Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition [Reprint 2013 ed.] 3110163896, 9783110163896

Der Schulkommentar des Porphyrio ist der älteste erhaltene lateinische Dichterkommentar. Er wird in die griechisch-römis

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Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition [Reprint 2013 ed.]
 3110163896, 9783110163896

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio
Der antike Grammatikunterricht
1. Ἀνάγνωσις: Die Rezitation
1.1. Ὑτόκρισις: Der effektvolle Vortrag
1.2. Προσῳδία: Die korrekte Aussprache
1.3. Διαστολή: Die “Interpunktion”
2. Διρϑωσις: Die Textkritik
2.1. Emendare
2.2. Distinguere
3. Ἐξήγησις: Die Texterklärung
3.1. Μετρικόν: Die metrischen Erläuterungen
3.2. Ἱστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen und der Wissenshorizont des 3. Jh.s
3.3. Γλωσσηματίκόν: Die lexikalischen Erklärungen
3.4. Τεχνικόν: Die sprachlich-stilistische Analyse
4. Κρίσις ποιημάτων: Die Dichterkritik und ihre Kriterien
4.1. Res (Πράγματα)
4.2. Ordo (Τάξις)
4.3. Verba (Λέξις)
4.4. Negativkritik?
4.5. Porphyrios kritisches Vokabular und die Lehre von den tria genera dicendi
5. Autorenzitate bei Porphyrio: Similien, Vorbilder, Autoritäten und der literarische Zeitgeschmack
5.1. Horatium ex Horatio explanare
5.2. Die Autorenzitate bei Porphyrio: “Kanonische” Autoren des 3. Jh.s
6. Zusammenfassung
7. Abkürzungen und Literatur
8. Sachregister
9. Stellenregister (Auswahl)

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Silke Diederich Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition

1749

?

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Zwierlein

Band 55

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Der Horazkommentar des Porphyrie* im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition von

Silke Diederich

W DE G Walter de Gruyter · Berlin • New York 1999

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Diederich, Silke: Der Horazkommentar des Porphyrie im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition / von Silke Diederich. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Bd. 55) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-11-016389-6

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

MATRI CARISSIMAE

Vorwort Diese Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im Wintersemester 1998/99 in der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn eingereichten Dissertation. An erster Stelle danke ich meinem Lehrer Herrn Prof. Dr. Otto Zwierlein sehr herzlich für die Anregung zu diesem Thema, die Stipendiengutachten, die Betreuung, die Vermittlung des Kontaktes zum Verlag de Gruyter und für sein stetes Interesse, mit dem er diese Arbeit begleitet und gefördert hat. Ich schulde ihm Dank für viele wichtige Hinweise. Den Herausgebern der UaLG danke ich sehr für die Aufnahme in die Reihe und speziell Herrn Prof. Dr. Winfried Bühler für seine konstruktiven Anregungen. Herr Prof. Dr. Heinz Neitzel hat die Mühe des Korreferates übernommen. Mein herzlicher Dank gilt auch der Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf und dem Bochumer Graduiertenkolleg "Der Kommentar in Antike und Mittelalter" für ihre großzügige materielle und ideelle Förderung. Hartmut Gastens hat in bewährter und kompetenter Weise das Computer-Layout gestaltet. Für geduldiges Korrekturlesen danke ich den Kommilitonen Dr. Alexander Arweiler, Jutta Esser, Stephanie Jäger und Tanja Schelzius. Herrn Prof. Dr. Wolfram Ax möchte ich danken für seine stetige Bereitschaft zu Rat und Hilfe und für seine wertvollen Hinweise zu Fragen der antiken Grammatiktheorie. Bonn, im April 1999

Silke Diederich

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

VII

Einleitung Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio Entstehung Überlieferung Der antike Grammatikunterricht

1 1 2 5 11

1. Άνάγνωσις: Die Rezitation 1.1. Ύπόκρισις: Der effektvolle Vortrag 1.2. Προσωδία: Die korrekte Aussprache 1.3. Διαστολή: Die "Interpunktion"

15 15 21 24

2. Διόράωσις: Die Textkritik 2.1. Emendare 2.2. Distinguere

31 32 37

3. Έξήγτ/σις: Die Texterklärung 3.1. Μίτρίκόν: Die metrischen Erläuterungen 3.2. Ιστορικόν. Die sachlichen Erläuterungen und der Wissenshorizont des 3. Jh.s 3.3. Τλωσσημαηκόν: Die lexikalischen Erklärungen 3.4. Τεχηκόν: Die sprachlich-stilistische Analyse 3.4.1. Synonymik und Etymologie 3.4.1.1. Synonymik 3.4.1.2. Etymologie 3.4.2. Die Lehre von den partes orationis 3.4.2.1. De nomine 3.4.2.2. De pronomine 3.4.2.3. De verbo 3.4.2.4. De participio 3.4.2.5. De adverbio 3.4.2.6. De coniunctione 3.4.2.7. De praepositione 3.4.3. Die Lehre von den vitia et virtutes orationis 3.4.3.1. Die vitia orationis: 3.4.3.1.1. Barbarismus 3.4.3.1.2. Solözismus 3.4.3.2. Die virtutes orationis·.

40 40 44 99 118 118 118 123 141 147 156 157 164 164 166 167 169 171 171 171 173

X

Inhaltsverzeichnis 3.4.3.2.1. Metaplasmus 3.4.3.2.2. Grammatische Wortfiguren Exkurs: Die Kriterien der latinitas in der sprachlichen Analyse . . . 3.4.3.2.3. Rhetorische Wortfiguren 3.4.3.2.4. Sinnfiguren 3.4.3.2.5. Tropen

4. Κρίσις ποιημάτων: Die Dichterkritik und ihre Kriterien 4.1. Res (Πράγματα) 4.1.1. Dramatische Elemente 4.1.2. Ethos und Pathos 4.1.3. Lebensnähe 4.1.4. Moraldidaxe? 4.1.5. Doctrina 4.2. Ordo (Τάξις) 4.3. Verba (Λέξις) 4.3.1. Die Stilqualitäten 4.4. Negativkritik? 4.5. Porphyrios kritisches Vokabular und die Lehre von den tria genera dicendi

173 175 194 204 215 230 241 242 242 243 249 250 253 254 257 258 266 279

5. Autorenzitate bei Porphyrio: Similien, Vorbilder, Autoritäten und der literarische Zeitgeschmack 5.1. Horatium ex Horatio explanare 5.2. Die Autorenzitate bei Porphyrio: "Kanonische" Autoren des 3. Jh.s 5.2.1. Literarische Vorbilder und Nachahmer des Horaz 5.2.2. Die Autoritäten Porphyrios und ihre Geltungsbereiche . .

309 311 317

6. Zusammenfassung

340

7. Abkürzungen und Literatur

347

8. Sachregister

368

9. Stellenregister (Auswahl)

374

307 307

Einleitung Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio Porphyrio wurde in der modernen Horazforschung bislang vor allem von den Kommentatoren als Hilfsmittel für die Erklärung des Horaztextes herangezogen und von den Herausgebern für die Textkonstitution genutzt. Sporadisch wurde er auch als historische Quelle konsultiert für Fragen, die nicht unmittelbar Horaz betrafen, etwa für literaturgeschichtliche Probleme 1 oder für die Sekundärüberlieferung anderer Dichter 2 . Doch das Interesse am Porphyriokommentar um seiner selbst willen war bislang geringer. Es konzentrierte sich vornehmlich auf Überlieferung und Textkritik, die in zahlreichen Arbeiten behandelt wurde, besonders zur Zeit der kurz aufeinanderfolgenden Ausgaben von Meyer, Hauthal und Holder. Daneben finden sich einige Versuche zur zeitlichen und lokalen Einordnung des Kommentators, einerseits durch Heranziehen anderer Quellen, andererseits durch Gewinnung von Hinweisen aus dem Scholiencorpus selbst mittels Sprachanalyse oder aus Anhaltspunkten sachlicher Art (s. u.). Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildet das Verhältnis zu Ps.-Acro 3 . Darüber hinaus existieren nur wenige Untersuchungen zu linguistischen oder sachlichen Einzelfragen 4 . McCauley untersuchte anhand einiger Stichproben die Zuverlässigkeit der Angaben, namentlich der prosopographischen, und gibt eine Übersicht der Porphyrio betreffenden Philologenurteile seit dem 15. Jh (S. 9-16). Bislang nicht erfolgt ist eine systematische Analyse dieses Kommentars vor dem bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund, wie sie bereits für die Aristophanesscholien von Rutherford, für Priscian von Glück, für die Lucanscholien von Bachmann, für Orígenes von Neuschäfer und für Donat von Jakobi vorgenommen worden ist. Diese Lücke überrascht um so mehr, als es sich bei unserem Kommentar (abgesehen vom reinen Sachkommentar des Asconius zu Cicero) um das mit Abstand älteste überlieferte Scholiencorpus in lateinischer Sprache handelt, das uns einen einmaligen Einblick in das Schul- und Bildungswesen des 3. Jahrhunderts bieten kann.

Z.B. Alfonsi: Note a Lucilio; Classen: Satire, the Elusive Genre. Z.B. Ferrare: Un'edizione di Lucilio diversa della nostra, Mazzoni: At non effugies meos iambos (Catullo, LIV). S. besonders die relativ neue Arbeit Noskes; weitere Literatur s. d. Zur Qualität diverser Sachangaben s. vor allem Petschenig 1873, S. 8ff., Vrba 1897, S. 30ff. Zu Fragen der sprachlichen Analyse bei Porphyrio s. besonders die Arbeiten Mastellones.

2

Einleitung

Schon Keller hatte erkannt, daß unser Kommentar mehr darstellt als nur ein besonders interessantes Dokument der antiken Horazrezeption: "Gerade darin besteht ... der vorzüglichste Werth Porphyrions, darin dass er uns mehr als jede andere Schrift des Alterthums einen Einblick eröffnet in die Art und Weise, wie in den Rhetorschulen der römischen Kaiserzeit die Interpretation der bedeutendsten classischen Autoren - und es bildete dies bekanntlich einen Haupttheil des Unterrichts - ... gehandhabt wurde." 5 Der Versuch nachzuzeichnen, wie dieser Unterricht im Detail beschaffen war, welches seine Ziele, Inhalte und methodischen Grundlagen waren und mit welchen - von unseren oft so verschiedenen - wissenschaftlichen Kategoriensystemen er operiert, ist Gegenstand dieser Untersuchung 6 . Dabei soll auch, soweit dies im Rahmen dieser Arbeit möglich ist, jeweils eine Einordnung in den Traditionszusammenhang versucht werden. Wir erhalten dabei einen detaillierten Eindruck von der Arbeitsweise der Schulphilologie dieser Zeit aber auch von dem durchschnittlichen Bildungshorizont der römischen Führungsschicht, deren Mitglieder diese Schule durchlaufen mußten, und somit vom geistigen Horizont des dritten Jahrhunderts, also einer Epoche, die in dieser Hinsicht bislang kaum erschlossen ist. Dabei ergeben sich Problemfelder linguistischer, rhetorischer, poetologischer, in geringem Maße auch fachwissenschaflicher Art (im Rahmen der Vermittlung von Realienwissen), zu denen die Erfordernisse der didaktischen Umsetzung und nicht zuletzt die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen (z.B. Schlüsselqualifikation für die Ämterlaufbahn, Vorbereitung auf das Deklamationswesen, Vermittlung von Werthaltungen und schichtenspezifischen Codes) die Rahmenbedingungen schaffen 7 . Doch zunächst einige Informationen über den Kommentar und seinen Verfasser:

Entstehung An biographischen Daten des Porphyrio hat sich seit Helms RE-Artikel nichts Neues ergeben; deshalb möge ein knapper Überblick genügen:

Keller 1864-67, S. 498f. Der Kommentar richtete sich an Schüler, die ihn entweder selbst als Nachschlagewerk einsahen oder vom Lehrer vorgetragen hörten (s. Uhi, Servius als Sprachlehrer, S. 14f., weitere Literatur s. d.). Der Anspruch, diesen Komplex von Einflüssen lückenlos darzustellen, würde allerdings nicht nur den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sondern wäre auch aufgrund der mangelhaften Quellenlage ein unmögliches Unterfangen.

Einleitung

3

D e n Terminus post quem der Abfassung des Kommentars markieren Zitate bei Porphyrio aus Q. Terentius Scaurus (Sat. 2 , 5 , 9 2 ) 8 und Sueton (epist. 2 , 1 ) , beide aus dem 2. Jh. Der Terminus ante quem ergibt sich aus einem Exzerpt aus dem Liber αφορμών des Julius Romanus bei Charisius 9 , der ein verschollenes Interpretament zu Epist. 1,3,31 zitiert 10 . Julius Romanus wirkte wohl im 3. Jh. 1 1 . Wir können also den Kommentator mit Keller (Symbola Bonn. S. 4 9 f . ) , Teuffei, Wessner 1893 und Landgraf 1896 wohl in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts datieren. Rückschlüsse auf eine spätere Abfassungszeit, die sich auf Sprachuntersuchungen gründen, verbieten sich schon deshalb, weil die sprachliche Form dieses Gebrauchstextes durch Redaktoren des 5. Jh.s und durch Schreiber sehr wahrscheinlich verfälscht worden ist 1 2 . Anhaltspunkte aus den sachlichen Erläuterungen lassen allenfalls den Schluß zu, daß sich das Christentum noch nicht durchgesetzt hat 1 3 .

Terentius Scaurus verfaßte einen Horaz-Kommentar zumindest zur Ars: Charisius p. 263,9ff.; 272,25ff. B. Char. KGL I 220,27ff. = 285,10ff. B. Sarete pro integre, sarcire enim est integrum facere. Hinc 'sarta teda uti sint' opera publica [...] locantur, et ut Porphyrio ex Verrio et Festo. 'In auguralibus ' inquit 'libris ita est, sane sarcteque audire videre '. S. Wessner 1893, S. 186. S. Wessner, Jahresbericht CXIII 1902, S. 205-209. S. Wessner S. 160f. - Petschenig 1879 (S. 801-3) wollte Porphyrio etwa zeitgleich mit den Verfassern der Kaisergeschichte Spartianus, Capitolinus und Lampridius (S. 805) ansetzen. Auch C. F. Vrba (Melemata Porphyrionea, Wien 1885) und Sittl 1882, S. 89 wollen ihn mit Meyer (krit. Ausgabe, praef. p. VI) ins 4. Jh. datieren. Vrba führt dazu vor allem lexikalische Gründe an, Sittl beruft sich darauf, daß er statt des Acl oft quod-Sätze verwende, häufig sogar mit dem Infinitiv, was unter den Grammatikern erst wieder bei Macrobius auftrete. Gegen die Spätdatierung wendet sich Wessner (Quaestiones Porphyrioneae, Diss. Leipzig 1893 und Jahrbuch für Phil. CLI 1895, 422). Wessner weist z.B. nach, daß es sich bei vielen der von Vrba zusammengetragenen "spätlateinischen" Wörtern um grammatische Termini handelt, die nur mangels überlieferter Quellen nicht früher nachweisbar sind (S. 159ff.). Wessner, 1893, S. 156 hält außerdem Sittl zu den quod-Sätzen Belege aus den Afrikanern Tertullian und Cyprian entgegen. (Beispiele für vulgärlateinisches Sprachgut sind gesammelt bei Petschenig 1879, Vrba 1897, S. 32ff.) - Archaisierende Wendungen wie thensaurus, lagyna u. a. und Zitate alter Autoren, wie Ennius, Lucilius u. a. weisen Porphyrio als Anhänger Frontos aus (weitere Beispiele bei O. Keller 1864-7, S. 497, die z. T. allerdings vom Text der Holder-Ausgabe abweichen!). Carm. 1,5,12-13: Videmus autem hodiequepingere in tabulis quosdam casus, quos in mari passi sint, atque in fanis marinorum deorum ponere-, Carm. 3,8,1, Carm. 1,36,12, weitere Stellen bei Suringar, Historia, S. 16ff. (der allerdings an deren Aussagekraft zweifelt) und bei Schweikert 1864, S. 39ff. - Wertlos sind die Argumente ex silentio: daß z.B. die Partherkönige noch nicht den Sassaniden erlegen

4

Einleitung

Als Herkunftsland des Kommentators wurde Africa angenommen, einerseits aus sprachlichen Gründen 14 , andererseits wegen seiner guten Sachkenntnisse über diese Provinz 15 , die aber, wie die Analyse der Sachangaben des Historikon zeigen wird, über Handbuchwissen nicht hinausgehen. Aus Porphyrios gründlichen Informationen über römische Lokalitäten hat man außerdem zu voreilig - auf einen Aufenthalt in der Hauptstadt geschlossen 16 . Beide Hypothesen sind äußerst unsicher; aber immerhin kann man mit Keller feststellen, daß Porphyrio sich als Römer fühlte 17 . Einen Hinweis auf weitere Aktivitäten unseres Scholiasten, nämlich auf die Abfassung eines Lucankommentars, sieht Usener 18 in einem PorphyrioZitat aus den Commenta Lucani 19 . Es existieren zwar keine weiteren Zeug-

seien, zählt nicht angesichts der geringen Kenntnisse, die Porphyrio über nichtrömische Völker besitzt; ebenso wenig relevant ist die Beobachtung Kellers, daß zu Epod. 5,100; 17,58 und Sat. 1,8 die Ringmauer Aurelians noch nicht erwähnt ist (Keller, Symb. Phil. Bonn. S. 491f. [s. auch Helm RE, Sp. 2413], widerlegt von Jordan, Hermes 8, 1874, S. 89, der bemerkt, daß auch Servius die neuen Namen noch nicht verwendet); denn es ist typisch für die Gelehrsamkeit eines Scholiasten, seine Realienkenntnisse aus Handbüchern und literarischen Quellen zu beziehen, auch wenn dieses Wissen längst überholt ist, wie wir bei der Untersuchung der Realienangaben im Historikon sehen werden. Keller 1864-67, S. 496 führt als Argumente die Verwendung des Griechischen (die allerdings für Kommentatoren allgemein nicht untypisch ist) und lexikalische Übereinstimmungen mit Apuleius an. Landgraf 1896, S. 552ff. zählt außerdem grammatisch-stilistische Eigenarten auf, sowie S. 563ff. weitere lexikalische Besonderheiten; s. auch Sittl S. 89f. Dagegen argumentiert Vrba 1885 und 1897, S. 37f., dem sich Helm Sp. 2414 anschließt. Z.B. die Angaben zu Epod. 2,53; Carm. 1,2,39; Carm. 2,6,3, s. O. Keller 186467, S. 494f., Landgraf 1896, S. 551f. Z.B. Carm. 4,12,18; Sat. 2,3,36; weitere Beispiele bei Keller 1864-67, S. 493, Petschenig 1876, S. 728. Für einen Romaufenthalt Porphyrios plädiert auch Schweikert 1864, S. 42f. Dagegen läßt sich einwenden, daß die Kenntnisse über Rom ebensogut aus einer Kommentarquelle oder aus einem Handbuch, wie etwa dem Werk De regionibus urbis Romae, das Sextus Rufus Festus zugeschrieben wird (s. Gräfenhan IV, S. 435), stammen können. Dies werde, so Keller (1864-7, S. 493), spürbar in Äußerungen wie: Carm. 3,6,9 bis autem Parthos retulisse de nobis victoriam dixit ...; Carm. 3,6,17 per nuptias inquinatas vult ostendere nos ex ipsa culpa progeneratos ... (weitere Beisp. s. d. Anm. 18). Kl. Schriften II, Leipzig 1913, S. 5. Cod. Bern. 370 Commenta Lucani I 214 Usener: Puniceus Rubicon ] Porfurion 'puniceum ' interpretatus est quasi feniceum (propter rubras aquas), quem ad modum epvôpàν ôakaaaav dicimus rubrum mare. Usener räumt ein, daß sich dieses Zitat auch auf ein verlorenes Interpretament zu Hör. Carm. 4,10,4 beziehen könnte; dies erscheint aber eher unwahrscheinlich, da die Anführung der èpvâpri άάλασσα als Parallele an der betreffenden Horazstelle nicht paßt.

Einleitung

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nisse, die dies bestätigen könnten, aber Porphyrios Vorliebe für diesen Dichter ist daraus ersichtlich, daß er ihn, ganz untypisch für seine Zeit (s. u. Kap. Auetores), immerhin zweimal zitiert.

Quellenkommentare Bei unserem Scholiencorpus handelt es sich nicht um einen VariorumKommentar, in dem einfach unterschiedliche Interpretationen zu einer Stelle aus den verschiedenen Kommentarvorlagen aneinandergereiht werden; zwar werden manchmal mehrere Deutungsalternativen kommentarlos angeführt (meist sind dann auch wirklich beide Möglichkeiten akzeptabel), oft aber nimmt Porphyrio Stellung 20 , zuweilen in polemischem Ton 2 1 . A n Q u e l l e n k o m m e n t a r e n w e r d e n namentlich a n g e f ü h r t : Helenius Acro 2 2 , Terentius Scaurus zu Sat. 2,5,92, ein gewisser Claranus 2 3 und Qui de personis Horatianis scripserunt (Sat. 1,3,21 und 90-91 u. a.). Alle diese Werke sind verschollen. Meist werden die Quellen überhaupt nicht erwähnt oder nach Grammatikerbrauch als quidam, alii, nonulli, sunt qui u. ä. zitiert. Daher ist kaum zu unterscheiden, in welchem Umfang Porphyrio diese (und möglicherweise noch andere) Kommentare ausgeschrieben hat (s. auch u. S. 10). Überlieferung Unser Kommentar war ursprünglich in Form von Randscholien angelegt, wie die Erklärung zu Sat. 1,9,52 zeigt, wo Porphyrio auf Markierungen im Horaztext zur Kennzeichnung von Sprecherwechseln hinweist 24 . "Die Randscholien hatten höchst wahrscheinlich keine Lemmata, sondern waren durch Zeichen mit dem betreffenden Texte in Verbindung gesetzt. Die Glossen hatten natürlich nicht einmal diese. Da der, welcher die Scholien vom Texte trennte, diese Zeichen selbstverständlich nicht beibehalten konnte, so suchte er die

Z.B. Carm. 1,12,34; Sat. 1,2,25; 1,2,129; Epist. 1,18,10-11, s. Schweikert 1864, S. 32f., weitere Beispiele dort Anm. 74. Carm. 1,7,32 QUIDAM stulte ab itinere verbum fictum putant..., Epod. 9,11-12 QUI NON INTELLEGUNT, putant ..., weitere Beispiele bei Suringar, Historia, S. 35ff. Zu Sat. 1,8,25 Memini me legere apud Helenum cronem Saganam nomine fiiisse Horati temporibus Pompei sagam senatoris .... Zu Sat. 2,3,83 Anticyra oppidum et insula hoc nomine, sicut Claranus testatur, in qua elleborum plurimum nascitur. Ne necesse sit frequenter estendere, quis quae verba habeat aut unde incipiat loqui, hoc observandum est deinceps ut supra, ut, ubi duo puncto interposita sunt, alteram personam loqui intellegas.

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Einleitung

Lemmata zu ergänzen. Das fiel freilich nicht geschickt aus. So kommt es, dass die Lemmata bald ganz fehlen bald sehr wenig oder gar nicht zum folgenden Scholion passen." 25 Vollmers (S. 317ff.) Hypothese, daß die Mavortius-Edition des Horaztextes, fußend auf einer Ausgabe des Probus, in Verbindung mit den Porphyrioscholien in die Karolingerzeit gelangt und von dort aus der Stammvater aller überlieferten Codices geworden sei, wurde schon bald angezweifelt 26 , und neuere Untersuchungen, wie Brink, Ars, S. 41 f. pass, und Tarrant, S. 185, akzeptieren diese Hypothese mit Recht nicht mehr. Als wahrscheinlich kann jedoch gelten, daß ein im Codex Bernensis 363 27 erwähntes Exemplar des Porphyrio zur Karolingerzeit in Lorsch unter Auslassungen und Zusätzen kopiert wurde und uns in den Abschriften des Vaticanus 3314 (Holders Leithandschrift) und Monacensis lat. 181 vorliegt 28 . Von den späteren Handschriften aus dem 15. und 16. Jh. geht der Parisinus 7988 auf denselben Archetypus zurück wie M und V, die übrigen stammen wohl von einem Manuskript ab, das Henoch von Ascoli 1455 von Deutschland nach Rom brachte; darunter sind die besten der Wolfenbutelanus Gudianus Lat. 85 (15. Jh.) 29 und, nach der Einschätzung von Hunter Jones (S. 39) noch besser, der Chisianus H. VII. 229 aus demselben Jahrhundert. Zusätzlich zu den in Holders Ausgabe und bei Helm angeführten Testimonien weist Villa, S. 12, auf ein Fragment im Cod. Parisinus lat. 7900 A, f. 52v (Mailand, Ende 9. Jh.) hin 30 , und Reeve 31 auf Zitate bei Heiric von Auxerre, B.L. Harl. 2735, ff. 9r, 43r, 85v, die aber, soweit aus den eingesehenen Kopien zu erkennen ist, nichts wesentlich Neues bringen 32 , ebensowenig

W. Meyer 1870, S. 13, s. auch Wessner, S. 161. Solche Widersprüche zwischen Lemma und Erklärung treten auf z.B. bei Sat. 1,2,105-6: tollere im Lemma (nur Codex Ρ bietet tangere) tangere im Text; Epod. 5,15.16 inplicata im Lemma, inligata im Text, weitere Stellen zusammengestellt bei Schweikert, 1915, S. 22ff. Z.B. von Kroll D.L.Z. 1906, S. 1053, Wessner 1908, S. 175 und Lenchantin. Zu Verg. ecl. 9,35, s. Testimonium Nr. 4 in Holders Ausgabe, S. 592f. S. Vollmer, S. 313, Lehmann, S. 203. S. Helm, RE Sp. 2416. Zur Textgeschichte s. ausführlich Hunter Jones, S. 8-25. Villa (S. 12) schließt aus dem oben erwähnten Fragment im Cod. Parisinus lat. 7900 A, f. 52v (Mailand, Ende 9. Jh.), daß die Mailänder Schule vielleicht nicht nur die Lorscher Porphyriohandschrift kannte, sondern auch Versuche unternahm, die beiden Horazscholien-Corpora des Porphyrio und Ps.-Acro in einer Horazhandschrift zu vereinigen. Rez. zu Zetzel, Latin Textual Criticism, S. 91. Abgesehen vielleicht vom letztgenannten 85v, wo man eventuell eine vollständigere Interpretation zu Carm. 2,1,37-38 findet: Nenia lugubre carmen est, quod in mortuos canitur. .

Einleitung

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wie die zwei zusätzlichen kurzen Exzerpte des Sedulius Scottus, auf die Lehmann S. 2 0 2 f . hingewiesen hat 3 3 .

Interpolationen 34 Wessner (1893, S. 163ff.) unterscheidet drei Typen von Interpolationen aus der Zeit vor d e m 9. Jh. 3 5 : 1) Erklärungen griechischer Ausdrücke aus dem 4. Jh. oder später (Beispiele ibid.) 2) Ersetzung griechischer Wörter durch lateinische, z . B . Sat. 1,10,21 O seri Studiorum: ] όφψαάβΐς, [id est qui vultu docti sintf6. 3) Glossen und Erklärungen zu lateinischen Begriffen 3 7 . Weitere Interpolationstypen seien die tituli3S sowie unmittelbar aufeinanderfolgende leere Wiederholungen 3 9 . Ein schwer zu entscheidendes Problem stellen die einander widersprechenden Sacherklärungen dar 4 0 . Ob man solche Stellen mit Vrba (1897, S.

Im Liber de rectoribus Christianis (ediert von S. Hellmann: Sedulius Scottus München 1906 [Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters I 1], S. 26,9f.) und in den Erklärungen zu Priscian in der Handschrift Leiden Voss. lat. F. 67 fol. lOr. Sehr zweifelhaft ist die Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, die R. Sabbadini: Spogli Ambrosiani lat., St. J. F. 11 (1903), S. 298f., 335 und 337 in jungen Martialscholien gefunden hat (s. Wessner 1908). Viele der von den u. g. Gelehrten angeführten Tilgungsvorschläge hat Holder in seinem Kommentar verarbeitet, einige haben sich inzwischen durch bessere Emendationen oder Codices erübrigt, so z.B. 1,37,20, s. Holders elegantere Lösung! In den ps.-acronischen Scholien der Expositio A (cod. Paris. 7900) aus dem 4./5. Jh. sind einige Porphyrioexzerpte überliefert, die lt. Wessner noch nicht interpoliert sind (1893, S. 161, Anm. 5). Zwierlein vermutet etwa id est qui stulti docti sunt. Vielleicht hat aber auch ein Bearbeiter das griechische Wort erklären wollen, dabei aber dessen erste Komponente, sei es aus Versehen, sei es als Scherz, von ή όφις hergeleitet. S. auch Meyers Vorwort zu seiner Ausgabe, S. VHf. und bereits Petschenig 1872, S. 16ff. Einige der von Wessner angegebenen Stellen fehlen in Cod. Ρ aus dem 9. Jh., z.B. Carm. 2,6,14, Sat. 1,5,12. Z.B. Carm. 4,4,1 (s. Wessner 1893, S. 166; Meyer, Vorwort S. Vlllf.). Holder folgt ihm darin allerdings oft nicht. Beisp. s. Meyer, Vorwort S. IX. Z.B. wird in Epist. 1,1,18 Aristipp versehentlich zum Epikureer erklärt, dagegen wird er richtig in Epist. 1,17,13 als Kyrenaiker eingeordnet; in Sat. 2,3,83 deklariert Porphyrio (oder ein Redaktor?), Anticyra fälschlich als Insel der Propontis, dagegen Anticyra in Ars 300 richtig als Ort in Achaia (s. Petschenig 1873, S. 8); in Carm. 2,12,21 gilt Achaemenes als Partherkönig, in Carm. 3,1,44 als Perserkö-

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31f.) für interpoliert halten, oder ob man sie mit Petschenig (1873, S. 9) der Nachlässigkeit des Porphyrio beim Ausschreiben seiner Quellen zur Last legen soll, ist wohl nicht pauschal zu klären, sondern wird von Fall zu Fall zu überlegen sein. Die zahlreichen Querverweise zeigen immerhin, daß Porphyrio im allgemeinen sehr wohl das Ganze seines Erklärungswerks überschaute41.

Textausfalle Die porphyrionischen Scholien wurden im Zuge ihrer Überlieferungen gekürzt, wie die Lücken zeigen, die besonders in den Bemerkungen zu den weiter hinten gelegenen hexametrischen Partien zunehmen42. Auch blinde Querverweise auf nicht überlieferte Erörterungen zeigen, daß einiges ausgefallen sein muß 43 . Als Hinweis auf ein vollständigeres Exemplar wertet Gudemann auch ein bis dahin übersehenes Zitat in einem Kommentar zu Donats Ars grammatica (KGL V 328), wo Porphyrius für Porphyrio verschrieben sei44; auch das Porphyrio-Zitat bei Charisius (Testimonium 1 bei Holder, S. 592) ist in dem uns erhaltenen Corpus nicht tradiert.

Die Pseudacronischen Scholien Die Pseudacronischen Scholien liegen uns in verschiedenen Rezensionen vor, die erstmals Keller (1864-67) voneinander zu scheiden unternommen hat 45 :

nig (nicht verwunderlich, da Perser und Parther notorisch verwechselt wurden); weniger gravierend wird Carm. 4,2,10 der Dithyrambus als Metrum erklärt, in Epist. 2 , 1 , 1 3 4 als Carmen zur Versöhnung der Götter (weitere Beispiele im Vorwort zu Meyers Ausgabe, S. IX). Z.B. Carm. 2,6,1 (vgl. 2,2,11), Carm. 3,12,7-9 (vgl. 3,7,25), Sat. 1,6,41 (vgl. die Vita). So fehlen z.B. die Anm. zu Sat. 2,3,103-41 und 2,6,72-117; weitere Lücken zusammengestellt bei Wessner 1893, S. 185, Anm. 2. S. z.B. Sat. 1,9,22 mit 1,10,83. Gudemann, Grundriß S. 136, Anm. 2. Die Stelle lautet: Isteroproteron ... aliter, ut in Porphirio legimus, isteron graece post latine sonat. ergo isterologia appellatur, hoc est post dictio vel sermo, subaudis positus. item isteroproteron post ante, nam proteron ante significai, lege Porphirium. Weitergeführt wurden diese Untersuchungen, außer von O. Keller: Epilegomena zu Horaz, Leipzig 1880, von Petschenig 1872 und 1873, Kukula, Kurschat, Wessner 1864-7, Graffunder und A. Langenhorst: De scholiis Horatianis quae Acronis nomine feruntur quaestiones, Diss. Bonn 1908 (s. Wessner 1912, Sp. 2842). - Zum Verhältnis der einzelnen Scholien untereinander und zu Porphyrio s. Kellers Stemma in der Praefatio zu Bd. II seiner Ausgabe, S. VIII und dessen Modifizierung bei

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- Die in nur einer Handschrift überlieferte Expositio in Horatium A wurde wohl um 400 verfaßt und enthält die Carmina und Epoden. - Die Γ-Scholien (Noske S. 280 weist sie zusammen mit den Gruppen Ν und θ einem Archetyp § zu, der im frühen Mittelalter in den Oden u. a. durch AScholien und in den Episteln durch einige Φ-Scholien ergänzt worden sei) bestehen offenbar aus einer älteren Schicht aus dem 5. (Erwähnung des Priscian-Lehrers Theotiscus als Zeitgenosse in Sat. 1,5,97) und einer jüngeren aus dem 7. Jh. oder später (Erwähnung Isidors in Carm. 3,29,4) 46 . Ab Carm. 4,3 verselbständigen sich die einzelnen Scholien und nehmen die Form eines Variorum-Kommentars mit vielen Doppelscholien an. Daraus, daß einige Scholien gelehrte Zitate aus älteren republikanischen Schriftstellern, wie Ennius und Caecilius, bieten, schließt man, daß diese auf einen Horazkommentator aus dem 2. Jh. zurückgehen (aus einer Zeit also, als diese Autoren besonders gefragt waren), hinter dem man Helenius Acro vermutet, der möglicherweise einen Horazkommentar verfaßt hat 47 , den auch Porphyrio zitiert (s. o. Kap. "Quellen"). Ansonsten wird in Γ-Scholien häufig Porphyrio ausgeschrieben. - Die dritte Scholiengruppe Φ stammt aus dem Mittelalter und lehnt sich eng an Porphyrio an 48 . Eine Hauptquelle der pseudacronischen Scholienmassen bildet also Porphyrio 49 . Wessner hat daher den Versuch unternommen, einige der verlorengegangenen Porphyrio-Interpretamente aus Ps.-Acro zu ergänzen, unter der Voraussetzung, daß den Kompilatoren noch ein vollständigerer und reinerer Porphyrio-Text vorgelegen habe 50 . Für diese Hypothese spricht ζ. Β eine Stelle aus einem Scholion des 9. Jh.s zu Terenz haut. prol. 36 (s. S. 599 Holder), wo Porphyrio für eine Einteilung der Komödie in sechs Untergruppen

Noske, S. 281, der in seiner Untersuchung weitere, von Botschuyver edierte, Scholien untersucht. - Einen neueren Überblick über die Forschungsgeschichte bietet Noske, S. 3-13. S. Wessner 1912, Sp. 2842. So die in den pseudacronischen Scholien dem Kommentar vorangestellet Horazvita (S. 3 Kiessling): Commentati in eum sunt Porphyrion, Modestus et Helenius Acron; Acron omnibus melius. S. Wessner, Sp. 2843 Graffunder S. 129 hält jedoch dagegen, daß die Übereinstimmungen ebenso gut auf eine gemeinsame Quelle zurückfuhrbar seinen. Wessner 1893 führt S. 186 folgende Stellen an, in denen Porphyrio aus Ps.-Acro, Rezension Γ ergänzt werden könne: Sat. 1,10,83 (so auch Kiessling, De Personis Hör. S. 6.); Sat. 2,6,20; 2,6,79; 2,6,93; 2,7,24; 2,8,78; Epist. 1,1,93; 1,2,1; 1,7,6; 1,7,24; 1,7,66; Ars 232; 233; 288; 380. W. Meyer 1870, S. 15 bezweifelt jedoch, daß diesen Scholiasten ein besserer Porphyrio-Text zugrunde gelegen habe und erklärt Abweichungen als Änderungen oder Emendationsversuche der Schreiber.

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zitiert wird, die im Porphyrio-Corpus fehlt, aber bei Ps.-Acro Ars 288 erscheint.51 Eine weitere wichtige Quelle der pseudacronischen Scholien könnte der auch von Porphyrio zitierte Helenius Acro gewesen sein 52 . Kiessling 1880 vermutet, daß der Kommentar des Helenius Acro sich hinter den von Porphyrio erwähnten qui de personis Horatianis scripserunt verberge und besonders Angaben zu den horazischen Personen enthalten habe und daß viele der prosopographischen Angaben bei Porphyrio und Ps.-Acro aus dieser Quelle stammen (s. u. S. 66f.), was aber keineswegs als bewiesen gelten kann. Graffunder hat es unternommen, Interpretamente zusammenzustellen, an denen Porphyrio gegen eine offenbare gemeinsame Quelle mit den pseudacronischen Scholien Stellung nimmt, hinter der er Helenius Acron vermutet. Was die Kriterien zur Trennung des früheren vom späterem Material, und speziell die Identifikation echter acronischer Erklärungen, betrifft, ist jedenfalls große Vorsicht geboten. Äußerliche Kriterien, wie Sprache und Stil, sind unsicher, da man bei Gebrauchstexten stets mit einer mehr oder minder starken und nicht immer konsequent durchgehaltenen stilistischen Überfremdung durch die verschiedenen Schreiber rechnen muß. Innerliche Kriterien, wie die Qualität der einzelnen Aussagen, können nur begrenzt einen Anhaltspunkt bieten: Lediglich historische Angaben oder Autorenzitate, die einen Terminus post quem markieren 53 , bieten eindeutige Hinweise. Einen ungefähren Anhaltspunkt könnte der Nachweis bestimmter geistiger Strömungen, wie etwa des Neuplatonismus oder des Christentums, bieten. Ferner läßt sich am Niveau und der Ausführlichkeit der sprachlichen Erläuterungen bis zu einem gewissen Grade ablesen, wie weit sich der Sprachstand der Kommentarbenutzer bereits von demjenigen des erklärten Textes entfernt hat 54 . Doch einfach von einer Dekadenztheorie auszugehen und gute Erklärungen einer frühen Zeit, schlechte dagegen einer späteren Epoche zuzuschlagen (wie es in den älteren Untersuchungen immer wieder versucht wird), verbietet sich schon allein mit Blick auf die hohe Qualität des relativ spät verfaßten Terenzkommentars des Donat,

S. McCauley, S. 9. Keller in der Praefatio zu Bd. II seiner Ausgabe S. IX vermutet vor allem in A viele Exzerpte aus Helenius Acro, mit Hinweis auf die Wertschätzung, die in der o. a. praefatio dieser Handschrift geäußert wird (Acron omnibus melius). Aber aus dieser Bemerkung geht m. E. nicht zweifelsfrei hervor, daß der Verfasser von A den Kommentar des Helenius Acro wirklich benutzt hat; bei der Zitierweise spätantiker Grammatiker ist es durchaus denkbar, das er seine Information wie auch die Zitate aus zweiter Hand bezieht. Z.B. die Erwähnung der Hunni in A r ' b V , s. Wessner 1912, Sp. 2842. S. dazu vor allem Uhls Untersuchung zur sprachlichen Analyse bei Servius.

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abgesehen davon, daß aus früheren Zeiten wohl auch zu wenig überliefert ist, um eine wirklich tragfáhige Vergleichsgrundlage zu bieten 55 . Da das Kommentarwerk des Porphyrio trotz allem ein einigermaßen geschlossenes Ganzes darstellt 56 , vermittelt er uns ein recht gutes Bild der Horazkommentierung und des römischen Grammatikunterrichts der Zeit vor der großen Reichskrise.

Der antike

Grammatikunterricht

Die Schüler der wohlhabenden Schichten 57 besuchten den Grammatikunterricht nach dem elementaren Lese- und Schreibunterricht beim ludi magister, also im Alter von etwa elf bis 15 Jahren (oder auch länger) 58 , bevor sie in die Rhetorikschule überwechselten. Er stellte im 3. Jh. für viele die einzige Form der Schulbildung und Wissensvermittlung dar (s. u. S. 44f.), woraus sich ein prägender Einfluß auf die Denkweise der Schüler ergab. Protagoras verfolgte in der Dichtererklärung, die er als den wichtigsten Teil der Bildung erachtete, im Unterricht völlig andere Ziele als die üblichen auf die Charakterbildung ausgerichteten (s. Piaton, Prot. 325ef.): "Da kam es auf Kritik an (συνιέναι à re όρϋώς πβποίηται και â μή), auf Analyse (ίττίστασΰαι διελείν) und auf genaue Erklärung, so daß man über jede Frage Rede und Antwort stehen konnte (ίρωτώμβνον Xóyov δούναι)"59. Dies setzte eingehende Kenntnisse auf sprachlich-grammatischem Gebiet voraus, mit dem sich die Sophisten auch entsprechend beschäftigten. Dadurch sind sie die Begründer des 'grammatischen' Unterrichts im späteren Sinn geworden, der im Sprachunterricht, der recte loquendi scientia, und der Dichterlektüre, der poetarum enar-

Nicht zwingend ist Graffunders (S. 140-2) Versuch, aus einer sachlichen Ähnlichkeit zwischen pseudacronischen Erklärungen und einem Helenius-Acro-Zitat bei Charisius auf eine direkte Benutzung zu schließen (der Scholiast hätte auch aus Charisius, dessen Quelle Julius Romanus oder irgendeiner anderen Zwischenstufe schöpfen können), s. auch Langenhorst, S. 19. Vollmer (S. 313) überschätzt bei weitem den Grad der Verstümmelung (dabei erklärt er, wie schon Wessner 1908, S. 178 und Schweikert 1915, S. 2 bemerken, eine Lesart Porphyrios immer dann zu einer späteren Interpolation, wenn sie seine spätestens seit Brink ad acta gelegte - Hypothese von den klar getrennten Handschriftengruppen der Horazüberlieferung zu sprengen droht). Schweikert 1915 schließt sich Vollmer jedoch an und spricht sogar von "Ps.-Porphyrion". Nur einer Minderheit war diese Ausbildung zugänglich: Die Analphabetenrate lag im 3. Jh. bei ca. 70% (s. Kalivoda, Sp. 1134); zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen des Grammatikunterrichts s. Kaster, Guardians. S. Marrou, Geschichte S. 390. Kühnert 1961, S. 44.

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ratio, bestand. Diese Zweiteilung wurde in späterer Zeit allgemein verbindlich 60 . Dabei tritt der sprachtheoretische Teil im Laufe der Zeit immer mehr in den Vordergrund61, und auch in der Dichterexegese dringt die linguistische Komponente bereits in der Zeit zwischen Dionysios Thrax und Quintilian immer weiter vor 62 . Im Jahre 159 v. Chr. soll der Pergamener Krates v. Mallos die grammatica in Rom eingeführt haben63 (Lektüreunterricht wurde allerdings schon seit Livius Andronicus betrieben64). Doch mit dem Ansatz des Krates und der anderen Pergamener, die mit ihrem deduktiven Verfahren der Dichterinterpretation versuchten, dem Dichtertext das Weltbild der Stoa überzustülpen, konkurrierten in Rom erfolgreich die Alexandriner mit ihrem empirisch-induktiven Verfahren anhand von sprachlichen Beobachtungen65. In beiden Schulen bildeten sich verschiedene Systeme der Einteilung der einzelnen Bestandteile der Dichterexegese heraus. Dasjenige, das sich - wohl aufgrund seiner sachlichen Angemessenheit im Verbund mit seiner formalen Symmetrie66 - zumindest im römischen Bereich durchzusetzen vermochte67,

S. Quint, inst. 1,4,2; diese Zweiteilung hatte wohl Varrò in Rom eingeführt, s. Varrò ap. Mar. Victorin. KGL VI 4,4 (frg. 234 Fun.): scribere, legere ( = Quintilians loquetidi scientia), intellegere, probare (= poetarum enarratici·, s. dazu Usener, Lehrgebäude, S. 601 = Kl. Sehr. S. 279f.), s. auch Kuhnert 1961, S. 45. Ähnlich auch bei den späteren Grammatikern, z.B. Explan, in Don. KGL IV 486,15, Diom. KGL I 426,13ff. usw. (Grammatikerdefinitionen sind zusammengestellt bei Froehde, S. 23ff.). Quint, inst. 1,9,1 verwendet die Begriffe methodice und historice, Diom. KGL I 426,15f. exegetice und horistice, vgl. Mar. Victorin. KGL VI 3,15. (s. Glück, S. 23, Barwick, Palaemon, S. 221). Dies ist auch erkennbar an den Definitionen: Cassiod. inst. 2,1,1 (p. 94 Mynors) grammatica ... est peritia pulchre loquendi ex poetis illustribus auetoribusque collecta. Isid. orig. 1,2,1 grammatica, id est loquendi peritia; Id. 1,5,1 u. a. (s. Glück, S. 23). S. Colson, 1914, S. 44. So behauptet jedenfalls Sueton de gramm. 2. Zu den Anfängen der lateinischen Grammatik s. Deila Corte 1981. S. dazu Siebenborn, S. 129-35. Zur Bedeutung der Vierzahl im antiken System der Philologie, die uns noch des öfteren begegnen wird, s. Usener, Lehrgebäude und Ax: Quadripertita ratio, in: Taylor, S. 33ff. Z.B. gegenüber der Sechsteilung des Aristarchschülers Dionysios Thrax 5,4 in άνά-γνωσις έντριβης κατά τροσω&ίαν, ίί-ή-γησις κατά τους ενυπάρχοντας ποιητικούς τρόπους, γλωσσών re και 'ιστοριών πρόχειρος άπόδοσις, Ετυμολογίας eûpeaiç, αναλογίας ίκλογισμός und κρίσις ποιημάτων (s. Glück, S. 20f. ; Frede, 1977, S. 53, dagegen hält, wenig überzeugend, die Vierteilung für älter. Zu Harmonisierungsversuchen dieser beiden Systeme durch die Dionysius-Scholien s. Glück S. 19f.)

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ist die Einteilung in die vier officia des Grammatikers, die der Lehrer in seiner praelectio des Autors wahrzunehmen hatte: lectio, emendatio, enarratio, iudicium68. Sie geht wohl zurück auf Tyrannion, einen Schüler des Dionysios Thrax, der im 1. Jh. v. Chr. in Rom wirkte 6 9 . Beschrieben finden wir diese Aufgabenbereiche bei Varrò ap. Dos. KGL VII 376,5: artis grammaticae officium constat partibus quattuor, lectione emendatione enarratione iudicio. lectio est varia cuiusque scripti pronuntiatio serviens dignitati personarum exprimensque habitum animi cuiusque. emendatio est recorrectio errorum, qui per scripturam dictionemve fiunt. enarratio est obscurorum sensuum quaestionumque narratio. iudicium est quo poemata ceteraque scripta perpendimus. Zur Erfüllung der vier officia gab es die vier bpyava (Werkzeuge): •γλωσσηματικόν (Worterklärung), ιστορικόν (Erläuterungen zu Realien), μβτρικόν (Metrik) 7 0 , τβχνικόν (Grammatik und Figurenlehre) 71 . Zu jedem öpyavov gab es (wie wir noch sehen werden) besondere Schriften: So wurden z.B.

Asklepiades v. Myrlea, ein Schüler des Krates, kannte drei Teile (jedenfalls lt. Sext. Emp. adv. math. I 252): τεχνικόν ιστορικόν -γραμματικόν, όπερ αμφοτέρων Εφάπτεται, φημί δε τον ιστορικού και τον πχνικοίι .... (Technikon und Historikon sind hier als Hilfsdisziplinen dem Grammatikon untergeordnet, vielleicht angeregt von der Gliederung der Pergamener, s. Barwick, Palaemon, S. 218; Siebenborn, S. 136). Tauriskos, ebenfalls ein Schüler des Stoikers Krates, nahm nach Sext. Empir, adv. math. I 248f. folgende Dreiteilung vor: λογικό ν (grammatische Analyse), τριβικόν (bestehend aus διάλεκτος, πλάσματα, d. h. stilistische Durchformung, und χαρακτήρες, d. h. genera dicendi) und Ιστορικόν, d. h. wissenschaftliche Beurteilung; er ordnet alles der κριτική unter (s. J. Martin, S. 330). S. Varrò apud Diom. KGL I 426 = fr. 236 Funaioli, Varrò bei Dos. KGL VII 376,5, vgl. Quint, inst. 1,4,3 enarrationempraecedit emendata lectio, et mixtum his omnibus iudicium est. Eine detailliertere Beschreibung der einzelnen Schritte der Dichterlektüre bietet Quint, inst. l,8,13ff., s. dazu v. Fritz, S. 360ff., in Auseinandersetzung mit F. H. Colson: The Grammatical Chapters in Quintilian, CQ 8 (1914), S. 36ff. V. Fritz (S. 364) weist darauf hin, daß die Reihenfolge bei Quintilian nicht derjenigen der Schulpraxis entspricht. S. Usener, Lehrgebäude S. 306ff. (dagegen: Wendel, RE Tyrannion 2, Sp. 1818). Die Metrik wurde erst von Tyrannion ins grammatische System einbezogen, bei Dionysios Thrax und Asklepiades gehörte sie noch nicht dazu; im lateinischen Bereich existierte sie noch nicht bei Remmius Palaemon; bei Charisius ist sie später aus Servius hinzugefügt worden (s. Barwick, Remm. Palaem. S. 226). S. auch Diom. KGL I 426 (fr. 236 Funaioli). - Diese vier μίρη, nämlich áváyvwσις, διόρΰωσις, έξήγησις und κρίσις mit den vier όργανα: γλωσσηματικόν, μετρικόν, ιστορικόν und τεχνικόν, finden sich auch in unterschiedlicher Reihenfolge in den Schol. Dion. Thr. 10,8-10; 123,13-15; 164,9-11; 170,18-20; (s. Glück, S. 19; weitere Stellen bei Froehde, S. 27; s. auch Usener, Lehrgebäude, S. 609 = S. 285; S. 587ff. = S. 269ff.). Barwick (Palaemon S. 224f.) erkennt in dieser Aufteilung in vier Teile und vier bpyava die alte Dichotomie von ars und artifex wieder.

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Fragen des γλωσστ]ματικόι> in übergreifenden glossographischen Werken und Speziallexika geklärt, zum τεχνικόν existierten drei Typen grammatischer Lehrbücher: ars grammatica, de latinitate (auch: de analogia u. de similitudine) und de orthographia, und auch zur Metrik und zu Sachfragen existierte eine reichhaltige Handbuchliteratur. Aus diesem System des Tyrannion, das wohl dasjenige war, das zur Zeit des Porphyrio in Rom Geltung besaß (und zu dem das überlieferte Material ausgezeichnet paßt), ergibt sich die Grundgliederung dieser Arbeit72: 1.

άνά~γρωσις

2. διόρόωσις 3. ίξήΎησις73 a) μετρικόν b) Ιστορικόν c) -γΧωσσηματικόν d) τβχνικόν 4. κρίσις "Man sieht leicht, daß sich kein System des Altertums den tatsächlichen Umrissen der antiken Philologie so enge anschmiegt als dieses. Will man einen Überblick über das, was sie seit Aristarchos geleistet hat, geben, so wird man den selben am zweckmäßigsten nach diesem System gliedern. " 74 Analysieren wir also anhand dieser Gliederung das Kommentarcorpus des Porphyrio.

An diese Einteilung hält sich im wesentlichen auch Bachmann. Die vier organa tragen natürlich auch zu den anderen officia Anagnosis, Diorthosis und Krisis bei. Da es sich jedoch ohnehin versteht, daß die Exegese, die Herstellung des Textverständnisses, die Grundlage bildet sowohl für das sinnvolle Lesen als auch für Textkritik und ästhetische Beurteilung, ist es auch aus ökonomischen Gründen nicht notwendig, diese Einteilung durch alle vier officia durchzuziehen. Gelegentliche Querverweise sollen die enge Vernetzung aller Bereiche untereinander andeuten. Usener, Lehrgebäude, S. 588 = S. 270.

1. ' KvàyviùOLÇ·. D i e R e z i t a t i o n Die Άνάγνωσις oder lectio, also das korrekte sinnentsprechende Lesen des Textes, ist nach Dionysius Thrax und den späteren Artes untergliedert in drei Teile: ΰπόκρισις (pronuntiatio), τροσφδία und διαστολή (distinctio)75.

1.1.

Ύπόκρισις:

Der effektvolle Vortrag

Die ύπόκρισις oder pronuntiatio ist die den Personen und der Sache angemessene Art des Vortrages 7 6 (μίμησις αρμόζουσα τοϊς ύποκαμένοις προσώποις tv re λόγω και σχήματί17). Die theophrastische Tradition unterteilt sie in Stimmodulation (vocis figura) und Mimik (vultus) / Gestik (corporis motus)78, Quintilian, Fortunatian u. a. nennen als dritte Kategorie cultus (habitus)19. Bei Porphyrio hat, anders als bei Donat 8 0 , wie wir sehen werden, diese Unterteilung keine Spuren hinterlassen.

Vgl. Quint, inst. 1,8,1 superest lectio: in qua puer ut sciat ubi suspendere spiritum debeat, quo loco versum distinguere, ubi cludatur sensus, unde incipiat, quando attollenda vel summittenda sit vox, quid quoque flexu, quid lentius celerius, concitatius lenius dicendum, demonstran nisi in opere ipso non potest. In der lateinischen Theorie entsteht lt. Usener (Lehrgebäude, S. 602 = Kl. Sehr. 280f.) eine künstliche Vierteilung: accentus (entspricht in etwa der προσωδία), discretio (διαστολή), sowie pronuntiatio und modulatio, in welche "dem architektonischen Prinzip zuliebe" die νπόκρισις aufgespalten ist. Diese Vierteilung, die Usener über die Vermittlung Varros auf Tyrannion zurückführt, findet man bei Victorin (KGL VI 188,14), in der Kapitelübersicht bei Charisius (KGL I 5,8ff. = 3,30ff. B.) und den Exzerpten des Audax (KGL VII, 322,11). Bei Porphyrio finden sich für eine Vierteilung keine Anhaltspunkte. Der Begriff stammt aus der Schauspielkunst, doch bereits Aristoteles (Rhet. 3,l,7f. 1404 al2ff) verwendet ihn im Bezug auf den Redner, vgl. Demetrius, Eloc. 195 und 271, s. Ernesti s. v. Schol Dion. Thr. 172 Hilgard (s. Degenhardt, S. 9), s. auch Ausonius XVIII.47-50. Mit einer Warnung vor Übertreibung Quint, inst. 1,8, Iff. Quellen bei Ernesti s. v. S. Jakobi, S. 8. Vgl. Fortun. rhet. 3,15 (S. 130 Halm), Quint, inst. 11,3,2 u. 137ff. S. Jakobi, S. 8ff. Dieser Unterschied hängt wohl mit den verschiedenartigen Erfordernissen der literarischen Genera zusammen: In den Scholien zu einem Drama, auch wenn es sich nicht um eine Sonderkommentierung für Bühnenschauspieler handelt, spielen solche Gesichtspunkte eine evident größere Rolle.

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1. Άνάγνωσις:

Die Rezitation

Da ihre Methoden und Prinzipien weitestgehend identisch sind mit denen des fünften officium des Redners, der pronuntiatio oder actio, stellt sie eine wichtige Vorübung für den späteren Rhetorikunterricht dar, indem das effektvolle, die Zuhörer mitreißende Vortragen von Reden anhand der Rezitation von Dichtertexten eingeübt wird 8 1 . Dabei lernt der Schüler, nach d e m Vorbild eines anagnostes82 oder des Lehrers selbst, der in der praelectio den rechten Vortrag demonstriert und den Text erläutert 83 , darauf zu achten, wie Worte und Darstellungsweise, entsprechend dem Stilideal des τρίτον, sowohl zur sprechenden Person passen, zu ihrem Alter und Geschlecht, ihrer Stellung und Herkunft, als auch zum Adressaten sowie zu Ort und Gelegenheit 8 4 . Dies alles ist eine wichtige Vorbereitung auf seine spätere Rednerkarriere. Der angemessene Vortrag setzt ein tiefgreifendes Textverständnis bereits voraus 8 5 ; daher überschneidet sich dieses officium des grammaticus häufig mit den anderen (was, wie sich zeigen wird, auch sonst der Fall ist).

Schon Aristoteles betont in Rhet. 3,1,3 1403 b21ff. die Wichtigkeit dieses Faktors und zieht die Parallele zum Dichtervortrag (s. Meijering, S. 21). Cicero verwendet bei der Behandlung der actio in De orat. 3,213ff. Beispiele aus der Tragödie (3,217ff.), s. Wöhrle, S. 38, der in diesem Aufsatz die Geschichte und Bedeutung dieses officium umreißt. Wöhrle (S. 32) konstatiert die Vernachlässigung der actio in der Rhetoriktheorie trotz ihrer hohen praktischen Bedeutung und macht dafür eine schon bei Aristoteles nachweisbare Abneigung gegen den übertriebenen Vortrag als ein Mittel depravierter popularistischer Demagogik verantwortlich. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, daß die angehenden Redner mit diesem officium schon in der Grammatikschule hinreichend vertraut gemacht worden waren. S. Quint, inst. 2,5,3 nunc vero scio id fieri apud Graecos, sed magis per adiutores, quia non videntur tempora suffectura si legentibus singulis praeire semper ipsi velini, s. Usener, Lehrgebäude, S. 582f. = S. 266f. S. Quint, inst. l,8,13ff. S. z.B. Diomedes in seinem Kapitel über die pronuntiatio (KGL I 436,19ff.): Pronuntiatio est scriptorum secundum personas accomodata distinctione similitudo, cum aut senis temperamentum aut iuvenis protervitas aut feminae infirmitas aut qualitas cuiusque personae ostendenda est et mores cuiusque habitudinis exprimendi, s. dazu W. G. Rutherford, S. 139. Diese Charakterdarstellungen, ήάοποιίαι, wurden im Grammatikunterricht - parallel zur Dichterlektüre - in Vorübungen zum Verfassen von Reden, den προγυμνάσματα eingeübt: Theon progymn. Bd. II p. 115,22ff. Sp. Πρώτον μίν τοίνυν απάντων ¿νόυμηόήναι Sel τ'ο re τον λέγοντος πρόσωπον οποίον ίση και το προς δν ό λόγος, την re παρονσαν ήλικίαν και τον καιρόν, και τον τόπον, και την τύχην, και την ϋποκίΐμένην ϋ\ην πepl ης οί μί\λοντβς λόγοι αηόήσονται, vgl. Quint, inst. 1,9,3; Empor, p. 561f. Halm., Prise, p. 551f. H. u. a. (s. Marrou, Geschichte, S. 379); vgl. auch Dion. Hal. Lys. 9,469f. (s. auch Ethopoiie, S. 246-9). Vgl. Quint, inst. 1,8,2, unum est igitur quod in hac parte praecipiam, utomniaista facerepossit: intellegat. Deshalb zählt Bachmann (S. 16ff.) auch die oráo-Scholien unter diese Rubrik.

1.1. Ύτόκρισις:

Der effektvolle Vortrag

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Bei Porphyrio lassen sich im einzelnen folgende Funktionen der Hypokrisis-Scholien unterscheiden 86 : Nur einmal findet sich eine relativ unspezifische Bemerkung, die darauf hinweist, daß eine Stelle mit besonderer Betonung zu lesen ist: Epist. 2,1,117 Hoc cum pronuntiatione inferendum est supra dictis. Die übrigen Anweisungen zu ύπόκρισις sind genauer. Sie dienen - der Interpretation des Textes, und zwar zur Verdeutlichung des Sinngehaltes eines Wortes oder einer Aussage: Epist. 2,2,205 Sic pronuntiandum est, ut intellegatur non fiigisse alia vitia, Epist. 1,18,19 Hoc s[c]icpronuntiandum est, ut ostendatur leve ac neglegendum\ speziell zum Hinweis auf den prägnanten Gebrauch eines Wortes: Sat. 1,1,95-6 Hoc est: adeo dives, et ideo pronuntiatione adiuvandum. Sat. 1,3,33 Id est: verus amicus. Pronuntiandum autem est, ut significatio eins exprimatur, oder zur Kennzeichnung einer Frage 87 : Ars 5 Percontantis est haec vox et praeeipientis utique ride[o]ri oportere, vgl. Sat. 2,7,104. Überschneidungen mit der Figurenlehre ergeben sich in folgenden Scholien: Sat. 1,10,53 Et hoc interrogativa figura (vgl. Carm. 3,4,5) cum hironia quadam pronuntiandum, quia ex contrario intellegendum est, vgl. Sat. 1,10,54. Sat. 1,4,74-75 'Εν ϋποκρίσα per άνϋυτοψοράν hoc pronuntiandum est, deinde inferendum qua per responsum quoddam: QUIQUE LAVANTES (s. auch Rhet. Figuren S. 221); Epist. 1,18,71 u. a., s. auch Epist. 1,16,40-41; Epist. 1,20,2 'Εν ϋποκρίσβί, quasi magnae temeritatis sit hoc librum voluisse. - der ästhetischen Würdigung (womit also der Bereich der κρίσις ποιημάτων tangiert wird): Sat. 1,1,68-69 Sed venusta pronuntiatione exprimenda est. - besonders häufig der Verdeutlichung des Pathosgehaltes einer Passage (worauf noch S. 245f. näher eingegangen werden wird); hier soll der Schüler die nötigen Informationen erhalten, um sich die Stimmungslage der im Gedicht redenden Person, sei es der Dichter, sei es eine von ihm dargestellte Figur, zu vergegenwärtigen, so daß er diese in seinem Vortrag adäquat und wirkungsvoll wiedergeben konnte 88 . Da Lesen in der Antike fast immer lautes Lesen war, sind Textverständnis und -wiedergäbe eng miteinander gekoppelt, so daß auch Interpretamente, die keine explizite Anweisungen zur pronuntiatio erhalten,

Nur mittelbar hierher gehören die Scholien mit den Termini κατά Ιμφασιν (Carm. 4,12,3.4) und Ένφατικώς (Carm. 4,13,28), obschon diese Begriffe bei Donat und Hieronymus Formen der pronuntiatio bezeichnen (Beispiele bei Lammert, S. 15f.). Porphyrio verwendet diesen Terminus dagegen ganz offensichtlich im Sinne eines prägnanten Ausdrucks (s. S. 265f.).

S. auch Kap. διαστολή, S. 27. Zur Bedeutung des Pathos für den Vortrag s. z.B. Aristot. Rhet. 1403b 27ff., Cie. de orat. 3,214ff., s. auch Quint, inst. 11,3,5.

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1. ' Ανά-γνωσις: Die Rezitation

gleichwohl zweifellos beim Lesen umgesetzt worden sind. Erklärungen zum Stimmungsgehalt treten seltener zu den Carmina, gar nicht zur Ars und weit überproportional häufig zu den Epoden auf: Recht allgemein gehalten sind Epist. 2,2,214 Et moralité/S9 repetitum SATIS, quod a[pu]dclamationis est und Sat. 1,1,7 QUID ENIM? ...] Quasi interpellante affectu hoc dicitur, et est etiam consuetudinis nostrae (mit Hinweis auf die Nähe zur Alltagssprache; zur consuetude s. S. 109ff. und S. 1946).

In den übrigen Scholien werden die darzustellenden Affekte genauer charakterisiert: So etwa Verwunderung: Epod. 12,7 Hoc iam pronuntiandum vel efferendum cum admiratione, eingehender in Carm. 3,14,25 Haec cum admiratione quadam et dolore animi dicuntur. Miratur enim se tarn segnem factum, ut contume liis fastudbentis puellae non irascatur, quod ipsum iniuriafm] senectutis fieri ingemescit\ Sat. 1,1,108-9; Sat. 1,9,71-2 Hoc Fuscus dicit, stupore scilicet adhibito, ne Horatium cupientem avelli ab ilio molesto liberaret. Oder Tadel und Entrüstung: Carm. 2,14,25-6 Haec cum invectione dicuntur, corripientia e[u]um, quod ad nimiam parsimoniam se constringat ...; Epod. 4,15.16; Sat. 1,6,107; Epod. 9,13-14 Adiuvandum hocpronuntiatione, ut et rei indignitas et indignatio dicentis exprimatur; Carm. 3,5,5; Epist. 2,1,206. Sat. 2,1,22 Hunc Nomentanum quasi luxuriosum angit90. Hierher gehören vielleicht auch die Kommentare zu sarkastischen Äußerungen in den Epoden und Satiren, meist mit kurzer Interpretation: Epod. 4,12 Aspere: ...; Sat. 1,2,46 Amare autem Servium Galbam iuris consultum perstrinxit, quasi contra manifestum ius pro adulteris respondent, quia ipse adulter esset, vgl. Epod. 17,48; Sat. 1,2,91 u. a. Zorn: Sat. 1,5,12 Verba sunt nautae irascentis, quodplures navi inponat, quam pepigerat; Carm. 3,24,54-55. und Schmerz: Carm. 3,27,34-35 Europae ingemescentis verba sunt, mit Interpretation: Epod. 5,71.72 Hoc est, quod ingemuit, quod alia scientior venefic[i]a inventa sit, quam ipsa est. Epod. 16,10. Epod 5,101.102 Et bene ένταϋώς [,id est dolenter] iuxtaparentum commemorationem gemitus insertus est: heu; Epod. 15,23 Ingemescit iam vicem illius, qui relinqui merebit. Wie man leicht erkennt, ist die Bandbreite der dargestellten Empfindungen nicht besonders groß; ähnlich, wie Rutherford es für die Aristophanes-

Diese lateinische Entsprechung des griechischen Terminus iv r¡áei ("mit Ausdruck") findet sich noch bei Don. Ter. Eun. 901. Wahrscheinlich ist eher tangit als angit (so Holder) zu lesen, wie Sat. 2,3,69; Epist. 1,12,20; Epist. l,15,init. So überliefert auch der Cod. Chisianus (s. Hunter Jones, S. 130). Angere kommt in dieser Bedeutung (jemandem einen satirischen Seitenhieb versetzen) bei Porphyrio sonst nicht mehr vor.

1.1. Ύπόκρισις:

Der effektvolle Vortrag

19

Scholien konstatiert hat 91 , handelt es sich auch hier um elementare Affekte, wie Staunen und Ärger, Wut und Schmerz. Allerdings folgen meist kurze aber informative und treffende Interpretationen, welche die etwas plakativen Kategorisierungen mit Leben füllen und anhand des Textzusammenhangs erläutern, besonders z.B. in dem oben zitierten Interpretament zu Carm. 3,14,25, wo er in sensibler Weise das mit Wehmut gemischte Erstaunen des Dichters über seine vom Alter gemilderte Hitzköpfigkeit schildert. Unspezifische ev ^ei-Scholien, wie sie etwa in den Aristophanes-, den Euripides-Kommentaren, nicht aber im Terenzkommentar des Donat vorkommen 92 , gibt es bei Porphyrio nicht. Um die Situation des Textes zu erkennen, ihren Stimmungsgehalt zu erfassen und im Vortrag umsetzen zu können, ist es, wie schon erwähnt, notwendig, Adressaten, Ort, Zeit und nähere Umstände zu berücksichtigen, zu denen die redende Person im Gedicht spricht 93 ; dies gilt sowohl für das (fast immer laute) private Lesen wie für den Vortrag vor Publikum. Vor diesem Hintergrund kann man die folgenden Scholien verstehen: Hinweise zum Ort finden wir zu Carm. 3,3,19 Haec iam Iunonis verba sunt in Consilio. Epod. 5,init. Verba sunt praetextati vociferantis in domo Canidiae (diese beiden Scholien dienen zugleich der Markierung eines Sprecherwechsels, s. u. unter διαστολή). Epod. 5,43, Carm. 3,17,13-6. In folgenden Beispielen wird auf die Sprechsituation eingegangen: Carm. 1,27,18-19 Intellegendum hie ilium in aurem Horatio amorem suum confessum; ita hic intulit: A MISER, QUANTA LABORAS CHARYBDI\ Epod. 7 init.

S. 154: "They are simple folk, these expositors, and expound to simple folk simple expressions of feeling, surprise, anger, annoyance, deprecation, ...". (Ähnlich plakativ, wenn auch inhaltlich anders, sind die Anweisungen zur actio bei Cie. de orat. 3,217ff. und Quint, inst. 11,3,63-5, s. Wöhrle, S. 43f.). Jakobi, S. 8, Anm. 24, Rutherford, S. 146ff. Ut personarum etiam et locorum et temporum servemus qualitatem. Fortun. Rhet. Lat. Min. Halm, S. 132. S. auch W. G. Rutherford, S. 138ff. - Man könnte diese Interpretamente auch als sachliche Erläuterungen unter das ιστορικοί' einordnen. Sie scheinen jedoch eine gewisse Verwandtschaft aufzuweisen mit den "bühnentechnischen" Scholien bei Donat, von denen, wie Jakobi gezeigt hat (S. 1 Iff.), sich nicht beweisen läßt, daß sie tatsächlich als Regieanweisungen für eine Inszenierung der Stücke gedacht waren. Es versteht sich allerdings, daß Porphyrio in seinen Erläuterungen der behandelten Textgattung entsprechend weniger detaillierte und präzise Anweisungen erteilt als Donat. Auch verzichtet Porphyrio auf Anweisungen zur Mimik und Gestik. Er begnügt sich damit, die Situation und ihren emotionalen Gehalt verständlich zu machen und überläßt dann die Umsetzung beim Vortrag dem Schüler selbst. Porphyrio ist sich jedoch der Nähe mancher Horazstellen zur Textgattung "Drama" durchaus bewußt, wie das Scholion zu Epist. 2,2,63 zeigt: Mire iam dramatico charactere tamquam ad ipsos convivas loquitur unum quemque eorum appelions, (s. auch zu Mimesis, S. 217ff.)

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1. ' Ανά-γνωσις: Die Rezitation

Eleganter ut in tumultu ab exclamatione incipit. Ad eos autem dicit, qui furiosa mente instaurare bellum civile conabantur; Sat. 1,10,93 Eleganter, quasi hoc ex tempore dixerit, praecipit puero in librum suum illud conférât, ne pereat tam oportunum et congruens in modulatores dictum-, Epod. 7,17; Sat. 1,9,75. Im besonderen von Selbstgesprächen: Sat. 1,9,28 Hoc Horatius tacitus apud se dicit (vgl. Epist. 2,2,146). Ein großer Teil dieser Scholien bezieht sich auf die angesprochene Person (bzw. den personifizierten Gegenstand): Carm. 3,11,13-14 Haec ad testudinem dicuntur, Carm. 4,2,49 Ad ipsum triumphum conversus haec dicit. Carm. 4,2,53 Hoc ad ulum dicit, ähnlich Epod. 15,17; Sat. 2,3,300; Epist. 1,1,103. Mit Hinweisen zur Situation: Carm. 2,17,init. Haec dicit adsidens Maecenati aegroto, Carm. 4,1 la,21.22 Ad mulierem loquitur, cuius nomen non ostendit. Significai autem amari ab hac Telefilm puerum, quem iam alia occupaverat; Carm. 3,30,14-15; Epod. 5,53-54; Epist. 1,15,11; Sat. 1,6,98 Hoc ad Maecenatem recte dicitur, qui abhorrens senatoriam dignitatem in equestri honori gradu se continuit (mit einer Information zur Prosopographie). Verbunden mit einer ästhetischen Wertung: Epod. 10,3.4 Iucunde, quasi vento praesenti praecipiat. Eine Besonderheit stellen in diesem Zusammenhang die Hinweise auf einen fictivus interlocutor dar: Epist. 2,1,250 Nunc Horatius, tamquam sibi aliqui dixisset: 'Cur igitur non res gestas Caesaris scribis?' dicit se voluisse, si posset. Epist. 1,17,38 Hoc per interrogationem. Quicum agit, vel respondet vel invertit orationem vel tacet. Hic ergo ... quasi tergiversantem urguet ad respondendum. Epist. 2,1,38. Daß es sich dabei um ein typisches Stilmittel der Satire handelt, ist Porphyrio bewußt, und er weist zuweilen explizit darauf hin: Epist. 1,18,19 [Bono stomacho] saturicos respondet ad haec, quae a tristi et amaro dicta sunt; Epist. 2,2,205 ypoforam94 respondentem more satyricorum, qui dicat: .... Häufig geht er auf die Aussageabsicht des Dichters ein: Epod. 12,23.24 Blanditur, dicens ...; Carm. 1,2,41 Adulatur Augusto, Mercurium eum dicens esse; Epist. 1,2,64 Exemplo adhortatur iuvenem, cui scribit, ad studia-, Epist. 1,18,76 Monet, nequem incognitumpotiori amico temere commendet... u. a. In diesen Scholien wird die poetische Szenerie bzw. die Sprechsituation knapp, aber klar und oft sehr gelungen herausgearbeitet, und dem Schüler damit geholfen, sich in die Situation des Gedichtes einzufühlen, so daß er die Stimmungslage durch seinen Vortrag angemessen wiederzugeben vermag. Dies Vgl. auch Sat. 1,4,74-75 Έν ύποκρίσα per άνύυινοφοράν hoc pronuntiandum est, deinde inferendum qua per responsum quoddam: QUIQUE LAVANTES, usw. Allerdings überinterpretiert der Scholiast hier die Stelle, wohl irregeführt durch den Umstand, daß kurz darauf wirklich einige Einwürfe des fictivus interlocutor folgen, und vielleicht auch in dem Bestreben, möglichst viele Beispiele für diese Eigenart des Satirenstils zu finden.

1.1. Ύτόκρισις:

Der effektvolle Vortrag

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dient, wie bereits erwähnt, nicht nur dazu, ihm die ästhetischen Qualitäten der horazischen Darstellungsweise nahezubringen, sondern ist auch Mittel der rhetorischen Propädeutik95.

1.2. Προσφδία: Die korrekte Aussprache Thematik und Zielsetzung der Vermittlung der Aussprachenorm beschreibt Gräfenhan wie folgt: "Die richtige Aussprache, pronuntiatio recta, oder wie Quintilian das Wort erklärt: 'emendata cum suavitate vocum explanatio' 96 , wurde in den grammatischen Schulen beim Lesen der Dichter eingeübt, wobei man auf eine richtige Betonung, entschiedenen Ausdruck der einzelnen Laute, und Beachtung der Quantität der Vocale sah." 97 Die Dichterlektüre wurde also von Grammatikern als den "guardians of language" (s. Kasters Arbeit) auch dazu benutzt, um den Schülern die gängige Aussprachenorm, ôpâoéireια, zu vermitteln98. Hier soll nun überprüft werden, in welchem Maße sich solche präskriptiven Züge schon bei unserem frühen Scholiasten feststellen lassen. - Zur Akzentuation: Zur Klärung von semantischen Amphibolien beitragen sollen die Schol. zu Carm. 1,24,8 acuta prior est syllaba 'quando' enuntiandum ut [ut] vim interrogativam habeat, um eine Verwechslung des weit nach hinten gestellten interrogativen quando mit der Konjunktion zu vermeiden99. Ähnlich zu Carm. 3,25,3-6 'Quibus' gravi sorto pronuntiandum. Est enim subiunctiva partícula 'quae'·. Sat. 1,1,1 QUI autem circumflexe pronuntiandum. Significai enim 'quare '. Zur Kennzeichnung des Prohibitivs: Carm. 4,9,init. Prima autem syllaba ώδης huius circumflexe enuntianda est, ut sit 'ne credos ', id est 'ne credideris '. Derartige Methoden der Bedeutungsunterscheidung homonymer Wörter waren lange Zeit Gegenstand der grammatischen Diskussion, wie Zeugnisse aus

96 97 98

99

Vgl. auch die entsprechenden Scholien bei DServ, z.B. zu ecl. 8,32; georg. 1,146; Aen. 1,113 (Stellen bei Barwick, Serviusfrage, S. 108). Quint, inst. 1,5,33. Gräfenhan IV, S. 129. Quint, inst. 1,5,33 Sunt etiamproprii quidam et inenarrabiles soni, quibus nonnunquam nationes deprehendimus. remotis igitur omnibus de quibus supra diximus vitiis erit ilia quae vocatur όρόοίταα ... Vgl. Paul. Fest. 311 Lindsay quando cum gravi voce pronuntiatur, significai idem quod "quoniam ", et est coniunctio; quando acuto accentu, tunc est temporis adverbium.

22

1. Άνά-γνοισις: Die Rezitation

Quintilian und Priscian dokumentieren100. Porphyrio gibt also Anweisungen zur Akzentsetzung stets nur zur Beseitigung von Mehrdeutigkeiten. Dabei fällt auf, daß die Termini accentus acutus, gravis, flexus, die erstmals bei Quintilian belegt sind101, bei Porphyrio nicht vorkommen. Unser Scholiast verwendet vielmehr Bezeichnungen, wie acuta syllaba, gravis sonus. - Zur Worttrennung102: Sat. 2,3,69 SCRIBE DECEM A NERIO. ] QUIDAM 'Anerio' ϋφ e»103 legunt. Verum et hic et Cicuta iuris studiosi fuerunt, quos ... Dieses Scholion behandelt zwar das Problem einer dubia lectio (es stellt sich für den Schüler die Frage, ob er die Buchstabenfolge 'anerio' als ein oder zwei Wörter lesen soll), die Entscheidung wird jedoch aufgrund einer prosopographischen Sachinformation aus dem Bereich des ιστορικόν gefallt. Dies zeigt wieder einmal, wie eng die einzelnen officia des Grammatikers in der Praxis miteinander verknüpft sind. Epist. 2,2,99-100 QUIS? QUIS. ] Singillatim pronuntianda104 sunt haec pronomina... Da in den Handexemplaren offenbar auch die einzelnen Verse nicht voneinander getrennt wurden 105 , bzw. der Grammatiklehrer beim Diktieren der Verse diese nicht mit angab, bestand hier - zumindest theoretisch -

Quint, inst. l,5,25f. Ceterum scio iam quosdam eruditos, nonnullos etiam grammaticos sic docere ac loqui ut propter quaedam vocum discrimina verbum interim acuto sono fîniant... itemque cum 'quale ' interrogantes gravi, comparantes acuto tenore concludunt; quod tamen in adverbiis fere solis ac pronominibus vindicant, in ceteris veterem legem secuntur. Noch bei Priscian ist diese Problem akut: de acc. 8 (KGL III 520,25) tres quidem res accentuum regulas conturbant, distinguendi ratio, pronuntiandi ambiguitas atque nécessitas (s. Gräfenhan IV, S. 130f.). S. Schreiner, S. 31. Hier überschneidet sich die Prosodie mit der Diastole, etwa in der Bezeichnung interpungere (s. u.) sowohl für Wort- als auch für Sinntrennung (s. Cambr. Hist, of. Class. Lit. S. 17 Anm. 3). Das hyphen gehört zu den Akzenten; es besteht aus einem kleinen Bogen als Verbindung unter den beiden Wörtern, die als eines gelesen werden sollen (Dion. Thr. p. 107, Victorinus KGL VI 193,21, Diom. I 434,36 und überhaupt häufig in den lateinischen Artes Grammaticae; auch in den Kommentaren des Donat, Servius, DServ. Aen. 5,35 (hier wie bei Porphyrio in griechischer Schreibweise) und Schol. Stat. Theb. (s. ThLL VI 2 . 3 3152,Iff.). Bei Porphyrio finden wir lt. ThLL den frühesten Beleg. In solchen Fällen wurde in den Text eine diastole, ein hakenförmiges Zeichen, an den letzten Buchstaben des ersten Wortes gesetzt, s. Donat KGL IV 372 = 611 H.; Prise. KGL III 520,8; Victorinus KGL VI 193 (s. Froehde, S. 45f.). "Vermutlich sind lyrische Verse ... ursprünglich wie Prosa geschrieben worden, bis die alexandrinischen Gelehrten den Grundsatz metrischer Gliederung aufstellten und anwandten, der sich mit ungleichem Erfolg durchgesetzt hat" (Schubart, S. 62).

1.2. ΐΐροαφδία: Die korrekte Aussprache

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die Gefahr, die Epanalepse des Interrogativpronomens 'quis' zu verkennen und stattdessen als das verallgemeinernde Relativpronomen 'quisquís' zu lesen. - Zu den Silbenquantitäten: Diese Art von Scholien findet man in unserem Kommentar selten, wie auch solche zur Akzentuation (ähnlich wie bei Donat, aber anders als später bei Servius 106 ), da im 3. Jh. die Adressaten noch ein natürliches Gespür für die korrekte Aussprache besitzen. Zweimal ergreift unser Grammatiker die Gelegenheit, für seine Schüler en passant einen Hinweis zur korrekten Aussprache eines Wortes einzuflechten: In einem Abstecher in die Wortbildungslehre: Epist. 2,2,163 TEMETI. ] Vini, quod tempteî mentem, unde temulenti dicuntur dicti prima syllaba producta. Unmittelbar der Erklärung der Stelle dienen seine Bemerkungen zu den archaischen Formen pictai und material, die Porphyrio als analoge Beispiele heranzieht 107 , in Epod. 16,59.60 ... Nam utrumque nomen videmus producta syllaba terminarim. Bei den folgenden beiden Beispielen soll die Silbenquantität zu einer künstlichen Unterscheidung homonymer Formen dienen: Zu Epod. 11,9-10 'Argui' media syllaba producta109 pronuntiandum, quia praesentis temporis est, eine analogistische Homonymendifferenzierung ohne Beachtung des Metrums 110 .

S. Jakobi, S. 14f. S. auch S. 40 und S. 175. Terminari als grammatischer t. t. ist belegt seit Caesar anal. frg. Pomp. KGL V 199,15, dann Plin. dub. serm. fr. Char. 170,11 Β., öfters bei Quintilian, z.B. inst. 1,6,7, und ist auch bei den späteren Grammatikern häufig (s. Schreiner, S. 134f.). Andere gebräuchliche Wendungen, wie flniri, exire, desinere usw. kommen in dieser Bedeutung bei Porphyrio nicht vor. Der Terminus syllaba producta erscheint häufig bei Quintilian und war wohl schon seit Varros Zeiten in den Schulen im Gebrauch (s. Gräfenhan IV, S. 133), z.B. Varrò ling. 5,6 (nicht sicher überliefert); 9,104. Die mittlere Silbe von arguii muß schon aus metrischen Gründen an dieser Position des Elegiejambus lang sein. Zur Unterscheidung des Präsens arguere vom Perfekt durch die Quantität der Mittelsilbe vgl. Prise, gramm. KGL II 504, 22 quod in 'ui' divisas terminantia praeteritum perfectum cum soleant corripere paenultimam, tarnen vetustissimi inveniuntur etiam produxisse ... paenultimam ... ut ... 'arguo, argüi' (ThLL II, 551,13f.), wo also, gerade umgekehrt wie bei Porphyrio, die Perfektformen durch Dehnung der Mittelsilbe von denen des Präsens unterschieden werden sollen.

24

1. ' AvàyvœaLç: Die Rezitation

Eine ähnliche Tendenz zeigt das folgende Beispiel, unter Rückgriff auf die Etymologie: Sat. 1,6,122 LECTO producta priore syllaba enuntiare debemus, quia frequentativum est ab eo, quod est: legolii. Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Angaben zu Akzentuation und Silbenquantitäten, sofern sie nicht einer archaischen Form gelten, der Beseitigung von Ambiguitäten dienen sollen, wobei sie einerseits im Dienste der Textinterpretation stehen, andererseits eine analogistische Sprachnormierung beabsichtigen, welche die lateinische Sprache zu mehr Eindeutigkeit reformieren soll. Dabei spiegeln sie einen jahrhundertelang anhaltenden Grammatikerdisput wider, der als Ziel anstrebt, mit Hilfe der Prosodie semantische Eindeutigkeit zu fixieren und Polysemie zu vermeiden 112 . Zur Tradition solch analogistischer Eingriffe in die lateinische Sprache s. u. S. 200ff.

1.3. Διαστολή: Die "Interpunktion" Auf einer elementaren Ebene des Verständnisses liegen die Scholien zur διαστολή oder Interpunktion. Da die Schüler ihre Texte meist in scriptura continua ohne Wortabtrennungen und ohne Satzzeichen vorliegen hatten 113 , mußte diese erst im Unterricht geklärt worden sein, damit ein verständnisvolles Lesen, das den Text in Sinnabschnitte gliederte, möglich wurde 114 . Ferner

Diese Bemerkung über die Längung des (ohnehin positionslangen) lect- wird verständlich, wenn man Mar. Victorin. gramm. KGL VI, 28,20ff. heranzieht: in his enim verbis quae nominum speciem gerunt, eandem corripi oportet propter discretionem ... et frequentativa verba multa, ut ledo, facto. Hier soll also eine Verwechslung mit dem Partizip Perfekt Passiv von lego ausgeschlossen werden, d. h. Porphyrio konstruiert: vagor aut ... lecto aut scripto ... ; unguor ... (wobei der unguor-Satz asyndetisch angehängt wäre), anders als K.-H., die, wohl treffender (lecto als frequentativum ist lt. ThLL erst spät belegbar) lecto und scripto als verkürzten Ablativus absolutus von vagor und unguor abhängig machen wollen und Sat. 1,1,94 parto quodavebas als Parallele anführen. Porphyrio zeigt hier also die Tendenz, Konstruktionen eher parataktisch als hypotaktisch aufzufassen. S. dazu auch Siebenborn, S. 48-50. Bereits interpungierte Ausgaben, wie sie etwa Probus erstellte, waren die Ausnahme. In den Schulen wurden die Texte den Schülern meist vom Lehrer diktiert oder von den Schülern abgeschrieben, s. Clarke, S. 23 m. Anm. 77 (S. 156f.): Hör. Sat. 1,10,74; Epist. 1,1,55; 1,18,13; 2,1,69-71, Persius 1,29. Cf. Quint, inst. 1,8,1 Superest lectio: in qua puer ut sciat ubi suspendere spiritum debeat, quo loco versum distinguere, ubi cludatur sensus, unde incipiat, quando attollenda, vel summittenda sit vox ... demonstran nisi in opere ipso non potest.

1.3. Διαστολή:

Die "Interpunktion"

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war es vonnöten, in Gedichten mit dramatischer Struktur, wie z.B. auch den horazischen Satiren, Sprecherwechsel zu kennzeichnen 1 1 5 . Dionysios Thrax kannte bereits ein System von drei verschiedenen Satzzeichen: τελεία, μέση, ύποση-γμή116. In Rom war der Gebrauch von Interpunktionszeichen spätestens seit Cicero bekannt 117 . "Das Zeichen war ein Punkt, der, wenn er ein Komma bezeichnen sollte, an dem ersten Buchstaben des Wortes, bei dem man die Stimme intermittiren sollte, angebracht wurde; wenn er ein Kolon bezeichnen sollte, beim mittlem Buchstaben des pausirenden Wortes; und wenn eine Periodus, am ersten Buchstaben des letzten Wortes des Satzes" 1 1 8 . Auch Porphyrio kennt drei Arten der Interpunktion (anders als Aelius Donatus, der in seiner Ars zwar drei Zeichen nennt, in seinem Terenzkommentar aber nur zwei Arten verwendet 1 1 9 ): Für Dionysios' στιγμή (sie markiert das Ende einer περίοδος) verwendet er die Verben distinguere und die Umschreibungen: Hinc videtur alter sensus120 incipere (Carm. 1,11,3), Hic cluditur περίοδος 1 2 1 (Epod. 16,9). Für ύποστι-γμή (sie unterteilt Sinnabschnit-

S. Diom. KGL I 437,24ff. distinguere autem oportet... et ante redditas ανταποδόσεις, et si quando a persona ad personam transitus fuerit factus ..., der an dieser Stelle eine ausführliche Aufstellung der Fälle gibt, bei denen eine Interpunktion erfolgen kann (z.B. vor Vergleichen, vor aut, vor einem Vokativ, vor sed, vor und nach einer Frage). Dion. Thr. Uhlig p. 7 στι-γμαί dai τρεις- rcXeía, μίση, ύτοστιγμή. και ή μίν reXeíoι στι-γμη ίστι διανοίας απηρτισμίνης σημΐϊον, μίση δί σημάον πνεύματος iventν παρα\αμβανόμενον, ύποστι-γμη δί διανοίας μηδεπω άπηρτισμενης ... Um in Anpassung an unser antikes Lehrgebäude der Philologie eine Viergliedrigkeit auch des accentus zu erreichen, fügten einige Grammatiker noch eine submedia hinzu, wie z.B. Diom. KGL I 437,26 bezeugt (s. Usener, Lehrgebäude, S. 604 = Kl. Sehr. S. 282). S. Cie. de orat. 3,173; 181, s. Gräfenhan IV, S. 127, u. II, S. 280f. Gräfenhan IV, S. 128, s. Diom. KGL I 436,24ff., Don. gramm. 612 H., Serv. gramm. KGL IV 427,36, Isid. Orig. 1,20,1. - Allerdings warnt Müller (S. 86ff.) davor, diese Unterteilungen mit unserem modernen, von der Schriftsprache geprägten Begriff von Syntax gleichzusetzen, da die antike Interpunktion Sinn- und Atempausen markiert, nicht aber notwendig syntaktische Einheiten. S. Jakobi, S. 16; auch für die Aristophanesscholien vermutet W. G. Rutherford, S. 176 die Verwendung von nur zwei Satzzeichen im Schulunterricht. Der Begriff sensus für 'sententia' erscheint lt. OLD noch bei Quintilian inst. 4,1,62; 9,3,23 und Tacitus Dial. 22,3. Den griechischen Ausdruck verwenden z.B. auch Quint, inst. 9,4,125; 11,3,39, Plinius epist. 5,20,4 und Festus 236 L. Er ist nicht gleichzusetzen mit unserem syntaktischen Begriff der Satzperiode (s. auch S. 210). S. dazu E. Siebenborn: Herkunft und Entwicklung des Terminus technicus περίοδος·. Ein Beitrag zur Entstehung von Fachterminologien, in: Taylor, S. 229^49.

26

1. ' Ανά-γνωσις: Die Rezitation

te innerhalb einer περίοδος) benutzt er einmal den griechischen Begriff 1 2 2 , ansonsten subdistinguere und einmal die Umschreibung: Hic sensus per se accipiendus (Carm. 1,14,19-20). Für μίση kennt er den selteneren Begriff mora. Die mora markiert eigentlich eine Atempause 123 , doch bei Porphyrio wird sie ohne erkennbaren Unterschied zu subdistinguere gebraucht. Die Diastole-Scholien bei Porphyrio dienen der Klärung der bei Horaz oft schwierigen Satzkonstruktionen. Daher verdienen sie eine eingehende Betrachtung, die uns Aufschluß geben soll über Schwierigkeiten und Methoden beim Erfassen komplexerer syntaktischer Strukturen im 3. Jh. Abgesehen von der Abgrenzung von Haupt- und Nebensätzen besitzen die Interpunktionszeichen folgende Funktion 124 : - Beziehung einer Negation: Carm. 3,1,21-23 Ordo est: non fastidii humiles domos; et ideo apud 'non' particulatim subdistinguendum. Durch eine Sprechpause nach non soll also offensichtlich klargestellt werden, daß die Negation nicht, wie es der üblichen Wortstellung entspräche, auf das unmittelbar folgende humiles, sondern auf das Prädikat des Satzes zu beziehen ist. - mit Wortergänzungen bei elliptischen Sätzen: Sat. 1,5,45-46 PROXIMA CAMPANO PONTI QUAE VILLULA, TECTUM PRAEBUIT. ] Hic subdistinguendum et audiendum extrimecus verbum 'est', quia plenum sic fit: quae villa próxima [id] est ponti Campano, tectum praebuit, wo er also nach villa schwach interpungieren will, um zu klären, daß davor (nach heutiger Terminologie) ein elliptischer Nebensatz anzusetzen ist. Carm. 1,14,19-20 (INTERFUSA NITENTIS VITES AEQUORA CYCLADAS) Hic sensus per se accipiendus et subaudiendum hic 'suadeo ', ut sit: suadeo, vites aequora inter Cyciadas nitentes fusa. Hiermit soll ganz richtig verdeutlicht werden, daß vites nicht mehr von cave aus V. 16 abhängig ist, sondern einen adhortativen Konjunktiv im Hauptsatz darstellt. Darauf will der Scholiast durch das eingeschobene suadeo hinweisen. Beachtenswert ist, daß er sich dabei nicht auf eine theoretisierende grammatische Erläuterung (Bestimmung des Ver-

Sat. 2,1,16 Ύτοση-γμή ponendo, ut sit sensus: fortem animo et iustum, quatenus res gestas bello exponere non potes[t]. S. Dionys. Thr. Uhlig p. 8. Zu Sat. 2,2,128. Vgl. Quint, inst. 11,3,39. Sunt aliquando et sine respiratione quaedam morae etiam in perihodis ... multa membra habent ... sed unam circumductionem: ita paulum morandum in his intervallis, non interrumpendus est contexts. Diom. KGL I 438,13ff. DE MEDIA SIVE MORA: Mora est levis in continuatione sensuum interposita discretio legitimae distinctionis subdistinctionisque medium obtinens locum. Andere Grammatiker, z.B. Donat Ars 612,6 H. gebrauchen dafür den Bergriff media distinctio. Vgl. auch Diom. KGL I 437,24ff. und Dosith. VII 429,2ff.

1.3. Διαστολή: Die "Interpunktion"

27

balmodus) einläßt, was er überhaupt, im Vergleich zu Aelius Donatus und Servius 125 , selten tut. Eine offensichtliche Verlegenheitslösung bietet dagegen das Interpretament zu Carm. 1,11,3 UT MELIUS QUIDQUID ERIT PATI. ] Hinc videtur alter sensus incipere, ut sic claudatur: ut possis melius pati quidquid est, sapias, vina liques. Ergo subaudiendum hie verbum extrinsecus, quod est 'possis '. Hier hat der Grammatiker die Konstruktion {ut melius sc. est: quidquid erit pati) nicht durchschaut und behilft sich mit einem eingeschobenen possis, um den vermeintlich finalen ut-Satz konstruieren und von sapias abhängig machen zu können. - Kennzeichnung von Fragesätzen126: An diesen Stellen weist der Scholiast auf Fragen hin, die nicht durch Fragepartikel eingeleiten werden: Epod. 16,23 SIC PLACET interrogative pronuntiandum127 est. Ähnlich Sat. 2,3,302, Epist. 2,2,70-71; Epist. 1,17,38 per interrogationem, u. a.; Sat. 2,7,104 percontativei2i legendum, Carm. 3,4,5 Hici29 distinguendum et pronuntiandum interrogativa figura. Interessant ist bei letztgenanntem Beispiel die Kategorisierung als interrogativa figura. Hier überschneidet sich die άνά-γνωσις mit der Figurenlehre. Scholien mit interpretierender Erläuterung, wie Ars 5 Percontantis est haec vox et praecipientis utique ride[o]ri oportere gehen bereits in den Bereich der ύτόκρωις über (s. dort). - Zur Bezeichnung von Ausrufen: Auch die exclamatio gehört eigentlich zu den Redefiguren. Bei den folgenden beiden Beispielen geht es jedoch um die Stellung des Ausrufes innerhalb des syntaktischen Gefüges: In Carm. 3,5,6-8 Nam illa per exclamationem [...], quae Graece διά μέσου inlata esse dicuntur in Form eines Einschubs (moderne Herausgeber setzen Parenthesestriche oder Klammern), in Epod. 5,init. Et bene abrupta exclamatio. - Fälle mit zwei Alternativen: Epist. 1,6,17-18 Potest et suspice subdistingui. Hier besteht, rein grammatisch gesehen, die Möglichkeit, entweder nach suspice oder nach cum gemmis ein Komma zu setzen. Mit Rücksicht auf die Ausgewogenheit der beiden Glieder kommt aber nur die erste Möglichkeit in Frage. Jedoch scheint Porphyrio solche ästhetischen Gesichtspunkte nicht in Erwägung zu ziehen.

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S. die zahlreichen Beispiele bei Rosenstock. Vgl. Diom. KGL I 437,29ff. Die gleiche Wendung, interrogativepronuntiare, Hec, 570,3 u. a., s. Lammert, S. 15. S. S. 161 (zum modus verbi). So Hauthal für überliefertes his.

finden wir auch bei Donat in Ter.

1. ' ΑνάΎνωσις: Die Rezitation

28

Denn ganz ähnlich verhält es sich bei Epist. 2,1,3 Et incerta distinctio est: um 'emendes ωσιν256 videtur dicere, Carm. 1,37,19-20 u. a. Hier unterlaufen ihm auch Fehler: In Carm. 1,17,18 bezieht er FIDE ΊΈΙΑ zwar richtig auf Anakreon, verwechselt aber Teos, den Geburtsort Anakreons, mit dem paphlagonischen Teium, mit Berufung auf Sallust257; "das lokrische Opus heißt bei ihm Opuntia (Carm. 1,27,10)" 258 . In Sat. 2,3,83 erklärt Porphyrio, wie Anm. 40 dargelegt, Anticyra fälschlich als Insel der Propontis, gestützt auf einen gewissen Claranus. Dagegen wird es in Ars 300 richtig in Achaia lokalisiert259; die oben angeführten Fehler lassen den Verdacht aufkommen, daß solche Widersprüche zu Lasten des Porphyrio selbst gehen, etwa durch achtloses Ausschreiben verschiedener Quellen; sicher ist dies allerdings nicht, da die zahlreichen Querverweise zeigen (s. o. S. 8), daß er das Ganze seines Kommentarwerks normalerweise überblickte; es 252

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Auch in den ps.-acronischen Scholien häufen sich hier die geographischen Fehler: z.B. wird in Carm. 3,4,61 in einer Deutungsalternative die kastalische Quelle nach Lykien verlegt, in Carm. 4,2,13 Elis nach Epirus, in Epod. 13,14 (Schol. AV) soll der Skamander Europa und Asien trennen (s. Noske, S. 274, Anm. 75). Ps.-Acro, der vielleicht eine ursprünglichere ausführliche Porphyriofassung bietet, führt Verg. georg. 2,91 als Parallele an. Vgl. Plin. nat. 4,21. Plin. nat. 4,9f. angustiae, unde procedit, Isthmos appellatur ... Lecheae hinc, Cenchreae illinc angustiarum termini .... Sonst ist dieses Wort im Lateinischen nach ThLL VI 951,66f. nur noch bei Tert. mart. 4 belegt (όιαμαστίγωσις bei Plutarch Apophtegmata Laconica 40, Mor. 239d). S. Vrba 1897, S. 30f. Vrba 1897, S. 30f. S. Petschenig 1873, S. 8.

54

3. ' Εξή-γησις: Die Texterklärung

ist also nicht ganz auszuschließen, daß hier ein ungeschickter Redaktor am Werk war. Die Erläuterungen zu Gebieten außerhalb des römisch-griechischen Kulturkreises beschränken sich meist auf knappe Lokalisierungen: Carm. 2,2,11 Gadis oppidum est in Hispania a Poenis conditum. UTERQUE POENUS ergo inquit, quia Carthaginem sicut Gadern Poeni condiderunt160 (vgl. Carm. 2,6,1), Carm. 1,35,32 OCEANOQUE RUBRO. J Hoc est, rubro mari, quod est in oriente, Carm. 1,35,38-40 Massagetae autem gens Thraciae, usw. Besonders aufschlußreich sind die stereotypen Vorstellungen Porphyrios vom Nationalcharakter fremder Völker; sie sind zum Teil schon bei Horaz angelegt und entsprechen dem seit jeher geringen und sehr oberflächlichen Interesse des Durchschnittsrömers für die Eigenheiten fremder Nationen, das kaum über einige mirabilia und παράδοξα hinausreicht261: Entsprechend der in der Antike verbreiteten Auffassung 262 gelten die nördlicheren Völker als primitiv, was schon bei den Böotiern anfangt: Epist. 2,1,241 ... in Boeotia , id est, crassos et hebetes faciente[s] 263

Die Bewohner des Don sind auch bei Porphyrio (Carm. 3,29,28) ferocissimi barbari4, die angebliche Gütergemeinschaft bei den Barbaren wird als bekannt vorausgesetzt (Carm. 3,24,12-13 Commune autem inter se barbaris solum eorum esse omnibus notum est), was selbst für die Geten, um die es an der Gedichtstelle geht, schon zu Horazens Zeiten nicht mehr zutraf 264 . Besonders schlecht kommen die Thraker weg: Sie gelten als trunksüchtige Wilde: Carm. 2,7,26-27 Edonii Thraces sunt, quos solet ebrietas ferociores reddere (vgl. auch Carm. 1,18,9). Horaz spielt auf die sagenhaften thrakischen Mänaden an 265 , was Porphyrio verallgemeinert zu einer Darstellung der Thraker als maßlose Trinker 266 ; gar ins Monströs-Unheimliche geht diese Verallgemeinerung in Carm. 2,19,19-20: Bisthoni Thraces sunt, qui, cum in

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Plin. nat. 5,76 Tyros ... olimpartu clara, urbibus genitis Lepti, Utica et illa aemula terrarumque orbis avida Cartilagine, etiam Gadibus extra orbem conditis. Vgl. dazu Rawson, S. 266; J.S. Romm: The Edges of the Earth in Ancient Thought. Geography, Eploration, and Fiction, Princeton 1992. S. Arist. Pol. 1327 b 20ff. Die Boiotier galten allgemein als stumpfsinnig, vgl. z.B. Pind. Ol. 6,90 (s. K.-H. ad loc.). Landgemeinschaft berichtet Caesar BG 4,1 von den Sueben, was er 6,22 für alle Germanen verallgemeinert (s. K.-H. ad loc.), ein verbreitetes Stereotyp, das offenbar auf alle Barbaren ausgeweitet wird (s. Chr. Danoff, Art. Getae, in: Kl. Pauly 2, Sp. 789). Wie Prop. 1,3,5 (s. Ν.-H. ad loc.), ähnlich im folgenden Beispiel. Vgl. Horaz Carm. l , 2 7 , l f . u. a. Zur Wildheit der Thraker s. z.B. Pomponius Mela, Chor. 2,18.

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

55

sacris Liberi patris crinibus solutis versantur, angues et capite et [in] manibus gestant. Selbst die Furchtlosigkeit der Gallier wird in Carm. 4,14,49 mit spürbar pejorativem Unterton erklärt: quia vel ferocia vel vna persuasione rursus renascendi mortem non timebant (unter Berufung auf Lucan). Von der idealisierenden Konzeption der Einfachheit und Sittenstrenge der "edlen Wilden" und ihrer moralischen Überlegenheit über die römische Verweichlichung und Verderbtheit, wie sie etwa in Horaz Carm. 3,24,9ff. oder in der Germania des Tacitus anklingt 267 , ist nichts spürbar. Die Asiaten gelten als üppig, weichlich und dem Luxus ergeben 268 , was nach antiker ethnographischer wie poetischer Topik einen moralischen Verfall mit sich bringt 269 : Die Parther sind für ihn wie für Horaz heimtückisch (Epist. 2,1,112); in Carm. l,38,init. erwähnt er das sprichwörtliche Luxusleben der Perserkönige 270 ; die Ionier kennt er als Erfinder lasziver Tänze (Carm. 3,6,21); Indien ist für ihn, wie überhaupt für Griechen und Römer 271 , ein geheimnisumwittertes Märchenland (Carm. 1,22,8 272 ). Mangelndes Interesse und diffuse Vorstellungen führen natürlich häufig zu Verwechslungen. Manche davon gehen allerdings schon auf das Konto des Horaz: Carm. 3,4,34 Concani Hispaniae gens est, vel, ut ALIIdicunt, Scythiae, quos ostendit equino vesci sanguine273. Ansonsten weist Vrba 274 auf folgende Irrtümer hin: Carm. 1,29,9 rechnet er die Parther zu den Serern; in Carm. 2,6,1-2 verlegt er die spanischen Cantabri, falls die Überlieferung denn stimmt, nach Gallien 275 . Außerdem verwechselt er in Carm. 2,12,21 die Perser mit den Parthern 276 .

267

S. R. F. Thomas, S. 54f., S. 125f; Romm, S. 45ff. S. Wölfflin 1892, S. 137; vgl. auch Hipp. aer. 16 Trepi

268

6h της άδυμίης των àvdβώκων και της àvavÒptlης, δτι άπολ(μώτ€ροί tioi των Ευρωπαίων οι ' Ασιηνοί, και ήμερώτΐροι τα ήδβα, ai ώραι αΐτιαι μάλιστα .... (s. R. F. Thomas, S. 129). Z.B. Herodot 9,122,3 ού -γάρ τι της αύτη ς γης elvai καρπόν π δωμαστόν φίι eiv και άνδρας άγαδονς τα πολέμια, Liv. 29,25,12 (s. R. F. Thomas, S. 44ff.).

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Zum Reichtum der Perser vgl. auch Schol. luv. 3,221 (s. Wölfflin 1892, S. 135). S. z.B. Strabo 2,1,9; 15,l,57ff.; Dio Chrys. Or. 35,18-24; Apul. Flor. 6 und 15 u. a.; besser informiert ist Arrian, Ind. (s. Baisdon, S. 60f. m. Anm. 12).

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Zum Hydaspes vgl. Pomp. Mela, Chorogr. 3,69. Porphyrio stutzt zu Recht, da Horaz hier offenbar die skythische Sitte, Pferdeblut zu trinken, auf die spanischen Concaner übertragen hat (s. K.-H. ad loc.). Vrba 1897, S. 30f, s. o. Allerdings konjiziert für überliefertes gens galliae (das Holder in den Text setzt) Petschenig Gallaeciae und ähnlich Stowasser 1890, S. 128 Galliciae. Diese spanische Landschaft erwähnt auch Livius (s. epit. 56), eine Stelle, die Porphyrio vielleicht vorgelegen haben könnte. S. Petschenig 1873, S. 8f.

56

3. Έξήγησις:

Die Texterklärung

Verständlich ist der verbreitete Irrtum in Carm. 3,26,9-10, daß es in Ägypten niemals schneie 277 . Den literarischen Charakter dieses Wissens zeigt auch die starke Präsenz der mythischen Geographie, die als unterhaltsames Element einen festen Bestandteil der antiken Geographie bildet; sie finden sich vor allem in den Erläuterungen zu den Carmina 278 : Z.B. Carm. 1,21,8 Gragus mons Lyciae, in quo Chim[a]era fuisse dicitur, Carm. 1,34,10-11 (Eingang zur Unterwelt), Carm. 3,16,34 (Lästrygonenstadt Formiae) 279 . Insbesondere griechische und italische Gründungsmythen werden häufig erläutert: Carm. 3,11,1-2 Nota fabula et Amfionem citharae cantu et pecudes, quarum pastor erat, ad se accersisse et lapides, quibus Thebani muri extructi sunt. Carm. 1,7,29 (Gründung Tiburs, vgl. Carm. 1,18,2 und Carm. 2,6,5), Carm. 1,22,13-14 (Daunus), C.S. 41 (Aeneas) u. a. Man stellt fest, daß Porphyrios geographische Kenntnisse über Italien hinaus sehr begrenzt sind. Sie bestehen vielfach in einem Un- oder Halbwissen, bei dem Exotik wichtiger ist als Fakten, und das zu Verwechslungen und zur Stereotypisierung besonders von Völkern außerhalb oder am Rande des griechisch-römischen Kulturbereichs führt; darin erkennt man dieselbe oft schon bei den Dichtern angelegte Tendenz 280 , die Bachmann (S. 75) für die Lucanscholien festgestellt hat, und der selbst der belesene Gellius erliegt 281 . Diese auf die nationalrömische Perspektive eingeengte Weltsicht entspricht dem bildungspolitischen Programm, wie es Eumenius in seinem Panegyrikus aus dem Jahr 297 deutlich formuliert: Videat praeterea in Ulis porticibus iuventus et cotidie spectet omnes terras et cuncta maria et quidquid invictissimi principes urbium gentium nationum aut pietate restituunt aut virtute devincunt aut terrore devinciunt2^2. Mithin ist die hier festgestellte Enge des Horizonts nicht Porphyrio zur Last zu legen, sondern typisch für das Weltbild der römischen Eroberer 283 . Besser weiß es Plut. san. praec. 6 (Moral. 124F), s. Pietschmann, Art. Aigyptos 1), RE 1,1 (1893), Sp. 987. S. Rawson, S. 250ff. Beispiele aus der Scholienliteratur bei Degenhardt, S. 61ff. Plin. nat. 3,59 oppidum Formiae ...ut existimavere, antiqua Laestrygonum sedes. Ζ.Β verwechselt Horaz Syrien und Assyrien, Meder und Parther, Indien und Persien (s. Edgeworth, 1989, S. 232). Gellius zeigt kaum Interesse an Völkern außer den Römern und Griechen und "does not doubt the superiority of Graeco-Roman civilization", Holford-Strevens, S. 229. Paneg. 9,20 (s. Haarhoff, S. 66f.) vgl. Porphyrio ad Carm. 3,3,45 Non perpetuo epitheto[n] "horrendam Romam" dicit, sed barbaris horrendam. Stellen zu ethnischen Klischees bei den Römern bespricht Wölfflin 1892. Zum Verhältnis der Römer zu anderen Völkern s. jüngst Christes, Rom und die Fremden, bes. S. 13-19 (dort weitere Literaturhinweise zum Thema).

3.2. Ιστορικόν. Die sachlichen Erläuterungen

57

Von der geistigen Bewegung des Christentums, "die ein neues Bild vom Menschen entwickelte und einen neuen, nicht mehr italozentrischen Blick auf die Weltgeschichte darbot" 2 8 4 , findet sich bei unserem Kommentator noch keine Spur. Der zunehmende Hang zur Buchgelehrsamkeit zementiert solche plakativen und realitätsfernen Ansichten: "nicht selten werden Angaben, die längst als falsch erkannt sind, weiterverwendet, wenn sie nur durch die Tradition geheiligt sind" 285 . Dies manifestiert sich bei Porphyrio auch darin, daß die zu geographischen Angaben namentlich zitierten Quellen bis auf zwei Sallustparallelen sämtlich Dichter sind, nämlich Titinius, Lucilius, Lucan und besonders Vergil (was wir bei der Untersuchung von Porphyrios Autoritäten noch genauer verfolgen werden). Man sieht, daß dieses Weltbild eher eine literarische Kunstwelt, oder zumindest die stark literarisch gebrochene Weltsicht der poetae docti widerspiegelt, als daß eine reale Geographie (für die das Informationsmaterial durchaus vorhanden wäre) zugrunde liegt, die eventuell sogar als Korrektiv zu der Darstellung des Dichters dienen könnte 286 . Grammatik- und Rhetorikschule fördern offenbar die Bildung eines eigenen isolierten Kosmos, in der, wie unter einer Glasglocke, Zeit und Raum nur noch verzerrt und selektiv wahrgenommen werden.

Anthropologie/Medizin Relativ wenige und knappe Bemerkungen finden sich zur Medizin, obschon dieses Fachgebiet seit dem 2. Jahrhundert sehr populär war 2 8 7 . In Sat. 2,3,141 zeigt er immerhin eine gewisse Bekanntschaft mit der populären antiken Humoralpathologie: (SPLENDIDA BILIS) Κατά άντίφρασιν "atra", vel "flava " 288 . (Nichtssagend ist Epod. 11,10).

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Kirsch, S. 289. So Bachmann, S. 74. zu Lucan und seinen Erklärern. Zum literarischen Charakter der geographischen Bildung bei Augustinus s. Marrou, Augustinus S. 119f. Ähnliche Beobachtungen macht auch Bachmann bei den Lucanscholien (S. 73f.), Beispiele s. d. S. Holford-Strevens, S. 224ff. Atra bilis ist die μέλαινα χο\η στίΚτνοτίρα αύτον του αίματος (Galen, De sympt. caus. VII p. 245 Κ., s. Κ.-H. ad loc.), in der antiken Medizin galt sie als Ursache für Wahnsinn beim Menschen (Plin. nat. 11,193). Die flava bilis, die Porphyrio keinesfalls abwegig ebenfalls in Erwägung zieht, bewirkt Zorn (sie ist vielleicht gemeint mit vitrea bilis Pers. 3,8, s. dazu P. Migliorini: Scienza e terminologia medica nella letteratura latina di età neroniana [ = Studien zur klassischen Philologie 104], Frankfurt/M. 1997, S. 137f.).

3. Έξήγησις: Die Texterklärung

58

Meist erwähnt Porphyrie» allgemein bekannte Tatsachen zu Gift- und Heilpflanzen: Epod. 3,3 Cicuta herba est venenatissima2*9, Sat. 2,4,20-21. Carm. 1,31,16 malvae autem corporis] leves intellegendae290, Sat. 2,2,44 Inula dicitur herba, quae incocta aceto cruditatis fastidium decutif191, Ars 300 Locus est in Achaia Anticyra, ubi elleborum nascitur, quo sumpto dementes sanantur292, Epist. 2,1,114.

Zoologie Mehr Interesse zeigt er an der Zoologie, wenn sich die Kenntnisse auch, soweit sie über eine Namenserklärung hinausgehen, meist auf das Gebiet der populären Curiosa, des folkloristischen Aberglaubens und der dichterischen Topoi beschränken: Einfache Tiernamenerklärungen (im Übergang zum glossematicon) finden sich am häufigsten: Ars 476 HIRUDI. ] Haec sanguisuga appellator293, Epod. 2,53 (AFRA AVIS) Afram auftjem gallinam Numidicam dicit, Epod. 2,54 Attagen autem avis est Asiatica inter nobilissimas habita294, Sat. 2,2,22, vage Sat. 2,4,28. Außerdem erwähnt er einige bekannte curiosa aus dem Tierreich: Epod. 16,32 ADULTERETUR ET COLUMBA MILVO. ] Iucunde ... quia dicitur columba nulli alii succumbere, quam cui se semel iunxit... (als Erläuterung des Adynatons), über den Topos der Treue der Tauben auch Epist. 1,10,5. Epist. 1,17,50 zum Freßverhalten des Raben, Sat. 2,4,30 der verbreitete Glaube vom Wachstum von Muscheln mit dem Mond 295 ; dabei ist die Grenze zum Aber-

Plin. nat. 25,151; 14,58; die Giftigkeit dieses Gewächses ist allgemein bekannt, s. die Stellen im ThLL V 447,28ff. s. z.B. Plin. nat. 20,222 (malvam) Maiorem Graeci malopen vocant in sativis, alteram ab emolliendo ventre dictant putant malachen; Cie. fam. 7,26,2; Hör. epod. 2,58 u. v. a. (s. ThLL VIII 207,59ff.). Zu den verschiedenen Anwendungsweisen s. ThLL VII,2 239,69ff., mit verschiedenen Zubereitungsmethoden, aber soweit ich sehe ohne Beleg für das Kochen in Essig. Plin. nat. 25,60 Medetur ita morbis comitialibus ... vertigini, melancholicis, insanientibus, lymphatis. Dagegen 25,52 in Anticyra insula ... tutissime sumitur, quoniam ... sesamoides admiscent. Vgl. Plin. nat. 8,29 hirudine, quam sanguisugam vulgo coepisse appellari adverto\ Porphyrio scheint den Begriff zu akzeptieren (er kommt u. a. schon bei Cels. 5,27,12,c vor, s. OLD). Plin. nat. 10,133 attagen maxime Ionius celeber ... quondam existimatus inter raras aves. Aus dem Kontext erschlossen oder aus Lucil. frg. 1201 M. (ap. Gell. 20,8,4), Plin. nat. 2,221 o. a. (s. Marx zu Lucil. frg. inc. 1201). Am ähnlichsten im Wortlaut ist Cie. div. 2,33 ostreisque et conchyliis omnibus contingere ut cum luna pariter

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

59

glauben fließend: Epod. 5,20 strix als Unglücksvogel 296 , Carm. 4,2,25 der Topos von den singenden Schwänen. In Sat. 1,3,25 sprengt Porphyrio den Rahmen der Texterklärung, um das berühmte Kuriosum vom Adler, der in die Sonne blicken kann 297 , anzubringen. Den literarischen Charakter dieses naturkundlichen Wissens zeigen insbesondere die Berufung auf Vergil georg. 3,266 als Autorität in Carm. 1,25,14 (Brunst bei Stuten). Carm. 3,27,9-11 Krähe kündigt Regen an (mit Verg. georg. 1,388 als Parallele, vgl. Carm. 3,17,12-13, wo auch die sprichwörtliche Langlebigkeit der Krähe 2 9 8 erwähnt wird). Realienkenntnisse werden zuweilen auch zur Interpretation der Aussageabsicht herangezogen: Carm. l,22,init. ... dubito, utrum ioculariter dicantur, an vere, quoniam lupi dicuntur solere singulares homines invadere, Epod. 12,init: ... elefanti feruntur aversi coire . . . 2 " (mit etwas überinterpretierter Erklärung der Schmähung). Zur Erklärung von Epitheta: Sat. 2,4,44 Fecundum leporem ait, ideo, quia semper pregnans dicitur, Epod. 5,15.16.

Botanik/Landwirtschaft Auch hier scheint Porphyrios Kenntnis weitgehend begrenzt auf einige allgemein bekannte Tatsachen und dichterische Topoi. Die Erläuterungen verraten keine tiefschürfende Beschäftigung mit diesem Thema, das ungeachtet der nostalgischen römischen Verklärung des Landlebens kaum noch auf wirkliches Interesse stieß 300 . Außer zu einfachen Worterklärungen (Carm. 1,31,16 Cichorea intiba rustica301) dienen diese Kenntnisse zur Klärung poetischer Epitheta: Carm. 2,15,9-10 Et laurea arbos infructuosa est, et tantum voluptuosis locis apta*02, Carm. 1,36,16 (BREVE LILIUM) quod brevis temporis est, hoc est

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crescant pariterque decrescant. Kritisch dazu Plin. nat. 11,232. Die Sage stammt lt. Keller wahrscheinlich aus Ägypten, wo der Adler das Tier des Sonnengottes ist; Aristoteles hist. anim. 9,34, 620 a l f f . , Lucan 9,902-6; Plin. nat. 10,10 u. a. (s. Keller, Thiere Bd. II, S. 12); Aug. gest. Pelag. 6,18, CSEL 42 p. 70; in evang. loh. 36,5 PL 35,1666 u. a. (s. Marrou, Augustinus, S. 123). Zahlreiche Parallelen bei A. Otto: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890 (Neudr. Hildesheim 1962), S. 93. Vgl. Plin. nat. 10,173 Coitus aversis elephantis, camelis, tigribus .... Auch Gellius' Interesse für dieses Gebiet geht über lexikalische Fragen und Curiosa kaum hinaus (s. Holford-Strevens, S. 235). Ähnlich Gloss. III 558,60 G. Diese Erklärung scheint also eher einem Wörterbuch als einem Fachhandbuch entnommen zu sein; ausführlicher Serv. georg. 1,120 (s. ThLL III 1049,69ff.). Dagegen handelt Plin. nat. 23,152ff. vom medizinischen Nutzen des Lorbeers.

60

3. Έξή-γησις: Die Texterklärung

cito deflorescit*03, Carm. 1,36,20, Carm. 2,7,23-25, Epod. 2,19 (vgl. Epod. 16,46). Unkenntnis der landwirtschaftlichen Praxis (Pappeln wurden tatsächlich als Rebstöcke verwendet, s. K.-H. ad loc.) verrät der Scholiast zu Epod. 2,10 ALTAS MARITA POPULOS. ] ... Sed speciem pro specie posuit. Non enim populi maritari, sed ulmi soient. Die Feststellung zu Epod. 11,5.6 Re vera autem mense fere Decembri spoliantur arbores foliis illustriert eine gewisse Realitätsferne der Schule.

Mineralogie und Mineralurgie Hier sind die Kenntnisse wiederum mager: Carm. 3,9,18 (IUGO COGIT AENEO) ... Aeris namque materia non sicut ferrum rubigine consumitur (mit Vergilparallele), Carm. 3,23,18 (Salz springt im Feuer 304 ), fälschlich Carm. 1,6,13 adamans enim lapis durissimus. In Biologie und Mineralogie verfügt Porphyrio (wie Gellius 305 ) also über wenig Kenntnisse; seine Hauptquelle scheint Plinius gewesen zu sein 306 .

Geschichte Für Messalla in Tac. dial. 30,1 gehört die Geschichte mit der Grammatik zu den prima discentium elementa. Beim Grammaticus wurde sie den Schülern vor allem im Zuge der Dichterlektüre vermittelt. Die eigentliche Geschichtsschreiber-Lektüre fand wohl hauptsächlich im Rhetorikunterricht statt307, wobei Quint, inst. 2,5,19f. empfiehlt, mit dem am meisten jugendgemäßen

Zum Dichtertopos der Kurzlebigkeit der Lilie vgl. die Belege ThLL VII,2 1399,53ff. Vgl. die Etymologie bei Isid. 16,2,3 sai quidam dictum putant quod in igne exiliat. S. Holford-Strevens, S. 234f. Auch Augustinus bezieht seine Kenntnisse auf diesem Gebiet fast vollständig aus Plinius oder aus den Exzerpten des Solinus (s. Marrou, Augustinus S. 121). Jedenfalls setzt sich Quint, inst. 2,5, Iff. nachdrücklich dafür ein, unter den prima rhetorices elementa, wie bei den Griechen üblich, die Lektüre der Historiker und Redner zu betreiben (die Überlieferung ist allerdings nicht klar). Er selbst (oder, wie Winterbottom vermutet, ein Interpolator) bezeugt aber auch in 2,1,4, daß die historici schon im Grammatikunterricht gelesen wurden. Nicolai, S. 189-233. vermutet nach Auswertung der Grammatikerdefinitionen verschiedener Epochen, daß nicht zuletzt infolge des immer weiter vordringenden Deklamationswesens nicht nur der Rhetor sondern in unterschiedlichem Umfang auch der Grammatiker die Historiker trotz Quintilians Intervention behandelt habe, beide aus jeweils unterschiedlichem Blickwinkel. Zum schwankenden Verhältnis der Geschichtsschreibung zur Rhetorik und Poesie s. Nicolai, S. 233-74.

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

61

Livius zu beginnen. Die Unterweisung in der Geschichte erfolgte nur auf einem Niveau, das bereits bei Quintilian noch mehr als bei Cicero 308 , trotz (oder gerade wegen) des hehren moralischen Anspruchs als magistra vitae309, "unmethodisch und unwissenschaftlich" war. In erster Linie sollte die Geschichte eine "Vorratskammer für Schulbeispiele" bereitstellen310, wie sie uns etwa im Handbuch des Valerius Maximus (1. Jh.) erhalten ist311. Die historischen Angaben bei Porphyrio kreisen vor allem natürlich um die römische Geschichte; zur griechischen oder barbarischen weiß er wenig zu berichten. Primär zum Textverständnis dienen etwa die zahlreichen Erläuterungen zu Anspielungen Horazens auf seine "Zeitgeschichte": Zu den Bürgerkriegen in Carm. 1,2,23-24 ... quia 317 diceret. Post hurte TERENTIUS dixit: FUNAMBOLI ... (Hec. 34), was, falls der Text richtig überliefert ist, auf historische Desorientierung schließen ließe, da er den Messalla, auf den Horaz an der Stelle als Zeitgenossen anspielt, älter sein ließe als Terenz 318 . Weniges berichtet er zur griechischen Geschichte: Carm. 3,16,13-14 (DIFFIDIT URBIUM PORTAS VIR MACEDO) Filippum significai Alexandri Magni patrem, Epod. 16,17 Auswanderung der Phokäer, Anekdotisches in Ars 102-3: Demosthenes' Inspiration für eine Verteidigungsrede.

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317 318

Wie McCauley, S. 158 richtig erkannt hat, bezieht Porphyrio prineipis nicht als Apposition zu Romae, sondern auf Augustus und deutet infolgedessen die suboles als die Nerones, nicht als die Römer. Wie das auch bei Verg. georg. l,466ff., Tibull 2,5,71-8 und Ovid. Met. 15,783-98 der Fall ist, s. Gallavotti, S. 224ff. S. O. Pedersen: Some Astronomical Topics in Pliny, in: French/Greenaway, S. 162-96, S. 164. Auch andere Kommentatoren begehen reichlich Fehler bei ihren historischen Erläuterungen. Beispiele aus Servius sind gesammelt bei E. Thomas, S. 257f.; Bruce A. Marshall (A Historical Commentary on Asconius, Columbia 1985, S. 75) zählt 61 Irrtümer in dem auf historische Fragen spezialisierten Cicerokommentar des Asconius. Man sollte doch wohl eher σχοινοβάτης lesen. Aber Herr Prof. Zwierlein wies mich darauf hin, daß Porphyrio möglicherweise Messalla Corvinus, den Zeitgenossen des Horaz, mit M. Valerius Messala, dem Konsul des Jahres 188 v. Chr., verwechselt haben könnte.

3.2.

Ιστορικόν:

Die sachlichen Erläuterungen

63

Was die Barbaren betrifft, so erwähnt er in Carm. 3,8,22 den Cantabrersieg, ansonsten nennt er vor allem östliche Herrscher: Carm. 2,18,5-6 (in einer recht subtilen Interpretation): Attalus rex Asiae regnavit, cuius hereditatem populus Romanus cepit. Dicendo autem HERES et OCCUPAVI, suspicionem dat, qua existimemos falso testamento Romanos hanc sibi hereditatem vindicasse (vgl. Carm. 1,1,12), Carm. 1,26,5 Tiridates, Carm. 3,6,9 Partherkönige. Hier treten auch Fehler auf 319 : Z.B. zeigt er Unsicherheit in Carm. 3,16,41-42 ... Halyattus autem rex Persarum dicitur fuisse, vel, ut ALII, rex Lydorum pater Croesv, in Carm. 2,12,21 macht er Achemenis zum Partherkönig320 Über das reine Textverständnis hinaus gehen die Erläuterungen zu den horazischen Anspielungen auf die für die antike Rhetorik und Geschichtsschreibung typischen moralischen Exempla aus der Geschichte. Auf sie geht Porphyrio oft näher ein, um sie den Schülern einzuprägen. Dabei geht es dem Grammatiker wohl nicht so sehr um die moralische Bildung, in der den Schülern die Tugenden und Großtaten der nationalrömischen Helden als leuchtende Beispiele vor Augen gestellt werde sollen,321 wie um die Verwendbarkeit für den angehenden Redner als Versatzstücke und Vorbilder bei den Deklamationsübungen. 322 Von der Dichtererklärung aus konnte der Grammatiklehrer mühelos eine Brücke schlagen zu den schon erwähnten rhetorischen progymnasmata, zu denen auch Lob und Tadel berühmter Männer (als Vorbereitung auf die epideiktische Rede323), sowie die Synkrisis zwischen mehreren Helden gehörte 324 , aber auch Ethopoiien, in denen die Situation eines historischen oder mythischen Helden in einer Rede, die diesem in den Mund gelegt wird, nachempfunden wird (s. auch S. 248). Im Verlauf der Dichterlektüre lernte der Schüler also schon die wichtigsten Exempla kennen:

S. Vrba 1897, S. 30. Zu der Verwechslung von Persern und Parthern s . o . Obschon Quintilian den moralischen Aspekt dieser Exempla betont: inst. 12,2,29 ... quae sunt tradita antiquitus dicta ac facta praeclare et nosse et animo semper agitare conveniet (s. dazu Jullien, S. 261f.). Einen Überblick über das Genus der Deklamation und seine Geschichte in Rom bietet neuerdings Heusch, S. 19-40 (weitere Literatur s. d ). Zur schwankenden Stellung der Progymnasmata zwischen Grammatik- und Rhetorikunterricht s. Nicolai, S. 215-33. S. dazu Nicolai, S. 101-8. S. z.B. Quint, inst. 2,4,20f. (s. Lechner, S. 183); Sueton De grammaticis 25,8f. (s. Nicolai, S. 232).

64

3. Έξή-γησις: Die Texterklärung

Darunter ist, passend zu Porphyrios nationalrömischer Perspektive, nur ein griechisches Exempel zu finden, das zudem recht knapp gehalten ist325: Carm. 3,19,1-3 Codrus autem Atheniensium dux fuit, qui, ut patriae victoriam parerei, interimendum se Lac[a]edemoniis obtulit326; de Inachi autem virtutibus nulla extitit historia. Die übrigen Beispiele dienen der Illustration altrömischer virtus327 : Carm. 1,12,37 Aemilium Paulum dicit, qui victus ab Hannibale apud Cannas Apuliae vicum maluit perire, quam exemplo collegae Varronis fugere™, Carm. 2,1,24 Freitod des Cato Uticensis329, Carm. 4,4,37-38 Nero und Salinator besiegen Hasdrubal330. Ein grausig-pathetisches Detail wird der Texterklärung hinzugefügt in Carm. 4,4,70 (Hannibals Erschütterung beim Anblick des abschlagenen Hauptes des Hasdrubal331). In Sat. 2,3,287 erwähnt er als eine zu Recht von ihm verworfene und vielleicht nur um ihrer selbst willen angeführte Deutungsmöglichkeit die Geschichte von Menenius, der die plebs in die Stadt zurückführt332 u. a. Anekdotisches333, wahrscheinlich ebenfalls aus dem Rhetorenfundus, steuert er z.B. bei in Sat. 1,2,31 (Cato Censorius). In Ars 319-20 wählt er das Schicksal des Regulus als Beispiel für ein inhaltlich wertvolles poetisches Sujet: Si verbi gratia circumlator referat de Regulo, quomodo captus sit aut punitus, verba sordida si non delectant, attamen res avocat auditu digna·, diese Geschichte zählt zu den beliebtesten rhetorischen Standard-

325

Vgl. Quintilians patriotisches Programm: inst. 12,2,29 (dicta et facta praeclare) ... Quae prefecto nusquam plura maioraque quam in nostrae civitatis monumentis reperientur. 30 An fortitudinem, iustitiam, fldem, continentiam, frugalitatem, contemptum doloris ac mortis melius alii docebunt quam Fabricii, Curii, Reguli, Decii, Mudi aliique innumerabiles? Quantum enim Graeci praeceptis valent, tantum Romani, quod est maius, exemplis.

326

Diese Geschichte findet sich ausführlicher erzählt auch bei Valerius Maximus V 6, ext. 1 als exemplum für Vaterlandsliebe (das bekannte Exempel erscheint außerdem bei Lykurg, contra Leocraten 84-88; lustin 2,6,16-21). Porphyrios von verklärenden Topoi geprägtes Verhältnis zur römischen Vergangenheit geht auch aus seinem Kommentar zu Carm. 3,3,49-50 hervor: Populum autem Romanum ait constantissimum aurum contemnere, et merito, quoniam apud veteres paupertas magis in honore erat quam divitiae. Aus einem anderem Blickwinkel erzählt bei Val. Max. 3,4,4, s. auch Polyb. 3,10717, Liv. 22,38-50. Vielleicht aus Val. Max. 3,2,14. Bei Val. Max. 7,4,4 als exemplum für große Feldherren, s. auch Liv. 28,9. Vermutlich aus Liv. 27,51,11. Auch Florus 1,22,53 = epit. 2,6,53 erwähnt diesen Vorfall, aber ähnlicher scheint die Liviusstelle. Wohl eher aus Florus epit. 1,17,23 ... deinde moribundos ea seiunctione redisse in eratiam. ... mit Porph. : a Menio, qui senatum et populum in eratiam reduxit als aus Liv. 2,32,8ff. Als Standardbeispiel erwähnt bei Quint, inst. 5,11,19. Anekdoten liebt auch Servius, Beispiele bei E. Thomas, S. 258.

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3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

65

beispielen 334 , noch Augustinus verwendet sie häufig als exemplum für Seelengröße und Treue zum geleisteten Eid 335 . Die Bösewichte als Negativexempla, die der Scholiast anführt, Aufrührer und Störer von Recht und Ordnung, stammen vor allem aus der Zeit der frühen Bürgerkriege: Carm. 3,14,19.20 Spartacus dux fitgitivorum per Italiam aliquando grassatus multa vastavit, Epod. 9,7.8 Neptunium autem ducem Sextum Pompeium, noli simpliciter dictum accipere, quasi quod in mari dux fuisset, sed quod ad earn stultitiam processisset inflammatus pro marinarum rerum felicitate, ut Neptuni filium se diceret et cyanea veste obduceretur, wohl aus Livius 336 (vgl. V. 9-10 u. Epod. 4,17-19), Epod. 16,6 Catilina. Als Quellen scheint Porphyrio also vor allem Livius (wahrscheinlich das Original, nicht die Epitome) und Florus, Valerius Maximus und Sueton benutzt zu haben. Alles in allem sind die historischen Angaben (die besonders in den Carmina und Epoden auftreten) meist personenbezogen und punktuell; man findet kaum einen Ansatz zum Herausarbeiten von Zusammenhängen, Entwicklungen oder historischen Prozessen, das ein tieferes Verständnis etwa der Bürgerkriege bewirken könnte337. Das Exempelhafte, Biographische und Anekdotische steht im Vordergrund, was einerseits einer allgemeinen Tendenz der römischen Geschichtsschreibung entspricht338, andererseits noch forciert wird durch den propädeutischen Hintergedanken dieser Scholien, dem angehenden Redner ein

Cie. in Pis. 43; De offic. 1,39; 3,99f.; Gell. 7,4 u. a. (s. Baisdon, S. 7); außerdem bei Livius, Valerius Maximus, Florus, Eutropius und natürlich Hör. Carm. 3,5,13ff. (s. auch Marrou, Augustinus S. 118, Anm. 47). Z.B. Aug. civ. 1,15; weitere Beispiele bei Marrou, Augustinus, S. 117. Die Ps-Acronischen Tb Scholien ad loc., die sich ganz offensichtlich auf Porphyrio stützen, geben zusätzlich Livius, den Porphyrio selbst häufig zitiert, als Quelle an. Massaro stützt diese Quellenangabe durch Vergleiche mit anderen ähnlich lautenden Darstellungen, denen allen möglicherweise diese verschollene Liviuspassage zugrunde liegt, besonders frappierend App. bell. civ. 5,100,416f. und Cass. Dio 48,48,5, die z. T. fast wie wörtliche Übertragung anmuten und beide das anekdotischmoralisierende Detail der vorgeblich neptunischen Abstammung und des blauen Mantels aufweisen (daß Appian oder Dio Porphyrios Quelle sind, ist angesichts der griechischen Lektürekenntnisse Porphyrios kaum anzunehmen). Wahrscheinlich war in der ungekürzten Fassung des Porphyrio, die den Scholiasten Ps.-Acro Tb wohl noch vorlag, die Quellenangabe noch vorhanden und ist der Nachlässigkeit eines Schreibers zum Opfer gefallen. Dies wäre etwa in Gestalt kurzer Exkurse selbst in einem Randkommentar zumindest ansatzweise in Form eines knappen Abrisses möglich; doch dort, wo Porpyhrio ausführlicher wird, nutzt er den Raum lieber für unterhaltsame Anekdoten. S. Holford-Strevens (S. 178): "it either conned compendia of events ... or regaled itself with anecdotes, exempla, and preferably scandalous biography".

3. ΈξήΎησις: Die Texterklärung

66

Repertoire der schon spätestens seit dem 1. Jh. immer stereotyper werdenden 339 Versatzstücke für Deklamationen und Reden für alle Gelegenheiten an die Hand zu geben. Dieser Befund deckt sich also mit dem zu Porphyrios Zeit üblichen Bildungshorizont, wie man ihn z.B. aus Gellius und Augustinus erschließen kann 340 . Man sucht vergeblich nach absoluten Zeitangaben, was um so weniger verwundert, als zwischen Varrò und Julius Africanus (3. Jh.) keine nennenswerten chronologischen Werke verfaßt wurden. Die veteres sind zwar allgegenwärtig, "aber dieses Haben der Vergangenheit als Gegenwart bedeutet eine Art von Zeitlosigkeit, steht jedenfalls im Gegensatz zu dem, was wir historisches Bewußtsein nennen" 341 . Dieser Blick auf die veteres als Einheit ist auch kennzeichnend für die Sprachbetrachtung, s. S. 196f.

De personis Horatianis Da diese Erläuterungen für die Analyse des Bildungshintergrundes wenig ergiebig sind, mag es genügen, die Ergebnisse von Kiessling (1880) und McCauley kurz zu referieren und für die einzelnen Angaben auf die Kommentare und die Untersuchungen Rudds (1960 und 1966, S. 132-59) zu verweisen: Kiessling (1880, S. 4) konstatiert: "Saepe enim quae Porphyrio de hominibus, quos Horatius breviter perstringere solet, narrat vel narrare fingit nihil nisi ipsa poetae verba amplificata reddunt", z.B. Sat. 1,2,55-56; 1,2,81; 2,3,75. Andere Erläuterungen dagegen seien ausführlicher und zeugten von größerem Wissen: z.B. Sat. 1,8,39; 2,2,50-51; 2,3,239; Sat. l,7,19-20 342 ,

S. Kroll, Studien S. 156. "Gellius narrates stirring, improving, or warning anecdotes, but never undertakes a critical scrutiny of their truth or historical significance" (Holford-Strevens, S. 179, vgl. Marache, S. 234.). Ähnlich lautet das Ergebnis Marrous (Augustinus, S. 116) für Augustinus: abgesehen von den für die Bibelexegese notwendigen Kenntnissen äußert er nur "allgemeine, sehr simple Ansichten, beschränkt auf wenig Stoff", was "sich mit der durchschnittlichen Bildung der Rhetoren seiner Zeit deckt". Curtius, S. 258, Anm. 1. Diese Tendenz verstärkte sich infolge der Krise des 3. Jahrhunderts, als die imperiale Oberschicht bemüht war, durch die Kontinuität der Bildung die Verbindung zu den maiores, und damit zur Größe Roms, aufrecht zu erhalten (s. Vössing: Non scholae sed vitae - der Streit um die Deklamationen und ihre Funktion als Kommunikationstraining, in: G. Binder/K. Ehlich, S. 91-136, S. 119). Lt. Holders Apparat aus Sueton, fr. 196 Reiff.

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

67 343

von denen Kiessling annimmt, daß sie alle aus derselben Quelle stammen , nämlich von jenen, qui de personis Horatianis scripserunt (Porph. ad Sat. 1,3,21 und 90), hinter denen Kiessling eine einzige Schrift vermutet, die allerdings auf verschiedene Quellen zurückgreife (S. 8). Aus der Bemerkung zu Sat. 1,8,25 Memini me legere apud HELENUM CRONEM Saganam nomine finisse Horati temporibus Pompei sagam senatoris usw. schließt er auf Helenius Acro als Verfasser. Kiessling führt S. lOff. eine Liste der seiner Meinung nach aus Helenius Acro stammenden Scholien an: Sat. 1,1,13; 101; 105; 120-1; Sat. 1,2,1; 35 3 4 4 ; 91; 94; Sat. 1,3,21 3 4 5 ; 46-47; 82-83; 86; 90-91; 130-2; Sat. 1,4,93-94; Sat. 1,6,13-14; 30 346 ; Sat. 1,7,1; 19-20; Sat. 1,8,11; 25; 39; Sat. 1,9,60-61, u. a. und außerhalb des überlieferten Porphyrio-Corpus (aus einem vollständigeren Exemplar) noch Schol. luven. V,3. Hier ist zu ergänzen, daß Schol. Pers. 2,56 Acro zitiert, sei es direkt, sei es aus einem ausführlicheren Porphyriotext. Zur Warnung davor, den Angaben Porphyrios zu sehr zu vertrauen, seien abschließend noch einige Fehler angefügt: z.B. Sat. 1,2,64 3 4 7 , Sat. 2 , 1 , 2 9 3 4 8 , Sat. 2 , 1 , 6 8 3 4 9 ; widersprüchlich: Sat. 1,9,61 und Epist. l.lO.init. (vgl. Ps.-Acro ad loc.) 350 . McCauley zählt nach einer detaillierten Überprüfung derjenigen prosopographischen nicht der allgemeinen Geschichte zuzurechnenden Angaben (S. 120-55), die nicht aus dem Horaztext extrapoliert sind, 16 irrtümliche und zwölf zweifelhafte Identifizierungen (S. 153) und kommt zu der (vielleicht etwas zu harschen) Bewertung: "The scholia taken all together present a meager fund of knowledge or information" (S. 155).

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Ibd. S. 4ff. Zugunsten der Zuverlässigkeit der Herkunftsbezeichnung des G. Cupiennius Libo als Cumaner verweist D'Arms, S. 144, auf die Häufigkeit des Namens Cupiennius in den Inschriften dieser Region. (Auf den Anklang an cupidus geht Porphyrio nicht ein). S. App. Holder. Holder verweist im Apparat ad loc. auf Plut, quaest. Rom. 83; Oros. 5,15,22. S. Schweikert 1917, Sp. 773 und K.-H. ad loc. S. K.-H. ad loc. S. K.-H. ad loc. S. Schweikert 1915, S. 37. Porphyrio bietet zwei Alternativen (Ps.-Acro nur eine davon): Sat. 1,1,105; Sat. 1,2,25; Epist. 1,18,19 u. a. (sind die bei Ps.-Acro nicht genannten Alternativerklärungen spätere Zusätze?)

68

3. Έξή-γησις: Die Texterklärung

De vita Horati Während Servius ein paar (wenn auch oft sehr suspekte) Anekdoten zum Leben des Vergil zum besten gibt351, beschränken sich die Angaben zur Vita des Horaz fast ganz auf Pseudoinformationen, die aus der behandelten Gedichtstelle oder anderen horazischen Passagen herausgezogen sind, entsprechend der Tendenz griechischer Biographen, Autobiographisches in einen Autor hineinzulesen, die auch in der lateinischen Grammatik spätestens seit Aelius Stilo nachweisbar ist 352 . Auch in seiner dem Kommentar vorangestellten Horazvita, auf die er in Sat. 1,6,41 Bezug nimmt 353 , wendet Porphyrio diese Methode an. Man muß unserem Kommentator jedoch zugute halten, daß er meist ehrlich genug ist, diese aus den Gedichten erschlossenen Informationen auch als solche zu deklarieren: Carm. 3,21 ,init. Apparet autem Flaccum consule alio natura esse (vgl. Epod. 13,6, Epist. 1,20,27), Carm. 3,14,28 Significai se Planeo consule adulescentem fuisse ...; Epist. 2,2,43 Diciifi] se[t] etiam Athenis philosopho operant dedisse. Carm. 1,14,17-18 Ecce hic manifeste ostendit se poeta partium Bruti fuisse, quarum affectione sese teneri ostendit propter ipsius Bruti miserationem (zu seiner Teilnahme am Bürgerkrieg auf der Seite des Brutus auch Carm. l,14,init., Carm. 2,7,init., Carm. 2,7,13.14, Carm. 3,4,25, Sat. l,7,init., Epist. 1,4,3, vgl. die Vita S. 1, Z. 12ff.), Sat. 2,6,36 Hoc loco significat se Horatius decuriam habuisse, Epist. 2,2,40 ... His autem omnibus Horatius vult estendere, primo dispendio rei familiaris se coactum, post invitatum donis a lucro ad scribenda carmina devenisse (vgl. Epist. 2,2,50, Vita Z. 15ff.). Häufig gibt er Erläuterungen zu Horazens Heimatregion: Carm. 1,28,2527 Venusia colonia est inter Lucaniam et Apuliam, patria poetae..., Carm. 3,30,10, Carm. 4,6,27-28, Carm. 4,8,20 (vgl. Vita V. 2ff.) und zu seinem Wohnsitz: Epist. 1,18,104 DIGENTIA nomen rivifluentis per agrum Horat, Epist. 2,2,2-3. In Sat. 1,6,113-4 verteidigt er den Dichter gegen ein mögliches Mißverständnis: Fallacem vespertinumque forum mihi videtur Suburam 354 dicere, quod fere sera hora furtivas res soient eo venum deferre. Non autem utique sic hoc dicit Horatius, quasi ipse res furetur et eo déférât, sed potius

351 352 353

354

Z.B. Serv. ecl. 5,89, Aen. 6,165 (s. E. Thomas, S. 257). Aelius Stilo GRF p. 70 frg. 51 Fun., s. Rawson, S. 270. Pâtre libertino natum esse Horatium et iti narratione, quam de VITA illius habui, ostendi (vgl. Vita Ζ. If.). Die Theorie, daß Porphyrio auf eine andere von ihm verfaßte, heute verschollene Vita anspiele, ist nicht haltbar (s. Vahlen 1895, S. 25f.). S. o. S. 51.

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

69

quod inde occasiones emendi captet. Wir erkennen das Bemühen des Scholiasten, den Dichter nicht dem Verdacht der Illegalität auszusetzen. Die wenigen echten Zusatzinformationen stammen aus der Sueton-Vita: Carm. 4,l,init. über das intervallum lyricum zwischen dem dritten und dem vierten Odenbuch; in Epist. 2,l,init. wird Sueton namentlich als Quelle angeführt: Apparet hunc librum, ut supra diximus (Epist. l,20,init.), hortatu Caesaris scriptum esse. Cuius rei etiam SUETONIUS auctor est ,..355.

Literarhistorisches Mit den Erläuterungen zu literarischen Fragen betreten wir das ureigene Gebiet eines Grammaticus. Versuchen wir, die Kenntnisse unseres Dichtererklärers zu rekonstruieren: De poematis Manchmal finden sich Erklärungen zu den bei Horaz erwähnten poetischen Genres: Carm. 2,1,37-38 Nenia lugubre carmen est, quod in mortuos canitur (vgl. Carm. 2,20,21 u. Carm. 3,28,16). Epist. 2,1,134 Hie autem signif(icat) carmina, quibus dii placantur, hoc est: paeanas dithyrambes hymnos prosodia. Als Themenkreise der lyrischen Poesie führt er an: Carm. 1,1,31 ... fere enim lyrico carmini materia de nemoribus ac fontibus est, et siqua sunt his similia autpróxima ..., Ars 83 Heldenlob, Ars 85 Liebe. Zuweilen wird das Gedichtgenre am Anfang einer Ode genannt: Carm. 1,10 Hymnus (vgl. Carm. 4,6), Carm. 1,16 παλινωδία, Carm. 1,24 ϋρηνος, Carm. 1,27 protreptice ode, Carm. 1,30 Quasi epigramma est hoc in dedicationem Veneris scriptum. Zu den Sermonen und Episteln: In Epist. l,l,init. betont er die Gleichheit von Sermonen und Episteln in Bezug auf Metrum, Stil und Inhalt. Zu Epist. l,20,init. erklärt er den ungewöhnlichen "Adressaten" dieser Epistel mit der allgemeinen Lizenz, die den ersten und letzten Stücken eines Buches gewährt werden, mit Hinweis auf das Lukrez-Proöm und Verg. georg. IV. (interpoliert ist der Exkurs De Satura Epist. 1,11). Über die von Horaz verwendeten Gattungen hinaus bietet er gelegentlich weitere Informationen zum Drama: Formales: An ganz elementarem Wissen

Bei Epod. 1,7 ( U T R U M N E I U S S I P E R S E Q U E M U R OTIUM?) Dicitur enim Caesar Augustus dedisse Horatio militiae vacationem, cum aliis negasset ist nicht klar zu bestimmen, ob es sich um eine echte Information handelt, etwa aus einer nicht überlieferten Passage der lückenhaften Suetonvita, oder ob Porphyrio einfach geraten hat. Ps.-Acro ad loc. erwähnt außerdem (vielleicht aus einer vollständigeren Fassung des Porphyrio), daß Horaz diese Freistellung aufgrund der Fürsprache des Maecenas erlangt habe.

3. ' Εξή-γησις: Die Texterklärung

70

Ars 81 Nihil enim poeta in tragoedia dicit, sed plures personae. Ars 179 zum Botenbericht. Aus einem Mißverständnis der Horazstelle: Ars 193-4 ne viris agentibus feminarum inducatur chorus u. umgekehrt. Ars 154 Schlußformel vos valete et plaudite. Inhaltliches: Epod. 5,86 Thyestes und Atreus als Tragödienhelden, Epod. 1,33 Chremes als Komödienfigur. Gattungsgeschichtliches: Antiker Vorliebe entsprechend erwähnt Porphyrio oft den primus inventor einer Gattung: Epist. 1,19,23 Archilochus der erste (Konjektur) Jambendichter; Carm. 2,1,11-12 Erfindung der Tragödie durch Thespis (vgl. Ars 275 und 220); Ars 278 Aischylos als Erfinder von Cothum, Syrma und Maske 356 (Paraphrase, allerdings ersetzt er die Periphrase palla honesta durch den Terminus syrma); Epist. 2,1,62 Livius Andronicus als erster lateinischer Theaterdichter 357 , Carm. 3,1,2-3 Laevius als erster lateinischer "Lyriker" , der aber nicht in den äolischen Versmaßen gedichtet hat: CARMINA NON PRIUS AUDITA. ] Romanis utique non prius audita, quamvis Levius lyrica ante Horatium scripserit. Sed videntur illa non Graecorum lege ad lyricum characterem exacta (zu Horaz als erstem wirklichen lateinischen Lyriker s. Carm. 1,1,35 u. Carm. 3,30,13-14, nirgends ein Wort von Catull). Epist. 1,19,7 Ennius als erster Hexameterdichter. Außerdem streift er kurz die Alte Komödie: Ars 281 (vgl. Sat. l,4,init., hier vielleicht nur Paraphrase, Sat. 1,4,7, Epist. 2,1,148, dazu K.-H. ad loc.).

De poetis zur Dichtung: Der Hauptanteil der Erläuterungen entfällt auf die Deutung von Anspielungen auf die lyrischen Dichter in den Oden: Carm. 2,13,23-25 AEOLIIS FIDIBUS inquit, quia Sappho Aeolid[a]e dialecto in carminibus suis usa est (vgl. Carm. 3,30,13-14, Carm. 4,3,12, Carm. 4,9,11.12), Carm. 4,9,7 MINACES autem ALCAEI camenae dicuntur, quoniam adeo amarus fuit, ut austeritate carminis sui multos civitate eicerit35S. Carm. 4,9,9 NEC SIQUID OLIM

Zu dieser Tradition s. K.-H. ad loc. Als Quellen kommen in Frage: Cie. Brut. 72 Atqui hic Livius primus fabulam ... doeuit; Liv. 7,2,8 Livius post aliquot annis, qui ab saturis ausus est primus argumento fabulam serere, vgl. Val. Max. 2,4,4 primus omnium poeta Livius ad fabularum argumenta spectantium ánimos transtulit ...; die Quelle von Diom. KGL I 489,li. constat... primum Latino sermone comoediam Livium Andronicum scripsisse (Varrò? oder Sueton?), so auch Ps.-Acro Γ ad loc. (s. Ussani, S. 161). Diese Erklärung Porphyrios verwirft Petschenig (1873, S. 9) als "seine eigene kecke Erfindung", die auf dem horazischen Ausdruck minaces Camenae basiere; jedenfalls trifft sie nicht den Sinn der Horazstelle, die auf die politische Polemik des Alkaios anspielt.

3.2. Ιστορικόν.

Die sachlichen Erläuterungen

71

LUSITANACREON. JLUSIT, inquit, quia iocis et conviviis digna scripsit (vgl. Ars 85); Sat. 2,1,30 (Theorie des Aristoxenes bezüglich der "Bekenntnisdichtung" Sapphos und Alkaios'), Epist. 1,6,65 Mimnermus 359 , Carm. 2,1,37-38 Simonides, Carm. 4,2,10 ait, quod plurimum sibi Pindarus hic permittat. Nam et máximo spiritu novas historias hoc metro360 canit, Carm. 4,2,25; unpassend Epist. 1,19,34. Epist. 2,2,101 Alcaeus autem lyrici carminis, Callimachus elegiaci auctor est. Minermus duos libros αιΙληηκούς361 scripsit. Außerdem äußert er sich in Epist. 1,19,6 zu Homer, Ars 131-2 zu den Kyklikern (vgl. Ars 146); Epist. 2,2,60 Bion Aristofanis comici sectator262 dicitur fiiisse magnae dicacitatis. Einen weiteren Schwerpunkt bilden dem Zeitgeschmack entsprechend die altlateinischen Dichter 363 : Epist. 2,1,55-56 ... Nam Pacuvius364 famam docti[s] aufert atque consequitur Sophoclis, Acci Aeschyli Euripidis, qui dicendi sunt . ALU sie aeeipiunt, tamquam senilis a (?) doctrina et gloria adscribatur Pacuvio, Accio vero altitude ingenii sublimitasque verborum365. An ambo senes gram consequuntur, alter docti, alti tragoediographi?, das Problem ergibt sich durch den Bezug von senis. (Aus der Bürgerkriegszeit: Epist. 1,4,3 Cassius Parmensis als Verfasser eines Thyestes und anderer Tragödien). Der Kommentator scheint sich einigermaßen auszukeimen in der Togatenund Atellanendichtung: Epist. 2,1,57 Bene; togatas enim scripsit Afranius, in

Das Scholion ist korrupt. Die Verdrängung des ursprünglichen Zitats durch einen Einschub vermutet Stowasser 1893, S. 21. Vielleicht sollte man besser der Konjektur Petschenigs (1873, S. 10) ac metra folgen, im Hinblick auf Epist. 1,1,134, wo der Dithyrambus richtig als Dichtungsgattung, nicht als Metrum, erkannt ist, wie auch Stowasser 1893, S. 25. αυλητικούς ist Holders Konjektur für überliefertes luculentibus (luculentos P). Stowasser 1890, S. 129 vermutete: MUmmermus suos libros luculentius scripsit, um die bei Horaz angelegte Steigerung gegenüber Kallimachos zum Ausdruck zu bringen. Konjektur Prof. Zwierleins für überliefertes pater, vgl. Sat. 1,3,137-8 Crispinas diseiplinae Stoicae sectator, Sueton, de gramm. 24 hic (sc. Probus) non tarn discípulos quam sectatores aliquot habuit. Zu den Zitaten aus den alten Dichtern s. S. 314ff. und 319ff. Holder setzt die verstümmelte Form Pacuius in den Text. Vgl. Cie. de orat. 3,27 quam sunt inter sese Ennius, Pacuuius Acciusque dissimiles, quam apud Graecos Aeschylus, Sophocles, Euripides quanquam omnibus par paene laus in dissimili scribendi genere tribuitur und Quint, inst. 10,1,97 virium ... Accio plus tribuitur, Pacuvium videri doctiorem ... volunt\ es handelt sich wohl, wie Jullien (S. 277) vermutet, um ein Grammatikerschlagwort.

72

3. Έξήγησις:

Die Texterklärung

quibus Menandri stilum videtur imitatus366. Epist. 2 , 1 , 7 9 über eine Komödie des Togatendichters Atta mit dem Titel Materterae361 ; in Ars 221 nennt er Pomponius als Verfasser der "satyrica" 3 6 8 Atalante, Sisyfos und Ariadne. Ob er alle diese Kenntnisse aus eigener Lektüre bezieht oder aus literaturgeschichtlichen Darstellungen wie Suetons D e poetis oder Varros D e poematis (vgl. frg. 305), ist nicht zweifelsfrei zu entscheiden. Falsch aber verzeihlich ist bei Epist. 2 , 1 , 1 4 5 die Gleichsetzung der Fescenninen mit den Atellanen 3 6 9 . Einiges an Informationen bietet er auch zur Satire: zu Terentius Varrò Atacinus, Ennius und Pacuvius in Sat. 1 , 1 0 , 4 6 und insbesondere natürlich zu Lucilius: Sat. 1 , 1 0 , 3 - 4 Seimus autem Lucili[an]um urbanis salibus multos Romanorum carpsisse (ein Hinweis auf den Bekanntheitsgrad des Lucilius), Sat. 1 , 1 0 , 5 3 (NIL COMIS TRAGICI MUTAT LUCILIUS ACCI?) Facit autem haec LUCILIUS cum alias, tum vel maxime in tertio libro; meminit Villi, et X . 3 7 0 ,

Vgl. Varrò ap. Diom. KGL I 489,16 togatae fabulae dicuntur quae scripta sunt secundum ritus et habitum hominum togatorum, id est Romanorum ... , sicut Graecas fabulas ab habitu aeque palliatas Varrò ait nominari (vgl. Ps.(?)-Donat, De com. VI 5, anders Ter. Ad. 7). Diomedes 489,20 selbst distanziert sich allerdings vom communis error ..., qui Afrani togatas appellai (s. Ussani, S. 167). Zur Menanderimitation des Afranius vgl. Cie. de fin. 1,7. S. auch Ps.-Acro Γ' Ars 288 Praetextam quidam dicunt tragoediam, togatam autem comoediam ... Praetextas et togatas scripserunt Aelius Lamia, Antonius Rufus, Gneus Melissus, Africanus (leg. Afranius), Pomponius. Comoediarum genera sunt sex: stataria, motoria, praetextata, tabernaria, togata, palliata. Für Vollmer S. 316, Aran. 128 stammt diese Stelle aus Porphyrio, was er mit Victorianus, Schol. zu Ter. Haut. prol. 36 (Schlee p. 76, vgl. Holder, Additamenta ad 613,12, S. 599) belegt, wo sich ein Teil dieser Notiz findet und explizit Porphyrio als Quelle genannt wird (secundum Porphyrionem). Doch es mutet eher wie eine spätantike Kompilation an, in der eine Verwirrung der Begriffe stattgefungen hat (s. auch Ussani, S. 167, der versucht, das Durcheinander bei den Bezeichnungen für die verschiedenen Typen und Unterarten des lateinischen Dramas in den antiken Zeugnissen zu klären). Eigentlich handelt es sich bei den Stücken wohl um Atellanenpossen mit mythenparodistischem Inhalt. Diese werden jedoch auch von anderen Grammatikern, wie Diom. KGL I 490,2f. und Mar. Victor. VI 82,10 mit den griechischen Satyrspielen verglichen. Die Spottagone der Fescenninen sind wohl von der ähnlich agonal ausgerichteten aus dem Oskischen stammenden Atellane absorbiert worden, s. H. Petersmann: Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Atellane, in: G. Vogt-Spira (Hg.): Studien zur vorliterarischen Periode im frühen Rom ( = ScriptOralia 12), Tübingen 1988, S.135-59, S. 141. Die von Porphyrio erwähnte Acciuskritik im dritten, neunten und zehnten Buch hat den Interpreten Kopfzerbrechen bereitet, da Lucilius diesen Gegner den Fragmenten zufolge hauptsächlich in Buch XXVI und XXVIII angreift: Ferraro versucht den Widerspruch aufzulösen, indem er die Benutzung einer von der modernen Zählung

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

73

Sat. 2,1,69 (wenig aussagekräftig, da wahrscheinlich stark verstümmelt371), Sat. 1,10,46, falsch Sat. 2,1,16-17 372 . Zum römischen Literaturbetrieb zur Zeit Horazens: Sat. 1,10,38 In aede Musarum, ubi poeta carmina sua recitabant..., vgl. Epist. 2,2,94 (mit Mißverständnis des Romanis vatibus, s. K.-H. ad loc); Ars 120 (milde Aufnahme des Erstlingswerkes eines Dramatikers373). Den seltenen Versuch einer Chronologisierung unternimmt er in Sat. 1,10,40 ... molle vero ait et elegans Vergilium. Sedapparet, cum hocHoratius scriberet, sola adhuc Bucolica et Geórgica374 Vergilii in notifia fuisse... Besonderes Interesse hegt er für die Biographie der Dichter: So deutet er Anspielungen, z.B. geographische Antonomasien: Carm. 1,1,34 LESBOUM autem dixit, referens ad Alcaeum et Saffo lyricos poetas, quos in Lesbo insula natos esse manifestum, vgl. Carm. 1,26,11-12 und falsch Carm. 4,6,35 (s. Metrik, S. 42); Epist. 1,3,13 Pindar. Gerne erwähnt er auch biographische bzw. pseudobiographische Details: Carm. 1,32,5 Lesbium civem Alcaeum dicit. Hic autem etiam res bellicos adversus tyrannos gessit, Carm. 1,32,7-8, s. auch Carm. 2,13,26-27, Carm. 1,32,11; Epod. 6,13 Archilochos, vgl. Epist. 1,19,30; Epod. 6,14 Hipponax 375 , Epod. 17,42 Stesichoros (die drei letzten Interpretamente sind Auflösungen von Periphrasen), Epist. 2,1,51 u. 52 Anspielung Horazens auf Ennius' Selbstdarstellung als Reinkarnation Homers; Sat. 2,1,75 Lucilius.

abweichenden antiken Ausgabe durch Porphyrie» annimmt. - F. Münzer (Lucilius und seine Zeitgenossen nach den neuesten Untersuchungen, NJA 23, 1909, S. 187, Anm. 1), nimmt an, daß entweder die Buchzahl bei Porphyrie) falsch überliefert worden sei, durch Ausfall einer XXV vor der III, oder daß Porphyrio Buch III der ersten Sammlung meine. - J. Christes (Der junge Lucilius, Heidelberg 1971, S. 134f.) vertritt die Ansicht, daß Porphyrio gar nicht die Bücher XXVI und XXVIII, sondern nur die Buch I-XXI umfassende zweite Gedichtsammlung gekannt habe, da alle wörtlichen Zitate (wie auch schon bei Gellius) nur aus den Büchern I-XXI stammen. - E. A. Schmidt bezieht das Interpretament auf die ganze Versgruppe SSSS und glaubt, daß Porphyrio hier sowohl Accius- als auch Enniuskritik des Lucilius meint, in dem Sinne, daß Lucilius in Buch III diese Dichter tadelnd parodiert und darauf in den literaturtheoretischen Büchern (s. Persiusvita p. 238 Jahn = p. 33 Clausen) Bezug genommen habe. 371

372 373

374 375

Holder konjiziert wenig befriedigend: Síngalas tribus, guia de tribus tracta aus überliefertem Síngalas tribus, quia de tribus facta. S. Lucilius ed. Marx, Proleg. S. LXXVI. Dagegen deuten K.-H. ad loc. reponis wohl zu Recht als Wiederaufgreifen eines von Homer bereits vorgeprägten Stoffes, wozu auch Brink eher zu tendieren scheint. Die Geórgica wurden aber erst später vollendet, s. K.-H. ad loc. Vgl. Plin. nat. 36,12, s. K.-H. ad loc.

74

3. Έξή-γησις: Die Texterklärung

Dabei weiß er auch einige Anekdoten und Legenden zu berichten: Ars 357 über den Poetaster Choerilus: Huius omnino Septem versus laudabantur. Et hic Alexander dixisse fertur, multum malle se Thersit[h]en iam Homeri esse quam Choerili Achillen376 (vgl. Epist. 2,1,232, Epist. 2,1,234), Ars 402 Tyrtaeus377. An Klatschanekdoten erwähnt er etwa zu Epist. 1,18,75 Vergils Beziehung zu Alexis378; in Carm. 2,13,23-25 ist er so erpicht darauf, seine Skandalgeschichte anzubringen, daß er die Horazstelle mißversteht: ... Queritur autem Sappho de379 puellis civibus suis, quod Φάωι> ament, quem ipsa diligebat amens. Bei Epod. 5,41.42 fühlt sich der Schulmeister ohne Zusammenhang berufen, über Sapphos homoerotische Neigungen zu moralisieren: Quod ait autem MASCULAE LIBIDINIS, ad idpertinet, quod dicantur quaedam mulieres habere naturafm] monstrosae libidinis concubitum feminis. Quo crimine etiam Sappho male audiit (vgl. Epist. 1,19,28 MASCULA SAPPHO 380 ). Literargeschichtliches tritt also, wie zu erwarten, gehäuft zur Ars und zu Sat. 1,10 (hier besonders zu Lucilius) auf. Eine allzutiefe Kenntnis scheint, abgesehen von einigen Details über die archaische lateinische Dichtung, nicht dahinterzustehen (ein Verdacht, dem wir im Kapitel Auetores noch nachgehen werden). Von den griechischen Lyrikern und Dramatikern verrät er nicht viel mehr als die Kenntnis von Paronomasien und Epitheta, den groben Inhalt der Dichtungen - wobei manches wohl nur aus dem Zusammenhang erschlossen ist - und anekdotenhafte biographische Details. Mit seiner Vorliebe für zuweilen

Derselbe Ausspruch Alexanders ist auch im Bezug auf Anaximenes überliefert (Gnomol. Vat. II 78, ed. Sternbach, Berlin 1963, S. 35-37) s. Crusius, Art. Choirilos, RE 3.2 (1899), Sp. 2362. Über die Unfähigkeit dieses Dichters äußert sich sonst nur noch Curtius 8,5,8, s. Κ.-H. ad Epist. 2,l,232ff. Zur Lahmheit des Tyrtaios vgl. lustin. III 5,5; Blumenthal, Art. Tyrtaios 1, RE 7,A2 (1942-8), Sp. 1944, vermutet als Quelle einen Komödienscherz; die Orakelgeschichte ist belegt seit Lykurg Leokr. 105ff.; auch Piaton leg. I 629 u. a. scheinen die Geschichte als allgemein bekannt vorauszusetzen (s. Blumenthal, ibd. Sp. 1943f.). Vgl. Serv. Verg. ecl. 2,1 (s. K.-H. ad loc.). De statt Holder a vermutet Bühler, m. E. zu Recht. Derartige Details gelangten lt. Aly durch Chamailion in die gängige Sappho-Biographie, der "die trüben Wasser des Komödienwitzes" in die Tradition einleitete (s. Aly, Art. Sappho, RE ΙΑ,2, Sp. 2359); Porphyrio schöpfe aus der gleichen Quelle wie die unter Ovids Namen überlieferte Epist. Her. XV, Ovid ars 3,331, Mart. 7,69 u. a. (ibd. Sp. 2361).

3.2.

Ιστορικόν:

Die sachlichen Erläuterungen

75

triviale Geschichten frönt er genau der Art von oberflächlicher Grammatikercuriositas, über die sich der Philosoph Seneca mokiert 381 .

Kunsthistorisches Aus der bildenden Kunst erwähnt Porphyrio die beiden allergängigsten Standardbeispiele, die auch in der Rhetorik beliebt waren: Als ein von ihm selbst gewähltes Beispiel für die Ruhmesliebe der Griechen (Ars 323-4) führt er Protogenes und Apelles an: tamquam Protogenes ille, qui alysum finxit decern annis, vel Apelles, qui totidem pinxit annis . Den oft erwähnten Ialysos des Protogenes gebraucht Cie. orat. 5 als exemplum, bei Gellius (15,31) ist es das einzige Gemälde, das dieser sehr wenig kunstinteressierte Autor erwähnt 382 . Noch berühmter ist die Anadyomene des Apelles, die auch in der Dichtung häufig genannt wird 383 . Auch bei Cicero ad Attic. 2,21,4 erscheinen übrigens beide Beispiele nebeneinander. Außerdem beruft sich Porphyrio für die Deutung einer (allegorisierenden) Götterikonographie auf ein Zeugnis Varros: Sat. 2,8,15 (CHIUM MARIS EXPERS) Quia in Chium vinum marina [non] additur. Inde institutum tradii VARRÒ, ut delfini circa Liberum pingerentur. Nicht ungeschickt zieht der Pädagoge eine Parallele zwischen dem Dichtertext und der bildenden Kunst, die er beide miteinander erläutert. Wenig aussagekräftig, da vielleicht einfach aus dem Kontext erschlossen, sind die Bemerkungen zu Sat. 2,7,95 und Epist. 2,1,239.

Antiquarisches, Bräuche Neben der Geschichtsschreibung als literarischer Form existierten die mit der grammatica näher verwandten antiquarischen Studien384, vertreten etwa durch Aelius Stilo und vor allem durch Varrò. Bei Porphyrio begegnen solche Angaben nicht so häufig wie etwa bei Servius 385 , und sie beschränken sich auf wenige immer wiederkehrende Themenbereiche:

381

382

383 384 385

Sen. epist. 88,37 (Über die 4000 Bücher des Grammatikers Didymos) In his libris ... quaeritur... libidinosior Anacreon an ebriosior vixerit, in his an Sappho publica fuerit, et alia quae erant dediscenda, si scires. S. Holford-Strevens, S. 232. Über die Dauer des Schaffungsprozesses gehen die Zeugnisse auseinander: Nach Plut. Demetr. 22,5 sieben Jahre, nach Fronto(Ep. M. Caes. 2,3,4 p. 23 van den Hout) elf Jahre (s. ibd.). Stellen bei Jessen: Art. Anadyomene, in: RE 1,2, Sp. 2019-21. S. Rawson, S. 233. Stellen gesammelt bei E. Thomas, S. 269ff.

76

3. ΈξηΎησις: Die Texterklärung

Kleiderordnung386: Epist. 1,18,30 Pro opibus enim veteres magnas vel parvas habuerunt togas ..., Epod. 5,12-13 Insigniapueri intellege togampraetextam et bullam ..., Carm. 2,18,7-8 Die Ehefrauen der Klienten verfertigen zusammen mit der matrona die toga praetexta eines Amtsbewerbers387, Sat. 1,2,28-29 Tracht der Matronen u. a. Gastmahl: Carm. 3,17,13-16 Fest der rustici im Winter (mit zwei Vergilstellen als Beleg); Carm. 2,7,25-26 Archiposian ... in convivio talorum iactu sortiri solebant..., Carm. 1,4,18 (mit Plautusbeleg), Epod. 9,35.36 u. a. Paramilitärische Körperertüchtigung auf dem Marsfeld: Carm. 3,7,25 Notum est (vgl. Carm. 1,8,8; Carm. 3,12,7-9, Sat. 2,1,8). Ehrungen: Carm. 4,2,42-43, Triumph: Carm. 4,2,35, Epist. 2,1,192, Epist. 2,1,193. Carm. 1,1,7 TERGEMINIS ... HONORIBUS wird fälschlich als dreifacher Applaus für beliebte principes gedeutet (vgl. Carm. 1,20,3-4, Sat. 1,1,66, s. auch in den beiden folgenden Abschnitten zu Recht und Religionswesen) Häufiger sind Bemerkungen zum Alltagsleben: Carm. 2,1,4-5 ... Solent autem ungi arma, cum post bellum transactum reponenda sunt, Ars 332 Libri enim, qui aut cedro inlinuntur, aut arca cupressa inclusi sunt, a tineis non vexantur, Epist. 1,20,24 SOLIBUS APTUM. ] Solitum iacere sub sole et chroma facere™; Ars 456, Sat. 1,4,34 usw. Aufgrund eines MißVerständnisses, nämlich der Unkenntnis der Bräuche, auf die Horaz anspielt, mißdeutet er Sat. 1,4,88389 und Epist. 1,18,66390.

Zu diesem Gebiet existierte eine Schrift De genere vestium, s. Gräfenhan IV, S. 42; auch Varrò widmet ihm ein Kapitel in seiner Schrift De vita populi Romani, wie Non. 541 M. = 867f. L. bezeugt ( = frg. 44). Auch bei Servius kommen solche Noten vor (z.B. Aen. 1,282; 2,616, weitere Fälle s. E. Thomas, S. 269). Skeptisch dazu N.-H. ad loc. Die Persiusscholien (!) zu 4,18 bezeichnen solche Sonnenanbeter als chromatiarii. Koch (1875, S. 479): "beide Scholiasten stimmen a u f s Beste zusammen". Porphyrio fehlinterpretiert den Ausdruck aquam praebere als Synekdoche für pascere und formuliert die vorsichtige Kritik: Sed videamus, an commoda Synekdoche sit "aquam praebere" dicere pro "pascere", in Unkenntnis des Brauches, daß der Wirt seinen Gästen vor dem Essen Wasser zum Händewaschen (nicht als Getränk, wie unser Scholiast es aufzufassen scheint) reicht, vgl. K.-H. ad loc. Utroque pollice erklärt er als pars pro toto für atraque manu-, offenbar war ihm (im Gegensatz zu Plin. nat. 28,25) die Geste des Daumendrückens nicht bekannt (s. Sittl, S. 125, Anm. 3).

3.2. 'Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

77

Recht, staatl. Institutionen Die Rechtskunde war in Rom die am weitesten verbreitete und auch die renommierteste intellektuelle Disziplin 391 . Kein Wunder also, daß auch Cicero und Quintilian nachdrücklich Kenntnisse des ius civile für den Redner postulieren 392 . Doch diese Forderung war schon bei Quintilian nicht mehr gerechtfertigt, da sich die Rechtswissenschaft verselbständigt hatte und die Redner in der Regel juristische Berater (pragmatici) zu konsultieren pflegten 393 . Dem Schwerpunkt römischen Interesses entsprechend 394 tangieren die meisten Bemerkungen (sie konzentrieren sich in den Satiren und Episteln) den Bereich des ius civile, wo sich Porphyrio offenbar leidlich auskennt: - Einmal zitiert er aus dem Zwölftafelgesetz: Sat. 1,9,76 ... De hocautem lege DUODEC1M TABULARUM his verbis cautum est: SI IN IUS VOCAT, [10] N IT, ANTESTAMIN; IGITUR EN CAPITO395 und erläutert: ... Porro autem qui antestabatur quem, auriculam ei tangebat atque dicebat: LICET TE ANTEST ARI? Si ille responderat LICET, [et] tuiniecta manu adversarium suum extrahebat; nisi autem antestatus esset, qui inicere manum adversario volebat, iniuriarum reus constituí poterai. Sat. 2,3,217 Verrückte werden unter Kuratel gestellt (wohl nur eine Paraphrase der Dichterstelle 396 , ebenso vielleicht Sat. 2,7,58 397 ). Sat. 2,3,181 Antiqui eos, quos in testamento nolebant admitti nQQ

intestabiles vocabant... . - Eine Formalie des Erbrechts: Sat. 2,5,53 (QUID PRIMA SECUNDO CERA VEUT VERSU) Bene hoc et iuxta ordinem, quia prius testatoris nomen, sic heredis. - Er liefert auch einige Erklärungen zu den alltäglichen Rechtsgeschäften: Sat. 1,6,120-1 Bürgschaften bei der Marsyasstatue 399 , Sat. 2,5,108-9 Schenkung

391

392 393

394 395

396 397 398

399

Eine reichhaltige Literatur existierte seit dem 2. Jh. v. Chr., wichtige Werke sind aber erst aus der späten Kaiserzeit erhalten. An Handbüchern kursierten u. a. Verrius Flaccus, Tubero, Sueton: De institutis moribusque Romanorum. Fenestella (starb unter Tiberius) wurde oft zitiert für staats-, religions- und sittengeschichtliche Angaben (s. Gudemann, Grundriß S. 111). Die Verwendung juristischer Führer ist erkennbar bei Ps.-Acro Sat. 2,7,76f. (s. Dirksen, S. 337). Cie. orat. 120, de orat. l,159ff., Quint, inst. 12,3,Iff. (s. Appel, S. 25). S. Kuhnert: Das gesellschaftliche Leitbild des orator perfectus bei Quintilian, in: Kühnert 1994, S. 163-8, S. 166). S. Rawson, S. 202f. XII tabul. lex I 1 coli. p. 76 Schoell, Bruns, S. 17. Der genaue Wortlaut ist unsicher. S. Dirksen S. 337f. Vgl. 1. Jul. mun. 113; Gai. 3,199 (s. Bruns 1871, S. 233). Vgl. Ulpian Dig. XXVIII 1,18 (s. App. Holder). Vadimonium obire ist ein juristischen, t., vgl. Cie. pro Quinct. 54 (s. K.-H. ad loc.).

3. ΈξήΎησις: Die Texterklärang

78

in Form eines Scheinkaufs, Sat. 2,3,284-5 Formel beim Sklavenverkauf. Hier erfolgen auch Erläuterungen zum rechtlichen Hintergrund einiger Begriffe 400 : Epist. 2,1,105 (CAUTOS ... NUMMOS) ... ve/ qui per chirographum et cautionem crederentur, vel CAUTOS NUMMOS, id est legibus, hoc est, non inlicitis usuris datos401 ... Recta nomina: legibus facta in defe[ne]rendi debitoribus402, Sat. 1,5,46 copiarli, Epist. 2,2,72 redemptor. - Unsicherheit dagegen verrät er bei Fragen zur "Staatsverfassung": richtig zu Ars 343 (OMNE TULIT PUNCTUM) ... PUNCTUM autem ideo, quod antiqui suffragio non scribebant, sed puncto notabant und Epod. 4,15.16 Sitzplätze im Theater als Privileg der Ritter nach der Lex Roscia (vgl. Epist. 1,1,62).

- Falsch zu Epod. 4,11 TRIUMVIRALIBUS autem quod dixerit, speciales] elocutionis genere usum esse pro generali puto. Ñeque enim triumviris tantum, sed etiam aliis potestatibus ius est alíenos servos flagellare403 (Man beachte die Strategie der Annahme einer Synekdoche zum Überspielen mangelnder Realienkenntnisse). Sat. 1,6,38-39 Kapitalstrafen durch Volkstribunen in augusteischer Zeit (tum)404, Sat. 1,4,123405 der Ritterstand stellt die Richter (ohne direkten Bezug zum Text).

Kult/Religionswesen Bereits in der Republik gab es viele Schriften über das Priesterwesen und den Kultus406, in augusteischer Zeit z.B. von Cloatius Verus, Cornelius Labeo, Varros Antiquitates Rerum Divinarum407 und Ovids Fasten. Ein großer Teil dieser Erläuterungen bei Porphyrio gilt den römischen Festen: Sat. 2,6,12-13 ... Namilli (sc. Herculi) sacrificio reddunt rustici, cum iuvencos domaverint, Epist. 2,2,209 ... Remo, cuius occisi umbras frater Romulus cum placare vellet, Lemuria instituit, id est Parentalia, quae mense Maio per triduum celebrari soient ... Ob quam rem Maio mense religio est nubere, et ite Martio, in quo de nu

tiis habito a Minerva Mars

400 401 402 403 404

405 406 407

Zu juristischen Termini s. auch Glossematikon S. 105. Lt. Κ.-H. ad loc. ist die erste Deutung zutreffen; anders Brink. Der korrekte juristische Terminus lautet jedoch certa nomina (s. Brink ad loc.). Lt. Κ.-H. ad loc. spielt Horaz vielmehr auf die tresviri capitalium an. Dirksen, S. 241, Anm. 32, kommentiert: "eine Deutung, die so abenteuerlich lautet, dass man der Mühe der Widerlegung vorweg enthoben ist". Vgl. K.-H. ad loc. Werke aufgeführt bei Rawson, S. 93. S. Rawson, S. 312ff.

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

79 408

victus est, et obtenía virginitate Minerva Neriene est appellata , zu Festen auch Carm. 3,8,init., Carm. 3,18,9-10, Sat. 1,9,69 sabbata u. a. Zu numinösen Orten: Carm. 1,1,22 omnes autem fontes sacri habentur, et ideo caput sacrae aquae ait, Ars 471 bidental. Zur Bestattungszeremonie: Epod. 17,48 ... Nam novemdiale dicitur sacrificium, quod mortuis fit nona die, qua sepultur est, Epod. 8,11-12 In funere autem nobilissimi cuiusque solebant praeferri imagines maiorum eius, quod adhuc observari videmus in funeribus principum, Carm. 2,20,22 u. a. Viele Kultbräuche werden als bekannt vorausgesetzt: Carm. 1,36,1-2 Fidicines hodieque Romae ad sacrificio adhiberi sicut tibicines nemo est qui nesciat. Carm. 1,5,12-13 Videmus autem hodieque pingere in tabulis quosdam casus, quos in mari passi sint, atque in fanis marinorum deorum poner e usw. Sehr unsicher ist er in Fragen, die das alte religiöse Schrifttum betreffen: Epist. 2,1,26 PONTIFICUM LIBROS ] Utrum annales, an ius pontificale signif(icat)m? ANNOSA VOLUMINA VATUM ] Veteris Marcii vatis Sibillaeque et similium410. In Epist. 2,1,86 macht er Numa zum Verfasser des Carmen Saliare, was er offenbar falsch aus dem Zusammenhang der Gedichtsstelle geraten hat. Alles in allem ist dieser Wissensbereich bei Porphyrio, verglichen etwa mit den zahlreichen Bemerkungen bei Servius, recht spärlich vertreten 411 .

Mythologie Tertullian macht der Grammatikschule seiner (und Porphyrios) Zeit ihre exzessive Beschäftigung mit den Mythen zum Vorwurf 412 . Im Bildungsschatz des Augustinus, den Marrou als repräsentativ für das Wissen seiner Zeit einschätzt, nimmt die Mythologie einen Ehrenplatz ein 413 , und auch bei DServius treten die mythologischen Erklärungen stark hervor 414 , ebenso wie bei Servius 415 . Kein Wunder, daß auch die Handbuchliteratur reichhaltig ist

Holder verweist im Similienapparat ad loc. auf Charis. KGL I 32,23 und Placid. Gloss. Vgl. außerdem Varrò Menipp. 506 Astbury. Die zweite Vermutung trifft wohl zu (s. Brink ad loc.). Brink ad loc. stellt fest, daß diese Erklärung sich durch die Erwähnung der griechischen Sibylle als unkorrekt entlarvt; allerdings erschienen die Carmina Marciana in der antiken Literatur oft zusammen mit den Sibyllina. Er vermutet: "the scholium in its present shape may be badly abbreviated". Er vergleicht außerdem Isid. orig. 6,8,12 apitd Latinos Marcius vates primus praecepta conposuit. Serviusstellen bei E. Thomas, S. 267f. Tert. idol. 10, C S E L 2 0 p . 39; vgl. Aug. conf. 1,14,22 (s. Haarhoff, S. 1958). S. Marrou, Augustinus, S. I l l und S. 114ff. S. Barwick, Serviusfrage, S. 109 und Bonner, S. 237ff. S. die Stellen bei E. Thomas, S. 260f. und 268.

80

3. Έξή-γησίς: Die Texterklärang

(wichtig sind vor allem Varros nicht erhaltene Antiquitates Rerum Divinarum und des C. Iulius Hyginus Liber fabularum). Dieses Interesse ist wohl nicht nur in den Erfordernissen des behandelten Stoffes begründet, sondern auch darin, daß die Dichter bei den Deklamationen der Rhetorenschulen als Quellen für mythologische Sujets genutzt wurden 416 . Angesichts dieses Befundes ist man etwas überrascht, daß die Mythologie unter den Bildungsfächern des Porphyrio nur einen guten mittleren Rang einnimmt; das mag allerdings auch daran liegen, daß Horaz nicht in dem Maße wie Vergil als Autorität in Fragen der Religion galt, möglicherweise auch an Porphyrios eigener aufgeklärter Distanz zum Mythos (s. auch Allegorie, S. 227). Meist behandelt Porphyrio die literarischen Mythen, wie sie sich auch im Handbuch des Hygin finden: Carm. 1,6,8 Notae historiae417 sunt de Tantali genere, ex quo Pelops ortus, deinde Atreus et Thy estes, deinde Orestes, de quorum sceleribus tragoedias videmus compositas ..., Carm. 2,13,8 (Medea) ... quam summam veneficam fiiisse historiae Graecorum tradunt, Carm. 2,13,23 (Elysium), irrtümlich Carm. 4,8,27 418 ; Carm. 4,12,7-8 (Procne, Nota historia), u. a. Büßer: Carm. 3,4,75 Aetna mons Encelado superpositus est..., Carm. 3,4,77-78, Carm. 3,4,79-80, Carm. 3,11,33-34 u. a. Mit Bezugnahme auf die Vergilkenntnisse der Schüler: Epod. 10,13.14 Hoc ex VERGILII lecitone satis notum est (Aen. 1,39-41). Besonders häufig bestehen diese Erläuterungen in Deutungen von Antonomasien und Epitheta: Carm. 1,3,27 AUDAXIAPETI GENUS. ] Prometheum significai, de quo nota fabula est ..., Carm. 1,26,9 Pipleides Musae dicuntur a Pipleo fonte Macedoniae, Carm. 1,30,5 (FERVIDOS ... PUER) id est: Cupido, quifervorem amoris inférât u. v. a. Ferner werden oft die Attribute der Gottheiten erklärt: Carm. 1,7,23 (POPULEA ... CORONA) ... nam haec arbos in tutelafm] Herculis est (die Fomulierung in tutela esse findet sich auch Carm 1,17,9, Carm. 3,4,1819419), Carm. 1,10,18-19 (AUREA VIRGA) id est, caduceo, Carm. 2,19,1314, Carm. 1,17,14-16 u. a. Und auch ihre Taten und Funktionsbereiche werden erläutert, vor allem natürlich der mit der lyrischen Dichtung besonders assoziierten Gottheiten

S. z.B. Quint, inst. 2,10,5 u. 3,8,53; Sen. suas. 3 u. a., weitere Stellen s. North, S. 14. Vgl. z.B. Hygin. fab. 86ff. S. Petschenig 1873, S. 9. Die gleiche Formel in tutela alicuius dei esse tritt auch gehäuft bei Festus auf, z.B. p. 78 M. = 68 L.; 265 = 322 L., 322 = 430 L.; vielleicht kann man daraus schließen, daß Porphyrio die Angaben dieses Wortlauts aus der Quelle des Festus, Verrius Flaccus, bezogen hat.

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

81

Venus, Apoll, Merkur, Bacchus: Carm 1,10,3 Notum est Mercurium inventorem existimari sermonispalaestrae lyrae etfiirtorum, vgl. Carm. 1,10,9; Carm. 1,10,14, Carm. 3,22,2-3 (secundum Graecorum opinionem), Carm. 3,22,4, Interessant ist Carm. 3,11,15.16: Hier bemerkt Porphyrio sehr richtig, daß Motive der Orpheus-Sage auf Merkur übertragen wurden (vgl. georg. 4,481, s. K.-H. ad loc.): Receptam de Orfeo fabulant tractat ... Zuweilen erwähnt Porphyrio auch italische Götter: Carm. 3,5,10-11 Aeternam autem Vestam propter aeternos, qui in ara eius coluntur, ignes dixit. Carm. 1,7,12 Albunea, Epist. 1,10,49 Vacuna, Epist. 1,16,60 Laverna, Epist. l,20,init. Vortumnus; Volksaberglauben: Ars 340 (LAMIAE) Haec ad infantes terrendos solet nominari. Auch auf diesem Gebiet begeht unser Kommentator Fehler: z.B. Carm. 4,1,10 ... Sed sic purpureum pro pulchro dicere poetae adsuerunt, ut VERGILIUS: ET PRO PURPUREO POENA S DAT SCYLLA CAPILLO (georg. 1,405), aber Nisus' Locke ist wirklich purpurfarbig. Die Mißdeutung der Junktur saevo ioco als Umschreibung für Amor (non inelegantifa] conceptione) in Carm. 1,33,10-12 zeigt mangelnden Sinn für die poetische Beschreibung von Gottheiten (s. auchS. 234f.). Epist. 1,6,38 DECORAT SU ADELA VENUSQUE. ] Suadela autem epitheton est Veneris, quae a Graecis Πι$ώ ... aeeipitur. Eher eine Korruptel als ein Irrtum ist vielleicht in Carm. 2,19,14 anzunehmen: (TECTAQUE PENTHEI DISIECTA NON LENI RUINA) Pentheus victum recluserat, qui ob hanc causam fulmine ictus est. Dieses korrupte Scholion läßt sich vielleicht aus Ps.-Acro ad loc. heilen, der möglicherweise eine dem Original nähere und ausführlichere Fassung des originalen Porphyriotextes bietet: In quibus Pentheus captivum Liberum patrem vinetum recluserat. ob quam causam Baccharum furore discerptus est* .

Musik Die Musik, die als fester Bestandteil der ëyκύκλιος ταώάα in Griechenland eine große Rolle in der Erziehung gespielt hat, und auch noch in den enzyklopädischen Abrissen Varros und Vitruvs einen Platz findet, führte in der römischen Bildungspraxis eher ein Schattendasein. Zwar sieht Quintilian sie als einen wichtigen Bereich formaler Bildung an und bricht für sie eine Lanze 421 , jedoch ohne allzu großen Erfolg.

Ein Teil des Textes war möglicherweise unleserlich geworden, und der Schreiber hat aus den noch erkennbaren Buchstabenresten fur/l .. e .. ι .. tus est und dem Horaztext das Übrige zu erraten versucht. Hauthal dagegen vermutet im Apparat ad loc. ein Mißverständnis von Eurip. Bacch. 633 Αώματ Ιρρηξ,εν χαμάζε. avvrtópá-

νωται δ' âirciv. Quint, inst. l,10,9ff.

82

3. Έζή-γησις: Die Texterklärung

Die Angaben zur Musik bei Porphyrio beschränken sich fast ausschließlich auf den Bereich der Instrumentenkunde. Es gibt (anders als bei Censorinus lOff., der allerdings auch recht allgemein bleibt) keine Bemerkung zur Harmonielehre des Quadriviums (auf die im übrigen auch Gellius kaum eingeht422): Carm. 4,15,30 Aiunt tres modos tibiarum esse: Ionicum, Lydium, barbarum (vgl. Epod. 9,5.6 423 ), Ars 203 Terna enim tantum modo foramina habuit antiqua tibia424·, in Ars 402 führt er die Anekdote von Tyrtaeus als eùperijç der tuba an. Carm. 1,1,34 Barbitftjon organi genus est in modum lyrae, wohl aus einem Wörterbuch 425 (vgl. Carm. 1,32,3-4 Barbit[t]on organi genus est; sed nunc pro lyra posuit, Carm. 3,26,3-4). Ars 216 Ante enim lyra Septem chordas habebat. Excogitata postea cithara est (solche späten Entwicklungsgeschichten sind meist spekulative Konstruktionen426). Mit griechischem Terminus Sat. 1,3,7-8 ... a tetrachordo hoc sumptum, in quo est gravissimi soni chorda, quae hypate dicitur421. (Vielleicht gehört die korrespondierende Notiz in Ps.-Acro Sat. 1,2,8 auch noch Porphyrio: Quae in tetrachordo ima est. Haec eadem nete a musicis dicitur).

Philosophie Trotz der Philosophiebegeisterung eines Cicero gab es gegenüber der Philosophie in Rom immer gewisse Vorbehalte 428 . Infolgedessen existieren kaum Spuren literarhistorischer Werke über Philosophie außer dem des Aulus Cornelius Celsus, der in sechs Büchern die Systeme und Hauptideen kurz referiert 429 und Varros De philosophia, auf das sich Porphyrio möglicherweise zu Sat. 2,4,init. bezieht (exzerpiert von Augustinus zu Beginn des 19. Buches De civitate Dei). In der Kaiserzeit waren dennoch gewisse Grundkennt-

422 423 424

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S. Holford-Strevens, S. 2 3 3 f . melum statt numerorum für überliefertes rerum konjiziert Stowasser 1893, S. 18. Anders Varrò ap. Ps.-Acr. Ars 202: Varrò autem ait in tertio disciplinarum et ad Marceilum de lingua Latina: quattuorforaminum fuisse tibias apud antiguos ... , cf. Pollux 4 , 8 0 (s. W. Boetticher, Art. Aulos in: Der kl. Pauly, Sp. 756). Vgl. ζ. b. Gloss. IV 6 0 0 , 1 3 Barbiton genus organi vel cytare\ 2 1 0 , 3 4 barbitus lyra maior (cf. Ps.-Acro Carm. 1,1,34); II 2 8 , 2 9 barbitum etSoç ópyávov (s. ThLL II 1747). S. Abert: Art. Lyra, RE 13,2 (1927), Sp. 2481ff. Der griechische Terminus erscheint in der lateinischen Literatur lt. ComputerThesaurus vor Porphyrio nur bei Vitruv (5,4,5f. und 5,5,5). Vgl. Boeth. mus. 1,20 p. 2 0 6 , 1 2 quae (sc. corda) gravissima quidem erat, vocata est hypate .... S. z.B. Ennius ap. Geli. 5 , 1 5 , 9 (Se. 95 J.), Pacuvius ap. Geli. 13,8,4 (V. 348 R.) (s. Holford-Strevens, S. 193). Gräfenhan IV, S. 456.

3.2.

Ιστορικόν.

Die sachlichen Erläuterungen

83

nisse der griechischen Philosophie für jeden Römer der Oberschicht selbstverständlich, jedoch war früh "an die Stelle des philosophisch gebildeten Redners bei Cicero der literarisch gebildete Redner bei Quintilian getreten"430. Untersuchen wir nun, welche philosophischen Kenntnisse der Kommentar dem Durchschnittsgebildeten im 3. Jahrhundert vermittelt! Die relativ hohe Quantität solcher Noten darf uns nicht täuschen. - Es gibt ein paar verschwommene Bemerkungen zu den Sätzen nicht näher bezeichneter philosophl·. Epist. 2,2,214f. Hoc apudphilosophos frequentatimi est, de vita sapientem abire oportere aequo animo, ut e convivio pastum saturumque convivam (vielleicht eine Erinnerung Porphyrios an seine Cicero- und/oder Lukrezlektüre431), Ars 49 Zeichentheorie der Worte432, Carm. 1,3,8 Definition der Freundschaft: Μία ψνχη tv δυσίν σώμασι «ιμίρη 433 . - Er erwähnt auch zwei der drei Teilbereiche der Philosophie: Epist. 1,12,16 Hae quaestiones sunt pertinentes ad fysicam philosophiae partem, Epist. 1,18,100 Ethik (vgl. Epist. 2,2,44). - Einige der wichtigsten Lehrsätze der bekanntesten Philosophen bzw. Schulen werden knapp identifiziert: Carm. 3,2,17 VIRTUS REPULSAE NESCIA SORD. ] Haec de Stoicorum secta sunt, qui dicunt virtutem solam sufficere ad vitam beatam... (häufig bei Cicero); Carm. 3,3,init. (stoische Standhaftigkeit, vgl. Epist. 1,1,17); nicht ganz passend sieht Porphyrio in Sat. 1,2,62-63 eine Anspielung auf das bekannte stoische Paradoxon von der Gleichheit aller Verfehlungen: ... secutus opinionem Stoicorum, qui omnia peccata paria esse d i c u n t (vgl. Sat. 1,3,76, Sat. 1,3,96-7, Epist. 1,16,56), ein weiteres stoisches Paradoxon, von der Vollkommenheit des Weisen, erkennt er in Sat. 1,3,124 (mit Luciliusparallele) und entsprechend vom Wahn aller Nicht-Weisen in Sat. 2,3,32 (vgl. Sat. 2,3,158 und 187, Epist. 1,1,74 und 82435).

S. Kühnert: Das gesellschaftliche Leitbild des orator perfectus bei Quintilian, in: Kühnert 1994, S. 163-8, S. 167f. S. Lukrez 3,938f. und 960; auch Bailey in seinem Kommentar zu Lucr. 3,938 ordnet diesen Satz als "quasi-philosophical commonplace" ein und verweist auf Bion ap. Stob. Fl. 5,67 ( = Bd. 3, S. 46 Wachsmuth-Hense). Cicero zitiert ihn in Tusc. 5,101 als Grabepigramm des Assyrerkönigs Sardanapallus, kommentiert ihn jedoch gleich darauf mit dem scharfen Tadel des Aristoteles (s. Brink ad loc). Brink verweist auf Arist. Soph. El. 1,165 a 7. Vielleicht ist das Scholion verstümmelt und Ps.-Acro cf ad loc. bieten die vollständige Version: Indicia enim animi verba sunt. Indiciis ergo recentibus: rudi inventione verborum, quia indicia rerum verba sunt secundum philosophos, qui aiunt eKeyxof των -πραγμάτων tìvai τον \òyov. Diog. Laert. 5,20; vgl. Cie. Lael. 92 ut unus quasi animus fiat ex pluribus. Vgl. Cie. fin. 4,74f. omnia peccata paria, vgl. Cie. parad. 3,20. Vgl. Cie. Parad. 4.

84

3. Έξήγησις: Die Texterklärung

- Über den Streit zwischen Epikureern und Stoikern hinsichtlich des summum bonum (mit Berufung auf Varrò)436 Sat. 2,4,init. (vgl. Epist. 1,1,16; Epist. 1,17,41437 u. 42). - In Epist. 1,17,10 wird das epikureische Motto Xááe βιώσας vage als Graecum proverbium eingeordnet438; ein einziges Mal nimmt er Stellung zu einer philosophischen Lehre, und zwar sehr enthusiastisch: Sat. 1,5,102.3 Verissima opinione hoc dicitur. Constat enim omnia miracula, quae in toto mundo fiant, certa ratione fieri; de quibus idem Epicurei prudentissime disputant·, diese Begeisterung paßt gut zu Porphyrios Ansätzen zur Mythenkritik (s. Allegorie S. 227) und seinen Lukrezkenntnissen (s. Auetores, S. 324); zur epikureischen Götterlehre Sat. 1,5,101. - Relativ viel erfahren wir auch über Pythagoras, der seit dem 1. Jh. v. Chr. in Rom Interesse fand439: Sat. 2,3,276 ΤΙνύα-γορικόν est Π φ μαχέρψι»440 μη σκαΧεεώρ441, Carm. l,28,init. ... Hic autem Archytas Pythagoricus fuit, que merito geometriae peritus, quia Pythagorici omnia numeris constare credunt\ in Sat. 2,6,63 gibt er unkritisch den verbreiteten Irrtum weiter, Pythagoreern sei der Verzehr von Bohnen untersagt442, Epist. 2,1,51 zur pythagoreischen Seelenwanderungslehre443. - Epist. 1,12,19 RERUM CONCORDIA DISCORS. ] ... Tangit autem par[t]em conpagem rerum ex elementis IUI diversis aptam atque conexam, eine sehr knappe - verstümmelt überlieferte? - Anspielung auf die Lehre des Empedokles; Ars 295 (Demokrit zur Ars-natura-Frage). - Epist. 2,2,45 über den Skeptizismus der Akademie; in Epist. 2,1,188 glaubt er in INCERTOS OCULOS eine Anspielung auf die Wahrnehmungslehre der Akademischen Skepsis zu erkennen444. - Epist. 2,2,192-3 (Peripatetische μβτρώτης, vgl. Epist. 1,18,9).

Für den Epikureer Catius verweist Holder im Similienapparat ad loc. auf Quint. inst. 10,1,124 und Cie. fam. 15,16,1. Vgl. Epic, ethic, fr. 511 p. 314 f. Usener (s. App. Holder). Aber vielleicht überliefert auch hier wieder Ps.-Acro die vollständigere Fassung: Est autem Epicureorum \ádt βιώσας. Auch bei Plutarch und Apuleius. S. Holford-Strevens, S. 193f. Lies: μαχαίρα. Vgl. Gesta Romanorum c. 34 (33) (s. App. Holder), vgl. Diogenes Laertios 8,1,17. Überliefert bei Porphyrios (Pyth. 43ff.) und Plin. nat. 18,118 (s. Brink ad loc.). Dagegen wendet sich Gell. 4,11, gestützt auf Aristoteles und Aristoxenus (s. Holford-Strevens, S. 194f.). Facete autem SOMNIA PYTHAGOREA dixit, ut ipsum etiam Pythagoram in> sua scilicet metempsychosi ridere videatur (coni. Pauly 1876, S. 54, wohl besser als Holder). S. Brink ad loc.

3.2. Ιστορικόν:

Die sachlichen Erläuterungen

- Epist. l,6,init. ...In qua iam egloga Hieronymi

sectam commendat,

85 qui sum-

mum bonum indolentiam , quam Graeci ατονία ν nominarli445. Es bleibt also meist bei knappen Schlagwörtern der prominentesten philosophischen Richtungen, besonders der Stoiker und Epikureer, mit denen sich Horaz am häufigsten auseinandersetzt. Porphyrio kreist dabei stets um einige wenige bekannte Gegenstände, dringt nicht unter die Oberfläche und versucht nirgends, eine Lehre, zumindest in knappen Umrissen, zusammenhängend darzustellen 4 4 6 , um seine jungen Schülern einen Überblick zu ermöglichen über die wichtigsten philosophischen Strömungen, mit denen sich Horaz immer wieder auseinandersetzt. Abgesehen von einigen Reminiszenzen aus seiner Cicero- und Lukrezlektüre, präsentiert er meist zeittypisches Handbuchwissen 4 4 7 . Fehler unterlaufen dem Kommentator allerdings wenige: So erklärt er in Epist. 1,1,18 Aristipp zum Epikureer, dagegen kennt er ihn in Epist. 1,17,13 richtig als Kyrenaiker 4 4 8 . Wiederum beschäftigt sich Porphyrio lieber mit biographischen Einzelheiten: Carm. 1,29,13-14 Panetius Stoicus philosophus fuit praeceptor

Scipionis Africani et Laelii genere Rhodius. Öfter als solche nüchternen Daten liefert Porphyrio kuriose oder anekdotische biographische Details: Carm. 1,28,9-10 HABENTQUE TARTARA

PANTHOIDEN ] Nunc Pythagoram significai, quifaj praedicavit se ad Troiam Euforbum Panthi filium fuisse, inteifectumque a Menelao iterum revixisse, et

Frg. bei F. Wehrli: Die Schule des Aristoteles, Heft 10, 1959; zur Teloslehre des Hieronymos von Rhodos s. frg. 8ff.; Cicero erwähnt ihn häufig, z.B. De fin. 2,41 Hieronymus, cui summum bonum est ... nihil dolere, vgl. 2,8. Der eigentliche Terminus bei Hieronymus scheint übrigens nicht ατονία, sondern άοχλησία gewesen zu sein (s. frg. 12 u. 13). Allerdings muß man damit rechnen, daß diese Scholien durch die Überlieferung stark gelitten haben, wie die Parallelüberlieferung bei Ps.-Acro in den o. a. Fällen erahnen läßt. Allerdings ist auch schon vermutet worden, daß auch Horaz selbst, ungeachtet seines Studienaufenthaltes in Athen, über nicht sehr viel mehr an Philosophiekenntnissen verfügt hat. Dazu z.B. Deila Corte, 1991, der Areius Didymus als Horazens Quelle annimmt. Cicero nennt zuweilen Aristipp und Epikur in einem Atemzug, s. besonders Tusc. 2,15 Socraticus Aristippus non dubitavit summum malum dolorem dicere, deinde ad hanc enervatam muliebremque sententiam satis docilem se Epicurus praebuit (überhaupt werden die Kyrenaiker und die Epikureer bereits in der Antike häufig verwechselt, s. H. Dörrie, Art. Kyrenaiker, Kl. Pauly 3, Sp. 410). Ob man nun Porphyrio Gedankenlosigkeit beim Ausschreiben seiner Quellen zutrauen will oder vielleicht doch eher eine Interpolation annimmt, man kann jedenfalls mutmaßen, daß der Verfasser des Scholions (wer auch immer es sei) seinen Cicero falsch im Gedächtnis hatte.

86

3. ΈξηΎησις: Die Texterklärung

factum Pythagoram idem comperisse agnito clipeo, quem Euforbus habuerat (vgl. Epod. 15,21), Ars 463-4 und 465-6 Empedokles, Epist. 1,12,12 Demokrit. Diese Anekdoten zeigen eine Tendenz, sich zu verselbständigen: z.B. die beliebte Erzählung über die Schwurformel des Sokrates μά τον κύνα και μά τον χήνα in Sat. 2,4,3 (die auch Augustinus erwähnt449), oder zu Sat. 2,3,254 die Bekehrung des liederlichen Polemon zur Philosophie durch Xenokrates (wie bei Valerius Maximus 6,9, Ext. 1 und des öfteren bei Augustin, als dessen Quelle Marrou eben Porphyrio oder Val. Max. 6,14,ext. annimmt450); auch hier schöpft Porphyrio also wieder aus einem Pool grammatisch-rhetorischer Schulbeispiele, die schon seit langem "bei den Römern Bürgerrecht erhalten" hatten451. Anekdoten dieser Art erwähnt er auch zu Sat. 2,2,94-95 (Bonmot des Antisthenes452), Epist. 2,1,194 (Heraklit und Demokrit453), Epist. 1,17,23 (Ausspruch über Aristipp454), Sat. 1,2,120-21, Sat. 2,2,20-21. Die Philosophiekenntnisse, die unser Kommentator vermittelt, sind also eher dürftig, ähnlich wie die des Augustinus455. Aber auch bei den überdurchschnittlich bildungsbeflissenen Gelehrten Fronto und Gellius zeichnet sich ein nachlassendes Interesse an dieser Wissenschaft ab. Doch Fronto kennt immerhin noch Piatons Phaedrus und Phaedon, sowie ein wenig Chrysipp und andere Stoiker456; auch Gellius hat einige Werke selbst gelesen (z.B. von Piaton, Aristoteles, Chrysipp), aber auch sein Interesse ist, wie das des Porphyrio, eher alltagsphilosophisch, biographisch und anekdotisch ausgerichtet und

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Aug. vera relig. 2,2 (CC 32 p. 187), s. Marrou, Augustinus, S. 119. Aug. ep. 144,2 PL 33,591; c. Julian. 1,4,12 PL 44,647; vgl. Jul. 1,7,35 PL 44,666. Marrou, Augustinus, S. 119. Die Aussprüche des Antisthenes waren offenbar beliebte Themen für Chrien (rhetorische Progymnasmata), s. KGL VI 273,15; Theon progymn. 5 III p. 105 Sp. = Antisth. frg. 193 und 194 Caizzi. Holder verweist im Apparat auf Sen. tranqu. an. 15,2 ... et Democritum potius imitemur quam Heraclitum. Hic enim, quotiens in publicum processerai, flebat, ille ridebat (ähnlich bei Senecas Lehrer Sotion, s. Diels-Kranz 68 A 21). In diesem Sinne ist das verstümmelt überlieferte Scholion sehr wahrscheinlich zu heilen. Daß die Senecastelle die Quelle des Porphyrio darstellt, ist angesichts der Abneigung der archaisierenden Bewegung gegen diesen Autor (s. Marache, S. 120ff.) aber weniger wahrscheinlich (obschon sich Porphyrio, wie wir sehen werden, nicht immer an den Zeitgeschmack hält). Eher greifen beide letztlich auf denselben Rhetorenfundus zurück. Vgl. Plut, de Alex. fort. 1,8, Mor. 330c. Bei Augustinus finden sich auch nur "einige sehr simple Ansichten ... Durchschnittsbegriffe, übrigens jenen klassischen Werken entlehnt, die alle Gebildeten beim Rhetor studiert hatten, den Dialogen Ciceros" (Marrou, Augustinus, S. 119). S. Holford-Strevens, S. 175.

3.2. 'Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

87

läßt kaum ein tiefschürfendes Eindringen in die Lehren erkennen 457 . Etwas bemühter als Porphyrie) wirkt der vom Neuplatonismus beeinflußte Servius, motiviert durch sein Bestreben, die philosophische Beschlagenheit seines Dichters herauszustellen 458 .

Rhetorik Entsprechend der absoluten Sonderstellung, welche die Rhetorik im römischen Bildungskanon einnimmt, sollen diejenigen Sachinformationen und Interpretationen, die dem Schüler Hinweise auf die rhetorische Gestaltung des Textes an die Hand geben und ihn dabei in die Terminologie und die Kategorien der Rhetorik einführen, hier einen breiteren Raum einnehmen. Wie wir immer wieder feststellen konnten und noch werden, zieht sie sich durch nahezu alle Bereiche der Dichtererklärung (außer der Diorthose, die vielleicht auch deshalb bei Porphyrio so unterrepräsentiert ist, weil sie für die rhetorische Propädeutik nicht fruchtbar gemacht werden kann), selbst dort, wo sie auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Doch nun stoßen wir tiefer in das Gebiet des Rhetors vor, speziell in die von Porphyrio mehrfach herangezogene Lehre von der Stoffauffindung (inventio), genauer gesagt, der argumentation und der Anordnung der Gedanken (dispositio)459. Die Verknüpfung der Rhetorik mit der Dichterexegese hat Tradition: Homer 4 6 0 und Vergil 461 galten, wie bereits erwähnt, ohnehin als Autoritäten für alle möglichen Wissensbereiche und somit auch für die Rhetorik. Schon die Sophisten 462 und Isokrates (ad Nicocl. 48f.) propagierten Homer und die Tragiker als Modelle für den Redner, und in der Rhetorik des Aristoteles wimmelt es ebenso von Dichterbeispielen wie bei den Rhetor es Graecf^. Bei den Stoikern bestand seit ehedem eine enge Verbindung von Grammatik

S. den Überblick bei Holford-Strevens, S. 192ff. Serv. Aen. 6,719 Miscet philosophiae figmenta poetica et ostendit tarn quod est vulgare, quam quod continet veritas et ratio naturalis (s. E. Thomas, S. 259f.). Das rhetorische officium der pronuntiatio oder actio entspricht, wie wir gesehen haben, der άνάγνωσις, das officium der elocutio dem noch zu behandelnden y\uaσηματικόν und dem τεχνικό ν. Beispiele aus den Scholien gesammelt bei Lehnert; s. außerdem Hillgniber, S. 13ff. Tiberius Donatus prooem. p. 6,15ff. Georgii ... quo fit, ut Virgiliani carminis lector rhetoricis praeeeptis instruípossit et omnia vivendi agendique officia reperire (s. Bachmann, S. 87). Rhetorische Analysen bei DServ.: zu Aen. 1,522; 2,69, 638; 3,613; 4,31, 305; 5,51 u.v.a. (s. Barwick, Zur Serviusfrage, Ph. 70 (1911), S. 108, vgl. auch Russell 1981, S. 127), und zwar wie bei Porphyrio besonders im hinteren Teil des Scholiencorpus. S. dazu Hillgruber, S. 13f. S. North, S. 5, 6f. und 15.

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3. Έξή-γησις:

Die Texterklärung

und Rhetorik, so daß sie geradezu versuchten, aus Homer ein rhetorisches System zu entwickeln 464 ; diese Verknüpfung setzte sich auch bei den Alexandrinern durch465 und wirkte, wie wir sehen werden, stark auf die Literaturkritik ein (s. Kap. Κρίσις). Auch in Rom bestand dieser enge Zusammenhang: Hier lag der Grammatik- und Rhetorikunterricht ursprünglich oft in einer Hand 466 , und spätestens im ersten Jh. n. Chr. drang wieder immer mehr Stoff des Rhetorikunterrichts in die Grammatikausbildung ein 467 , nicht zuletzt auf Druck der Eltern, die ihre Söhne möglichst früh zu erfolgreichen Rednern ausgebildet sehen wollten 468 . Quintilian widmet sein zehntes Buch der Dichterlektüre als rhetorischer Propädeutik469. In den Dichterkommentaren scheint dieser Konnex im Verlauf der Spätantike noch enger zu werden: Bei Donat 470 und Servius 471 ist er bereits wesentlich ausgeprägter als bei Porphyrio, noch stärker im Vergilkommentar des Tib. Donatus, und er gipfelt in dem nach Donat entstandenen rhetorischen Terenzkommentar des Eugraphius472.

Inventio: Argumentatio Porphyrio versäumt es nicht, gelegentlich die horazischen Argumentationstechniken zu benennen und zu erläutern. Dies ist nichts Ungewöhnliches:

464

465 466 467

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So z.B. Telephos in seiner verlorenen Schrift irepi της καâ' "Ομηρον ρητορικης, Ps.-Plut. de Horn. 161ff. u. a. Im römischen Bereich fand der Gedanke Nachhall z.B. bei Cie. Brut. 40 (weitere Stellen bei Kroll, Studien S. 79, Anm. 26). Die Trennung von Grammatik (im engeren Sinne verstanden als Linguistik), Dialektik und Rhetorik, die bei den Stoikern Unterbereiche der Logik waren (Grammatik als ein Teilgebiet der Dialektik), vollzieht sich erst im 1. Jh. v. Chr., jedoch nicht endgültig: Grammatik und Dialektik werden Hilfswissenschaften der Rhetorik, Grammatik und Rhetorik plündern die Dialektik (s. F. Desbordes: Agir par la parole: la rhétorique, in: Schmitter 1991, S. 395-426, S. 405f.). S. Neuschäfer, S. 218f. Sueton, gramm. 4,6ff. veteres grammatici et rhetoricam docebant (s. Kroll, Studien S. 106). Quint, inst. 2,1,1-3 (s. Kühnert, S. 36, Anm. 1). Zur engen Verknüpfung von Grammatik- und Rhetorikunterricht s. auch mit ausführlicher Quellendiskussion Nicolai, S., 197-215. S. Petron Sat. 4,Iff. (s. Vergeest, S. 21). Auch Quintilian preist in inst. 10,l,46ff. Homer als necpoetica modo, sed oratoria virtute eminentissimus; ähnlich noch Macrobius 5,1,1 über Vergil, s. D'Alton, S. 463. Über die verschiedenen Aspekte der Nutzbarmachung der Dichterlektüre für die Redekunst handelt North. S. Jakobis Analyse, S. 133ff. S. Russell, S. 127 und neuerdings Uhi, Servius als Sprachlehrer, S. 293f. S. Jakobi, S. 141f.

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

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Dichterbeispiele, speziell zur Illustration rhetorischer Argumentationstechniken im Rahmen der inventio-Lehre, zogen im Gefolge des Dionysios von Halikarnassos bereits der Auetor ad Herennium, dann Cicero und Quintilian heran 473 . Umgekehrt sind die Scholiasten bemüht, rednerische Strategien bei ihren Dichtern aufzuspüren 474 . Bei Porphyrio konzentieren sich diese Interpretamente auf die Episteln. Ein Redner (oder Dichter), der überzeugen will, muß seinem Gegenüber vermitteln, daß das, wozu er ihn bringen will, ehrenhaft, nützlich und machbar sei. Dies sind die drei partes suadendi: honestum, utile und possibile des yévoç συμβουλβυτικόν. Quintilian geht in inst. 3,8,22ff. auf sie ein, wobei er sich gegen die konkurrierende Trias Ciceros ausspricht, die anstelle des possibile das necessarium setzt 475 . Wie Donat 476 lehnt sich auch Porphyrio an diese von Quintilian bevorzugte Einteilung an im Scholion zu Epist. l,18,49ff., wo er in Horazens Verhaltensregeln an Lollius jene Überzeugungsstrategien der suasoria aufdeckt: Epist. 1,18,49 Ab honesto vult persuadere laborem venaticum non detrectandum, V. 50 Hoc ab utili sumptum est, ibid. A possibili.'1'11. Die argumentatio ist untergliedert in signa (Indizien, die hier keine Rolle spielen), argumenta und exempla*78. Zu den argumenta wiederum gehören die τόποι oder argumentorum loci, die sedes argumentorum, in quibus latent, ex quibus sunt petendo,79; deren Haupteinteilung erfolgt gemäß der Systematik Ciceros und Quintilians, der auch

Z.B. Rhet. Her. 2,38; Cie. inv. l,90f. u. 95; Top. 61; Quint, inst. 5,10,83f.; 5,11,14 (s. D'Alton, S. 466). Z.B. Donat Hec. 86.4, s. Jakobi, S. 139f. Z.B. Cicero, inv. 2,119 u. a. Die Vierzahl findet sich in de orat. 2,335f. (necessarium + possibile). Diese Lehre von den τιλικά κεφάλαια (Hermog. prog. 6 p. 14,6f. Rabe) oder capitula finalia (Prise, rhet. 6, p. 555,lOf. Helm) in ihrer bei den verschiedenen Autoren unterschiedlichen Zahl und Zusammensetzung geht letztlich wohl auf die vier τέλη bei Arist. rhet. 1,3 1358 bf. zurück (s. dazu Volkmann, S. 301f., Lausberg § 233ff., Martin, S. 168ff.). Vgl. Don. Ph. 452,2 leviter deliberativae tres locos tetigit: honestum (coni. Jakobi, s. S. 140), utile et possibile. Solche Techniken der ανασκευή und κατασκευή wurden auch im Rahmen der rhetorischen Progymnasmata eingeübt, z.B. Hermogenes p. 11 Rabe, ausführlicher Aphthonios p. 27ff. Spengel u. a., auch mit den entsprechenden Widerlegungen ÌK τού àirpevoûç, ìk του άαυμφόρου und ìk τού αδυνάτου. S. z.B. Cie. inv. 2,94; Quint, inst. 5,9,1. Quint, inst. 5,10,20. Die Lehre von den Beweisarten geht auf Aristoteles (Rhet. II, 23f.) zurück, der in ungeordneter Folge 20 allgemeine Beweistopoi anführt. Bei den nachfolgenden Rhetoren wird dieses Thema jeweils stark abweichend behandelt (s. dazu Volkmann, S. 200f.; Lausberg, § 273ff.).

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3. Έξή-γησις: Die Texterklärung

Porphyrio zu folgen scheint, in Argumente, die aus der Person (a persona), und solche, die aus der Sache (a re) gezogen werden 480 . Ein argumentum a persona stellt Porphyrio ad Epist. 1,18,52 (zu V. 50-

52) fest: Hic ostendit turpe esse cessare firmiorem etiam infirmioribus laborantibus. Et hoc a persona sumptum est. Eine Unterklasse der loci a re ist der locus a comparatione, der begrifflich Ungleichrangiges zueinander in Beziehung setzt 481 (nach dem Muster: "wenn χ gilt, dann gilt y noch viel mehr"); so wird etwa Bedeutenderes durch die Gültigkeit des Geringeren bewiesen, wie in Epist. 1,18,53 (SCIS QUO

CLAMORE CORONAE / PROELIA SUSTINEAS CAMPESTRIA) quod argumentum a mino ad maius dicitur. Nam si hoc facis ludi causa tantum, quanto magis facies propter amicitias et utilitatem tuam? und Epist. 2,2,2 Argumentum a comparatione minorum ad maiora, hoc est, servorum ad amicos, oder umgekehrt, wie in Epist. 1,17,35 (PRINCIPIBUS PLACUISSE

VIRIS NON ULTIMA LAUS EST) A malore ad minus [...]. Simile videri gerere bellicos et promereri principes civitatis. Zur argumentatio gehören, wie bereits erwähnt, außer den argumenta auch die exempta oder 7ταρο^ίγματα 4 8 2 (die bei geringerem Grad der Einbindung in den Verlauf der Beweisführung auch zum Redeschmuck verblassen können, weshalb das exemplum bei manchen Artigraphen als Tropus geführt wird 483 ). Zur schwankenden Begrifflichkeit äußert sich Quintilian inst. 5,11,1 wie

folgt: Tertium genus ... Graeci vocant παράδα-γμ,α, quo nomine et generaliter usi sunt in omni similium adpositione et specialiter in iis quae rerum gestarum auctoritate nituntur. Nostri fere similitudinem vocare maluerunt quod ab Ulis

Quint, inst. 5,10,23 in primis igitur argumenta a persona ducendo sunt, cum sit, ut dixi, divisto ut omnia in haec duo partiamur, res atque personas: ut causa tempus locus occasio instrumentum modus et cetera rerum sint accidentia. Vgl. Cie. inv. 1,34. Quint, inst. 5,10,87 Adposita vel comparativa dicuntur quae minora ex maioribus, maiora ex minoribus, paria ex paribus probant, ähnlich Cie. Top. 23; Vict. 6,3 p. 401,1 H.; Fortun. rhet. 2,23 p. 115,34f. H. u. a. (s. Lausberg § 395ff.). Quint, inst. 5,11,6 definiert sie als rei gestae aut ut gestae utilis ad. persuadendum id quod intenderis commemoratio, vgl. Donat Ars 674,5 Holtz Paradigma est enarratio exempli hortantis aut deterrentis. Einen Überblick über die verschiedenen Aspekte des exemplum und seine Stellung in der rhetorischen und philosophischen Schultradition mit der Weiterentwicklung dieser Konzeption bei Tertullian, Ambrosius und Augustinus bietet Geerlings, S. 148ff. Z.B. Donat o. a. (s. Holtz, S. 215, s. auch Lausberg, Register S. 699).

3.2. Ιστορικόν. Die sachlichen Erläuterungen

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parabole dicitur, hoc alterum exemplum46*, quamquam et hoc simile et illud exemplum. Nos, quo facilius propositum explicemus, utrumque παράδαγμα esse credamus et ipsi appellemus exemplum. Damit grenzt er sich (5,11,2) ab vom Sprachgebrauch Ciceros inv. 1,49, der das exemplum auf Personen beschränkt. Porphyrio verwendet exemplum in dem von Quintilian bevorzugten weiterem Sinne, überwiegend jedoch als "auf die res gestae geschichtlicher oder literarischer Quelle beschränkter Sonderfall" 485 (quae rerum gestarum auctoritate nituntur), selten, z.B. Epist. l,7,init., von Tierbeispielen. Zweimal gebraucht er den mehr rhetorisch-fachsprachlich getönten griechischen Begriff •παράδιγμα486 (beide Male in seiner engeren Bedeutung). Oft erläutert Porphyrio die Beispiele und deutet so ihre Aussageabsicht und ihre Einbettung in den Argumentationsverlauf an: Epist. 1,16,73 Hoc ταράδι-γμα de tragoedia est Bacchis, in qua inducitur Liber a rege Pentheo ligari iussus ipse solvere; quod simile sapienti est..., Carm. 3,1,17-18 ... et sumpsit in exemplum Damoclen ...; per quae ostendit... ; Carm. 4,11,25-26 Nequid avide ... adpetere conemur, Faethontis et Bellerofontis proponuntur exempla, Epod. 17,8, Sat. 1,2,26-27, Epist. 1,1,4 u. v. a. Die exempla ihrerseits werden unterteilt in unähnliche, ähnliche und gegenteilige 487 . Diese Untergliederung hat auch eine Spur bei Porphyrio hinterlassen: Epist. 1,17,36 Et hoc exemplum est a similitudine. Auf weitere Auffacherungen geht unser Scholiast, zumindest im überlieferten Textcorpus, nicht ein. reciprocum Ein Argument, das sich umkehren und so gegen den Argumentierenden wenden läßt, heißt reciprocum (griech. άντιατρίφον)^.

Z.B. Aps. techn. 8, I p. 372,29ff. Sp. παραβολή παραδάματοζ τούτφ διaipépu, οτι η μίν παραβολή air' αψύχων ζωων άλογων λαμβάνεται ... τάδί παραδείγματα (κ ytyovòτων ήδη λαμβάνεται προσώπων, s. Lausberg, § 422. Lausberg § 422. Epist. 1,16,73; Carm. 1,16,17. Dieser Terminus erscheint nicht in den Kommentaren des Servius oder des Donat, was Holtz (S. 215) als ein Zeichen für seinen ausgesprochen rhetorischen Charakter wertet. Quint, inst. 5,11,5 Omnia igitur ex hoc genere sumpta necesse est aut similia esse aut dissimi lia aut contraria. Einen ähnlichen Fall erwähnt Gell. 5,10,Iff. Inter vitia argumentorum longe maximum esse Vitium videtur, quae άντιστρέφοντα Graeci dicunt. Ea quidem e nostris non hercle nimis absurde "reciproca " appellaverunt. id autem vitium accidit hoc modo, cum argumentum propositum referri contra convertique in eum potest, a quo dictum est, et utrimque pariter valet, s. dazu H. Rüdiger: Sokrates ist nicht Sokrates. Der Kampf mit dem gesunden Menschenverstand, Zürich - München

3. Έξήγησις: Die Texterklärung

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Genau dies läßt, wie Porphyrio feststellt, Horaz in der von ihm erzählten Anekdote dem Diogenes unterlaufen: Der Kyniker gebraucht eine Formulierung, die Aristipp aufgreift und umdreht: Epist. 1,17,14 ("SI PRANDERET HOLUS PATIENTER, REGIBUS UTI / NOLLET ARISTIPPUS. " - "SI SCIRET REGIBUS UTI, / FASTIDIRET HOLUS QUI ME NOTAT") Astute, ut dignitatem huic sectae colendorum principum claret, invertit, quod erat reciprocum, hoc est, "si patienter regibus uteretur". Dispositio Auch die Anordnung der Gedanken, die rerum inventarum in ordinem distributiom, fällt eigentlich nicht mehr unter die Zuständigkeit des Grammatiklehrers, sondern unter die des Rhetors. Nichtsdestoweniger betätigt sich Porphyrio, wie andere grammatici vor und nach ihm, auch auf diesem Gebiet. Systematische Versuche zur Einteilung der Gedichte gemäß den Abschnitten der Rede der Rhetorikschule (prooemium, narratio, probatio, refutatio, peroratio usw.) unternimmt Porphyrio zwar nicht490. Gleichwohl finden sich - auffallend häufig in den didaktisch-paränetisch angelegten Episteln - Bemerkungen zur Feinstruktur des Aufbaus und des Gedankenverlaufs, denen diese Einteilung implizit zugrunde liegt. (Zur ästhetischen Würdigung der Anordnung: s. Kapitel Krisis/ordo). Die einfachste Form, den Gedankenverlauf zu kommentieren, ist die Themenangabe eines Abschnitts als Orientierungshilfe für den Leser: Sat. 2,3,158 Incipit de Stoicis disputare, Sat. 2,3,281 u. a. Hierbei stellt die Behandlung der Ars eine Besonderheit dar, deren Inhalt bis V. 179491 konsequent abschnittsweise zusammengefaßt wird:

2

489 490

491

1975, S. 85-7. Cie. inv. 1,9. Eine solche Schematisierung findet sich einmal bei Don. Eun. 144,2 non indiligenter consideraverunt hanc meretricis orationem, qui illam instar controversiae rettulerunt (es folgt die Disposition inprineipium - narratio - partitio cum confirmation - reprehensio - conclusioper conquestionem), s. Jakobi, S. 135; auch in den Homerscholien finden sich Anspielungen auf die Abschnitte der Rede, z.B. zum Aufbau eines Prooimions: BT ι 14; A 1. (s. Jakobi, S. 107). Nach V. 179 brechen diese Zusammenfassungen ab, vielleicht aus nachlassendem Interesse des Scholiasten, wahrscheinlicher aber durch Überlieferungsausfall, wie Ps.-Acro T'fcf ad v. 245 vermuten läßt (sicher ist allerdings nicht, daß dieses Scholion aus einem vollständigeren Porphyrio-Exemplar gezogen ist, denn Ps.-Acro Ars 24.25 läßt erkennen, daß dem Redaktor bzw. den Redaktoren mindestens zwei divergierende Gliederungsmodelle vorlagen, doch die Formulierung aliudpraeeeptum paßt durchaus in die porphyrionische Diktion, s. o.).

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

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init. ... Primum praeceptum est irepi της άκολουϋίας. Nam ut pictor ..., 9-10 Seques praeceptum est ..., 14 ... tertium καθολικό»492..., 24-25 Hoc tale ταράγγβΧμα 4 9 3 est: ..., 29 Aliud hoc praeceptum est ..., 38-39 praecipit nunc ..., 42 Loquitur nunc... usw. Brink bemerkt dazu ganz richtig (Ars S. 41): "The rough and ready cutting up of the Ars into commonplaces -praecepta, καϋολικά, ιταργγίΧματα - smacks more of contemporary rhetorical teaching than of Hellenistic literary theory." Diese auffallend knappe Art der Kommentierung durch Unterteilung in Sinnabschnitte mit Themenangabe und Paraphrase in Verbindung mit der Seltenheit anderer Anmerkungstypen, etwa grammatischer, stilistischer oder ästhetischer Art, zeigt, daß dieses Werk in erster Linie auf seinen Inhalt hin, weniger wegen seiner stilistischen Qualitäten gelesen wurde, was die Vermutung zuläßt, daß die Epistula ad Pisones im Schulbetrieb des 3. Jh.s als Ars poetica, also als Lehrgedicht über Dichtung, gelesen wurde 494 . Häufiger sind Bemerkungen zu den gedanklichen Fugen eines Gedichtes: Dabei werden oft die Übergänge von einem Gedanken zum nächsten markiert: Sat. 2,3,224 Nunc luxuriosos insanos probat, supra avaros et ambitiosos. Sat. 1,3,76 Deinde hincpaulatim descendit eo, ut adversus Stoicos disputet... (vgl. Epist. 1,1,74) u. a.; Carm. 3,1,33 Transit ad eos, qui per nimiam luxuriam élaborant sibi aedificia etiam in mari ponere, Carm. 3,12,6, Epist. 2,1,103, Epist. 2,1,177 u. a., Carm. 3,14,23.24 Deinde quare hocpraeceperit, ostendit inferendo: LENITALBESCENS ...; Epist. 1,7,46 Fabeliam ... exponit velper se vel prioribus adnexam in exemplum sui, qui otium divitiis praeferat, Epod. 2,10 Hinc autem iam commoda rusticae vitae enumerare ac describere incipit, Epist. 2,1,95, Epist. 2,1,135, Epist. 2,1,220-1 u. a., Epist. 2,2,173 Coltigit, quot modis dominio permutantur. Einmal wendet er sich apologetisch im polemischer Form gegen anonyme Kritiker, die dem Dichter einen gedanklichen Bruch vorwerfen: Epod. 9,11.12 Qui non intellegunt, putant inportunum transitum repente a Sexto Pompeio ad Antonium factum, nescientes redire poetam ad initium eglogae, ubi ait VICTORE L. C., ubi "de Antonio ac Cleopatra victore " vult accipi. Dein cum [pa]ratione praesentis [...] laetitiae mentione facta Sexti Pompei et fugae eius reserasset, id, quod coeperat, exsequitur ... ; die Herstellung der Gedankenver-

Catholicum in der Bedeutung "generale praeceptum" kommt sehr häufig bei den Grammatikern vor, z.B. Vel. KGL VII 69,15 u. a., Sacerd. KGL VI 470,22 (s. ThLL III 617,65ff.). In dieser Bedeutung verwenden das Wort im rhetorisch-poetologischen Kontext auch Dion. Hal. comp. 25 τα παραγγέλματα των τεχνών (= praecepta artis), Ps.Longin 2,1 u. a. (s. LSJ s. v. 2 III). Ausführlicher erfolgt die Kommentierung der Ars bei Ps.-Acro.

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3. ' Εξή-γησις: Die Texterklärung

bindung gelingt Porphyrie» hier also mit Hilfe von Realienkenntnissen; wie oben bei der Diastole zeigt er auch hier wieder seinen den anderen, von ihm widerlegten Erklärern meist überlegenen Sinn für die gedankliche Einheit eines Werkes. Besonders häufig muß der Scholiast kennzeichnen, wo Horaz abschweift oder einen Exkurs einfügt, und wo er zum Hauptgedanken zurückkehrt: z.B. Carm. 2,l,init. ... ac deinde in pareebasi495 [...] bellorum civilium calamitatem refer[a]t (Die pareebasis nimmt in Wirklichkeit das ganze Gedicht ein, bis zur Abbruchsformel am Ende), Carm. 3,4,42-43. Carm. 3,16,9 In hoc iam excessufsj consilium est fabula, quam in principio posuit. Epist. 2,1,182 A glorioso poeta ad audacemperseverantemque disgressus dicit.... Epist. 2,2,87 Hi[n]c fabulam ad hoc inducit, ut ostendat.... Carm. 3,1,37-38 Redit ad ilia, quae beatam vitam adimunt, Epist. 2,2,192-3. Porphyrio kommentiert auch des öfteren Horazens Beweisstrategien in ihrer Einbindung im Gedankenverlauf: Vgl. Carm. 3,29,42-43 Perseverai persuadere ...; Carm. 2,3,4-8 Hoc causam ostendit, cur aequo animo vivendum sit ..., Epod. 5,37, Epist. 1,19,48, Epist. 1,20,22 u. a., Epist. 2,1,13 Rationem exponit, Epist. 2,1,161, Epist. 2,1,165. Carm. 2,10,15-16 Per haec et vices esse bonarum malarumque rerum probare vult, Sat. 1,3,107, Epist. 1,18,103, Epist. 2,1,93; Carm. 1,16,17 Iam hoc άπό π α ρ α δ ε ί γ μ α τ ο ς inferí, probans, quam sit ira atrox et exitiosa hominibus, Epist. 2,2,77 Ad superius argumentum hoc pertinet, quo probat ..., Carm. 1,31,13-14. Epist. 2,2,141 Commemoratis omnibus commodis ... illud conclud.it ... Der Hinweis auf kurze, quasi im Vorbeigehen eingestreute Bemerkungen soll dem Schüler demonstrieren, wie man Schmeicheleien, boshafte Seitenhiebe oder Entschuldigungen geschickt einflicht: Epist. 1,18,54-55 DENIQUE SAEVAM MIL. ] Occasio laudis inicienda et ipsius, ad quem scribit, et Caesaris Augusti ... (zu laudes auch Epist. 2,1,5, Epist. 2,1,241). Sat. 1,2,91 ... quam hic amare in transitu percussit, Sat. 1,3,40. Epist. 2,2,46 Excusado, quod contra Augustum pro Bruto militavit, Epist. 2,2,55. Eher zum Gebiet der poetischen Interpretation gehören die folgenden Bemerkungen: - Ein interpretierender Hinweis auf durch die Reihenfolge der Glieder erzielte feine Nuancierung: Epist. 1,18,109 Studio prius librorum copiam quam frugis victusqu[a]e est precatus. - In Carm. 3,4,init. versucht Porphyrio, eine Verbindung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Gedichten herzustellen: ... Sed quod ait DESCENDE CAELO, ad illud pertinet, quod velit iam transiré a Iunonis sermonibus (im

Der griechische Begriff fällt bei Quint, inst. 4,3,12; Fortun. 2,20 p. 113,15 H.; Mart. Cap. rhet. 46,552, p. 487,6 H.; Vict. 17 p. 429,2 H. (s. Lausberg § 340).

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

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vorigen Gedicht), quos in caelo Imbuisse earn ostenderat, immerhin kein abwegiger Interpretationsversuch, was auch immer K.-H. ad loc. dagegen einwenden; man erkennt daraus die Tendenz, das Werk des Horaz als eine Ganzheit aufzufassen (vgl. Carm. 4,15,init., wo er ebenfalls ein Gedicht mit dem vorangehenden verbinden will, s. S. 37). Ziel dieser Interpretamente ist also das Herausarbeiten des Sinnzusammenhangs bei Gedankensprüngen und -Übergängen des Dichters: Sie ermöglichen dem Schüler das Verstehen der logischen oder assoziativen Verknüpfungen, um ein einigermaßen zusammenhängendes Verständnis der Texte zu gewährleisten, statt bei bloßem Wort-für-Wort-Lesen stehenzubleiben; dies geschieht auf deutlich höherem Niveau als es W.G. Rutherford bei den Aristophanes- und Bachmann bei den Lucan-Scholien feststellen konnten, und auch reichlicher und gründlicher als in den späteren ps.-acronischen Scholien 496 . Vor allem aber dienen diese Erläuterungen zum Aufweisen der (im Text überwiegend auch wirklich angelegten) rhetorischen Überzeugungstaktiken als Modell für die Schüler zur eigenen Nachahmung - und zwar ganz gehalten im rhetorischem Fachvokabular aus der Lehre von der disposino*97, ohne daß jedoch wie bei Aelius Donatus 498 namentlich oder summarisch auf die Technographen Bezug genommen wird. Von hier aus läßt sich für den Pädagogen wieder leicht die Brücke schlagen zu den entsprechenden rhetorischen προ-γυμνάσματα, besonders der chreia über eine Tat oder einen Ausspruch, in der die Techniken der inventio und dispositio eingeübt wurden, mit Lob des Urhebers, Beweis durch Widerlegung des Gegenteils, Vergleich, Beispiel, Anführung einer Autorität, Epilog mit exhortatio, also bereits mit den wesentlichen Bestandteilen einer echten Rede 499 . Seltener finden poetologisch-künstlerische Aspekte Beachtung (dazu auch im Kap. Κρίσις/Ordo, S. 254ff.). In der Regel sind diese Interpretamente gelungen und zeigen einen für die Zeit gut entwickelten Sinn für die gedankliche Einheit eines Gedichtes, wenn sie auch bei ad hoc-Bemerkungen an gedanklichen Fugen stehenbleiben und nur sehr selten die Gesamtkomposition in den Blick rücken.

S. Schweikert 1864, S. 24. Vgl. dazu die Zusammenstellung der Termini zur dispositio bei den römischen Rhetoren, insbesondere Cicero, bei Causeret, S. 99-115. S. dazu Jakobi, S. 134. S. z.B. Hermogenes Progymn. p. 6ff. Rabe; Aphthonius II p. 23ff. Spengel, vgl. auch Theon II p. 96ff. Sp. Zur Herkunft und Funktion der chreia in der antiken Schule s. neuerdings M. Alexandre jr.: The Chreia in Greco-Roman Education, in: Dangel, S. 85-92, bes. S. 87f.

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3. Έξήγησις: Die Texterklärung

Zusammenfassung: Porphyrie» als Repräsentant römischer eruditio Die Sacherklärungen des Porphyrio sind der Forderung Quintilians entsprechend meist knapp und bleiben nahe am Text. Exkurse sind eher selten und bestehen meist in Anekdoten und rhetorischen Exempla 500 . Bei den Wissensgebieten, auf die unser Kommentator eingeht, fällt auf, daß von Porphyrio die enkyklischen Fächer, abgesehen von Rhetorik und Astronomie, ausgespart werden, anders als in der Schrift De die natali seines Zeitgenossen und Grammatikerkollegen Censorinus. Die naturkundlichen Disziplinen, die Plinius d. Ä. behandelt, sind dagegen vollzählig vertreten, wenn auch inhaltlich oft eher schwach. Ein größeres Gewicht liegt auf den im weiteren Sinne historischen Gebieten501. Die Zuverlässigkeit der Angaben ist uneinheitlich und hängt entscheidend von der Qualität der jeweiligen Quelle ab. Welches sind nun die Quellen, auf die Porphyrio zurückgreift? Porphyrios Methode, Angaben selten wörtlich zu exzerpieren, sondern umzuformulieren und dabei stark zu kürzen (verstärkt vielleicht durch die Verknappungen späterer Redaktionen), und der Verlust vieler sehr wahrscheinlich konsultierter Werke (z.B. des Varrò oder des Verrius Flaccus) machen es schwer, sich ein genaues Bild zu verschaffen. In vielen Fällen ist auch unklar, ob eine Information lediglich aus dem Kontext erraten oder durch zusätzliche Quellen abgesichert ist. Dennoch läßt sich als Ergebnis der stichprobenartigen Untersuchungen festhalten: - Porphyrio selbst nennt einmal Varrò (der, wie wir noch festeilen werden, auch in lexikalischen und etymologischen Fragen häufig von ihm herangezogen wird) als Gewährsmann für ein philosophiegeschichtliches Faktum; vielleicht hat er seine Philosophiegeschichte auch in anderen Fällen benutzt, möglicherweise auch seine antiquarischen und seine poetologischen Schriften. - Vieles, vor allem aus den Bereichen Tier- und Pflanzenkunde sowie Geographie, findet sich bei Plinius d. Ä. wieder. Da die Naturalis historia, dieses dem Unterhaltungsbedürfnis seiner Leser Rechnung tragende, durch Indizes übersichtlich gehaltene Werk 502 , zu Porphyrios Zeit stark rezipiert wurde 503 , ist es wahrscheinlich, daß auch unser Scholiast (oder einer seiner Quellenkom-

500

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Bei DServius dagegen findet man Exkurse am häufigsten unter den mythologischen Erläuterungen (s. Barwick, Serviusfrage, S. 109). Bonner (S. 237ff.) erblickt darin eine allgemeine Tendenz. Servius dagegen hegt eine Vorliebe für Mythologie (viele Fabeln werden zusammengetragen), Pontifikalrecht und Kultus (s. Wessner: Art. Servius, RE, Sp. 1038). S. dazu neuerdings O. Nikitinski: Plinius der Ältere: Seine Enzyklopädie und ihre Leser, in: W. Kullmann/J. Althoff/M. Asper (Hrsg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur ( = ScriptOralia 95), Tübingen 1998, S. 341-59, besonders S. 350ff. Erste Zeugen sind Gellius, Apuleius und Tertullian (s. v. Albrecht II, S. 1009).

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

97

mentare) sie benutzt hat. (Die Exzerpte des Gargilius Martialis und C. Solinus sind wohl erst nach Porphyrie» entstanden). Für die Geographie hat er auf weitere Werke zurückgegriffen, sei es auf eine Karte, sei es auf eine Chorographie wie die des Pomponius Mela; manche Angaben sind auch schlicht aus dem Wörterbuch des Verrius Flaccus/Festus abgeschrieben, haben also keinen direkten Bezug zur geographischen "Fachliteratur". - Ein großer Teil der prosopographischen Angaben zu den personae Horatianae, zu Augustus und seiner Familie und zum Leben des Horaz selbst stammt offensichtlich aus Sueton (sein Buch über Kinderspiele [s. S. 332f.] hat Porphyrio wahrscheinlich, seine Abhandlung de genere vestium aus den Praia vielleicht gekannt; beide Werke sind verloren). - Valerius Maximus, Livius und/oder Florus und Cicero lieferten historische Informationen, besonders Exempla. - Cicero stand außerdem Pate für einige philosophische Angaben. - Für die Mythologie wurde möglicherweise Hygin oder ein ähnliches Handbuch benutzt. - Etliches schließlich ist so sehr in der Allgemeinbildung oder in der dichterischen Topik verbreitet, daß die exakte Quelle nicht mehr zu ermitteln ist. Petschenigs harsches Urteil, "dass Porphyrion alles kritischen Sinnes bar und ohne besonderes Wissen seine Quellen, schlechte wie gute, gedankenlos abschrieb, und dass es mit seiner Weisheit zu Ende ist, wenn diese ihn im Stich lassen" 504 , mag zwar nicht falsch sein, verkennt aber den Hintergrund der Durchschnittsbildung dieser Zeit (und vielleicht römischer Allgemeinbildung überhaupt): Wir haben es zu tun mit einer Gelehrsamkeit, die eine literarisch gebrochene Weltsicht widerspiegelt, in der Buchwissen vor Realität geht, in der Handbücher neben Dichterstellen als Wissensquelle herangezogen werden, "wissenschaftliche" und literarische Zeugnisse als gleichrangig gelten (davon im Kapitel auetores noch ausführlicher). Die Herrschaft der auetores, die sich durch Spätantike und Mittelalter hindurch bis ins 12. Jh. nahezu unangefochten behaupten wird 505 , hat längst begonnen. Sie hatte sich schon bei Varrò, Seneca und Plinius angebahnt, deren wissenschaftliche Betätigung die Kreativität und Originalität der griechischen Forschung bekanntlich nie auch nur im entferntesten erreichte 506 , sondern sich weitgehend auf Bücherwissen aus zweiter Hand beschränkte507 und auf Handbuchniveau stehenblieb508. Im

504 505 506 507 508

Petschenig, 1873, S. 9. S. Curtius, S. 62f. S. Stahl, S. 119. S. Marrou, Augustinus, S. 129. "Among the Greeks the lay handbooks represented a low order of science, but at Rome there was only one level of scientific knowledge - the handbook level" (Stahl, S. 71).

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3. ' Εξή-γησις: Die Texterklärung

1. Jh. verstärkt sich diese Tendenz noch 509 : Es erscheinen immer mehr zettelkastenartige Handbücher, Sammlungen von Lesefrüchten, wie Suetons Prata und Gellius' Noctes Atticae510, gestützt auf die Autorität der Alten. Sie dienen der Befriedigung der curiositas mit ihrem Faible für das Außergewöhnliche und Bizarre 511 . Diese Vorliebe für Curiosa, für das Spektakuläre und Außerordentliche, für Bonmots, Anekdoten und Skandalgeschichten, wie sie uns bei der Analyse unseres Kommentars immer wieder begegnet ist, führt zu einem Sammelsurium von Wissensfetzen; die Fakten werden nicht in Systemen und Gesetzen geordnet: "Die 'Wissenschaft' dieser doctissimi viri ist Schulstaub, eine Sammlung von Kleinigkeiten, von Kenntnissen aller Art" 512 . Wir konnten in unserem Scholiencorpus verfolgen, wie dieser Partikularisierung von Wissen ohne Suche nach dem inneren Zusammenhang Vorschub geleistet wird durch die Lehrmethode der Grammatikschule, die Realienwissen nur häppchenweise entlang der Dichtererklärung vermittelt, keine Versuche zur Zusammenschau fördert und auch kein Korrektiv in Form parallel unterrichteter Realienfächer kennt. Diese Form der Bildung repräsentiert Porphyrio (wie auch sein Kollege und Zeitgenosse Censorinus513) in typischer Weise in all ihren Schwächen. Es stellt sich die Frage, inwieweit es angebracht ist, von einem Bildungsverfall zu sprechen. Auf der "wissenschaftlichen" Ebene der Enzyklopädien und Handbücher ist dies sicherlich angebracht: Von Varrò über Plinius zur späteren Kompendienliteratur verknappt und verflacht die wissenschaftliche Sammeltätigkeit immer mehr, und der Anteil der Eigenleistung der Exzerptoren geht stetig zurück. Aber Enzyklopädisten wie Varrò und Plinius waren stets Ausnahmeerscheinungen, von denen man nicht auf das durchschnittliche intellektuelle Niveau der gebildeten Schicht schließen darf. Vielleicht hat sich die Normalbildung schon viel früher auf einem so niedrigen Stand eingependelt, wie wir ihn bei Porphyrio vorfinden; aber das ist aufgrund der mangelnden Aufarbeitung dieses Themas schwer zu entscheiden. Vergleicht man aber Porphyrio einerseits mit dem früheren von Holford-Strevens skizzierten Gellius (bei dem zu berücksichtigen ist, daß er nicht auf dem Niveau der Grammatikschule sondern auf dem eines ambitionierten Privatgelehrten schreibt) und andererseits mit dem von Marrou an Aurelius Augustinus exemplifizierten "Gebildeten der Verfalls-

509 510 511 512 513

S. Sandys, S. 202. S. Marrou, Augustinus, S. 129. S. Marrou, Augustinus, S. 132f. Marrou, Augustinus, S. 131. S. G. Freyburger: Le savoir "philologique" du grammairien Censorinus, in: Dangel, S. 13-18. Bei einem Vergleich der beiden Zeitgenossen Porphyrio und Censorinus ist aber zu beachten, daß unser Scholiast Grammatikschüler als Adressaten anspricht, der Verfasser von De die natali aber den Q. Caerellius, einen Absolventen der Rhetorenschule (1,6).

3.2. Ιστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen

99

zeit" 5 1 4 , könnte man wohl eher auf eine Kontinuität als auf einen rapiden Niedergang zwischen dem 2. und dem frühen 5. Jh. schließen 5 1 5 .

3.3. Τλωσσηματικόν:

Die lexikalischen Erklärungen

Das Organum des -γλωσσηματικόν umfaßte die Erklärung mehrdeutiger oder unbekannter Wörter 5 1 6 . Solche Erläuterungen waren einerseits für das Verständnis des oft mehrere Jahrhunderte alten Textes unerläßlich - schon deshalb nahmen sie in der Dichterexegese seit den Homererklärern des 5. vorchristlichen Jahrhunderts und besonders bei den Alexandrinern einen breiten Raum ein 5 1 7 -, andererseits wurden die Dichtertexte als Fundgrube für den Wortschatz des angehenden Redners ausgebeutet 518 . Besonders die "Archaisten" des 2. Jahrhunderts, unter deren Einfluß unser Grammatiker teilweise noch steht, verwendeten darauf außerordentliche Sorgfalt 5 1 9 . Zu diesen Zwecken stand dem lateinischen Grammatiker eine umfangreiche Handbuchliteratur zur Verfügung. Die lateinische Glossographie hatte ihren Ursprung in der Beschäftigung mit dem Zwölftafelgesetz und den alten Kultschriften; entsprechend reichhaltig waren die Arbeiten zu diesen Bereichen.

S. Marrou, Augustinus, S. 111. Dazu paßt Klingners (S. 572f.) Feststellung, daß trotz des wirtschaftlichen und politischen Verfalls im 3. Jh. das herkömmliche Unterrichtswesen erhalten geblieben, und der bildungstragende Stand der Großgrundbesitzer von der Verarmung nicht betroffen worden sei. - Eine Analyse der "Allgemeinbildung" aus republikanischer oder früher Kaiserzeit zum Vergleich heranziehen zu können wäre hier aufschlußreich. Das wissenschaftliche Niveau zur Zeit der Republik wird untersucht von Rawson. S. Quint, inst. 1,8,15 id quoque inter prima rudimento non inutile demonstrare, quoi quaeque verba modis intellegenda sint. circa glossemata etiam, id est voces minus usitatas, non ultima eius professionis diligentia est. S. Cohn. S. 577. S. Cie. de orat. 3,152f. Tria sunt igitur in verbo simplici, quae orator adferat ad inlustrandam atque exornandam orationem: aut inusitatum verbum aut novatum aut translatum. Inusitata sunt prisca fere ac vetustate ab usu cotidiani sermonis iam diu intermissa, quae sunt poetarum licentiae liberiora quam nostrae; sed tarnen raro habet etiam in oratione poeticum aliquod verbum dignitatem ... (s. J. Martin, S. 260). - Quintilian empfiehlt sogar, schon beim Schreibenlernen mit der Aneignung von Glossen zu beginnen: inst. 1,1,35 protinus enimpotest interpretationem linguae secretioris, quas Graeci γλώσσας vocant, dum aliud agitur, ediscere, et inter prima elementa consequi rem postea proprium tempus desideraturam. Fronto Epist. M. Caes. 4,3,4, p. 57f. Van den Hout Haud sciam an utile sit demonstrare, quanta dificultas, quam scrupulosa et anxia cura in verbis probandis adhibenda sit, ne ea res ánimos adulescentium retardet aut spem adipiscendi debilitet... . Zur Bedeutung der Wortwahl bei Fronto s. Marache, S. 132ff.

100

3. ' Εξήγησις:

Die Texterklärang

Erst später wandte man sich auch der Dichtererklärung zu: Aelius Stilo z.B. untersuchte den Wortschatz des Plautus und des Ennius 520 . Das wichtigste allgemeine Wörterbuch zu Porphyrios Zeit war Verrius Flaccus' De verborum significatu (exzerpiert von Festus, der seinerseits teilweise nur in Auszügen von Paulus Diaconus überliefert ist), der die wichtigsten Werke seiner Vorgänger darin verarbeitet hatte, etwa die Untersuchungen des Ateius und des Varrò. Ob die Sammlung De compendiosa doctrina des Nonius Marcellus (nach 200) Porphyrio schon zur Verfügung stand, ist unklar. Außerdem existierten spezielle Handbücher zu archaischen Wörtern (z.B. Veranius Flaccus, Liberpriscarum vocum) oder zu bestimmten Autoren (z.B. zu Cato und Cicero) 521 . Die einfachen Worterklärungen durch Angabe gebräuchlicherer Synonyme oder Paraphrase, uneingeleitet oder nach der Formel χ pro y, x, id/hoc est y522 u. ä., sowie die schlichten Deutungen semantischer Amphibolien523 bleiben hier als für die zugrunde liegenden semantischen Kategorien weniger aufschlußreich außer acht. Angeführt sei lediglich der Sonderfall der Wiedergabe durch ein griechisches Wort 524 . Sie bezweckt bei Polysemie die Eingrenzung der Bedeutung: Carm. 2,1,25-26 INPOTENSautem αδύνατος [...] "sine virtute" intellegendum; zusammen mit einer lateinischen Erklärung: Carm. 4,15,17-18 EXIGETnunc "excludet" significai, quasi έξω aget... (Mit Terenzparallele); Epist. 1,17,24 PRAESENTIBUS. ] IKÒJ> NÓTOV; Sat. 1,10,21 (SERI STUDIORUM) όφιμαόβίς53*. Sat. 2,3,163 (MORBO ... ACUTO) Graece οξύ πάϋος535· eine freiere Übertragung in Epist. 1,18,45 Belle LENIBUS IMPE-

Ein ganz anderes Einteilungsprinzip verfolgt Schol. Dion. Thr. 4 6 9 , 1 0 Hilgard Γλωσσά ίστι Xé£iÇ ξένη μεταφραζόμενη ε'ις την ήμετεραν διάλεκτον, ή \ε·γομενη μεν προσεχώς, μεταφραζόμενη δε εις το σύνηάες. Λύονται δε ai γλώσααι ττενταχ ώ ς ' πρώτον κατά ετυμο\ο^ίαν... außerdem κατά διάΧεκτον, κατ' επίΧνσιν, δι' έτερου τόπον επιλύσεως, έξ άντιφραζομενον, κατά ιστορία ν (s. Schröter, S. 34). Weitere Stellen aufgeführt bei Degenhardt, S. 52f. Vgl. Paul. Fest. p. 65 canif era mulier appellatur quae fert cannam, id est qualum, quae est cistae genus. Vgl. Serv. Aen. 2,598 ASCANIUSQUE PUERfllius ... HoratiuspuerosqueLedae. et est Graecum; nam παίδας dicunt, vgl. zu Aen. 4,94. Anders Brink ad 1.: "he who is effective in his choice" oder "he whose choice has made him master of his subject". Orelli-Baiter-Mewes ad loc. übersetzen κατά δίιναμιν, ähnlich Κ.-Η. Vgl. Gloss. II 2 5 0 , 3 4 Infortunium ατυχία. Vgl. Gell. 11,7,3 est adeo id Vitiumplerumque serae eruditionis quam Graeci όψιμαϋίαν appellant, ut, quod numquam didiceris, diu ignoraveris, cum id scire aliquando coeperis, magni facias quo in loco cumque et quacumque in re dicere (s. Holders Apparat und Κ.-Η. ad loc.). Zur Figur des όψιμαόής und ihrem sozialgeschichtlichen Hintergrund s. neuerdings Th. Schmitz, S. 152-6. Ein medizinischer t. t., s. ThLL IX 2 1213,8ff., z.B. Ps. Soran quaest. med. 88, Anecdota Graeca et Graecolatina ed. Rose A 180.

3.3. ΓΧωσσημαηκόν: Die lexikalischen Erklärungen

103

RIIS quam ηϋανά^κψ Graeci vocant, cum qui post imperare blanditur. Möglicherweise fälschlich zur Rettung einer moralisch anstößigen Stelle: Sat. 2,3,57-8 AMICA MATER, HONESTA SOROR. ] Melius est sic accipi: "amica mater", ut sit ex Graeco tractum: Φίλη μήτηρ, quam per se "amica", per se deinde "mater", quia mentionem uxoris facit in sequentibus536 (s. auch S. 264). Als syrisch wird einmal ein Wort korrekt von einer der Quellen des Porphyrio bestimmt (wogegen Porphyrio eine Onomatopoiie annimmt und eine moralisierende Erklärung nachschickt): Sat. l,2,init. ... NONNULLI tarnen AMBUBAIAS tibicines Syra lingua putant dici ... Verba propria Die proprietas, die Angemessenheit eines Ausdrucks für die bezeichnete Sache, ist im allgemeinen ein Teil der Stilqualität der σαφψβια (perspicuitas)531, der Klarheit des Ausdrucks. Was genau darunter zu verstehen ist, erfahren wir aus Quintilian inst. 8,2,1-11, der in ungeordneter Reihenfolge fünf Verwendungsweisen dieses Begriffs unterscheidet: a) sua cuiusque rei appellatio, b) id, unde cetera dueta sunt, c) cum res communis pluribus in uno aliquo habet nomen eximium, d) quo nihil inveniri potest significantius, e) quae bene translata sunt, f) quae sunt in quoque praeeipua, ut Fabius cunctator538. Diese Differenzierung wird uns auch beim Erfassen dieser Kategorie bei Porphyrio weiterhelfen, bei dem wir die meisten dieser Punkte (mit oder ohne den Terminus proprie) wiederfinden, wie auch bei Servius und DS, was hier einmal auf eine weitgehende Einheitlichkeit innerhalb der lateinischen Scholienliteratur schließen läßt 539 : Quo nihil inveniri potest

significantius:

Die proprietas an sich ist üblicherweise noch keine virtus540, ebensowenig wie ein Verstoß gegen sie a priori ein vitium darstellt; ein ganz beson-

Wie Porphyrio interpungieren aus Gründen der Konzinnität Ritter und Fedeli ad loc. Κ.-H. und Dillenburger ad loc. dagegen lehnen mit Recht eine Junktur amica mater ab, für die der ThLL auch keine überzeugende Parallele bietet. Z.B. Aristot. Rhet. III, 2, 1404b,5; Quint, inst. 8,2,1 (s. Lausberg, S. 276). S. G. Walter, S. 27. S. G. Walters Analyse des Bedeutungsspektrums dieses Begriffes bei Servius und DServius (S. 27ff.); lediglich der speziell grammatische Gebrauch, wie in Serv.

Aen. 11,76 (z.B. alium statt alterum), fehlt bei Porphyrio. S. z.B. Quint, inst. 8,2,3 u. 8. In der stoischen Stillehre, die das Ideal der Schlichtheit des Ausdrucks propagiert, ist die xvpioXoyia allerdings eine eigenständige

άρβτη λόγου (s. Lausberg S. 276).

104

3. Έζή-γησις: Die Texterklärung

ders treffender Ausdruck dagegen verdient Lob 541 . Dies scheint in folgenden Scholien der Fall zu sein: Carm. 1,29,5 NECT1S CATENAS. ] ... Proprie dictum; catenae ipsae enim nexibus quibusdam constant. Vergil dient als Beleg für die proprietas eines Wortes in der möglicherweise apologetisch getönten Erklärung zu Sat. 1,1,2930: PER OMNE AUDACES MARE QUI CURRUNT. ] Proprie CURRUNT, ut VASTUM CAVA TRABE CURRIMUS AEQUOR (Verg. Aen. 3,191); mit einer treffenden Interpretation der Wortwahl: Epist. 2,2,111 Proprie dixit AUDEBIT, ut ostendat magnam rem esse hoc facere. VERGIL(IUS): AUDE HOSPES CONTEMNERE OPES (Aen. 8,364). Da proprietas, wie erwähnt, auf die Angemessenheit des Ausdrucks für die Sache zielt, verwendet Porphyrio den Begriff auch in Verbindung mit Realien-Erläuterungen, die den Maßstab für die proprietas bilden 542 : Carm. 4,6,39-40 CELEREMQUE PRONOS VOLVERE MENSES. ] Quia similiter per lunae cursum videntur tempora peragi ut per solis. Sed et circa lunam proprie MENSIS dixit, quia singulis mensibus zodiacum circulum luna pertransit, quem sol toto anno. Entsprechend gehören auch die Termini der Fachsprachen zur proprietas, und zwar zu Quintilians Subkategorie sua cuiusque rei appellatio543 (Der Übergang zum historikon bei diesen Interpretamenten ist fließend). Dabei berücksichtig unser Scholiast die Fachbereiche Medizin und besonders die römischen Lieblingsfächer Landwirtschaft/Botanik, Militär und Recht: - Medizin: Sat. 2,3,29 (TRAIECTO LATERIS ... DOLORE) Proprie. Ita enim medici dicunt μβταλαμβάνβι θώρακα, als Latinisierung eines griechischen t.t. - Landwirtschaft/Botanik: Epod. 16,45 TERMES appellatur proprie caulis olearum arborum544 Ohne

S. G. Walter, S. 29. In dieser Bedeutung auch bei Servius, z.B. Aen. 6,539, 12,323ff. (s. G. Walter, S. 28f.). Auch Servius und DServius berücksichtigen Sondersprachen. Sie unterscheiden z.B. Wörter aus der Kult-, Rechts-, Militär- und Seemannssprache (Jocelyn 1979, S. 116); zu Fach- bzw. Berufssprachen bei Servius, besonders der Seefahrt und des Militärs, s. Uhi, S. 368ff. Servius-Beispiele für proprie zur Kennzeichnung eines Begriffs als terminus technicus bei G. Walter, S. 28, z.B. Serv. Aen. 7,88. Aufgegriffen in CGL 2,197,17 (s. P.-P. Corsetti: Latin "termes", RPh 49 [1975], S. 255-62, S. 155). Anders Festus p. 505 L: Termes ramus desectus ex arbore, nec foliis repletus, nec nimis glaber. Corsetti versucht die Erklärung Porphyrios so zu deuten, daß Porphyrio caulis olearum arborum für die ursprüngliche (proprie) Bedeutung von termes halte (wie Gratt. Cyn. 20) im Gegensatz zu der synekdochischen, wie sie Festus bietet.

3.3. Τλωσσηματικόν:

Die lexikalischen Erklärungen

105

proprie: Carni. 1,23,6-7 Rubw?45 sentes sunt morae546 agrestis. Sic denique et a rusticis hodieque in Italia appellantur. Carm. 3 , 2 3 , 1 5 - 1 6 Marinum rorem hodieque in Italia virgultum quoddan?41 appellant. Trotz des Hinweises auf zeitgenössische italische Bauernsprache handelt es sich bei den beiden letzten Scholien nicht, wie man aus den Formulierungen schließen könnte, um Dialektizismen, sondern, wie ein Blick auf die Belege bei André zeigt, um gängige Fachtermini. - Militär: Epist. 1,19,3-4 ... SCRIPSI164i bene, tam in legionem suam. Nam hoc verbum militare549 , hier mit einer Würdigung der Wortwahl. - Recht 5 5 0 : Sat. 1,9,41 REM pro lite dixit. Sic denique et in LEGIBUS scriptum inveniri solet: REM SIVE LITEM551; Sat. 2 , 3 , 6 9 SCRIBE DECEM A NERIO. ] Iuris verbo552 "scribere" est mutuum sumere553, "rescribere" restituere. Mit Sacherklärung: Epist. 2 , 2 , 1 5 8 (LIBRA MERCATUS ET AERE)554. Wenden wir uns nun einer weiteren Unterart der proprietas zu, Quintilians Spezialfall cum res communis pluribus in uno aliquo habet nomen eximium, der also dann vorliegt, wenn ein Wort in einer allgemeinen weiteren Bedeutung als Oberbegriff und in einer speziellen als dessen Unterbegriff fungieren kann. Diese Form der Bisemie bezeichnet Porphyrio mit den Begrif-

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Zu den verschiedenen Bedeutungen von rubus s. André, S. 220. Plin. nat. 24,117 Nec rubos ad maleficia genuit natura, ideoque et mora his dédit (s. auch Varrò ling. 2,1,4 e ... agrestibus ... virgultis [acj decarpendo ... mora, s. André S. 164 s. v. morum 3). Die unpräzise Formulierung Porphyrios darf nicht befremden: André (S. 219) führt fünf verschiedene Pflanzen auf, die diesen Namen tragen. Adscribere kann zwar diese technische Bedeutung haben (z.B. Paul. Fest. p. 13 L., s. ThLL II 774,1 Iff.), aber hier steht es wohl eher im allgemeinen Sinne von "in eine Liste einschreiben" (s. K.-H. ad loc.). Die Wendung verbum militare, neben anderen, begegnet auch bei Servius, z.B. Aen. 10,279 (s. Uhi, S. 382). Zu grammatischen Spezifika der Rechtssprache s. S. 161 f. (zu Ars 99 und Sat. 2,1,8).

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S. Paul. dig. 3,3,14; zahlreiche Belege im OLD s. v. 11, häufig bei Cicero (Brut. 227, Plane. 54 u. a.). Der Begriff verbum iuris findet sich, neben anderen Bezeichnungen, auch bei Servius (Aen. 4,624; 5,758) und DServ. Aen. 11,842 (s. Jocelyn 1979, Anm. 261). So auch Cie. pro Rose. Com. 2, s. K.-H. ad loc. Vgl. Gaius I 119, s. K.-H. ad loc. Wessner (Rez. zu Schweikert 1915, Sp. 919) vermutet, daß auch Ps.-Acro Sat. 2,1,79 (DIFFIDERE) iuris verbo usus est. Praetor enim solebat dicere: hic dies diffisus esto von Porphyrio stammt.

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3. Έξήγησις:

Die Texterklärung

fen specialiter/generaliter. Diese Kategorie tangiert die Lehre von den Redeteilen und gehört dort in die Nominalkategorie der qualitas (=species)555. Porphyrio läßt die sich ergebende Ambiguität zuweilen offen: Epist. 2 , 1 , 1 2 3 ... Siliquas autem aut specialiter dicit eas, quae in vepribus nascuntur, omni legumine, q, hoc est tiam, unde et sedes: requitio. Oder für Scholien, die von der Etymologie eines Wortes her eine durch den Kontext desambiguierte Sonderbedeutung erklären: Sat. 2,4,44 SAPIENS hic a sapore, non a sapientia699. Sat. 1,6,56.57 Manifestum est INFANTEM a nonfando nunc dixisse. Nec enim ad aetatem relatum est, vgl. Sat. 2,5,40. Ähnlich Carm. 1,12,37 PRODIGI. Carm. 1,36,20 AMBITIOSA. Auch etymologische Spiele und Andeutungen des Dichters werden gewürdigt: z.B. Epist. 2,2,21 (TALIBUS OFFICIIS PROPE MANCUM) Hoc est: ad scribendum debilem. Et bene MANCUM, quod Vitium manus est. Sat. 1,3,117 NOCTURNOS DIVUM SACRA LEGERIT. ] ... unde SACRILEGI ipsi, qui hoc adnüttunt, appellantur. Carm. 2,5,2-3. Epist. 1,17,37. Ars 220 und 277 zu TRAGOEDIA (s. o.) Epod. 12,21. Hierher gehören ebenfalls die Deutungen sprechender Namen: Sat. 1,2,25 (MALTHINUS) Ab re t[hjamen nomen finxit. Maltha enim malacos dicitur699. Porro autem tunicis demissis ambulare eorum est, qui se molles ac delicatos velini haberi. Sat. 1,5,100-1 Urbanissimum nomen Iudaeo inposuit "APELLAN" dicens, quasi quod pellem in parte genitali Iudaei non habeant100.

Vgl. Isid. orig. 10,240 sapiens dictus a sapore; quia sicut gustus aptus est ad discretionem sapons ciborum, sie sapiens ad dinoscentiam rerum atque causarum. Auf dieselbe Quelle wie Porphyrie», die Ursprungswort und Ableitung verwechselt, wie in der antiken Etymologie häufig (s. Wölfflin, S. 437), scheint sich auch Isid. orig. 10,1 zu beziehen: ut per denominationem ... sapiens a sapientia nominetur, quia prius sapientia deinde sapiens, von der philosophischen Vorstellung ausgehend, daß die Weisheit schon vor dem Weisen existiere. Allerdings übersieht Porphyrio, daß sapiens hier durchaus auch in seiner üblichen Bedeutung steht, und zwar parodistisch. Maltinus ist ein römisches Cognomen, mit dessen Etymologie von malta Horaz hier spielt (s. K.-H. ad loc.), was Porphyrio zu würdigen weiß. Apella ist ein häufiger Name für Freigelassene (s. K.-H. ad. loc.); auch Brown ad loc. hält es für wahrscheinlich, daß hier ein Wortspiel vorliegt mit einer scherzhaften etymologischen Deutung, wie Porphyrio sie vornimmt, vgl. Sat. 1,9,70 curtís Judaeis. Dazu verweist Suringar, S. 38 auf Tac. Hist. 5,2ff., besonders 5, Juvenal 14,102ff. mit Scholion ad loc. (das Bezug nimmt auf Tacitus).

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

133

Die Beispiele zeigen, daß Porphyrio die Namengebung bzw. die etymologisierende Deutung bekannter römischer cognomina als Stilmittel horazischer Komik erkannt hat 701 . Gelehrte Deutungen der Kultnamen und Epitheta von Gottheiten erfolgen zu Carm. 1,18,11 A genere vestís Liber Bassareus appellator, unde et ipsae Bacchae Bassarides appellantur, Carm. 1,17,22-23 Thyone Semele a Graecis dicta, unde Liber Thyoneus dicitur, Carm. 1,26,9 Pipleides, Carm. 1,31,18 Latoius, Carm. 2,11,17-18 Euhius, Carm. 3,22,2-3 Lucina, Carm. 4,6,28 Agyieus, Epist. l,20,init. Vortumnus. Die bisher angeführten Beispiele dienen ganz dem Textverständnis bzw. der Interpretation. Aber zuweilen verselbständigen sich die Etymologien: Eine spachnonnierende Zielsetzung verfolgt Sat. 1,8,1 Attende nomen a fico derivatum "ficulnus", non ut vulgo "ficus", wo der Scholiast die horazische Derivation der umgangssprachlich verbreiteten Form gegenüberstellt702; diese präskriptive Funktion spielt bei Porphyrios Etymologien jedoch keine große Rolle. Außerdem nimmt Porphyrio, wie auch Donat 703 und andere Grammatiker, zuweilen die Gelegenheit wahr, einen kleinen Exkurs zur Wortbildungslehre einzuschieben, die ja quasi eine umgekehrte Etymologie darstellt, nach der Formel χ unde/a quo et y dicuntur u. ä.: So in Sat. 2,7,38 nidorem pro risu, a quo verbum fit "RENIDEO", Carm. 2,13,21, Epod. 12,init., Epod. 12,21, Sat. 1,5,62, Sat. 2,3,287, Epist. 2,2,163. Ganz verselbständigt hat sich die Etymologie in Carm. 1,14,19-20 zu FRETA (das im Horaztext gar nicht vorkommt), Carm. 2,13,14-15, Carm. 3,22,2-3 und in den Beispielen für die von Horaz erwähnten griechischen Lehnwörter in Ars 52-3. Der Zweck solcher Bemerkungen liegt zum einen in der Erweiterung des Wortschatzes der Schüler, zum anderen äußert sich darin die gelehrtentypische Curiositas und das Bestreben, Gelehrsamkeit zu demonstrieren. Bevor wir nach der mehr formalen und methodologischen Untersuchung zur inhaltlichen Evaluierung anhand des antiken und modernen Wissensstandes übergehen, läßt sich bis hierher als Ergebnis festhalten:

Namensetymologien auch bei Servius, z.B. Aen. 1,312 (s. Uhi, S. 517f.). Vgl. Servius georg. 1,305 sunt aliquae derivationes ex usu magis quam ex ratione venientes, ut ...ficulnus, Serv. Aen. 11,65 sunt aliquae durae derivationes; tarnen eis sic utimur, ut "quernum vimen"... "ficulnum lignum", ut Horatius ... (s. dazu Uhi, S. 182f.). Paul. Fest. 93 M. (82 L.) dagegen erkennt die Form ficulneus offenbar an: ficolea palus ficulneus. Belegt sind beide Formen lt. ThLL die ganze Latinität hindurch. S. Jakobi, S. lOlf.

3. ΕΕΗΓΗΣΙΣ

134

Die Kenntnis der theoretischen Grundlagen der antiken Etymologie ist erkennbar, auch wenn Porphyrio nicht explizit auf sie eingeht. Seine Etymologien stehen also, was die Methodik betrifft, für antike Begriffe auf wissenschaftlichem Niveau. Dabei nimmt Porphyrio eine Position zwischen der latinisierenden und der gräzisierenden Richtung ein. Die Formulierungen sind, abgesehen von den griechischen Ableitungen, von denen einige traditionell mit άπό του bzw. einmal παρά του eingeleitet werden, uneinheitlich 704 ; sie können in klaren Hinweisen bestehen wie χ ab y (dicitur / derivatum est etc.), oder implizit in die Erklärung eingeflochten sein, so daß sie nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sind. Der Kommentator rekurriert auf die Etymologie meist nicht um ihrer selbst willen, sondern gebraucht sie als Instrument einer gründlichen Interpretation unter dem Gesichtspunkt der proprietas. Dabei erkennt und erläutert er auch die etymologischen Spiele und Anspielungen, die Horaz gerne verwendet, wobei er allerdings manchmal zur Überinterpretation neigt. Eher gering ist die Tendenz einer Verselbständigung über die Texterfordernisse hinaus, sei es zur Spracherziehung und Sprachnormierung im Rahmen der latinitas, sei es zur Demonstration von Gelehrsamkeit.

Die inhaltliche Gültigkeit der Etymologien: Vergleich mit antikem und modernem Kenntnisstand 705 : Bei der großen Verschiedenheit zwischen antiker und moderner Etymologie hinsichtlich der Prämissen und Methoden liegt es nahe, daß auch die Ergebnisse sehr voneinander abweichen. Dennoch haben einige der alten Deutungen immer noch Gültigkeit. Heute noch akzeptierte Etymologien sind: Epist. 1,12,7 abstemius (s. u.), Carm. 4,6,28 Agyieus706 (s. Frisk), Carm. 1,36,20 ambitiosus707, evtl. Sat. 1,9,76 antestari (s. ThLL II, 161,15f.), Ars 399 axones (s. LSJ s. v. II und ThLL II, 1641,58ff.), Epod. 12,init. barritus7m, Ars 471 bidental709,

Z.B. weniger klar als bei Servius, vgl. Uhi, S. 491ff. Der Vergleich mit (der communis opinio oder zumindest einem Teil der) modernen Etymologien (sofern nicht anderes angegeben) stützt sich, soweit der Fall nicht ohnehin evident ist, auf Walde-Hofmann; die antiken Parallelen sind eine Auswahl der Etymologien, die bei Maltby unter dem Stichwort selbst bzw. dem am nächsten verwandten zusammengestellt sind. Porphyrio gibt Varrò als Quelle an. Vgl. auch Nigid. ap. Macr. Sat. 1,9,5 (GRF 177,42). Ebenso Ps.-Acro. Von ambitus/ambire leiten es auch Varrò ling. 7,30 und Gell. 9,12,1 her (natürlich nicht in der speziellen vom Kontext bestimmten Bedeutung wie hier; s. Maltby s.

v. ambages). Isid. orig. 12,2,14. Vgl. Ps.-Acro ad loc.

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

135

Ars 113 cacchinnus, Epist. 1,14,42 calo vielleicht von κ ό λ α (eine der angebotenen Alternativen 7 1 0 ), Epist. 1,17,55 Catella (als Diminutiv von catena). Sat. 2 , 3 , 2 5 - 2 6 compitum'11, Carm. 2 , 5 , 2 - 3 coniugium712, Carm. 2,11,21 u. 3 , 2 5 , 1 2 d e v i u s 7 1 3 , Epod. 12,21 dibafus714, Carm. 1 , 9 , 6 - 8 diota715 (s. LSJ s. ν. δίωτος und ThLL V l , 1 2 2 4 , 6 0 f f . ) , Epod. l.init. epodos von reciñere116, Carm. 2 , 1 1 , 1 7 - 8 Euhius111, Sat. 1,8,1 ficulnus718, Carm. 119 1,17,18 fidicirms, Carm. 1,14,19-20 und 2,13,14-15 fretum , Carm. 3 , 2 0 , 3 inaudax ( ά π α ξ Xeyößevov), Ars 3 5 2 incuria, Sat. 1,6,56.57 und 2 , 5 , 4 0 infans120, Epist. 2 , 2 , 1 8 5 inportunus (allerdings genaugenommen nur mittelbar von portus, als Konträrbildung zu opportunus)121, Carm. 1,7,31-32 iterare (die falsche Deutung der quidam, die das Verb von iter ableiten wollen, wird scharf zurückgewiesen), Carm. 1,31,18 Latoius, Carm. 3 , 2 2 , 2 - 3 Lucina von lux122, E p i s t . 2 , 2 , 2 1 mancus723, C a r m . 1 , 9 , 1 7 morosus124, Carm.

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Porphyrio wendet sich (nach heutigem Maßstab zu Recht) gegen die Mehrheit der uns bekannten antiken Etymologien, einschließlich Paul. Fest. 33 = 30 L., auf den er sich hier wohl bezieht, und Nigid. apud Non. p. 53,22 = 75 L. Die gleiche Deutung ist nur noch bei Ps.-Acro ad loc. (aus Porphyrio) und Schol. Pers. 2,27 (vielleicht ebenfalls aus Porphyrio) überliefert. So leiten her, jeweils mit unterschiedlicher Interpretation: z.B. Paul. Fest. 62 = 54 L., Non. p. 62,12 = 86 L., Ps.-Acro epist. 1,14,41. Vgl. Varrò ling. 6,25; anders Serv. georg. 2,382, Schol. Pers. 4,28 (als eine Alternative). Vgl. Isid. orig. 9,7,20, vgl. Ambr. virgin. 6,33. Isid. orig. 14,8,32 extra viam. Ähnlich Plin. nat. 9,137 (cf. Stat. silv. 3,2,140), s. ThLL V 957,21ff. Isid. orig. 16,26,13, cf. Schol ad loc. Diom. KGL I 485,28 dicti autem epodoe συικχ&οχικώς a paribus versuum quae ... integrís versibus έτάδονται, id est accinuntur und Paul. Fest. 56 = 49 L. clausula, quam Graeci ¿πωδόν vocant erscheinen bei Porphyrio verbunden zu Liber hic EPODON inscribitur, scilicet quod ita versus in eo ordinati sunt, ut singulis quibusque clausulae suae recinant\ Isid. orig. 1,29,23 könnte auf Porphyrio basieren: dictum ... epodon, quod adcinatur ... ubi ... in singulis quibusque maioribus sequent es minores quasi clausulae recinunt. Anders Ps.-Acro ad 1. Vgl. Serv. georg. 1,305. Varrò ling.. 7,22, Sueton. frg. p. 242,9. Varrò ling. 6,52, Non. p. 55,26 = 78 L. Paul. Fest. 108 = 96 L. Ebenfalls von lux: Cie. nat. deor. 2,68, Ov. fast. 2,450 (als eine Alternative), Plut, quaest. Rom. 77 p. 282 C u. v. a. Am ähnlichsten ist die Deutung des Paul. Fest. 304 = 397 L. (hier als Beiname der Juno), ebenfalls mit der Wendung lucem tribuere; ähnlich, DServ. georg. 3,60 u. a. Eine Minderheit leitet den Namen von lucus ab: Ov. fast. 2,449, Plin. nat. 16,235. Isid. orig. 10,180. Cie. Tusc. 4,54, Non. p. 433,27 = 698 L., vgl. 578, Ps.- Acro ars 319.

136

3. ΕΕΗΓΉΣΙΣ

1 , 1 6 , 1 0 naufragus125, Carm. 2,13,init. nefastus126, Sat. 1 , 5 , 4 6 parochus121, Epist. 1,17,56 periscelis, Epod. 17,14 pervicax728, Carm. 1,26,8 Pipleides129, Epist. 2 , 1 , 7 0 plagosus, Epod. 8,18 praefascinare730, Carm. 731 3 , 2 9 , 1 8 Procyon , Epist. 2 , 2 , 1 9 7 Quinquatrus732, Sat. 1,3,117 sacrifegHJ 733 , Carm. 1,36,11-12 Salii134, Epist. 2 , 1 , 1 5 7 Saturnium metrum135, 136 131 Epist. 1,17,37 sedes , Carm. 1,17,22-23 Thyoneus , Ars 220 tragoedia (von τ ρ ά γ ο ς 7 3 8 ) , Epist. 1,13,15 tribulis, Ars 52-53 triclinium139. Nicht mehr akzeptierte Etymologien sind: Epist. 1,12,7 abstemius (richtig wiederum die quidam)740, Carm. 4 , 4 , 4 1 adorea741, Sat. l,2,init ambubaiae (richtig dagegen die angeführte Deutung der nonnulli, die syrischen

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Vgl. Eutych. gramm V 455,1. Ps. Ascon. Verr. p. 226,7. Anders: Non. p. 48,21 = 69 L. Anders Isid. orig. 10,210. Πίμπλΐΐα oder Πίμπλα ist eigentlich eine κώμη in Pierien, gilt aber seit Verrius Flaccus (Paul. 212 = 235 L.) und bei jüngeren griechischen Autoren als Quelle, ebenso bei Stat. silv. 1,4,26 und 2,2,37 (s. K.-H. ad loc.). Verwirrung herrscht bei Ps.-Acro ad loc.: Pipleae Musae dictae sunt a Pipleo fonte Macedoniae vel vico, aut a monte Pipleo Orchomeniorum, aut a veste, hoc est a peplo. Cloath. ap. Geli. 16,12,4 (GRF 469,4). Eine entsprechende Deutung findet sich auch Cie. Arat. 222, Hyg. astr. 2,36 u. a., s. R. Böker, Art. Prokyon, RE 23,1 (1957), Sp. 614. Varrò ling. 6,14, Ον. fast. 3,810 (cf. trist. 4,10,13), Fest. 254f. = 394 L. (Paul Fest. 255 = 305 L.). Vgl. Serv. Aen. 10,79 legere ... unde et sacrilegi dicuntur ..., ecl. 9,21; ähnlich Non. p. 332,34 = 523 L. Varrò ling. 5,85; Dion. Hal. 2,70,4, Ον. fast. 3,387; Fest. 329 = 438 L., Plut. Num. 13,4. Etwas ausführlicher bei Char. 376,21 Β: Saturnios non nulli vocitatos existimant, quod eius temporis imperiti adhuc mortales huius modi usi versibus ... (es folgt eine Alternativdeutung). Varrò ling. 5,128 ab sedendo appellatae sedes. Für die Bedeutung sedes = segnitia bietet das OLD allerdings keine Belege. Auch K.-H. ad loc. leiten den Beinamen von Thyone her, ohne jedoch auszuschließen, daß Horaz auf die Sagenversion mit Thyone als Amme des Dionysos anspielt. DServ. Aen. 4,302 u. a. leiten Thyias von dvav her. Diom. KGL I 487,13 (ut quidam), Euanth. de com. 1,2; DServ. georg. 2,383, Exc. de com. 5,7. Isid. orig. 15,3,8. Quint, inst. 1,7,9, Gell. 10,23,1 (aus Varrò?) und Isid. orig. 10,11 bieten eine Art Kompromiß zu den beiden von Porphyrio genannten Alternativen abstinere oder temetum: abstinens a temete. Ebenso DServ. Aen. 10,677 und Prise. KGL II 372,24. Anders: Plin. nat. 18,14 und Paul. Fest. 3 u. a (s. Heraeus Ph. 1900, S. 160).

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

137

Ursprung erkannten), Carm. 4 , 1 1 , 1 4 - 1 6 Aprilis142, Sat. 1,5,78 atabulus, Sat. 1,2,2 balathro14*, ungenau: Carm. 1,18,11 Bassareus144, Sat. 1,2,44 u. Epist. 1,14,42 calo von calare bzw. kalendae (Alternative der nonnulli145), Ars 52-53 calix746, Ars. 291-2 Calpurnii141, Epist. 1,17,55 catena, vielleicht Carm. 3,12,10-11 catus14*, Ars 52-53 cucurbita, Sat. 2 , 4 , 4 3 edulis (aber mit richtiger Beziehung zu edere149), Carm. 1 , 3 3 , 2 - 3 elegus150, 151 51 Epist. 1,11,13 fiirnus , Carm. 2 , 1 3 , 2 1 furtum! , Carm. 1,12,3-4 imago (aber die Verwandtschaft mit imitari753 richtig festgestellt), Sat. 2 , 4 , 7 5 in-

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Akzeptiert von Stowasser WSt. 31,146f., jedoch abgelehnt von Walde-Hofmann. Ähnlich Fulvius und Iunius lt. Varrò ling. 6,33 (cf. Ον. fast. 4,61f., Fast. Praen. CIL I, 2 p. 235), der diese Deutung verwirft (wie Varrò deutet es Cens. 22,9f.). Also entscheidet sich Porphyrio auch hier gegen Varrò. Von Aphrodite leiten es auch Macr. Sat. 1,12,8 u. a. ab. Anders Ps.-Acro ad loc. (cf. Hör. Sat. 2,8,21). Lt. Frisk gebildet nach dem thrakischen Wort für Fuchs, βασσάρα, mit dessen Fell die Mänaden bekleidet waren. In der römischen Poesie ist das Wort übrigens nur hier belegt (s. K.-H. ad loc.). Ps.-Acro überliefert zusätzlich: vestís enim genus et usque ad pedes dimissae, dicta a Bassara, loco Lydia, ubi fit (vgl. Schol. Pers. 1,101). Wenn dieser Zusatz gleichfalls aus Porphyrio stammte, wäre seine Deutung als falsch einzuordnen. Ansonsten könnte man ihm lediglich mangelnde Genauigkeit vorwerfen. So Paul. Fest. 225 = 54 u. 251 L. Vgl. Ps.-Acro epist. 1,14,41. Varrò ling. 5,121 celibantum ... id videtur declinatum a graeco + ciliceo, apoculo cylice ... Von den Calpurniem während des letzten Jahrhunderts der Republik lancierte Namensetymologie zur Aufwertung der eigenen Genealogie, die sich offensichtlich durchgesetzt hat: Verrius Flaccus (Paul. Fest. 47 = 41 L.), vgl. Plut. Num. 21,2, Laus Pis. 15 und Ps.-Acro ad loc., s. Münzer, Art. Calpurius, RE 3,1 (1897) Sp. 1365. Varrò ling. 7,46 cata acuta: hoc enim verbo dicunt Sabini: quare "catus elius Sextus" non, ut aiunt, sapiens, sed acutus·, Varrò gibt jedoch nur eine Worterklärung und den sabinischen Ursprung an; es geht nicht klar hervor, ob er eine etymologische Verwandtschaft zwischen acutus und catus sieht (so auch Wölfflin, 1893, S. 574; das gleiche gilt für unsere Porphyriostelle). Anders Don. Andr. 855 und Serv. Aen. 1,423. Varrò ling. 6,84. Vgl. Etymologicum Magnum 326,49 (als eine Alternative). Anders Diom. KGL I 484,22, s. App. Holder, cf. Ον. Am. 3,9,3. Paul. Fest. 84 = 74 L. Anders: Isid. orig. 15,6,6. So auch Varrò apud. Gell. l,18,3f.. Non. p. 50,12 = 71 L. Mit unserer Horazstelle als Beleg (von Porphyrio abhängig?): Serv. georg. 3,407 fur autem a furvo dictus est, id est nigro; nam noctis utitur tempore. Horatius: quam paene ...; anders: Gell. 1,18,5 u. a. Paul. Fest. 112 = 99 L.

3. ΕΕΗΓΗΕΙΕ

138

cretus, Epist. 1,13,10 lama (verwechselt mit Lamia), Epist. 2,2,209 temores154, Sat. 1,2,31 made755 (aber die Verbindung zu magnus erkannt), Epist. 2,2,208-9 magus156, Epist. 2,2,13 mango151, Sat. 1,5,62 obscenus15i, Carm. 1,12,37 prodigus159, Sat. 2,7,38 renideo, Sat. 2,4,44 sapiens160, Carm. 2,11,16-17 Syria161, Epist. 2,2,163 temetum762 (davon aber richtig temulenti abgeleitet 763 ), Ars 277 tragoedia von τρύξ (Alternative der quidam164), Sat. 1,1,11 vades165, Ars 52-53 vinum166 (aber urverwandt), Epist. l,20,init. Vortumnus161.

Fazit: Verglichen mit den ca. 100 Etymologien bei Donat 768 und den etwa 1000 bei Servius 769 liegt Porphyrio, im Verhältnis zum Umfang der Scholiencorpora, etwas über Donat, aber deutlich unter Servius. Wie die in den Fußnoten aus Maltby angeführten Parallelen zeigen, sind auch die aus heutiger Sicht falschen Etymologien in der Regel keine willkürlichen Phantasieprodukte, sondern spiegeln den damaligen Wissensstand wider,

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Ähnlich Ov. fast. 5,479ff. Ebenso Paul. Fest. 125 = 112 L., Non. p. 341,35 = 539 L. u. a. Persischen Ursprung erkennen dagegen Apul. apol. 25 u. OP imperi, in Matth. 2 MPG 56 p. 637. Für nicht lateinisch hält es Sacerd. KGL VI 475,17. Ebenso Fest. 189 = 204 L. Anders: Varrò ling. 7,96, wieder anders Serv. Aen. 3,241 u. Prise. KGL II 489,11. Ebenso Isid. dif. 1,326 MPL 83 p. 43. Isid. orig. 10,240 und orig. 10,1. Am ähnlichsten ist lust. 1,2,13 Assyrii, qui postea Syri dicti sunt. Von Hier, in Is. 5,19,23 als Pars pro toto erklärt. Serv. georg. 2,465 dagegen Assyrii populi sunt adiacentes Syriae. Ebenso Don. Ter. Andr. 229, Eun. 655. Wie Paul. Fest. 365 = 500f. L., Non. p. 5,5. Z.B. der Quelle von Euanth. de com 1,2, Exc. de com. 5,7 u. Diom. KGL I 487,30. Diesen drei Autoren lagen die selben beiden Alternativen vor wie Porphyrio, also greifen wir hier offenbar eine verbreitete Kontroverse unter antiken Etymologen. Vgl. Eutych. KGL V 459,21. Ebenso Serv. georg. 2,98; anders: Varrò ling. 5,37. Allerdings wurde der Name lt. Walde-Hofmann durch lautlichen Anklang an verto angepaßt. Ähnlich wie Porphyrio deuten es Ps.-Ascon. Verr. p. 255,3 Vortumnus ... deus invertendarum rerum est, id est mercaturae. Ebensfalls von vertere, jedoch nicht speziell bezogen auf den Handel: Prop. 4,2,10, Ον. fast. 6,410, Don. Hec. 196. S. Jakobi, S. 96. S. Mustard, S. 1.

3.4. TEXNIKON : Die sprachlich-stilistische Analyse

139

abgesehen von einer zuweilen etwas unglücklichen Neigung zu lautmalerischen Deutungen (ambubaiae, balathro). An Quellen liegt Verrius Flaccus mindestens 13mal zugrunde, wie die Übereinstimmungen mit Festus (oder seinem Exzerptor Paulus) zeigen, dessen Benutzung durch Porphyrio übrigens auch Julius Romanus770 bezeugt. In drei Fällen stimmen diese Etymologien außerdem mit Varrò überein (wobei Varrò vielleicht die Quelle des Verrius Flaccus war). Gegen Verrius Flaccus entscheidet er sich Carm. 4,4,41 adorea (wie DServ. Aen. 10,677 und Prise. KGL II 372,24); Ars 471 bidental. Mit Varrò finden sich 11 Übereinstimmungen (einmal, in Carm. 4,6,28 zu Agyieus, wird er explizit als Quelle genannt). Außerdem weist Ars 220 tragoedia eine Übereinstimmung auf mit Diom. KGL I 487; hier spiegelt sich eine gängige Kontroverse, die vielleicht letztlich auf die vermutliche Quelle des Diomedespassus, auf Varros verschollenes Werk De poematis zurückgeht, evtl. durch Vermittlung Suetons. Abweichungen von Varrò findet man bei Ars 52-53 vinum (wie Serv. georg. 2,98, der diese Erklärung wohl aus Porphyrio oder der gemeinsamen Quelle Verrius Flaccus gezogen hat), Sat. 1,5,62 obscenus (mit Festus), sowie Carm. 4,11,14-16 Aprilis (mit Fulvius und Junius, deren Meinung Varrò verwirft, Ovid. fast. 4,56f. u. a.). Gemeinsamkeiten mit Ovids Fasten treten außer bei Carm. 4,11,14-16 Aprilis auf in Epist. 2,2,209 lemores; diese Ableitungen muß er nicht zwingend aus Ovid selbst gezogen haben, sie stammen wohl eher aus dessen Quelle, also Verrius Flaccus oder Varrò. Aus Cicero stammen vielleicht: Carm. 1,9,17 morosus; Carm. 3,29,18 Procyon (möglicherweise aber auch aus Hyg. astr. 2,36). Aus Plinius d. Ä., den er, wie uns im Kapitel Historikon immer wieder aufgefallen ist, häufig für Realienerklärungen heranzieht, stammt wohl Epod. 12,21 dibafus. Mit Nonius (schwer datierbar, 2.-4. Jh.) ergeben sich sechs Übereinstimmungen, aber nur zweimal, ohne daß gleichzeitig eine Gemeinsamkeit mit Varrò oder Festus nachweisbar ist (Carm. 1,9,17 morosus und Sat. 1,3,117 sacrilegus). Aus diesem Befund den Schluß zu ziehen, daß Porphyrio Nonius gekannt habe, und somit eine Frühdatierung des Nonius vorauszusetzen, ist nicht berechtigt; eher könnte unser Scholiast die beiden Etymologien in einer der verschollenen Quellen des Nonius, z.B. Verrius Flaccus, gefunden haben; bei sacrilegus legt der Horaztext sogar selbst die Etymologie nahe, und auch auf morosus könnte der Kommentator leicht von selbst gekommen sein. In Übereinstimmung mit der Communis opinio, soweit sie uns noch greifbar ist, scheint er sich zu befinden z.B. Epist. 2,2,163 temetum, Epist.

Ap. Charis. KGL I 220,28 = 285 B, vgl. Wessner 1893, S. 186.

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3. ΕΕΗΓΗΣΙΣ

2,2,185 importunus, Epist. 2,2,197 Quinquatrus (so auch in den späteren Isidor, Gloss. IV Plac.; außerdem mit Servius und Donat). Soweit die Überlieferung erkennen läßt, unternimmt Porphyrio auch Alleingänge ohne erkennbare Vorbilder in der Tradition 771 , und zwar (triviale Fälle von Dekomposition nicht berücksichtigt): richtig in Sat. 1,9,76 antestari, Ars 399 axones, Ars 113 cacchinnus, Carm. 1,7,31 iterare, Epist. 1,17,56 periscelis, Ars 471 bidental. falsch in Sat. 1,5,78 atabulus, Ars. 52-53 cucurbita, Sat. 2,4,75 incretus (wohl Porphyrios eigene Fehldeutung), Epist. 1,13,10 lama (verwechselt mit Lamia). Gegen die einzige erhaltene Quelle (abgesehen von Varrò und Verrius Flaccus) etymologisiert er: richtig: Carm. 2,11,17-8 Euhius, Sat. 1,5,46 parochus, Epod. 17,14pervicax-, falsch: Sat. l,2,init ambubaiae, Sat. 1,2,2 balathro. In Ars 471 bidental scheint er sich sogar gegen eine massive Communis opinio zu behaupten (worin ihm die Persiusscholien offenbar gefolgt sind772). Porphyrio zeigt also gegenüber den antiken Lehrmeinungungen ein nach heutiger Auffassung gesundes kritisches Urteilsvermögen, wenn man einmal absieht von seinem oben erwähnten Faible für onomatopoetische und gräzisierende Deutungen. Die Untersuchung läßt den Schluß zu, daß den etymologischen Scholien des Porphyrio-Corpus 773 mindestens zwei Handbücher zugrunde liegen, nämlich Varros De Lingua Latina und Festus, bzw. auch direkt Verrius Flaccus 774 . Dabei begnügt sich Porphyrio (bzw. sein Quellenkommentar) ebensowenig wie Donat 775 mit dem sklavischen Ausschreiben eines Handbuches, sondern er vertritt auch abweichende Meinungen.

Allerdings könnten diese Erläuterungen auch aus einer der riesigen verschollenen Passagen des Verrius Flaccus stammen. Überhaupt scheinen die Persiusscholien und Isidor auf Porphyrio zurückgegriffen zu haben (letzterer vielleicht auch auf eine gemeinsame Quelle). Petschenig 1873, S. 11. vermutet, daß Porphyrio sie einfach aus einem Quellenkommentar abgeschrieben habe. Dagegen spricht das o. a. Zeugnis des Julius Romanus, der die Benutzung des Verrius Flaccus bzw. Festus durch Porphyrio bezeugt. Wahrscheinlich stammen auch einige der anderen Etymologien aus dem vollständigen Verrius Flaccus. S. Jakobi, S. 98.

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse 3.4.2. Die partes

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orationis

Der Entwicklungsstand der Grammatik im 3. Jh. und ihr Einsatz bei Texterklärung und Spracherziehung Um die Gegebenheiten, unter denen Porphyrio arbeitet, angemessen beurteilen zu können, muß man sich den Entwicklungsstand der Grammatiktheorie im 2./3. Jh. vor Augen halten; dazu ein knapper historischer Überblick: Vor allem ist festzuhalten, daß sich die Grammatik in der Antike als Wissenschaft erst relativ spät etabliert hat und dabei ganz verschiedenartigen Einflüssen ausgesetzt war: "Les spéculations grammaticales ont été longtemps un terrain ouvert à tous et où chaque discipline spécialisée puisait pour ses besoins propres: la philosophie pour l'étude des origines du langage, la logique pour la valeur des termes et des propositions, la rhétorique à propos du correct et de l'incorrect ou à propos de l'harmonie des phrases, la critique textuelle pour l'explication raisonnée des textes anciens." 776 Zwischen diesen Disziplinen und der Grammatik blieb stets ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis 777 bestehen, das wir bei unserer Analyse immer wieder feststellen werden. Die Grammatik verdankt ihre Entstehung zumindest teilweise einer philosophischen Fragestellung, der wir schon bei der Synonymik und Etymologie begegnet sind, ob nämlich Sprache das Sein adäquat bezeichnet. Ausgehend von den Sophisten beschäftigten sich Piaton, Aristoteles und die Peripatetiker mit ihr. Die Stoiker bauten sie als Hilfswissenschaft der Dialektik zu einem System aus 778 ; hier sind besonders Chrysipp, Diogenes von Babylon und der pergamenische Homerkommentator Krates von Mallos (ca. 200-150 v. Chr.) zu nennen. Maßgebliche Impulse gingen aber auch aus von den philologischen Ansätzen (Textexegese und -emendation) der Alexandriner Aristophanes von Byzanz (257-180 v. Chr.) und besonders Aristarch von Samothrake (216-144 v. Chr.) 7 7 9 . So schreibt man den Alexandrinern lexikographisch-morphologi-

Collart, 1972, S. 237. S. W. Krause, S. 228. Die Entwicklung von Grammatik, Dialektik und Rhetorik als Teildisziplinen der stoischen Logik und ihr Verhältnis zueinander analysieren Baratin/Desbordes: L'analyse linguistique, S. 48ff., das Verhältnis von Grammatik, Rhetorik und Poetik bei Aristoteles und Dionys von Halikarnass untersuchen P. Swiggers/A. Wouters: Poetics and Grammar: From Technique to Ύίχνη, in: Greek Literary Theory S. 17-41. Zu den Ursprüngen der Grammatik bei den Stoikern s. besonders Pohlenz, Barwick (Probleme; dagegen Fehling in seiner Rezension), Frede 1977. Parallelen zwischen stoischer Sprachwissenschaft und Chomskys generativer Transformationsgrammatik zieht U. Egli: Stoic Syntax and Semantics, in: Taylor, S. 107-32. Einen Forschungsbericht über die Werke zur antiken Grammatiktheorie und Sprachphilosophie vor 1976 geben Siebenborn, S. 1-13 und A. Della Casa: Rassegna di studi sul grammatici latini (1934-84), Bolletino di studi latini 15 (1985), S. 85-113. S. dazu neuerdings W. Αχ: Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und

3. ΕΗΗΓΉΣΙΣ

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sehe Studien über Redeteile, Flexion und Analogie 780 zu, den Stoikern die Ausbildung der Termini für die grammatischen Kategorien, z.B. die Benennung der Kasus, und syntaktische Untersuchungen781. Spätestens Aristophanes von Byzanz verfolgt zusätzlich zu den deskriptiven auch die normativen Ziele der Sprachrichtigkeit

(.Héllénismes)7S2.

Die verschiedenen Ansätze vermischen sich in der für die Folgezeit bestimmenden Τέχνη des Dionysios Thrax (ca. 160-90 v. Chr.) 783 , dem ersten uns überlieferten grammatischen Handbuch. Der Aristarch-Schüler empfing bei seiner Tätigkeit auf Rhodos auch stoische Einflüsse, speziell von Diogenes von Babylon 784 . Dionysios verleiht der antiken Grammatik ihr Gepräge als "empirische Sprachnormkunde"785. Doch seine Kontamination von inhaltsbestimmter stoischer mit formbestimmter alexandrinischer Sprachbetrachtung schafft ein hybrides System, das nicht frei ist von inneren Widersprüchen786. Die genannten Strömungen, nicht zuletzt vermittelt durch Dionysios Thrax, beeinflußten auch entscheidend die Entwicklung der römischen Grammatik787, die Nettleship (1886, S. 214) als "one of the most remarkable and interesting intellectual efforts of the ancient world" bezeichnet.

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pergamenischen Philologie in: Schmitter, 1991, S. 295-301. Die wichtigsten Positionen zur Frage des grammatischen Wissensstandes bei Aristophanes von Byzanz und Aristarch referieren Ax, Aristarch, S. 98ff., der bei der Auswertung von Aristarch-Zitaten bei Apollonios Dyskolos Anzeichen für einen hohen Entwicklungsstand der aristarchischen Grammatik vorfindet, und Schenkeveld, 1990, S. 290ff. S. Job, S. 64f. Collari 1959-60, S. 272f. Αχ in: Schmitter, S. 287f. Antike Definitionen der yραμματικη/grammatica gesammelt bei Irvine, S. lOff. Auf die Frage der Echtheit der Τέχνη (m. E. wenig überzeugend bestritten z.B. von Di Benedetto, V.: Dionisio Trace e la techne a lui attributa, Annali della Scuola Normale Superiore die Pisa, CI. di Lettere, Storia i Filosofia 27 (1958), S. 169-210 und 28 (1959), 87-118, der sie außer der Einleitung für eine spätantike Kompilation hält) kann hier nicht näher eingegangen werden. Einen knappen Überblick über die wichtigsten Positionen vermittelt Ax, 1986, S. 224, Anm. 40. S. Barwick, Palaemon, S. 262f., Pohlenz, 1939, S. 156, u. a., s. den Forschungsbericht bei Siebenborn, S. 7. Latacz, S. 195. Dionysios definiert zu Beginn seiner Techne: Γραμματική έστιν έμταρία των παρά ττοιηταΐς re και ουγγραφάοιν ώς èia το πολν λεγομένων. (Zum τέχνη- bzw. é/ttfeipía-Status der antiken Grammatik neuerdings R. H. Robins: The Initial Section of the Tékhne, in: SwiggersAVouters 1996, S. 3-15). Latacz, S. 202. Art und Ausmaß der verschiedenen Komponenten sind umstritten. Eine Übersicht über die verschiedenen Entwicklungsmodelle mit ihren Abhängigkeitsverhältnissen bietet Ax, 1986, S. 244ff. (s. auch den knappen Forschungsbericht bei Schenkeveld, 1990, S. 303ff.).

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

143

Zunächst ließ es sich jedoch nur langsam an 788 . Zwar beschäftigten sich schon Accius und Lucilius mit grammatischen Fragen, doch die erste uns überlieferte systematische Arbeit ist die des hinsichtlich Eigenleistung und Qualität heftig umstrittenen M. Terentius Varrò 7 8 9 , von dem u. a. die erste lateinische Flexionslehre stammt 790 . Nach Varrò klafft (abgesehen von einigen Fragmenten) eine Lücke in der Überlieferung durch den Verlust so wichtiger Autoren wie Caesar, Nigidius Figulus, Valerius Probus, Plinius d. Ä. und besonders Remmius Palaemon, der seine heute verschollene Grammatik wohl auf die τέχνη des Dionysios Thrax gegründet hatte 791 , und auf dem die uns erhaltenen spätantiken Grammatiken wohl letztlich basieren. Die Grammatikhandbücher, die unser Kommentator benutzt haben könnte, liegen uns also nicht mehr vor. Die Überlieferung setzt, abgesehen von einigen Fragmenten, erst wieder ein mit der Grammatik des Marius Plotius Sacerdos aus dem späten 3. Jh. n. Chr., einem verstümmelt überlieferten Konglomerat verschiedener Einzeluntersuchungen 792 . Charisius, Diomedes, Donat und die anderen erhaltenen Artigraphen schreiben erst ab dem 4. Jh., greifen allerdings im wesentlichen auf frühere Quellen zurück 793 . Diese Überlieferungslage verleiht unserem Kommentar ein besonderes Gewicht als Basis für die Beurteilung des Entwicklungsstandes der Grammatik in der Zeit vor Sacerdos, den wir aus den Bemerkungen Porphyrios zu einem gewissen Teil rekonstruieren können. Einen einschneidenden Unterschied zur modernen Grammatik und ein Handicap für einen antiken Scholiasten bildet der rudimentäre Zustand der Syn-

Sueton gramm. 1 Grammatica Romae ne in usu quidem olim, nedum in honore ullo erat: rudi scilicet ac bellicosa etiam tum civitate, necdum magno opere liberalibus disciplinis vacante. Als Gründe für die dann doch gewaltige Durchsetzungskraft dieser Disziplin in Rom nennt Rawson (S. 119) u. a. das Traditionsbewußtsein der Römer und damit verbunden das Bewahren und Erklären alter Texte, sowie die Angst vor Überfremdung der Sprache durch rapiden Wandel und ausländische Einflüsse. Forschungsbericht bei Collart, J. : Varron grammairien et l'enseignement grammatical dans l'antiquité romaine 1934 - 63, Lustrum IX 1964, 213 - 241, speziell S. 230ff., Siebenborn, S. 2-12. S. D. J. Taylor: Varrò and the Origins of Latin linguistic Theory, in: Rosier, S. 37-48, S. 45. S. Barwick, Palaemon, S. 165. V. Law (An Unnoticed Late Latin Grammar: The Ars minor of Scaurus?, RhM 130 (1987), S. 67-89 vermutet in einem im Kodex der Münchener Staatsbibliothek Clm 6281, fol. 52r - 62v überlieferten Stück einer Grammatik eine Ars minor des Q. Terentius Scaurus aus dem 2. Jh., räumt aber selbst ein, daß ein schlüssiger Beweis noch aussteht. Barwicks These (Palaemon, S. 2), daß seit dem Beginn des 3. Jh.s die Entwicklung zu einem Stillstand gekommen sei, wird mit guten Argumenten angezweifelt, z.B. von E. Hovdhaugen: Genera verborum quot sunt?, in: Taylor, S. 133-47, S. 144f., der eine Entwicklung in der Frage des Genus verbi nachweist.

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3. ΕΗΗΓΗΣΙΣ

tax-Theorie 7 9 4 : "Was es bei den griechischen und römischen Grammatikern an Ansätzen zur Syntax gibt, beschränkt sich auf die Erörterung des Gebrauchs von Präpositionen, Modi und Tempora, auf Listen von Verben und Nomina mit ihren Kasus, und gelegentliche Bemerkungen zu einem ungewöhnlichen, z . B . archaischen Sprachgebrauch" 7 9 5 . Denn die Gliederung des Kernstücks der spätantiken Grammatiken erfolgte in der Regel nach den partes orationis (Wortarten) und ihren Akzidentien. Im lateinischsprachigen Bereich gab es zwar zaghafte Ansätze einer über das Wort hinausgehenden Sprachbetrachtung bei Varrò 7 9 6 und Remmius Palaemon (z.B. Anfänge einer consecutio temporum oder einer formalen Unterteilung der Konjunktionen), bzw. bei Probus 7 9 7 . Aber erst Herodian und bei Apollonios Dyskolos im 2. Jh. n. Chr.

Dieser Teil der Grammatik wurde in der Antike nicht ausgebaut, obschon die in der stoischen Dialektik gewonnenen Analysen der Aussagenlogik sehr wohl als Ausgangspunkt der Entwicklung einer Syntax hätte dienen können (s. Cherubim, S. 115). Die Gründe für das Fehlen einer systematischen Syntax untersuchen u. a. Collart 1959-60, S. 267ff., der die Ursache für diesen Mangel darin sieht, daß die Syntax durch das große Interesse an etymologischen, lexikographischen und morphologischen Fragen in den Hintergrund gedrängt wurde (wobei Flexion und Kasusrektion lediglich als Akzidentien der Lexeme beachtet wurden, s. Cherubim, S. 117). F. Charpin (La notion de phrase: l'heritage des anciens, in: Rosier, S. 57-68) hält außer der Sichtweise der phrase als Ensemble von Einzelwörtern (die jeweils eine Wiedergabe der Wirklichkeit darstellen) auch die Aufsplitterung der Sprachbetrachtung in verschiedene unintegrierte Einzelaspekte für den Grund: "Les différents éléments qui la constituent sont traités indépendamment les uns des autres comme des spécialités intéressant les pédagogues, les logiciens, les métriciens, les philosophes, les rhéteurs. Elle n'est jamais considérée comme une entité unique." (S. 68). M. Baratin (Les limites de l'analyse de l'énoncé chez les grammairiens latins, in: Rosier, S. 69-80) glaubt, es läge an der Fixierung auf den Minimalsatz aus Subjekt und Prädikat, wobei die anderen Satzteile ausschließlich durch ihr Verhältnis zu diesen beiden Hauptelementen definiert sind: "bloquée du côté de l'analyse des énoncés complexes, que la grammaire laisse tout entière aux dialecticiens, l'analyse se concentre en revanche sur le problème pronominal, c'est-à-dire sur le double problème - de la substitution d'un terme par un autre, - et de la constitution d'une éférence". Die Entwicklung rudimentärer Ansätze einer Syntax in Rom analysiert Baratin, 1989. R. W. Müller, S. 107. D. J. Taylor (Roman Language Science, in: Schmitter, 1991, S. 336) vertritt mit Hinweis auf Gell. 16,8,1-14 die These, daß Varrò eine Satzlehre in Anlehnung an die stoische Dialektik entwickelt habe, daß dieser Ansatz sich jedoch nicht habe durchsetzen können, u. a. wegen mangelnden Fachvokabulars. Doch da die betreffenden Bücher von De lingua Latina nicht überliefert sind, bleiben solche Thesen Spekulation. S. Baratin 1989.

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

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stößt man auf den Beginn einer systematischen Syntax 798 , die nicht vor dem 6. Jh. von Priscian in die lateinische Grammatik übertragen wurde 799 . Das hat zur Folge, daß unserem Kommentator viele uns so selbstverständliche Kategorien fehlen, wie Prädikativum, Acl, Ablativus absolutus, Transitivität und überhaupt eine systematische Ausarbeitung der Kasusrektion: Syntaktische Besonderheiten fallen unter die vitia (Solözismen) bzw. die virtutes orationis (σχήματα λέξίως), die in einer Grauzone zwischen Grammatik und Rhetorik liegen (s. dort). Dieser grobe Überblick über die Entwicklung hat verdeutlicht, daß die Grammatik zu Porphyrios Zeit noch in ihren Kinderschuhen steckt, so daß wir uns auf ein sehr eingeschränktes methodisches und terminologisches Rüstzeug unseres Grammatikers gefaßt machen müssen 800 . Um so interessanter wird es sein, zu verfolgen, wie sich Porphyrio bei der Erklärung komplexer sprachlicher Phänomene ohne die Unterstützung einer festen Begrifflichkeit behilft. Dabei werden wir uns im weiteren an den üblichen Aufbau des römischen Typs des Grammatikhandbuchs anlehnen. Dieser besteht spätestens seit dem ersten Jh. v. Chr. aus drei Teilen: 1. Definition der ars grammatica und ihrer Bereiche; Elemente der Sprache (vox, littera, syllaba usw.), also die Aspekte, die, wie wir gesehen haben, für die Exegeten weitgehend unter Anagnosis und Metrik fallen. 2. Lehre von den Wortarten {partes orationis) und ihren Akzidentien 3. vitia et virtutes orationis, wo die Normabweichungen zum Negativen (Barbarismen und Solözismen) oder zum Positiven (Metaplasmen, Figuren und Tropen) behandelt werden. Dieses Grundschema erfährt bei den einzelnen Grammatikern unterschiedliche Variationen 801 .

Der Ansatz zur Berücksichtigung der Zusammensetzung der Wörter bei Dionysios von Halikarnassos, Ilepi συι>τάξ(ως ονομάτων, ist nicht grammatischer, sondern ästhetischer Art (Euphonie, Erregung von Pathos u. a.). S. Baratin, 1989, S. 345. Priscian hat auch die heutige grammatische Terminologie entscheidend mitgeprägt (s. Job, S. 41). Doch erst im Mittelalter wurden erste Satzgliedbegriffe aus der Logik übernommen; im 18. Jh. wurde eine regelrechte Satzlehre entwickelt. Ihre heutige (traditionelle) Form erhielt die Syntax Anfang des 19. Jh.s (s. Eggs). Zu einigen Unterschieden in den Ansätzen und Kategorien der antiken, traditionellen und neueren Sprachwissenschaft s. die Untersuchungen D. Cherubims. Baratin (La structure ... , S. 156) behauptet, den Grammatikern zumindest seit dem 3. Jh. fehle überhaupt jegliches Interesse an einer zusammenhängenden Gliederung ihres Stoffes (S. 156). Dagegen argumentiert neuerdings Ax (Vortrag in Köln vom 29.10.97) für die geschlossen stoische Provenienz dieses dreigliedrigen Bauschemas. Law (The Mnemonic Structure of Ancient Grammatical Doctrine, in: Swiggers/Wouters 1996, S. 37-52), versucht, die Abweichungen durch die Konkurrenz zweier Ordnungskriterien zu erklären: "one content-based, founded on the form-

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3. ΕΕΗΓΗΣΙΣ

Wir folgen nun der Gliederung des zweiten und dritten Teils der Ars grammatica, wobei Regelmäßiges im Kapitel über die partes orationis, Unregelmäßigkeiten im folgenden Kapitel über die vitia und virtutes orationis behandelt werden sollen 802 . Diese Vorgehensweise vermittelt uns einen Eindruck davon, wie die verschollene Ars aussah, die Porphyrio im 3. Jh. vorlag. Neben diesem systematischen Aspekt soll nicht aus den Augen verloren werden, welche Rolle unsere vier latinitas-Kriteñen ratio, consuetude, auctoritas und vetustas im Rahmen der porphyrionischen Sprachdidaktik spielen, worauf dann am Ende des Kapitels zusammenfassend eingegangen wird. Die Redeteile und ihre Akzidentien Piaton unterschied zwei Wortklassen, όνομα und ρήμα (Gegenstand, Aussage), Aristoteles vier (zusätzlich σύνδεσμος und άρϋρον, Konjunktion und

Artikel), die Stoiker fünf (Differenzierung zwischen όνομα, Eigenname, und τροση-γορία, sonstige Nomina), später sechs (zusätzlich μβσότης, Adverb); die Alexandriner kannten schließlich acht: Außer den genannten noch προσηγορία als Unterart des Nomens und neu μετοχή (Partizip), irpôdeaiç (Präposition) und αντωνυμία (Pronomen) 8 0 3 .

Dieses System der Achtteilung setzte sich auch in den lateinischen Schulgrammatiken durch - wohl durch Remmius Palaemon, der sie im Anschluß an Dionysios Thrax festgelegt und definiert hat 804 - mit der Änderung, daß der griechische Artikel nicht übernommen und dafür die interiectio neu eingeführt wurde. Der Terminus interiectio erscheint bei Porphyrio übrigens nicht, obschon er das Phänomen selbst beschreibt, allerdings nicht als grammatische Wortart, sondern als stilistisches Mittel der Pathoszeichnung 805 . Die Ursache

meaning distinction, and the other pedagogical/mnemonic" (S. 51). Immer mit dem Vorbehalt, daß manchmal aufgrund der unpräzisen oder gar nicht vorhandenen Terminologie nicht genau abgrenzbar ist, was nach Porphyrios Sprachverständnis noch eine Variante innerhalb der Norm und was schon Figur oder Solözismus darstellt, und daß grammatische Theorie und exegetische Praxis nicht immer in Deckung gebracht werden können und der Scholiast sich den Erfordernissen des Textes anpassen muß. Zwar gab es auch Systeme mit einer größeren Anzahl von Redeteilen, diese konnten sich jedoch nicht durchsetzen. S. z.B. Dion. Hai. Comp, und Dem. 48, Quint, inst. 1,3,18-21 (s. Schenkeveld in Fond. Hardt, S. 270). S. Barwick, Palaemon, S. 243. Zur variierenden Abfolge der acht partes orationis s. Holtz, S. 64ff. Wir folgen der vermutlich älteren Reihenfolge, die auch bei Charisius und, leicht abgewandelt durch die Vertauschung von praepositio und coniunctio, auch bei Diomedes, Dositheus und Ps.-Palämon zugrunde liegt (s. Holtz, S. 67). Epod. 5,101.102 Et bene ¿ντταϋώς ... insertus est: heu. Carm. 2,19,6-7 Et bene repetitum EU HEU, quasi incitamento mentis ad hanc exclamationem instigante (s. S. 245f.).

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

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für dieses Fehlen könnte das von Sluiter, S. 188ff. dargestellte Unbehagen einiger Grammatiker, besonders stoisch orientierter, an diesem Redeteil (den die Griechen zu den Adverbien zählten) sein, der nur aus einer Lautkette besteht, die keine eigendiche Bedeutung hat, sondern lediglich einem Affekt entspringt, und der als Naturlaut (vox confusa) von der ars nicht voll erfaßt werden kann 806 .

3.4.2.1. De nomine Das Nomen, zu dem die "substantielle ... Anschauungsweise des Altertums" 807 auch unser Adjektiv rechnet, hat nach den Grammatikern folgende accidentia906, d.h. zugehörige Eigenschaften: qualitas, genus, figura (d. h. simplex oder compositum), casus und numerus8 .

De qualitate Dieses Akzidens wird grob untergliedert in Eigennamen und sonstige Nomina 810 . Aus dem zahlreichen bei den verschiedenen Grammatikern variierenden formal und inhaltlich bunt durcheinandergehenden Gewirr von weiteren Differenzierungen 811 finden wir bei Porphyrio appellano, nomen ad aliquiii, deminutivum, epitheton, principale und possesivum.

Appellatio Porphyrio verwendet diesen unpräzisen Begriff, der als t. t. vielleicht erstmals bei Verrius Flaccus nachweisbar ist 812 , ähnlich unspezifisch wie

So ist vielleicht Charisius 311, lOf. zu deuten: interiectiones sunt quae nihil docibile habent, significant tarnen adfectum animi (aus Remmius Palaemon?, s. Sluiter, S. 188, Anm. 54, die S. 190 eine andere Interpretationsmöglichkeit erwägt) ähnlich Diom. KGL I 419, vgl. Augustinus Regulae KGL V 524,8ff. interiectio non pars orationis est, sed affectio erumpentis animi in vocem (Darstellung über die antike Theorie der Interjektion Sluiter S. 173-245). Steinthal II, S. 255. Zum Begriff s. Holtz, s. 68f. S. Jeep, S. 125. Bei Donat und Consentius kommt noch die comparatio hinzu, bei Probus noch zusätzlich ordo und accentus. Z.B. Probus KGL IV,51,25ff. Qualitas nominum est, qua intelleguntur nomina qualia sunt, id est propria an appellativa. Aufgeführt bei Jeep, S. 125f. und 142ff. Paul. Fest. 171 = 176 L., s. Schreiner, S. 42, der S. 40ff. die Unbestimmtheit des Wortfeldes "Substantiv" bei Quintilian und in der lateinischen Grammatikterminolo-

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Quintilian 813 , für einen konkreten Gegenstand in Carm. 1,9,6-8: Diotam amforam dicit... ergo Graeca appellatione hoc dicitur, für den Wind ATABULUS in Sat. 1,5,78 und für die Ethnika Sardus/Sardiniensis in Sat. l,3,init. Das Wort hat bei ihm somit einen weiteren Bedeutungsumfang als bei den quidam, die Dos. KGL VII 390, 15ff. anführt, die darunter Abstrakta oder Halbabstrakta verstehen, oder als bei Terentius Scaurus (ap. Diom. KGL I 320,17ff.), der appellatio auf Bezeichnungen für Lebewesen beschränkt 814 .

Nomen ad aliquid Diesen Terminus - er entspricht dem όνομα προς τι ϊχον bei Dionysios Thrax (p. 35 U.) 8 1 5 - definiert Char. 198,2 Β: sunt quaedam nomina quae per se sine alterius partis orationis adminiculo intellegi non possunt, quae Graeci dicunt των πρός τι, id est ad aliquid, ...ut pater frater^16. iungunt enim sibi et ilia per quae intelleguntur^11. D. h. es handelt sich um Bezeichnungen für eine Sache, die wesensmäßig in einer Relation zu einer anderen steht; so impliziert z.B. die Bezeichung "Vater" oder "Bruder" stets das Verhältnis zu einem Kind oder zu Geschwistern. In Epist. 1,20,28 bietet eine Kollegiatsbeziehung unserem Grammatiker die Gelegenheit, die Schüler mit dieser Kategorie vertraut zu machen: COLLEGAM LEPIDUM QUO DUXIT LOLLIUS ] ... Etenim tarn diu quis collegam dicit, quam diu ipse collega est, propter quod hoc "nomen ad aliquid"sl& dicitur. Aber möglicherweise liegt hier eine Doppelfassung vor: Im ersten Teil der Erklärung wurde nämlich die Überlieferungsvariante DUXIT erklärt {Et DUXIT "sortitus est"...), während der zweite (tarn diu quis collegam dicit...) die Lesart DIXIT zu erklären scheint. Vielleicht ist auch eine legitur ei-Note mit dem Hinweis auf die Alternativlesart zwischen den beiden Erklärungen ausgefallen.

gie allgemein untersucht. S. Schreiner, S. 40. S. Schreiner, S. 40ff. S. Schreiner, S. 44. mater C o d d . , p a t e r konjiziert mit gutem Grund Jakobi, S. 53. Ähnlich Diom. KGL I 322,27, exc. Bob. p., 6,18 de Nonno (KGL I 536,6) u. a. (Zur Bedeutungsentwicklung s. Pohlenz, S. 185f.). Auch in Donats Terenzkommentar begegnet dieser Terminus, wo er, anders als bei P., "nicht als Selbstzweck innerhalb einer isolierten grammatischen Normierung erscheint, sondern für die exakte semantische Bestimmung (Pho. 338), die Deutung der Charaktere (Ad. 288) oder ... zum Lob des Dichters (Ad. 31) genutzt wird." (Jakobi, S. 53f.). το προς η konjiziert Meyer (1870, S.45), überflüssigerweise, denn der lateinische Begriff nomen ad aliquid ist hinlänglich belegt bei Quint, inst. 1,6,13, Exc. Bob. KGL I 536,9, Diom. KGL I 322,30 u. a. (Stellen s. Schreiner, S. 45).

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Deminutio Der Begriff deminutio ist in dieser Bedeutung bezeugt wohl seit Verrius Flaccus (Fest. 249; 296; 356), spätestens aber seit Plin. d. Ä. (dub. serm. fr. Pomp. KGL V 164,14), und auch bei Quint, inst. 1,6,4 u. 6. Die späteren Grammatiker verwenden deminutio neben deminutivum, das erst seit Plinius und nicht bei Porphyrio bezeugt ist, und hypocorismcft19. Carm. 3,12,4-5 QUALUM metonymicos pro lanificio dixit. Sed mulleres per deminutìonem vasculum hoc usurpant, quasi[i]llum dicens... Porphyrio macht hier also darauf aufmerksam, daß der Dichter nicht das von Frauen seiner Meinung nach bevorzugte Deminutiv quasillum verwendet 820 . Dieses Scholion verfolgt zwei Ziele: Erstens weist es auf einen morphologischen Sonderfall der Deminutivbildung hin 821 , zweitens bietet es einen "soziolinguistischen" Hinweis zur Ethopoiie (s. auch o. S. l l l f . ) . Das ϋνοκόρισμα822 (Epist. 1,17,3, Sat. 2,5,82 νποκορισηκώς) wird von der peripatetischen Tradition anscheinend unter die Stilmittel, die für die Erzeugung von Komik geeignet sind, gerechnet 823 , was an beiden Horazstellen passen würde.

Epitheton Mit diesem Begriff, der sich über Aristarch bis auf Aristoteles (Rhet. 3,2,9) zurückführen läßt 824 , bezeichnen die antiken Grammatiker in etwa unser Adjektiv (der Begriff adiectivum ist nicht vor dem 5. Jh. belegt 825 ), das noch nicht als eigene Wortart erkannt worden war, sondern als eine qualitas unter das Nomen subsumiert wurde, und zwar unter dessen Untergruppe der

S. Schreiner, S. 46. Allerdings ist lt. OLD das Deminutiv quasillum auch sonst recht gebräuchlich und nicht auf die Sprache von Frauen beschränkt: z.B. Cie. Phil. 3,10; Prop. 4,7,41, Paul. Fest. 47 u. a. Vgl. Prise. KGL II 115,12 hic qualus, hoc quasillum. Auch bei Dion. Thr. 25,7 und 28,6 (ϋτοκοριστικόν). In dieser Bedeutung auch Char. 1,38 Β. 42,12 u. a., Don. Ter. Andr. 710, Eun. 531 u. a. Z.B. Arist. rhet. 3,2, 1405 b 28ff., Tractatus Coislinianus. S. Schreiner, S. 47. Macr. sat. 1,4,9 adiectivum, quod Graeci tvíótrov vocant; Prise. KGL II 60,6 u.a., Serg. KGL IV 430,13 u. a. Bei Don. KGL IV 374,4 = 616,8 H. wird es mit Recht von Keil und Holtz getilgt. Die Früheren verwenden die Bezeichnung adiunetio, adiectio u. a. (s. Job, S. 88f.). Eine Übersicht über die Entwicklung dieser Begriffe gibt Schreiner, S. 47ff.

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3. ΕΕΗΓΗΣΙΣ

nomina appellativa826. Die Trennung zwischen Substantiven und Adjektiven wird erst die scholastische Grammatica speculativa vollziehen827. Im Unterschied zum modernen Begriff "Adjektiv" bezeichnet das epitheton, genau wie im heutigen Gebrauch, im Grunde eine rhetorische Kategorie, eine Form des Redeschmucks, weniger eine grammatische; das zeigen klar die Definitionen und Unterteilungen bei den Artigraphen828, wie ja das Durcheinandergehen von formalen und inhaltlichen Kriterien für die antike Grammatik infolge der Verschmelzung von alexandrinischen und pergamenischen Ansätzen überhaupt bezeichnend ist (s. o. S. 142). Man erkennt bei der semantischen Bestimmung der epitheta zwei Spannungsfelder: Das eine besteht zwischen den Polen ständige Bedeutung (perpetuimi epitheton) vs. situationsbestimmte, das andere, das im Kapitel über die Tropen untersucht werden wird, zwischen den Polen eigentliche Bedeutung (proprietas) vs. übertragene. Das epitheton perpetuum bezeichnet die bleibende Eigenschaft einer Sache oder Person: Epod. 5,15.16 ...et breves viperae perpetuo έτιϋέτω dicuntur. Sic enim sunt, Sat. 1,1,36 unpräzise zu inversum annum (vgl. K.-H. ad loc.), mit Plautus-Parallele Sat. 1,6,68-69 mala lustra, C. S. 25-27 stabilis terminus, Epod. 3,17 efficacis Herculis829, Carm. 1,34,9 bruta tellusS3°, Carm. 4,14,18 morti liberae831. Außer den beiden letzten Beispielen und Sat. 1,6,68-9 scheint es sich nicht um Epitheta constantia zu handeln. Dieser allgemeinen Bedeutung steht, wie den Homererklärern seit Aristarch bewußt ist832, die durch den Kontext gegebene situative Bedeutung gegenüber. Dieser Aspekt hat zwar keine Spuren in den theoretischen Untergliederungen der Grammatiker hinterlassen833, aber auch andere Kommenta-

826 827 828

829 830 831 832

833

S. Jeep, S. 142f. und 158f. m. Anm. 5. S. Eggs, Sp. 1066. So auch Job, S. 89. z.B. Sacerd. KGL VI 463,8 epitheton est dictiopropriis adiecta nominibus vel demonstrandi vet ornandi vel vituperandi ; anders unterscheidet Donat. ad Ter. Eun. 325 Epitheta discretionis, proprietatis, ornatus (causa). Es entspricht dem als Redeschmuck eingestuften συ-γκριτιών όνομα bei Dion. Thr. 27,3ff. Uhi ig (weitere Stellen bei Volkmann, S. 429). K.-H. bewerten dieses Epitheteon als sehr gewählt. Vgl. N.-H. ad loc.: "the word is particularly associated with the earth and things of which earth is the main element" (Belege s. d.). Die gleiche Junktur verwenden Sen. Ag. 591; Lact. mort. pers. 30,5; Prud. perist. 14,9 et passim. S. z.B. Apollon, lex. Homer, p. 161,20 Bekker φαεινή: λαμπρά, εν δε τη θ της Ίλιάδος (555) "φαεινην άμφΐ αελήνην" (ζήτησαν πώς τότε ή σελήνη δύναται φάναι [Bekker im Apparat ad loc.: immo φαεινή ficai], ore τα άστρα λαμπρά φαίνεται, bôev ò ' Αρίσταρχος τούτο λύων φησί φαεινή ν ού την τότε λαμττραν άλλα την φύσει λαμτράν ..., cf. schol. ad loc. und f 58 (s. Lehrs, S. 197). S. Lazzarini II, S. 256.

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

151

toren, wie Donat, Servius und DServius arbeiten mit dem Oppositionspaar perpetuum vs. ad tempus834. Carm. 3,27,66-67 et perpetuum [antepositum nomen] epitheton est Veneris et ad praese.itiam pertinefö5. Ridet enim, ...et quod illa irascatur, quasi vere a pecore decepta sit. Epod. 7,20 S ACER NEPOTIBUS CRUOR. ] SACER utique venerabilis nunc intellegendum, nisi forte epitheton, ut solet, ad ipsum facinus revocamus, ut "sacer cruor" pro sacra, id est execrabili, caede effuso dictum sit (für die letztere, die zutreffende, Bedeutung führt er einen Beleg aus den veteres, Verg. Aen. 3,56-57, an.); ähnlich Carm. 1,37,29-30 (hier trifft die erste Vermutung zu, die auch der paraphrasierenden Erklärung zugrunde liegt); Carm. 3,3,45 Non perpetuo epithet o[η] "horrendam Romam " dicit, sed barbaris horrendam; Epist. 1,18,47 (ähnlich, aber ohne den Terminus epitheton·. Epist. 2,1,157). Beide Verwendungsweisen sind oft Gegenstand des Lobes: Auf das Wesen des bezeichneten Gegenstandes bezogen: Carm. 1,24,7 Bonum exiderov Veritatis NUDA ideo, quia nihil occultet ac celet. Ähnlich Carm. 1,35,21, ohne Erläuterung Epod. 16,41. Auf die geschilderte Situation bezogen: Carm. 1,10,14 DIVES PRIAMUS oportuno έτιϋέτω[ν] nunc dicitur, quia tantum scilicet auri habuerit, quod filii corpus exemit. Dabei ist Porphyrio sichtlich darauf bedacht, nachzuweisen, daß die Epitheta bei Horaz eine Funktion erfüllen und nicht als willkürliche, letztlich entbehrliche Schnörkel aufgesetzt sind, wie Quintilian es den Dichtern unterstellt 836 , und wie Servius es bei Vergil festzustellen glaubt 837 . Es ist bezeichnend für die rhetorische Provenienz des Begriffs epitheton, daß er bei Porphyrio nie auftritt, wenn es um eigentlich grammatische Phänomene geht, wie die folgenden Fälle zeigen: Die Beschreibung des Phänomens der Substantivierung von Adjektiven müßte einen antiken Scholiasten, für den Substantiv und Adjektiv keine exakt getrennten Kategorien sind, eigentlich in arge Verlegenheit bringen: Doch Porphyrio behilft sich, sofern er es nicht einfach bei einer Paraphrase beläßt, mit dem Begriff absolute, der im grammatischen Kontext in einer großen Bandbreite von Bedeutungen erscheint (z.B. in der Wortbildung für ein Basis-

S. Lazzarini II, S. 256f. mit Anm. 137. Vgl. zu Carm. 1,2,33-34. Quint, inst. 8,6,40ff. Cetera iam non significant gratia, sed ad ornandam + non + augendam orationem adsumuntur. ornat enim iríótron quod rede dicimus adpositum ... Eo poetae et frequentius et liberius utuntur. Namque illis satis est convenire id verbo cui adponitur: itaque et "denies albos " et "umida vina " in his non reprehendemus; apud oratorem, nisi aliquid efficitur, redundat. Z.B. Serv. Aen. 3,691.

152

3. ΕΞΗΓΗΣΙΣ

morphem, bei der Steigerung der Adjektive für den Positiv, bei der Verbflexion für das Perfekt) 838 . Sat. 1,1,54 UT TIBI SI SIT OPUS LIQUIDI NON AMPLIUS URNA. ] LIQUIDI absolute; hoc est, aquae. Epist. 2,1,116 FABRILIA. ] Absolute-, nach antikem Verständnis liegt in unserem Fall ein appellativum vor, zu dem das zughörige nomen proprium fehlt: non enim adiecit "ferramenta" aut "opera"; ähnlich Carm. 1,29,16, Carm. 3,12,10-11, Carm. 4,4,34, Carm. 4,4,36, Sat. 1,1,106-7 RECTUM autem absolutum nomen est, (vgl. auch Don. Ad. 584). Noch komplizierter wird es beim Genitivus inversus, einem substantivierten Adjektiv mit Genitivattribut statt eines Nomens mit Adjektivattribut; auch hier zieht sich unser Grammatiker wieder mit dem grammatischen Allerweltsbegriff aus der Affäre: Carm. 4,4,75-76 absolute dicuntur ea, quae sunt in bello periculosissima (zu Sat. 2,2,25 VANIS RERUM erfolgt nur eine einfache Paraphrase). Dasselbe Adverb verwendet er auch zur Kennzeichnung des prädikativen Gebrauchs von Adjektiven: Sat. 1,1,37-38 ETILLIS UTITUR ANTE QUAESITIS SAPIENS. ] SAPIENS absolute dicitur. Est enim nomen, non participiums39, ut si diceret "caute ": non enim Ulis sapiens. Ein und derselbe Terminus, absolute, wird also dazu verwendet, um unterschiedliche grammatische Erscheinungen zu charakterisieren, für die es in der Antike noch keine eigenen Begriffe gibt, nämlich Substantivierung, prädikativen und appositionellen Gebrauch. Allerdings ist der Begriff nicht ungeschickt gewählt: Gemeinsam ist diesen Phänomenen, daß die Adjektive entgegen ihrer sonstigen Erscheinungsweise als mehr oder weniger losgelöst von ihrem Bezugswort empfunden werden (entsprechendes gilt für das Demonstrativpronomen in Sat. 1,10,16, und das Partizip in Carm. 3,23,9.10, s. u.) 840 . Da absolute bei Porphyrio nur auf diese Fälle beschränkt bleibt, läßt sich bei ihm im Vergleich zu der wenig exakten Verwendung bei anderen Grammatikern in diesem Fall eine relativ präzise und klar konturierte Begriffsverwendung feststellen.

S. ThLL I 178,78ff. S. auch unten unter De pronomine. Zu welcher Wortklasse übrigens sapiens zu rechnen sei, war überhaupt in der antiken Grammatik umstritten, s. z.B. Quint, inst. 1,4,27 quaedam participia an appellationes sint dubitari potest ...ut "tectum" et "sapiens", vgl. Don. KGL IV 374 = 617 H., Diom. KGL I 322,21. Für Porphyrio nicht ganz passend ist die Bedeutung "not needing the addition of something else", die C. H. Kneepkens (Absolutio: A Note on the History of a Grammatical Concept, in: Rosier, S. 155-69, S. 156ff.) als gemeinsamen Nenner der von ihm untersuchten Belege bei Priscian feststellt.

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

153

possessivum - principale In Carm. 4,6,12 beschreibt Porphyrie) eine figura (s. u., Figura per status bzw. per qualitates), in der Horaz das nomen principale TEUCRO statt des nomen possessivum TEUCRIO verwendet hat. Die qualitas possessiva, ein von einem nomen proprium abgeleitetes Adjektiv, ist das lateinische Gegenstück zum κτηηκόν bei Dionysios Thrax (25f. U.). Man findet es erstmals belegt bei Quint, inst. 1,5,45 841 und ansonsten auch bei Diomedes und Priscian 842 . De genere Porphyrio verwendet die Genusbezeichnungen masculinum und femininum (z.B. Epod. 10,init., Sat. 2,4,14), die seit der Zeit des Verrius Flaccus (1. Jh. n. Chr.) in Gebrauch gekommen waren und die varronischen Bezeichnungen virile und muliebre verdrängt hatten 843 (die jedoch der Archaist Gellius noch verwendet 844 ); außerdem neutrum (z.B. Carm. saec. 43-44, Sat. 2,4,73), wie Varrò ling. 8,46; 51; 9,41 u. a., anders als etwa Quintilian, der ausschließlich neutrale verwendet, das bei den späteren Grammatikern mit neutrum koexistiert 845 . Dabei gebraucht er stets den Begriff genus, nicht mehr sexus, der als grammatischer t. t. lt. Schreiner, S. 54 nach Terentius Scaurus (KGL VII 12,18) aus der Mode gekommen zu sein scheint. Andere Genera, wie commune, promiseuum oder epicoenon, fehlen, (s. im übrigen u., Figura per genera) In C. S. 43-44 nimmt er eine detailliertere Formenbestimmung vor: DATURUS PLURA RELICTIS. ] ... RELICTIS ergo a nominativo plurali846

S. Schreiner, S. 45f. Diom. KGL I 323,30ff., Prise. II 68,15ff. (s. Jeep, S. 147ff.). Varrò ling. 8,46 et pass. S. dagegen Verr. Flacc. ap. fest. 153 = 138 L. Masculina et femmina vocabula dici melius est secundum Graecorum quoque consuetudinem, qui non ανδρικά et -γυναικαα ea, sed áp δ τι δη τοπ χαριίστερον Ιδρυόησβται και προς τα υποκείμενα πρετωδίστερον, ...ei τινα πίφυκβν έξ άρρενικών yiveaôai άηλνκά ή έκ όηΧυκών àppeviKÒc ... πώς αν αμΐΐνον οχηματισόάη .... DServ. Aen. 8,641 quidam "porcam" euphoniae gratia dictant volunt. Stellenangabe bei Mastellone, Osservazioni, S. 127; vgl. Gell. 13,21,14. Systematisch behandelt bei Ps. Iul. Ruf. schem. lex. 28-31 p. 54,34ff. H., s. J. Martin, S. 296, vgl. Lausberg, S. 272f. Vgl. Serv. Aen. 11,280 "laetor" autem "malorum"figura Graeca est, sicut Horatius (Carm. 3,30,11) "agrestium regnavit p. ... " (s. auch Aen. 11,126). Zur figura Graeca bei Servius, insbesondere für Konstruktionen mit dem Genitiv, s. Uhi, S. 79ff. Die Horazstelle ist offenbar ein Standardbeispiel (s. auch Santini, S. 32).

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

185

Sat. 2,3,142 (PAUPER ... ARGENTI) ...Et hac figura dictum est qua DIVES OPUMpro "opibus" (Verg. Aen. 1,14; 2,22) 988 (wo also der Ablativ als die gebräuchliche Konstruktion vorausgesetzt wird 989 ). In Carm. 3,11,26-27 über die allerdings ganz normale Konstruktion INANE LYMPHAE DOLIUM: ... Ita autem figuravit, ut e contrario "plenum vas [...] illius rei" dicitur, ut et TERENTIUS (Hec. 823): VINI PLENUM. Einen Dativ statt eines präpositionalen Ausdrucks konstatiert er in Epod. 11,18 ... PARIBUS autem CERTAREper dativum casumfìguratum est, ut apud VERGILIUM (ecl. 5,8): TIBI CERTETAMYNTAS (Dat. incommodi). Die gleiche Erscheinung stuft er in Carm. 2,6,15-16 als Graeca figura ein 990 . Das Scholion zu Sat. 1,6,25 weist zwar eine ganz ähnliche Terminologie auf, behandelt jedoch ein Problem der Kongruenz: FIERIQUE TRIBUNO. ] Figurate per dativum casum dixit ad pronomen ταρακοΚονϋούντων

λήψεως,

vgl. 13,482. In ähnlicher

Bedeutung Philodem rhet. I,177,23ff. (als Qualität der Metapher). Dasselbe Phänomen bezeichnet Rhet. Her. 4,55,68 als demonstratio. Quint, inst. 6,2,321 nennt diese Erscheinung auch illustratio oder evidentia. Vgl. auch Cie. de orat. 3,202, orat. 139, part. 20 (s. D'Alton, S. 113f. m. Anm. 9). Cie. part. 20 Est enim plus aliquanto illustre quam illud dilucidum, s. Geigenmüller, S. 41. Ζ. B. Quint, inst. 8,3,61 plus est... quamperspicuitas, et illudpatet, hoc se quodam modo ostendit, inter ornamenta ponamus, Jul. Ruf. schem dian. 15 p. 62,29 (s. ThLL VI 565,50ff.). J. Martin, S. 252f., s. die Beispiele bei Aristot. Rhet. 1,7,1365a lOff. und Quint, inst. 8,3,64ff. In diesem Sinne auch Schol. Schol. bT II. 12,461; 15,312 (s. v. Franz, S. 25). Das Adverb energos ist in der Latinität nur bei Porphyrio belegt, s. ThLL V2 565,63ff. Die Glosse resultiert wohl aus einem Mißverständnis von Quint, inst. 8,3,89 tvtpyeia ... cuius propria sit virtus non esse quae dicuntur otiosa (s. ThLL V2 565,25f.). Das energos ist wohl auf die ganze Strophe zu beziehen, nicht nur auf den im Lemma zitierten Ausschnitt.

4. Κρίσις ποιημάτων: Die Dichterkritik

260

in Sat. 1,5,73 (energia), der imaginären Schlacht in Carm. 2,1,17 (als überzeugende Konjektur). Oder imaginierte Personen werden dem Leser vor Augen gestellt 1359 : Epist. 2,2,91 (HIC ELEGOS) ëvépyia, id est: alter, wo der Leser durch das deiktische hic auf den exemplarisch angeführten Elegiendichter wie auf eine leibhaftige Person hingewiesen wird, oder noch deutlicher in Epod. 7,15, wo der Sprecher die Reaktion seines fiktiven Publikums auf seine Rede schildert: TACENT, ET ALBUS ORA PALLOR INFICIT. ] Elegans évépytía, quasi his verbis convicti steterint, deinde conscientia sceleris palluerint. Die energia kann aber auch in der Pathoszeichnung wirksam werden, wie etwa bei der expressiven Beschreibung der bacchantischen Ekstase in Carm. 2,19,5-7 (s. o.). Außerdem wird sie manifest in "realistischen Momenten" 1 3 6 0 , wie der Liebesszene in Carm. 2,12,28 INTERDUM RAPERE OCCUPET. ] Ipsa rapere occupet, irascenti amatori iam scilicet satis facere cupiens. Et totum hoc [...] mira energia expressum esr1361. Für Gleichnisse, Bilder und Metaphern, die sonst häufig als Mittel der evipyeia genannt werden 1 3 6 2 , gebraucht Porphyrio den Terminus nicht. Ornatus Wie bei der Interpretation eines Dichters zu erwarten, gelten zahlreiche Urteile dem ornatus: Die Lehre von der Schönheit der Wörter in Klang und Bedeutung (φωνή oder δύναμις) findet sich schon bei Aristoteles, entwickelt wurde sie von Theophrast 1363 ; auch bei Krates, Eratosthenes u. a. stand die Schönheit einzelner das Gemüt besonders bewegender Wörter im Vordergrund 1364 . Trotz der großen Bedeutung der Euphonie bei Griechen wie Römern 1 3 6 5 finden wir nur einen expliziten lobenden Hinweis dieser Art bei

1359 1360

1361

1362

1363 1364 1365

S. v. Franz, S. 27. So auch in den Homerscholien ζ. B. den stoisch-pergamenischen Schol. bT II. 10,369; 16,762 (s. v. Franz, S. 26). Donat verwendet den Begriff für eine Schilderung im Praesens historicum in Ter. Hec. 174; 296; Eun. 594; für die Ethopoiie eines geschwätzigen Alten Eun. 973; und für die συντομία eines Berichtes (asyndetische Reihung) in Ph. 104.4. Bei Servius kommt er nicht vor. Ζ. B. wie bei Quint, inst. 8,3,72; 8,6,19 (Synekdoche); vgl. Rhet. Her. 4,59 (s. D'Alton, S. 113f. mit Anm.9). S. Atkins I, S. 142. S. Atkins I, S. 157. Die ästhetischen Qualitäten der Laute findet man erstmals thematisiert bei Plato Crat. 426cff. (s. Atkins I, S. 64). Bei den Römern z. B. bei Quint, inst. 12,10,27ff. (s. D'Alton, S. 88f.). Als Richtschnur für den Sprachgebrauch gilt sie Cie. orat.

4.3. Verba (Λέξις)

261

Porphyrie»: Epod. 16,48 Poetica elegantia dictum, et "levis lympha" et "crepante pede desilit", simul et sonus versus imitatur velocitatem et strepitum aquae currentis, also zur lautmalerischen Gestaltung einer Stelle 1366 . Wesentlich wichtiger bei der Beurteilung der Wortwahl ist für Porphyrio der Aspekt der δύναμις, auf die er besonders häufig in den Carmina eingeht 1367 : - Der Kommentator schätzt es, wenn profane Wörter durch poetische Periphrasen ersetzt werden: Carm. 2,5,6-7 NUNC FLUVIIS GRAVEM SOLANTIS AESTUM. ] Elegantius dici non potest, quam hoc dicitur ..., quod significai: refrigerantis; Carm. 1,24,5-6 (PERPETUUS SOPOR) Eleganter et poetice pro morte dicit\ Epist. 1,12,28 subtilitér, Epod. 17,21 eleganter, Carm. 3,13,10, Carm. 4,14,18. - Reizvoll findet er es auch, wenn bestimmte Begriffe im Text miteinander korrespondieren: Carm. 4,13,2-3 Belle illam lascivire ait, et ideo bene additum "inpudens". Sat. 1,1,66 Belle, quia SIBILATpraedixerat, PAUDO intutit, Epod. 16,50. - Das Lob kann zuweilen einen apologetischen Unterton annehmen, um einen zunächst befremdlichen oder schwerverständlichen Ausdruck durch Angabe des sachlichen Hintergrundes zu rechtfertigen, besonders bei metaphorischen Ausdrücken: Epist. 2,1,57 {DICITUR AFRANI TOGA CONVENISSE MENANDRO) Bene; togatas enim scripsit Afranius, in quibus Menandri stilum videtur imitatus. Epist. 1,1,17 Bene RIGIDUS secundum Stoicen, Epist. 2,2,45. - Gelegentlich werden gewagte grammatische Figuren herausgestellt: z. B. Carm. 1,14,7-9 DURARE AEQUOR mira figura dicitur ... - Unter den rhetorischen Figuren und Tropen schätzt Porphyrio vor allem treffende Allegorien (s. o. S. 224) 1368 , zumal wenn sie konsequent weitergeführt werden, z. B. Carm. 2,11,19 (ARDENTISFALERNI)... Et belle RESTINGUETpraeiecit, quia ARDENTIS erat subiecturus, Carm. 1,25,19 u. a., aber auch Vergleiche, z. B. Carm. 4,4,61; Sat. 1,1,54; 1,1,72; 1,7,2526 1369 , Metaphern und Metonymien: Carm. 1,10,11-12 Belle VIDUUS FARETRA pro "viduatus faretra", id estprivatus (dagegen tadelt Serv. Aen. 8,571

1366 1367 1368 1369

157: impetratum est a consuetudine ut peccare suavitatis causa liceret, vgl. Ps.Rem. Pal. KGL V 542,14ff.; Aug. KGL V 514,42ff.; s. auch Cledon. KGL V 47,16ff., Don. 627,10ff. H. u. a.; auch in der Vergilexegese des Servius ist sie wichtig, ζ. Β. Aen. 12,95 (s. Uhi, S. 202ff.). Zu den Begriffen vocalitas (im grammatischen Kontext) und άφωνία (im stilistischen Bereich) im Terenzkommentar des Donat s. Jakobi, S. 91 (dort Anm. 235 weitere Literatur zum Thema). Yg| a u c h Ps.-Acro r f z zu Sat. 2,8,78 Et notandum, quod ipso versu imitatus est sonum susurri (mit Verg. Aen. 7,634 und 5,866 als Parallelen). Zu den Epitheta s. S. 151. Zusammenstellung bei Froebel, S. 35f. Zusammenstellung bei Froebel, S. 36.

4. Κρίσις -ποιημάτων. Die Dichterkritik

262

unserere Stelle, indem er den Genusgebrauch bemäkelt: abusive et satis incongrue in genere masculino posuit). Carm. 1,2,37 LUDO belle pro: bello; hic enim videtur lusus esse Martis; Carm. 1,37,5-6; Carm. 3,16,34-35 u. a. sowie Oxymora: Carm. 1,27,11-12 Grate dictum ert "beatus pereat"...; Carm. 3,19,28 (eleganter) usw.

decorum Diese universelle Qualität beschränkt sich, wie wir bereits gesehen haben, nicht auf die Stillehre 1370 ; wir sind auf sie schon bei der Etho- und Pathopoiie (Verhältnis der Redeweise zu Persönlichkeit und Stimmungslage) und beim Aufbau (Verhältnis der Teile zum ganzen Kunstwerk 1371 ) gestoßen. Aristoteles hat anscheinend das Konzept des πρέπον erstmals intensiv auf die Literatur angewandt 1372 . Auch in Rom fand es seinen Weg von der Rhetorik in die Dichterkritik1373 und behauptet seine Stellung etwa in Horazens Ars 1374 . Der griechische Begriff πρίπον wurde lateinisch zunächst mit aptum, dann auch mit decorum wiedergegeben 1375 . Zum Wortfeld dieser wichtigsten Stiltugend1376 gehören bei Porphyrio ferner convenire/convenienter, congrue, apte, die man für πρίτον auch bei Donat 1377 und dem älteren Seneca 1378 findet, außerdem oportunus, commode und decenter. Das πρέπον kann nach Cicero die Angemessenheit des Ausdrucks für die Sache (in re, de qua agitur), für den Sprecher (in personis qui dicunt) oder für den Adressaten (qui audiunt) bezeichnen 1379 . in re\ - Für eine besonders treffende Wortwahl: Carm. 1,10,14 DIVES PRIAMUS oportuno έπιϋέτω[ν] nunc dicitur, Epist. 1,12,21 TRUCIDAS.] ... Convenit autem hoc verbum huiusmodi pulmentis. 1370

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Einen Überblick über die verschiedenen Nuancen und Anwendungsbereiche gibt D'Alton, S. 114ff. S. Arist. Poet. 1456 al4. Arist. Rhet. 3,2 und 3 1404 b3ff. und 1405 b35ff. u. a. (s. D'Alton, S. 116). Zur Bedeutung des τρίτον in der antiken Homerkritik s. Pohlenz, τρίτον, S. 113ff. S. D'Alton S. 114f. S. Pohlenz, τρίτον, S. 132ff. Vgl

Pohlenz, τρίτον, S. 107, Anni. 2.

S. ζ. Β. Cie. orat. 123; Quint, inst. 1,5,1; Dionys. Lys. (s. D'Alton, S. 114). S. Klien, S. 132. Bei diesem auch commode (s. Düntzer, S. 417f.). S. Cie. orat. 70 τρίτον appellant hoc Graeci, nos dicamus sane decorum ... quod et in re de qua agitur positum est et in personis et eorum qui dicunt et eorum qui audiunt.

4.3. Verba (Λέξις)

263

- Für eine gesuchte Formulierung (Litotes und Oxymoron): Carm. 2,1,22 Speciose ac decenter dictum PULVERE NON INDECORO SORDIDOS ... quasi pulvere bellico pulveratos. - Für passende bildhafte Ausdrücke: Carm. 3,15,6 Decens allegoria. - Besonders für deren konsequente Fortführung: Carm. 1,25,19 ARIDAS FRONDES. ] Convenientermo superiori allegoria pro vetulis mulieribus dixit, Sat. 1,7,25-26 oportune. - Eine Lebenserfahrung findet er stimmig formuliert in Epist. 1,2,59-60 QUI NON MODERABITUR IRAM, INFECTUM VOLET ESSE, DOLOR. ] Decenter paenitentiam describsit, quae sequitur iracundos. in persona, qui dicit: Epist. 2,2,192 Et congrue1381 Horatius de se loquitur, cui desit filius. Der Maßstab des decorum wird, wie oben dargestellt, implizit auch in der Etho- und Pathopoiie angelegt, einmal explizit: Carm. 1,13,6-8 Decore dictum, quia umor genarum, hoc est lacrimae, convincunt interiora pectoris [mjei1382 amore flagrare. in persona, qui audit: Dabei kann es sich um das geschickte Eingehen auf einen möglichen Einwand des fiktiven Gesprächpartners handeln: Carm. 2,4,13-14 Breviter et decenter tacite άνϋυτοφορά occurrit ... (s. S. 221), Epist. 2,2,76 Oportune, per epitropen ostendit fieri carmina Romae non posse. Eine an den Leser gerichtete Vorbeugung gegen ein mögliches Mißverständnis sieht er bei dem Namensspiel in Epist. 1,13,8 Commode ostendit non aliquo vitio hoc cognomen Vinnio contigisse, sed gentile . Häufiger lobt Porphyrio den Dichter für die Wahrung des sozialen aptum, etwa dafür, daß er für seine Meinung, daß Ruhmessucht eine Art von Besessenheit darstelle, eine höflich-humorvolle Umschreibung findet: Epist. 1,1,36 Ait inanis gloriae cupiditatem ut perniciosum vitium ex[s]piationibus quibusdam sanati posse; ... itaque decenter subicit "ter pure lecto libello"; velut ad sacrificandum ... Als subtilen Versuch indirekter Einflußnahme wertet er auch Carm. 3,27,17-18 Decenter pericula navigationis ostendit, quibus illam retineat; nam revocare non audet. Die Apostrophierung des Maecenas als iocose appelliert an dessen Sinn für Humor und stimmt ihn auf einen folgenden etwas

1380

Das Adverb findet sich in dieser Bedeutung noch bei Sen. Rhet. 7, pr. 6, Cie. Acad. 2 , 1 0 9 .

1381

Congrue im Sinne von "passend zur Person" auch bei Don. Ad. 9 3 7 , 1 . Ei konjiziert Pauly (1877, S. 30), m. E. richtig.

1382

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4. Κρίσις ποιημάτων: Die Dichterkritik

anzüglichen Scherz ein: Epod. 3,19.20 Oportune iocosum appellai, cui velit iocos suos commendatos esse vult. Der Interpret ist peinlich bemüht, den Eindruck eines moralischen oder gesellschaftlichen Anstoßes beim Publikum zu vermeiden. Folgende Interpretamente gewähren einen interessanten Einblick in die Interpretationsgrundsätze antiker Kommentatoren: Sat. 2,3,57-58 AMICA MATER, HONESTA SOROR. ] Melius est sie accipi: "amica mater", ut sit ex Graeco tractum: Φίλη μήτηρ, quam per se "amica", per se deinde "mater", quia mentionem uxoris facit in sequentibus. Um keine Taktlosigkeit in der Aufzählung des Dichters annehmen zu müssen, unterstellt Porphyrio hier also die Verwendung eines Gräzismus (s. auch S. 103) 1383 . In Epod. l.init. vergewaltigt der Scholiast lieber die syntaktische Konstruktion, als daß er seinem Dichter einen Verstoß gegen das τρίτον zutraut: (IBIS LIBURNIS INTER ALTA ΝAVIUM, /AMICE, PROPUGNACULA, PARATUS ONME CAESARIS PERICULUM / SUBIRE, MAECENAS, TUO) Non videtur verecundiae Horati convenire, ut amicum se Maecenatis dicat, cum clientem debeat dicere. Numquid ergo sic ordinanda frasis est, ut "amice Caesaris " intellegamus, et ideo bis "Caesaris " accipiendum erit, ut sit tale ... Man sieht, wie bemüht der Kommentator ist, den Dichter in Einklang zu bringen mit den geltenden Anstandsregeln der Gesellschaft 1384 , deren Vermittlung offenbar ein wichtiges Anliegen auch in Porphyrios Grammatikunterricht darstellt. Solche Kritik an Verstößen von Dichtern gegen das τρίτον in Gestalt konventioneller Verhaltensnormen war durchaus gängig. Versuche wie die des Porphyrio, durch Manipulation der Texte (hier mit Mitteln der διαστολή) die Dichtung in Einklang zu bringen mit dem eigenen Gefühl für Schicklichkeit, erinnert an die von der Forschung lange dem Zenodot unterstellte Methode im Umgang mit dem Homertext 1385 . Eine solche Überschätzung des τρίτον finden wir aber auch in der lateinischen Scholienliteratur; so überliefert Donat

Eine ähnliche Bemühung zu vermeiden, daß der Dichter moralisch in ein ungünstiges Licht rückt, haben wir bereits in Sat. 1,6,113-4 feststellen können. "The grammarian's instruction was shaped at least as much by social as by intellectual considerations, and the grammarian himself was embedded in a social system where what mattered were wealth, distinction, an eloquence amid a population vastly poor, anonymous, and illiterate; ... Whatever its other shortcomings, the grammarian's school did one thing superbly, providing the language and mores through which a social and political elite recognized its members. " (Kaster, Guardians, S. 13f.). Eine Ehrenrettung des Alexandriners unternimmt Κ. Nickau: Untersuchungen zur textkritischen Methode des Zenodotos von Ephesos, Berlin/New York 1977, S. 183ff.

4.3. Verba

(Λέξις)

265

derartige Kritik des Valerius Probus an Terenz, jedoch nicht ohne seinen Dichter dagegen in Schutz zu nehmen 1 3 8 6 , und auch bei Servius finden wir sie bezeugt 1 3 8 7 .

brevitas Diesem vor allem von den Stoikern propagierten Stilideal neigen Horaz selbst und der für den Zeitgeschmack richtungweisende M. Cornelius Fronto sehr z u 1 3 8 8 , und auch Porphyrio weiß sie zu schätzen: Carm. 2 , 4 , 1 3 - 1 4 Breviter et decenter tacite άνΰυτοφορφ occurrit... ; Epist. 1,3,4 AN FRETA VICINAS INTER CORRENTIA TURRIS. ] Presse1389 "inter currentia turres Erus et Leandri". Zuweilen wird auf einen prägnanten Ausdruck, έμφασις, hingewiesen, ein Mittel der brevitas1390: Carm. 4 , 1 3 , 2 8 DILAPSAM IN CIÑERES FACEM. ] Ένφατικώς illam ut Amoris facem dilapsam ait in ciñeres et consumptam refrixisseim. Durch Konjektur: Carm. 4 , 1 2 , 3 . 4 IAM NEC PRATA RIGENT NEC FLUVII STREPUNT HIBERNA NI VE TURGIDI. ] Atqui veris tempore

1386 1387

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Zu Ter. Phor. 1005, vgl. Andr. 921 (s. Kroll, Studien S. 132). Z. B. Servius Aen. 4,163 DARDANIUS NEPOS VENERIS quidam indecenter dictum volunt, ut Venus avia sit. Ein zu unserem Fall ganz analoges Beispiel, nämlich der Versuch, einen moralischen Anstoß durch die distinctio zu umgehen, liegt vor bei Serv. 6,123 MAGNUM QUID MEMOREM ALCIDEN? melius sie distinguitur, licet quidam legant ... sed melius est "magnum " dare Herculi, quam sacrilego (s. Lazzarini II, S. 251). Horaz Sat. 1,10,9 est brevitate opus ut currat sententia neu se / inpediat verbis lassas onerantibus auris, Fronto Epist. ad Anton. Imp. 1,2,6 p. 89 van den Hout Deinde ita breviter rem omnem atque ita valide elocutus es, ut paucissimis verbis omnia quae res posceret contineretur (s. Marache, S. 121). Rhetorischer Terminus, s. OLD s. v.: "In a concise or restrained style" auch bei Cie. Brut. 201, Orat. 26 u. a., Quint, inst. 8,3,40, Suet. Rhet. 25 (p. 121 R). 1390 Quint, inst. 8,3,83 definiert sie als altiorempraebens intellectum quam quem verba per se ipsa declarant. Eius duae sunt species: altera quae plus significat quam dicit, altera quae etiam id quod non dicit\ in diesem Sinne auch bei Servius, ζ. Β. Aen. 2,643, Donat Andr. 384 u. a. (zum Bedeutungsspektrum des Begriffs in den griechischen τίχνοα s. Neuschäfer, S. 225 ff.) - Bei Hieronymus und Donat können die termini cum ίμφάοίΐ, ίμφαηκώς u. ä. auch Arten der pronuntiatio bezeichnen, also in den Bereich der ύπόκρισις gehören, ζ. B. Hier, in Is. ll,39,3f. CC 73 p. 435, Donat Ad. 214.4. Weitere Beispiele s. Lammert, S. 15f. Diese Beispiele gehen offenbar von der bei Quint, inst. 8,3,85 näher beschriebenen zweiten Spielart aus, die durch die Betonung beim Vortrag verdeutlicht werden muß: positum in voce aut omnino subpressa aut etiam abscisa, während Porphyrio nur auf die erste Art eingeht. Von Bildern wird er Begriff auch häufig in den bT-Scholien gebraucht, z. B. II. 15,624, s. v. Franz, S. 29f. u. 33.

266

4. Κρίσις ποιημάτων: Die Dichterkritik

intumescere flumina incipiunt: nisi κατά ίμφασιν1392 adultum iam veris tempus vult intellegi, quo[n]iam nix omnis elapsa est. Hier klärt der Scholiast eine vermeintliche sachliche Ungenauigkeit durch Annahme einer emphasis. Man sieht, wie übergründlich er hier den Gedankenverlauf nachvollzieht und auf inhaltliche Stimmigkeit achtet 1393 . Ahnlich scheint auch die Bezeichnung sígnate gemeint zu sein, nämlich im Sinne von "prägnant, pointiert und anschaulich" 1394 : Sat. 1,1,1 Signate1395 autem locutus est dicens: ratio dederit, fors obiecerit, Epist. 1,16,52 Sígnate locutus est; primum non "timent peccare", sed "oderunt", deinde non "metu poeriarum", "amore virtutis", Epod. 8,9-10 ET FEMUR TUMENT1BUS EXILE SURIS ADDITUM. 7 ... Sed et illud sígnate quod ADDITUM dixerit, quasi non convenienter in hac diversitate tumoris et exilitatis.

4.4. Negativkritik? Bei aller Hochachtung, die den großen Dichtern in der Antike entgegengebracht wurde, mangelte es nicht an Kritikern, die versuchten, die Werke zu demontieren und den Poeten Unfähigkeit nachzuweisen. Sprichwörtlich wurde Zoilos, dem sein Werk Κατά της Όμηρου τοιήσεως den Beinamen Homeromastix eintrug. Diese Polemik fand in Rom ihre Entsprechung in den Aeneomastiges 1396 ; solche Angriffe riefen aber bald Verteidiger auf den Plan, etwa Asconius Pedianus, der eine Schrift Contra obtrectatores Vergilii verfaßte 1397 . Andererseits mangelte es nicht an maßvoller und differenzierter Dichterkritik. So warnt Quintilian inst. 10,l,24f. davor, die großen Autoren allzu unkritisch nachzuahmen, da auch sie vor Fehlern nicht gefeit seien: summi enim sunt, homines tarnen.

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So Holder mit Petschenig für das mehrheitlich überlieferte nisi cala lenis, wie auch Cod. C (s. Hunter Jones, S. 91), wohl zu Recht. Pauly, 1876, S. 67 konjiziert nisi quis ut Helenius. Den gleichen etwas beckmesserischen Erklärungstyp hat Bachmann, S. 50 auch in den Adnot. Luc. festgestellt: zu 1,183 IAM GELIDAS CAESAR CURSU SUPERAVERATALPES bemerkt der Scholiast: cursu posuit ad ¿νφασιν, cum vix in Alpibus ambuletur. Lt. Forcellini ist sígnate in dieser Bedeutung (evidenter, significanter, con evidenza) belegt seit Gellius, ζ. B. 2,6,6 qui proprie et sígnate loculi sunt. Außerdem bei Macrob. Sat. 6,7,9; Augustinus Civ. 14,8, p. 17,27 Dombart-Kalb. Lt. MountfordSchultz kommt sígnate nicht bei Donat vor, aber dreimal bei Servius (Aen. 7,299; 359; 509). AHκτικώς konjizieren Pauly 1876, S 8f. und Wessner 1893, S. 164. Ζ. B. Vipsanius Agrippa GRF 570 und 573f. Fun., s. Sueton, Vita Vergilii, p. 65f. R. S. Atkins II, S. 171.

4.4. Negativkritik?

267

So wurde denn auch Horaz in Rom nicht kritiklos bewundert: Quintilian lobt ihn zwar, zeigt jedoch gewisse Vorbehalte gegen ihn und die Lyriker allgemein (offenbar aber nicht so sehr aus ästhetischen wie aus pädagogischen Gründen 1 3 9 8 ). Aus dem 2. und 3. Jh. sind uns nur wenige Äußerungen über den Dichter überliefert, und diese sind, anders als noch im 1. Jh., sehr zurückhaltend 1 3 9 9 , was darauf schließen läßt, daß das Interesse an unserem Dichter zur Zeit des Porphyrio etwas nachgelassen hatte. Tadel an Horaz richtet sich bei Porphyrio ausschließlich auf sprachliche und stilistische Auffälligkeiten. Dieser Bereich der Dichterkritik steht im Grammatikunterricht unter dem Vorzeichen der imitatio, erfolgt also im Rahmen der rhetorischen Propädeutik 1 4 0 0 und gehört ursprünglich mehr ins Gebiet der Rhetorik als der Grammatik 1 4 0 1 . Bei den Artigraphen entsprechen den vier (bzw. fünf) rhetorischen Stiltugenden ebensoviele Fehler, die sich aus deren Mißachtung ergeben 1 4 0 2 . Einige dieser vitia haben eine Zwitterstellung: Sie können auch als rhetorische

9

Quint, inst. 1,8,6 nam et Graeci interpretan.

1399 1400 1401 140

-

licenter

multa et Horatium

in quibusdam

nolim

S. Froebel, S. 32f. S. Holtz, S. 163f. S. Barwick, Palaemon, S. 257. Diomedes geht wie Quint, inst. 1,5,1 von drei vitia aus, denen er verschiedene Unterarten zuordnet: KGL I 4 4 9 Vitia orationis generalia sunt tria, obscurum inornatum barbarum. obscuritatis species sunt octo, acyrologia pleonasmos perissologia macrologia amphibolia tautologia ellipsis aenigma. inornatae orationis species sunt quinqué, tapinosis aeschrologia cacemphaton cacozelia cacosyntheton\ es fehlen also die Verstöße gegen das aptum, das Quintilian, wie oben ausgeführt, der Dreizahl zuliebe dem ornatus unterordnet. Die stoische Lehre, mit deren Terminologie sich Porphyrio in diesem Punkt wohl weniger berührt, unterscheidet (abgesehen von den Verstößen gegen die latinitas) die vitia dicendi άαάφαα, amphibolia (als Verstöße gegen die σαφηρΗα/perspicuitas). άκυρολο-γία, μ α κ ρ ο λ ο γ ί α (als Vergehen gegen die brevitas), κακοσυνόίσία (ein Teilaspekt des κόσμος!ornatus), ά-πρί-παα (Verstoß gegen das decorum). Dieses stoische Grundmuster vermutet Barwick, Palaemon S. 99, auch hinter der Einteilung der cetera vitia bei Donat KGL IV 3 9 4 = 658ff. H. und Charisius KGL I 2 7 0 = 356 B.: acyrologia, cacemphaton und cacosyntheton als Verstoß gegen die (ύσυνϋίσία; pleonasmos, perissologia, macrologia und tautologia als Mangel an συντομία, eclipsis und tapinosis gegen die (ύπρέτεια; Holtz, S. 7 2 schließt sich dieser These an. Neumann dagegen versucht (S. 16), diese vitia unter die drei Stilqualitäten bei Quintilian inst. 1,5,1 (oratio emendata, dilucida, ornata) zu subsumieren. Quint, inst. 8 , 3 , 4 4 f f . führt unter den vitia auf: tXXei^iç, τ α υ τ ο λ ο γ ί α , όμοίίδαα, μακροΧο-γίοί, -π\ΐονασμόζ, irtpitpyía, κακόζηΚον, àvoiκονομητός, άσχημάτιστον, κακοοννόίτον und σαρδισμός, also eine weitestgehend andersartige Begrifflichkeit, als sie uns bei Porphyrio begegnet.

268

4 . Κρίσις

ποιημάτων:

Die Dichterkritik

Stilmittel gelten (wie auch die ellipsis, die im Kapitel über die rhetorischen Schemata behandelt wurde), gemäß Quintilians Grundsatz (inst. 8,3,58) totidem autem generibus corrumpitur oratio quoi ornatur. Denn das strikte Befolgen der Norm wird üblicherweise als reizlos empfunden 1403 ; gezielte Verstöße dagegen bilden gleichsam die Würze, wobei es allerdings auf die richtige Anwendung und Dosierung ankommt.

Obscuritas (amphibolia, ambiguitas): Verstoß gegen die perspicuitas Diese Doppeldeutigkeit von Fehler und Vorzug läßt sich besonders gut im Fall der amphibolia beobachten, einer Unterart der obscuritas, die bei den meisten Artigraphen als Vitium1404 eingeordnet wird, bei Tryphon dagegen als Tropus 1 4 0 5 . Der Rhetor Fortunatian 1406 unterscheidet fünf Ursachen, durch die Unklarheit entstehen kann: per discretum sive indiscretum modo obscuro (Mehrdeutigkeit der Formen), per homonymian, per distinctionem (syntaktische Bezüge), per abundantiam und per deficientiam1407. Letztere entspricht der Ellipse, die wir bereits unter den Figuren behandelt haben. Diese Formen treffen wir auch bei Porphyrio an: per indiscretum: Carm. 1,14,12 SILVAE FILIA NOBILIS. ] , an TU NOBILIS αμφιβολία per casus. Aus Gründen der stilistischen Ausgewogenheit ist die erste Möglichkeit die bessere. Aber dieses ästhetische Kriterium scheint, wie wir bereits S. 27f. feststellen mußten, für Porphyrio keine Bedeutung zu haben. Carm. 1,6,7 NEC CURSUS DUPLICIS PER MARE U. ] Amfibolum; nam et DUPLICIS ULIXI intellegi potest, quod significai "callidi", potest et DUPLICIS CURSUS per accusativum pluralem accipii40s, id est: itus ac reditus\ zutreffend ist wohl eher das erste 1409 . Man erkennt die Schwierigkeit, Epitheta korrekt zuzuordnen. (Häufiger werden einfach ohne weiteren Kommentar die möglichen Deutungsalternativen angeführt: z. B. Carm. 2,7,6-7).

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S. Plin. epist. 9,26,1 Nihil peccai, nisi quod nihil peccai. Ζ. Β. Quint, inst. 8,2,16; 9,4,32, Donat. IV 395 f = 660 Η. X r y p h o n m ρ 203 Sp. (s. W. G. Rutherford, S. 296). Fortun. rhet. 1,24 p. 99 H. Anders etwa Cie. part. 19 ...fit... obscurum autem aut longitudine aut contractione orationis aut ambiguitate aut inflexione atque immutatione verborum. ßupUces überliefern Ε σχ Γ ν, s. Apparat b. Klingner. So auch K.-H. ad v. 5 und N.-H.

4.4. Negativkritik?

269

per homonymian: Carm. 3,27,73 UXOR INVICTIIOVIS ESSE NESCIS. ] Ambiguum, utrumhoc dicat "nescis te coniugem Iovis esse", an vero "nescis te gerere coniugem Iovis", ut si dicas "nescis esse consul" (esse als Kopula oder prägnant gebraucht als Verbum substantivum, wobei die erste Vermutung zutrifft). Eine Mehrdeutigkeit in der Tempusstufe deutet er vielleicht allzu spitzfindig: Epist. 1,14,36 Videtur amfibolon "lus[s]isse": utrum olim etiam nunc? tarnen modum1410 ludo ponendum esse credamus? per distinctionem: Epod. 14,7-8 (DEUS DEUS NAM ME VETAT / INCEPTOS OLIM PROMISSUM CARMEN IAMBOS / AD UMB1L1CUM ADDUCERE) Utrum "olim promissum" an "olim inceptos", ambiguum es?1411, Carm. 3,13,2-3 Amfibolon (Beziehung von non sine floribus auf donaberis oder adnominal auf haedo), Sat. 2,4,43 Et est amphibolia, Sat. 2,1,48 Amfibolice posuit (mit einer prosopographischen Erläuterung als Entscheidungshilfe), Carm. 1,14,10 Non ΓΓΕRUMPRESSA, sedITERUM VOCES.... Amfìbolos, Carm. 1,26,11-12 Άμφίβολον. Sed sic intellegendum: ..., Carm. 1,35,38-40; Epod. 5,69.70 1NDORMIT UNCTIS OMNIUM CUBILIBUS OBLIVIONE PAELICUM. ] Obscura elocutio, quae sic ordinando est: ... (durch die verschränkte Wortstellung ist der Bezug von omnium paelicum nicht eindeutig). per abundantiam : In Epod. 1,5 moniert der Grammatiker die asyndetische Epanalepse von si: QUID NOS, QUIBUS TE VITA SI SUPERSTITE IUCUNDA, SI CONTRA, GRAVIS? ] Bis posuit particulam "si", sed semel abundat1412, und er läßt eine Anweisung folgen, wie Horaz diesen Sachverhalt korrekt hätte ausdrücken müssen: Melius enim sic loquereturl4li : quibus te superstite vita iueunda est, si contra sit, gravis est. Ergo verbum extrinsecus hic aeeipiendum ... "sit", ut plena fiat eloquutio.

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So konjiziert Zwierlein für überliefertes utrum olim &iam nunc tarnen modum ...; Holders Textrekonstruktion ist wohl nicht zutreffend. Brink 1982, S. 49f. geht auf Porphyrios Bemerkung ein, gibt aber der Alternative olim promissum den Vorzug. Aber vielleicht sollte man doch mit Porphyrio eine àvò KoicoO-Beziehung annehmen. Scholiendes abundat-Typs sind bei Servius häufig, z. B. Aen. 1,3 (s. Kaster 1980, S. 232); in Donats Terenzkommentar sind sie, sofern sie nicht verstümmelt sind, meist mit Deutungen als Mittel der Ethopoiie verbunden (s. Jakobi, S. 122). In ähnlicher Weise rügt auch Servius den Sprachgebrauch Vergils Aen. 10,526 melius diceret und 5,376 melius dixisset, jedoch führt Servius metrischen Zwang als Entschuldigung an (s. Uhi, S. 280).

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4. Κρίσις ποιημάτων: Die Dichterkritik

In Epod. 11,15-16 Confundit lectorem varíelas elocutionis. Ab obliqua oratione enim transit ad rectam führt ein Übermaß nach Porphyrios Einschätzung an variatio zum Mangel an perspicuitas für den jugendlichen Leser. Porphryio stellt bei seinem Dichter also recht oft Formen der obscuritas fest, ganz im Gegensatz zu Sueton, der sie gerade nicht für eine Eigenschaft des Horaz sondern, im Gegenteil, für ein Erkennungsmerkmal gefälschter Schriften hält 1414 ; die Verständnisschwierigkeiten scheinen also in der Zeit zwischen Sueton und Porphyrio bereits deutlich zugenommen zu haben, besonders was das Erkennen der syntaktischen Konstruktionen betrifft. Es ist, wie bereits betont, zu beachten, daß Dunkelheit des Ausdrucks nicht per se einen Fehler darstellt; sie kann auch als gezielt eingesetztes künstlerisches Stilmittel Gegenstand der Bewunderung sein 1415 : So vielleicht in Carm. 3,20,6-8, wo die Formulierung Obscuravit elocutionem1416 eine Intention des Horaz unterstellt. Eindeutiger würdigt er z. B. das Spiel mit einem Homonym: Sat. 1,4,49-50 Bellam obscuritatem adfectavit "nepos filius" dicendo, sed "nepos" hic "vorax atque prodigas" intellegendus, ähnlich Sat. 1,1,16, Sat. 1,4,49-50, Carm. 2,8,15-16. Auch versteckte Ironie wird geschätzt: Epod. 17,46 Urbanissime obscura dicitur ironia ..., ebenso die Vermischung von Fiktion und Realität: Sat. 1,10,36 Et belle "iugulai Memnona" dilogos1417 ait. Nam sub ea specie quasi dicat "dum describit, quem ad modum Memnon iuguletur", intellegi vult ab ipso potius iugulari, dum male scripsit. Aber auch die Vermittlung einer Weisheit in Gleichnissen: Carm. 2,9,1-2 (NON SEMPER IMBRES) Latens sensus in hac eloquutione, oder die indirekt formulierte Schmeichelei in Carm. 1,12,50-52 zu TU SECUNDO CAESARE REGNES: Quasi occultus sensus. Hoc autem dicit: Ita régnés, ut neminem secundum abs te velis esse quam Caesarem finden zweifelsfrei seine Billigung. In Epist. 1,17,25 benutzt Porphyrio das άπαξ Xeyößevov Ένι-γματοποιeía 1 4 1 8 für die Antonymie QUEM DUPLICI PANNO PATI ENTI A VELAT.

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Suet. Vita Hor. nam elegí volgares, epistula etiam obscura, quo vitio minime tenebatur (sc. Horatius). So auch Don. Ter. Andr. 955.3 eleganter lusit ad amphiboliam. Die gleiche Junktur verwendet Donat Ter. Hec. 309.2 Adiciendo "causa " obscuravit elocutionem suam, mit dem entschuldigenden Zusatz sed convenit servo haec humilitas orationis. Dilogos ist im Lateinischen nur bei Porphyrio belegt (s. ThLL VI 1185,54ff ). Weder ThLL noch LSJ bieten Belege. - Αϊηγμα τρόπος konjiziert Petschenig 1876, S. 730.

4.4. Negativkritik?

271

Beim άίνί-γμα handelt es sich eigentlich um ein vitium1*19, aber manche Grammatiker ordnen es auch als Tropus ein 1 4 2 0 . Mehrdeutigkeit ist also nicht unbedingt ein Fehler, jedenfalls dann, wenn sie auf inhaltlicher und nicht auf grammatischer Ebene angesiedelt ist. Die darauf abzielenden Bemerkungen des Scholiasten müssen also, wie auch Kroll vermutet 1 4 2 1 , nicht unbedingt als Tadel am Dichter gewertet werden, sondern können auch als pädagogische Hinweise auf Schwierigkeiten für den Schüler intendiert sein, verbunden mit einer Warnung, daß es sich um keine übliche (und somit nachahmenswerte) Ausdrucksweise handelt.

Verstöße gegen das decorum Das soziale aptum im Verhältnis zwischen dem Dichter und seinem Adressaten thematisiert Porphyrio in Sat. 1,1,88-89 ... Et hoc videlicet de asino proverbium aut proverbiale esse, quia infacetum atque inurbanum erit, si putemus illud ad praesens a poeta fictum esse. Um einem etwas rüden Vergleich, der weniger witzig als beleidigend anmutet, die Härte zu nehmen, nimmt Porphyrio mit Recht den Bezug auf ein Sprichwort an 1 4 2 2 , das somit geradezu in den Rang einer auctoritas erhoben wird und die Ermahnung aus dem Bereich eines persönlichen Angriffs in den Rang einer allgemeinen Wahrheit erhebt. Man erkennt wieder, wie sensibel der Pädagoge auf Verstöße gegen den guten gesellschaftlichen Ton reagiert. Hinsichtlich des inneren aptum zwischen Sache und Ausdruck meldet Porphyrio in folgenden Scholien Bedenken an: - In Carm. 1,17,19-20 kritisiert er vorsichtig ein in der Tat sehr kühnes Epitheton, mit dessen Verständnis er sich begreiflicherweise schwer tut: VITREAM CIRCEN parum decore mihi videtur dixisse, pro candida1423. - In Sat. 1,4,88 mißdeutet er den Ausdruck aquampraebere als Synekdoche für pascere (s. S. 235) und stellt in höflicher Formulierung seine Berechtigung in Frage: Sed videamus, an commoda Synekdoche sit "aquam praebere" dicere

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Ζ. Β. Cie. orat. 3,167, Tryph. trop. III, p. 193,14 Sp. (der sie aber unter den Tropen aufführt); ebenso die meisten Grammatiker (s. Lausberg, § 1238). Quint, inst. 8,6,52 definiert es als allegoria obscurior (s. Lausb. § 899). Z. B. Diom. KGL I 462,18 und Donat 672,1 Off. H. (s. P. E. Meyer, S. 27, vgl. auch J. Martin, S. 262.). Kroll, Studien, S. 137, Anm. 40. Zu derartigen Interpretamenten in der EuripidesExegese, s. Elsperger, S. 84. S. K.-H. ad loc.

Ps.-Acro ad loc. aut pulchram aut procurato lucente nitore aut mari vicinam. Die modernen Kommentatoren sind sich uneinig, ob sie das Adjektiv auf das schillernde und zugleich gleisnerische Wesen der Zauberin oder auf ihre Nähe zum Meer beziehen sollen (s. N.-H. und Romano ad loc.).

4. Κρίσις

272

ποιημάτων:

Die Dichterkritik

pro "pascere", wohl in Unkenntnis des Brauches, daß der Wirt seinen Gästen vor dem Essen Wasser zum Händewaschen (nicht zum Trinken, wie unser Kommentator es aufzufassen scheint) reicht (s. K.-H. ad loc.) - Behutsam formuliert er auch die Frage nach der Angemessenheit einer Metapher in Sat. 1,3,98 Nondum video, quomodo utilitatem iusti et aequi matrem rede dixerit.

Verstöße gegen den ornatus Das Nichtbeachten des aptum bei der Anwendung des ornatus führt zu Fehlern. Diese können in einem Zuwenig bestehen, in der ταττάνωσις, bei der Ausdrücke gesetzt werden, die hinter der erforderlichen Stilebene zurückbleiben, oder in einem Zuviel, der κακοξηλία, die den ornatus übertreibt. Tapinosis Die ταπείνωσις ist eine fehlerhafte Übertreibung der ù