehörige Anliegen der Erbschaftsteilung zu Lebzeiten als anerkannte juristische Praxis ausweisen122, dann hegt die Peripetie der Handlung darin, daß der Vater sich angesichts seines wiedererkannten Sohnes an der Rechtsordnung nicht stört - damit gleichermaßen die Lesererwartung und die vom Sohn erwartete Reaktion 122

So Wolfgang Pöhlmann: Die Abschichtung des Verlorenen Sohnes (LK 15,12f) und die erzählte Welt der Parabel, in: ZNW 70 (1979), S. 194-213.

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durchkreuzend - und wider Erwarten eine andere Ordnung, sprich: einen anderen Spielraum erschließt. Man kann Harnischs scharfsinniger Analyse nur zustimmen, die temporale und topographische Semantik gleichermaßen beteiligt sieht: "Einerseits versteht sich das Fest als Eröffnung eines Raumes, in dem sich der Heimatlose bergen und in dem er bleiben kann. War die Zeit der Entfremdung durch die Befindlichkeit des Unheimlichen und damit der Angst gekennzeichnet, so ist die neue Situation von Freude geprägt, die der heimatlichen Bleibe entspricht. Andererseits gilt 2u bedenken, daß der festliche Ausklang des Geschehens zugleich als Auftakt einer neuen Zeit verstanden sein will. Das Finale gibt einen neuen Anfang vor, ein Sein, das der Zukunft gewiß ist und darum Freude an der Gegenwart erlaubt."123 Übers Ziel hinaus schießt allerdings die Bemerkung, der Einspruch der alten Ordnung durch den älteren Sohn sei nach dem Wunder eines neuen Zeitereignisses nur noch als "Anachronismus"124 zu deuten, weil der Vater in gewissen Grenzen die alte (Rechts)Ordnung durchaus bestehen läßt: "Was mein ist, das ist dein" (31). Gesagt wird nur: jetzt sei die Zeit des Feierns angebrochen. Der Übertritt in eine andere Ordnung kann keine einmalige Tat sein, weil jede Feier, das ist phänomenologisch banal, nur eine Rupture der alten Ordnung ist. Eine consecutio temporum wird angemahnt. Es ist gerade das Kennzeichen der neuen Zeit, daß sie nur als Rupture eintritt und die alte Ordnung, die des Tun-Ergehens, des Rechts und der Vereinbarung - heteronom ausrichtet. Ihrer Selbstverständlichkeit beraubt, bekommt sie einen neuen Sinn, ohne sinnlos zu werden. Wogegen sich die Parabel wendet, ist die doktrinäre Einseitigkeit eines Weltbildes125. Offensiv offen bleibt der Schluß. Mit welcher Rolle soll sich der Leser spielerisch identifizieren? Da liier eine parallel gebaute Szenensequenz vorhegt, muß der Leser zeigen, ob er die wiederholte Lektion gelernt 123 124 125

Wolfgang Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu, loc. cit., S. 220. Ebd., S. 221. Harnisch hat vorgeschlagen, den Glauben an diese Urgestalt der Wahrheit kompatibel zu machen mit dem ώς μή des Paulus aus 1 Kor 7, 29ff: " ...und die da kaufen, als behielten sie nicht, und die von der Welt Gebrauch machen, als hätten sie nichts davon. Denn die Gestalt dieser Welt vergeht. Ich möchte aber, daß ihr ohne Sorge seid." Das macht, nimmt man die fiktionale Dimension der anderen Lebensdeutung ernst, mehr als guten Sinn. Ebd., S. 253.

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hat. Stellvertretend für den Ältesten muß er Einsicht oder Unverständnis artikulieren. Kommt ihm Gott in den Sinn und damit freudige Einsicht=Wiedererkenntnis auf sein Gesicht? Transzendiert er also gemäß der Szenenfolge in die andere Ordnung? Schauspielmäßig will also die Lücke des Textes, die endgültige Antwort des Sohnes, durch den stellvertretenden Leser ausgefüllt werden. Das bornierte Selbst, der Intra- und Ultrovertierte findet in der Geschichte die Möglichkeit, seine affektiven Ressourcen zu stärken und sich in die eröflheten Möglichkeiten einzuschreiben. Das leistet die topographische Semantik und der morphologische Stil. Aber auch der Extravertierte bekommt die Chance, angesichts der Geschichte eindeutig zu werden: Namentlich die Geschichte vom jüngsten Sohn zeigt die Möglichkeit der Entfremdung, wenn man seine eigenen Möglichkeiten überschätzt und überdehnt. Im spielerischen Rückruf zu den eigenen Möglichkeiten, der eigenen Faktizität, wird auch der Extravertierte angesichts der Geschichte eindeutig. Schauspielern ist also die Kunst, in zwei Ordnungen zu leben. Die Zeit des Schauspielers zeitigt sich im stetigen Übergang zwischen den Ordnungen. Der Raum des Schauspielers räumt sich ein, wenn die alte Ordnung heteronom ausgerichtet wird. Wer sich im Zeit-Spiel-Raum des Urschauspielers mit einer Rolle bekleidet, der wird eindeutig. Bevor im nächsten Kapitel die Kanonfrage einer ästhetischen Lösung zugeführt wird, will ich die vorgeschlagene Ästhetik bibüscher Dichtung noch einmal zusammenlesen und Begriff Instrumentar und Gattung126 biblischer Dichtungstheorie benennen. a) Biblische Dichtung widersetzt sich jeder Funktionalisierung, widerstreitet allen Alltagsinteressen und verkommt nicht zu einem Kompensationsgeschäft für den mit Entfremdung drohenden Alltag. Im Gegenteil artikuliert die biblische Dichtung eine integrale Weise menschlichen Seins, die die Handlungsrationalität des do-ut-des transzendiert und den Menschen eindeutig macht, indem sie ihm eine Grundstimmung einstiftet und eine Rolle anbietet, die eindeutig macht.

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Ich darf noch einmal verweisen auf Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, loc. cit., S. 455ff.

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Vor dem Hintergrund einer unüberschaubaren Lebenswelt hebt Dichtung Gestalten ab, die das Gelingen und Mißlingen christenmenschlichen Lebens vorspielen. Von der zahlfahigen Auflistung einzelner Probleme, Programme und Sachverhalte halten sich diese Dichtungen grundsätzlich frei, weil sie nur dann eine Plattform gemeinsamer Versammlung bilden können, auf der eine Koexistenz des Mannigfaltigen möglich ist. Je plastischer die Ausdrucksgestalten agieren, je größer ist ihre versammelnde Kraft und die Vielfältigkeit von Auflührungsmöglichkeiten127. Da bibüsche Dichtung die Wiedererkenntnis des Menschen als Christen-Menschen inszeniert, ist sie der Locus communis schlechthin. Wie der Leser auf dem Boden der Dichtung Posto faßt, bleibt ihm überlassen. Nur soviel ist sicher: Die engstirnige Selbstbehauptung wird angesichts biblischer Dichtung durchkreuzt. b) Das wichtigste Instrumentar der Dichtung, das war die These, bildet die physiognomisch-morphologische Ausdrucks- oder LeibSemantik: oben-unten, innen-außen, beugen-aufrichten, entschleiern. Deren morphische Qualität, die Bewegungssuggestionen der Sprache also, wurde abgerufen. Die Grundstimmung fröhlichen Erkennens und Erkanntseins überträgt sich durch die Investierung des schwer zu beschreibenden Klang- und Bedeutungsrhythmusses. Als wichtigsten Bedeutungsrhythmus verwendet die Schrift das Sprachspiel von Lesen und Wiedererkennen, das sich dem morphologischen Ausdrucksspiel - dem Körperschema abgelesen - einschreibt. Klang und Rhythmus dienen dabei dem metaphorischen Grundprozess der Transzendierung. Das Drama macht dem Leser Angebote spielerischer Identifizierung: ihm werden Möglichkeiten erschlossen, die er ernsthaft nicht ausschlagen kann, weil ihm hier Möglichkeiten gelingenden Lebens vorgeführt werden. Darin besteht die spielerische Macht des schwachen Antlitzes der Schrift. c) Nach Begriff und Instrumentar der Dichtung bleibt die Frage der Gattungen. Im Text der Bibel wurden die Naturformen der Dichtung 127

Hermann Schmitz bestimmt die Lebendigkeit der Dichtung so: "Die Lebendigkeit der Dichtung besteht vielmehr in einem Relief, mit dem sich die beschriebenen Figuren, Szenen und Ereignisse aus einem so vermittelten Hintergrund abheben, der (...) unsagbar, nämlich eine Situation ist." In: Neue Phänomenologie, loc. cit., S. 84. Über Schmitz hinaus muß man das von ihm abgelehnte Wahrheitsmoment der Kunst mit Heidegger festhalten. Biblische Kunst inszeniert eine Wiedererkenntnis wahren Menschseins.

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ausgemacht. Sie ordnen sich aber der dramatischen Makrostruktur unter, weil es darum geht, dem Leser spielerische Angebote zu machen, die ihm ein angemessenes Verhalten zu seinem Leben ermöglichen. Mit Heidegger darf man die Postfigurierung des Lesers so beschreiben, hier werde das "Dasein zum Lebensträger der Macht der Dichtung"128. 2.2.6 Libri canonici Über Varianz und Invarianz der Schrift Der Begriff des Kanons bekommt in aktuellen Diskursen ein neues Gesicht. Das geschieht von zwei Seiten aus: einmal untersucht eine - institutionell nicht festgelegte - Forschergruppe den paradigmatischen Umschwung von der oralen zur skripturalen Kultur. Im Prozeß national(religiös)er Seßhafhverdung tritt dabei notorisch die Frage nach geheiligten Schriftbeständen auf den Plan. Zweitens bemüht sich alt- und neutestamentliche Exegese interdisziplinär verstärkt um eine gesamtbiblische Theologie129 und stellt sich damit erneut der Frage nach Ur128

Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen "Germanien" und "Der Rhein", Gesamtausgabe Bd. 39, Frankfurt am Main 1980, S. 19. Von Italo Calvino stammen die sechs poetologischen "Vorschläge für das nächste Jahrtausend", (ital. 1988), München 1990: Literatur müsse mit der handgewandten Schnelligkeit eines Zauberers unterhalten; durch fintenreiche und phantasievolle Spiegelungen und rück-vorwärtsgerichtetes Flanieren eine Vielschichtigkeit präsentieren, der durch eine unterschwellige Motivik eine federleichte Konsistenz eigen; diese metaphysische Leichtigkeit, die mit der Wirklichkeit ironisch spiele, verzichte dabei nicht auf affektive Anschaulichkeit, die durch eine präzis beschreibende Genauigkeit erreicht werde. Man kann sich der unmittelbar aufsteigenden Evidenz kaum erwehren, daß das, was Calvino für das nächste Jahrtausend reserviere, zum paläontologischen Schatz unserer Kultur gehöre, lassen sich doch mühelos die genannten Kriterien im Buch der Bücher reidentifizieren: mit einem höheren dramatischen Tempo ist das Urdrama des Menschlichen kaum erzählt worden, vielschichtiger wurde keine Geschichte rück-und vorblickend mit anderen Geschichten durch das einzige Thema integralen Lebens verkettet; nie wurde so ironisch mit der Wirklichkeit gespielt bei gleichzeitiger Anschaulichkeit und Präzision. 129 vgl. Manfred Oeming: Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutisehen Diskussion seit Gerhard von Rad, Stuttgart u.a. 987; Henning Graf von Reventlow: Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahrhundert (EdF 203), Darmstadt 1983; Klaus

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sprung und Ziel des biblischen Kanons. Ich werde die beiden aktuellen Ansätze zunächst kritisch inventarisieren. Ein dritter Abschnitt greift das liegengebliebene Problem des neutestamentlichen Kanonabschlusses auf. Physiognomisch-morphologische Stilkriterien geben Hinweise, warum das Buch der Bücher folgerichtig mit der Apokalypse des Johannes, mit der Fiktion einer himmlischen Physiognomik, aufhören muß. Hier nämlich erst rundet sich die Geschichte des Jesus von Nazareth zum ästhetischen Ganzen. Vom ästhetischen Plateau aus läßt sich auch die Vernetzung des alt- und neutestamentlichen Kanons überschauen. I.) Kulturelle Erinnerung. Federführend in der deutschsprachigen Debatte um den Übertritt von der Oralität zur Skripturalität ist der Ägyptologe Jan Assmann, der in seinem Buch "Das kulturelle Gedächtnis"130 der Kanonproblematik breiten Raum gewährt. Zunächst macht Assmann einen zentralen Unterschied auf zwischen heiligen und kanonischen Texten. "Ein heiliger Text ist eine Art sprachlicher Tempel, eine Vergegenwärtigung des Heiligen im Medium der Stimme. Der heilige Text verlangt keine Deutung, sondern rituell geschützte Rezitation unter sorgfältiger Beobachtung der Vorschriften hinsichtlich Ort, Zeit, Reinheit usw. Ein kanonischer Text dagegen verkörpert die normativen und formativen Werte einer Gemeinschaft, die 'Wahrheit'. Diese Texte wollen beherzigt, befolgt und in gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden. Dafür bedarf es weniger der Rezitation als der Deutung. Auf das Herz kommt es an, nicht auf Mund und Ohr."131 Offensichtlich pflegen heilige und kanonische Lektüren ein ganz unterschiedliches Verhältnis zum Text: heilige Texte sind Texte und kanonische Texte sind Texte und mehr als Texte, nämlich erfüllte und mit Leben zu füllende Texte, Texte, die den

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Koch: Rezeptionsgeschichte als notwendige Voraussetzung einer Biblischen Theologie oder: Protestantische Verlegenheit angesichts der Geschichtlichkeit des Kanons, in: Hans Heinrich Schmid, Joachim Mehlhausen (Hsrg.): Sola scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt, Gütersloh 1991, S. 143-155. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Alle folgenden Zitate sind aus diesem Buch. Vgl. auch Aleida Assmann und Jan Assmann (Hrsg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987. Ebd., S. 94f.

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Leser just von der wörtlichen Rezitation befreien, weil sie eingebildet und postfiguriert werden wollen. Was aber sagt genauer der Terminus kanonisch? Assmann132 unterscheidet zunächst zwischen einer antiken und neueren Bedeutungsgeschichte des Begriffs. Kanon, so die überwiegende Meinung der Begriffsgeschichtler, stamme von einem semitischen Lehnwort, ¡13p (Rohr) ab und bezeichne ein Instrument der Baukunst: Stange, Stab, Richtscheit, Lineal. An diese konkrete Bedeutung lagerten sich dann Bedeutungshöfe an: 1) Maßstab, Richtschnur, Kriterium. Der griechische Bildhauer Polyklet etwa verfaßte eine "Kanon" getitelte Lehrschrift über die idealen Proportionierungen des menschlichen Körpers und verwendete eine ästhetische Semantik, die dann bei Euripides in moralische - eigentlich physiognomische - Semantik transformiert wurde: Menschen sind krummer oder gerader Natur. 2) Vorbild, Modell. Neben die erste Bedeutung trat schnell der Kanon als Musterlösung oder Idealtypik, so daß zum Beispiel die Reden des Lysias als Kanon der Gerichtsrede gelten konnten. 3) Regel, Norm. Der Begriff Kanon sättigte sich verstärkt mit normativen Elementen und umgrenzte Regeln lebensprägender Verbindlichkeiten. 4)Tabelle, Liste. Schließlich versammelte der Begriff so unterschiedliche Tabellen wie Königslisten, Astronomen- oder Zeitrechenkolonnen unter sich. In allen semantischen Füllungen schimmert immer der ästhetische Maßstabsbegriff - etwa konkret wie in der Tabelle oder im Vorbild oder aber abstrakt wie im Kriterium oder in der Norm - durch. "Es scheint der tektonische Kanon zu sein, der allen metaphorischen Verwendungen des Wortes als konkreter Gegenstand zugrunde liegt (...) Ein Kanon antwortet auf die Frage: 'Wonach sollen wir uns richten'?"133 Eine "Verschiebung der metaphorischen Basis"134 durch die kirchliche Adaption des Kanonbegriffs läutete die neuere Bedeutungsgeschichte ein, weil jetzt eine Liste (4) durch bindenden Synodalbeschluß Gesetzeskraft (3) bekam und zur lebensformenden Richtschnur erhoben wurde. "Der Kanonbegriff hat das Instrumentelle verloren und sich dafür mit

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Zum folgenden vgl. Assniann, ebd. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114.

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den Kategorien der Normativität, Wertbezogenheit und Allgemeinverbindlichkeit angereichert."1·15 Fragt man nach dem inhärenten heiligenden Prinzip, der norma normans also, muß man unterscheiden, ob eine Kanonisierung durch den Rekurs auf Macht abgesichert wird, oder ob die Kanonisierung sich auf eine affektiv gesteuerte Einsichtgewinnung als ultima ratio von Evidenz berufen kann136. Aber auch wenn die metaphorische Basis durch den Einfluß der Kirchengeschichte eine Wandlung erfuhr, schimmert ein gemeinsamer Nenner weiterhin durch: "Die Kategorie der Invarianz. Ein Kanon, in welchem Sinne auch immer, liefert sichere Anhaltspunkte, stiftet Gleichheit, Genauigkeit, Entsprechung, schaltet Beliebigkeit, Willkür und Zufall aus. Invarianz wird erreicht durch Orientierung entweder an abstrakten Regeln und Normen oder an konkreten Vorbildern (Menschen, Kunstwerken, Texten)."137 Hinsichtlich der Invarianz bleibt, so Assmann, die Aufgabe, zwischen einer Zuspitzung der Invarianz zu unterscheiden, ausgelöst durch den Übertritt von 'richtigen' zu sakrosankten Texten, und einer Bändigung der Invarianz im Zeichen der Vernunft, die immer dann nötig wird, wenn Innovationsschübe den Komplexitätsgrad hochschnellen lassen und ein vehementes Bedürfiiis nach einer verbindlichen Antwort auf die Frage "Wonach sollen wir uns richten?" entsteht. Gleichwie, der Prozeß der Kanonisierung wird befördert durch die Einführung eines binären Prinzips, das Eigenes von Fremdem grenzscharf trennt und dabei zugleich die ausgegrenzten Privationen pejorisiert, indem sie die Binärlogik Eigenes-Fremdes in eine Wertlogik Freund-Feind transformiert138. Wer sich in diese Logik einschreibt, bindet dabei die persönliche Identität an eine kollektive Identität zurück. "Kanon stiftet einen Nexus zwischen Ich-Identität und kollektiver Identität. Er repräsentiert das Ganze einer Gesellschaft und zugleich ein Deutungs- und Wertsystem im Bekenntnis, zu dem sich der Einzelne der

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Ebd., S. 115. Assmann insinuiert freilich, für den biblischen Kanon stände nur die erste Möglichkeit zur Diskussion. Ebd., S. 122. "Mit der Unterscheidung zwischen A und Nicht-A allein ist es nicht getan, von Kanon sprechen wir erst, wenn A mit dem Charakter des unbedingt Erstrebenswerten verbunden ist." Ebd., S. 126.

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Gesellschaft eingliedert und als deren Mitglied seine Identität aufbaut. Kanon ist das Prinzip einer neuen Form kultureller Kohärenz."139 II.) Ausdruckserinnerung. An dieser Stelle berührt sich die Skripturalforschung eng mit Positionen theologischer Kanon- und Inspirationsforschung. In der Dekonstruktion der ekklesiologischen Inspirationsthese Rahners bietet, wie oben gesehen, Grelot eine soziologische Deutung an, die plausibel macht, "daß der Prozeß der Entstehung und produktiven Rezeption der Schrift konstitutiv ist und letztlich in der Glaubensgemeinschaft gründet, die ihre Glaubenserfahrungen in Texten ausdrückt oder in übernommenen Texten wiederfindet oder auch in durch Fortschreibung aktualisierten Texten darstellen will. (...) Diese spezifische Form der Rezeption, die das zutage fordert, was Inspiration aussagen will, stellt zugleich den Ausgangspunkt des kanonischen Prozesses dar, so daß letztlich Inspiration und Kanon dieselben Wurzel haben und untrennbar miteinander verbunden sind."140 139

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Ebd., S. 127. Freilich betont Assmann, die gegenwartige Zeit schreibe nicht mehr im Banne des Kanons, gesteht aber auch ein: "Aus den Horizonten normativer und formativer Wertsetzungen kommen wir nicht heraus. Die Aufgabe der historischen Wissenschaften kann nicht mehr darin gesehen werden, die KanonGrenzen einzureißen, zu 'zersetzen' (Gadamer), sondern zu reflektieren und in ihrer jeweiligen normativen und formativen Struktur bewußt zu machen." Ebd. S. 129 Christoph Dohmen. Manfred Oeming: Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie, loc. cit., S. 47f. Dohmen und Oeming sprechen von Wachstumsfugen im Text, Assmann schwankt in seiner Metaphorik: "Am besten kann man sich die Struktur einer gleichsam im Fluß befindlichen Schriftüberlieferung am Beispiel der Bibel klarmachen, die ja nichts anderes als ein solcher zu einem gewissen Zeitpunkt stillgestellter tausendjähriger Traditionsstrom ist. Da sieht man das Anwachsen und Fortschreiben von Texten - Deutero- und Tritojesaja -, die Verknüpfung verschiedener Traditionen, das Nebeneinander von Varianten, ältere und jüngere Textschichten, Anthologisierungen, Sammelwerke und vor allem die Fülle verschiedener Gattungen: Gesetzeswerke, Stammesgeschichten, Genealogien, Geschichtsbücher, Liebeslieder, Gelagepoesie, Klagelieder, Festlieder, Büß- und Danklieder, Gebete, Hymnen, Sprichwörter, Spruchdichtung, Weiheitsliteratur, Prophetenbücher, Schulbücher, Romane, Novellen, Mythen, Märchen, Predigten, Biographien, Briefe, Apokalypsen - ein blühender, reich verzweigter Baum, der im Prozeß der Kanonisierung in die starre Architektur eines vielgeschossigen und vielräumigen, aber in sich einheitlichen und abgeschlossenen Gebäudes transformiert worden ist." Loc. cit., S. 92, Anm. 6.

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Auch Grelot und, ihm folgend, Dohmen und Oeming behaupten also einen Nexus zwischen Ich-Identität und kollektiver Identität, und auch sie machen deutlich, daß der Kanonprozeß namentlich in Zeiten der Expatriierung in den der Kanonisierung umschlug. So beschreiben etwa Dohmen und Oeming den Tod des Mose als Geburt des Pentateuch: "Jedoch ist die Todesmitteilung in Dtn 34 nicht verfaßt worden, um den Pentateuch zu bilden, vielmehr ergibt sich dies als Konsequenz aus dem Gedanken, daß die Fortschreibung der Tora - als durch Mose verkündeten lind schriftlich fixierten Gotteswillen - zu einem Ende kommen muß, weil die Tora bereits zu einem theologischen Fixpunkt geworden ist. Die im Deuteronomium zum Ausdruck gebrachte Leitidee, daß die Gesetze Geltung für das Leben im gelobten Land besitzen, also von der narrativen Ebene des Textes her in die Zukunft projiziert sind, bedingt nicht nur deren Verschrifhmg, sondera auch deren Ausgrenzung aus dem Prozeß einer kontinuierlichen Fortschreibung."141 Die berühmte Kanonformel: "Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen"142 bildet dabei "die beiden Elemente der Kanonentstehung in ihrem Hintereinander von kanonischem Prozeß ('Du sollst nichts wegnehmen') und Kanonisierung ('Du sollst nichts hinzufügen') ab"143. Die Lösung des intrikaten Kanonproblems entscheidend vorangebracht zu haben, ist ein Verdienst alttestamentlicher Theologie, deren Arbeit durch den langwierigen Kanonprozess der Kanonisierung sehr viel mehr Probleme aufhäuft als vergleichbare Fragestellungen im Neuen Testament. Lassen sich aber fur beide Kanones Kriterien für die Kanonizität der Bücher finden? Die Antwort auf diese Frage hängt zu einem nicht geringen Teil ab von einer Bestimmung der Mitte der Schrift144. Die WiedererkennungsSzenen bilden die Mitte der Schrift. So lautet die These dieser Arbeit. 141

Ebd., S. 66f. Dtn 13, 1, vgl. Koh 3, 14; Jer 26, 2; Spr 30,6. 143 Dohmen, Oeming, loc. cit., S. 89. Die altorientalischen Ursprünge der Kanonformel untersuchen beide auf den Seiten 68-91. Vgl. auch Odil H. Steck: Der Kanon des hebräischen Alten Testaments. Historische Materialien für eine ökumenische Perspektive, in: Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre (Festschrift W. Pannenberg), Göttingen 1988, S. 231-252. 144 Ygj Martin Klopfenstein u.a. (Hrsg.): Mitte der Schrift? Ein jüdisch christliches Gespräch, loc. cit. 142

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Darin besteht der eigentliche Sinn der niedergeschriebenen Erinnerungsarbeit, die Mittlerstellung des Jesus von Nazareth so zu verdichten, daß die Leser sich erneut in die Imago Dei des zweiten Adam 145 , der das Bild des ersten aus Genesis 1 von Überschreibungen befreit, einbilden können. Zwei interne Kriterien lassen sich aus dieser Mitte ableiten: Texte sind kanonisch, wenn sie a) den Prozeß der Wiedererkenntnis vorspielen und stimulieren. Der Kanon von Wiedererkennungs-Szenen ist der Kanon im Kanon und ein sicheres Indiz für die Inspiration der Texte. Und nicht zufallig schließt das Buch der Bücher mit einem Buch, das diese Szene - wie zu zeigen ist - noch einmal auszeichnet. Texte sind sodann kanonisch, wenn sie b) die aus dem Prozeß der Wiedererkenntnis gespeisten Erfahrungen original darstellen und Szenen der Betroffenheit von Transzendenz aufführen. Das geschieht, wie gesehen, durch die Verwendung inkamatorischer Sprache. Nur wenn die neutestamentlichen Schriftsteller an der Ausdmckssprache des Archipoeten partizipieren und sich ostentativ selbst entäußern, pflegen sie eine stilistische Mimesis zum erfahrenen Ausdruck. Immer wenn die Bücher den Stil der Wiedererkennungs-Szenen postfigurieren und empfindsam verfahren, hegen Libri canonici vor. Das geschieht durch die Verwendung morphologischer Semantik, die ganz eng ans Sensorium des Menschen geknüpft bleibt. Nochmals: Mittels dieser Inkarnationssemantik wird Wiedererkenntnis lektoral motiviert. Ein Einwand liegt auf der Hand: diese zwei internen Kriterien seien eindeutig dem inkarnationstheologischen Diskurs geschuldet und könnten allenfalls auf das Neue Testament Anwendung finden. Soviel ist richtig: Die physiognomisch-morphologische Semantik der Wiedererkennungs-Szenen läßt sich problemlos auf die Grundregel phänomenologischer Ausdruckserfahrung im Neuen Testament abbilden: "Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsern Augen, das wir beschaut haben und unsere Hände betastet haben, vom Wort des Lebens."146 In die morphologische Sprache der Gleichnisse und Szenen rettete sich diese leibhafte Erfahrung verdichtend hinüber und macht im Lesevollzug die eigene Gestalt des Lesers erneut fühlbar, weil er hier an seine affektive Basis herangeführt, also sinnlich erweckt 145 146

1. Kor 15,45. 1 Joh 1,1.

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wird. Die Gleichnisse und Szenen bilden erneut jenes persönliche Gottesverhältnis aus, das durch eine juridisch-arbiträre Zeichenlogik verunmöglicht wurde. Gleichnisse sind früher als Schlüsse und Bilderschrift früher als Buchstabenschrift147: Gleichnisse und Szenen beschreiben Situationen, denen konkrete Ausdruckssprache wie Fragen, Bitten, Loben, Fluchen entspringt. Sie restituieren damit auch die vielfachen Ausdrucksformen alttestamentlicher Schriftkultur, die bekanntlich mit dem Urpoem anhebt. Zwischenzeitlich freilich ist immer wieder die juridisch-arbiträre Sprache 'dazwischen gekommen', so daß es eines Mittlers bedarf, in dessen Sprache Realpräsenzen aufweisbar sind. Die Ur- qua Ausdruckssprache wird stellvertretend durch den Urhermeneuten wieder freigelegt. Dieses hermeneutische Verdichtungsprinzip spielt dabei den Grundkonsens physiognomisch-morphologischer Wahrnehmungskultur vor. Die behauptete Identität von evidentem Ausdruck und Bedeutung ruht auf der Auslegungsmaxime des Pars pro toto auf: Diese hermeneutische Maxime bietet auch einen Lese-Schlüssel an für die inkamationstheologische Relektüre des Alten Testaments: Die Geschichte vom Volke Gottes als Pars pro toto wird verdichtet in der Geschichte des aus diesem Volke stammenden Solln Gottes. Dessen Leben ist die leibgewordene Relektüre des Altens Testaments und ein Kommentar, der selbst wieder kanonisch wurde. Hier kommt zur Anwendung, was grundsätzlich für jede Form der Kanonisierung gilt: "Mit der Endgestalt wird lediglich der Ort der Interpretation verlegt. Geschah sie bis dahin durch produktive Fortschreibung oder Redaktion im Text, geschieht sie von da ab durch Kommentierung und Auslegung neben/zu diesem Text."148 Das Neue Testament ist der textgewordene persönliche Kommentar des einen Hermeneuten zum Alten Testament. Diese Lesart legt namentlich der lukanische Text in der Emmaus-Perikope nahe. Zwei Jünger, Lukas nennt mit Namen nur Kleophas, sind auf dem Weg von Jerusalem hinab nach Emmaus. Zurück bleiben die Stätten der dramatischen Ereignisse der letzten Tage. Gegenstand ihrer Gespräche sind die von den Frauen berichteten Gerüchte, Jesus sei auferstanden. 147 Ygj "Poesie ¡ s t die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, - als Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse: Tausch, - als Handel." So Johann Georg Hamann in seiner "Aesthetica in nuce", Sämtliche Werke, Bd. II, loc. cit., S. 197. 148 Dohmen, Oeming, loc. cit., S. 25.

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Als die Jünger die Geschichte abwägend besprechen, tritt Jesus hinzu. Offensichtlich sind ihre Augen vor Mißmut so verschleiert und ihre Ohren so abgeschaltet, daß sie den Anonymos nicht genau erkennen. "Mißmutig" nennt Lukas ihre Stimmung, als der Begleiter sie ironisch nach dem Thema ihrer Unterredung fragt. Sie stutzen zwar, weil es ihnen unwahrscheinlich erscheint, jemand, der aus Jerusalem komme, kenne die Geschichte, die in aller Munde ist, nicht. Auf die erneute Nachfrage hin erzählen sie bereitwillig über den Propheten Jesus, ihre in ihn gesetzten Hoffnungen, seinen Tod und den von den Frauen verbreiteten Schrecken - eine Kurzvita also. Obwohl ihnen Lukas höchst ironisch die Zeitangabe - drei Tage nach der Kreuzigung - in den Mund legt, fallen ihnen nicht die Schuppen von den Augen. Der vom Anonymos angeschlagene emotional hoch aufgeladene Ton bereitet die Peripetie der Stimmung vor. Er exegetisiert nämlich auf dem Weg nach unten alle alttestamentlichen Stellen, die den Messias ankündigen - beginnend mit Mose. Offensichtlich überforden die Fülle des Materials ihren schleppenden Geist, denn sie laden, am Ziel angekommen, den Exegeten zum Bleiben ein. Erst die Geste des Brotbrechens öffnet ihnen die Augen: "Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn."149 Jetzt auch können sich beide Jünger erst erklären, warum ihr Herz brannte, als er ihnen die Schrift aufschloß. Obwohl noch in ihrer mißmutigen Gestimmtheit gefangen, die ihnen den Bück verstellte, bereitete sich bereits in ihrem Innern, unterhalb des Schleiers also, die Veränderung ihrer Stimmung vor. Nur folgerichtig, wenn sie, vom Exegeten längst verlassen, anschließend sofort wieder hinaus nach Jerusalem ziehen: Die Perspektive, die Blickrichtung hat sich gewandelt, vom topographisch inszenierten Stimmungstief zurück zum Stimmungshoch gen Jerusalem150. Im Lukas-Evangelium folgt auf diese Geschichte nur noch die leibhafte Bestätigung der Emmaus-Szene im Kreis der Jünger und die wenigen 149

Lk 24, 31 ; Hervorhebung von mir Lukas komponiert die Geschiche dabei so, daß der Leser den Augenblick der Einsichtgewinnung nachvollziehen kann. Denn in Lk 22,19f war die Einsetzung des Abendmahls bereits dezidiert beschrieben worden. Zehn Seiten weiter im Text erinnert sich dann auch der über die Identität Jesu niemals im Unklaren gelassene Leser an die Stelle und versteht, warum die Emmaus-Jünger plötzlich verstehen.

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Zeilen über die Himmelfahrt. Damit schließt das hikanische Evangelium über den Mittler Jesus. Der Schriftsteller Lukas läßt aber ein weiteres Buch folgen, das idealtypisch das zweite interne Kriterium kanonischer Bücher abbildet: die Apostelgeschichte. Dort kommen die Erfahrungen der Betroffenheit von Transzendenz ausführlich zur Darstellung. Was aber, nimmt man beide Bücher zusammen, fehlt, ist die Aussicht auf den erhöhten Hermeneuten. Das Leben des biblischen Christus aber wäre unvollständig erzählt, erführe man nichts über seine himmlische Existenz. Diese Pointe bleibt, wie sollte es anders sein, dem letzten Buch der Bücher vorbehalten. Es ist dessen veritabler Abschluß. III.) Kanonästhetik. Ich will zwei thetische Interpretamente vorausschicken: 1. Die Apokalypse des Johannes verwendet an ausgezeichneter Stelle die durch Assmann primär der antiken Bedeutungsgeschichte des Kanonbegriffs zuerkannte ästhetisch-architektonische Metaphorik. 2. Als fiktionaler Schlußstein des biblischen Lebens Christi offenbart die Apokalypse Christus als Kosmokrator, der, so die Pointe, im Buch der Bücher einwohnt und den Leser mit der ganzen Weltgeschichte gleichzeitig macht. Der Leser ist das A und O der Buchwelt. Gerahmt wird die Apokalypse151 des Johannes jeweils durch Kanonformeln. Nach der Selbstmitteilung des Autors zur Genesis des Buches folgt die vertraute Sequenz: "Μακάριος ό άναγινώσκων", "Selig ist, wer da liest und wiedererkennt (=lesend wiedererkennt)"152. Wer sich bis zum Ende der Bibel durchgelesen hat, soll die folgende prophetische Fiktion als Summa des Ganzen ausmachen. Folgerichtig schließt das Buch mit Kanonformel und Segensspruch: "So jemand dazusetzt, so wird Gott zusetzen auf ihn die Plagen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und so jemand davontut von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott abtun sein Teil vom Holz des Lebens und von der heiligen Stadt, davon in diesem Buch geschrieben ist."153 Die Schlußsequenz endet mit der evangelischen, stark an paulinische Briefformeln

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Zwar hat sich die Bezeichnung Apokalypse eingebürgert, dem letzten Buch der Bücher fehlen aber alle typischen Momente apokalyptischer Literatur: weder bietet das Buch eine Geheimlehre, noch denunziert es die Gegenwart, noch ist es anonym verfaßt. Apkl,3. Apk 22,18f.

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erinnernden Bitte um jenes gnadenhafte Verstehen aller Lesewilligen, das sich im Leben der Menschen bezeugen soll. " "Η χάρις τοϋ κυρίου Ί η σ ο υ μετά πάντων." 154 Alle Visionen, die Johannes auf Patmos in sein Buch schreibt, schließen jene Lücke, die Evangelien und Apostelgeschichte ofifengelassen haben: "Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte; und was du siehest, das schreibe in ein Buch und sende es zu den Gemeinden in Asien. (...) Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige; ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel der Hölle und des Todes. Schreibe, was du gesehen hast, und was da ist, und was geschehen soll darnach."155 Nach dem Diktat der sieben prophetischen Sendschreiben erschaut Johannes Christus als Kosmokrator auf dem Thron, der das Lebensbuch156 in Händen hält157. Die Visionen, die Johannes erfahrt, erweisen sich dabei als so dicht, daß er sie - wie im Johannes-Evangelium - nur in einem Entzugsmodus beschreiben kann. Schließt das JohannesEvangelium mit dem ironischen Satz: "Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; so sie aber sollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, die Welt würde die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären"158, so erhält der unter diesem Namen firmierende Autor in Kapitel 10 die Anweisung, ein Buch des Engels nicht aufzuschreiben sondern zu verschlingen: Ein heiliger Rest bleibt, der den Leser auch weiterhin auf die Lesehermeneutik des verdichteten Textlebens verpflichtet. Ihre Mitte findet die Zentralvision im Blick auf einen "neuen Himmel und eine neue Erde"159. Das himmlische Jerusalem, das Johannes er154

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Apk 22,21. Zur Struktur der Apokalypse vgl. Ferdinand Hahn: Zum Aufbau der Johannesoffenbarung. In: Kirche und Bibel. Festgabe Eduard Schick, hrsg. von den Professoren der Phil.-Theol. Hochschule Fulda, Paderborn 1979, S. 145-154. Apk 1, 11; 1, 17f. Die Struktur dieser Sendschreiben untersucht Ferdinand Hahn: Die Sendschreiben der Johannesapokalypse. Ein Beitrag zur Bestimmung prophetischer Redeformen, in: Tradition und Glaube. Das frühe Christentum in seiner Umwelt. Festgabe Karl Georg Kuhn, Göttingen 1971, S. 357-394. Apk 3,5 Apk 5,1. Joh 21,25. Apk 21,1.

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blickt, offenbart sich als ästhetisches Kunstwerk schlechthin. Ein Engel mit einem goldenen Rohr (κάλαμος verwendet Johannes) ermißt ein formstrenges Ganzes, eine architektonische Musterlösung. "Die Länge und die Breite und die Höhe der Stadt sind gleich."160 Die Bibel beläßt es aber nicht bei dem metrischen Ideal, sondern versteht diesen Musterbau als beseeltes Ganzes. "Und ich sah keinen Tempel darin, denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, und das Lamm. Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm."161 Das himmlische Jerusalem ist Ausdruck der Vollkommenheit, ein ästhetisches Meisterwerk par excellence. Hier auch kommt der antike Kanonbegriff wie Assmann ihn ausgemacht und irrig für den biblischen Kanon abgelehnt hat - zur Anwendung. "Herkunft dieses Genauigkeits-ideals ist die Baukunst. Sie ist Herkunft und 'Sitz im Leben' des Instruments kanon und liefert das tertium comparationis aller seiner übertragenen Bedeutungen."162 Bereits einige Zeilen vorher im Text fallt architektonische Semantik: "Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein."163 Σκηνή ist eine bedeutungsexplosive Vokabel, denn sie meint sowohl das Nomadenzelt der Patriarchen, wo Gott etwa mit Abraham freundschaftlich verkehrte164, als auch die Stiftshütte165 vielleicht auch das Davidsche Königszelt166 - meint sowohl die inkarnatorische Einwohnung Jesu: "Und das Wort ward Fleisch und zeltete unter uns"167, seinen hohepriesterlichen Dienst168 und geht die seltsame semantische Liaison mit Tempel ein (ό ναός της σκηνής) 169 . 160

Apk 21,16. Apk 21,21f. 162 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, loc. cit., S. 109. 163 Apk 21, 3. 164 Gen 18, 1. 165 Ex 27, 21. 166 v g l . Walter Bauer. Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin, New York 1971, Sp: 1495. 167 Joh 1, 14. 168 Hb 8, 2. 169 Apk 15,5. 161

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Die Schriftszene der Apokalypse, genauer: die ausdrückliche Aufforderung an dieser Stelle wörtlich zu notieren, legt nahe, die Einwohnung hier auf das Buch zu beziehen. Das ist der Clou der Apokalypse: Die ganze Weltgeschichte, die komplexe Geschichte Gottes mit der Welt steht verdichtet im Buch. So wie man Zelte aufschlägt, so schlägt man jetzt das Buch auf, um die Welt- und Lebensgeschichte zu erlesen; die vom ersten und zweiten Adam. Hier, zwischen den Buchdeckeln, spannt sich die ganze Weltgeschichte. Aber nur wer liest, wer sich in die Grundsituation der Lektüre begibt, wer die Selbstbehauptung der Schrift erkennt, übernimmt das Uterarische Vermächtnis und wird zum Erben, zum Sohn gar, wird gleichzeitig mit der ganzen Welt: "Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein."170 Überträgt man den Satz auf die konkrete Lesesituation, den ursprünglichen Sitz im Leben, verliert er alle Kryptik, weil er präzise die Ursituation des homo Iegens einfangt: Für den Leser ist die ganze Weltgeschichte eine einzige Gegenwart. Als Lese-Erbe und Lese-Sohn171 ist er das A und O, der Leser von Genesis I und Apokalypse 22: Wer das Buch öffoet, wird Zeuge der Schöpfung, wer es schließt, hat das Ende gesehen. Dazwischen liegen die Höhen und Tiefen menschlichen Lebens und Überlebens. Das Buch versammelt Himmel und Erde, Gott und die Menschen, gebaut für den Leser, in den vielen Wohnungen zu wohnen. Darin hegt das ästhetisch-architektonische Moment des ganzen Kanons: Die ganze Welt drückt sich im portativen Buch aus. Als Schlußstein der Bucharchitektur darf die Apokalypse nicht fehlen. Sie ist der ästhetische Höhepunkt des christenmenschlichen Dramas. Erst hier, im letzten Buch,

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Apk 21, 7. In der neutestamentlichen Forschung setzt sich immer stärker der Trend durch, die Johannesoffenbarung als Brief zu lesen Martin Karrer: Die Johannesoffenbarung als Brief, Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, Göttingen 1986, nennt seine These sofort im Titel. Zuzustimmen ist seinem rezipientenorientierten Ansatz (vgl. bes. 220-254), der die leser- und hörerspezifische Kommunikationsstruktur aufhellt. Freilich bleiben die ästhetischen Momente unterreflektiert, weil er die ganz spezifische Pointe der Lesesituation nicht erkennt: das Gleichzeitigwerden mit der Person Christi.

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gelingt eine lektoral motivierte Identifizierung mit dem integralen Leben der dramatischen Hauptperson172. 2.2.7 Das Prinzip der Wiedererkenntnis Über die Aufgabe Systematischer Theologie Welche Gestalt einer Lesetheologie erhebt sich über der physiognomisch-morphologischen Schriftlehre? Soviel ist sicher: Jede dogmatische Arbeit findet ihr Maß am dramatischen Schauspielcharakter der Heiligen Schrift. Die vier Affektionen der Schrift garantieren dabei die Integralität der Schauspielszenerie: Die Autorität der Schrift besteht darin, die Wiedererkenntnis kreatürlichen Seins lektoral durch die Investierung einer Inkamationssemantik zu erschließen; ihre Klarheit äußert sich im verstehenden Ausdruck; ihre von einer oralen Ergänzung unabhängige Vollständigkeit zeigt sich darin, prototypisch jeden Menschen ansprechen und zum literarischen Erben Christi machen zu können; die dramatische Makrostruktur des einen integralen kreatürlichen Christenlebens erlaubt dabei dem Leser, sich spielerisch mit Möglichkeiten zu identifizieren und eindeutig zu werden - darin besteht die Wirksamkeit der Schrift. Was aber ist die Sache der Schrift? Die Sache der Schrift ist das literarische Porträt Christi - von der Inkarnation über das Leiden bis hin zum himmlischen Regiment -, das den Leser an einem prototypischen Leben teilhaben läßt. Der Leser trifft auf den im Text inkarnierten Christus und wird in ein verantwortliches Gegenüberverhältnis erneut eingesetzt. Die Leibbezogenheit biblischer Sprache erlaubt es dem Leser die soteriologische Mittlerleistung Christi hautnah, sprich: präsentisch zu erfahren, um im so erschlossenen Erfahrungsraum die eigene christomorphe Lebensgestalt auszubilden. Die erzählten WiedererkennungsSzenen präformieren dabei die Erfahrung, was es heißt, ein Geschöpf Gottes zu sein.

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Die einzige mir bekannte Interpretation, die die dramatischen Charaktere der Johannesoffenbarung herausstreicht, stammt von James L. Blevin: The Genre of Revelation, RExp 77 (1980), S. 393-408.

Prinzip der Wiedererkenntnis

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Fragt man nach der Einheit dieser Situationen und damit nach der Einheit der Schrift, dann besteht sie darin, die urbildliche christliche Lebensform in ihrer physiognomischen Präsenz nahezubringen. Christliche Theologie besinnt sich im Dreischritt von Grammatik, Kritik und Hermeneutik auf die in dem porträtierten Antlitz der Schrift erschlossene Lebenswelt. Eine material ausgeführte physiognomisch-morphologische Dogmatik wird sich an dieser Einsicht ausrichten müssen. Nur dann trifft auch auf den theologischen Schriftsteller zu, was Paulus als Probe aufs Exempel anbot: "Denn wir schreiben euch nichts anderes, denn was ihr leset (= wiedererkennt) und auch befindet."173

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2. Kor 1, 13.

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Bultmann, R. 76 Calvin, J. 61, 62, 93, 160, 160, 189 Calvino, I. 209 Cassirer, E. 95 Casper, Β. 29 Childs, Β. 168 Colpe, C. 109 Conrad, C. 78 Dalferth, I. U. 102, 110, 143 Derrida, J. 1, 2, 3, 4, 10, 14, 15, 15, 16, 16, 17, 1 8 , 1 8 , 19,19, 20, 21, 21, 22, 22, 23, 24, 25, 25. 27, 33, 34, 36, 43, 44, 93, 94, 95, 96, 103, 115 Descombes, V. 16 Diemer, Α. 99 Dietz, W. 200 Dohmen, C. 59, 212, 213, 214, 214, 216 Dupuy, J.-P. 24, 26 Ebeling, G. 15, 83, 84, 84, 85, 85, 86, 87, 88, 88,

241

Namensverzeichnis 89, 89, 90, 94, 120, 149

Heidegger, M. 2, 11,

15,

18, 22, 23, 23, 24, 24,

Escarpit, R. 202

27, 27, 31, 35, 36, 43,

Ferry, L. 16

49, 69, 79, 79, 80, 84,

Foucault, M. 75

95, 98, 99, 100, 100,

Frank, M. 79

101, 101,

105,

109,

Frey, C. 67

109,

111, 112,

113,

Fuchs, E. 85, 165

116,

118,

170,

170,

Gabriel, G. 44

171,

171,

172,

172,

Gadamer, H.-G. 9, 82, 53,

¡81,

200,

208,

209,

54, 99, 112, 120, 152,

210

152,

160, 160,

195,

196, 198, 213

Hegel, G.W.F. 69, 125 Henry, M. 77, 129

Gebauer, G. 21, 22, 27

Herder, J.G. 138, 142, 142,

Girard, R. 20, 25, 26, 33

143, 143,

Goethe, J.W.

183, 183, 184

182,

184,

184, 199

176,

176,

Hollaz, D. 61, 170

Goppelt, L. 112

Hornig, G. 63

Goud, J.F. 69, 108

Huizinga, J. 37, 110

Greisch, J. 56

Husserl, E. 1, 3, 11, 15, 15,

Grelot, P. 153, 213, 214

17, 27, 30, 31, 33, 35,

Grimm, J, W 135

36, 40, 41, 43, 69, 97,

Gründer, Κ. 112

97, 98, 99, 100, 102,

Guardini, R. 161, 193

103,

Gurisatti, G. 195, 196 Ill

Iser, W. 40, 40. 159, 202 Jauß, H R. 4 0 , 4 0

Hamann, J.G. 51, 131, 138, 142,

142,

143, 188, 215

167,

Jüngel, E. 167,

36, 44, 192,

196,

109, 197,

197

Handke, P. 9 Harnisch,

107,

Ingarden, R. 40

Hahn, F. 219 141, 141,

106,

108, 108. 113, 170

Habermas, J. 78, 79 Hadot, P.

105,

Kähler, M. 116

W.

164,

166,

Kaltenbrunner, G-K 161

186,

197,

199.

Karrer, M. 221

206 Havelock, E.A. 21

Käuser, A. 161 Kierkegaard, S.

170, 170,

199, 200, 200

242

Kimmerle, H. 16 Kittler, F. 231 Kiwitz, P. 108 Knautz, G. 199 Knoll, H. 199 Koch, K. 2109 Kofman, S. 16 Korsch, D. 48 Kraus, H.-J. 63 Krewani, W.N. 28, 29, 34 Kühn, R. 129 Lacoue-Labarthe, P. 23 Lavater, J.C. 138, 139, 140, 140, 141, 142, 142, 182, 182, 184, 189, 196 Leeuw, van der, G. 183, 183, 193 Leibniz, G.W. 139, 140, 141, 146, 194 Lesch, W. 25 Lessing, G.E. 61,196, 197 Lévinas, E. 3, 10, 14, 17, 26, 27, 27, 28, 28, 29, 29, 30, 30, 31, 31, 32, 32, 33, 33, 34, 34, 38, 38, 45, 56, 69, 69, 72, 72, 94, 96, 103, 104, 106, 108, 116, 129, 129, 136, 137, 137, 140, 155,155 Lübbe, H. 105 Lüpke, von, J. 54, 143 McLuhan, M. 21 McKnight, E.V. 125, 161 Meier, G.F. 139 Merleau-Ponty, M. 17,104

Namensverzeichnis

Metzger, G. 48, 49, 51, 51, 52, 89, 152, 156, 170, 170 Moltmann, J. 68 Müller, W.G. 109,789 Muth, L. 59, 161 Nozick, R. 196 Oeming, M. 153, 209, 214, 214, 215, 217 Pannenberg, W. 15, 52, 64, 65, 67, 69, 71, 74, 74, 75, 76, 77, 77, 78, 78, 79, 80, 81, 81, 82, 83, 91, 93, 149, 152, 179, 214 Piaton 19, 20, 27, 27, 28, 29, 37, 55, 56, 57, 58, 62, 65, 110,110, 125 Peschke, E. 53 Piepmeier, R. 83 Plessner, H. 194, 203 Plümacher, E. 154 Pöggeler, O. 99 Pöhlmann, W. 157, 205 Rahner, K. 153 Rambach, J.J. 54, 190, 190, 198 Ramsey, J.T. 102 Ratschow, C H. 157 Reuber, R. III Reventlow, von, H. 209 Ricoeur, P. 3, 10, 34, 34, 35, 35, 36, 36, 37, 37, 38, 38, 39, 39, 40, 40, 41, 42, 42, 43, 44, 45, 46, 52, 78, 94, 95, 96, 103,

Namenverzeichnis 112, 157, 158, 159, 172, 197 Riemaxm, F. 200 Ritsehl, D. 66, 79, 189 Rödszus-Hecker, M. 117 Rombach, H. 102 Rorty, R. 15, 22, 23, 130, 131, 162 Saltzwedel, J. 126 Sartre, J.-P. 102 Schapp, W. 41, 104, 105, 128 Schilson, A. 193 Schleiermacher, F.D.E. 64, 64, 65, 65, 66, 88,89, 110, 121, 124, 125, 125, 125, 126, 132, 137, 138, 138 Schmid, H.H. 157, 170, 183, 210 Schmitz, H. 95, 102, 102, 103, 103, 104, 113, 128, 130, 176, 176, 184, 185, 193, 195, 200, 201, 203, 207 Schneemelcher, W. 154 Schneider, S. 187 Scholz, H. 190, 191 Schütz, A. 110 Schwarz, R. 48, 82, 156 Seidel, W. 161, 181 Semler, J.S. 63, 63, 64

243 Simmel, G. 111 Spiegelberg, H. 97 Spranger, E. 110,770 Staiger, E. 185, 201 Stählin, W. 7 92 Steck, O.H. 214 Steiner, G. 34, 130, 147 Stolt, B. 156 Taylor, M C. 25 Theißen, G. 788, 190 Theobald, G. 7 33 Tillich, P. 96, 187, 198 Timm, H. 87, 135, 147 Tischner, J. 183 Tracy, D. 26 Vattimo, G. 118 Vaihinger, H. 78 Via, D.O. 187, 187, 194, 204 Wagner, F. 77 Waldenfels, B. 16, 97, 104, 104, 105, 107, 109 Walker, T. 748 Wanke, G. 754 Weber, E. 34, 62 Weder, H. 766, 195 Weimar, K. 50, 54 Welter, R. 98 Wetzel, M. 27 White, H. 77 Winch, P. I l l Wittgenstein, L. 705, 110, 110

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G

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HANS MARTIN MÜLLER

Homiletik Eine evangelische Predigtlehre 20,5 χ 13,5 cm. XVII, 442 Seiten. 1996. Kartoniert DM 58,- / öS 453,- / sFr 58,- ISBN 3-11-015074-3 Gebunden DM 88,- / öS 687,- / sFr 86,- ISBN 3-11-013186-2 de Gruyter Lehrbuch Evangelische Predigtlehre für Studenten und Vikare sowie für die Pfarrerfortbildung. Die Lehre von der Predigt wird aus der Sicht der evangelischen Theologie nach ihren historischen Voraussetzungen, ihrem systematischen Zusammenhang und ihren praktischen Konsequenzen dargestellt. Der Autor war bis 1994 Ordinarius für Praktische Theologie an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Tübingen.

MARTIN HONECKER

Grundriß der Sozialethik 20,5 χ 13,5 cm. XXVI, 790 Seiten. 1995. Kartoniert DM 78,- / öS 609,- / sFr 77,- ISBN 3-11-014474-3 Gebunden DM 118,- / öS 921,- / sFr 114,- ISBN 3-11-014889-7 de Gruyter Lehrbuch Lehrbuch und Nachschlagewerk für das gesamte Gebiet der Sozialethik. In einem zusammenfassenden Überblick werden zentrale Themen aus sechs Lebensbereichen dargestellt: Leben und Gesundheit ("Medizinische Ethik") - Ehe, Familie und Sexualität Natur und Umwelt - Politik und Staat - Wirtschaft - Kultur und Recht. Einleitend werden die gängigen Modelle theologischer Weltdeutung (z.B. Zweireichelehre, Königsherrschaft Christi) diskutiert und am Ende wird die Aufgabe und Stellung der Kirche in der Gesellschaft erörtert. Der Autor ist ordentlicher Professor für Sozialethik und Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Preisändeningen vorbehalten

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