Hölderlin und das Theater: Produktion – Rezeption – Transformation [Supplement ed.] 3110583321, 9783110583328

„Der Tod des Empedokles", „Ödipus der Tyrann" und „Antigonä" gehören heute unstreitig zum Theaterrepertoi

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Hölderlin und das Theater: Produktion – Rezeption – Transformation [Supplement ed.]
 3110583321, 9783110583328

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis und -nachweis
Einführung
1. Antik-moderne Dramatik. Hölderlins Theaterprojekte um 1800
2. Bühnenferne Überwinterung. Hölderlins Theater bis zur Jahrhundertwende
3. Ein Theaterjahrhundert. Hölderlin im Drama und auf der Bühne von den Uraufführungen bis zur Gegenwart
Verzeichnis der verwendeten Literatur
Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen
Namensregister

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Marco Castellari Hölderlin und das Theater

Philologus

Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption / A Journal for Ancient Literature and its Reception

Supplemente / Supplementary Volumes Herausgegeben von / Edited by Sabine Föllinger, Therese Fuhrer, Tobias Reinhardt, Jan Stenger, Martin Vöhler

Volume 10

Marco Castellari

Hölderlin und das Theater Produktion – Rezeption – Transformation

Bearbeitete Fassung der vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommenen Dissertation (Tag der Disputation: 15. Februar 2016)

ISBN 978-3-11-058332-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058471-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-058337-3 ISSN 2199-0255 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

| Wer verleiht den Werken Dauer? Die dann leben werden. (Bertolt Brecht)

Danksagung Vorliegende Untersuchung ist das Ergebnis langjähriger Forschung und hat einen wichtigen Abschnitt meines Lebens begleitet. Entstanden ist sie in unterschiedlichen Kontexten und Zeiten und durch den Beistand mehrerer Institutionen und Menschen, denen ich mich zu Dank verpflichtet fühle. Sie geht ideell auf eine noch frühere Begegnung mit Friedrich Hölderlin und der deutschen Literatur zurück, die aus einer Mischung aus Zufall und Fügung erfolgte. Diese Begegnung führte zuerst zu einer tief empfundenen Neigung, bald danach zu einer Studienwahl und schließlich sogar zur Berufswahl – es sei deshalb von dieser Geschichte ausgegangen, bei der es Menschen zu danken ist, denen ich in großer Zuneigung verbunden bin. Wegen Hölderlin habe ich vor einem Vierteljahrhundert als junger Gymnasiast, der ich eigentlich ‚meiner‘ verehrten Dichter Dante und Petrarca, Tasso und Leopardi zuliebe italienische Philologie studieren wollte, es mir doch anders überlegt und ein Germanistik-Studium aufgenommen. Meine Italienisch- und Latein-Lehrerin Isabella Pancheri war daran doppelt schuld; es sei ihr also doppelt gedankt, dass sie erstens uns allen die Liebe zur Literatur einflößte, ohne bei unseren philologischen Tauchgängen in die Texte das Wissen um ihren historischen Kontext zu vernachlässigen, und mir zweitens im letzten Schuljahr ein Buch schenkte. Es war eine Anthologie europäischer Dichtung, die auch Hölderlins Gedicht Diotima (Komm und besänftige mir...) in zweisprachiger Fassung enthielt. Ich lernte damals Deutsch und konnte durch ständigen Blick in die Übersetzung und nicht ohne Adoleszenz-Pathetik die schmerzvolle Gewalt jener Sprache gerade erst erahnen – von da an ließ mich Hölderlin nicht mehr los. Ich kam also an die Mailänder Germanistik (Università degli Studi di Milano) und konnte meine Deutsch-Kenntnisse verbessern, viele andere deutschsprachige Autoren lesen und ein germanistisches Instrumentarium erwerben sowie, aus Pflicht und Neigung, Anglistik und Skandinavistik als weitere fremdsprachliche Philologien studieren und andere literatur- und geisteswissenschaftliche Ergänzungskurse belegen. Ein zweiter Hölderlin war zwischen Eispol und afrikanischen Dürren zwar nicht zu finden; Hölderlin selbst war auch kaum präsent in Vorlesungen und Seminaren; zum Glück konnte ich aber großartigen Lehrenden begegnen, die mich in meiner ‚deutschen‘ Liebe bekräftigten oder aber Eskapaden in andere literarische Gefilde ermöglichten. Erinnert sei hier an die echt weltliterarischen Kurse von Esther Menascé, die nur aus understatement als englische Literatur betitelt waren und uns auf die Gipfel und in die Abgründe des Menschlichen führten; an die unvergesslichen Reisen in Dantes Unter-, Neben- und Überwelten mit Giuliana Nuvoli, die mich einmal mit feinem Spürsinn und lächelndem Wohlgefallen bei meiner Hölderlin-Anhänglichkeit ertappte; an die Goethe- und Brecht-Veranstaltungen bei Bruna Bianchi, deren ekstatische Beschwörung dichterischer Wahlverwandtschaften und Vergnügungen gerade in hermeneutischer Exaktheit unschlagbar war. Diese Jahre des Studiums in

VIII | Danksagung

Mailand, im Laufe derer ich wunderbare Freundschaften schloss, die bis heute andauern – mit Andrea, Betta, Chiara, Chiara, Claudia, Giuliana, Josefin, Massimo, Renata, Stefania und anderen –, waren so schön, dass man zum Verweilen bei den literarischen und personellen Freuden und zum Aufschieben des Abschlusses neigte. Als es dann doch zur Auswahl eines Themas und eines Professors für die Magisterarbeit kommen musste, ging ich zielsicher und mit Hölderlin-Gedanken zu Fausto Cercignani, wem sonst. Das nüchterne, legendär strenge Naturell des Philologen und Lyrikers, der für uns alle vom ersten Semester an die Germanistik in Person darstellte und, wie ich wusste, in einem frühen Buch den Hölderlin-Spuren in Trakls Dichtung nachgegangen war, erschien mir wohl als ein Gegenmittel zu meiner in manchem ungeregelten Arbeitsweise, die auch am ziemlich lässigen Umgehen mit den Fristen des Studiums zum Vorschein kam; da ich zudem ein Jahr lang als Fremdsprachenassistent für Italienisch an einem deutschen Gymnasium arbeitete und dann den italienischen Zivildienst zu absolvieren hatte, war ein Ende meiner Tage an der Universität nicht so richtig abzusehen. Bei Fausto, wie ich ihn bald nach Ende des Studiums nennen durfte, habe ich sehr viel gelernt, nicht nur bei der der Magisterarbeit, die dann tatsächlich Hölderlin, dem Hyperion und dessen Forschungsgeschichte galt. Ihm gilt an dieser Stelle mein tiefster Dank dafür, dass er jene Hölderlin-Arbeit als Zeichen von literaturwissenschaftlichem Talent wertete, mich zur Überarbeitung mit dem Ziel einer Buchpublikation ermunterte, diese auch bald ermöglichte und mich daraufhin in meiner wissenschaftlichen Laufbahn mit Rat und Tat unterstützte. Vorliegende Untersuchung würde ohne seinen Beistand überhaupt nicht existieren, denn gerade im Rahmen eines Forschungsstipendiums an seinem Lehrstuhl entwickelte ich die Idee, über die Hölderlin-Rezeption im Theater zu arbeiten, konnte eine Forschungsreise nach Berlin antreten und im Brecht-Archiv und in der Staatsbibliothek jener Idee deutlichere Konturen geben, was zur Publikation einiger Vorstudien führte. Mit Berlin ist das Stichwort genannt, mit dem der Vorhang über den hauptsächlich in Mailand spielenden Hölderlin-Prolog fällt und die ‚wirkliche‘ Geschichte dieser Untersuchung beginnt. Während ich es nämlich bis zur einer Stelle als Ricercatore für neuere deutsche Literatur an der Heimatuniversität brachte, auch Hölderlin-ferne Gebiete erforschte und didaktische Verpflichtungen wahrnahm, konnte ich in meinen weiterhin häufigen Forschungsaufenthalten in Deutschland weiter am Thema „Hölderlin und das Theater“ arbeiten, bis die richtige Gelegenheit kam, daraus ein Dissertationsprojekt an der Freien Universität Berlin zu machen. In Martin Vöhler, den ich bei einer Tagung der Hölderlin-Gesellschaft kennenlernte, fand ich den denkbar besten Doktorvater, denn neben seinen wissenschaftlichen Kompetenzen in den Schwerpunkten meines Projektes, der gedanklichen Gewandtheit und der Schärfe seines Urteils konnte ich bei ihm auf ermunternde Kraft bzw. beschwichtigende Milde zählen, sowie nicht zuletzt auf große Toleranz im Umgang mit meinem notgedrungen unebenen Schreibrhythmus. Ihm gilt für die lange Betreuung, die stete Unterstüt-

Danksagung | IX

zung, die Vernetzung mit den Zentren der Hölderlin-Forschung und für die vielen erhellenden Gespräche mein aufrichtiger Dank; ebenso für die Verbesserungsvorschläge im Erstgutachten und im Laufe der Überarbeitung für die Publikation. Ihm und den weiteren Philologus-Herausgebern danke ich dafür, dass sie nun an diesem herausragenden Ort, der Supplement-Reihe der angesehenen Zeitschrift, erscheinen kann. Zu Dank verpflichtet bin ich darüber hinaus der Zweitgutachterin Yvonne Wübben und den weiteren Kommissionsmitgliedern der Berliner Disputation vom 15. Februar 2016 für ihre Hinweise und Ratschläge: Anke Bennholdt-Thomsen, Hans Richard Brittnacher, Elisabeth Paefgen und Anita Runge. Der Freien Universität Berlin bin ich auch sehr dankbar wie auch den hilfsbereiten Mitarbeitern weiterer Berliner Institutionen, von der Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz über das Archiv der Akademie der Künste bis zu den Universitätsbibliotheken. Neben Berlin konnte ich in diesen Jahren auch andernorts in Deutschland entscheidende Erfahrungen machen, die in dieser Arbeit ihre Spuren hinterlassen haben. Der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen bin ich nicht nur dafür zu Dank verpflichtet, dass ich auf vielen ihrer Jahrestagungen große Inspiration aus Vorträgen, Arbeitsgruppen und Gesprächen mit anderen Mitgliedern sammeln konnte, sondern auch für die mich zutiefst ehrende Einladung ins Hölderlin-Haus in Bad Homburg vor der Höhe, wo ich einen Forschungsaufenthalt verbringen, einen Vortrag zur Empedokles-Rezeption halten und dank der Handbibliothek im Haus und gezielter Besuche in der nahen Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main grundlegende Vorarbeiten leisten konnte. Ebenso entscheidend für das Entstehen dieser Untersuchung waren drei Reisen nach Stuttgart, um im Hölderlin-Archiv bei der Württembergischen Landesbibliothek Inszenierungsdokumentationen zu sichten – für ihre Hilfsbereitschaft sei dessen wechselnden Leitern und Mitarbeiterinnen herzlich gedankt. Mein Doppelleben ging währenddessen natürlich weiter, denn der Vagant zwischen glückselig Suevien, Hessen und Preußen wurde in der Lombarda drüben öfters erwartet. Dafür, dass diese Lehr- und Wanderjahre zwischen Deutschland und Italien nicht nur möglich, sondern auch erfreulich waren, danke ich den Lehrenden und Studierenden der Universität Mailand, besonders aber meiner großen und bunten Familie. Zumindest ein Bruchteil meiner Leidenschaft für die deutsche Kultur, manchmal sogar meiner Hölderlin-Liebe, mit den Besuchern meiner Literatur- und Theaterkurse, den Diplomanden und Doktoranden teilen zu dürfen und in der Aula, im Parkett oder bei der Betreuung von Abschlussarbeiten über Texte, Laute und Bilder zu sprechen, zu streiten oder Übereinstimmung zu erzielen – das ist unbezahlbar. Es seien dann jene Kollegen und Kolleginnen der Germanistik und des „Lingue e Letterature Straniere“-Departments erwähnt, die mich in meinen Hölderlin- und TheaterLeidenschaften auf je eigene Weise begleitet und unterstützt haben: Ich denke in erster Linie an Gabriella Rovagnati, die mir Bühnenwelten eröffnet hat, und an all jene, die mich in der einen oder anderen glücklichen Zusammenarbeit in Didaktik oder

X | Danksagung

Forschung, bei einem schönen Gespräch, durch einen Buch- oder Inszenierungshinweis bereichert haben. Namentlich genannt seien darunter Karin Birge GilardoniBüch und Klaus Ruch, die sowohl die Dissertation als auch vorliegende Überarbeitung revidiert haben – keine einfachen ‚Korrekturleser‘, zu meinem Glück, sondern Mitdenker und Ringer um den richtigen Ausdruck. Allen Kollegen und Kolleginnen und der Università degli Studi di Milano als Institution sei nicht zuletzt dafür gedankt, dass ich 2014 für ein Forschungsjahr freigestellt werden konnte. In jenem Jahr, als ich die Arbeit entscheidend voranbringen konnte, brauchte ich nicht einmal meine Freunde und meine Familie zu vermissen, wie überhaupt während aller Aufenthalte in Deutschland, denn durch Besuche, Telefonate und Heimatfahrten gab es immer wieder die Möglichkeit, Nähe zu schaffen – und wenn es nicht klappte, so waren wir in Gedanken und Herzen einander nie fern. Das Schöne an Bindungen ist auch, dass man über (Wahl-)Verwandtschaft an den Mühen und Freuden des Anderen teilnimmt, ohne deren Gegenstand genau kennen zu müssen – so wurde „Hölderlin“ (wie viele andere) zu einem Begriff für Partner, Eltern, Bluts- und Seelenschwestern, -Neffen und -Nichten, die ihn manchmal flüchtig, meist überhaupt nicht kannten, es sei denn, von oder wegen mir. Die Liebe hat viele Namen und den vielen geliebten Menschen danke ich hier herzlich – einfach dafür, dass sie da sind: Mamma Graziella, Paola, Emanuela, Ilaria, Laura, Adriano, Mattia, Arianna, Simone, Luca, Marco, Lorenzo, Marina und Finn. Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken an Giorgio Castellari (1938-2010). Der zärtliche Vater und unermüdliche Arbeiter für den Familienunterhalt und die Zukunft seiner vier Kinder, dem eine langsame und grausame Krankheit die Freuden des Lebens eine nach der anderen entrissen hat, hat mich durch sein Beispiel gelehrt, dass nicht Herkunft, Vermögen oder Wissen, sondern Liebe, Würde und Treue zu sich selbst einen Menschen machen – und zwar jeden Tag und nicht ohne Mühe. Wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn mit Stock und Hut auf einem Stein sitzen, unter ihm stürzt forsch ein Bergbach das Tal hinunter, um ihn herum funkeln die Gipfel seiner lieben Dolomiten. Seine Augen schauen mit Stolz auf den zurückgelegten Weg – und auf den Sohn, der ihn mit ihm hinaufgestiegen ist. Mailand/Berlin, im Oktober 2017

Inhaltsverzeichnis Danksagung | VII Abbildungsverzeichnis und -nachweis | XIV Einführung | 1 1 1.0 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.2.3 2.1.3 2.1.3.1 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2

Antik-moderne Dramatik. Hölderlins Theaterprojekte um 1800 | 7 Einführung | 7 Hölderlins Begegnung mit dem antiken und dem modernen Theater | 12 Hölderlins antik-modernes Theater I: Das Empedokles-Projekt | 19 Krise und Experiment | 37 Hölderlins antik-modernes Theater II: Das Sophokles-Projekt | 49 Bühnenferne Überwinterung. Hölderlins Theater bis zur Jahrhundertwende | 67 Die Sophokles-Übersetzungen 1804–1904. Geschichte eines Verschwindens? | 67 Wegrezensiert. Tadel und Hohn in den zeitgenössischen Besprechungen | 70 Zwischen Genie und Wahnsinn. Die Rezeption zu Lebzeiten | 76 „Weil er nie ein leeres Wort geschrieben“. Achim von Arnim und Hölderlins Sophokles | 84 „Er muß die Sprache geküsst haben“. Bettina Brentanos Hölderlinvariationen. | 88 In hora mortis. Hölderlins Sophokles in den 1840er Jahren | 99 Die Verschollenen. Hölderlins Ödipus und Antigone im späten 19. Jahrhundert | 107 Zweimal Dilthey. Oder: Hölderlin und die „Entdeckung“ des Rhythmus | 111 „Worte [...] wie antike Bronzen“. Ernst Hardt und Hölderlin | 117 Lyrisches Lesedrama schlechthin? Der Tod des Empedokles bis um 1900 | 132 Der Tod des Empedokles im frühen und mittleren 19. Jahrhundert | 133 „Titanengröße“. Achim von Arnims Vollendungsplan zwischen Empedokles und Hölderlin | 144 Empedokles-Faszinationen im mittleren 19. Jahrhundert. Ein Über- und Seitenblick auf die europäische Literaturen | 150

XII | Inhaltsverzeichnis

2.2.2 2.2.3 2.2.3.1

3

„Der reine tragische Mensch“. Friedrich Nietzsche, Hölderlin und Empedokles | 155 Auf Nietzsches Spuren. Der Tod des Empedokles um 1900 | 178 „Hölderlin war der Griechischste“. Empedokles-Konjunkturen zwischen Hofmannsthal und Pannwitz | 183

Ein Theaterjahrhundert. Hölderlin im Drama und auf der Bühne von den Uraufführungen bis zur Gegenwart | 199 3.0 Einführung | 199 3.1 Renaissance entre-deux-guerres? Von den Uraufführungen bis zum NS-Theater | 201 3.1.1 Rhythmus üben und Schwung holen. Vorbereitungen eines Auftritts | 201 3.1.1.1 „Trümmer eines antiken Tempels“. Wilhelm von Scholz und seine Empedokles-Bearbeitung | 204 3.1.1.2 Sprache und Rhythmus bei Norbert von Hellingrath | 211 3.1.1.3 Aktualität von Hölderlins Sophokles zwischen ‚Renaissance‘ und Expressionismus  | 217 3.1.1.3.1 Wilhelm Michel | 217 3.1.1.3.2 Walter Benjamin | 220 3.1.1.3.3 Walter Hasenclever | 223 3.1.1.3.4 Albert Ehrenstein | 228 3.1.2 Die Uraufführungen und die Bühnenpräsenz von Hölderlins Theatertexten in der Weimarer Republik | 230 3.1.2.1 Der Tod des Empedokles auf der Bühne 1916–1926 | 230 3.1.2.2 Antigone und Ödipus auf der Bühne 1919–1924 | 243 3.1.3 Hölderlin und das NS-Theater | 254 3.1.3.1 Das Theater ‚unterm Hakenkreuz‘ und die Hölderlin-Rezeption 1933–45 | 254 3.1.3.2 Sinnstifter des Untergangs. Empedokles-Bearbeitungen und Inszenierungen 1938-1944 | 270 3.1.3.3 Kriegstragödien? Die Sophokles-Übersetzungen auf der Bühne 1940–1944 | 286 3.2 Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 296 3.2.1 Berichtigung alter und neuer Mythen: Bertolt Brechts Antigone (1948) | 296 3.2.1.1 Annäherungsversuche und Distanzbekundungen. Brecht und Hölderlin im Exil | 303 3.2.1.2 „Antigone mit Verfremdungseffekt“. Hölderlin-Zitat, -Variation und -Imitation in Brechts Bearbeitung | 312 3.2.1.3 Modell antik-moderner Transformation | 327 3.2.2 Museum der Worte. Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 338

Inhaltsverzeichnis | XIII

3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.3

3.2.4

3.2.5 3.2.5.1

3.2.5.2

3.2.5.2.1 3.2.5.2.2 3.2.5.2.3 3.2.5.3

3.2.5.4 3.2.5.4.1 3.2.5.4.2 3.2.6 3.3

Hölderlins Sophokles-Übersetzungen im Intendantentheater (1945–1969) | 349 Kontinuitäten. Der Tod des Empedokles auf der Bühne 1945–1969 | 375 Minimalismus der Transformation, Verhandlungen mit dem Modell. Heiner Müllers Ödipus, Tyrann (1967) zwischen Hölderlin und Brecht | 384 „Ein Stück aus dem Gegenwärtigen“. Subjektive Aktualisierungen im Dichterdrama am Vorbild des Empedokles: Peter Weiss’ Hölderlin (1971) | 408 Fragmente politischer Biographien. Hölderlin im Theater der 1970–80er Jahre | 428 Internationale Vorspiele und gesamtdeutsche Kontexte. DDR-Rezeption zwischen Drama, Hörspiel und Theater (Hermlin, Braun, Müller, Saeger) | 428 „Alles ist offen. Das ist Hölderlin. Nichts Geschlossenes“. Klaus Michael Grübers Hölderlin-Lektüren und das Theater der 1970er Jahre | 447 Vorspiele in und außerhalb Deutschland | 447 Grüber I: Empedokles. Hölderlin Lesen (1975) | 450 Grüber II: Winterreise. Hyperion und Hölderlin im Olympiastadion (1977) | 460 Auf Grübers Spuren, international und intermedial. Der Tod des Empedokles bis Ende der 1980er Jahre in Theater und Film zwischen Italien, Frankreich und Deutschland | 464 Nach Hölderlin, nach Brecht, nach Müller. Sophokles-Aktualisierungen im Regietheater | 475 Ödipus-Inszenierungen 1973–1988 | 480 Antigone zwischen ‚deutschem Herbst‘ und ‚Wende‘ | 487 Postdramatische Fuge. Elfriede Jelineks Wolken.Heim. (1988) | 508 Hölderlin im zeitgenössischen Theater. Ausblick und Schluss | 522

Verzeichnis der verwendeten Literatur | 531 Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen | 561 Namensregister | 569

Abbildungsverzeichnis und -nachweis Abb. 1: Der Tod des Empedokles (Stuttgart 1916). Regie: W. v. Scholz | 203 Abb. 2: Der Tod des Empedokles (Frankfurt a.M. 1920). Regie: R. Weichert | 235 Abb. 3: Der Tod des Empedokles (Darmstadt 1926). Regie: E. Legal | 238 Abb. 4: Der Tod des Empedokles (Leipzig 1938). Regie: P. Smolny | 270 Abb. 5: König Oidipus (Leipzig 1941). Regie: P. Smolny | 288 Abb. 6: Antigonä (Wien 1940). Regie: L. Müthel | 293 Abb. 7: Die Antigone des Sophokles (Chur 1948). Regie: B. Brecht und C. Neher | 327 Abb. 8: Ödipus, Tyrann (Berlin/Ost 1967). Regie: B. Besson | 396 Abb. 9: Hölderlin (Stuttgart 1971). Regie: P. Palitzsch | 419 Abb. 10: Empedokles. Hölderlin lesen (Berlin/West 1975). Regie: K.M. Grüber | 456 Abb. 11: Der Tod des Empedokles (Düsseldorf 1990). Regie: H. Heyme | 473 Abb. 12: Antigone (Bremen 1979). Regie: E. Wendt | 491 Abb. 13: Antigone (Bad Hersfeld 1989). Regie: E. Selge | 506 Abb. 14: Wolken.Heim. (Bonn 1988). Regie: H. Hoffer | 521 Die Abbildungen stammen aus der Inszenierungsdokumentation des Hölderlin-Archivs (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart; Ztg.7a, 7b, 7g), dem für die Reproduktionsgenehmigung zu danken ist. Der Autor hat sich bemüht, die Rechtsinhaber der einzelnen Abbildungen ausfindig zu machen. Nicht in allen Fällen ist das gelungen. Der Autor ist bereit, eventuell bestehende Ansprüche angemessen zu entgelten. Abb. 1: Bühnenfotografie (k.A.) Abb. 2: Bühnenbildentwurf von L. Sievert (k.A.) Abb. 3: Bühnenfotografie (k.A.) Abb. 4: H. Jungbauer als Empedokles. Fotografie: © Hoenisch Abb. 5: Bühnenbildentwurf von H. Helmdach (k.A.) Abb. 6: H. Pistorius als Antigone. Fotografie: © Dietrich & co. Abb. 7: Bühnenbildentwurf von C. Neher (k.A.) Abb. 8: F. Düren als Ödipus, L. Tempelhof als Jokaste. Fotografie: © E. Kemlein Abb. 9: Inszenierungsplakat (k.A.) Abb. 10: B. Ganz als Empedokles, H. Diehl als Pausanias (k.A.) Abb. 11: K. H. Russius als Hermokrates. Fotografie: © Bermbach/Rothweiler Abb. 12: M. Krauel als Antigone. Fotografie: © M. Redl-von Peinen Abb. 13: F. Walser als Antigone. Fotografie (k.A.) Abb. 14: Wir-Darsteller. Fotografie: © S. Odry

Einführung Vorliegende Arbeit hat sich die Aufgabe gesetzt, die erste monographische Rekonstruktion der Produktion, Rezeption und Transformation von Hölderlins tragischen Bruchstücken zu Empedokles und seinen Sophokles-Übersetzungen fürs bzw. im Theater zu erstellen sowie die Präsenz Hölderlins und seiner Texte im Theater der letzten hundert Jahre zu ergründen. Ausgehend von der Entstehung und partiellen Veröffentlichung der Empedokles- und Sophokles-Projekte um 1800 (Teil I) kommt die Untersuchung über die mehr als hundert Jahre währende produktive Wirkung bei einzelnen Dichtern und Dichterinnen, Philosophen und Interpreten (Teil II) zur der auf den Spuren der sogenannten Hölderlin-Renaissance erfolgten Ankunft auf der Bühne. Anschließend wird die Zeit der vielen dramatischen und szenischen Aneignungen und Aktualisierungen, Hommagen und teilweise auch Verzerrungen zwischen den Uraufführungen von Der Tod des Empedokles (1916), Antigone (1919) und Ödipus der Tyrann (1921) und dem heutigen Rezeptionsstatus unter die Lupe genommen, wobei der Schwerpunkt auf dem ‚kurzen 20. Jahrhundert‘ liegt (Teil III). Die drei Teile der Arbeit sind tendenziell chronologisch strukturiert. Trotz der ausgiebigen Forschung zu Hölderlins Theatertexten erschien es in Teil I erforderlich, ihre Voraussetzungen, Kontexte, Beschaffenheit und Bestimmung erneut zu behandeln, und zwar in recht traditioneller, werkgeschichtlicher Manier. Diese Vorgehensweise dient nicht nur dem Zweck, die Grundlagen für die darauffolgenden rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktionen zu schaffen und dem dramen- bzw. theaterhistorisch und -wissenschaftlich versierten Leser, dem die weiteren Teile der Arbeit eher vertraut sein mögen, Einsicht in die Modernität von Hölderlins tragischen Entwürfen und Übertragungen zu geben. Sie versucht auch, methodisch aus der Not eine Tugend zu machen. Die hochspezialisierte Hölderlin-Forschung wird in diesem Sinne als ausgezeichnete Basis für eine Spurensuche in Hölderlins Schaffen genommen, bei der seine ‚dichterisch-denkerische‘ Werkstatt durchforscht wird, um bisher unberücksichtigt gebliebene oder aus andersartigen Perspektiven beleuchtete Aussagen, Projekte und Schreibpraxen rund um Drama und Theater auszuwerten. Dabei wird sich zeigen, dass seine Entwürfe im Rahmen eines Umdenkens der Antike-Moderne-Frage keineswegs als Lesedramen oder gar antikische Exerzitien konzipiert waren. Neben der von der Forschung extensiv aufgezeigten Funktion als grundlegende Etappen in der Entwicklung von Hölderlins Dichten und Denken im Spannungsfeld von Poesie, Religion, Philosophie und Politik können sie als Versuche verstanden werden, auf zeitgenössische literarische Diskurse und Bühnenkontexte einzuwirken – auch in dem Sinne, dass Hölderlin seine Theatertexte auf eine Inszenierung hin geschrieben hat. Auf diese für die Ausführungen in Teil I zentrale These wird in den Teilen II und III der Arbeit oft rückblickend verwiesen, wenn sich im weiteren Verlauf zeigt, wie die theatralische Beschaffenheit von Hölderlins Projekten im Rahmen produktiver Rezeption Früchte getragen hat. https://doi.org/10.1515/9783110584714-001

2 | Einführung

Unterschiedliche Behandlung erfahren dann die rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktionen zum Empedokles und zu den Sophokles-Übersetzungen in Teil II und in Teil III. Im ‚langen 19. Jahrhundert‘ ragen wenige gewichtige Einzelfälle enthusiastischer und tiefgründiger Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinem (dramatischen) Werk heraus. Einige der markantesten Rezeptionsbeispiele gehören allein einem der beiden Stränge an: Etwa die Hölderlin- und Empedokles-Faszination bei Nietzsche, die sich bezeichnenderweise in Unkenntnis von Hölderlins SophoklesÜbersetzungen und -Anmerkungen und damit von seinem ausgereiftesten antik-modernen Projekt entwickelt. Oder umgekehrt der Fall Bettina Brentano, deren Begeisterung für Hölderlins Sprachrhythmus in eine ansatzweise produktive Transformation der Ödipus-Übersetzung mündete, während die Empedokles-Bruchstücke bei ihr kaum eine Rolle spielen. Es erschien daher ratsam, die beiden Rezeptionsgeschichten separat zu verfolgen, respektive in 2.1 die der Sophokles-Übersetzungen und in 2.2 die der Empedokles-Bruchstücke. Dadurch soll trotz der aufschlussreichen, hier und da aufscheinenden Permeabilität beider Rezeptionsstränge insbesondere die editionshistorisch sowie kulturgeschichtlich signifikante parallele Entwicklung beider Erscheinungen zum Vorschein kommen. Auf die Figuren, die in beiden Strängen vorkommen (wie beispielsweise Achim von Arnim in der produktiven, Wilhelm Dilthey in der kritischen Rezeption), wird der Leser durch Querverweise aufmerksam gemacht. Wie in der ganzen Arbeit wird auch in jedem Teil und Unterteil thematische Kohäsion und Vollständigkeit angestrebt; einzelne Wiederholungen lassen sich daher kaum vermeiden, werden allerdings auf das Nötigste beschränkt. Neben der Einbettung der Argumentation in die allgemeine Hölderlin-Rezeption verfolgen spezielle Vertiefungen die Frage, wie sich einzelne Autoren mit den dramatischen Texten des Dichters auseinandergesetzt oder sie bearbeitet und transformiert haben. Diese Einzeluntersuchungen, die berühmte (etwa Friedrich Nietzsche) oder beinahe vergessene (Ernst Hardt z.B.) Akteure der Hölderlin-Rezeption betreffen, ergeben eindeutig, dass das hartnäckige Forschungsvorurteil über den im 19. Jahrhundert ‚vergessenen‘ Dichter definitiv zu revidieren ist. Die Ermittlung bisher unbekannter oder unerkannter Rezeptionsfälle sowie über Jahrzehnte hinweg fortlebender Begriffsfiliationen (etwa ‚Rhythmus‘ von Bettina Brentano bis Dilthey und weiter bis weit nach 1900) zeigt, inwieweit nicht nur die theatralische, sondern die gesamte ‚Hölderlin-Renaissance‘ um Norbert von Hellingrath herum ihre Wurzeln tief im vorigen Jahrhundert hat. Für diesen literatur- und kulturwissenschaftlich bzw. -geschichtlich ausgerichteten Teil II wurden dichterische und essayistische Quellen erschlossen; zentral für die Interpretation produktiver Transformationen war dabei methodologisch ein über Werner Frick an Gérard Genette anknüpfender Intertextualitätsbegriff (Frick 1998, insb. 28–36). Die hypertextuellen Praktiken, die der französische Forscher vornehmlich für Narrative herausgearbeitet hatte, werden auf den Spuren Fricks (bei ihm: Intertextualität) auf Dramatik und insbesondere auf Tragödienbearbeitungen adaptiert; auf ihn geht auch der Terminus Transformation zurück. Auf Fricks Spuren und über ihn hinaus wird diese Begrifflichkeit zusätzlich erweitert, denn sie wird sowohl

Einführung | 3

auf innerliterarische intertextuelle Transformationen zweiten Grades, typischerweise in unserem Fall auf Bearbeitungen von Übersetzungen antiker Tragödien, und auf Bearbeitungen von modernen Antikendramen, hier also des Empedokles, appliziert. In Anlehnung an den englischen Ausdruck adoption (Hutcheon 2006) und an den Gebrauch in der deutschen Theaterwissenschaft (Balme 1999, 82–95) wird die Umsetzung des dramatischen Textes im Rahmen einer Inszenierung als Teil eines intermedialen Transformationsprozesses verstanden. Damit sind die Phänomene genannt, die für Hölderlins Theatertexte erst in der Zeit auftreten, die in Teil III dieser Untersuchung behandelt werden. Dort kommt zu der literarischen und kulturellen Rezeption die Wirkung Hölderlins auf der Bühne hinzu, die sich vornehmlich nach 1945 typologisch, international und intermedial verzweigt. Dieser letzte Teil ist deshalb so strukturiert, dass die einzelnen Rezeptionsepochen gesondert behandelt werden und erst innerhalb dieser historischen Kontexte zwischen der Bühnenwirkung des Empedokles und der Sophokles-Übersetzungen (bzw. anderen dramatischen und theatralischen Erscheinungen, die hier hinzukommen) unterschieden wird, anstatt wie in Teil II zwei jahrhundertlange Rezeptionslinien zu verfolgen. So werden in 3.1 Prämissen und Verlauf der Aufnahme im Theater der Kriegsjahre, der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Deutschland, in 3.2 die überaus intensive Bühnenpräsenz im Nachkriegstheater dargelegt, wobei theatergeschichtliche Rekonstruktionen der Gesamtentwicklung mit Einzeluntersuchungen zu herausragenden Beispielen dramatischer Transformationen ergänzt werden; ausführlicher behandelt werden Bertolt Brecht (Antigone), Heiner Müller (Ödipus), Peter Weiss (Empedokles, Dichterleben und -Zeit) und Elfriede Jelinek (Lyrik, Kontext, Rezeption). Bezeichnend für diese triumphale Phase der Dramen- und Theaterrezeption Hölderlins ist der durch punktuelle Erscheinungen in den vorigen Jahrzehnten antizipierte Umstand, dass man nunmehr nicht nur auf die ursprünglich als dramatisch konzipierten Texte zurückgreift (an denen allerdings die Transformationswerkzeuge geschliffen worden sind!). Die Theatralität von Hölderlins Sprache überhaupt und dramentaugliche Elemente aus seinem weiteren Oeuvre, aus seiner Biographie, seinem historischen Kontext und seiner späteren Wirkung werden zum Material für intertextuell und intermedial experimentelle, kulturell und politisch sensible Arbeiten. Eine Entwicklung, die im Bühnengeschehen u.a. in der ebenso herausragenden Theaterarbeit Klaus Michael Grübers ihre Parallele findet und, wie aufzuzeigen ist, ein bisher nicht herausgearbeitetes Hölderlin-Kapitel des theatergeschichtlichen Übergangs vom epischen Theater Brechts über die Blütezeit des Regietheaters bis zu postdramatischen Erscheinungen darstellt. In 3.3 wird schließlich ein Ausblick auf gegenwärtige Tendenzen versucht, in dem das Weiterwirken dieser intertextuellen (zunehmend auch: intermedialen) Adaptionsmodi und zugleich das Anvisieren neues ästhetischen Terrains an einzelnen bedeutenden Beispielen knapp erörtert wird.

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Aus dem hier zur gesamten Rezeption nach 1945 Antizipierten geht hervor, warum vorliegende Untersuchung für diese letzte und üppigste Epoche über die Empedokles- und Sophokles-Transformationen hinaus auch dramaturgische und szenische Arbeiten mit anderen Hölderlin-Texten und historischen Materialien berücksichtigt. Nicht nur stellen sie nämlich ein Charakteristikum der Präsenz Hölderlins auf der zeitgenössischen Bühne dar, sondern zeigen auch deutlich auf, inwieweit sich gerade die an Hölderlins Trauerspiel- und Übersetzungssprache herausgebildeten Strategien der Adaption für modernes Drama und Theater ausbreiten und weiter differenzieren. Neben der Rezeption der eigentlichen Theatertexte und der Transformation anderer Werke für die Bühne wird schließlich überblicksweise die intermediale Rezeption in Musik und Film berücksichtigt; auch auf internationale Kontexte werden einige Seitenblicke geworfen. Das für Teil III entwickelte Verfahren paralleler Heraushebung verschiedener Rezeptionsstränge verdankt sich der Beobachtung, dass es im 20. Jahrhundert zu einer wachsenden Zentralität Hölderlins in verschiedenen kulturellen und künstlerischen Kontexten kam; dabei stehen einige Rezeptions- und Transformationsmodi auffällig in einem Wechsel- bzw. Spannungsverhältnis zueinander und zu epochenspezifischen Diskursen: Eine separate Behandlung wäre diesem Umstand kaum gerecht geworden. Methodisch wurde für Teil III, durch den Gegenstand selbst bedingt, sowohl die Typologie der erschlossenen Quellen als auch das historische und kritische Rüstzeug ihrer Bewertung und Interpretation erweitert. Theatergeschichtliche und -wissenschaftliche Verfahrensweise und Referenzwerke wurden hilfsweise hinzugezogen, um neben den literarischen Quellen die Dokumentation der Inszenierungen und ihrer künstlerischen und kulturellen Kontexte auf die zentralen Fragestellungen dieser Arbeit hin zu untersuchen. Zwar sind diese hauptsächlich literaturwissenschaftlicher Art, wobei sie sich der sowohl in der theaterwissenschaftlichen Transformationsanalyse from page to stage (Hiss 1993) als auch in der literaturgeschichtlich und -wissenschaftlich ausgerichteten Intermedialitätsforschung (Robert 2014) erarbeiteten Vorgehensweisen bedient, und sind auf den Grundaspekt bezogen, wie und warum Hölderlins Theatertexte dramatisch und szenisch verarbeitet werden. Dementsprechend werden im Folgenden weder ‚klassische‘ theatergeschichtliche Inszenierungsrekonstruktionen in der Tradition Max Herrmanns (1914) und Dietrich Steinbecks (1970) noch semiotische Strukturanalysen im Sinne FischerLichtes (1983) geboten (dazu vgl. Balme 1999, 27–33, 82–95). Aber die vorliegende Untersuchung macht sich auch die Ergebnisse der theaterhistorischen und theaterwissenschaftlichen Forschung zunutze, genauso wie die von geistes- und kunstwissenschaftlichen Studien, die die zweihundert Jahre Rezeptionsgeschichte Hölderlins aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Dies geschieht in dem Bewusstsein, dass eine rezeptionsgeschichtliche Arbeit zur Wirkung von dramatischen Texten bei aller Zentralität philologischer Fragen interdisziplinär arbeiten muss. Die hier angestellten Überlegungen zu makrostrukturellen Aspekten dieser Untersuchung und ihres Gegenstands sowie die damit zusammenhängenden methodischen Entscheidungen, die auf allgemeiner Ebene angesprochen worden sind, sollen

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in den folgenden Kapiteln wiederaufgenommen, vertieft und differenziert werden. Anders wäre es bei einer Arbeit, die in ihren drei Teilen typologisch unterschiedliche Text- und Theaterlandschaften erkunden will, auch nicht möglich, auch wenn diese Landschaften durchaus von denselben zuerst lebhaft entsprungenen, bald karstig verlaufenden, dann immer mächtiger reißenden Flüssen, den Theatertexten Hölderlins, durchströmt werden. Ähnliches könnte man von den Forschungsreisen behaupten, die in diese Gebiete unternommen wurden: Sie lassen sich kaum in einer Gesamteinführung überblicksweise rekapitulieren. Als eine terra incognita, um Hölderlins Worte zu seinem Hyperion-Roman zu benutzen, ist nicht einmal das mittlere Gebiet, die untergründige Rezeption im langen 19. Jahrhundert gänzlich zu bezeichnen, geschweige denn die in Teil I durchleuchtete Produktion Hölderlins oder die in Teil III verfolgte Nachwirkung im modernen und gegenwärtigen Drama und Theater. Einiges über die Positionierung dieser Untersuchung innerhalb der Hölderlin-Forschung wurde bereits erwähnt und soll in Teil I vertieft werden. Für die rezeptionsgeschichtlichen Teile gilt grundsätzlich: Texte bzw. Inszenierungen, die eine Auseinandersetzung wichtiger Autoren und Künstler mit Hölderlin bezeugen, sind meist gut erforscht; eine Diskussion der einschlägigen Literatur ist jeweils am passenden Ort zu finden. Dort wird der Versuch unternommen, den jeweiligen Rezeptionsfall aus der Perspektive der Gesamtrekonstruktion zu betrachten. Dabei soll das Verständnis dafür geschärft werden, wie die Autoren und Künstler die Vorlage Hölderlins verarbeiten, in welches Verhältnis zu ihm bzw. zu anderen Rezeptionsfällen sie sich stellen und welche Brüche und Kontinuitäten sich zu einer Entwicklung reihen. Anders verhält es sich bei kaum oder überhaupt nicht erforschten Texten bzw. Inszenierungen, bei mehr oder weniger bekannten Autoren und Künstlern: hier wird, wo nötig, Pionierarbeit geleistet im Hinblick auf die Diskussion der Quellenlage und der rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung sowie auf die literarische bzw. theatergeschichtliche Kontextualisierung. Zu dieser und zu den epochenspezifischen Kapiteln werden Referenzwerke und Einzeluntersuchungen zu Rate gezogen, von Handbüchern und Geschichten der verschiedenen Disziplinen und Kunstformen bis zu Überblicksstudien, monographischen Darstellungen oder Detailbeiträgen zur Hölderlin-Rezeption. Für eine weitere Diskussion sei auf die einschlägigen Teile und Kapitel der vorliegenden Untersuchung verwiesen. Ihr Ziel ist, so kann man diese einführenden Überlegungen abschließen, durch eine integrale Rekonstruktion nicht nur bisher Unberücksichtigtes aufzuspüren und spezifische Forschungslücken zu schließen, sondern auch Bekanntes zu hinterfragen und überfällige Revisionen alteingesessener kritischer Vorurteile vorzunehmen. Über diesen jeweilige Einzelaspekte betreffenden Zweck hinaus erhebt diese Arbeit auch den Anspruch, Produktion, Rezeption und Transformation von Hölderlins Theatertexten zu vergleichen und Linien erkennbar werden zu lassen, die zum besseren Verständnis autoren- und kontextspezifischer Fragen, historischer Entwicklungen und gegenwärtiger Verhältnisse beitragen können.

1 Antik-moderne Dramatik. Hölderlins Theaterprojekte um 1800 Hölderlin wusste, was Theater bedeutet (Philippe Lacoue-Labarthe)1

1.0 Einführung Im „Verzeichniß der Bücher, welche bei der Verlassenschaft des in Tübingen gestorbenen M. Hölderlin sich in Nürtingen vorgefunden haben“, fehlt bekanntlich vieles, das aus vielerlei Gründen dem Taxator nicht vorlag2 – diese Liste heranzuziehen, um sich ein Bild von Hölderlins Lektüre dramatischer Texte zu machen, kann deshalb lediglich Teil-, wenn nicht Zufallsergebnisse zeitigen. Unter den Ausgaben antiker Dramen ist hier etwa die Brubachiana verzeichnet, jener Sophokles-Druck aus dem 16. Jahrhundert, der als einzig sichere, aber bestimmt nicht einzige Vorlage für Hölderlins Übersetzung der Tragödien Ödipus Tyrann und Antigone (1804, bei Hölderlin: „Oedipus“ und „Antigonä“3) gilt, sowie der Gefesselte Prometheus des Aischylos, eine nicht näher identifizierbare Euripides-Sammelausgabe und dessen Rhesos im Einzeldruck. Eine Chrestomatia Tragica Graeco-Latina, die ebenfalls nicht genau zu bestimmen ist, und der zweite Band einer Terenz-Ausgabe4 vervollständigen die Liste klassischer Bühnenwerke, die in der Gewichtsverteilung zwischen der tragischen und der komischen Gattung, zwischen der griechischen und der römischen Überlieferung sowie unter den drei großen Athenern ziemlich genau der tatsächlichen Bedeutung entspricht, die solche Urtexte der europäischen Theatertradition rezeptiv und produktiv für Hölderlin hatten. Zum Trug-, ja Zerrbild wird hingegen das Bücherverzeichnis, wenn man einen Blick auf die moderne Sparte wirft: Als einzige deutsche Theatertexte tauchen hier Christian Felix Weißes Trauerspiele in einer dreibändigen Sammlung und Klopstocks „Bardiet für die Schaubühne“ Hermanns Schlacht auf.5 Die große deutsche Dramatik

|| 1 Lacoue-Labarthe (1998) 8. 2 StA 7/3, 388–391. Dazu siehe die Erläuterungen Adolf Becks (ebd., 391–402) und diejenigen Jochen Schmidts in der von ihm herausgegebenen Studienausgabe (DKA 3, 999–1006, das Verzeichnis ebd., 692–695). 3 In dieser Arbeit werden durchgehend die Schreibweisen „Ödipus“ und „Antigone“ gebraucht; es sei denn, man führt Zitate an, wo andere Schreibweisen benutzt werden. Es könnten sonst in den rezeptionsgeschichtlichen Teilen mögliche Verwechslungen entstehen; Bearbeitungen und Inszenierungen übernehmen manchmal die Schreibweise Hölderlins, manchmal nicht. 4 Zu Terenz als Beispiel für die „Autorität der alten Komiker“ (StA 4, 290) äußert sich Hölderlin in der unveröffentlichten Rezension von Siegfried Schmids Heroine, vgl. unten 1.3. 5 Zu Hölderlin als Leser vom 1769 erschienenen Stück vgl. Prignitz (1997). https://doi.org/10.1515/9783110584714-002

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des späten 18. Jahrhunderts sucht man vergebens: Nichts von Lessing, nichts von Goethe. Eklatant ist insbesondere das Fehlen Friedrich Schillers: unauffindbar ist selbst das Geschichtsdrama Dom Karlos, Gegenstand einer regelrechten Verehrung seitens Hölderlins, der in Schiller lange Zeit ein schwärmerisch verehrtes Vorbild sah.6 Ferner würde man aus einer unkritischen Bestandsaufnahme der Nachlassbibliothek den ebenfalls trügerischen Eindruck bekommen, dass Hölderlin in den Meisterwerken der neuzeitlichen europäischen Dramatik nicht einmal schmökerte: Weder barocke Spanier noch klassische Franzosen sind vertreten, selbst der in der Goethezeit allgegenwärtige Shakespeare fehlt. Ein solches Vorgehen wäre zugegebenermaßen naiv und niemand würde ernsthaft auf die Idee kommen, aus einem solchen archivalischen Überrest, der nicht vollständig über die Bibliothek eines seit fast vierzig Jahren im Turm Zurückgezogenen Auskunft gibt, Vermutungen über die tatsächliche Lektüre von Dramen seitens des Dichters anzustellen, der häufig umgezogen, manchmal auch überstürzt geflohen ist oder weggebracht wurde und sicher nicht nur das gelesen hat, was er besaß. Seltsamerweise wäre jedoch das Ergebnis eines solchen wissenschaftlichen salto mortale dem Bild sehr ähnlich, das die Forschung in Sachen „Hölderlin und das Theater“ lange gepflegt hat, einmal hinsichtlich der Alleinherrschaft antiker Vorbilder, dann auch wegen der nahezu ausschließlichen Konzentration auf Dramatik als Lesedramatik – produktiv wie rezeptiv. Dass dem nicht so war, belegen verschiedene Dokumente, vor allem brieflicher Natur, die z.B. Hölderlins begeisterte, in manchem auch produktive Rezeption schillerscher Dramen, Äußerungen über Goethes Theatertexte,7 essayistische Pläne zu || 6 Hinweise auf die Dramen Schillers treten im Briefwechsel der Jahre 1787–1789 gehäuft, später sporadischer auf. Vgl. unten, Anm. 11–15. 7 Zitate aus Goethes Iphigenie auf Tauris tauchen in frühen Briefstellen und Stammbuchblättern auf, ohne dass man daraus eine eingehende Lektüre des Antikendramas schlussfolgern kann. Vgl. etwa An Neuffer, 28. November 1791, wo die am 12. Februar 1791 in Hegels Stammbuch buchstäblich zitierte (StA 2, 349), als geflügeltes Wort schon damals berühmte Stelle aus dem ersten Auftritt des zweiten Aktes („Und Lust und Liebe sind die Fittiche / Zu großen Taten“, Z. 665f.) abgewandelt auftaucht als: „Ich bin deß täglich gewisser, daß Lieb und Freundschaft die Fittige sind, auf denen wir jedes Ziel erschwingen“ (StA 6, 70). Vgl. auch An den Bruder, 2. Juni 1796 (StA 6, 208). Intertextuelle Reminiszenzen aus Goethes Iphigenie wurden sowohl im Briefroman Hyperion aufgefunden („Dianens Schatten“, siehe StA 3, 71 sowie der Kommentar Beißners, 462; vgl. auch den Anfangsmonolog der Hauptfigur in Goethes Drama, Z. 1–6) als auch im elegischen Werk Hölderlins – Vgl. Elegie, Z. 67 und deren Endfassung Menons Klagen um Diotima, Z. 71 sowie den Kommentar Jochen Schmidts in DKA 1, 706, wo der Bezug zum Lied der Parzen aus dem 5. Auftritt des 4. Aufzugs der Iphigenie, Z. 1726–1767, erläutert wird (Goethes Versdrama in GW 5, 553–620). Beißner führt Goethes unkonventionelle Ehekomödie Stella als mögliche Quelle für den Decknamen von Louise Nast in Jugendgedichten an (StA 1, 342). Ganz anderer Art ist die Präsenz des von Hölderlin geschätzten Dichterdramas Torquato Tasso, nicht so sehr im Werk (dazu und allg. zu einer ‚Goethe-Bewunderung‘ seitens Hölderlin vgl. Strack 2001) als vielmehr, mit Bezug auf die Biographie, in der Rezeption Hölderlins als eines problematischen bis wahnsinnigen Dichters.

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Shakespeare,8 Lektüre und Besprechung zweitrangiger zeitgenössischer Dramatik9 wie selbst konkrete Theaterbesuche10 verzeichnen: Bereits solche Belege fordern dazu auf, das Forschungsbild zu ,Hölderlin und das Theater‘ zu entstauben. Auf schöpferischer Ebene, wie sie für die vorliegende Arbeit besonders wichtig und im Folgenden zu besprechen ist, kommt es zu noch stärkeren, bisher in der Forschung wenig beachteten Akzenten: Der dezidierte Bezug auf zeitgenössische dramaturgische bzw. dramentheoretische Diskurse, die Herausarbeitung einer theaterkongenialen Dramensprache und szenisch bewussten Reflexion darüber, schließlich die implizite (in ihrer Beschaffenheit und ihrem Projektcharakter beim Empedokles), dann implizite wie auch explizite (Sophokles-Übersetzungen) Bestimmung der eigenen Produktion für die Bühne. Hölderlin hat Theatertexte verfasst bzw. transformativ übersetzt, die keineswegs nur als lyrische Dramen, Lesedramen oder gar als antikisierende Exerzitien intendiert waren, sondern neben ihren sehr gut erforschten poetischen, philosophischen, religiösen und teilweise politischen Dimensionen in einer Theateraufführung ihren idealen Endzweck hatten. Sowohl das unvollendete Trauerspielprojekt Der Tod des Empedokles als auch die Sophokles-Übersetzungen sowie die mit beiden Unternehmungen verbundenen theoretischen Überlegungen zeichnen sich aus durch eine bewusste und dynamische Dialektik von (antiklassizistischem) Rückbezug auf den antiken Ursprung der Tragödie einerseits und experimenteller Arbeit für das moderne Drama und Theater andererseits. Es erscheint daher erforderlich, Hölderlins Theaterproduktion und -reflexion auf ihre Modernität zu hinterfragen, bevor man sich ihrer Rezeption widmet, der zunächst latenten und erst ab Anfang des 20. Jahrhunderts breiteren Aufnahme und || 8 Vgl. An Neuffer, 4. Juni 1799, wo von Essays im Rahmen des sogenannten Iduna-Projekt die Rede ist, die neben „Aeschyl“ und „Sophokles“ auch „Shakesspear“, insbesondere dessen „Antonius und Kleopatra, […] die Karaktere des Brutus und Kassius in seinem Julius Caesar, […] Macbeth u.s.w.“ hätten behandeln sollen (StA 3, 323f.). Bereits ein gutes Jahr davor hatte Hölderlin in einem Brief an den Bruder auf die eigene Shakespeare-Begeisterung hingewiesen, indem er vor allem die ästhetische Größe von dessen Dramen hervorhob und den Wunsch nach produktiver Imitation äußerte: „Shakspeare ergreift Dich so ganz; das glaub’ ich. Du möchtest auch von der Art etwas schreiben, lieber Karl! ich möcht’ es auch. Es ist kein kleiner Wunsch. Du möchtest es, weil du auf Deine Nation mitwirken möchtest; ich möcht’ es darum auch, doch mehr noch, um in der Erzeugung eines so großen Kunstwerks, meine nach Vollendung dürstende Seele zu sättigen“ (An den Bruder, 12. Februar 1798, StA 3, 263). Vgl. 1.2, zu möglichen Shakespeare-Elementen in Hölderlins Empedokles-Fragmenten. 9 So verfasste Hölderlin eine nicht zu Lebzeiten veröffentlichte Besprechung von Die Heroine oder zarter Sinn und Heldenstärke, Ein Schauspiel in fünf Akten (ED 1801), einem Stück seines Freundes Siegfried Schmid, und erörterte kurz Fernando oder die Kunstweihe. Eine dramatische Idylle (ED 1802) von Casimir Ulrich Böhlendorff im ersten Brief an denselben vom 4. Dezember 1801, dazu vgl. 1.3. 10 „So giengen wir ins Schauspiel“, berichtet Hölderlin im Brief an die Mutter (Juni 1788) vom Besuch in Mannheim, wo am 13. Januar 1782 die legendäre Uraufführung von Schillers Räubern stattgefunden hatte: „Schöner, gebildeter, vollkommener kan man sich nichts denken, als das Mannheimer Nationaltheater“ (StA 6, 36). Nach der Aufzeichnung der Ausgaben, die Hölderlin im besagten brieflichen Bericht belegt, kostete ihn der Eintritt „in der Mannheimer Comedie 48 cr.“ (ebd., 32).

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Transformation seiner Texte in neue dramatische und theatralische Formen. Es soll auch gezeigt werden, wie bereits bei Hölderlin antike und moderne Prätexte ganz bewusst in moderne Theaterprojekte eingearbeitet wurden: Somit stellen seine Theatertexte die Weichen für spätere Transformationen, in denen Hölderlins schon an sich dynamischer und experimenteller Rückgriff auf die griechische Tragödie als Teil eines antik-modernen Projektes aufgenommen und mit Blick auf gegenwärtige Wirkung wiederaufgenommen, fortgeschrieben und aktualisiert wurde. Ziel der folgenden Überlegungen ist also eine Rekapitulation der Entwicklung von Hölderlins Verständnis von Drama und Theater, bei der für die spätere Rezeption zentrale Fragen in den Mittelpunkt gerückt werden: Wann und wie rezipiert Hölderlin antike und moderne Dramatik und Theaterästhetik und gewinnt Einsichten in vergangene und gegenwärtige Theaterpraxis? Was für eine Rolle spielen solche Prätexte und Kenntnisse in seiner eigenen dichterischen, theoretischen und übersetzerischen Produktion für das Theater? Wie gestaltet er seine theatralischen Hauptprojekte (Der Tod des Empedokles, die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen) und inwieweit können sie als Interventionen in zeitgenössische kulturelle Diskurse betrachtet werden? Dabei soll, soweit es möglich ist und ohne dem Autor Hölderlin erst durch die spätere Wirkung motivierte Intentionen zuzuschreiben, den wenigen externen (Mitteilungen, Projekte, Kommentare) und den internen Spuren (Beschaffenheit der Texte) nachgegangen werden, die es ermöglichen, bei Hölderlin von einer Herausarbeitung auch bühnenbezogener und -gerechter Theaterprojekte zu sprechen. Sie hatten zwar keine zeitgenössische Bühnenwirksamkeit, sind allerdings in Primavesis Worten als „Potential einer anderen Form von Theater“ (2000, 263) zu bezeichnen. Sie erweisen sich gar, wie man aus dem im Folgenden Erörterten antizipierend hinzufügen kann, als sprachlich, strukturell und gedanklich eine mögliche Theaterinszenierung mitberücksichtigende Arbeiten eines mit antiken und modernen dramaturgischen und sogar szenischen Aspekten durchaus vertrauten Autors – dies zeigen etwa seine Kommentare anderer und eigener Theatertexte. Der Hölderlin-Forscher wird im Folgenden viel Bekanntes über Hölderlins Werk und dessen Kontext wiedererkennen; bis auf einige für die Argumentation zentrale Punkte soll die Auseinandersetzung mit der umfangreichen Sekundärliteratur meist in den Fußnoten Platz finden. Methodologisch ist dies dadurch begründet, dass erstens die vorliegende Arbeit keine auf Hölderlin an sich zentrierte Untersuchung ist, sondern darauf zielt, die Rezeption und Transformation seiner Theatertexte im 19. bis 21. Jahrhundert darzulegen. Dementsprechend muss der Gang der Untersuchung anders als üblich konstruiert werden und weniger Vorkenntnisse über den Autor voraussetzen, dabei allerdings dem Leser auch mittels gezielter Verweise die Einsicht ermöglichen, wo in der Hölderlin-Forschung sich die vorliegende Untersuchung positioniert. Zum anderen strebt dieser erste Teil der Arbeit gerade eine Re-Lektüre von Hölderlins Auseinandersetzung mit Drama und Theater an, indem auf bisher von der Forschung weniger oder kaum berücksichtigte Aspekte neues Licht geworfen wird,

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die für die spätere Wirkung zentral sind. Dazu zählen erstens: der bewusst transformative und experimentelle Ansatz in der modernen Übertragung/Nachdichtung/Erörterung antiker Tragödien; zweitens: die Fragen der Wirkung und der die Performance miteinbeziehenden dramatischen, übersetzerischen und kommentierenden Praxis; drittens: der auf Kontinuität angelegte Projektcharakter von Hölderlins Produktion antik-moderner Dramatik für die zeitgenössische Bühne. Aus diesem Grund will und wird die Studie die angeführten Werk- oder Briefpassagen keiner umfassenden Textanalyse unterziehen – darauf wird eher überblicksweise Bezug genommen, um dann in den Anmerkungen auf die einschlägige Spezialliteratur zu verweisen –, sondern bereits mehrfach interpretierte und bisher weniger beachtete Texte Hölderlins im Hinblick auf die hier aufgeworfenen Fragen erörtern. Der soeben gefallene Begriff ‚antik-modern‘, der in Titeln wie auch in den folgenden Überlegungen zur Bezeichnung von Hölderlins Theaterprojekten wiederholt benutzt wird, ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, in der sich vorliegende Untersuchung zur Forschungstradition stellt. Neben seiner Klärung sollen hier weitere im Folgenden benutzte Begriffe eingeführt werden. Peter Szondi charakterisierte Hölderlins post- bzw. antiklassizistische Positionierung im Antike-Moderne-Diskurs als „Überwindung des Klassizismus“ (1967), wobei umstritten bleibt, auf wann diese Überwindung datiert werden muss. Seine eigene produktive Arbeit an der Tragödie (der hier vertretenen, noch zu erörternden These zufolge bereits im Empedokles- und nicht erst im Sophokles-Projekt) bestimmt Hölderlin als unentbehrliche Transformation der als grundverschieden betrachteten Griechen, die sich über jedwede Nachahmungspoetik hinwegsetzte und stattdessen auf die Modernen zielte. Obwohl Hölderlin selber ein einziges Mal das Wort ,modern‘ benutzte (im Brief an den Bruder vom Neujahr 1799, vgl. unten, 1.4), ist sein ganzes Werk im heutigen Sinne des Wortes, so Ulrich Gaier, „nicht romantisch, nicht klassizistisch, sondern entschieden modern“; seine „im strengen Sinne pragmatisch[e]“ Dichtung ist „eingreifendes Wort“, sein nicht klassizistischer Rückgriff auf ,Hellas‘ ist Teil dieser Intervention im zeitgenössischen Diskurs ,Hesperiens‘, durch die Hölderlin „die Grenzen der Modernität durchstoßen“ hat (1995, 26f.). Dieses Schreiben für die Moderne, dem eine in diesem Sinne dynamische, produktive Auseinandersetzung mit der Antike innewohnt, gilt speziell für sein Theater, wie Anke Bennholdt-Thomsen mit Bezug auf die Sophokles-Übersetzungen vermerkt: „Hölderlin versucht, ins Moderne zu übersetzen, d.h. den modernen kulturellen Bedarf zu bedienen“ (2005, 183). Gerade darin ist großenteils die Faszination begründet, die Hölderlins Theatertexte auf die nachfolgenden Generationen ausgeübt haben, und (noch wichtiger) ihre Produktivität in modernen und zeitgenössischen Diskursen. Um dem Mangel einer eindeutigen Bezeichnung für diese Konstellation in der Hölderlin-Forschung abzuhelfen, wurde die Zusammensetzung antikmodern gebildet, womit auf die Gleichrangigkeit beider Kompositumsteile Gewicht gelegt wird. Damit soll das dynamische, d.h. nicht hierarchisch und normativ festgelegte (Klassizismus), sondern freie und produktive Verhältnis zwischen Antike und

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Moderne in Hölderlins kulturellem Entwurf bezeichnet werden, das aus dem Bewusstsein des Unterschieds zwischen „Hellas“ und „Hesperien“ hervorgeht und aus dieser Einsicht heraus für eine transformative Beziehung plädiert, bei der die sich konstituierende Moderne keineswegs auf den Rückbezug auf die Antike verzichtet, sondern sich erst durch ein Umdenken des Verhältnisses zu den Griechen entfaltet. Gerade ein dynamisches und transformatives Verhältnis zu Hölderlins antik-modernem Entwurf wird dann die prägnantesten Etappen der Rezeption seiner Theatertexte charakterisieren, so dass man fast geneigt wäre zu sagen, es genüge, für „antik“ Hölderlin und für „modern“ jeweils „Nietzsche“, „Brecht“ oder „Müller“ zu setzen – in manchen Fällen die ebenfalls hölderlinschen Begriffe „fremd“ und „eigen“ –, um die neuen Konstellationen zu beschreiben, in denen diese und andere Autoren die Theaterprojekte des schwäbischen Dichters zum Ansatzpunkt ihrer eigenen produktiven Arbeit machen. Solche Konstellationen sind allerdings noch komplizierter, weil dort Hölderlin in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive eigentlich zum dritten Pol der bei ihm noch zweifachen Beziehung ‚antik-modern‘ wird, so dass die jeweils ‚neue‘ Moderne den Weg zur Antike (und in die eigene Moderne zurück) nur durch die Vermittlung des ,antik-modernen‘, ,fremd-eigenen‘ Hölderlin findet. Davon wird eingehend in den Teilen II und III dieser Arbeit die Rede sein. Im Folgenden soll nun in vier Abschnitten der Versuch unternommen werden, Voraussetzungen (1.1, zu Texten und Kontexten bis zur Veröffentlichung des Hyperion-Romans), erste Ausführung (1.2, zum Tod des Empedokles), Neubestimmung (1.3, zu einzelnen Texten der ersten Jahrhundertjahre) und zweite Ausführung (1.4, zu den Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen) von Hölderlins antik-modernem dramatischem Projekt nachzuzeichnen.

1.1 Hölderlins Begegnung mit dem antiken und dem modernen Theater Bereits in der Maulbronner Zeit (1786–1788) gab es die ersten, spärlichen Kontakte des Jugendlichen mit Theatertexten. Waren im Lehrplan dank der „Kooperation von Pietismus und Neuhumanismus“ (Franz 2002a, 63) auch weltliche Autoren der Antike vertreten, vielleicht sogar Homer, so scheint von den Tragikern jede Spur zu fehlen – obwohl diese Lektüre nicht ausdrücklich verboten war wie hingegen das „Lesen schädlicher Bücher und von Romanen, deutschen Übersetzungen von lateinischen Schriften, die auf dem Lehrplan standen“ (Lawitschka 2002, 24). Die entscheidenden dichterischen Begegnungen der Jugendjahre fanden jedenfalls kaum auf der Schulbank statt. Eigene Lektüren entfachten eine glühende Begeisterung für den „weltenumeilenden Flug der Großen“, die zur Nachahmung trieb, vorerst nur in lyrischen Versuchen. Die im Gedicht Mein Vorsatz genannten Vorbilder, „Pindars Flug“ und „Klopstoksgröße“ (1787, StA 1, 28), sowie die anderswo umschwärmend erwähnten Schubart und Ossian, „Homers große[r] Nebenbuhler“ (An Immanuel Nast, März

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1787, StA 6, 16), weisen auf das ausgeprägte Interesse für hauptsächlich hymnische Versdichtung hin, das in den frühen Gedichten zum Vorschein kam. Erst mit den (ihm ebenfalls nicht durch schulische Bildung vermittelten) Dramen Friedrich Schillers erhielt Hölderlin m.W. zum ersten Mal Kostproben literarisch wertvoller Bühnendichtung.11 Bereits auf den Anfang des Jahres 1787 datiert die Begeisterung für Die Räuber, deren von Rudolf Zumsteg vertonte Gesänge Hölderlin „zu Schillers Ehre“ (An Nast, StA 6, 6) sich auf dem Klavier aneignen möchte – in nuce also bereits produktiv und performativ; wenige Wochen darauf werden auch Fiesko und Kabale und Liebe demselben Briefempfänger, dem Jugendfreund, zur Lektüre empfohlen, damit ihm durch den „feurigen Schiller“ besser ums Herz sei (StA 6, 10).12 Der im selben Jahr am 29. August uraufgeführte Dom Karlos sollte bald in der enthusiastischen Schillerrezeption des Heranwachsenden den ersten Platz einnehmen und, wie Hölderlin Jahre später im Rückblick auf jene Maulbronner Zeit an den Dramenautor selbst schreiben sollte, „lange Zeit die Zauberwolke“ sein, „in die der gute Gott meiner Jugend mich hüllte, daß ich nicht zu frühe das Kleinliche und Barbarische der Welt sah, die mich umgab“.13

|| 11 Schiller war übrigens auch mit seiner Lyrik der 1780er Jahre in Hölderlins Lehrmeisterrunde schon früh präsent und sollte spätestens seit den Tübinger Hymnen alle Konkurrenten um seine Gunst schlagen. Vgl. unten, 1.2–1.4 zu der die dramatische Produktion Hölderlins begleitenden Auseinandersetzung mit Schiller. Um das ambivalente Verhältnis hat sich die Hölderlin-Forschung intensiv bemüht, hauptsächlich mit Blick auf die Lyrik; neben weiteren Studien zu punktuellen Aspekten sei einführend auf Gaier (2002b) 78–82 hingewiesen sowie auf die neueste umfassende Studie zum Thema mit besonderer Berücksichtungen des Hyperion-Projekts, Meier (2015). 12 Anklänge an Schillers Räuber sind u.a. in Hölderlins frühen Gedichten Der nächtliche Wanderer (StA 1, 7, stilistisch-thematische Elemente), An meinen B. (StA 1, 23; Name Amalia) und Die Unsterblichkeit der Seele (StA 1, 31–35, stilistische Elemente) gefunden worden. Zusammen mit Briefstellen und weiteren Zitaten in Stammbuchblättern zeugen diese Belege von Hölderlins früher intensiver Rezeption des Dramatikers Schiller. 13 StA 6, 365. Es handelt sich dabei um einen Entwurf vom September 1799; der an Schiller gerichtete Brief ist verschollen. Im Rückblick des Neunundzwanzigjährigen auf die Adoleszenz und in der metaphorischen Rede der „Zauberwolke“ steckt natürlich auch die Distanzierung von einer idealistischen Sicht, welche die Realität gebrochen hat – zwischen der ersten Begegnung mit dem Dom Karlos in den Jugendjahren und der erneuten, in diesem Brief für die nächste Zeit angekündigten Lektüre „mit Verstand“, steht bekanntlich auch eine theoretische Distanzierung. Genauer: eine überbietende produktive Rezeption von Schiller im Rahmen eines problematischen Konkurrenzverhältnisses – „auf beiden Seiten eine Doppelbindung“, bei Hölderlin nachhaltiger als bei Schiller. „Bis in die letzte Homburger Zeit war in allem, was Hölderlin schrieb, ein Aspekt der Werbung und der Überbietung Schillers enthalten“ (Gaier 2002b, 79, 82). Hölderlin war sich einer solchen, existentiell wie künstlerisch gefährlichen Abhängigkeit durchaus bewusst: „Ich habe Muth und eignes Urtheil genug, [...] aber von Ihnen dependir’ ich unüberwindlich; und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such’ ich manchmal, Sie zu vergessen, um während meiner Arbeit nicht ängstig zu werden“, so im Brief an Schiller vom 20. Juni 1797, mit dem er dem Verehrten den ersten HyperionBand schickte (StA 6, 241). „In geheimem Kampfe mit Ihrem Genius“ zu sein „um meine Freiheit gegen

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Dass es allerdings bei der jugendlichen Begeisterung nicht blieb, geht aus demselben Briefentwurf an Schiller vom September 1799 hervor. Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Arbeit an dem Trauerspiel Der Tod des Empedokles steht das „Geständniß“ des fast dreißigjährigen Hölderlin, dass er sich Schillers Dramatik der 1780er Jahre erneut zu lesen vorgenommen habe, als unumgängliches Vorspiel zum eigenen ‚Wagnis‘ in der dramatischen Gattung: So ist mir seit ich die tragische Schönheit etwas gründlicher erkenne, um nur Eines zu nennen, die Composition der Räuber, in ihrem Wesentlichen, und besonders die Scene an der Donau, als Mitte des Gedichts, so groß und tief und ewigwahr erschienen, daß ich schon diese Erkenntniß für verdienstlich hielt, und mir längst die Erlaubniß von Ihnen erbitten wollte meine Gedanken einmal schriftlich auszuführen – und damit haben Sie einst angefangen – edler Meister! – Ihren Fiesko habe ich auch studirt und gerade auch wieder den innern Bau, die ganze lebendige Gestalt, nach meiner Einsicht das Unvergänglichste des Werks, noch mehr als die großen und doch so wahren Karaktere, und glänzenden Situationen und magischen Farbenspiele der Sprache bewundert. (StA 6, 364f.)

Nicht so sehr also als Hommage an den verehrten Meister sollten diese Beteuerungen verstanden werden, sondern als poetologisches Indiz dafür, dass Hölderlin beim Verfassen seines Antikendramas den Blick von der modernen Dramatik gar nicht abwandte, sondern sich bei Schiller vor allem für Fragen der dramaturgischen Strukturierung („Composition [...] inner[er] Bau, die ganze lebendige Gestalt“) in die Schule begab. So rückt die prominente Aussage, die diesem „Geständniß“ unmittelbar vorausging und es auch gewissermaßen erforderte, in ein etwas anderes Licht: Der „Ton“, den sich Hölderlin „vorzüglich zu eigen zu machen wünschte“ und den er nun glaubt, „am vollständigen und natürlichsten in der tragischen Form exequiren zu können“, will ein ganz moderner, brisanter, zeitgemäßer Ton sein (ebd., 364). Nicht umsonst konnte Ulrich Gaier in Hölderlins ergebenen Worten an Schiller den Versuch des Jüngeren aufspüren, „insgeheim Näheres über Schillers Behandlungsart des Tragischen im Wallenstein zu erfahren“ (Gaier 2002b, 82) – der dritte Trilogieteil Wallenstein (erst später Wallensteins Tod betitelt) war im Frühling desselben Jahres 1799 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt worden.14 Es ist in dieser Hinsicht auch kein Wunder, dass der mehr oder weniger geheime Wettkampf mit Schiller Hölderlin gar zu Vorwegnahmen führte. Man denke an die || ihn zu retten“, gestand er noch am 30. Juni 1798 – ein vergeblicher Kampf, denn „nie kann ich mich ganz aus ihrer Sphäre entfernen“ (StA 6, 273). 14 Vgl. auch Jürgen Links Interpretation des Empedokles als „Rousseau-Drama“, die aus dem Vergleich zu Schillers Dom Karlos heraus und mit Berücksichtigung der erwähnten Briefstellen Hölderlins Trauerspiel als Intervention in zeitgenössische dramenästhetische und ideologische Fragen versteht (Link 1983). Auch in den weiteren Studien Links zur Konstellation Hölderlin-Rousseau bleibt Der Tod des Empedokles qua Verarbeitung der Rousseau-Lektüren und der historischen Ereignisse der Französischen Revolution ein ausgesprochen modernes Projekt, vgl. Link (1999, zuerst in französischer Übersetzung, Link 1995).

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Wiedereinführung des Chors in den Skizzen zur Fortführung des Empedokles, gut drei Jahre bevor Schiller mit der Braut von Messina ein „Trauerspiel mit Chören“ samt dessen theoretischer, nach der Uraufführung verfasster Rechtfertigung im Vorwort Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie vorlegen sollte (UA Weimar, Hoftheater, 19. März 1803, ED 1803). Zwar spielt Schillers italienische Tragödie vor einem modernen Hintergrund, während es sich bei Hölderlin um ein in der alten griechischen Welt spielendes Trauerspiel handelt; der Unterschied in der Stoffwahl beider Siziliendramen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hölderlin bei aller Konzentration auf antike Kontexte seine ganze Theaterproduktion, sowohl die originelle als auch die übersetzerische, als Tragödien für die moderne deutsche Bühne verstand. Vor diesem Hintergrund kann die von Hölderlin in den Empedokles-Fragmenten erwogene Wiedereinführung des Chors (entwurfsartige Schlussverse des ersten Aktes der „Dritten Fassung“ plus Entwurf zur Fortsetzung der dritten Fassung mit dem dreimaligen Eintrag „Chor“, StA 4, 141, 167) als eine Parallelerscheinung zu Schillers Bemühungen betrachtet werden: Ein nach antikem Muster und nicht in opernhaften Mischformen wiederaufgegriffenes Element der Tragödie für die moderne Bühne zu gewinnen.15 Zwischen 1803 und 1804 wird dann Hölderlin gerade an das Weimarer Hoftheater als mögliche Stätte denken, an der die eigenen Theatertexte aufgeführt werden könnten, diesmal die Sophokles-Übersetzungen, die 1804 erscheinen sollten; ein weiterer Beweis dafür, dass er mit der eigenen dramatischen Arbeit auf die zeitgenössische Theaterpraxis hinzielte. Bereits aus Hölderlins hier kurz skizziertem Verhältnis zu Schiller geht also hervor, dass er mit seinen Tragödienprojekten, um 1799 und um 1804, im literarischen und Theaterdiskurs der Zeit konkurrenzfähig sein und sich mit zeitgenössischen Höhenkammautoren messen wollte, die erfolgreich inszeniert wurden. Es handelt sich dabei um Texte, die auch für die Bühne geschrieben wurden und keineswegs nur als Lesedramen in Bibliotheken ihr Leben fristen sollen. Etwas später als die Begeisterung für Schiller datiert Hölderlins Begegnung mit der griechischen Tragödie. Hölderlin hat antike Theatertexte erstmals im Zusammenhang mit der Universitätsausbildung in Tübingen schätzen gelernt, notgedrungen als || 15 Das Konzept einer Tragödie mit Chören ist bei Schiller frühestens im Brief an Körner vom 13 Mai 1801 belegt (vgl. den Herausgeberkommentar in SWB 5, 685); nach der Beschäftigung mit Goethes Iphigenie auf Tauris (Bühnenfassung für die Weimarer Aufführung am 15. Mai 1802) fing die intensivste Arbeitsphase an, die mit der Fertigstellung am 1. Februar 1803 endete. Wie in Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie explizit erwähnt, war Schiller davon überzeugt, als erster den „Chor des griechischen Trauerspiels, so wie ich ihn hier gebraucht habe, de[n] Chor als eine einzige ideale Person, die die ganze Handlung trägt und begleitet“ (ebd., 290) wieder auf der modernen Bühne eingeführt zu haben. Denn Schiller wertet die im europäischen Theater durchaus präsenten Chöre ab, insofern als sie nicht mit der ursprünglichen Beschaffenheit und Funktion übereinstimmen, sondern meist durch die Oper beeinflusste Mischformen sind. Zu Schillers Antike-Experiment(en), die als durchaus moderne, „sentimentale“ Operation zu verstehen sind, vgl. Schulz (2005), Chiarini/Hinderer (2008) sowie Alt (2000) 2, 528–547. Vgl. des Weiteren zum Weimarer theatralischen Antike-Diskurs unten, 1.4.

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Lesedramen. Bei Carl Philipp Conz, einem der ‚Repetenten‘ im Stift, hörte er 1790 eine Vorlesung über die Tragödien des Euripides; das im Sommer desselben Jahres abgeschlossene Magisterspecimen Geschichte der schönen Künste unter den Griechen bezeugt u.a. eine Verarbeitung der erworbenen Grundkenntnisse über das griechische Theater durch den Zwanzigjährigen. Angesichts der seit Aristoteles verbreiteten Abwertung des dritten großen Tragikers schneidet Euripides erwartungsgemäß schlechter ab als Aeschylus und als Sophokles, der in schöner Mitte zwischen den beiden stehe: „Ganz die Mischung von stolzer Männlichkeit und weiblicher Weichheit: der reine, überdachte, und doch so warme hinreißende Ausdruk, der den Periklëischen Zeiten eigen war“ (StA 4, 204). Anekdotisches über antike Theaterpraktiken und loci communes über Entstehung und Bewandtnis der Tragödie stammen aus verschiedenen Quellen und geben keinen wirklich eigenständigen Gesichtspunkt wieder. Das Specimen zeugt aber immerhin neben den begeisterten Ausrufen für die hehren Alten16 von Hölderlins früher Einsicht in die zentrale Funktion des Theaters für das politische und kulturelle Leben Griechenlands. „Nichts war dem Genius des damaligen Griechenlandes angemessener“, heißt es dort, „als das Trauerspiel [...]. Die Beurtheilung eines Stüks von Aeschylus war ihnen [den Griechen; M.C.] eben so wichtig, als eine politische Beratschlagung“.17 Dies kann hier bei aller Abhängigkeit von fremden Quellen auch als Anzeichen für ein frühes Bewusstsein Hölderlins bewertet werden, dass dramatische Literatur erst in der Aufführung im multimedialen Bezugssystem Theater ihre die Gemeinschaft betreffende Wirkung erzielen kann; dieser Vorstellung wird er bis zu den späten Sophokles-Anmerkungen treu bleiben. Der Übergang von der hier attestierten Bewunderung für das antike Drama zu einer produktiven Auseinandersetzung mit ihm sollte sich erst später vollziehen: Bis kurz vor dem Abschluss des Hyperion-Projekts (1792–1799)18 herrschten lyrische und

|| 16 Bekanntlich sollte zwei Jahre später das Tübinger Abgangszeugnis Hölderlin als philologiae, inprimis graecae, et philosophiae inprimis Kantianae, et litterarum elegantiorum assiduus cultor bezeichnen (StA 7/1, 479). 17 StA 4, 201. Ist Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums die wichtigste Quelle des ganzen Specimens, so stammt nachweislich die Rekapitulation der griechischen Theater- und Literaturgeschichte aus dem ersten, 1756 erschienenen Band von Georg Christoph Hambergers Zuverlässige Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern vom Anfange der Welt bis 1500 (Lemgo 1756, vgl. dazu DKA 2, 1213). 18 Die Arbeit am Roman, von der verschollenen Tübinger Fassung (1792) bis zur Endfassung im Herbst 1798, prägte die mittleren Jahre des Jahrzehnts. Eine fiktive Stabübergabe zwischen dem neugriechischen Romanhelden und der antiken Dramenfigur wird im drittletzten Brief des Hyperion inszeniert, wo der Neugrieche von einer sizilianischen Etappe auf der Reise von Griechenland nach Deutschland berichtet: „Gestern war ich auf dem Aetna droben. Da fiel der große Sicilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen [...]“ (StA 3, 151). Empedokles tritt mit ähnlicher Todes-Motivation in Hölderlins lyrischem Oeuvre derselben Periode auf, im Oden-Entwurf Empedokles (1797, spätere Fassung 1800–01, vgl. StA 1, 240 und Erl.).

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epische Formen vor. Zwar wird schon 1794 zum ersten Mal ein Plan zu einem Trauerspiel angekündigt (noch mit Sokrates als Hauptfigur), die Arbeit am Empedokles-Projekt sollte aber erst 1797 mit dem Verfassen eines Szenariums „Empedokles. Ein Trauerspiel in fünf Acten“ beginnen – Theresia Birkenhauer ermittelt in ihrer maßgeblichen Studie schon hinsichtlich dieses Szenarios eine „dramaturgische Konzeption [...], die sich mit den Kategorien klassischer Dramaturgie, einer am Handlungsbegriff orientierten Theorie des Dramas nicht erläutern lässt“.19 In den Jahren unmittelbar vor der Jahrhundertwende, die neben der lyrischen Produktion hauptsächlich dem dramatischen Projekt zu Empedokles gewidmet sind, erarbeitete sich Hölderlin eine eigene Position zum Verhältnis von Antike und Moderne und stellte in diesem Zusammenhang Überlegungen zur Tragödie und zum Tragischen an, die in den Aufsätzen rund um die Arbeit am Tod des Empedokles sowie in anderen Texten und in brieflichen Äußerungen ihren Ausdruck fanden – dazu später. In den fünf Jahren zwischen dem Ende des Studiums und den ersten Notizen zum Empedokles, auf die nun zurückzukommen ist, sind Spuren einer Auseinandersetzung mit antiker dramatischer Literatur erkennbar, etwa die Aias-Stellen in den Hyperion-Vorstufen sowie in der Endfassung (bei Hölderlin: Ajax);20 Verse aus Tragödien des Aischylos und des Sophokles werden Gedichten und Romanbüchern als

|| 19 Zum Plan vgl. StA 4, 145–148 und Birkenhauer (1996) 119–144, hier 142. Gegen das in der früheren Forschung weitverbreitete Vorurteil, bereits im Plan als „defizitäre[r] Gestalt“ zeige sich der Mangel an Bühnentauglichkeit des ganzen Projekts, erörtert Birkenhauer die Theatralität einer solchen, nicht (mehr) klassischen Dramaturgie. Vgl. auch knapper Birkenhauer (2002) 203–206, Primavesi (2008) 450ff. und Campe (2007) 68, der im Frankfurter Plan „Züge eines bürgerlichen Dramas“ auffindet. 20 Im Fragment von Hyperion wird die Lektüre von Sophokles’ Aias seitens des Ich-Erzählers als eine Art von (unwirksamem) Gegengift zu wertherischen Liebesqualen dargestellt: „Darauf zwang ich mich nach Hause, schloß die Thüre ab, warf die Kleider von mir, schlug mir, nachdem meine Wahl ziemlich lange gezögert hatte, den Ajax Mastigophoros auf, und sah hinein. Aber nicht eine Sylbe nahm mein Geist in sich auf. Wo ich hinsah, war ihr Bild. Jeder Fußtritt störte mich auf. Unwillkührlich, ohne Sinn sagt’ ich abgerissene Reden vor mich hin, die ich aus ihrem Munde gehört hatte. Oft strekt’ ich die Arme nach ihr aus, oft floh ich, wenn sie mir erschien“ (StA 3, 172f.). Die Aias-Textur lebt in der Endfassung des Hyperion fort. Noch stärker ist die Präsenz des Helden in den Romanvorstufen. Auch in der Ode Der blinde Sänger (Sommer 1801) wird ein Sophokles-Zitat, hier als Motto, angeführt, das aus einer Tragödienpartie stammt, die Hölderlin später übersetzen sollte. Der hier zitierte, wie durchgehend bei Hölderlin ohne diakritische Zeichen wiedergegebene 706. Vers aus dem Aias (Ελυσεν αινον αχος απ᾽ ομματων Αρης) klingt in Hölderlins späterer Version so: „Gelöst hat den grausamen Kummer von den Augen Ares“ (StA 2, 54 sowie StA 5, 280). Dies zeugt von der Kontinuität und Intensität der gedanklich-textuellen Präsenz einiger Hölderlin offenbar besonders teurer antiken Stellen, vor allem des Sophokles. Vgl. unten, 1.4, zu den späten Aias-Übersetzungen.

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Mottos vorausgeschickt21 oder als Hypotexte zitiert und variiert.22 Dies zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie, die von nun an das ganze Werk kennzeichnet und je nach dichterischen Plänen andersgeartete Spuren hinterlässt, auch dort, wo man sie auf den ersten Blick nicht unbedingt erwarten würde, z.B. im Briefroman Hyperion. Noch gewichtiger für unsere Belange als solche intertextuellen Relationen mögen die zwar quantitativ vorerst geringen, im Werkzusammenhang jedoch keineswegs nebensächlichen ersten Übersetzungen aus griechischen Tragödien erscheinen, die in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts entstehen. Dabei handelt es sich um die zwei Anfangsstrophen des zweiten Stasimons aus Sophokles’ Ödipus auf Kolonos und um zirka 130 Verse aus Euripides’ Hekabe (bei Hölderlin: Hekuba). Beide Übersetzungsbruchstücke, respektive einer chorartigen und einer dialogischen Passage, werden

|| 21 Der 1793–94 entstandenen, im März an Schiller geschickten und zusammen mit dem Fragment aus Hyperion in der „Neuen Thalia“ erschienenen Hymne Das Schicksal ist ein aus Aischylos’ Gefesseltem Prometheus frei umgeformtes Motto vorangestellt: Προσκυνουντες την ειμαρμενην, σοφοι (StA 1, 184). Jochen Schmidt gibt das so wieder: „Die das Schicksal fußfällig verehren, sind weise“ und verweist auf Z. 936 der Tragödie: οἱ προσκυνοῦντες τὴν Ἀδράστειαν σοφοί („Sich beugen vor des Schicksals Macht, ist weise nur“. Übers. Oskar Werner; DKA 1, 585). Der zweite Band des Hyperion hat seinerseits die berühmten Verse aus dem Ödipus auf Kolonos als Motto: μη φυναι, τον απαντα νικᾳ λογον. το δ᾽ επει φανῃ βηναι κειθεν, οθεν περ ηκει, πολυ δευτερον ως ταχιστα (StA 3, 92; Schmidt übersetzt: „Nicht geboren zu sein, das übertrifft alles; doch wenn es so weit gekommen ist, dann ist es das bei weitem zweitbeste, so schnell wie möglich dorthin zurückzukehren, woher man gekommen ist“, DKA 2, 1043). Am Ende desselben Bandes steht ein weiterer Bezug auf den Koloneus an prominenter Stelle, am Anfang der berühmten Scheltrede im vorletzten Romanbrief. Der erzählende Hyperion erinnert sich an die Erlebnisse in Deutschland und vergleicht sich selbst als Fremden mit der Hauptfigur der letzten Tragödie des Sophokles. Anders als der mythischen Figur ist ihm jedoch keine Gastfreundschaft beschieden: „Demüthig kam ich, wie der heimathlose blinde Oedipus zum Thore von Athen, wo ihn der Götterhain empfieng; und schöne Seelen ihm begegneten – Wie anders gieng es mir!“ (StA 3, 153). Bruchstücke aus dem Prolog des Ödipus auf Kolonos mit der Ankunft des Blinden zusammen mit der Tochter Antigone in „die Stätte“, die, „wie leicht zu denken, heilig“ ist, da „vom Lorbeer rauscht, und Ölbaum sie und Weinstok“, sollte Hölderlin Jahre später in der erwähnten Form übersetzen. Vgl. unten, 1.4, sowie StA 5, 275. 22 Verweise auf Aischylos’ Perser tauchen etwa im Brief an den Bruder aus Kassel auf (6. August 1796), wo das antike Kriegsdrama interessanterweise als Vergleichsgröße angeführt wird für die zeitgenössischen militärischen Ereignisse in Mitteldeutschland, die ihrerseits mit theatralischen Metaphern bezeichnet werden (vgl. StA 6, 215, wo von dem „ungeheuern Schauspie[l]“ und „dem neuen Drama“ die Rede ist). Dieselbe Tragödie fungiert zusammen mit Herodot als Quelle für den Hexameterhymnus Der Archipelagus, vgl. insb. Z. 129–131, StA 2, 107. – Man könnte die Jagd nach intertextuellen Spuren aus griechischen Tragödien in Hölderlins Werk weiterführen und würde vor allem bei Sophokles-Anklängen sicher reichlich fündig; dies war aber nicht der Sinn der hier und oben angebotenen Beispiele. Sie dienten vielmehr zur Hervorhebung der Breite, Dichte und Funktion der intertextuellen Verarbeitung und wollten dabei vor allem das Ineinandergreifen von Rückgriff auf die Antike und Gestaltung der Moderne in den verschiedenen Schreibprojekten Hölderlins aufzeigen.

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einhellig auf 1796/97 datiert und können durchaus im Zusammenhang mit den Bemühungen Hölderlins um eine moderne Tragödie gesehen werden. Einerseits kann nämlich Sophokles’ Koloneus, wie u.a. von Theresia Birkenhauer überzeugend dargestellt, als ein wichtiger Prätext der Empedokles-Fragmente betrachtet werden,23 andererseits muten die Blankverse der Hekabe-Übersetzung beinahe wie eine Vorübung zu den metrisch analogen Partien der Empedokles-Fassungen an, eine Art Brückenschlag von der griechischen zur deutschsprachigen tragischen Dichtung.24 Neben der Bedeutung im Rahmen von Hölderlins Übersetzungswerk und Antikenrezeption haben diese ersten Versuche einer dramatischen Übertragung griechischer Passagen also auch die Funktion eines ersten Sich-Einarbeitens in akustisch und szenisch adäquate Theatersprache, das Folgen haben sollte. Dabei scheint mir Hölderlin in sehr avancierter Position gegenüber seiner Zeit zu sein, denn er betrachtet die attische Tragödie wie wenige Zeitgenossen als Theatertexte, die nicht nur im antiken polis-Kontext inszeniert und damals als grundlegende Beiträge zum öffentlichen Diskurs gedacht waren, sondern auch in der Moderne bühnenwirksam sein können, sofern sie der Moderne entsprechend angenähert werden.

1.2 Hölderlins antik-modernes Theater I: Das Empedokles-Projekt und helle wird’s Um unsre Stirne, wenn der Götterfreund Am heitern Festtag ins Theater tritt [...]. (Der Tod des Empedokles; StA 4, 283)

Unter all diesen Prämissen kann es kaum wundern, dass Hölderlins Arbeit an einem eigenen Antikendrama für die zeitgenössische Bühne samt theoretischem Ringen um einen der Gegenwart angemessenen Begriff des Tragischen als vorläufiger Kulmina-

|| 23 Vgl. Birkenhauer (1996) 569–588 sowie, mit Bezug darauf, Böschenstein (1999), wo die gesamte, meist untergründige Präsenz des Ödipus auf Kolonos in Hölderlins Werk kurz erörtert wird. Früher hatte Wolfgang Schadewaldt bereits auf den Koloneus hingewiesen als „das Drama, das ihm [Hölderlin; M.C.] einige Jahre später für die Gestaltung seiner eigenen Tragödie ‚Der Tod des Empedokles‘ das Vorbild hergab“ (1957, 276) sowie auf strukturelle Elemente der griechischen Tragödie (Euripideische Prologe, Handlungsstruktur des Koloneus), die grundlegend für die Erarbeitung der Tragödie Tod des Empedokles seien; diese sei zwar „in ihrer reifsten Form keine Tragödie im Stil des Sophokles mehr“, bleibe jedoch „von griechischer einfachster Gebautheit“ (1960, 274). 24 Bis zu jener Zeit, in der beide Bruchstücke entstanden sind, hatte Hölderlin zwar schon antike Texte übersetzt, aber keine dramatischen. Zeitlebens sollte er nur aus den beiden klassischen Sprachen übertragen, Griechisch (neben den Tragikern, ganz oder fragmentarisch: Homer: Il., 1,2; drei fälschlicherweise Alkaios zugeschriebene Trinklieder; Pindar: Ol. 2, 3, 8, 10, 11, 14; Phyt. 1, 2, 3, 4, 5, 8, 9, 10, 11, 12; Fr., mit Anmerkungen) und Latein (Lucan: Phar. 1; Ovid, Met. 2; Her. 9, 18; Vergil: Aen. 9; Horaz: Od. II,6; IV,3).

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tions- und Integrationspunkt beider erörterter Linien zu verstehen ist, d.h. der produktiven Rückbeziehung auf das altgriechische Theater einerseits und der auf schöpferisches Überbieten zielenden Auseinandersetzung mit der neueren Dramaturgie andererseits. „In Homburg“, resümierte bereits Friedrich Beißner mit Bezug auf schon erwähnte Briefstellen, „ging die Arbeit am Empedokles, und die Bemühung um das Tragische, vermutlich hand in hand mit weiter- und tiefergreifendem Studium des Dramas der Alten und der Modernen, besonders Shakespeares [...], aber auch Schillers“ (StA 6, 931). Angenommen, dass die allererste überlieferte, noch vage Absichtserklärung, einen antiken Stoff „nach den Idealen der griechischen Dramen zu bearbeiten“, als ein (noch) klassizistisches poetologisches Programm zu betrachten sei,25 so kann man den ganzen Empedokles-Komplex jenseits der Klassizismus-Grenzlinie ansetzen, die Peter Szondi für den späten Hölderlin als überwunden betrachtete – bereits wegen der Problematisierung des Subjektstatus im dritten Entwurf des Empedokles ist auch laut Birkenhauer das Trauerspiel „nicht als ein klassizistisches Interim zu bewerten; die Überwindung des Klassizismus (Szondi 1967) findet gerade in der Arbeit am Trauerspiel statt“.26 Sowohl die theoretischen als auch die dramatischen Entwürfe der Jahre 1798/99 führen an zwei Fronten einen Kampf, der auf ein

|| 25 Hölderlin an Ludwig Neuffer, 10. Oktober 1794. Hier ist noch nicht Empedokles, sondern Sokrates als mögliche Hauptfigur erwähnt: „Ich freue mich übrigens doch auf den Tag, wo ich mit dem Ganzen im Reinen sein werde, weil ich dann unverzüglich einen andern Plan, der mir beinahe noch mer am Herzen liegt, den Tod des Sokrates, nach den Idealen der griechischen Dramen zu bearbeiten versuchen werde“ (StA 6, 137). Dass erst durch die Arbeit am Empedokles-Stoff, also zwischen 1798 und 1799 (für manche Interpreten erst im Übergang von der zweiten zur dritten Fassung desselben, also im Spätjahr 1799) sich Hölderlin der Unmöglichkeit bewusst geworden ist, „nach den Idealen der griechischen Dramen“ eine Tragödie zu verfassen, ist sehr zu bezweifeln. Plausibler erscheint m.E. vielmehr, dass die durchaus als Experiment in fieri zu verstehende Arbeit an einem antik-modernen Trauerspiel durch Kontinuität gekennzeichnet ist; selbst in die frühe Formulierung des Briefs an Ludwig Neuffer ist m.E. kein klassizistisches Programm hineinzudeuten. Auch wenn die Fragmente und die Texte, in denen die „Überwindung des Klassizismus“ in Theorie und Praxis offensichtlich wird, erst aus den Jahren 1798/99 stammen, so ist bereits das Hyperion-Projekt in Ansätzen als Experiment einer nicht klassizistischen Dichtung zu lesen. Aus Holger Schmids poetologischer Perspektive ist Hölderlin fern von allem „selbstgefälligen Klassizismus“ und „spätestens seit 1790 der bewußteste aller modernen Dichter“ (Schmid 2002, 118). 26 Birkenhauer (2002) 222. Szondis zweitletzter Aufsatz aus den Hölderlin-Studien („Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801“, 85–104), geht eigentlich auf 1964 zurück (Euphorion 58). Dort wurde der älteren Umkehr- oder Wende-These in Hölderlins spätem Schaffen anhand einer genauen Relektüre vom ersten Böhlendorff-Brief (1801) widersprochen. Der dort geübte Rekurs auf den Aufsatz aus den Empedokles-Jahren Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben als Ausgangspunkt der Reflexionen über die Differenzierung von Antike und Moderne deutet schon bei Szondi daraufhin, dass bei aller späteren Präzisierung des Verhältnisses Antike-Moderne in Sachen Bildungstrieb bereits 1799 „jene Vorstellung vom Altertum gesprengt“ werde, „die den Klassizismus bestimmt“ (Szondi 1967, 87).

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neues, lebendiges Verhältnis zwischen anciens und modernes zielt, jenseits der Nachahmung, der „Knechtschaft“, wie es im Fragment Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben (1799) heißt, „womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum“, gegen alles Angenommene und Positive, aber auch jenseits einer „Originalität und Selbstständigkeit“ um jeden Preis, von der wir nur „träumen“ (StA 4, 221). Hölderlin besetzt dabei bewusst eine dritte Position in der epochalen Gegenüberstellung Klassik-Romantik. „Protestiert wird weder im Namen der Moderne noch gegen die Antike“ (Szondi 1967, 87) – so glossierte Szondi das Fragment. Tatsächlich wird hier in nuce für ein antiklassizistisches Antike-Verständnis und somit für das im Empedokles-Projekt anvisierte antik-moderne Theater plädiert, das sich vor gipsernen Überwürfen scheut wie es umgekehrt eine falsch verstandene Originalität meidet.27 Auf das Trauerspiel bezogen kehren solche Gedankengänge in einem Brief an Neuffer aus dem 3. Juli desselben Jahres wieder. Hier beschäftigt die Arbeit am Empedokles den Dichter offenbar so sehr, dass die damit verbundenen Fragen in Überlegungen auftauchen, die eigentlich einem anderen Werk hätten gelten sollen. Mit dem Schreiben hatte Hölderlin nämlich dem Stuttgarter Freund die Verserzählung Emilie vor ihrem Brauttag geschickt, eine Auftragsarbeit für Steinkopfs Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung (erschienen 1800). Er nutze die Gelegenheit, um „einiges über die Methode und Manier“ zu sagen, „in der ich die Emilie geschrieben habe“ (StA 6, 338). Dabei rutscht aber die Argumentation in das Kernthema jener Zeit, das Schwanken „zwischen den beiden Extremen, der Regellosigkeit – und der blinden Unterwerfung unter alten Formen und der damit verbundenen Gezwungenheit und falschen Anwendung“ (ebd.). Die Wahl des Stoffs zwinge dazu, „die alten klassischen Formen [zu] verlassen, die so innig ihrem Stoffe angepaßt sind, daß sie für keinen andern taugen“ (339). Um das zu veranschaulichen, fährt Hölderlin nun eben nicht mit dem naheliegenden Beispiel fort, der modernen Idylle Emilie und ihren „sentimentalen Stoffe[n]“ (340): davon wird erst eine Seite weiter nochmals die Rede sein.

|| 27 „Ich wünschte um alles nicht, daß es originell wäre“, heißt es bereits in der Vorrede zur vorletzten Fassung des Hyperion. „Originalität ist uns ja Neuheit; und mir ist nichts lieber, als was so alt ist, wie die Welt. Mir ist Originalität Innigkeit, Tiefe des Herzens und des Geistes. Aber davon scheint man jezt gerade, wenigstens in der Kunst, sehr wenig wissen zu wollen“ (StA 3, 235). Schon 1795 lässt sich also m.E. die Denkstruktur erkennen, die auch die oben genannte Abkehr sowohl von einem klassizistischen Antike-Verständnis, als auch von einem Antike-Widerruf auszeichnet. In Hölderlins etymologisch treuem origo-Konzept klingt somit das poetologische Programm der ‚lebendigen Quelle‘ durch, nach dem die Antike nicht als Vorbild gelten darf, wenn sie als Repertoire von nunmehr erstarrten, ‚toten‘ Formen den Modernen zur Nachahmung gereicht wird (‚versiegte Quelle‘, vgl. oben den Gebrauch von „Positivem“ im Sinne von schon Geformtem). Reziprok gilt die Antike als Vorbild, wenn sie produktiv unter den Bedingungen der Moderne wieder transformiert und somit verlebendigt wird (in Hölderlins Wortgebrauch: „was so alt ist, wie die Welt“ hat dann „Tiefe des Herzens und des Geistes“). Vgl. zum Leben-Begriff im poetologischen Zusammenhang auch den Brief an Neuffer vom 12. November 1798 („Das Lebendige in der Poësie“, StA 6, 289).

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Er setzt hingegen seine Argumentation mit einer Rüge der „falschen Anwendung“ antiker Formen in der dramaturgischen Praxis fort, also nicht mit Blick auf die Gattung der Idylle, sondern auf die des Trauerspiels: Wir sind es nun freilich gewohnt, daß zum B. eine Liebesgeschichte, die nichts weiter ist als diß, in der Form des Trauerspiels vorgetragen wird, die doch bei den Alten ihrem innern Gange nach und in ihrem heroischen Dialog zu einer eigentlichen Liebesgeschichte gar nicht paßt. [...] Man will aber auch nur rührende erschütternde Stellen und Situationen, um die Bedeutung und den Eindruk des Ganzen bekümmern sich die Verfasser und das Publikum selten. Und so ist die strengste aller poëtischen Formen, die ganz dahin eingerichtet ist, um, ohne irgend einen Schmuk fast in lauter großen Tönen, wo jeder ein eignes Ganzes ist, harmonisch wechselnd fortzuschreiten, und in dieser stolzen Verläugnung alles Akzidentellen das Ideal eines lebendigen Ganzen, so kurz und zugleich so vollständig und gehaltreich wie möglich, deswegen deutlicher aber auch ernster als alle andre bekannte poëtische Formen darstellt. (339)

Der beinahe kulturkritisch klingende Tadel der Degenerationserscheinungen, welche „die ehrwürdige tragische Form [...] zum Mittel herabgewürdiget“ (ebd.) haben, wird wohlgemerkt mit ausdrücklichem Bezug auf die theaterpraktische, und nicht nur auf die dichterische Realisation des Trauerspiels ausgesprochen. Die aus der Poetologie der „Wechsel der Töne“ und aus der philosophischen Reflexion entnommenen Formeln der „harmonisch wechselnd“ fortschreitenden Töne, die eine „lebendige“, weil in sich differenzierte Einheit formen, skizzieren eine Tragödientheorie und visieren eine Bühnenpraxis an, in der sich nach Hölderlins Auffassung „die Verfasser und das Publikum“ auf „die Bedeutung und den Eindruk des Ganzen“ konzentrieren könnten.28 In diesem Sinne soll ein Trauerspiel eben „das Ideal eines lebendigen Ganzen“ darstellen. Erst unter diesen Prämissen kann in der Moderne, auf die Hölderlins Ausführungen letzten Endes hinzielen, eine aus der Antike nicht blind übernommene „tragische Form“ Leben annehmen29 – ein Begriff, der bei Hölderlin poetologischen

|| 28 Hölderlins Blick auf die „Form des Trauerspiels“ ist bereits hier (auch) szenisch und performativ in dem Sinne, in dem es in den späteren Sophokles-Anmerkungen und der dort anvisierten „Poetik der Zäsur“ (Primavesi 2005, 205) oder, wie ich es nennen würde, Metrik der Tragödie noch deutlicher wird. Man vergleiche etwa die hier nur kurz aufscheinenden Hinweise auf die zeitlich-rhythmische Struktur und Dynamik (Stichworte: „Gang“, „fortschreitend“) mit den in den Anfangsteilen der Sophokles-Anmerkungen aufzufindenden Gedanken über „Rhythmus“ und „Zäsur“, über den „tragische[n] Transport“ und den „reißenden Wechsel der Vorstellungen“ (vgl. unten, 1.4). 29 Die „tragische Form“, fährt Hölderlin fort mit Anklängen an Der Gesichtspunct... und im Zeichen des poetologisch verstandenen Leben- und Ganzheits-Begriffs, „war todt geworden, wie alle andre Formen, wenn sie die lebendige Seele verloren, der sie wie ein organischer Gliederbau dienten, aus der sie sich ursprünglich hervor bildeten“ (StA 6, 339). – Ähnlich begründete Überlegungen in Briefen an Freunde im Spätjahr 1798, vgl. An Neuffer, 12. November 1798 und An Sinclair, 24. Dezember 1798.

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Anspruch hat und gerade in dem hier skizzierten Zusammenhang von großer Bedeutung erscheint.30 ‚Lebendig‘ kann die antike „tragische Form“ erst in einer nicht auf Nachahmung basierenden, sondern der Differenz bewussten Umwandlung werden. Nicht zuletzt wegen der in der zitierten Stelle mitgedachten Realisation für ein / vor einem Publikum, schwingt in diesem Wort das Theater mit, in dem Sinne, dass man hier auch die Bühnenrealisation mitdenkt, in der erst ein Theatertext ‚lebendig‘ wird. Das „unaufhörliche Insistieren der Vergangenheit auch und gerade unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart“ (Rühle 2002, 143) steht auch in geschichtsphilosophischer Perspektive hinter der Tragödienkonzeption: auffällig ist dabei die unmittelbare Nähe und Kontinuität von Reflexion und Schreibpraxis bei Hölderlin. Die Gleichzeitigkeit von Dichten und Denken bestimmt die Arbeit an den verschiedenen Fassungen der fragmentarischen Tragödie Der Tod des Empedokles, die größtenteils 1799 in Bad Homburg entstanden sind, wie nun knapp zu besprechen ist, bevor Hölderlins erstes antik-modernes Dramenprojekt in seiner tendenziellen theatralischen Bestimmung und Beschaffenheit erörtert wird. Hölderlin hatte Ende September 1798 Frankfurt verlassen und bei Glaser Wagner in der damals einfach Homburg genannten Stadt eine Unterkunft gefunden.31 Im Landgrafensitz sollte er bis zum Frühjahr 1800 bleiben: Als er im Juni desselben Jahres, nach einem Aufenthalt bei der Mutter in Nürtingen, in das Stuttgarter Haus des Freundes Landauer zog, hatte er die Arbeit am Trauerspiel schon seit Jahresbeginn aufgegeben. Ein erneutes Aufgreifen der Arbeit am Empedokles ist nicht bezeugt, auch nicht das Erwägen eines anderen dramatischen Stoffes.32 Während dieses ersten

|| 30 Zum „Lebendigen“ als poetologischen Begriff siehe die Studie von Mariagrazia Portera, die sich dadurch auszeichnet, Hölderlins Ästhetik und Dichtung dezidiert in ihrem zeitgenössischen, philosophischen und literarischen Kontext zu lesen. Porteras Schwerpunkt liegt auf den Texten bis 1800; eine wichtige Rolle spielt in ihrer Interpretation auch das Empedokles-Projekt, wobei sie diesbezüglich zu Schlussfolgerungen kommt, die nur teilweise mit den in dieser Arbeit vertretenen Thesen übereinstimmen. Wertvoll für vorliegende Studie sind Porteras Anregungen auf den Spuren Birkenhauers, die „esigenza di sperimentazione e di reperimento di soluzioni poetiche originali“ als Grundzug von Hölderlins agonaler Auseinandersetzung mit dem antiken und modernen dramatischen Kanon zu betrachten (Sophokles, Goethe, Schiller, vgl. Portera 2010, 63–128, hier 74). Dabei wird aber Hölderlins Trauerspiel ausdrücklich und lediglich als Lesedrama betrachtet, szenische und performative Aspekte werden außer Acht gelassen (auch im Hinblick auf den Begriff des „Lebendigen“), und dessen Unvollendetsein wird m.E. zu apodiktisch als eine Art ‚Ende der Tragödie‘ interpretiert (19). 31 Im Brief an Neuffer vom 12. November 1798 ist der erste konkrete und direkte Beleg der Arbeit am Trauerspiel zu finden, von der bis dahin nur mittelbare Nachweise auftauchten: „Es ist etwas über einen Monath, daß ich hier bin, und ich habe indessen ruhig, bei meinem Trauerspiel, im Umgang mit Sinklair, und im Genuß der schönen Herbsttage gelebt“ (StA 6, 288). 32 Die während der Vorarbeiten zu den Ausgaben zu Lebzeiten des Dichters rege zirkulierende Nachricht, Hölderlin habe eine Tragödie über den spartanischen König Agis (Agis IV.) bis zu einem gewissen Reifestadium angefertigt, basiert auf indirekten Belegen, die, wie moderne Herausgeber überzeugend dargestellt haben, nicht (nur) auf diesen Schluss hin zu lesen sind. Die Agis-Bearbeitung hätte

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Homburger Aufenthalts – Hölderlin sollte dort noch einmal zwischen dem 26. Juni 1804 und dem 11. September 1806 mit der Scheinbeschäftigung eines Hofbibliothekars wohnen, bevor er in das Tübinger Autenriethsche Klinikum verbracht wurde – beschäftigte ihn das entstehende Trauerspiel wohl am intensivsten, nachdem der zweite und letzte Band des Hyperion schon in den ersten Wochen nach der Ankunft in Homburg abgeschlossen worden war.33 Zum Empedokles-Projekt gehören neben den drei so genannten entwurfsartigen „Fassungen“ des Dramas und manchen Plänen auch einige poetologische Fragmente (Grund zum Empedokles bzw. Über das Tragische bzw. Die tragische Ode… und Das Werden im Vergehen bzw. Das untergehende Vaterland…, je nach Ausgabe anders betitelt). Andere, ebenfalls 1799 entstandene Aufsätze galten dem Projekt einer „poëtische[n] Monatsschrift“ mit dem Titel Iduna, die auch den Druck des Dramas hätte aufnehmen sollen.34

|| sowieso nicht zu der Zeit nach der Aufgabe des Empedokles-Projekts gehört. Vgl. Sinclair an Hölderlin, 8. Februar 1799: „Daß du nichts von Agis schreibst [...] läßt mich ahnen, daß Du stark daran gearbeitet hast“ (StA 7/1, 126); Friedrich Elsässer an Hölderlin, 26. Juni 1801: „Lieber, Verzeih, daß Dein Agis so spät ankommt. Ich hatte ihn rein vergessen, und bin dieser Tage zufällig daran erinnert worden.“ (ebd., 165); spätere Aussagen von Conz, Schwab und anderen (dazu Friedrich Beißner in den Erläuterungen, vgl. StA 4, 320ff.). Interesse für den Agis-Stoff hat wohl Hölderlin durch die Lektüre von Plutarchs Parallelbiographien entwickelt, wo Agis und sein Thronnachfolger Kleomenes (III.) den Gracchen gegenübergestellt werden (auf einen Plutarch-Band bezieht sich wohl der zitierte Brief von Elsässer; ein Bezug zu Johann Christoph Gottscheds Trauerspiel Agis, König zu Sparta ist nicht zu ermitteln). Eine Auseinandersetzung Hölderlins mit der Figur ist lediglich im Hyperion überliefert, wo Diotima den neugriechischen Helden darum bittet, „einiges von Agis und Kleomenes zu erzählen; ich hätte die großen Seelen oft mit feuriger Achtung genannt und gesagt, sie wären Halbgötter, so gewiß, wie Prometheus, und ihr Kampf mit dem Schiksaal von Sparta sei heroischer, als irgend einer in den glänzenden Mythen. Der Genius dieser Menschen sei das Abendroth des griechischen Tages, wie Theseus und Homer die Aurore desselben“ (StA 3, 100). Jochen Schmidt erörtert wie folgt den Zusammenhang mit der Romanstelle: „Die Bedeutung von Agis und Kleomenes [...] ergibt sich aus der Tatsache, daß beide große, ans Revolutionäre grenzende Sozialreformen unternahmen, mit denen sie allerdings scheiterten“ (DKA 2, 1045). Zum Verhältnis zwischen dem eventuellen Bruchstück über Agis und dem Tod des Empedokles schreibt Beck: „Hat Hölderlin im Winter 1798/99 den sozialreformerisch gesinnten Spartanerkönig zum Helden einer Tragödie, die Fragment blieb, machen wollen, so war dieser Versuch ein Vorläufer des Empedokles, doch stärker sozialkritisch eingestellt“ (StA 7/2, 459). 33 Erscheinen sollte der zweite Band des Briefromans erst ein Jahr darauf (Tübingen: Cotta 1799). 34 Hölderlin an Neuffer, 4. Juni 1799 (StA 6, 323). Auch das Zeitschriften-Projekt zeugt von Hölderlins entschlossenem Willen, sich in den öffentlichen kulturellen Diskurs der Zeit einzumischen und den Wettkampf mit konkurrierenden Entwürfen aufzunehmen – man denke in diesem Zusammenhang an die soeben eingestellten Horen Schillers oder an das gerade florierende Athenäum der Frühromantiker. Von „Konkurrenz“ mit dem Athenäum hat etwa Ulrich Gaier geschrieben (Gaier 1995, 24). Vgl. auch die Überlegungen Monika Sprolls, die Hölderlins Projekt als „Überbietung und Korrektur der zeitgenössischen ästhetischen Konkurrenz“ liest im Sinne einer sich mit der Position weder der Klassik noch der Romantik deckenden Ästhetik in Sachen Nachahmung und Humanität, Popularität und Originalität (Sproll 2006, hier 54).

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„Hölderlins Tragödientheorie steht gleichrangig neben der Hegels oder Nietzsches“ (Kreuzer 1998, XXXVI), obwohl diese seine Überlegungen über das Tragische, abgesehen von den 1804 erschienenen, die jeweiligen Sophokles-Übersetzungen begleitenden Anmerkungen zum Ödipus und Anmerkungen zur Antigone, nur in den erwähnten fragmentarischen, zu Lebzeiten nie veröffentlichten und größtenteils nicht für die Öffentlichkeit gedachten Texten ihren Ausdruck fanden. Im Rahmen von einer theoretischen und poetologischen Reflexion, die neben brieflichen Äußerungen bereits seit 1794 bruchstückhaft in bewusstseinstheoretischen Skizzen belegt ist und sich bis in die letzten Homburger Jahre erstreckt, ist es vor allem das Ringen um eine antik-moderne Tragödie zu Empedokles, das die entscheidende Wende herbeiführt und gleichzeitig die Reihe der tragödientheoretischen Texte eröffnet. Es besteht in der Forschung weitgehend Konsens darüber, dass spätestens ab dieser „Peripetie in der Homburger Zeit 1799/1800 […] [Hölderlins] theoretische Überlegungen über die Grenzen des idealistischen Systems“ hinausweisen (Kreuzer 1998, VII). Ebenso konsensfähig ist die zuletzt von Anke Bennholdt-Thomsen geltend gemachte Position, dass „die Arbeit am Drama zu einer Geschichtsphilosophie geführt“ hat: Zuerst im Grund zum Empedokles zwischen der Niederschrift der ‚zweiten‘ respektive ,dritten‘ Fassung, dann intensiver im „Hervorgehen des Aufsatzes [Das untergehende Vaterland; M.C.] aus der Arbeit am Trauerspiel [,dritten‘ Fassung; M.C.]“, was auch konkret im handschriftlichen Befund des Stuttgarter Foliobuchs dokumentiert ist. Während zu Beginn der Abfassung der letztgenannten geschichtsphilosophischen Schrift Hölderlin noch an ein Fortführen des dramatischen Projekts zu Empedokles (dem Handschriftseiten vorbehalten wurden, die dann leer blieben) dachte, kam es bald doch zu einem Abbruch. Bennholdt-Thomsen, die entgegen einer in der Forschung breit belegten Auffassung dieses Abbruchs als „Scheitern“ von einem „Erkenntnis-Fortschritt“ spricht, vertritt überzeugend die These, dass Hölderlin das Trauerspiel desto mehr aufgab, „je mehr er geschichtsphilosophisch Terrain auf dem Papier gewann“ (2015, 61–65). Die Fragen, die diese Skizzen anschneiden, sind theoretischer Art. Sie thematisieren die Tragödie nicht primär als Theatertext, schon gar nicht eignet ihnen eine inszenatorische Perspektive. Dies erinnert uns an die weit ausgreifende, von der Forschung bestätigte philosophische Bedeutung, die Hölderlin dem Tragischen beimaß. Nichtsdestotrotz bilden oft konkrete dramaturgische und theatralische Fragen die Angelpunkte der Reflexion, die darüber hinaus die allgemeine Möglichkeit einer Tragödie in der Moderne thematisiert und, mindestens tendenziell, auch deren mögliche Bühnenrealisierung als potentielles Endziel ins Auge fasst; dieser Schluss jedenfalls drängt sich auf, wenn man parallel die zeitgleichen brieflichen Äußerungen und dramaturgischen Plänen liest. Obwohl Hölderlins Poetologie also nur bedingt auf das Theatralische hin zu interpretieren ist, so scheinen doch in den theoretischen Texten

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blitzhaft Momente durch, in denen auch konkrete dramaturgische und szenische Fragen erörtert werden.35 Dabei erscheinen diese Aspekte, die in Hölderlins Auffassung der Sphäre der „Dichtung“ und ihrer öffentlichen Wirksamkeit (also auch der theatralischen) zugehören, die mühsame philosophische Reflexion erst voranzutreiben. Im Schlussteil des Fragments Über das Tragische mit dem Titel Der Grund zum Empedokles weicht etwa die Reflexion über das Verhältnis von Natur und Kunst der Betrachtung von Handlung und zentraler Gestalt des eigenen Trauerspiels, das mitten in der Niederschrift der so genannten zweiten Fassung vorerst beiseitegelegt worden war. Hölderlin erwägt die Einführung eines dramatischen Gegenspielers – ein dramaturgischer Eingriff, von dem sich der Dichter offensichtlich erneuten Elan für die stockende Arbeit erhoffte. Gerade in der Verwirklichung des theoretisch Erwogenen in den Empedokles-Bruchstücken erblickt die Forschung das ausschlaggebende Moment für eine Wende im Verständnis des Tragischen: „Mit diesem Dialogpartner tritt bezüglich der Theorie (der Möglichkeit) tragischer Darstellung jener entscheidende Wandel ein, der neben zeitgeschichtlichen Umständen das Ende der Arbeit am Empedokles-Projekt herbeigeführt haben dürfte“ (Kreuzer 1998, XL). Die dramaturgische Praxis kann also die philosophische Konzeption überbieten bzw. antizipieren,36 die Arbeit am Tod des Empedokles bedingt in einiger Hinsicht die Korrektur theoretischer Grundlagen, genauso wie umgekehrt die Reflexion zum Umdenken im Dramaturgischen geführt hat. Auch aus dieser Perspektive erscheint Hölderlins antik-modernes Theaterprojekt als poetologisches und philosophisches

|| 35 Zu einem Versuch an der Schnittstelle zwischen theatertheoretischer und philosophischer Perspektive verweise ich auf die Studie Martin Jörg Schäfers, der Hölderlins Tod des Empedokles als „Theatertext mit philosophischer Ausrichtung“ und Hegels Phänomenologie des Geistes als „philosophisches Buch mit Theatermetaphern“ im Zeichen einer „Dionysischen Theatralität“ erörtert (Schäfer 2003, 23); vgl. vor allem 86ff. zum „Szenischen Schreiben“. „Darstellung“ und „Inszenierung“ hat Marion Hiller als zentrale poetische (d.h. nicht diskursiv-philosophische) Sprechweisen in Hölderlins Poetologie erarbeitet (Hiller 2008); eine Deckung mit den entsprechenden theatralischen Begriffen ist jedoch nicht beabsichtigt und in den theoretischen Fragmenten schwer erkennbar. Vgl. unten, 1.4, die Erörterung der Sophokles-Anmerkungen, die m.E. stärker als die Homburger Fragmente die konkrete, sprachliche und körperliche Realisation der Tragödie auf der Bühne in die Argumentation miteinbeziehen. Es sei hier nur angemerkt, dass der in den Homburger Fragmenten Über das Tragische (auch: Die tragische Ode…) und Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes (auch: Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist) sowie in den späteren Anmerkungen ähnliche Verlauf der Gedankenführung – von der inneren Dimension des „poëtischen Geistes“ zum „Ausdruck“ und zur „Darstellung“ – nicht nur ‚dichtungsintern‘ gelesen werden kann, als Beschreibung der poetischen Verfahrensweise bis zur dichterischen Expression, sondern auch, im Hinblick auf die Tragödie, die „Darstellung“ im Sinne der Realisation auf der Bühne mit intendieren könnte. 36 „Was Hölderlin in der poetischen Arbeit am Stück Empedokles faktisch tut, ist schon jenseits dessen, was er als tragisch-dramatisches Gedicht konzipiert hat“ (Kreuzer 1998, XL).

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opus in fieri einer Überwindung des Klassizismus und des Idealismus37 – was natürlich nicht ausschließt, dass Klassizismus und Idealismus den Nährboden für Hölderlins Arbeit dargestellt haben. Gerade das Ineinandergreifen von Rückgriff auf die Antike einerseits und bewusstem Gegenwartsbezug andererseits sprengt aber die Anfangskoordinaten und beschleunigt die Erarbeitung einer Theaterästhetik, die zugleich ursprünglich, aktuell und unzeitgemäß ist: ursprünglich, denn auf die geschichtliche und theoretische origo der Tragödie bezogen, aktuell, denn gegen jedwedes Nachahmungspostulat für die gegenwärtige Zeit gedacht, und schließlich unzeitgemäß, denn sie überbietet gedanklich und sprachlich die zeitgenössische Praxis und weist über sie hinaus.38 Philosophisch gesehen gibt es nach der Homburger „Peripetie“ sozusagen kein Zurück mehr. Es besteht zweifellos ein Bruch zwischen der Auffassung einerseits, die für die Phase des Empedokles-Projekts charakteristisch war und im Tragischen die „Darstellungs- und Kunstform des Gehalts und der Struktur der intellektuellen Anschauung“ erblickte sowie die „geschichtlich-faktische Bedeutung“ der (tragischen) Kunst als „Agens geschichtlicher Umwälzung“ verstand, und andererseits der späteren „geschichtsphilosophische[n] Reflexion dessen, wie Veränderung als Prozeß des Übergangs, in dem das Tragische zum Moment wird, zu denken ist“, bei der „ein Reflexions- und Sprachgeschehen [...] an die Stelle des tragischen Geschehens“ tritt. Solcher „paradigmatische Wechsel im Verständnis von Geschichte und der freien Kunstnachahmung“ – letzterer ein Begriff aus dem unmittelbar nach dem Ende des Empedokles-Projekts verfassten Fragment Das untergehende Vaterland – sollte „in Rücksicht auf die Tragödie [...] in den Sophokles-Anmerkungen konkretisiert“ werden || 37 Auch hierhin scheint mir Bennholdt-Thomsens neuere Lesart am überzeugendsten, wenn sie mit Bezug auf die späten Empedokles- und Homburger-Fragmente Hölderlin bescheinigt, „den Idealismus der Zeitgenossen“ zu überwinden: Hier hinsichtlich der Vorstellung eines Krisenzustands der Natur, allgemein in der in den letzten Niederschrifts- und Reflexionsphasen aufscheinenden Hinwendung zur Zentralität des Volkes und zu gesellschaftlich-politischen Fragen gegenüber der Subjektivität des Helden/Einzelnen, der „für die politisch aktive Veränderung der Gesellschaft letztlich nicht verantwortlich zu machen“ sei. Diese „Tendenz der dramatischen Bearbeitung“ nennt BennholdtThomsen explizit „modern“, um sie dann mit Beispielen aus dem Drama des 20. Jahrhunderts zu vergleichen: mit Tollers Masse Mensch (1919) und, sehr bezeichnend für diese Untersuchung, mit Peter Weiss’ Dichterdrama Hölderlin (1971) (Bennholdt-Thomsen 2015, 61–65 und ff., vgl. zu Weiss 3.2.4). 38 Unterstreicht Primavesi (2005) 206ff., dass „Hölderlins Sophokles-Übersetzungen [...] die Tragödie der klassizistischen Ästhetik“ entziehen und „einen fremden, verdrängten Ursprung der griechischen Kultur heraus[arbeiten]“, so sehe ich solche doppelte Vektorialität (Rückbezug auf den antiken Ursprung im Bewusstsein der Unumgänglichkeit moderner produktiver Transformation statt Nachahmung) spätestens seit dem Fragment Der Gesichtspunct... als grundlegend für Hölderlins Antike-Moderne-Verständnis an. Dass dies auch der Hauptweg ist, den sich die Hölderlin-Rezeption durch die Wiederentdeckung bahnen sollte, zeigen u.a. Primavesis scharfe Beobachtungen zu Hellingrath und vor allem zu Benjamin, denn auch bei diesem sei genauso wie bei Hölderlin das „Fortleben tragischer Formen nicht klassizistisch als Bewahrung ‚griechischen Geistes‘ zu denken, eher als dessen produktive Entstellung“ (ebd.).

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(Kreuzer 1998, XXXVIff.). Nicht mehr als „Metapher einer intellectuellen Anschauung“ (so noch in der Homburger Schrift Über den Unterschied der Dichtarten, 1798/99, StA 4, 266), sondern als „Akt ursprünglicher Sprachfindung“ bringe die Tragödie „das ursprüngliche Bewußtsein von Geschichte zur Sprache“. Die Tragödie, so erörtert Kreuzer den Schluss der Anmerkungen zur Antigone (1804), betrachte Hölderlin „als einmaliges Datum, das seinen geschichtlichen Ort und seine geschichtliche Zeit hat“ (Kreuzer 1998, XLVI).39 Ein anderes Bild ergibt sich hingegen, wenn man der dramatisch-übersetzerischen Praxis vor der theoretischen Entwicklung den Vorrang gibt, genauer, wenn man die Empedokles-Fragmente und die spätere Arbeit an den Sophokles-Tragödien als Entwürfe eines antik-modernen Theaterprojekts sieht, also im Zeichen der Kontinuität. Kann man mit Birkenhauer bereits im ganzen Empedokles-Projekt das „Experiment einer anderen Sophokles-Lektüre“ erblicken,40 die ausdrücklich eine nachund antiklassizistische ist, ja ein innovativer Versuch, antike Tragödie und modernes Trauerspiel in eine neue theatralische Form zu integrieren, so erscheinen Hölderlins Bemühungen um eine zeitgemäße Tragödie zwischen 1797 und 1804 als anhaltendes Insistieren auf ein Theater, das seinen Anspruch auf Gültigkeit und Wirksamkeit in der Gegenwart keineswegs revidiert.41 Selbst die Vorstellung, dass die Nichtvollendung der Empedokles-Tragödie einen tragödientheoretischen Bruch mit sich gebracht habe, kann einer eher die Kontinuität der Praxis betonenden Ansicht weichen, wenn

|| 39 Vgl. unter den vielen darin übereinstimmenden Einschätzungen Peters/Schäfer (1997) 305, wo von einer „entscheidende[n] Änderung des Tragödienverständnisses“ nach dem Aufgeben des Empedokles-Projekts die Rede ist, die sich im „Transport“-Begriff der Antigone-Anmerkungen entfalten würde. 40 Vgl. Birkenhauer (1996) und Birkenhauer (2002). Die Kontinuitätsthese hat Theresia Birkenhauer in ihren Empedokles-Studien auch gegen anhaltende Vorurteile der Forschung verteidigt. Vgl. auch oben, Anm. 26, hinsichtlich der Frage einer „Überwindung des Klassizismus“. Gegen die „These vom ‚Scheitern‘ des dramatischen Werks“, das „auf eine fehlende Disposition Hölderlins zum dramatischen Dichter“ zurückgeführt wird, erörtert Birkenhauer die Empedokles-Fragmente als „poetische[s] Experiment einer neuen Form tragischer Dichtung“. Es sind vor allem „Hölderlins Verzicht auf Dramaturgien des tragischen Konflikts“ und die „fortschreitende Infragestellung des tragischen Helden als souveräner Individualität“, die im Laufe der Arbeit an den verschiedenen Fassungen für die „Kontinuität von Hölderlins Arbeit“ geltend gemacht werden, auch Jahre nach der Aufgabe des Projekts: „Hölderlins späte Übersetzungen des Sophokles haben in dieser Befragung ihre Voraussetzung“ (Birkenhauer 2002, 199–222). Vgl. in Fortführung von Birkenhauers Ansatz Primavesi (2008), bes. 450ff. 41 Die aus der theoretischen Entwicklung hergeleitete Schlussfolgerung, Hölderlin gebe „mit dem Empedokles-Projekt die Darstellung des Tragischen als zeitgemäße Kunstform“ auf und erarbeite eine Theorie der Tragödie als „geschichtsphilosophische und poetologische Klärung einer vergangenen Kunstform, die im Bewußtsein ihrer geschichtlichen Differenz ihren Sinn gewinnt“ (Kreuzer 1998, XXXVII), kann kaum mit der konkreten Bestimmung von Hölderlins transformierender Tragödienübersetzung für das zeitgenössische deutsche Theater in Einklang gebracht werden, es sei denn, man akzeptiert die Widersprüchlichkeit zwischen Theorie und Praxis.

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man den experimentellen Charakter von Hölderlins dramatischem opus in fieri bedenkt und dadurch auch erklärt, inwiefern Shakespeares, Goethes und Schillers moderne Dramatik als Vorbild und Inspirationsquelle dient42 und gleichzeitig die Ausführung der Tragödie eine Anlehnung an das Sophokleische Muster erkennen lässt.43 Die Kategorie „Experiment“ erscheint in dieser Hinsicht für Hölderlins Theaterentwurf besonders aufschlussreich, da sie dessen dreifache Vektorialität (Antike-Moderne-Zukunft) zur Geltung bringt und sein künstlerisches und ästhetisches Erneuerungsstreben subsumiert: Sowohl das Empedokles-Projekt als auch die SophoklesÜbersetzungen können in diesem Sinne als Versuche verstanden werden, antike und moderne Dramaturgien und Theatralitätsformen für ein aktuelles, sich ständig fortbildendes Theater zu transformieren. Erst aus dieser Perspektive, welche der konkreten Bestimmung von Hölderlins Theatertexten für die Bühne um 1800 Rechnung trägt, ist auch ihre Unzeitgemäßheit zu verstehen: nicht als eine intendierte Inaktualität, als bewusstes Schreiben für eine Bühne, die noch nicht existiert,44 sondern als Ergebnis der sprachlich und gedanklich experimentellen Beschaffenheit von Hölderlins Theatertexten; ihre äußerst prekäre Präsenz, wenn nicht Abwesenheit im zeitgenössischen Diskurs ist Folge konkreter Faktoren und kein intendiertes ästhetisches Eremitentum. Es wäre darüber hinaus möglich, in weiteren Vorbereitungs- und Begleittexten des Empedokles-Projekts den Zusammenhang herauszufinden von 1) Rückblick auf antike, als lebendig betrachtete Vorbilder, 2) Anspruch auf eine Wirksamkeit im kon-

|| 42 Der nur sporadisch für die Interpretation des Empedokles hinzugezogene Shakespeare war durchaus präsent in Hölderlins Theaterdiskurs (vgl. oben, Anm. 8); konkret als Vorbild wurden vor allem seine Dramen Julius Caesar und Timon of Athen für strukturelle und thematische Elemente des Empedokles genannt (vgl. Birkenhauer 2002, 209; Hamlin 2007, 278f.). Parallelen zu Goethes Iphigenie erarbeitet Primavesi (2008) 453; zu Faust-Anklängen und zu Hölderlins Kenntnisnahme der 1790 veröffentlichten Fragment-Fassung vgl. Gaier (1993) 295f. Portera (2010) 63–128 erarbeitet vor allem die gewollte Distanz von Hölderlins Drama zum zeitgenössischen Kanon (Goethe, Schiller). Zur Vorbildfunktion der Dramen Schillers vgl. oben, 1.1. 43 Vgl. oben zu den Parallelen mit dem Ödipus auf Kolonos sowie Birkenhauer (2002) 221; zu AiasAnklängen in der krisenhaften Selbsterkenntnis der Hauptfigur vgl. auch Hamlin (2007) 274f. Wenn man darüber hinaus folgende Eloge griechischen Formbewusstseins mit den oben erwähnten, zeitnahen Lobesworten über die sichere Kompositionsstruktur von Schillers Dramen vergleicht, so wird die doppelte, antike und moderne Inspirationsperspektive von Hölderlins Tragödienprojekt deutlich: „ich muß erstaunen, […] wenn ich den sichern, durch und durch bestimmten und überdachten Gang der alten Kunstwerke ansehe“ (An Neuffer, 4. Dezember 1799, StA 6, 380). Von der „Zuverlässigkeit“ der griechischen Kunstwerke, die „mit ihrem gesezlichen Kalkul und sonstiger Verfahrungsart“ den modernen ein Beispiel sind, sollte fünf Jahre später in den Anmerkungen zum Ödipus die Rede sein (1804, StA 5, 195) – ein weiterer Beweis für die Kontinuität von Hölderlins Antike-Verständnis jenseits des Klassizismus. 44 Vgl. unten, Anm. 58, für Goethes Rüge auf die „junge[n] Männer von Geist und Talent […], die auf ein Theater warten, welches da kommen soll.“

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kreten gegenwärtigen Theater und 3) experimenteller Überwindung von zeitgenössischen ästhetischen Positionen – damit sind die drei Fluchtpunkte von Hölderlins Theater genannt: Antike, Moderne, Zukunft. Sowohl im Plan der dritten Fassung als auch im Entwurf zur Fortsetzung der Dritten Fassung scheint etwa die Poetologie der „Wechsel der Töne“ als dramaturgisch strukturierender Grundsatz auf,45 während umgekehrt das tabellarische Schema der Poetologie der Töne Aj. (für Ajas) und Ant. (für Antigone) unter dem Stichwort T. (für das Tragische) erwähnt:46 Die zwei Tragödien des Sophokles werden somit als exempla für eine ganz auf die Gegenwart gerichtete avantgardistische Poetologie betrachtet, die ihrerseits dramaturgische Bausteine zur Erarbeitung eines für die zeitgenössische Bühne gedachten Antikendramas wie Empedokles liefert. Hölderlins Theaterprojekt erweist sich auch in dieser Hinsicht als experimentelle Konkretion von Antike, Moderne und Zukunft. Sophokles’ „Antigonä“ taucht auch in den poetologischen Aufzeichnungen Über den Unterschied der Dichtarten als Beispiel auf, diesmal zusammen mit „Oedipus“ (gemeint ist König Ödipus): dies bestätigt die Präsenz des alten Tragikers als expliziter Bezugspunkt in den Homburger poetologischen Fragmenten und stellt einen weiteren Beweis für die Durchdringung von Töne-Lehre und Reflexion über Wesen und dramaturgischen Bau der Tragödie dar.47 Erst mittelbar, in den diffizilen Gedankengängen solcher Fragmente, kommt die Bemühung des Dramatikers zum Vorschein,

|| 45 Vgl. StA 4, 163–166 und 167f., wobei im späteren Entwurf zu den Termini aus besagter Poetologie („naiv“, „heroisch“, „idealisch“) auch die damit verknüpften traditionellen Gattungsbezeichnungen hinzukommen, etwa „lyrisch“ und „episch“. Eine Analyse der dritten Empedokles-Fassung anhand der Töne-Lehre hat Simon (1967) versucht, ohne jedoch mögliche Auswirkungen der tonalen Komposition auf Fragen der Dramaturgie und der Inszenierung zu berücksichtigen (Rhythmus, Gestik usw.). 46 Vgl. Wechsel der Töne, StA 4, 238–240, hier 239. Zum musikbegrifflichen Hintergrund vgl. einführend Holger Schmids Beitrag, wo aus der Analyse der Töne-Lehre Ergebnisse gezeitigt werden, die sich mit den hier angelegten Überlegungen decken, sowohl was die frühe Datierung eines dynamischen Antike-Moderne-Programms bei Hölderlin betrifft als auch mit Bezug auf sein dezidiertes produktives Experimentieren: „Das Hölderlinische Interesse [ist] offenbar gerade auf die Gegenwart und Zukunft der Poesie gerichtet […]: nichts wünscht der mit einer Tragödie befaßte Dichter weniger, als selbst Homeride zu sein“ (Schmid 2002, 118, 120). 47 „Ist die intellectuelle Anschauung subjectiver, und gehet die Trennung vorzüglich von den conzentrirenden Theilen aus, wie bei der Antigonä, so ist der Styl lyrisch, gehet sie mehr von den Nebentheilen aus und ist objectiver, so ist er episch, geht sie von dem höchsten Trennbaren, von Zevs aus wie bei Oedipus, so ist er tragisch“ (StA 4, 270). In einer früheren Passage desselben Fragments war die immer wieder zitierte Definition des Tragischen als „Metapher einer intellectuellen Anschauung“ gefallen (ebd., 266), die hier Differenzierungen erfährt, welche in etwa die Ausführungen in den späteren Sophokles-Anmerkungen vorwegnehmen. Der Aufsatz wird in der FHA 14 mit dem Titel Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht… ediert und (frühestens) auf den Sommer 1800 datiert – er folgt demnach unmittelbar den poetologischen Tafeln über den „Wechsel der Töne“ und mit größerem chronologischem Abstand dem längeren Entwurf Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… (sonst auch betitelt: Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes). Letzterer Text, genauso wie

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die Überlegungen nicht per se anzustellen, sondern in der Absicht, eine Tragödie für die Bühne der eigenen Zeit zu verfassen. Gerade Ödipus und Antigone, die Hölderlin wenige Jahre danach auch mit diesem konkreten Ziel transformierend übersetzen und kommentieren sollte, werden hier mobilisiert im Rahmen eines tastenden Befragens und Nachsinnens, das über das praktische Versagen der Projekte der Homburger Jahre hinweghelfen soll. Trotz großer Bemühungen wurden nämlich beide Projekte, das dramatische zu Empedokles und das publizistische der Iduna-Zeitschrift, nicht realisiert. Letzteres scheiterte im Entstehen, da die von Hölderlin angeworbenen Mitarbeiter gar nicht oder negativ antworten. In Aussicht gestellte Erträge blieben aus, die dadurch finanziell sehr gedrückte Lage zwang Hölderlin zur Erwägung erneuter Ortswechsel; auch diese konkreten Umstände bedingten die Aufgabe des Trauerspiel-Projekts. Vom Tod des Empedokles sind also nur drei fragmentarische Entwürfe und drei Pläne erhalten: Ein früherer (Frankfurter Plan) und zwei spätere, die in den Zusammenhang des dritten Entwurfes gehören (Plan zum dritten Entwurf, Entwurf zur Fortsetzung, je nach Ausgabe anders betitelt). Unter den drei dramatischen Bruchstücken ist das erste, im Spätsommer/Frühherbst 1798 begonnene das längere („Erste Fassung“) und bildet zusammen mit dem zweiten („Zweite Fassung“) eine Einheit, während das dritte von einem von den Interpreten je anders bewerteten Neuansatz zeugt („Dritte Fassung“). Ab dem Jahrhundertwechsel 1799/1800 überlagern sich wohl die letzten Skizzen zur Fortsetzung und die theoretischen Texte, in denen der Dichter um einen Ausweg aus der Schreibblockade ringt. Gleichfalls intensiv waren in den zwanzig Homburger Monaten um 1799 – neben der nie versiegenden lyrischen Produktion – Hölderlins Beschäftigung mit politischen Fragen und sein Umgang mit republikanisch gesinnten „junge[n] Männer[n] voll Geist und reinen Triebs“.48 Den anfänglichen Höhepunkt bildete wohl die Teilnahme am Rastatter Kongress im November 1798, eine entscheidende Wende zeichnete sich mit Napoleons Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. November 1799) ab.49 Diese historisch-politischen Hintergründe wurden für die Interpretation der Empedokles-Tragödie und für die philologische Rekonstruktion des internen Verhältnisses

|| der frühere Über das tragische und die späteren Sophokles-Anmerkungen, ist durch eine Argumentationsstruktur gekennzeichnet, die im Schlussteil zu Fragen der dichterischen Realisation übergeht, hier unter dem Zwischentitel Winke für die Darstellung und Sprache. Versuche, den Darstellungs-Begriff auch in Richtung auf die Verwirklichung der Tragödie in der Aufführung hin zu lesen, sind mir nicht bekannt, vgl. 1.4 für einige diesbezügliche Ausführungen zu den Sophokles-Anmerkungen. 48 An den Bruder, 28. November 1798 (StA 6, 295). 49 Vgl. An die Mutter, 16. November 1799, mit dem Nachtrag: „Eben erfahre ich, daß das französische Directorium abgesezt, der Rath der Alten nach St. Cloux geschikt, und Buonaparte eine Art von Dictator geworden ist“ (StA 6, 374), und den unvollendeten Briefentwurf An Ebel, wohl vom späten November 1799, in dem Hölderlin dem zu jener Zeit in Paris lebenden Johann Gottfried Ebel die eigene Enttäuschung über die letzteren Ereignisse in Frankreich mitteilen wollte.

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zwischen den drei „Fassungen“ herangezogen; außerdem sollen sie dafür verantwortlich sein, dass Hölderlin die Arbeit am Trauerspiel aufgegeben hat.50 Diese zeitnahe Stringenz des Stückprojekts bestätigt aus einer anderen Perspektive dessen Insistenz auf die Gegenwart – hier die historisch-politische – bei gleichzeitigem Rückbezug auf die Antike;51 sie sollte darüber hinaus im Hinblick auf spätere politisch-ideologische Aktualisierungen bei Bühnenbearbeitungen bzw. Inszenierungen nicht aus den Augen verloren werden, die den Revolutions-Diskurs des Empedokles immer wieder und auf jeweils andere Art reaktivierten. Genauso wie prägende philosophische und religiöse Aspekte ist auch diese aktuell-politische Dimension der Theaterbruchstücke zu Empedokles durchaus präsent in der Werkstatt des dramatischen Dichters, wie brieflichen Äußerungen aus der Entstehungszeit zu entnehmen ist. Mit gebotener Vorsicht kann man sie in Verbindung mit konkreten Ansichten Hölderlins um 1799 bringen. Dies zeigt z.B. die offenbare Verwandtschaft zwischen den antimonarchischen Aussagen im Brief an Neuffer vom Weihnachstabend 179852 und der wohl meistzitierten Zeile aus der ersten Fassung vom Tod des Empedokles, wo der Protagonist die ihm von den Agrigentinern angebotene Krone mit den Worten ablehnt „Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr“ (StA 4, 62). Im ‚Revolutionsaufruf‘ fordert er sie dann auf, was ihnen „der Väter Mund erzählt, gelehrt, / Gesez und Brauch, der alten Götter Nahmen“ kühn zu vergessen und „wie Neugeborne, / Die Augen auf zur göttlichen Natur“ zu heben (65). In demselben Maße jedoch wie im fiktionalen Zusammenhang eine solche ‚Revolution‘ nicht nur politisch-gesellschaftlich gemeint ist, sondern das ganze Leben betrifft und somit (natur-)religiöse, existentielle, philosophische usw. Auswirkungen haben soll, erweist sich auch das ganze Empedokles-Vorhaben qua „Poësie“ im Sinne Hölderlins als ein Mittel der Vereinigung der Menschen „zu einem lebendigen tausendfach gegliederten innigen Ganzen“, wie es im bereits zitierten Brief heißt. Aus einer wirkungsästhetischen Perspektive gesehen lässt sich Hölderlins Trauerspiel als ein Theaterprojekt bezeichnen, das auch „die philosophisch politische Bildung“ des || 50 Vgl. Kreuzer (1998), XXI zur Verknüpfung der politischen Ereignisse und deren geschichtsphilosophischer Deutung mit der „entscheidende[n] Peripetie“ in Hölderlins theoretischem Werk. 51 Das attische Drama ist auch für die politische Brisanz von nicht unmittelbar gegenwärtigen Stoffen ein Vorbild – Vgl. oben, 1.1, zu Hölderlins früher Einsicht in die Bedeutung der antiken Tragödieninszenierungen für das ganze gemeinschaftliche Leben der polis. 52 „Ich habe dieser Tage in Deinem Diogenes Laërtius gelesen. Ich habe auch hier erfahren, was mir schon manchmal begegnet ist, daß mir nemlich das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast tragischer aufgefallen ist, als die Schiksaale, die man gewöhnlich allein die wirklichen nennt [...]. Es ist auch gut, und sogar die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden. Die absolute Monarchie hebt sich überall selbst auf, denn sie ist objectlos; es hat auch im strengen Sinne niemals eine gegeben“ (An Sinclair, Entwurf, 24. Dezember 1798, StA 6, 300). Nicht zufällig taucht dieser Ausdruck republikanischer Gesinnung in Verbindung mit der Lektüre der Leben und Meinungen berühmter Philosophen auf, Hölderlins primärer Quelle zu Leben, Lehre und Tod des Empedokles von Akragas.

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Publikums berücksichtigt, sie aber erst in der alles vereinigenden Form der Poësie möglich denkt.53 In dieser das ganze Leben integrierenden und die ganze menschliche Gemeinschaft betreffenden Sphäre will Der Tod des Empedokles als antik-moderne Tragödie in der Jetztzeit ihres literarischen und theatralischen Vollzugs wirken.54 Angesichts des skizzierten ausgeprägten Gegenwartsbezugs des EmpedoklesProjekts mag es erstaunen, dass ausdrückliche Hinweise Hölderlins auf eine erhoffte Inszenierung fehlen. Dass der erste Schritt in die Öffentlichkeit der belegte Plan eines Drucks in Iduna hätte sein sollen, schließt allerdings nicht aus, dass Hölderlin den dramatischen Text im Hinblick auf eine Aufführung verfasst hat. Auch bei den späteren Sophokles-Übersetzungen wurde die Möglichkeit einer Aufführung von Hölderlin erst dann zum Ausdruck gebracht, als die Veröffentlichung bevorstand – ein Grad an Reife, den die Empedokles-Tragödie nie zu erreichen vermochte.55 Bei einem nicht etablierten Theaterautor, wie Hölderlin, der auch keinen unmittelbaren Kontakt mit einer Bühne hatte, wäre der umgekehrte Weg auch nicht denkbar gewesen, selbst wenn manche Eigenschaften des Projekts – die Zugehörigkeit zur damals großen Anklang findenden Gattung des Antikendramas und dessen philosophische und politische Aktualität – durchaus für eine Aufführung im Theater der Goethezeit gesprochen hätten.56 Neben solchen Umständen, die eine behutsame Auslegung des Schweigens Hölderlins über die Bestimmung seines Trauerspiels für die Bühne nahe-

|| 53 Vgl. den Neujahrsbrief an den Bruder: „Nicht, wie das Spiel, vereinige die Poësie die Menschen, sagt’ ich; sie vereinigt sie nemlich, wenn sie ächt ist und ächt wirkt, [...] zu einem lebendigen tausendfach gegliederten innigen Ganzen, denn ebenso diß soll die Poësie selber seyn, und wie die Ursache, so die Wirkung. [...] so hat die philosophisch politische Bildung schon in sich selbst die Inkonvenienz, daß sie zwar die Menschen zu den wesentlichen, unumgänglich nothwendigen Verhältnissen, zu Pflicht und Recht, zusammenknüpft, aber wie viel ist dann zur Menschenharmonie noch übrig?“ (An den Bruder, 31. Dezember 1798 / 1. Januar 1799, StA 6, 306f.). Die Briefe an Neuffer (Weihnachtsabend 1798) und an den Bruder (Jahreswechsel) sowie der kurz darauf verfasste Brief an die Mutter (Januar 1799) entstammen m.E. alle der Diagnose des 30-jährigen über seine dichterische Berufung im Spannungsfeld zwischen Poesie, Philosophie, Politik und Religion und über seine existentiell und ästhetisch immer stärker empfundene Isolation. 54 In diesem Sinne ist Der Tod des Empedokles durchaus „a quintessentially modern drama“, wie Cyrus Hamlin es bezeichnet hat. Als „transformation of an ancient model into an appropriate modern form“, Hamlins Definition von Hölderlins „hellenism“, verstehe ich auch das Empedokles-Projekt sowie mutatis mutandis die bei Hamlin nicht erörterten Sophokles-Übersetzungen (2007, 178ff.). 55 Stanley Corngold bringt es so auf den Punkt: „Hölderlin wanted to complete and stage his tragedy Empedocles: it mattered enormously to him to do so, but he never finished writing it“. Er erwähnt dann im Laufe seiner Studie auch die „wonderful, if unprovable, assumption“ von Pierre Bertaux, nach der Hölderlin „originally conceived of Empedocles as a state play, to be performed in honor of the longed but never realized Swabian Republic“ (Corngold 1999, 215, 220). 56 Vgl. Gaier (1993) 317: „Diese Tragödie hätte wahrscheinlich in wetteifernder Überbietung zu Goethes Faust, Tasso und Schillers Wallenstein stehen sollen und können“.

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legen, spricht auch die Beschaffenheit des Textes bzw. der Texte selber für eine Bühnendestination des ganzen Projekts, wenn auch in einer Form, die womöglich den Theaterkonventionen der Zeit nicht angemessen gewesen wäre. Dass Hölderlin seine Theatertexte auf eine aktuelle Wirkung hin verfasst hat und dass es sich also aus der Autorperspektive um durchaus zeitgemäße Werke handelte, schließt nicht aus, dass sie von den Zeitgenossen des Dichters nicht rezipiert wurden, dass sie also aus einer wirkungsgeschichtlichen Perspektive unzeitgemäß waren.57 So hätte wahrscheinlich gerade die Sprache des Empedokles, die in vereinzelten Rezeptionsfällen des 19. Jahrhunderts, in der Regiepraxis des 20. Jahrhunderts sowie in der Forschung der letzten Jahrzehnte als durchaus bühnentauglich erkannt worden ist, eine Aufführung der vollendeten Tragödie zu des Dichters Zeiten verunmöglicht. Man stelle sich vor, Goethe hätte von Hölderlin eine reife Fassung vom Empedokles mit der Bitte erhalten, sie auf die Weimarer Bühne zu bringen, wie es etwa mit Kleists Penthesilea 1808 der Fall war; mit dem Empedokles hätte sich Goethe wohl noch weniger „befreunden“ können, da sich das Trauerspiel-Projekt Hölderlins in einer ihm sprachlich wie inhaltlich tatsächlich „fremden Region“ bewegte, mehr noch als das andere große antiklassizistische Antikendrama jener Zeit.58 Bei aller Vorsicht vor Mythisierungen des Unzeitgemäßen, des Propheten der Moderne oder des zu Unrecht Vergessenen – gern bei zu Lebenszeit wenig erfolgreichen Autoren mobilisierte Kategorien – lässt sich eines kaum bestreiten: Hölderlins Empedokles weist eine derart innovative Behandlung des Antike-Moderne-Verhältnisses und eine solche sprachliche Beschaffenheit auf, eine dermaßen unerhörte Verknüpfung politischer, geschichtsphilosophischer und dichtungstheoretischer Diskurse und ein so dichtes Geflecht aus Reflexionen über das Tragische und das Schreiben an der Tragödie, dass es als ein Theaterstück gelten muss, das in vielem seiner Zeit voraus war. Dies ist sowohl literatur- und theatergeschichtlich, als auch editions- und forschungsgeschichtlich bestätigt durch die lange Zeit des fast vollständigen Verschwindens der fragmentarischen Fassungen aus dem Mainstream des kulturellen || 57 Zu den konkreten Faktoren, die mit der erst späten und partiellen Edition der Empedokles-Texte und mit dem förmlichen Verschwinden der Sophokles-Übersetzungen nach dem Erstdruck 1804 abhängen, vgl. Teil II dieser Arbeit. 58 „Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden. Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region, daß ich mir Zeit nehmen muß mich in beide zu finden. Auch erlauben Sie mir zu sagen (denn wenn man nicht aufrichtig sein sollte, so wäre es besser, man schwiege gar), daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll“ (Goethe an Kleist, 1. Februar 1808, GW 33, 275). Kleist hatte Goethe das Phöbus-Heft mit dem Organischen Fragment aus dem Trauerspiel Penthesilea Anfang desselben Jahres geschickt. Goethes Hinweis auf das Warten auf ein noch nicht existierendes Theater könnte wohl auf Kleists Worte im Begleitbrief zurückgeführt werden. Dort sprach der 18 Jahre jüngere Dichter von der Amazonentragödie als „ebenso wenig für die Bühne geschrieben, als jenes frühere Drama: der Zerbrochene Krug“ (Kleist an Goethe, 24. Januar 1808, KW 4, 408).

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Diskurses (vgl. 2.2). Dies sollte jedoch nicht als Beweis gelesen werden für eine NichtAktualität des Projekts selbst, so als ob der Dichter sein Trauerspiel bewusst als unzeitgemäße Tragödie geschrieben hätte. Noch unbegründeter wäre die Schlussfolgerung, dass Hölderlin ein Lesedrama zu verfassen im Sinn gehabt hätte, das erst eine spätere Zeit hätte verstehen und ernst nehmen können, es sei dann, man wiederholt als später Interpret genau die Vorwürfe, welche damals die ältere Generation gegen experimentelle Entwürfe erhob, sie seien für ein Theater geschrieben, das noch kommen soll.59 Intendiert war bei der Arbeit am Tod des Empedokles eine „Distanz zum zeitgenössischen Bühnengeschehen“60 keineswegs, genauso wenig wie dessen Fragmentarität, die konkret bedingt war und nichts mit romantischen oder neoromantischen Poetiken des Fragments zu tun hat. Vielmehr verfolgte Hölderlin mit seinem Trauerspiel-Projekt eine sofortige Wirkung, was auch die ausgeprägten Aktualitätsbezüge des Textes, etwa in politischer und philosophischer Hinsicht, erklärt, und zwar in einer Form, in der sich literarische und theatralische Elemente aus antiken und modernen Diskursen zu einem Experiment für die zeitgenössische Bühne hätten zusammenfügen sollen. Ein derartiger Bezug zur Theaterpraxis der Zeit ist durchaus in der Dramaturgie der Fragmente eingeschrieben. „Mit den ersten Worten, die gesprochen werden,“ so Rüdiger Campe aus heutiger theaterwissenschaftlicher Perspektive, „kommt in Hölderlins Empedokles die Bühne ins Spiel“: Der Dramentext selbst kann also, wirksamer und unmittelbarer als theoretische Überlegungen,61 einen theatralischen Raum realisieren für die Tragödie als Über-Setzung der augenblicklichen und nur ästhetisch || 59 Vgl. vorige Anmerkung sowie die Worte Goethes über Kleist in Zusammenhang mit einem wenig wohlwollenden Urteil über dessen Zerbrochenen Krug („Nur Schade daß das Stück auch wieder dem unsichtbaren Theater angehört“, Goethe an Adam Müller, 28. August 1807, GW 33, 229). 60 So Primavesi (2000) 252, der das „im Sprechen der Figuren [vom Tod des Empedokles; M.C.] angelegt[e] gestisch[e] Potential“ herausstellt und dessen Spur bis Artaud und Brecht verfolgt. Solche überaus nützlichen Perspektivierungen, welche erst die Rezeption von Hölderlins Texten auf der Bühne des 20. Jahrhunderts erklären können, sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Empedokles-Fragmenten primär wegen ihrer Bruchstückhaftigkeit und der damit verbundenen verhinderten Veröffentlichung eine zeitgenössische Bühnenrezeption verwehrt war sowie darüber, dass von einer „Distanz zum zeitgenössischen Bühnengeschehen“ höchstens für das Ergebnis und die Wirkung von Hölderlins Empedokles die Rede sein kann, nicht aber für dessen Entstehung, Beschaffenheit und Projektcharakter sowie für den Bezug auf die Literatur- und Theaterdiskurse der 1780–90er Jahre. Primavesi (2008) 270 erörtert zwar den Gegensatz zwischen der vermeintlichen „Distanz zum Bühnengeschehen“ und der „Utopie eines anderen, vorerst unmöglichen Theaters“ bei Hölderlin – die Frage ist aber, ob man nicht eher von einem experimentellen Projekt als von einer Utopie sprechen sollte. Das utopische Moment ist m.E. durchaus präsent, etwa in politischer Perspektive, nicht aber im Sinne einer programmatischen ästhetischen Unzeitgemäßheit. 61 „Die Arbeit an der Tragödie und mit der Bühne ist darum die Fortsetzung der philosophischen Besonnenheit, die in Hölderlins Vorstellung wohl nur mit anderen Mitteln des poetischen Verfahrens, und in diesem Fall: der Gestaltung der Bühne, durchzuführen war“ (Campe 2007, 55).

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erfahrbaren Ganzheitswahrnehmung in die tragische Darstellungsweise („Metapher einer intellectuellen Anschauung“).62 Die ausgesprochen „moderne Poetik des Gestischen“, die neuere Studien aus der Perspektive späterer Rezeptionen für den Tod des Empedokles ausmachen und als „Ansatz einer bewusst auf Illusionswirkungen verzichtenden, eher epischen als dramatischen Form von Theater bei Hölderlin“ lesen (Primavesi 2000, 249, 263); der „Verzicht auf Dramaturgien des tragischen Konflikts“ samt Revision der „Idee des tragischen Helden als autonomer, souveräner Individualität“ und der Perspektivenwechsel in fieri der verschiedenen Fassungen, durch den „nicht die Tat selbst [...], sondern deren Kommentierung“ im Zentrum stehe; Befunde, die vom Trauerspiel als von einem „dramatische[n] Formexperiment“ reden (Birkenhauer 2002, 207, 215) und in ihm, wie bereits erwähnt, das „Potential einer anderen Form von Theater“ erblicken ließen (Primavesi 2000, 263); die theaterwissenschaftlich geschulte Neuauslegung des Verhältnisses zwischen dichterischer, philosophischer und politischer Ebene63 – all diese Einsichten betonen, dass Hölderlin sich mit seinem Theaterexperiment keineswegs aus dem Diskurs der Zeit heraushalten, sondern seinen Beitrag dazu stiften wollte.64 Die experimentellen Lösungen, die bei der Arbeit am Empedokles auf sprachlicher, dramaturgischer und inhaltlicher Ebene erprobt wurden, sind keine zeitfernen Eskapismen, die im Gespräch mit den hehren antiken Tragikern und/oder im hoffnungsvollen Vertrauen auf die Zukunft ihren Zweck finden. Auf der Grundlage eines neubestimmten Verhältnisses von Antike und Moderne und einer Poetik des lebendigen Ganzen stellt Hölderlins Empedokles-Projekt um 1799 den Versuch dar, die Transformation ‚hellenischer‘ (Sophokles) und

|| 62 StA 4, 266: „Das tragische, dem Schein nach heroische Gedicht ist in seiner Bedeutung idealisch. Es ist die Metapher einer intellectuellen Anschauung“. Vgl. auch weiter präzisierend 268f.: „Das tragische, in seinem äußeren Scheine heroische Gedicht ist, seinem Grundtone nach, idealisch, und allen Werken dieser Art muß Eine intellectuale Anschauung zum Grund liegen, welche keine andere seyn kann, als jene Einigkeit mit allem, was lebt, die zwar von dem beschränkteren Gemüthe nicht gefühlt, die in seinen höchsten Bestrebungen nur geahndet, aber vom Geiste erkannt werden kann und aus der Unmöglichkeit einer absoluten Trennung und Vereinzelung hervorgeht [...]“. 63 Vgl. Campe (2007) 66f., wo die im Text latenten bühnenräumlichen und bühnentechnischen Fragen erörtert werden und Auftritt und Abgang der Empedokles-Figur in Verbindung mit seiner öffentlichen Rolle gebracht werden: „Im Fall des Empedokles tritt das Tragische in der Erscheinung des dramatischen Trauerspiels, wenn Empedokles sichtbar und sinnlich wird, in Erscheinung tritt: Das geschieht, wenn er aus dem Garten, in dem er, philosophisch dichterisch, in seinen Elementen ist, heraus tritt auf die Agora, wo er das politische Begehren des Volks auf sich zieht; und es geschieht strukturell immer dann, wenn das Inerscheinungtreten auf der Bühne ins Spiel kommt. [...] In diesem Sinne handelt Empedokles davon, was bühnentechnisch in der Moderne Theater ausmacht.“ Eine Theatralisierung der philosophischen Problematik hatte aus einer anderen Perspektive bereits Birkenhauer (2002) 213 erörtert: „Empedokles [wird dadurch charakterisiert], wie er spricht [...]. Insofern thematisiert das Trauerspiel das Verhältnis von Sprache und Subjektivität nicht als philosophisches Problem, es stellt mit Empedokles eine Figur in diesem Konflikt dar“. 64 In dieser Hinsicht stellen Theresia Birkenhauers Studien über das Trauerspiel (1996; 2002) den triftigen Bezugspunkt für folgende Überlegungen.

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,hesperischer‘ (Shakespeare, Goethe, Schiller) Vorlagen für ein antik-modernes Theater nutzbar zu machen. Erneuerung und Transformation fungieren schon auf dieser Höhe von Hölderlins Werk als Alternativen zur Nachahmung einerseits und (falsch verstandener) Originalität andererseits, als „Gesichtspunct“, aus dem das „Altertum“ aber auch die zeitgenössische Kultur „anzusehen“ sind. Das Bewusstsein der geschichtlichen Differenz von Antike und Moderne und die Überzeugung, dass „uns die Griechen unentbehrlich“ sind – so im späteren Böhlendorff-Brief (StA 6, 426) –, werden bereits in den Empedokles-Bruchstücken offen nebeneinandergestellt. Die mögliche Antwort auf solche paradox erscheinende Gegenüberstellung, lautet, wie oft bei Hölderlin, weder das eine, noch das andere, sondern „beides zugleich“ (Franz 2002b, 236). In der lebendigen und ganzheitlichen Präsenz der Dichtung auf der Bühne, auf die das moderne Antikendrama Der Tod des Empedokles tendenziell hinzielt, erblickt Hölderlin die Möglichkeit, Gegenwärtigkeit der Antike und Einmaligkeit der Moderne gleichzeitig darzustellen. Im tragischen Theater, in der rhythmischen Dynamik der Darstellung kann sich erst die „poëtisch[e] Logik“ entfalten, die keine Aufhebung der Differenzen herstellt, sondern „das Zusammenhängen der selbstständigeren Theile“ beibehält.65 In diesem erst später von Hölderlin theoretisch fixierten Sinne sind bereits das Empedokles-Projekt und dessen ausgesprochen heterogene Beschaffenheit zu verstehen; wie gezeigt, scheint Hölderlin Einsichten, die erst später theoretisch erarbeitet werden, bereits in der dramatischen Praxis zu gewinnen. Der Tod des Empedokles ist ein vielschichtiger Theatertext, der antike und moderne Folien, religiöse, philosophische und politische Inhalte, transformativen Rückblick auf Geschichtliches und utopischen Ausblick auf Zukünftiges zusammenhält. Als solcher soll er zwar spät, aber intensiv auf der Bühne des 20. Jahrhunderts rezipiert werden.

1.3 Krise und Experiment Warum schweigen auch sie, die alten heilgen Theater? (Brod und Wein; StA 2, 93)

Die Einbeziehung von späteren Stellen aus dem ersten Brief an Böhlendorff und aus den Anmerkungen zur Antigone im Schlussteil des vorangegangenen Kapitels geschah nicht aus Geringschätzung philologischer Kontextualisierung oder theoretischer Differenzierung, sondern darum, weil die experimentelle Bedeutung des EmpedoklesProjektes und die Kontinuität der Fragestellung in Hölderlins Arbeit hervorgehoben werden sollten. In den wenigen Monaten zwischen der Aufgabe des Empedokles und dem Beginn der Arbeit an den Sophokles-Übersetzungen – wohl nicht mehr als zwei

|| 65 So in den Anmerkungen zur Antigone (StA 5, 265).

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Jahre,66 die als Zeit der Krise und zugleich des Experiments zwischen beiden großen Theaterprojekten in diesem Kapitel zu erörtern sind – hat Hölderlin zwar in theoretischen Bruchstücken neues geschichtsphilosophisches Land anvisiert (was auch Konsequenzen für die Aufgabe des Empedokles hatte). Was seine Theatertexte angeht, die anders als jene Fragmente explizit für die Öffentlichkeit gedacht waren, so überwiegen die Kontinuitätszeichen entschieden über die Spuren eines grundsätzlichen Wandels. Selbst die Niederlegung des Antikendramas, die ja auch ganz konkrete, äußere Gründe hatte, darf nicht als Beweis gelten für einen generellen Umschlag, bei dem die bislang erprobten Wege zu einer antik-modernen Tragödie gänzlich widerrufen worden wären.67 Noch weniger liegen triftige Argumente, geschweige denn ausdrückliche Aussagen Hölderlins dafür vor, dass das Sophokles-Übersetzungsprojekt direkt aus dem Scheitern eigener Bemühungen entstand, als ob das Aufgeben des einen das Aufgreifen des anderen mit einem entschiedenen Blickwechsel im Tragödienverständnis mit sich gebracht hätte. Man kann sicherlich die Hypothese aufstellen, dass die intensive Auseinandersetzung mit den griechischen Urtexten europäischer Theatergeschichte auch die Funktion hatte, fundamentale Einsichten für die eigene produktive Aneignung solcher Vorbilder zu gewinnen. Hierin liegt bekanntlich ein Hauptfaktor der Auseinandersetzung Hölderlins mit antiken Texten überhaupt, z.B. in einem anderen Kontext bei der Neubegründung lyrischen Sprechens. Darauf lässt sich jedoch die kulturelle Tragweite des Sophokles-Projekts nicht reduzieren (dazu

|| 66 In einem Brief an Sinclair aus dem November 1802 berichtet Fritz Horn, dass Hölderlin ihm das „Manuskript der Übersetzung des Sophocles übersandt“ habe (StA 7/2, 239). Aus diesem Schriftstück und aus weiteren Briefen der Freunde zwischen 1802 und 1803 geht hervor, dass sie in jenen Monaten Kontakt zu Verlegern aufnehmen, um einen Veröffentlichungsort für die Übersetzungen zu finden, die also spätestens im Herbst 1802 bereits in einer ersten Fassung vorgelegen haben muss. Wann Hölderlin genau mit der Arbeit begonnen hat, ist unbekannt. Weder für die verschiedenen Fassungen noch für die Reinschrift der Übersetzungen und Anmerkungen sind Handschriften überliefert. Vgl. FHA 16, 63f. zum wahrscheinlichen Zusammenfall des Beginns der Übersetzungsarbeit mit dem Bordeaux-Aufenthalt (erste Jahreshälfte 1802). 67 So verstehe ich auch die Argumentation Bennholdt-Thomsens, wenn sie überzeugend zeigt, dass die Homburger-Fragmente durch die geschichtsphilosophisch fundierte Forderung einer dramaturgischen Zentralität des Volkes und die Neubalancierung der Helden-Funktion die frühere Anlage des Empedokles-Trauerspiels ungültig machen und Probleme hinsichtlich einer neuen Bearbeitung des Stoffes hervorrufen. Ihre damit verbundene Einsicht in den Charakter des Sophokles-Projektes als „Lösung seines, im eigenen Trauerspiel angegangenen Problems: die Rolle, die ein herausragender Einzelner für eine geschichtliche Wende spielen kann“ (2015, 63), ist ebenso im Zeichen der Kontinuität zu lesen. Wie ich oben zu zeigen versuche, ist darin kein Scheitern-Stunde Null-NeuanfangSchema zu sehen; vielmehr geht im Sophokles-Projekt das Experiment einer antik-modernen Tragödie weiter, antizipiert und flankiert von weiteren Einblicken in die Frage des modernen Verhältnisses zur Antike und von dramaturgische wie szenische Aspekte mitberücksichtigenden Überlegungen. Dabei liefern gerade der experimentelle Ansatz und der Projektcharakter selbst sowie das nunmehr explizite Anvisieren einer Bühneninszenierung die Aspekte, die im und um das Sophokles-Projekt gegenüber der Empedokles-Arbeit intensiviert werden.

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vgl. 1.4). Außerdem stellte der produktive Rückgriff auf die attische Tragödie bereits einen Grundzug des Empedokles-Projekts dar. Mehr als die unleugbare Evidenz eines typologischen Wandels (von einem eigenen Trauerspiel zu Tragödienübersetzungen) soll hier allerdings gezeigt werden, wie Hölderlin bei der Suche nach einer der Gegenwart angemessenen Tragödienform weiterhin experimentierte. „Es klingt paradox“, um Hölderlins berühmte Formulierung aus dem ersten Böhlendorff-Brief zu benutzen (StA 6, 426), aber seine SophoklesÜbersetzungen sind in erster Linie als Stücke für die zeitgenössische Bühne gedacht. Wenn auch allgemein stimmen dürfte, dass „die Übersetzungen griechischer Tragödien“ in seiner Zeit „nicht für das Theater gemacht [wurden], sondern [...] zum Lesen oder Vorlesen“,68 so gilt solche Einschränkung für Hölderlin schlichtweg nicht. Es ist eines der Anliegen dieses Kapitels zu zeigen, wie hingegen Hölderlin – im Allgemeinen und gerade bei der Arbeit an den Sophokles-Übersetzungen – durchaus auch die szenische Umsetzung im Sinne hatte. David Farrell Krells lapidarer Ausspruch, dass Hölderlin sich mit dem Empedokles-Projekt „for the sake of modern theater“ beschäftigte,69 betrifft noch expliziter (und im Zeichen einer ästhetischen Kontinuität) das ungemein intensiv verfolgte Sophokles-Projekt. Wolfgang Binders Einschätzung, Hölderlin habe Sophokles übersetzt, „nicht um die deutsche Übersetzungsliteratur zu bereichern oder seine Übersetzerfähigkeiten zu erweisen, sondern um sein eigenes Woher und Wohin besser zu begreifen, das ihm zugleich das Woher und Wohin seines Zeitalters war“ (Binder 1970, 21), soll mindestens um eine Dimension erweitert werden, die des Theaters. Hat Hölderlin bei der Translations- und Erörterungsarbeit am griechischen Text „Einsicht in die Herkunft und in die Zukunft der eigenen vaterländischen Dichtung“ gesucht (ebd., 37), so muss dies vor allem im Hinblick auf die durch Kontinuität gekennzeichneten dramaturgischen Projekte verstanden werden, die natürlich nicht als „vaterländisch“ im heutigen Sinne bezeichnet werden dürfen. Die geschichtsphilosophisch fundierte Re-Lektüre des Verhältnisses zwischen „Hellas“ und „Hesperien“, die im Zusammenhang mit den Sophokles-Übersetzungen ihren beredten Ausdruck fand, möchte ich im Folgenden als weitere Äußerung einer antiklassizistischen Poetik der antik-modernen Tragödie lesen, die sich spätestens seit dem Empedokles-Projekt in fortdauernder Entwicklung befand. Nicht nur sind die beiden Theaterprojekte zeitlich gar nicht so entfernt. Augenfällig ist auch, dass Hölderlins Engagement und Interesse für Theatertexte und -diskurse, die für seine theoretischen und praktischen Bestrebungen bedeutsam waren, in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts konstant bleiben. Zwischen Empedokles

|| 68 So Flashar (1991) 52, der allerdings darunter auch Hölderlins Übersetzungen zählt. 69 Krell (2005) 276. Krells Überlegungen, die sich auch auf die französische Forschung stützen (Dastur 1997, Lacoue-Labarthe 1988), stehen unter der Devise: „there is another Hölderlin to be discovered“ und suchen diesen „anderen Hölderlin“ auch im Theater; vgl. vor allem ebd., 275–279.

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und Sophokles, genauer: neben den sich abwechselnden Empedokles- und SophoklesProjekten treten Texte auf, die nach beiden Seiten hin, der „antiken“ wie der „modernen“, die größeren Vorhaben flankieren. Diesen Texten, die in der Forschung entweder (der erste) wenig Beachtung gefunden haben oder aber (der zweite) meist geschichtsphilosophisch gelesen wurden, soll nun Aufmerksamkeit geschenkt werden, um die unmittelbar danach zu erörternden Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen als Kulminationspunkt von Hölderlins antik-modernem Theaterprojekt besser zu beleuchten. Auf die ausdrückliche Bitte des Freundes Siegfried Schmid, der ihm am 22. Februar 1801 sein soeben angefertigtes „Schauspiel in fünf Akten“ Heroine oder zarter Sinn und Heldenstärke zur Rezension geschickt hatte, verfasste Hölderlin nach anscheinend sofortiger Lektüre eine Besprechung, die zwar nicht veröffentlicht wurde, jedoch in unserem Zusammenhang von Interesse ist. Die einmalige Auseinandersetzung mit der komischen Gattung – Frank Zinkernagel konnte 1928 den Erstdruck des Textes sogar „Hölderlin über das Lustspiel“ betiteln (Zinkernagel 1928)70 – zeugt neben der anhaltenden Präsenz schillerscher Kategorien in Hölderlins ästhetischem Verständnis71 von einer expliziten Berücksichtigung der konkreten Bühnenrealisation des Stücks. Obwohl nämlich Die Heroine anfangs als „Schrift“ bezeichnet wird, so werden in der Rezension Elemente des Textes diskutiert – „Karaktere“, „Situationen“, „Fabel“, „Gespräche“ bzw. „Reden“, „Szenen“, „Rollen“ usw. – und Darbietungsweisen erörtert,72 welche über die Dimension des Lesedramas hinausweisen und seine theatralischen Qualitäten prüfen. Offenbar fasste Hölderlin nicht nur den

|| 70 Vgl. zu diesem abwegigen Titel die Vorbehalte Friedrich Beißners in StA 4/1, 421: „Die von Zinkernagel über den ersten Druck gesetzte Überschrift […] führt irre“. 71 Vgl. vor allem die Ausführungen zur Gattungspoetik. 72 Gerade bei Ausführungen zum „lebendigem Zusammenhang“, aus dem der Dichter „ein Fragment des Lebens“ reiße, wird auf den „Vortrag“ als die Eigenschaft des „Gedichts“ Bezug genommen, von der letzten Endes das Gelingen dichterischer Darstellung abhänge. Solcher „Vortrag“ kann mit Bezug auf Theaterstücke als die dramatische Struktur, ja sogar als die in der Aufführung rhythmisch vorschreitende Handlung verstanden werden. In dieser dichten Passage fallen Schlüsseltermini der Poetologie Hölderlins: „darstellen“, „Kontrast“ bzw. „Gegensätze“, „lebendiger Zusammenhang“ bzw. „Ganzes“, „lösen“ bzw. „ausmitteln“. In den darauffolgenden „Umschweife[n]“, für die sich der Rezensent zu entschuldigen weiß, kommt dann Hölderlin auf die epische Dichtung zu sprechen, um die „Geschäfte des großen Epos“ von jenen der Idylle, Komödie und Elegie zu unterscheiden. Ersteres gehe „vom übersinnlichsten poëtischen Stoff aus“ und habe „eben deswegen den weitesten Weg zu machen [...], um seinen ätherischen eigentlichen Gegenstand mit dem übrigen Leben wieder zusammen, und den Sinnen nahe zu bringen“. Deswegen gewännen „die Darstellung und Sprache der Iliade […] noch eine ganz andere Bedeutung, wenn man fühle, wie sie wohl vielmehr dem Vater Jupiter als Achilln oder einem andern zu Ehren gesungen sei“ (StA 4, 288–290). Es wundert nicht, dass auch in diesem Zusammenhang „Sprache“, „Darstellung“ und die Darbietungsform des Gesangs erwähnt werden, um die „poetische Logik“ zu beschreiben, welche erst und nur die Dichtung zum Ausdruck des einen lebendigen Ganzen befähigen kann.

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dichterischen Text, sondern auch dessen Bühnenrealisation, nicht nur die Leser, sondern auch das Publikum des Schauspiels ins Auge, als er mit wohlwollender, freundschaftlicher Zuvorkommenheit die mittelmäßige Komödie Schmids rezensierte.73 Darüber hinaus ist die zwar nicht in den Druck gegebene aber immerhin für die Öffentlichkeit bestimmte Besprechung dadurch gekennzeichnet, dass der Bezug auf antike Vorbilder und dramatische Techniken einerseits und der Blick auf die mögliche moderne Transformation solcher Vorlagen andererseits gegeneinander abgewogen werden, wobei der deutschen Dichtung eine Sonderstellung im Antike-ModerneDiskurs zugewiesen wird. So ist an prominenter Stelle die „Autorität der alten Komiker, z.B. des Terenz“ erwähnt, um die Entscheidung Schmids in Sachen Verssprache zu preisen (dabei übrigens die Sprechrealisation und -wirkung mitberücksichtigend);74 „der Geschmak zu jenen Zeiten war doch wohl nicht übel“, bekräftigt Hölderlin den Verweis auf die Kunstfertigkeit der Alten (StA 4, 290).75 Die hier und anderswo durchaus zu spürende Geringschätzung modernen Vielschreibern gegenüber76 dient rhetorisch wohl auch dem Versuch, Schmid von dieser Schar zu unterscheiden; die ganze Besprechung zeugt parallel von der Bemühung, aus der Erörterung konkreter und theoretischer Aspekte nützliche Schlussfolgerungen für die Praxis des Dramatikers zu ziehen, für das moderne Theater. Dabei fungiert die „Autorität der alten Komiker“ keineswegs als normatives Vorbild: Die komische Tradition stellt vielmehr die

|| 73 Philipp Siegfried Schmid (auch: Schmidt, 1774–1859), der eine Rolle in Peter Weiss’ Hölderlin spielen soll (1971, vgl. 3.2.4), hatte Hölderlin 1797 kennengelernt. Weitere um 1843 in einer zweibändigen Ausgabe gesammelte Stücke haben wie die Heroine aus dem ‚Halbwilden aus Friedberg‘ keinen berühmten Dramatiker gemacht. Wie Hölderlin und Böhlendorff erlitt auch Schmid psychische Zusammenbrüche, konnte jedoch im Unterschied zu den beiden anderen nach einer Inhaftierung im Irrenhaus (1805–06) eine Militärlaufbahn einschlagen. Zu Schmid und seinem Verhältnis zu Hölderlin vgl. Polledri (2013). 74 „Aber mit vielem Glüke und recht aus dem Gefühl seiner Zwekmäßigkeit ist der Jamb auch in jenen Gesprächen [die der Soldaten; M.C.] gebraucht, so daß man ihn eben deswegen nicht fühlt, weil er hingehört, und zwar hiehin deswegen, damit Wort für Wort ein schärferer Gegensatz in den unedlen Reden fühlbar werde“ (StA 6, 290). 75 Vgl. das incipit der Anmerkungen zum Ödipus: „Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Verfassungen abgerechnet, zur μηχανη der Alten erhebt“ (StA 5, 195). Dass dies nicht mit einem Rückgriff auf eine normative Tragödienpoetik auf den Spuren des europäischen Aristotelismus verwechselt werden darf (Hölderlins einschränkender Einschub ist bereits vielsagend), zeigt Primavesi (2005). 76 Vgl. in diesem Sinne auch den vorletzten Textabsatz, wo mit kulturkritisch klingendem Tadel der modernen Schwerfälligkeit antike Mühelosigkeit gegenübergestellt wird: „Diß [die „unverhältnißmäßig hart[e]“ Darstellung einer „richtig angelegte[n] Affectation“ der Charaktere; M.C.] ist aber dem Verfasser zu verzeihen, da es gröstenteils Gebrauch moderner Poesie ist, auch hierinn, wie im lyrischen Gedicht mit den Reimen, schwer Gewicht statt mercurialischer Schwingen an den Sohlen zu tragen, und die Verwiklungen in der Comoedie noch schlimmer zu machen, als sie im ernsteren Leben selbst sind“ (StA 4, 291).

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nicht mehr aktuelle und eben deswegen zu aktualisierende und transformierende Vorlage für die modernen Komiker her, in vollem Bewusstsein der historischen Distanz. Die auctoritas ist als typologisches Modell zu verstehen, das nicht an sich zu imitieren ist, dem aber in seiner Beziehung zu Lebensverhältnissen und „Sphären“ der eigenen Zeit zu folgen ist – ein antiklassizistischer, antiromantischer Standpunkt.77 In diesem Sinne kann auch der Rezensionsschluss verstanden werden. Hier sind Anklänge an für die Früh- und Hochaufklärung typische Debatten – ‚für‘ oder ‚gegen‘ französische Vorbilder – zu finden, jedoch in einem Zusammenhang, der noch einmal auf eine besondere, „deutsche“ Art des Verhältnisses zur Antike hinweist. „Wohl kein schlimmer Rath“ sei es, „daß der von Natur antiker gestimmte dichterische Deutsche sich nicht länger von seinen umständlicheren Nachbarn irre machen lassen sollte, daß auch hierinn mehr und mehr Einfachheit und zwekmäßigere Bequemlichkeit eingeführt würde“ (StA 4, 291). Insgesamt zeugt also die Rezension von Schmids Komödie von zwei Grundaspekten der Ästhetik Hölderlins um 1800, die bereits bei der Arbeit am Empedokles zentral waren und im Sinne der Kontinuität auch das SophoklesProjekt kennzeichnen sollten. Erstens wird das Drama als Text und Vorlage für eine mögliche Inszenierung verstanden und nicht lediglich als Lesestoff; zweitens liegt auch in der Besprechung der Heroine der Schwerpunkt von Hölderlins Interesse auf der Art und Weise, wie zeitgenössische deutsche Dichter durch den freien Rückbezug auf die antike Tradition (antiklassizistisches auctoritas-Verständnis) und zugleich im Bewusstsein gegenwärtiger Fragen und Verhältnisse mit dramatischen Formen experimentieren können. Der dramatische Versuch eines anderen Freundes wurde kurz darauf zum Impuls für den wohl berühmtesten Entwurf des späten Hölderlin zum Verhältnis von antiker

|| 77 Zum Begriff der „Sphäre“, von dem Hölderlin auch in der Heroine-Besprechung Gebrauch macht, vgl. v.a. den Aufsatz Über Religion (StA 4, 275–281; in anderen Ausgaben Fragment philosophischer Briefe betitelt). Die Datierung des Fragments ist umstritten; die meisten Editoren und Interpreten unterstreichen einerseits den Zusammenhang mit dem Brief an Niethammer vom 24. Februar 1796 und dem dort ausgesprochenen Wunsch, in angekündigten „‚Neue[n] Briefe[n] über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ […] von Philosophie auf Poësie und Religion“ zu kommen (StA 6, 203), andererseits den Respons-Charakter des Fragments auf den ebenfalls umstrittenen Entwurf Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, wohl 1795/96 nach Gesprächen zwischen Schelling und Hölderlin entstanden und von Hegels Hand im Sommer 1796 niedergeschrieben (vgl. FHA 14, 11f.; Kreuzer 1998, 120; Franz 2002b, 232f.; Gaier 1996, 226–230). Vager gehalten wird die Datierung bei Jochen Schmidt, der grundsätzlich die erwähnten Zusammenhänge ablehnt (vgl. DKA 2, 1254). Zu späteren, mit den Homburger Fragmenten zusammenhängenden Datierungsvorschlägen vgl. Hühn (1997) 100–116. Die Rekurrenz des „Sphären“-Begriffs in der sicher auf 1801 datierten Heroine-Rezension könnte neben weiteren „parallele[n] Formulierungen“, die „erstaunliche Gemeinsamkeiten […] in terminologischer und inhaltlicher Hinsicht“ bezeugen würden (115), eine solche spätere Datierung des Religion-Fragments bekräftigen. Der „Sphäre“-Begriff kehrt oft auch im poetologischen Fragment Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes bzw. Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist wieder, der ja im ersten Halbjahr 1800 entstanden ist (StA 4, 241–265).

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und moderner Dichtung: Der Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff vom 4. Dezember 1801. Das Stück, das Hölderlin in diesem Brief bespricht, könnte aus heutiger Perspektive kaum unbedeutender sein: Böhlendorffs Fernando oder die Kunstweihe. Eine dramatische Idylle war Ende 1801 erschienen und sollte wie auch die anderen dramatischen Versuche des kurländischen Schriftstellers rasch in Vergessenheit geraten; Böhlendorff (1775–1825) teilte mit Hölderlin das Schicksal eines unsteten Lebens, das in Geistesgestörtheit endete, und eines republikanisch gestimmten politischen Engagements; dem 5 Jahre Jüngeren war kein später Ruhm beschieden, sein dichterisches und publizistisches Werk hat keinen festen Platz in literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen gefunden.78 Wenn man, wie bereits bei Schmid, die freundschaftliche Gewogenheit Hölderlins abrechnet, so ist aus der offenkundigen Disproportion zwischen dem geringen künstlerischen Wert von Böhlendorffs ,spanischem‘ Stück Fernando und der poetologisch-geschichtsphilosophischen Schärfe von Hölderlins Reaktion keineswegs eine Beliebigkeit des Ausgangstextes abzuleiten, so, als ob sich Hölderlins Überlegungen davon ganz unabhängig entfalten würden.79 Es ist kein Zufall, und es ist nicht unerheblich für Hölderlins Argumentation, dass es sich dabei um eine moderne Tragödie handelt – genauer: dass Hölderlin das Stück des Freundes als eine moderne Tragödie behandelt. Hier noch einmal zur Erinnerung die berühmte Passage aus dem ersten Brief an Böhlendorff: Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deßwegen werden diese eher in schöner Leidenschaft, die Du Dir auch erhalten hast, als in jener homerischen Geistesgegenwart und Darstellungsgaabe zu übertreffen seyn. Es klingt paradox. Aber ich behaupt’ es noch einmal, und stelle es Deiner Prüfung und Deinem Gebrauch frei; das eigentliche nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden. Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen

|| 78 Zu Böhlendorff und zu seinen Kontakten mit Hölderlin vgl. Lawitschka (2002) 40–43. Erwähnenswert für das Thema dieser Untersuchung ist der Umstand, dass der politisch engagierte Böhlendorff neben dem ‚modernen‘ Drama Fernando auch Antikendramen verfasst hat, in denen der griechische Hintergrund als Folie für die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution dient (Theseus; Der Spartaner in Ägypten). Böhlendorffs lange anonym zirkulierende Schrift Geschichte der helvetischen Revoluzion (1802), die wie Fernando in den Jahren engen Kontakts entstanden war, weist Parallelen zu Hölderlins Schaffen der Jahre 1798–1801 auf. 79 Vgl. hingegen den Herausgeberkommentar in der Stuttgarter Ausgabe: „[Hölderlin] benutzt [...] in seiner Nürtinger Einsamkeit das Werk [Fernando; M.C.] als bloße Grundlage, worauf er seine Gedanken über Antikes und Modernes in der Kunst, und besonders über das Tragische bei uns und bei den Griechen aufbaut. Dahinter tritt das wohlgesetzte Urteil über den Versuch des Freundes mehr und mehr zurück“ (Adolf Beck, StA 6, 1076f.). Die Tatsache, dass Hölderlin seine „Gedanken über Antikes und Modernes in der Kunst“ im Rahmen der Besprechung einer modernen Tragödie zur Sprache bringt, ist m.E. hingegen durchaus bedeutend. Vgl. auch meinen Versuch eines close-readings des Textes in seinem Briefkontext in Castellari (2016a).

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angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgaabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen. Bei uns ists umgekehrt. Deßwegen ists auch so gefährlich sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortreflichkeit zu abstrahiren. Ich habe lange daran laboriert und weiß nun daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nämlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde. Deßwegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist. (StA 6, 425f.)

Die Darlegung, in der die bei Hölderlin längst angekündigte „Überwindung des Klassizismus“ eindringlich skizziert wird und die Einsicht in die Grundverschiedenheit der angeborenen („nationellen“) Eigenschaften von Süd- und Nordländern bzw. Antiken und Modernen in dem paradox klingenden Schluss kulminiert, dass die ersten den zweiten unbedingt notwendig sind, muss auch in ihrem brieflichen Kontext (Kommunikation mit dem ästhetisch wie politisch Gleichgesinnten) und in ihrem konkreten Bezug auf die dramatische Leistung des Freundes gelesen werden. Die Einschübe „die Du Dir auch erhalten hast“ und „[ich] stelle es Deiner Prüfung und Deinem Gebrauch frei“ sind nicht nur Floskeln, welche die pragmatische Briefkommunikation über den abstrakteren Passus hinweg aufrechterhalten, sondern Verweise auf die Passagen, die das Ganze umrahmen und in unserem Zusammenhang besonders bedeutend erscheinen, da sie den engen Zusammenhang zwischen dramatischem Schreiben und Reflexion über antik-moderne Befindlichkeiten bekräftigen. „Dein Fernando“, so hatte nämlich Hölderlin seine Argumentation begonnen, „hat mir die Brust um ein gutes erleichtert“. Er bleibt dann noch beim Stück des Freundes, indem er den Gewinn „an Präzision und tüchtiger Gelenksamkeit“ lobt, bei dem „nichts an Wärme“ verloren gegangen sei. Dies sei ein Beweis, fährt Hölderlin fort, für die „Elastizität Deines Geistes in der beugenden Schule“ (StA 6, 425). Das Lob leitet unmittelbar über auf die darauffolgenden Ausführungen, und zwar auf das konkrete dramatische Beispiel: „Wärme“ gehört zum „Feuer vom Himmel“, zur „schöne[n] Leidenschaft“, zum „heiligen Pathos“ und somit, aus der Perspektive eines „hesperischen“ Dramatikers wie Böhlendorff und eines modernen Theatertextes wie Fernando, zum „Fremden“. Dass eine solche „Wärme“ bei der Suche nach dem Wiedergewinn des „Eigenen“ nicht verloren gegangen ist („Präzision“ und „tüchtiger Gelenksamkeit“ gehören zur für Nordländer angeborenen, „nationellen“ „abendländische[n] Nüchternheit“), wird deshalb so gerühmt, weil es von einem versuchsweise „freien Gebrauch des Eigenen“ zeugt, was ja „das schwerste ist“. Unmittelbar nach dem ästhetisch-kulturgeschichtlichen Einschub, der mit den soeben zitierten Worten endete, wechselt Hölderlin wieder zu den Lobesworten: „Das hat Dein guter Genius Dir eingegeben, wie mir dünkt, daß Du das Drama epischer behandelt hast. Es ist, im Ganzen, eine ächte moderne Tragödie“ (StA 6, 426). Dass Hölderlin das schwache Künstlerdrama mit glücklichem Ausgang als eine „Tragödie“

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bezeichnet, könnte man auf eine ungenaue Lektüre zurückführen,80 wenn der Dichter im Anschluss daran nicht eine thematische Begründung dafür geben würde;81 im Brief lösen sich darüber hinaus die Bezeichnungen „Drama“ und „Tragödie“ sowieso ab. Ähnlich war in der Besprechung der Heroine abwechselnd von „Schrift“, „Schauspiel“, „Comoedie“, „Gedicht“ und „Stük“ die Rede gewesen. Wichtiger als solche definitorische Vagheit erscheint mir der Umstand, dass Hölderlins Entwurf zum Verhältnis von Antike und Moderne im Zeichen einer angeborenen Differenz bei gleichzeitiger Unentbehrlichkeit der Griechen letztendlich beim modernen Theater landet. Hatte die Heroine-Besprechung mit Bezug auf die komische dramatische Literatur den deutschen Dichtern einen Weg gezeigt, der den Rückbezug auf die „Autorität der Alten“ mit einem antiklassizistischen Transformationsdrang verknüpfte, der der „antiker gestimmten“ deutschen Modernität besser eignete, kann hier Hölderlin die Mühen des Freundes in der tragischen Sparte „auf gutem Wege“ sehen (427), da er dort den Versuch erblickt, „Eigenes“ und „Fremdes“ über Nachahmungspoetiken hinweg mit zu berücksichtigen. Dass dabei Hölderlin auch die eigenen, vorerst fallengelassenen dramatischen Experimente und die damit verbundene Krise mitdenkt, ist mehr als wahrscheinlich. Die konkreten Bezüge von Hölderlins Ausführungen auf die beiden literaturgeschichtlich unbedeutenden Stücke der Freunde (und in manchem gar auf ihre theat-

|| 80 Hölderlin selbst räumt zugegebenermaßen im zweiten Briefteil ein: „Ich will aber Deinen Fernando erst recht studiren und zu Herzen nehmen, und dann vielleicht Dir etwas Interessanteres davon sagen. In keinem Falle genug!“ (StA 6, 427). Von einer ungenauen Lektüre seitens Hölderlin ist etwa bei Adolf Beck die Rede (ebd., 1076). 81 „Denn das ist das tragische bei uns, daß wir ganz stille in irgend einem Behälter eingepakt vom Reiche der Lebendigen hinweggehen, nicht daß wir in Flammen verzehrt die Flamme büßen, die wir nicht zu bändigen vermochten“ (StA 6, 426). Vgl. auch in der DKA den Herausgeberkommentar zu den Implikationen der in diesen Worten enthaltenen Differenzierung zwischen antiken und modernen Begräbnisbräuchen (StA 3, 911f.). Im folgenden Wortlaut des Briefes ebnet Hölderlin diese Differenz jedenfalls ein, zumindest im Hinblick auf die Wirkung des Todes; dass er dabei eher an das Publikum einer Tragödie als an Familienangehörige des Toten denkt, bezeugt u.a. der Rekurs auf aristotelische Kategorien: „Das erste bewegt so gut die innerste Seele, wie das letzte. Es ist kein imposantes, aber ein tieferes Schiksaal und eine edle Seele geleitet auch einen solchen Sterbenden unter Furcht und Mitleiden, und hält den Geist im Grimm empor“ (StA 6, 427). Zur Konstellation HölderlinAristoteles in Sachen Tragödie hat die Forschung vor allem mit Blick auf Hölderlins Sophokles-Anmerkungen manche Begriffe parallelisiert (Rosenfield 2003, 151–165, zur „reißenden Zeit“, insb. 159ff.; Port 2005, 189, zu „Transport“ und „reinigen“; auch die ausführlicheren Überlegungen bei Krell 2004 und Krell 2005, 280–321 kreisen um solche Begriffe; zuletzt hat Bennholdt-Thomsen 2015, 62 auf den Begriff „Umkehr“ und sein Verhältnis zur aristotelischen Peripetie verwiesen). Fynsk (1999) geht vom Suidas-Zitat in den Ödipus-Anmerkungen aus und erwägt eingehender, ob Hölderlins Vorstellung des „tragischen Transports“ und vom „Rhythmus“ eine Art moderner Relektüre von Aristoteles’ Katharsis sein könnte. Primavesi (2005) liest Hölderlins Sophokles-Anmerkungen hingegen dezidiert als antiaristotelisch (vgl. unten, 1.4).

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ralischen Aspekte, wie oben angezeigt) und ganz ausdrücklich auf ihre aktuelle Bedeutung als moderne dramatische Versuche sollten nicht gering geschätzt werden, etwa durch den Kurzschluss, dass Hölderlins Erörterung der literarisch wenig bedeutenden Ausgangstexte nur theoretische, abstrakte Gültigkeit beanspruchen darf. Das Interesse Hölderlins an zeitgenössischen dramatischen Versuchen ist ein wichtiger Bestandteil seiner Produktion und Reflexion über Drama und Theater. Das praktische Anliegen von Hölderlins kulturellem Entwurf eines produktiven, antiklassizistischen und experimentellen Verhältnisses von Antike und Moderne kommt auch in diesen Besprechungen zum Ausdruck. Darüber hinaus kann man in diesen erörternden Ausführungen zur Heroine und zum Fernando Vorzeichen des Kommentargestus erblicken, der die Sophokles-Anmerkungen charakterisieren sollte. Oberflächlich betrachtet erscheinen die beiden 1801 verfassten, soeben besprochenen Stellungnahmen zu zeitgenössischen Stücken kaum in Einklang zu bringen mit den ebenfalls nach der Aufgabe des Empedokles-Projekts und vor bzw. während der Arbeit an Sophokles’ Ödipus und Antigone entstandenen, bruchstückhaften weiteren Übersetzungen aus griechischen Tragödien. Eigentlich ist aber dieser dritte Schwerpunkt in Hölderlins Auseinandersetzung mit dem Theater kaum von den beiden anderen zu trennen. Schreiben, Deuten bzw. Kommentieren und Übersetzen waren bereits im Empedokles-Projekt nebeneinander betriebene Tätigkeiten, und zwar in enger Verknüpfung mit der experimentellen Neufassung des Verhältnisses der Moderne zur Antike. So sind auch die im Folgenden kurz zu besprechenden Translationsversuche, die auf den ersten Blick ephemeren Charakter besitzen, konstitutiver Teil von Hölderlins Theaterprojekt. Ihren Höhepunkt sollte die Einheit von übersetzerischer, dichterischer und denkerischer Praxis in den beiden Sophokles-Bänden erreichen, die 1804 erscheinen und zugleich Übersetzung, Tragödie und Kommentar sein wollen. Zwischen 1799 und 1800 fertigt Hölderlin die Übersetzung der ersten 24 Zeilen von Euripides Bakchen (bei Hölderlin: Bacchantinnen) an. Bernhard Böschenstein hat bereits in diesem Bruchstück Anzeichen des Verfahrens einer „mit einem neuen Sinn begabten produktiven Fehlübersetzung“ erkannt (Böschenstein 2002, 274.) – einer transformierenden Übersetzung, wie sie für die Sophokles-Übersetzungen charakteristisch ist. Hölderlin hat die ganze Tragödie des Euripides gekannt – die fragmentarische Übertragung des Anfangsmonologs des Dionysos erscheint in dieser Hinsicht wie die Spitze des Eisbergs eines „dionysischen“ Interesses seitens Hölderlin, das in der unmittelbar darauffolgenden Versfassung des Hymnenfragments Wie wenn am Feiertage... und auch sonst im Werk wiederholt auftaucht.82 Meiner Meinung nach ist diese Übersetzung nicht einfach als vorbereitende Übung für lyrische Aufgaben zu betrachten. Im Unterschied zur früheren, der Arbeit am Tod des Empedokles knapp

|| 82 Zu Anklängen an die Bakchen im Tod des Empedokles vgl. Hamlin (2007) 274f.

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vorangegangen Euripides-Übersetzung (Hekuba), gibt hier Hölderlin die griechischen Trimeter mit jambischen Sechsfüßlern wieder; dies kann als Zeichen bewertet werden für einen ausgeprägten Experimentierwillen in der dramatischen Verssprache, der auf produktiver Ebene auch die metrisch heterogenen Fassungen des Empedokles charakterisiert. Es lohnt sich, eine bisher unbemerkt gebliebene weitere Verbindung der Bakchen-Übersetzung mit der fast gleichzeitig entstandenen Dritten Fassung der Empedokles-Tragödie zu erwähnen. Die wenigen Zeilen nämlich, die Hölderlin aus Euripides’ Drama übersetzt, werden dem fremden Gott in den Mund gelegt, der zuerst die eigene Reise „fern von der Lyder golderfülltem Land […] durch Arabien, das glükliche / und die ganze Asia wandernd“ (StA 5, 41), bis zur Ankunft in Theben rekapituliert und dann den Zweck einer solchen Wanderschaft nennt: So kam ich hier in eine Griechenstadt zuerst, Daselbst mein Chor zu führen und zu stiften mein Geheimniß, daß ich sichtbar sei ein Geist den Menschen. Zuerst in Thebe hier im Griechenlande, Hub ich das Jauchzen an, das Fell der Rehe fassend. (Ebd.)

Man kann in Hölderlins Wiedergabe des Einschubs τακεϊ χορεύσας καί καταστήσας εμάς / τελετάς (Eur. Ba. 21f.)83und somit in der Einführung der dionysischen Chortänze das antike-figurative Pendant sehen zu Hölderlins gleichzeitiger, durchaus experimenteller (Wieder-)Einführung des Chors in den Skizzen zur dritten Empedokles-Fassung. Die Bakchen-Übersetzung zeigt also im Kleinen, wie der Dialog zwischen übersetzten, gedichteten und erörterten Texten bei Hölderlin dicht und konstant bleibt: Das metrische Ausprobieren mit Blick auf die eigene Dramensprache und die Auseinandersetzung mit antiken Chorformen verbindet sie mit der Arbeit am Empedokles. Die weiteren fragmentarischen Übersetzungen nach 1800 betreffen alle Sophokles und sind Bestandteil des ehrgeizigen Projekts, alle Tragödien des Sophokles zu übersetzen; die beiden 1804 erschienenen Bände sollten nämlich nur der erste Teil einer größeren Unternehmung sein, zu der ursprünglich auch eine „Einleitung zu den Sophokleischen Tragödien“ gehörte, die Hölderlin „besonders zu schreiben“ gedachte.84

|| 83 Vgl. DKA 2, 1287 für die korrigierende Übersetzung Jochen Schmidts der Z. 20–22: „So kam ich erst nach Griechenland, nachdem ich dort […] den Chortanz eingeführt und meine Weihen begründet hatte“. 84 Brief an Wilmans vom Dezember 1803, StA 6, 437. Vom Plan, eine Einleitung zu verfassen, war bereits im früheren Briefen an denselben die Rede. Eine solche, wohl allumfassende Erörterung gedachte Hölderlin in Druck zu geben, bevor die Übertragung sämtlicher Tragödien veröffentlicht worden wäre, nämlich bereits anlässlich der Herbstmesse 1804. Der Plan wurde nie verwirklicht. Vgl. auch das Konzept StA 4, 292: Die mit Herausgebertiteln (Von der Fabel der Alten bzw. Die Fabel der Alten) edierte „Disposition“ könnte zu den Vorarbeiten einer solchen Einleitung gehören. Vgl. aber

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Der Chor aus der Antigone, die Übersetzung der ersten Strophe und Antistrophe des zweiten Chorliedes, stellt darin eine Ausnahme dar. Er ist wahrscheinlich bereits im Herbst 1800 entstanden und ist in unserem Zusammenhang aus zweierlei Gründen von Interesse. Erstens kann auch hier das fortdauernde Experimentieren mit metrischen Schemata beobachtet werden, hier in Form einer starken Anlehnung an das originale Versmaß.85 Wenn man darüber hinaus der Dichte an Antigone-Bezügen Aufmerksamkeit schenkt, die in den theoretischen und poetologischen Entwürfen um 1800 belegt ist, so kann zweitens die Probe als weiterer Beleg gelten für den engen Zusammenhang zwischen Reflexions- und Übersetzungsarbeit.86 Ganz in die Endphase der Arbeit an Ödipus der Tyrann und an Antigone und in die unmittelbar darauffolgende Zeit gehören die restlichen Übersetzungsbruchstücke, die aus dem Ödipus auf Kolonos und aus dem Ajas stammen. Beide Tragödien hatte Hölderlin seit langem transformativ in seine dichterische, denkerische und übersetzerische Praxis eingearbeitet, wie die erörterten Belege der Sophokles-Präsenz in seinem Werk sowie die frühe Übersetzung einer Chorpartie aus dem Koloneus und das Auftauchen des Ajas in poetologischen Zusammenhängen bezeugen. Die „Zwei Proben aus dem Ödipus auf Kolonos“ (so die Herausgeberüberschrift in FHA 16, 423ff.) werden meistens auf das Jahr 1803, die „Drei Segmente aus Aias“ (FHA 453ff.) hingegen auf die Zeit zwischen 1803 und (wohl wahrscheinlicher) 1804/05 datiert (vgl. DKA 2, 776–781 sowie StA 5, 275–180 und 508–515). Augenscheinlich ist der Zusammenhang der übersetzten Verse mit lyrischen Texten Hölderlins, insbesondere mit dem hymnischen Entwurf Mnemosyne. Nicht nur darin liegt aber die Bedeutung der beiden tragischen Bruchstückgruppen für Hölderlins Produktion, es sei denn, man schreibt ihnen lediglich die Funktion zu, die in etwa die um 1800 entstandenen Pindarübersetzungen hatten. Im Unterschied zu dieser translatorischen Vorübung, die der Entfaltung des eigenen hymnischen Sprechens diente und

|| auch für andere Vermutungen FHA 14, 385 (mögliche Skizze zu Aufsätzen für Leo von Seckendorfs Zeitschrift Aurora). Ob das Einzelblatt mit dem Fragment Die Bedeutung der Tragödien auch zu dieser geplanten Einleitung gehört, sei dahingestellt (vgl. dazu FHA 16, 64; vgl. auch DKA 2, 1252f. für die behutsamere Erörterung von Zusammenhängen mit Texten der Jahre 1802–3). 85 Die Übersetzungspartie befindet sich in einem handschriftlichen Zusammenhang (im Stuttgarter Foliobuch zwischen zwei Oden-Entwürfen), der die enge Verknüpfung von dichterischer und übersetzerischer Praxis bestätigt. 86 Viele Antigone-Bezüge sind für die Zeit 1797–1800 festzustellen: Von dem umgewandelten Zitat in Über Religion („wenn es ungeschriebene göttliche Geseze giebt, von denen Antigonä spricht“, StA 4, 276; vgl. oben zur umstrittenen Datierung des Fragments), über den Brief an Neuffer vom 4. Juni 1799 (Antigone unter den möglichen Aufsatzthemata für Iduna, StA 6, 323) bis zu den Tafeln zum Wechsel der Töne und dem Fragment Über den Unterschied der Dichtarten, beide von 1800. Schließlich tritt die „zärtlichsternste Heroide“, die Sophokles „Antigonä genannt“ hat, auf die fiktive Bühne im Tod des Empedokles, wenn Delia der Agrigentinerin Panthea von den Erfolgen des großen Tragikers im heimatlichen Athen erzählt (1. Fassung; vgl. StA 4, 7, wohl Herbst 1798).

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in keiner Weise zur Veröffentlichung bestimmt war, müssen m.E. die späten tragischen Fragmente auch als Versuche verstanden werden, das zur Veröffentlichung bestimmte Projekt der Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen fortzuführen.87

1.4 Hölderlins antik-modernes Theater II: Das Sophokles-Projekt Sophokles hat Recht (Anmerkungen zur Antigone; StA 5, 272)

Die zwei Bändchen, die gleichzeitig im April 1804 anlässlich der Leipziger Frühjahrmesse beim Frankfurter Verleger Wilmans unter dem Titel Die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von Friedrich Hölderlin veröffentlicht wurden, stellen zusammen mit dem ebenso zweibändigen Roman Hyperion, oder der Eremit in Griechenland die einzigen Buchpublikationen Hölderlins vor seinem Rückzug in den ‚Turm‘ dar. Eine begrenzte Auswahl der Gedichte, darunter etwa siebzig zwischen 1792 und 1807 verstreut veröffentlichte Texte, wurden erst 1826 in einer Sammelausgabe von Gustav Schwab und Ludwig Uhland herausgegeben; das Buch sollte übrigens auch den Erstdruck von Fragmenten aus dem Tod des Empedokles enthalten.88 Die mit Druckfehlern übersäten Trauerspiele des Sophokles stellen also die einzigen Theatertexte dar, die Hölderlin selber veröffentlichen konnte. Ein vierseitiges Verzeichnis der Druckfehler (allein des ersten Bandes) konnte Hölderlin seinem Verleger am 2. April 1804 zuschicken; berücksichtigt wurde es jedoch nur in postumen Ausgaben; Hölderlins Sophokles-Übersetzungen wurden trotz ihrer verhältnismäßig unproblematischen Editionslage sehr spät und zuerst nur in historisch-kritischen Ausgaben wieder gedruckt, erstmals 1905 im dritten Band der von Wilhelm Böhm bei Diederichs herausgegebenen Gesammelten Werke.89

|| 87 Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Auswahl und Natur der übersetzten Passagen Rückschlüsse erlauben auf subjektive Befindlichkeiten Hölderlins. Eine „identifikatorische Beschreibung des eigenen Wahnsinns“ hat etwa Bernhard Böschenstein für die Ajas-Partien herausgearbeitet, bei Manfred Knigge ist von einer „notwendigen Identifikation“ die Rede. Die späten Übersetzungsfragmente aus Sophokles’ erster Tragödie bezeugen ein letztes Mal die Hölderlins ganzes Werk durchziehende Bekundung einer existentiellen Verwandtschaft mit dem antiken Helden und seinem Schicksal, vgl. oben, 1.1, sowie Böschenstein (2002) 278; Knigge (1985), passim. 88 Vgl. Schwab/Uhland, 198–226. Vier Jahre vorher war Hyperion wiederaufgelegt worden. Zur Veröffentlichung von Empedokles-Bruchstücken im 19. Jahrhundert vgl. 2.2. 89 Vgl. dazu Teil II. Es sei hier nur angemerkt, dass 1908 die von Marie Joachimi-Dege (Hölderlins Werke in vier Teilen, hier die Übersetzungen im vierten Teil, erstmals mit Kommentar) und 1913 die für die Hölderlin-Renaissance maßgebliche von Norbert Hellingrath (5. Band der Sämtliche Werke, mit dem Erstdruck vieler Übersetzungsbruchstücke) folgten. Ebenfalls im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sind die ersten Einzelausgaben seit dem Erstdruck 1804, die Uraufführungen der Antigone (1919) und des Ödipus (1921) und die ersten Rezeptionsformen in der Dramatik der Zeit aufzufinden.

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Eine Liste der Verbesserungen zu Antigone liegt nicht vor, was die Möglichkeit offen lässt, dass mehrere Unrichtigkeiten im zweiten Band als Druck- und nicht als Übersetzungsfehler zu betrachten sind. Eine zweite Fehlerquelle waren nämlich für beide Übersetzungen die griechischen Textvorlagen, die Hölderlin benutzte und die ihrerseits mit Verderbtheiten behaftet waren: Solche korrupte Lesarten führten den Übersetzer nachweislich in die Irre.90 Drittens sind sowohl Ödipus der Tyrann als auch Antigone unbezweifelbar durch Übersetzungsfehler gekennzeichnet, die auf eine „relativ beschränkte Kenntnis des Griechischen“ und auf „unzureichende Hilfsmittel“ zurückgeführt werden, die Hölderlin zur Verfügung standen (DKA 2, 1326f.). Nicht immer deutlich erkennbar ist jedoch die Grenzlinie, die solche Fehlerhaftigkeit von dem für unseren Zusammenhang viel bedeutenderen, transformativen Übersetzungsmodus trennen, der auf tiefschürfende Weise Hölderlins Auseinandersetzung mit dem griechischen Text kennzeichnet. Selbst Jochen Schmidt, aus dessen lehrreichem Kommentar die soeben zitierten Worte stammen und der mit einer gewissen Unerbittlichkeit danach zu trachten scheint, in Hölderlins Übersetzung jeden Fehler nachzuweisen, kommt in seiner Auflistung von Hölderlins Irrtümern auf die „desorientierende Wortwörtlichkeit“ zu sprechen (DKA 2, 1328), was ein anderes Kapitel eröffnen sollte: weg von dem ungewollt-unbeholfenen Missverständnis hin zur dichterischen Arbeit an der Sprache. Bernhard Böschenstein hat sowohl mit Blick auf Schmidts Kommentar als auch auf die konträre Bewunderung für Hölderlins „dem Geist des Originals weitaus am nächsten kommende Leistung“ seitens namhafter klassischer Philologen wie Karl Reinhardt und Wolfgang Schadewaldt die „kaum überwindbare Spannweite“ thematisiert, die zwischen unbezweifelbarer Fehlerhaftigkeit und tiefem Eindringen in den antiken Text hinein besteht (Böschenstein 2002, 280).91 Es wird in den nächsten Tei-

|| 90 Sicherlich bestimmen lassen sich die Benutzung der so genannten Brubachiana sowie die Vorlage mindestens einer weiteren, bis dato nicht identifizierten Ausgabe. Die 1555 beim Frankfurter Verleger Braubach erschienene Oktav-Ausgabe der sieben Tragödien des Sophokles mit Scholien, die sich auch im Verzeichnis der Bücher Hölderlins auffinden ließ, hat vor allem für die Antigone als Textvorlage gedient. Eine modernere Ausgabe muss für einige Aspekte der Antigone und für große Teile des Ödipus vorausgesetzt werden. So Jochen Schmidt zum Verhältnis zwischen der Korruptheit der Textvorlage und dem Übersetzungsverhalten Hölderlins: „Entweder folgte Hölderlin dieser Vorlage und kam so zu einer falschen, manchmal sogar sinnlosen Übersetzung, oder er versuchte in den ihm nicht verständlichen, weil an sich schon sinnlosen Text doch einen Sinn hineinzubringen, indem er spekulativ von der Vorlage abwich und so noch weiter abirrte“ (DKA 2, 1323–1326, hier 1326). 91 Als Erfahrungsgehalt dieses Eindringens hebt Böschenstein besonders die „Dimension religiöser Auseinandersetzung zwischen dem Menschen und dem Gott“ hervor. Bei allem Verständnis für das Plädoyer für eine nicht nur auf Fehlerhaftigkeit zentrierte Sicht erscheint seine Gleichstellung von Schmidts Kommentar mit den Verrissen, die Hölderlins Übersetzungen bei ihrem Erscheinen 1804 ernteten (vgl. 2.1.1), als übereilt (Böschenstein 2002, 280). Böschenstein verweist dann kontrastierend

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len dieser Arbeit Gelegenheit geben, die Etappen der fesselnden Rezeptionsgeschichte von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen zu erörtern, die auch die Geschichte einer solchen Polarisierung ist. Es seien hier nur die Worte des ersten Gräzisten der Hölderlin-Rezeption vorweggenommen, Norbert von Hellingraths, dem für die Wiederentdeckung von Hölderlins Pindar, die erstmalige Veröffentlichung einiger dramatischer Übersetzungsbruchstücke und die Würdigung der Sophokles-Übersetzungen Verdienste gebühren, die denjenigen für die Rehabilitierung von Hölderlins Spätlyrik kaum nachstehen. Bereits in seiner 1911 erschienenen Münchner Dissertation Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe hat Hellingrath „Hölderlins Kenntnis der griechischen Sprache“ als eine eher kulturell-ästhetische als philologische Kompetenz erörtert: so musste sich eine seltsame mischung ergeben von vertrautsein mit der griechischen sprache und lebhaftem erfassen ihrer schönheit und ihres charakters mit unkenntnis ihrer einfachsten regeln und gänzlichem mangel grammatischer exactheit […] nicht leicht war einem andern die tote sprache so vertraut und lebendig/ nicht leicht einem andern/ der einen so beträchtlichen teil der hellenischen literatur beherrschte/ die griechische grammatik und aller philologische apparat so fremd. (Hellingrath 1911, 75, 79)92

Im Vorwort zum vierten Band seiner historisch-kritischen Ausgabe (1913: Übersetzungen und Briefe. 1800–1806), sollte Hellingrath dann in Hölderlins Sophokles-Übersetzungen „die Sprachgestalt griechischer Dichtung“ wiedererkennen, die in neu für sie gebildete Gestalt der lebenden Sprache übergeführt wird, ohne Fälschung durch ihr fremdes, wie andre Übersetzer es in sie hinein trugen durch Anlehnung an überlieferte Formen sei es der vaterländischen seis der lateinischen Dichtung. (Hell. 5, XI)

Gerade der Vergleich mit anderen Sophokles-Übersetzern dient Hellingrath zur Hervorhebung von Hölderlins „Bedeutung für die Gegenwart“, da seine Übersetzungen für den des Griechischen Unkundigen eine vermittelnde Funktion annähmen und sogar zum „einzige[n] Zugang zu griechischem Wort und Gebilde“ würden. Erst und nur mittels Hölderlins Übersetzung, die „schwer zugänglich […] und weit abliegend von der gewohnten Weichheit und Verständlichkeit deutscher Dichtung“ sei, wird also aus der Perspektive Hellingraths die „Dunkelheit und gewaltsame Härte, die man auch beim Lesen des griechischen Urbildes sich nicht wegdeuten und wegleugnen darf“ für die Moderne ästhetisch erfahrbar; die begeisterten, nietzscheanisch angehauchten Töne, mit denen dabei „die Wiedergeburt griechischen Rausches“ gefeiert wird, sind für die so genannte Hölderlin-Renaissance typisch (Hell. 5, XI-XIII).

|| auf Reinhardts Studie zu Hölderlin und Sophokles (1951, 1961) und auf Schadewaldts Auseinandersetzung mit Hölderlins Sophokles-Übersetzungen (1957). 92 Die Besonderheiten in Orthographie und Interpunktion sind bekanntlich für die Drucke des George-Kreises typisch und werden im Folgenden nicht mehr eigens kommentiert.

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Hellingraths Worte wurden hier nicht zitiert, um die konkret bedingte Unkorrektheit einiger Stellen für inspirierte Geniestreiche auszugeben, und schon gar nicht, um einen „kultischen Hölderlin-Obskurantismus“ zu nähren.93 Eine „Fehlerphilologie“ kann jedoch dem Sophokles-Projekt als theatralischem, kulturellem Vorhaben sicher kaum gerecht werden: Hölderlins Übersetzungsmodus wohnt ein Moment der Vermittlung der Antike und Transformation für die Moderne inne, der vor der wörtlichen Entsprechung mit dem Originaltext Vorrang hatte. Das, was Jochen Schmidt „künstlerische[n] Gestaltungswille[n]“ nennt (DKA 2, 1328), ist nicht immer deutlich von einem schieren Missverstehen des Originals zu trennen. Kann solch ein close reading in rein produktionsästhetischer Perspektive wichtige Einsichten in Hölderlins Arbeitsverfahren erbringen – davon profitieren auch vorliegende Überlegungen –, so erscheinen in produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht das Gesamtergebnis der Übersetzungsleistung und die Haupttendenzen von Bedeutung zu sein, welche die übersetzerisch-dichterische und die erläuternde Auseinandersetzung mit Sophokles kennzeichnen und bei aller ,Unzeitgemäßheit‘ das Sophokles-Projekt zur konkreten, bühnenbestimmten Intervention Hölderlins in den Antike-Moderne-Diskurs seiner Zeit machen. In erkennbarer Kontinuität mit dem Empedokles-Projekt, wobei die dort erprobten Verfahren verfeinert und radikalisiert werden, ist der Sophokles-Komplex durch einen Rückgriff auf antike Theatertexte charakterisiert, der sie für die Moderne aufbereiten will; dementsprechend werden dabei auch zeitgenössische dramatische und theatralische Positionen berücksichtigt. Die Überwindung des Nachahmungsgebotes

|| 93 Vgl. DKA 2, 1332: „Konnten die Zeitgenossen den Übersetzungen und den ihnen beigefügten Anmerkungen mit vordergründiger Kritik nicht gerecht werden, so hat sich die Rezeption im 20. Jahrhundert immer wieder in die Gegenrichtung entwickelt: ein in Ansätzen schon während der Romantik aufkommender kultischer Obskurantismus bemächtigte sich des Schwerverständlichen und Dunklen gerade der Sophokles-Übersetzungen, obwohl dieses Dunkle und Schwerverständliche zum weitaus größten Teil die Folge der schlechten Textüberlieferung in Hölderlins Vorlage und der zahlreichen Mißverständnisse ist. Andererseits faszinierte die Modernen auch oft das Lapidare und die auf alles Dekorative verzichtende Schlichtheit der Diktion in den Sophokles-Übersetzungen, die dadurch eine eigene Würde erhalten, auch ihre Härten und ihr Rauhes – nach einer Fülle bieder-konventioneller, klassizistisch glättender oder impressionistisch weiterdichtender Versionen. Bis in moderne Sophokles-Übersetzungen hat Hölderlins Eigenart ausgestrahlt, nicht ohne zu Manierismen zu führen“. Jochen Schmidts Rekapitulation der Rezeption von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen lässt deutlich spüren, wie eine nur produktionsästhetisch orientierte (fehler-)philologische Perspektive blind sein muss vor der produktiven Fruchtbarkeit von Hölderlins radikaler Sprache, selbst von den „Irrtümern“ – Heiner Müller wird, Bertolt Brechts Gedanken weiterspinnend, gerade auf Fehler der SophoklesÜbersetzungen als „das Interessanteste bei Hölderlin“ hinweisen, da sie neue Perspektiven eröffnen (dazu vgl. 3.2.3). Umgekehrt würde eine nur auf die Rezeption zentrierte Sicht Gefahr laufen, Hölderlins bereits dynamisierenden Ansatz aus den Augen zu verlieren und sozusagen die Bürde und die Ehre von Transformation und Aktualisierung nur den späteren Bearbeitern zuerkennen. Vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, beide Momente zu berücksichtigen und Hölderlins Theater sowohl im Zusammenhang seiner Entstehung als auch unter den Bedingungen seiner Rezeptionsarten zu erörtern.

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und allgemeiner des Klassizismus ist natürlich auch hier zentral; noch stärker ausgeprägt und expliziter ausgedrückt ist, wie bereits im ersten Böhlendorff-Brief,94 das Bewusstsein der Grundverschiedenheit antiker und moderner Befindlichkeiten und dabei, in nur scheinbarem Paradox, die „Unentbehrlichkeit“ der Griechen. Lag der Akzent beim Empedokles eher auf der dichterischen Leistung, anhand antiker und zeitgenössischer dramatischer Vorlagen eine moderne Tragödie zu verfassen, so ist nun die „Rückkehr zu Sophokles“ eine übersetzerische Arbeit, dabei aber auch eine für die Gegenwart gedachte dichterische Transformation antiker Tragödien.95 Wie beim Empedokles, so ist auch hier die dramaturgische Praxis von kommentierenden Texten begleitet, wobei diesmal im Unterschied zu den Entwürfen um 1798/99 beides zu Vervollständigung und Veröffentlichung kommt, und zwar in ausdrücklich symmetrischer Positionierung. Dem Stücktext Ödipus der Tyrann folgen im selben Band die Anmerkungen zum Ödipus, die bereits auf die Antigone hinweisen; die Antigone erscheint im folgenden Band samt den Anmerkungen zur Antigone, die ihrerseits auf die Ödipus-Erörterungen inhaltlichen Rückgriff nehmen und den Ödipus auf Kolonos, im Schlussteil auch den Ajas erwähnen – dies wohl ein Vorgriff auf die in Aussicht gestellte Publikation weiterer Übersetzungen des Sophokles mit Anmerkungen. Der Titel des Buches selber, Die Trauerspiele des Sophokles, versprach auch editionspolitisch die Fortsetzung des Unternehmens, wie solche Antizipationen im gedruckten Band sowie die oben besprochenen Übersetzungsbruchstücke in den Handschriften des Dichters bestätigen.96

|| 94 Wahrscheinlich arbeitete Hölderlin bereits während der Zeit in Bordeaux an der Übersetzung, also unmittelbar nach der Entstehung des ersten Briefs an Böhlendorff. Der hier nicht eigens erörterte zweite Böhlendorff-Brief, der im Herbst 1802 nach der Rückkehr aus Frankreich verfasst wurde und somit den Bogen schließt, ist „ganz von der Vorstellungswelt der Anmerkungen […] geprägt“ (so Schmidt; DKA 2, 1323). 95 Von einem „rétour à Sophocle“ ist in Philippe Lacoue-Labarthes anregendem Beitrag Le théâtre de Hölderlin die Rede, wo etwa die theatralische Dimension von Hölderlins tragischem Schreiben stark hervorgehoben wird: „Wenn Hölderlins sich daran macht Theater zu schreiben (und über das Theater), [handelt] es sich in der Tat um Theater“ (Lacoue-Labarthe 1998; Übers. 2001, 47). Im Unterschied zu meiner, die Kontinuität hervorhebenden Rekonstruktion von Hölderlins Theaterprojekten wird jedoch bei Lacoue-Labarthe ein „radikale[r] Bruch [...] innerhalb desselben Theaterprojekts“ im Übergang von Empedokles zum Sophokles festgemacht (50), die Rückkehr zu Sophokles gilt ihm dabei als „Rückkehr zur Grundlage des Theatralischen“. Darüber hinaus hält Lacoue-Labarthe „an der Idee einer modernen Restitution der antiken Tragödie“ fest (Primavesi 2005, 208). Wenn ich oben seinen Begriff der „Rückkehr zu Sophokles“ übernehme, so geschieht das in etwas anderer Nuancierung, denn, wie schon erörtert, Hölderlins Rückbezug auf die Antike ist bereits im Empedokles-Projekt von der klaren Vorstellung geleitet, dass keine Wiederherstellung mehr möglich ist, sondern nur eine des diametralen Unterschieds bewusste Transformation für die Moderne. 96 So kann Lacoue-Labarthe nur teilweise zugestimmt werden, wenn er schreibt, dass es „keinesfalls ein Zufall [ist], dass er sich Sophokles zuwendet […], und auch nicht, wenn er bei Sophokles Oedipus und Antigone als Modelle oder Beispiele für die Tragödie auswählt, der Tragödie im eigentlichen Sinn.

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Gerade der enge Zusammenhang von übersetzerischer, dichterischer und kommentierender Praxis ist zu berücksichtigen, um Hölderlins anspruchsvolles Übersetzungsverfahren, Fehler oder Ungereimtheiten inbegriffen, im Kontext des Antike-Moderne-Diskurses seiner Zeit zu verorten, und zwar mit ausdrücklichem Bezug auf eine Bühnenrealisation der sprachlich-begrifflichen Arbeit. Nicht nur sind die transformierenden Tragödienübersetzungen von Kommentaren begleitet; auch die Tätigkeiten des Übersetzens, Dichtens und Deutens liegen auf einem Kontinuum. Translation und Rewriting, den Kategorien hypertextueller Relation, die Charlie Louths in seiner grundlegenden Studie zu Hölderlins „Dynamics of Translation“ richtigerweise in ihrer gegenseitigen Bedingung erhellt, ist also die Kategorie des Commenting hinzuzufügen.97 Das eine bedingt und ergänzt das andere, so dass etwa die Transformation des Ursprungstextes schon die modernisierende Interpretation beinhaltet und umgekehrt die Anmerkungen von einem Stellenkommentar zur eigenen Übersetzung ausgehen. Am augenscheinlichsten geschieht dies in den Entsprechungen von Umschreibung mythologischer Götternamen in der Antigone-Übersetzung und dem in den Antigone-Anmerkungen geäußerten entmythologisierenden Programm: „Wir müssen die Mythe nemlich überall beweisbarer darstellen“ (StA 5, 268), sprich an die moderne Vorstellungsart veranschaulichend annähern (vgl. Bennholdt-Thomsen 2005, 183f.). Solche programmatischen Erklärungen fallen übrigens nicht im abstrakten Zusammenhang, sondern gerade im Kommentar zu den eigenen Übersetzungsentscheidungen, hier zum Beispiel zu einer Stelle, wo Hölderlin statt „Zeus“ die Umschreibung „Vater der Zeit“ benutzt hatte, „um es unserer Vorstellungsart mehr zu nähern“ (StA 5, 268). Der Kreis schließt sich also: Die Übersetzungspraxis, die qua programmatischer Transformation der dichterischen Über-setzung des Antiken in die Moderne dient, wird im Kommentarteil zum Ausgangspunkt konkreter Erörterungen.98

|| Die Auswahl von Oedipus – wenigstens Oedipus – kommt von Aristoteles, d.h. dem einzigen Dokument, das die Griechen in Sachen einer, sagen wir, techne tragike, hinterlassen haben“ (vgl. LacoueLabarthe 1998, Übers. 2001, 57). Die Entscheidung, mit diesen beiden die Reihe der „Tragödien des Sophokles“ anzufangen, ist sicher bedeutend, nicht nur wegen Aristoteles. Es handelt sich aber, darüber lassen die überlieferten Zeugnisse kein Zweifel, um keine Ausschlussentscheidung, sondern um die erste Etappe eines größeren Projekts. 97 Auf Louth (1998), insb. 150–211, sei für eine eingehende Diskussion von Hölderlins SophoklesÜbersetzungen und ihres Verhältnisses zur dichterischen Sprache hingewiesen. Vgl. dazu auch Berman (1984), Fioretos (1999), Jamme/Lemke (2004). Dass Hölderlins „Übersetzungsidee“ als „Grundlage seiner Poetik und Sprachphilosophie“ zu verstehen ist, zeigt Elena Polledri am Rande ihrer Monographie zu den deutschen Übersetzungen italienischer Klassiker in der Goethezeit (so im Titel des einschlägigen Kapitels, 2010, 345–368). Auf die detailreiche Arbeit sei auch für einen Überblick über die Übersetzungstheorie und -praxis der Zeit hingewiesen. 98 „Seine Anmerkungen sind von einer äußersten dramaturgischen Präzision“ (Lacoue-Labarthe 1998; Übers 2001, 8f.). Steht die Entdeckung dieser dramaturgischen, m.E. auch theatralischen Di-

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Das Beispiel zeigt, wie 1804 Hölderlins radikale Arbeit an der Sprache ein ganzes kulturelles Programm absteckt, ein Überdenken des Antike-Moderne-Verhältnisses, das sich als vorläufiger Kulminationspunkt eines Jahrzehnts experimenteller Bemühungen darstellt. Selbst innerhalb des Sophokles-Projekts ist eine Entwicklung zu beobachten: Die Antigone-Übersetzung und die entsprechenden Anmerkungen fallen radikaler und extremer aus als die Ödipus-Texte; insbesondere die letzte Überarbeitungsphase im Herbst 1803 soll der zweiten Tragödie ihre sprachlich und inhaltlich gewagte Form verliehen haben.99 Dass Hölderlins Programm dabei immer noch das zeitgenössische Theater im Blick hat, zeigen sowohl interne als auch externe Aspekte. Zum einen sind nämlich sprachlich-stilistische Entscheidungen, strukturelle und performative Elemente der Übersetzung und der sie kommentierenden Anmerkungen aufzufinden, die sich erst im Zusammenhang mit einer möglichen Inszenierung voll erschließen und ausgesprochen experimentelle Zügen besitzen. Zum anderen bürgen einige Zeugnisse für Hölderlins Projekt, die auf die Gegenwart bezogenen und für die Gegenwart verfassten Sophokles-Übersetzungen auf die Bühne zu bringen. Beides soll nun eigens erörtert werden. Zuerst zu den internen Aspekten. In einem Brief an den Verleger Wilmans vom 8. Dezember 1803, in dem sich Hölderlin dafür entschuldigt, dass er „mit dem Manuscripte der Sophokleischen Tragödien gezögert“ hat, weist der Dichter mit wenigen Worten auf die Gründe hin, die ihn zu den letzten Überarbeitungen geführt haben: Die Sprache in der Antigonä schien mir nicht lebendig genug. Die Anmerkungen drükten meine Überzeugung von griechischer Kunst auch den Sinn der Stüke nicht hinlänglich aus. Indessen thun sie mir noch nicht genug. (StA 6, 435)

Neben dem Ausdruck der Unzufriedenheit über die Unvollkommenheit der Anmerkungen zu den wohlgemerkt als „Stüke“ bezeichneten Tragödien, möchte ich hier insbesondere auf das markante Auftreten der Kategorie Leben / Lebendigkeit aufmerksam machen, die bereits in den poetologischen Bemühungen der 1790er Jahre eine

|| mension der Sophokles-Anmerkungen größtenteils noch aus – in diese Richtung geht die oben angebotene Lektüre, vgl. auch Primavesi (2005) –, so ist spätestens seit Hellingrath ihre theoretische Reichweite erkannt worden: „Die Anmerkungen die Hölderlin seiner Sophoklesübersetzungen beifügte“, [sind] „ein Denkmal jener Nüchternheit die er das ‚Maass der Begeisterung‘ nennt“, […] „Hölderlins bedeutendstes theoretisches Werk und wol das Wichtigste was über die Tragödie gesagt worden ist“ (Hell. 5, XIV). 99 Schadewaldt (1957) 239 hat mit Blick auf die Übersetzungen den Ödipus als „bestimmter, faßlicher, dramatisch straffer“, die Antigone als „tiefgründiger, aber auch dunkler, unzugänglicher, inkommunikativer“ bezeichnet. Vgl. darüber hinaus Schmidt in DKA 2, 1329: „[Hölderlin findet oft], vor allem in der letzten Überarbeitung der Antigonä, zu einer eigenwilligen, expressiven Sprache […], die sich vom Vorstellungs- und Gefühlsniveau des griechischen Textes abhebt“. Vgl. auch verschiedene Beispiele in Böschenstein (2002).

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Rolle spielte und in Hölderlins Vorstellung der Tragödie als dichterische und theatralische Form zentral ist. Noch „lebendiger“ möchte Hölderlin die Sprache der Antigone auch in dem Sinne gestalten, dass er sie stärker theatertauglich machen will. Nicht zufällig benutzte er dasselbe Wort im vorigen, berühmteren Brief an Wilmans vom 28. September 1803, in dem er sich (in geschichtsphilosophischem Sinne) zum ‚Korrektor‘ des Sophokles inthronisiert hatte: Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herum beholfen hat, dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere. (StA 6, 434)

Die Forschung hat auf den mehr oder weniger stringenten Zusammenhang solcher Aussagen mit dem ersten Brief an Böhlendorff und/oder den Antigone-Anmerkungen hingewiesen und allgemeiner auf die geschichtsphilosophische und ästhetische Bedeutung der Vorstellung eines griechischen „Kunstfehlers“ und dessen Verbesserung durch die Modernen in Hölderlins spätem Werk. Von Interesse erscheint mir aber diese Passage auch deswegen, weil sie zusammen mit dem oben zitierten Willen, die Antigone-Übersetzung „lebendiger“ zu machen, die fortdauernde Suche Hölderlins nach einer expressiven, gestischen, in einem Wort: theatralischen Sprache zeigt und somit ein Grundprinzip seines Theaterprojekts nennt. „Publikum“, „Darstellung“, „lebendig“: die Begriffe, die hier wiederkehren, erinnern an den Wortlaut des Trauerspiel-Briefs an Neuffer vom 3. Juli 1799, der, wie oben erörtert, schon auf der Höhe des Empedokles-Projekts Hölderlins Interesse an der Bühnentauglichkeit „tragischer Form“ bezeugte. Wenn also Hölderlin noch 1804 seine übersetzerisch-dichterische Praxis vom Prinzip einer sprachlichen Lebendigkeit leiten lässt, so bezieht sich dies auch auf das performative Element der sprachlichen Gestaltung, auf die theatralischen Möglichkeiten seiner modernen Transformation der antiken Tragödie. Gerade diese radikale, gestische, unkonventionelle Eigenart der Sprache sollte eine der Triebfedern für die produktive Theaterrezeption Hölderlins im 20. Jahrhundert sein. Ein performatives Bewusstsein, eine Berücksichtigung der theatralischen Dimension, welche die sprachlich-begriffliche Arbeit anvisiert, um dem „Ideal eines lebendigen Ganzen“ (StA 6, 338) potentiell zu entsprechen, ist darüber hinaus in beiden Anmerkungen aufzufinden, die als solche sogar als Regieanweisungen in nuce zu lesen sind. Dies ist zwar stärker ausgeprägt in den Erläuterungen zur Antigone; da aber die Ödipus-Anmerkungen Argumentationsmuster aufweisen und Fragen aufwerfen, die im zweiten Teil des Kommentardiptychons wiederkehren und die Antigone-Anmerkungen Bezug auf das Vorhergesagte nehmen und daraus in manchem ein Fazit ziehen, so ist bei aller experimentellerer Beschaffenheit des späteren Textes der bündige Zusammenhang der Argumentation über die Grenzen des Bandes hinaus nicht aus den Augen zu verlieren. Bei den Aspekten, die auch in theatralischer Hinsicht zu lesen sind, handelt es sich teilweise um Elemente, die bereits in früheren Zusammenhängen, vornehmlich

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in der Zeit des Empedokles-Projekts und unmittelbar danach, eine Rolle spielten. Eine höhere Stringenz und eine explizitere Behandlung zeichnen jedenfalls die SophoklesAnmerkungen aus. Nicht zu vergessen ist dabei auch der Umstand, dass aller Unzufriedenheit seitens Hölderlins zum Trotz die Sophokles-Anmerkungen zu einem Reifegrad gelangten, den die früheren Entwürfe nie erreicht hatten. Bei der dreiteiligen Makrostruktur beider sind es sowohl in den Ödipus- als auch in den Antigone-Anmerkungen der erste, allgemein-strukturelle Fragen behandelnde Teil und der letzte, der „Darstellung des Tragischen“ bzw. der „tragische[n] Darstellung“ gewidmete Abschnitt, die für unsere Fragestellung interessante Gedankengänge und Schlüsselbegriffe aufweisen, während die in anderer Hinsicht aufschlussreichen Mittelpartien, die übersetzte bzw. umgedeutete Zitate kommentieren, hier weniger von Belang erscheinen. Die berühmten Überlegungen, die Hölderlin in den Anfangsteilen beider Anmerkungen zur „rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen“ als dynamischer Struktur der Tragödie und zur „Cäsur“, zum „reinen Wort“ als „gegenrhythmische[r] Unterbrechung“ derselben anstellt, sind über ihre abstrakte Bedeutung hinaus mit Blick auf die performative Dimension zu lesen, als eine Metrik der Tragödie (StA 5, 195–7; 265f.).100 Man denke an das stark musikalisch-choreutische Verständnis der Tragödie als „Transport“101 von Worten, Tönen und Körpern, etwas, das sich erheblich von der Vorstellung eines Lesedramas abhebt. Oder an die Gleichstellung von reinem Wort und gegenrhythmischer Zäsur, im Hinblick auf das körperlich-gestische Potential des gesprochenen Wortes hin – eine Vorstellung, die auch in späteren Passagen der Antigone-Anmerkungen ihren Ausdruck findet. Darüber hinaus kann man in der komplementären Beschreibung der verschiedenen „tragischen Gesetze“ respektive des Ödipus und der Antigone, die der Auftritt von Tiresias (so bei Hölderlin statt Teiresias) je anders bestimme, ein Regiekonzept in nuce erkennen. Die Makrostruktur der Tragödie und der daraus resultierende je andere „Rhythmus“, die hier Hölderlin erkennt, können in diesem Sinne nicht nur der Interpretation des Textes sondern auch dessen Inszenierung dienen, etwa mit Blick auf

|| 100 Grundlegend dazu Primavesi (2005), wo Hölderlins Überlegungen zu Rhythmus und Zäsur als (auch) das szenische Geschehen miteinbeziehende Begriffe erörtert werden. Zum Rhythmus der Übersetzungen im traditionelleren Sinne vgl. Previšić (2008) 86–114, bes. 86: „Hölderlin [findet] gegen Ende der Sophokles-Übersetzungen zu einem Eigenrhythmus, der bestimmte griechische Muster nur noch verstärkt“. Auch in rhythmischen Fragen arbeiten übersetzerische und theoretische Praxis parallel zusammen: Die in dem antiken Text aufgefundenen, auch in ihrer dramaturgisch-theatralischen Funktion erkannten Elemente werden einem Prozess der aneignend-überbietenden Transformation unterzogen, an dessen Ende moderne Dichtung für die moderne Bühne steht. 101 Der Terminus könnte französischen Ursprungs sein. Bei Kurz (1988) wird er mit dem Begriff der Metapher in Verbindung gebracht; siehe hingegen Lewis (2011) für die Erwägung einer Dependenz der Wortwahl Hölderlins von Boileaus Pseudo-Longinus-Übersetzung und somit von der ästhetischen Tradition des Erhabenen (dann wäre hier Transport die Entsprechung von ekstasis).

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der Zeitstruktur. Antike Inszenierungen, die der Dichter durchaus in seinen Überlegungen mitreflektiert, sind in der Perspektive des späten Hölderlin Teil einer Kultur, die nur im Bewusstsein einer grundlegenden Differenz als „unentbehrlich“ gelten darf (so Ende 1801, StA 6, 426), noch extremer: Sie sind Ausdruck der „griechische[n] Kunst, die uns fremd ist“ (so im späten 1803, StA 6, 434). Moderne Inszenierungen „lebendiger“, experimentell gestalteter Tragödien kann Hölderlin in den Ödipus- und Antigone-Anmerkungen in seinen Gedankengang potentiell einarbeiten. Die oben erörterten, performative und inszenatorische Fragen streifenden Passagen beider Anfangsteile sind Zeugnisse dieser Mitberücksichtigung des Theaters in Hölderlins spätem Verständnis von Beschaffenheit und Tendenz seiner antik-modernen Dramatik. In dieser Hinsicht kann man auch in den Schlussteilen beider Anmerkungen weitere Belege finden, die auf eine ausgesprochen performative Vorstellung des dramatischen Wortes und des Theatertextes hinweisen. Es ist in diesem Sinne keineswegs abwegig, beide Sophokles-Anmerkungen nicht nur als Kommentar zu den antiken Tragödien und deren transformierender Übersetzung (dazu vor allem die Mittelpartien) zu lesen, sondern auch als Anweisungen für eine Realisation auf der modernen Bühne. Ihr Verhältnis zu den Übersetzungen ist dementsprechend auch durch den Anspruch gekennzeichnet, sie als Theatertexte zu erörtern und mit Blick auf eine mögliche Inszenierung zu interpretieren. Im Zentrum des knapper ausfallenden, dritten Abschnitts der Ödipus-Anmerkungen stehen vornehmlich Überlegungen, welche die „Darstellung des Tragischen“ auf die Vereinigung und Scheidung von Mensch und Gott im Zeichen gegenseitiger Untreue und mit dem Ergebnis einer „kategorischen Umkehr“ zurückführen (StA 5, 201f.). Solche vordergründige, im Abstrakten performative Aspekte (Vereinigung, Umkehr, Scheidung bildeten an sich eine ideelle Handlung) werden auch auf konkrete dramaturgisch-theatralische Elemente bezogen: „der […] widerstreitende Dialog“ und „der Chor als Gegensatz gegen diesen“ werden als Grundelemente einer den Bau der Tragödie kennzeichnenden „Rede gegen Rede“-Struktur betrachtet, die auch konkret anhand von Beispielen aus Auftritten des Ödipus kurz erörtert werden. Die darauffolgende Bezeichnung des Ödipus als „Drama wie eines Kezergerichtes, als Sprache für eine Welt, wo […] der Gott und der Mensch […] in der allvergessenden Form der Untreue sich mittheilt“, lässt neben dem zentralen Anliegen der Argumentation ein performatives Verständnis der Tragödie als sprachlich-gestisches Ereignis, ähnlich einer Gerichtsverhandlung, im Hintergrund durchscheinen (ebd.). Intensiver und zentraler für den Hauptargumentationsgang wirken solche Vorstellungen in den viel ausführlicheren Schlusspassagen der Antigone-Anmerkungen, wobei hier Hölderlins Reflexion stärker polarisiert ist zwischen vergangener Kunstform (eben der sophokleischen Tragödie), und der für die Moderne geeigneten, „vaterländischen“ Dichtung. Man denke an die berühmte Passage, in der die „tragische Darstellung […] nach griechischerer Art“ als bedingungslose Nähe von Wörtlichem und Körperlichem erörtert wird (269). Die aus den Anmerkungen zum Ödipus bekannten, dramaturgisch inspirierten Ausführungen über den Gegensatz von Dialog und

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Chor münden hier in die performative Gegenüberstellung der antiken und modernen tragischen Sprachen: Deswegen die gefährliche Form, in den Auftritten, die, nach griechischerer Art, nothwendig factisch in dem Sinne ausgehet, daß das Wort mittelbarer factisch wird, indem es den sinnlicheren Körper ergreift; nach unserer Zeit und Vorstellungsart, unmittelbarer, indem es den geistigeren Körper ergreift. Das griechischtragische Wort ist tödtlichfactisch, weil der Leib, den es ergreifet, wirklich tödtet. (StA 5, 269)

Diese Überlegungen, die das geschichtsphilosophische Gerüst des ersten Böhlendorff-Briefs wiederaufgreifen, gehen dann zu den „Vorstellungsarten unserer Zeit“ über und zum modernen („vaterländischen“) „mehr tödtenfactische[n], als tödtlichfactische[n] Wort“. Die tragische Sprache wird mithin in ihrer performativen Tragweite betrachtet. Auch Fragen, die im Rahmen des Empedokles-Projekts über die tragische Todesart aufgeworfen wurden, scheinen durch diese diffizilen Unterscheidungen durch. Hier wird eigentlich das antike Pendant dazu, der Ödipus auf Kolonos, als Beispiel genannt, das bekanntlich „nicht eigentlich mit Mord oder Tod endig[t]“, wie Hölderlin aber für das moderne Trauerspiel gelten zu lassen scheint: So daß das Wort aus begeistertem Munde schreklich ist, und tödtet, nicht griechisch faßlich, in athletischem und plastischem Geiste, wo das Wort den Körper ergreift, daß dieser tödtet. (270)

Die nicht ganz schlüssige Gegenüberstellung ist in den darauffolgenden Zeilen partiell aufgehoben bzw. weist zumindest nicht nur auf den Gegensatz von antiken und modernen Beispielen hin. „Vorzüglich aber bestehet die tragische Darstellung“ – hier scheint mir Hölderlin jenseits der Polarisierung auf gleichbleibende Eigenschaften zu sprechen zu kommen – „in dem factischen Worte […] in der Art des Hergangs, in der Gruppirung der Personen gegeneinander, und in der Vernunftform […]“ (ebd.). Solche durchaus auch dramaturgisch-theatralisch zu lesenden Elemente werden dann am Beispiel der Antigone erörtert. Dabei ist einerseits ein politisch-kultureller, ausführlicher behandelter Schwerpunkt, andererseits eine performative Perspektive hervorzuheben. „Die Art des Hergangs in der Antigonä ist die bei einem Aufruhr“, heißt es dort, „vaterländisch[e] Umkehr, wo die ganze Gestalt der Dinge sich ändert“ (271) – politisch ist also eine solche Interpretation der strukturell-thematischen Rhythmik des Dramas in dem sehr weiten Sinne einer ganzheitlichen kulturellen Revolution zu lesen, im Einklang mit der Auffassung, die bereits im Rahmen des Empedokles-Projekts und für den dort eingearbeiteten politischen Moment hervorgehoben wurde. In dieser Perspektive ist auch der Wortlaut der Antigone-Anmerkungen zu verstehen, wo auch die „Vernunftform“ als „politisch und zwar republikanisch“ bezeichnet wird (272). Im knappen Absatz dann, den Hölderlin der „Gruppirung der Personen“ widmet, kommt in der für diesen Text typischen, dichten Form einer blitzartigen Erkenntnis, der keine eingehend beschreibende Analyse folgt, der performative Schwerpunkt

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stark zu Wort, und zwar in einer nicht nur die Antigone, sondern auch den Ödipus und den noch zu übersetzenden Ajas betreffenden, bildlichen Formulierung, die das ganze Sophokles-Projekt im Zeichen des Athletischen / Performativen / Spektakulären erfasst: Die Gruppirung solcher Personen, ist, wie in der Antigonä, mit einem Kampfspiele von Läufern zu vergleichen, wo der, welcher zuerst schwer Othem holt und sich am Gegner stößt, verloren hat, da man das Ringen im Oedipus mit einem Faustkampf, das im Ajax mit einem Fechtspiele vergleichen kann. (271)

In diesen Vergleichen des tragischen Ringens mit (olympischen) Sportarten – ein von der bisherigen Forschung wenig beachteter Vergleich, der die Tragödien als Austragen von Wettkämpfen und somit als Schau-Spielen darstellt102 – kommt die Behandlung rhythmisch-körperlicher und performativer Fragen in Hölderlins SophoklesAnmerkungen zum Höhepunkt.103 Hölderlin versteht hier die Tragödie als ein Spiel/Spielen im weiten Sinne, in heutigem Sprachgebrauch als eine Performance, in der ein durch die enge Verbindung des Sprachlichen und des Körperlichen gekennzeichneter (agonaler) Vorgang vor einem Publikum abläuft. Sowohl die übersetzerische Arbeit als auch die Kommentare zu derselben und zur Polarität von antiker und moderner Tragödie weisen also Elemente auf, die Hölderlins Sophokles-Übersetzungen zu antik-modernen dramatischen Texten machen, die auch für eine konkrete Bühnenrealisation verfasst wurden. Die moderne Transformation an sich wie einige der aktualisierenden Grundrichtungen derselben und die Einbeziehung in den hermetischen Gedankengang der Anmerkungen von Elementen, die performativ-inszenatorische Perspektiven zu eröffnen vermögen, können als interne Zeugnisse gelten von Hölderlins Mitberücksichtigung der Inszenierungsmöglichkeiten in allen Phasen seines letzten antik-modernen Theaterprojekts. Dabei ist auch deutlich geworden, dass es sich um ein Vorhaben handelt, das die seit dem Tod des Empedokles fortdauernde experimentelle Suche nach einer auf die Gegenwart gerichteten Tragödienform weiterentwickelte.

|| 102 Bei Nägele (1999) bildet der Vergleich von Tragödien mit „Kampfspielen“ den Anfang von Überlegungen über das Tragische, die jedoch nicht auf die performativen Aspekte eingehen. Primavesi (2005) 220 erläutert kurz die Stelle am Ende seiner Studie, wobei mir der Verweis auf Artauds Theater irreführend scheint. 103 „Körperliches“ und „Athletisches“ waren bereits im zweiten Böhlendorff-Brief zentrale Kategorien der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Antike und Moderne, jedoch nicht aus dramaturgisch-theatralischer Perspektive: „Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiquen Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte die Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermüthigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten“ (StA 6, 432).

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Und nun zu den externen Aspekten. Dass Hölderlin seine Sophokles-Übersetzungen als bühnentaugliche Versuche betrachtete, wird dadurch bestätigt, dass er Kopien der Tragödien an Goethe, den damaligen Direktor des Weimarer Hoftheaters, schicken ließ, wie mehrere briefliche Äußerungen der Jahre 1803–04 belegen. Sogar dreimal kommt der Dichter im Briefwechsel mit dem Verleger Wilmans darauf zu sprechen. Im ersten Beleg, der aus dem Frühherbst 1803 stammt und somit der letzten Überarbeitungsphase des Sophokles-Projekts vorausgeht, ist auch von einer Vermittlung Schellings die Rede, die aber der Philosoph (und Hölderlin-Freund) höchstwahrscheinlich zwar in Aussicht gestellt, aber nie realisiert hat: Da ich noch von meinem Freunde Schelling, der sie an das Weimarische Theater besorgen wollte, keine Nachricht habe, so gehe ich den sicheren Weg, und mache von Ihrem gütigen Anerbieten Gebrauch. (StA 6, 434)104

Gut zwei Monate später, am 8. Dezember, wird Hölderlin nachdrücklicher in seiner Bitte – offenbar liegt ihm die Sache am Herzen: Sollte es Ihnen unbequem seyn, die Ausgabe dieser Tragödien an Göthe oder an das Weimarische Theater zu schiken, so haben Sie die Güte, mir dieses zu wissen zu thun. Da ich HE. von Göthe persönlich kenne, so wird es nicht unschiklich von mir seyn. (StA 6, 435)

Am 2. April 1804 bittet dann Hölderlin Wilmans um die Einsendung der Freiexemplare, die er nun selber u.a. „an Herrn von Göthe und Herrn von Schiller zu schiken“ gedenkt (ebd., 439). Goethe ist übrigens auch in der Liste verzeichnet, die Hölderlin wenig später am Rande von Wilmans Antwortschreiben vom 14. April notiert, und zwar zusammen mit „HE. von Sekendorff, HE. Haug, HE. Hegel, […] HE. Heinze in Aschaffenburg, […] HE. Matthison, HE. Schelling (StA 5, 455) und anderen. Dabei handelt es sich vermutlich um die Namen derjenigen, für die sich Hölderlin die in Wilmans Brief angebotenen zusätzlichen Freiexemplare gedacht hat. Nach dieser Rekonstruktion wäre das eklatante Fehlen von Friedrich Schiller – bzw. von Freunden wie Böhlendorff und Landauer – dadurch zu erklären, dass ihnen Hölderlin bereits Exemplare aus der ersten Lieferung zugedacht hatte. Nicht nur die Tatsache, dass Hölderlin an eine mögliche Aufführungsstätte für die eigenen Sophokles-Übersetzungen gedacht hat, ist hier von Belang, sondern auch,

|| 104 Hölderlin an Wilmans, 28. September 1803. Wenn man bedenkt, dass Schelling ungefähr drei Monate davor Hölderlin dem gemeinsamen Freund Hegel als „am Geist ganz zerrüttet“ beschrieben hatte, „obgleich noch einiger Arbeiten, z.B. des Übersetzens aus dem Griechischen bis zu einem gewissen Puncte fähig, doch übrigens in einer vollkommenen Geistesabwesenheit“, so kann man die Hypothese aufstellen, Schellings Angebot sei nur ein Versuch gewesen, dem Freund durch Ermunterung zu helfen; anscheinend war Hölderlin entweder viel luzider als hier dargestellt und konnte das Angebot des Freundes noch gut in Erinnerung behalten, oder aber umgekehrt so „geistesabwesend“, dass er die Worte Schellings missverstanden hat (Schelling an Hegel, 11. Juli 1803; StA 7/2, 262).

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dass er sich ausdrücklich das Weimarer Hoftheater als die geeignete Spielstätte vorstellte. Es hat bereits bei Erörterung des Gegenwartsbezugs der Empedokles-Tragödie die Gelegenheit gegeben, die thüringische Theaterstätte als möglichen Fluchtpunkt von Hölderlins erstem antik-modernem Theaterprojekt zu erwähnen. Der moderne Antike-Diskurs, den das Theater unter Goethes Direktion betrieb, war zwar von anderen Prinzipen geleitet als Hölderlins antiklassizistischer und experimenteller Entwurf. Der Dichter war sich auch des Unterschieds vollauf bewusst: In einem unvollendeten Briefentwurf etwa, dessen Datierung und Adressat umstritten sind, gibt Hölderlin zwischen 1799 und 1800 von der gefühlten Distanz zum Antike-Verständnis seiner Zeitgenossen mit diesen Worten Zeugnis: Das innigere Studium der Griechen hat mir dabei geholfen und mir statt Freundesumgang gedient, in der Einsamkeit meiner Betrachtungen nicht zu sicher, noch zu ungewiß zu werden. Übrigens sind die Resultate dieses Studiums, die ich gewonnen habe, ziemlich von andern, die ich kenne, verschieden.105

Das Bewusstsein, mit den eigenen experimentellen Entwürfen auf eine terra incognita geraten zu sein, aus dem auch das Gefühl einer Unzeitgemäßheit entstehen konnte, schließt aber keineswegs aus, dass Hölderlin eine Wirkung seiner Theaterprojekte auf seine Zeitgenossen anstrebte. Dass er seine Sophokles-Übersetzungen an das Weimarer Theater schicken ließ, ist also nur der letzte Beleg dafür, dass der Dichter in den Antike-Moderne-Diskurs und in das Theaterleben seiner Zeit durchaus eingreifen wollte. Dass er sich bei der Wirkung eines solchen Eingriffs arg verkalkulierte, bezeugen die Reaktionen der Zeitgenossen, inklusive der Weimaraner, auf seine Übersetzungsleistung und auf allgemeinerer Ebene ein langes Jahrhundert des Schweigens der Theater (vgl. Teil II). Hölderlins Empfehlung seines Sophokles an das Weimarer Theater passte in jenen Kontext. Im und um das Hoftheater (und fast nur da) hatten seit der Jahrhundertwende moderne Antikendramen und mehr oder weniger modernisierte antike Tragödien bekanntlich Konjunktur. Um nur das Wichtigste zu nennen: Wilhelm von Humboldt arbeitete seit 1797 an einer Aischylos-Übersetzung (Agamemnon), Mitte

|| 105 StA 6, 381f.; dort wird der Entwurf auf den Winter 1799/1800 datiert, als möglicher Adressat wird Christian Gottfried Schütz erwogen. Vgl. aber auch FHA 19, 464, mit einer späteren Datierung (November 1800) und mit der Entscheidung für Gottlieb Ernst August Mehmel als Empfänger. Hölderlin antwortet hier positiv auf eine „Einladung“, wohl ein Angebot, Rezensionen für eine Zeitschrift zu verfassen („Beurtheilung poëtischer Werke“). Der Briefentwurf enthält Schlüsselworte von Hölderlins Poetologie des dynamischen Verhältnisses zwischen Antike und Moderne und kommt erwartungsgemäß auf das Trauerspiel zu sprechen, wobei die an die Sophokles-Anmerkungen erinnernde Vorstellung der Tragödie als Begegnung und Scheiden von Gott und Mensch geäußert wird. Zu einer Mitarbeit ist es nicht gekommen, vielleicht waren die „ästhetischen Gesinnungen“, denen Hölderlin hier Ausdruck gab, zu unkonventionell.

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1801 sind die ersten Konzepte einer antik geschulten, durchaus experimentellen Tragödie mit Chören in Schillers Papieren zu finden, die mit dem Titel Die Braut von Messina am 1. Februar 1803 fertig war und, wie bereits erwähnt, am 19. März 1803 uraufgeführt wurde. Goethes hatte dann bereits ein Jahr davor August Wilhelm Schlegels Euripides-Bearbeitung Ion inszeniert (2. Januar 1802, ED 1803) und Friedrich Schlegels spanisches „vorzüglich nach den Idealen des Aischylos [...] aber in romantischem Stoff und Kostüm“ verfasstes Trauerspiels Alarcos zur Aufführung gebracht (29. Mai 1802, ED 1802).106 Die eigene mehr als 20 Jahre zurückliegende Iphigenie auf Tauris hatte Goethe, in Schillers neuester Bearbeitung, auch wieder ans Licht gebracht (15. Mai 1802). All dies zeugt von einer Konzentration auf Antikendramatik, was Hölderlin als günstige Bedingung für die eigenen Theaterexperimente begreifen durfte. Werner Frick hat exemplarisch Goethes, Schillers und Kleists Antikendramatik als „Dreieckskampf“ gelesen, „in dem ebensosehr die Deutungshoheit über das rechte Verhältnis der Antike und ihrer Tragödie auf dem Spiel steht wie zugleich die Entscheidung über die Art von tragischer Literatur, die der eigenen Zeit gemessen wäre“ (Frick 2003, 220) – genau diesem Kampf wollte sich auch Hölderlin stellen.107 Noch brisanter erscheint Hölderlins für die Zeit überhaupt nicht selbstverständliche Idee, 1803/4 die eigenen Übersetzungen an eine Bühne zur Aufführung zu schicken, wenn man Goethes gleichzeitigen Plan berücksichtigt, die Antigone in (beinahe) unbearbeiteter Form zur deutschen Uraufführung zu bringen. In einem Brief von Johann Friedrich Rochlitz an Goethe vom 30. Oktober 1802 ist erstmals die Idee überliefert, eine Tragödie des Sophokles unter „möglichster Annäherung an die Darstellungsweise der Griechen“ in Weimar und somit in Deutschland zum ersten Mal überhaupt zu inszenieren.108 Das Vorhaben sollte am 30. Januar 1809 mit der Antigone-Inszenierung in der (stark bearbeitenden) Übersetzung von Rochlitz auch verwirklicht werden, wobei erst am 28. Oktober 1841 eine fast unbearbeitete Textvorlage (Donner) eine deutsche Bühne erreichen sollte, mit der berühmten Potsdamer Antigone-Inszenierung unter der Intendanz Ludwig Tiecks und mit der Szenenmusik von Felix Mendelssohn-Bartholdy.109

|| 106 Die Selbstdefinition stammt aus Friedrich Schlegels Literatur, erschienen in der AthenäumNachfolge „Europa“ I, 1803, 41–63. Die angestrebte Synthese von klassischen und romantischen Formelementen blieb bekanntlich aus, die Uraufführung war desaströs. Eine von Hölderlins AntikeModerne-Projekt entferntere Tragödie als Schlegels spanisches Ritterdrama kann man sich wohl kaum denken. 107 Zum „Antiken Drama in Weimar“ vgl. Flashar (2009) 47–57. Zur „Weimarer Bühne“ als „Ring [...], in dem verschiedene Besitzansprüche hinsichtlich der Antike aufeinandertreffen“, vgl. Schulz (2005) 202 sowie Frick (2003). 108 Bei Flashar (2009) 53 sowie Anm. 16 ist fälschlicherweise von einem Brief Goethes an Rochlitz die Rede. 109 Vgl. Flashar (2009) 60–81 (Kap. „Griechische Tragödie in Potsdam“). Vgl. unten, 2.1.2.2 zur Überlappung mit der Rezeption von Hölderlins Ödipus bei Bettina Brentano.

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Es handelte sich bei Rochlitz’ konventionell glättender Übersetzung zwar um das diametrale Gegenstück zu Hölderlins intensiv-experimenteller Auseinandersetzung mit dem griechischen Original; wie Hellmut Flashar richtig festgestellt hat, hat Goethe sicher nicht einmal daran gedacht, die Übersetzung Hölderlins als mögliche Vorlage zu benutzen (Flashar 2009, 54). Über den chronologischen Zusammenfall entschied die ästhetisch-stilistische Gegensätzlichkeit. Es bleibt aber, dass Hölderlins ausgesprochen gestisch-performative Bemühungen um eine der Moderne angemessene, auf die Antike transformativ zurückgreifende Tragödie sowohl beim unvollendeten Empedokles-Projekt als auch beim durch Radikalität befremdenden SophoklesProjekt auf den gegenwärtigen literarisch-theatralischen Diskurs wirken wollten. Gegen die weitverbreitete Lektüre der Empedokles-Bruchstücke als Fragmente eines gescheiterten Lesedramas oder als dramenfernes lyrisches Fragment und gegen etwa Flashars bereits erwähntes Diktum, Hölderlins Übersetzungen seien lediglich „zum Lesen oder Vorlesen“ gemacht worden,110 haben die in diesem ersten Teil vorgebrachte Überlegungen zu Hölderlins Theatertexten vor und nach 1800 zu zeigen versucht, dass sie alle (wie es bei David Farrell Krell mit besonderem Bezug auf den Tod des Empedokles heißt) „for the theater of his own times“111 intendiert waren; sie zielten nämlich mit anderen Worten (so Patrick Primavesi mit speziellem Blick auf die späte „Poetik der Zäsur“) „auf den Vorstellungsraum des Theaters, auf eine szenische Praxis“, wo erst Hölderlins antike-moderne Dramatik zu voller Wirkung hätte kommen können.112 „Wie die Ursache, so die Wirkung“ (StA 6, 306f.) – das poetologisch-utopische Wort Hölderlins aus dem Neujahrsbrief an den Bruder 1799 trifft auf seine eigenen dramatischen Projekte bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht zu. Vielmehr hätte Hölderlin angesichts der zeitgenössischen Aufnahme seines Sophokles das „Gleichnis“ wiederholen können, mit dem er im selben Schreiben der eigenen dejection Ausdruck gab: O Griechenland, mit deiner Genialität und deiner Frömmigkeit, wo bist du hingekommen? Auch ich mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun und Denken diesen einzigen Menschen in der Welt nur nach, und bin in dem, was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschikter und ungereimter, weil ich, wie die Gänse mit platten Füßen im modernen Wasser stehe, und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle. (307)

Über die Reaktionen Hölderlins auf die vernichtende Rezeption seiner SophoklesÜbersetzungen in den damaligen Rezensionsorganen (vgl. Teil II) ist nichts überliefert. „An das Erscheinen weiterer Bände war unter diesen Umständen nicht zu denken“ (FHA 16, 64), glossieren allerdings die Herausgeber der Frankfurter Ausgabe,

|| 110 Vgl. oben, Anm. 68. 111 Krell (2005) 276. 112 Primavesi (2005) 205.

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und dies war womöglich auch der Gedanke von Verleger Wilmans nach dem Lesen mancher Besprechung. Angesichts des Mangels an brieflichen und sonstigen Zeugnissen eines weiteren Kontakts Hölderlins mit dem Verleger113 und der wenigen Übersetzungsbruchstücke aus dem Ödipus auf Kolonos und dem Ajas muss die Hypothese aufgestellt werden, dass Hölderlin wohl nur noch kurze Zeit, bis 1805, an eine Fortführung des Projekts dachte, alle weiteren Tragödien des Sophokles zu übersetzen. Zu dieser Zeit dringen dann lebensgeschichtliche Probleme so stark in seine Arbeitspläne hinein, dass die Aufgabe des Sophokles-Projekts und das schlichte Versanden eines ganzen Lebensentwurfes schwer zu trennen sind. Es seien hier zum Schluss die Lebensverhältnisse rekapituliert, die den Hintergrund des Spätwerks Hölderlin bilden, also auch von den in diesem letzten Kapitel besprochenen Texten nach 1800. Nach dem „böse[n] malade[n] Jahr“114 – wohl dem bitteren, zweiten Teil des Homburger Bienniums 1798–1800 – war der Stuttgarter Sommer und Herbst bei Landauer eine ruhige Zeit gewesen, voller fruchtbarer poetischer Inspiration vornehmlich in Sachen elegischer Dichtung. Im Jahr darauf, spätestens nach dem Verklingen der Begeisterung über den Frieden von Lunéville (9. Februar 1801), gewannen nüchterne bis bedrückte Stimmungen wieder die Oberhand; existentielle und finanzielle Unsicherheiten kennzeichneten eine Periode ständiger Wohnsitzwechsel. Entscheidend erwies sich insbesondere 1802 Hölderlins Zeit in Bordeaux und die Rückkehr über Paris nach Schwaben. Vom Spätfrühling 1802 bis zum Spätfrühling 1804, also bis kurz nach dem Erscheinen der Sophokles-Bände, residierte Hölderlin hauptsächlich in Nürtingen bei der Mutter. Spätestens seit dem Wiedereintreffen in der Heimat und/oder der Nachricht vom Tod von Susette Gontard wurden erste Symptome psychotischer Geistesverfassung in Berichten von Freunden und Verwandten registriert. Manche Zeugnisse erstellen einen Zusammenhang zwischen den mit der Übersetzungsarbeit und der lyrischen Produktion jener Zeit einhergehenden Anstrengungen und der Verschlechterung von Hölderlins Geisteszustand. Über die Zeit nach 1804 und somit nach der Entstehung und dem partiellen Erscheinen der Theatertexte Hölderlins (auch die Zeit ihrer anfänglichen öffentlichen Resonanz, von der Hölderlin sehr wenig erfahren konnte) sollen noch ein paar wenige Überlegungen angestellt werden. Im Abdriften in die offenkundige Geisteskrankheit steckt auch einer der möglichen Gründe für die Aufgabe der weiteren Sophokles-Übersetzungen. Wohl auch um Hölderlin von Nürtingen und von der psychologischen und faktischen Entmündigung durch die Mutter zu entfernen, verschaffte ihm Sinclair einen erneuten zweijährigen Aufenthalt in Homburg v.d. Höhe (1804–1806). Nach dem

|| 113 Indirekt überliefert – im Bericht Johann Georg Fischers – ist nur der Gram des greisen Dichters, der noch als Siebzigjähriger den „Buchhändler“ Wilmans unter lauten Beschimpfungen erwähnt habe, wohl insbesondere an die ungemein vielen Druckfehler in den beiden Sophokles-Bändchen denkend (StA 5, 454; 7/3, 294, 300). 114 An die Schwester, August/September 1800, StA 6, 400.

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Aufgehen der Landgrafschaft Hessen Homburg im Großherzogtum Hessen-Darmstadt und bei dem nunmehr manifesten Wahnsinn kann jedoch selbst Sinclair dem langjährigen Freund keine Hilfe mehr bieten. Am 11. September 1806 wird Hölderlin mit Gewalt entführt und in die Tübinger Universitätsklinik eingeliefert. Hier bleibt er etwa acht Monate; Anfang Mai 1807 wird er als unheilbar entlassen und von Ernst Zimmer im heute berühmten ‚Turm‘ am Neckar, einem erkerartigen Vorsprung am Haus des Schreinermeisters, aufgenommen, wo er bis zum Tod am 7. Juni 1843 bleiben wird. Der Vorhang über seinem Leben ging zu, bevor je ein Werk von ihm die Bühne hätte erreichen können. Wie im nächsten Teil dieser Arbeit zu beschreiben ist, hatte zwar bereits zu seiner Lebenszeit eine größtenteils untergründige Rezeption seiner dramatischen Werke eingesetzt; bekannt werden sollte Hölderlin für lange Zeit jedoch nicht so sehr als Theaterdichter, -theoretiker und -übersetzer, sondern als Figur seines eigenen Lebensdramas.

2 Bühnenferne Überwinterung. Hölderlins Theater bis zur Jahrhundertwende 2.1 Die Sophokles-Übersetzungen 1804–1904. Geschichte eines Verschwindens? Als 1804 die beiden Sophokles-Bände bei Wilmans erschienen, kamen zum allerersten Mal Theatertexte Hölderlins an die Öffentlichkeit. Dabei handelte es sich, wie im ersten Teil dieser Arbeit erörtert, um den Kulminationspunkt eines langjährigen Projekts, bei dem Übersetzung, Dichtung und Kommentar zur Entstehung einer experimentellen antik-modernen Tragödie beigetragen hatten, und zwar mit Blickrichtung auf die Gegenwart gerade auch in der Hoffnung auf eine aktuelle Bühnenwirksamkeit. Die zeitgenössischen Reaktionen auf die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von Friedrich Hölderlin, die in der Stuttgarter Ausgabe dokumentiert sind (StA 7/4, 95–107),1 nehmen diesen Projektcharakter allerdings nicht zur Kenntnis. Im Mittelpunkt der größtenteils negativen Rezensionen stehen philologische Sachverhalte: Nachweis von Übersetzungsfehlern und metrischer Inkorrektheit, das Ganze oft mit spöttischen Auslassungen über den Dichter verknüpft. Auch die weiteren, bis zum Jahrhundertende immer spärlicher werdenden Stellungnahmen zu Hölderlins Sophokles-Projekt, die im Folgenden einzeln behandelt werden, vermeiden die konkrete Auseinandersetzung mit Übersetzung und Interpretation, während sie sich dagegen fast ausschließlich auf den Wahnsinnsdiskurs konzentrieren, was überaus bezeichnend ist für die gesamte Hölderlinrezeption des 19. Jahrhunderts. Sehr selten sind Überlegungen zu dem Projektcharakter von Hölderlins Sophokles, zu seinem intendierten Eingreifen in zeitgenössische Kulturpraktiken oder gar zu der Bühnentauglichkeit der Übersetzungen. Nur einzelne Hölderlin-Verehrer aus den romantischen und nachromantischen Kreisen zollen den Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen begeisterte Aufmerksamkeit; in seltenen Fällen werden sogar Formen produktiver Rezeption in nuce ersichtlich – dabei handelt es sich jedenfalls um ein sehr begrenztes Phänomen: sowohl quantitativ im Vergleich zu im 19. Jahrhundert stärker rezipierten Werken Hölderlins wie dem Hyperion-Roman und selbst der EmpedoklesTragödie, als auch typologisch, da meist außerhalb der vorherrschenden literarischen, theatralischen, kulturellen und wissenschaftlichen Diskurse angesiedelt. Dem anspruchsvollen Vorhaben Hölderlins, seinen Ödipus und seine Antigone auf dem Weimarischen Theater aufführen zu lassen, steht ein verbreitetes, wenn

|| 1 Vgl. auch die Zeittafel im 16. Band der FHA, bes. 20–29. Neben den sehr nützlichen Kommentaren von Adolf Beck in der StA sei auch auf den Rezensionenspiegel in Seebaß (1921) verwiesen. https://doi.org/10.1515/9783110584714-003

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auch nicht einhelliges Unverständnis seiner Zeitgenossen gegenüber, das in der zweiten Jahrhunderthälfte in Ablehnung oder Indifferenz umschlug, wobei das Projekt in Vergessenheit geriet. Gerade in dem Jahrhundert, in dem die griechische, vor allem die sophokleische Tragödie Einzug auf der modernen deutschsprachigen Bühne hält, von den Weimarer ersten Versuchen durch die goethesche-rochlitzsche Antigone-Bearbeitung 18092 über die epochemachende Potsdamer Antigone 1841 unter der Leitung von Ludwig Tieck3 und ihre rege Rezeption um die Jahrhunderthälfte (Paris, München) bis zu den Sophokles-Erstaufführungen am Wiener Burgtheater in den 1880ern,4 liegen Hölderlins Übertragungen im Dunkeln. Von den Zeitgenossen bis auf sehr wenige Ausnahmen als Produkt eines Geistesgestörten eingestuft und somit der Nachwelt mit dem Stempel des Wahnsinns überliefert, von den Editoren durch Ausschluss aus den „sämmtlichen“ Ausgaben zum publizistischen Tod verurteilt, von

|| 2 Vgl. oben, 1.4. 3 Die Premiere fand am 28. Oktober 1841 im Neuen Palais statt und war „die erste [Inszenierung] einer griechischen Tragödie in einer deutschen Übersetzung, die frei von Zutaten und Bearbeitungen“ war (Flashar 1991, 60). Wirkungsmächtig war der Versuch, einen so gut wie wörtlich übersetzten Text aufzuführen und dabei altgriechische Aufführungsbedingungen zu rekonstruieren. Darüber hinaus sollte die Kombination der „Schauspielmusik“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy und der Übersetzung „im Versmaß des Originals“ von Johann Jakob Christoph Donner auch in Aufführungen des 20. Jahrhunderts unverändert wieder aufgenommen werden. Zur Wirksamkeit vgl. auch Boetius (2005) insb. 303; zur Sophokles-Rezeption im vormärzlichen Deutschland Schmoll-May (1989). 4 Bei der Antigone 1881 handelte es sich um die allererste Inszenierung einer griechischen Tragödie im Burgtheater, nachdem seit den 1840ern konzertante Aufführungen stattgefunden hatten. 1875 hatte darüber hinaus Heinrich Laube – übrigens ein Hölderlin-Kenner, aber kein Hölderlin-Verehrer (vgl. StA 7/4, 256–258 und Castellari 2002, 80) – Antigone in einer Collage aus den Übersetzungen von Donner und von Adolf Wilbrandt am Stadttheater inszeniert. Der Rostocker Theaterdirektor Wilbrandt sollte der Bearbeitungs- und Aufführungspraxis der griechischen Tragödie neue Impulse geben. Erfolgreich wurde insbesondere die Aufführung des König Ödipus am Burgtheater (1886): „Der König Oedipus wurde das meistgespielte Stück im Burgtheater bis zum Ende des Jahrhunderts“ (Flashar 1991, 102). Zu den Wiener Aufführungen vgl. auch Boetius (2005) 295–299. Flashar bezeichnet die von Wilbrandt inszenierten Stücke als „Marksteine auf dem Wege der Einbürgerung des antiken Dramas auf der Bühne der eigenen Zeit“, zum König Ödipus wurden etwa „in der Bühnenfassung noch stärker als schon in der Übersetzung alle Stellen gestrichen, die dem durchschnittlichen Bildungsbürger unverständlich hätten sein können. Alle Härte wurde zurückgenommen zugunsten ruhiger und vornehmer Erhabenheit“ (Flashar 1991, 103ff.). Ein stärkerer Kontrast zu Hölderlins Übersetzungen und zu seiner Tragödienästhetik ist kaum denkbar. Adolf Wilbrandt (1837–1911), seinerzeit erfolgreicher Dramatiker und Epiker, gehört nichtsdestoweniger zur Rezeption Hölderlins im späteren 19. Jahrhundert – dabei verwundert es kaum, dass in seiner biographisch ausgerichteten Darstellung des Dichterwerks und -schicksals hauptsächlich der Lyriker gewürdigt wird. Das Urteil über die „seltsam verdeutschten“ Sophokles-Übersetzungen ist womöglich zweiter Hand; sie werden jedenfalls zeittypisch als Zeichen des Wahnsinns bewertet (Wilbrandt 1896, 46). Der Hölderlin-Teil von Wilbrandts Buch entstand früher, angeregt durch den 100. Geburtstag des Dichters (1870), vgl. auch die Publikationen 1871 und 1889, verzeichnet in Seebaß (1922) 41 und neuerdings (mit teils abweichenden Angaben) in Siebert (2013).

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den Interpreten dementsprechend unberücksichtigt, konnten die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen Rezeptionsmodi und -zusammenhänge überhaupt nicht erreichen. Nietzsche etwa, der bekanntlich Hölderlin begeistert las, dessen Texte in seinen Werken verarbeitete und in manchem fortschrieb (vgl. unten, 2.2.2.3), lag Hölderlins Sophokles schlicht nicht vor.5 Wenn das in der Hölderlin-Forschung lang gepflegte, auf das missverstandene Spätwerk orientierte Bild des 19. Jahrhunderts als Zeit des Vergessens, höchstens des einseitigen Hölderlin-Bildes (Kluckhohn 1944, 5) auch mithilfe dieser Arbeit korrigiert und differenziert werden soll,6 so kann man im Allgemeinen für die SophoklesÜbersetzungen und -Anmerkungen das erste Rezeptionsjahrhundert zwischen ihrem Erscheinen 1804 und ihrem ersten, kommentarlosen Wiederabdruck in den von Wilhelm Böhm herausgegebenen Gesammelten Werken 1905 als eine Zeit des langsamen, beinahe spurlosen Verschwindens aus dem öffentlichen Diskurs bezeichnen. Umso erstaunlicher muten die vereinzelten Rettungsversuche an, die nicht nur in der privaten Form persönlicher Begeisterung und auch nicht nur als rein essayistische oder literarische Würdigungen zu verzeichnen sind, sondern noch zu Lebzeiten des Dichters performative Verwirklichungen anvisieren (2.1.2.2) und in letzter Minute vor dem Wiederabdruck szenische Präsenz realisieren (2.1.4). Bevor man aber auf diese teilweise unbekannten Inseln mitten im Vergessenheitsmeer von Hölderlins SophoklesProjekt gelangen kann, gilt es, in den Mainstream des 19. Jahrhunderts einzutauchen.

|| 5 In seinem Schulaufsatz weist Nietzsche zwar auch auf Hölderlins „reinst[e], sophokleisch[e] Sprache“ hin; bei diesen (sich jedenfalls auf den Empedokles und nicht auf die Übersetzungen beziehenden) Worten handelt es sich aber nachweislich um eine von seinen Quellen übernommene Formel (zu Nietzsches Aufsatz vgl. unten, 2.2.2.3). Krell (2005) 409 sieht in Nietzsches flüchtigem Verweis auf Hölderlins Religionsansichten einen Bezug auf die Sophokles-Anmerkungen, was mir aber abwegig erscheint. Nietzsche hätte lediglich durch die inzwischen zu einer „großen Seltenheit“ (so Dilthey sechs Jahre später, vgl. 2.1.3.1) gewordenen Bändchen aus dem Jahre 1804 Hölderlins Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen unmittelbar schätzen können, Fragmentarisches (lediglich aus den Erörterungen) konnte er im zweiten Band von Schwabs Ausgabe (1846) finden; eine indirekte Kenntnis von Hölderlins Sophokles-Projekt ist hingegen natürlich möglich, wäre aber wegen der Rezeptionslage höchst fragmentarisch und verzerrt gewesen. 6 Neben Studien zu speziellen Aspekten und Zusammenhängen, auf die an entsprechender Stelle verwiesen wird, vgl. für die in den letzten Dekaden erfolgte Rückbesinnung der Forschung auf die Rezeption im 19. Jahrhundert, die teilweise noch terra incognita ist: Bothe (1992) 19–72 (allg. Rezeption), Volke 1993 (Editionen); Zuberbühler (1997) insb. 89–114 (Fontane; allg. Rezeption); Castellari (2002) 52–157 (Rezeption des Hyperion). Ältere Rekonstruktionen (Wocke 1941 zur Literatur; Pellegrini 1965, 6–46, vornehmlich zur Forschung) sind lediglich wegen einiger Daten brauchbar. Einen nützlichen Überblick in Sachen Philosophie und Literatur gibt Gaier (2002a) 468–482.

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2.1.1 Wegrezensiert. Tadel und Hohn in den zeitgenössischen Besprechungen Der Hölderlin-Teil der „Quadrupelrecension“ von Heinrich Voß d.J. – ein regelrecht verletzender Verriss, der am 24. Oktober 1804 in der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung erschien –, bildete bekanntlich den Auftakt zu den wenigen Besprechungen der Trauerspiele des Sophokles und gab gewissermaßen für deren weitere Rezeption den Ton vor. Sämtlichen Rezensionen war aber gleichsam ein Prolog vorgeschaltet, der im Rückblick interessant erscheint: die Anzeige des Verlegers Wilmans zu den Sophokles-Übersetzungen, die 1804 wie üblich in verschiedenen Zeitschriften erschien. Dort ist davon die Rede, dass „der Verfasser [...] 10 Jahre an derselben gefeilt“ habe; dementsprechend wird in Aussicht gestellt, dass „der Philolog [...] überall Treue, Präcision und den Geist der deutschen Sprache beobachtet finden“ werde. Bezeichnender als diese im Lichte späterer harter Kritiken grobe Fehleinschätzung, erscheint eine zweite Nuancierung, die im editionspolitisch nachvollziehbaren Wunsch aufscheint: „Man kann also mit Recht hoffen, daß diese Übersetzung in der Classe der gebildeten sehr viele Leser finden wird“ (StA 7/4, 95, Hervorhebung von mir). Dabei bleibt Wilmans vollauf seiner Zeit verhaftet und betrachtet anders als der Übersetzer und Interpret Hölderlin die antiken Tragödien als Lesedramen schlechthin, ihre Übersetzung als Gegenstand von Lektüre seitens Spezialisten bzw. Intellektuellen. Nicht so sehr die selbstverständliche Konzentration auf mögliche Leser ist hier jedoch von Belang, sondern der Umstand, dass die spezifische Qualität der Übersetzung in keiner Weise mit ihrer Bühnentauglichkeit verbunden wird. Determinanten sind philologische Präzision und Lesbarkeit. In dieser Hinsicht stellt Wilmans Anzeige die gleichen Kriterien auf, nach welchen die Rezensenten Hölderlins Sophokles beurteilen: Dem Theater, dem Fluchtpunkt des ganzen Sophokles-Projekts, wird kein Raum gewährt. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um keinen überraschenden Befund, sondern um ein weiteres Zeichen für den ausgesprochen innovativen Charakter von Hölderlins Experimentalprojekt. Übersetzungen antiker Tragödien wurden um 1800 fast ausschließlich als Lesetexte, und nicht als Vorlagen für Theateraufführungen bewertet. Einflussreiche Stellungnahmen dazu, dass antike Tragödien auf der gegenwärtigen Bühne überhaupt nicht aufzuführen seien, kamen von Herder, Hegel u.a.7 Selbst die ersten modernen Versuche, Übertragungen antiker Dramen auf die Bühne zu

|| 7 Vgl. Boetius (2005) 14–18, die Herders direkt gegen Goethes Weimarer Bestrebungen gerichteten Einspruch gegen die „Verpflanzung der Griechischen Tragödie auf unsre Bühne“ (1804) und Hegels Aufführbarkeitsverdikt in den Ästhetik-Vorlesungen erörtert und den späteren Gegenargumenten des in der Potsdamer Inszenierung 1841 involvierten August Böckh gegenüberstellt. Vgl. dazu den von Anne Baillot zitierten Brief Rudolf Abekens an Karl Ferdinand Solger (1809) als Beweis für die damals virulente Frontstellung zwischen den Verfechtern einer wortgetreuen, zur Lektüre bestimmten Übertragung einerseits und den Verteidigern einer spielbaren Bearbeitung andererseits (Baillot 2002).

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bringen, gingen selbstverständlich davon aus, dass man nicht einen wortgetreu übersetzten Text, sondern eine Bearbeitung als Ausgangspunkt der Inszenierung nahm.8 Die 1800 durchaus vorhandene Aufmerksamkeit hinsichtlich der performativen Qualität von aus dem Griechischen und Lateinischen übersetzten Texten war größtenteils auf Fragen der Vorlesbarkeit und „Rezitation“ beschränkt,9 somit oft auf eine metrisch-rhythmische Entsprechung und auf eine harmonische Wirkung konzentriert. Hölderlins sowohl Stimme als auch Rhythmus, Körper und Bewegung einbeziehende Sprache, die er bei der Übersetzung konkret erprobt und in den Kommentarteilen erörtert hatte, konnte von damaligen Lesern kaum verstanden, von Zuhörern und Zuschauern überhaupt nicht erlebt werden. Heinrich Voß d.J., Sohn des bekannten Dichters und Übersetzers, rezensierte als erster im Oktober 1804 Hölderlins und drei weitere Sophokles-Übersetzungen. Sein „höhnisch-überheblicher Ton“ (so Beck, StA 7/4, 99) in der öffentlichen Besprechung wird in Briefen an Freunden zum abfälligen Spott und kulminiert in den oft zitierten abfälligen Worten über eine angeblich lustige Szene bei den Weimaranern: Ich habe neulich abends als ich mit Schiller bei Goethe saß, beide recht damit regaliert. Lies doch den IV. Chor der Antigone – Du hättest Schiller sehen sollen, wie er lachte; oder Antigone Vers 20: „Was ist, du scheinst ein rothes Wort zu färben.“ Diese Stelle habe ich Goethe als einen Beitrag zu seiner Optik empfohlen, zu welcher ich ihm aus meiner antiquarischen Lektüre alles was ich finde, mitteile. (An Abeken, Juli 1804, StA 7/2, 303f.)

In diesem recht betrüblichen Bericht, in dem übrigens Hölderlins interpretierende Wiedergabe einer Zeile belacht wird, für die es bis heute keine einhellig akzeptierte Übersetzung gibt, könnte die Quintessenz der zeitgenössischen Aufnahme der Sophokles-Übersetzungen gesehen werden. Schillers Amüsement vermittelt eindringlich

|| 8 Bezeichnend erscheint in dieser Hinsicht Goethes Brief an Rochlitz vom 26. Dezember 1808, in dem er Solgers Sophokles-Übersetzungen als Rohmaterial für weitere Bühnenbearbeitungen empfiehlt: „Sie könnten, um sich ein Stück Arbeit zu ersparen, die Solgersche Arbeit zum Grunde legen und diese nur deutschen Ohren mehr annähern“ (vgl. Baillot 2002, 168). 9 Die Präferenz für die akustische Produktion/Rezeption von lyrischen, epischen und dramatischen Texten ist in zahlreichen Belegen aus Goethes Werk nachgewiesen, von den Regeln für Schauspieler bis zu Shakespear und kein Ende! Im Hinblick auf Übersetzungen aus dem Griechischen sei Goethes Rückblick auf einen geselligen Abend des Herbstes 1794 angeführt, wo er ausdrücklich das Vorlesen („Rezitation“) als beste Form erwähnt, um die Qualität einer Übersetzungsarbeit zu prüfen: „Nun war damals die Vossische Uebersetzung der Ilias an der Tages-Ordnung und über die Lesbarkeit und Verständlichkeit derselben mancher Streit, daher ich denn nach alter Überzeugung, daß Poesie durch das Auge nicht aufgefaßt werden könne, mir die Erlaubniß ausbat, das Gedicht vorzulesen [...]. Das Epische sollte rezitiert, das Lyrische gesungen und getanzt und das Dramatische persönlich mimisch vorgetragen werden“. Das Fazit bestärkt eine Dichtungsauffassung, die zwar performative Elemente durchaus einbezieht, dem Wort/der Stimme jedoch allerhöchste Priorität noch vor Musik, Gestik usw. gewährt. Vgl. Schüddekopf (1898) 15, wo der Text Goethes vom 30. Dezember 1824 zum ersten Mal gedruckt wurde.

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das Unverständnis beider Dichtergrößen und einer ansehnlichen Gruppe von Zeitgenossen angesichts Hölderlins Tragödienpaar. Es lohnt sich nichtsdestotrotz, Inhalt und Argumentationsweise der Besprechungen einer gründlichen Analyse zu unterziehen, denn das erlaubt einen tieferen Einblick in die Dynamiken zu Beginn der Rezeption: Die Ablehnung seitens der „offiziellen“ Kritik lässt einerseits das Spannungsverhältnis zwischen Hölderlins auf die Gegenwart zielendem Antikenprojekt und den zeitgenössischen Praktiken durchscheinen und antizipiert andererseits ex negativo spätere Wirkungsmöglichkeiten. Selbst eine nachteilige Stellungnahme wie die von Voß beinhaltet beispielsweise zum Einen Elemente, die in den nachfolgenden Urteilen immer wiederkehren und somit eine Art Tradition stereotyper Formeln begründen, zum Anderen weist sie auch auf Eigenschaften der Sprache Hölderlins hin, die hier zwar noch als Mängel kritisiert bzw. ironisiert werden, unter anderen Vorzeichen jedoch Anhaltspunkte bilden sollen, um die performative, bühnenwirksame Prägnanz der Übersetzungen zu erkennen und produktiv zu aktualisieren. Voß persifliert zuerst die Intentionen des Übersetzers, indem er dem Leser überlässt, „zu divinieren, ob mit Hr. H. [Hölderlin; M.C.] seit kurzem eine Metamorphose vorgegangen sey, oder ob er durch eine verschleyerte Satyre auf den verderbten Geschmack des Publikums habe wirken wollen“. Der früher „unter den philosophischen Dichtern“ vielversprechende Autor, von dessen „dichterische[m] Talente [...] hier viel zu erwarten“ gewesen sei (StA 7/4, 97),10 wird in erster Linie wegen metrischer Nachlässigkeit angeprangert: Schon das Sylbenmaaß dieser Übersetzung ist durch die gänzliche Charakterlosigkeit auffallend. Statt des tragischen Senars findet man hier neben einander vierfüßige, fünffüßige und sechsfüßige Jamben mit männlichem und weiblichem Ausgange, nebst allen möglichen Variationen verschiedenartiger Bewegungen. (StA 7/4, 97f.)

Ein durchaus typischer Tadel: Hölderlins Übersetzungen wurden öfters wegen mangelnder metrischer Entsprechung zum Original gerügt, obwohl dies damals nicht unbedingt als Nachteil gelten musste. Wenn es nämlich stimmt, dass „Übersetzungen griechischer Tragödien Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts [...] das Bestreben [kennzeichnet], das originale Metrum zu wahren und den Urtext so wörtlich wie möglich wiederzugeben“, so lässt sich präzisieren, dass solche „metrische Übersetzungsmethode“ zuerst nicht einhellig akzeptiert wurde (Boetius 2005, 71); darüber hinaus stand solch ein philologischer Rekonstruktionsversuch in der damaligen Diskussion durchaus im Gegensatz zur Forderung nach Deutlichkeit, Verständlichkeit, ja auch „Poesie“, die von Bühnenfassungen erwartet wurden. Hölderlins diesbezüglich sehr freier Umgang – er „ahmt in den Sophokles-

|| 10 Im bereits erwähnten Brief an Rudolf Abeken aus dem Juli 1804 fingiert ähnlich Voß, Hölderlins Übertragung als eine „versteckte Satire auf schlechte Uebersetzer“ verstehen zu wollen (StA 7/2, 303).

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Übersetzungen den Vers des Originals ebensowenig nach wie den des Pindar“ (Beißner 1933, 86) – passte aber weder zu der einen, noch zur anderen Option: Erst später sollte sein ‚anderer Rhythmus‘ gewürdigt werden. Man könnte die Position von Hölderlins Ödipus- und Antigone-Texten in der damaligen Diskussion zugespitzt so formulieren, dass sie einerseits als Übersetzungen metrisch-rhythmisch und lexikalisch zu gewagt waren, um die Zustimmung der Philologen zu ernten. Als Transformationen waren sie andererseits zu anspruchsvoll und dicht, um als Bearbeitung nach damaligem Verständnis gelten zu dürfen. Hölderlins Sophokles-Projekt kennzeichnet übrigens gerade der Umstand, dass transformierende Übersetzung und kommentierende Transformation unzertrennlich sind. Solche komplexe Beschaffenheit konnte in ihrem vollen Ausmaß erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts produktive Früchte tragen. Erste, bisher von der Forschung nicht berücksichtigte Ansätze einer Würdigung, sogar einer transformierenden Rezeption von Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen in ihrer vielschichtigen Durchdringung von Rückbezug auf die Antike und Gültigkeit für die Moderne sind auch für das frühe 19. Jahrhundert zu verzeichnen. Dies war bei Voß selbstverständlich noch nicht möglich. Auch stilistisch, um auf seine Besprechung zurückzukommen, registriert der Rezensent „so regellose Kühnheiten, so seltsame Bezeichnungen und einen so schwankenden Ausdruck, daß wir an dem Geschmacke des Hn. H. bald irre wurden, und auf die Forderung der Klarheit endlich ganz Verzicht thun mußten“. Der klassizistisch gefärbte Befund von Ungenauigkeit, Disharmonie und Unverständlichkeit wird nur anscheinend durch konkrete Umstände gemildert: „Kein einziges Hülfsmittel hat er benutzt“, fährt Voß fort, „aus keiner früheren Übersetzung geborgt; keinen Commentar, noch die Arbeit eines früheren Denkers, keine lateinische Version, kein Lexikon; keine Grammatik hat er vor Augen gehabt“ – solche einzelgängerische Auseinandersetzung mit dem griechischen Text, Grund für große Faszination bei nachfolgenden Generationen, wertet Voß als erschwerenden Umstand. Er sieht sich gleichzeitig zu der spöttischen Bemerkung berechtigt, Hölderlin habe „nicht mit fremden Augen sein Original angeblickt, sondern mit eigenen“ (StA 7/4, 97). Welch Ironie des Schicksals: Die Kategorien des Fremden und des Eigenen, bei Hölderlin Schlüsselbegriffe des eigenen antiklassizistischen Antike-Moderne-Verständnisses, werden hier benutzt, um die vermeintliche Unbeholfenheit bzw. Hybris des Übersetzers anzuprangern. In einem in der Stuttgarter Ausgabe nicht abgedruckten Teil der Rezension zählt Voß auch die „Provinzialismen“ und „den zu plastischen Ausdruck“ (FHA 16, 22) zu den sprachlichen Mängeln der Übersetzung. Beides liest sich aus heutiger Sicht ganz anders: Gerade schwäbisch gefärbte Ausdrücke einerseits (Stichwort: „Volkssprache“) und der gestisch-plastische Duktus andererseits (Stichwort: „Hölderlin-Ton“) sollten die Aufmerksamkeit Bertolt Brechts und Heiner Müllers erregen, der beiden großen Bearbeiter von Hölderlins Antigone und Ödipus im 20. Jahrhundert: Durch

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ihre Transformationen sollten die Sophokles-Übersetzungen als eigenständige Tragödien endgültig Eingang ins Regietheater finden. Selbst die von Voß verzeichneten „biblische[n] Ausdrücke“ sollten etwa in Brechts Bearbeitung eine Rolle spielen. In den Augen des Rezensenten erscheinen jedoch diese wie andere Elemente lediglich als Zeichen einer formal unzulänglichen Übersetzung. Hölderlins Anmerkungen werden zwar erwähnt, aber keiner eingehenden Betrachtung gewürdigt: Somit bleiben inhaltlich-interpretatorische Aspekte unberücksichtigt, da Voß vermeintliche sprachliche Ungereimtheiten als „seltsam“ o.ä. klassifiziert, ohne sie in einen Zusammenhang mit einer bestimmten Deutung oder gar Tragödientheorie zu stellen. Hölderlins Sophokles-Projekt und klassizistisch-normative Diskurse kollidieren exemplarisch, wobei der Spott des Rezensenten als Ausweg aus einer unüberbrückbaren ästhetischen Distanz, aus einer kulturellen Katalogisierungsunfähigkeit erscheint: „Manchmal steht Hr. H. auf seinem hohen Standpunkte so hoch, daß er von den Dingen unter ihm nur noch schwache Umrisse bemerkt“ (StA 7/4, 98). In den Briefen an Bernhard Rudolf Abeken (Juli 1804) und Karl Wilhelm Ferdinand Solger (Oktober 1804) nimmt dann die Geringschätzung noch schärfere Konturen an: Die eigene Orientierungslosigkeit angesichts von Hölderlins Übertragungs- und Erörterungsarbeit bricht sich mit Bezeichnungen wie „Lumpenhund“ oder „Narr“ in beleidigendem Hohn Bahn (StA 7/2, 303). Andere Töne wurden von den weiteren Rezensenten der Ausgabe von 1804 nicht angestimmt. Gottfried Gurlitt zählt etwa in seiner Sammelrezension in der „Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek“ „Herrn Hölderlins Übersetzung [...] in jeder Hinsicht unter die schlechten“, die beiden Anmerkungen betrachtet er als „die höchste Höhe des neuern ästhetischen Unsinns“ – „Da ist keine einzige unter ihnen“, fährt er fort, „welche die Sprache des gesunden Menschenverstandes spräche“ (1804, StA 7/4, 102). Neben weiteren negativen anonymen Besprechungen, die zuweilen explizit auf den bereits Schule machenden Voß Bezug nehmen, ist noch Garlieb Merkels Rezension zu nennen, die in der von ihm und August von Kotzebue gegründeten, antigoetheschen und antiromantischen, deutsch-national gesinnten Zeitschrift Der Freimüthige erschien (1805, StA 7/4, 105–109). Besonders aussagekräftig ist der erste Höhepunkt von Merkels Tirade: Hätte Sophokles zu seinen Atheniensern so steif, so schleppend und so ungriechisch gesprochen, als diese Uebersetzung undeutsch ist, seine Zuhörer wären aus dem Theater davon gelaufen; Herr Hölderlin darf also auch keinen Anspruch machen, Deutsche Leser zu bekommen. (StA 7/4, 106)

Bezeichnend ist hier nicht nur die Brandmarkung der Übersetzung als „undeutsch“ – in diesem Zusammenhang wohl eine Abwandlung der andernorts bemängelten Unklarheit –, sondern vielmehr die Art des Vergleichs zu Sophokles. Der moderne Dichter hat keinen Anspruch auf ein Theaterpublikum, wie hingegen der Grieche, der auf „Zuhörer“ zählen konnte. Hölderlins Tragödienübersetzung sei ohne weiteres als Lesegegenstand zu betrachten und zu beurteilen. Interessanterweise decken sich hier

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die Anforderungen, die man an einen bühnenwirksamen und an einen gut lesbaren Text stellt: Verständlichkeit, Geschmeidigkeit, Mühelosigkeit – nur mit dem Missverhältnis, dass für die Übersetzung eine Theaterwirksamkeit (anders als für das Original) nicht einmal in Betracht genommen wird. Mit dieser schiefen Gegenüberstellung endet die Rezensionenrevue. Anders als bei den wenigen weiteren vor dem Einzug in den Turm veröffentlichten Texten Hölderlins, die eine differenziertere Resonanz hervorgerufen hatten, ist im Falle der Sophokles-Übersetzungen seitens der Rezensenten ausschließlich Ablehnung zu registrieren.11 Von einer Reaktion Hölderlins auf solch vernichtende Kritik ist m.W. nichts überliefert,12 obwohl zwischen dem Erscheinen der Rezensionen und seiner Einlieferung in das Autenriethsche Klinikum im September 1806 noch mehrere Monate vergingen, in denen er an den weiteren geplanten Tragödienübersetzungen zumindest ansatzweise arbeitete. Wie im ersten Teil dieser Arbeit erwähnt, hielt Wilmans die Fortführung des Veröffentlichungsprojekts aller Sophokles-Tragödien nach solcher Aufnahme wohl für ungünstig. Gänzlich undurchführbar wurde sie mit Hölderlins erzwungener Rückkehr in die schwäbische Heimat: Das Sophokles-Projekt gehörte nunmehr endgültig der Vergangenheit an. Sehr wahrscheinlich ist übrigens, dass in manchen Andeutungen von Voß die bereits deutschlandweit kursierenden Gerüchte über Hölderlins Geisteszustand durchscheinen. Damit wären bereits die Rezensionen durch den in den späteren Rezeptionsdekaden virulenten Wahnsinnsdiskurs beeinflusst. Adolf Beck vermutet, daß Voß „von Hölderlins Zustand [...] in Weimar über Schelling [...] und Hegel“ erfahren habe (StA 7/4, 100). Schon im Briefwechsel der früheren Tübinger Kommilitonen, der womöglich die Verbreitung der Nachricht auch im Thüringischen bewirkte,

|| 11 Zur Rezeption der Hyperion-Erstausgabe in zwei Bänden 1797 und 1799 vgl. Castellari (2002) 54– 60. Die Besprechungen der in Zeitschriften veröffentlichten Gedichte waren zwar vorherrschend negativ. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete jedoch die Rezension von August Wilhelm Schlegel, nach Adolf Beck die „erste und jahrzehntelang die einzige ohne Vorbehalt auszeichnende Kritik des Lyrikers“ (StA 7/4, 11; 13). 12 Es sei denn, man geht einer sehr unsicheren Spur nach, die zu den letzten Lebensjahren des Dichters führt. Johann Georg Fischer nämlich, der 1841–43 in Begleitung von Christoph Theodor Schwab und Karl Auberleben den Dichter wiederholt im Turm besuchte, erzählt von der heftigen Reaktion Hölderlins auf Auberlebens Hinweis auf die Sophokles-Übersetzungen. In Fischers Bericht, der das „merhrmals rasch wiederholt[e]“ Scheltwort auslässt, lautete Hölderlins Erwiderung: „Ich habe den Ödipus zu übersetzen versucht, aber der Buchhändler war ein …“. Man hat die Hypothese aufgestellt, dass Hölderlin hier seinem „Groll“ freien Lauf ließ, „den er vielleicht aus diesem Grunde gegen Wilmans gefaßt hatte“ – d.h. wegen der ausgebliebenen Veröffentlichung der Druckfehlerliste zum Ödipus, vielleicht auch zur Antigone (vgl. FHA 9, 432, ähnlich schon 429; sowie Beißner 1933, 69f.). Der Faden wäre weiterzuspinnen zur Vermutung, dass Hölderlins „Groll“ vielleicht auch durch die Kenntnisnahme mancher Rezension verursacht worden war, so dass er möglicherweise die schlechte Aufnahme seines Sophokles partiell auf die nachlässige Veröffentlichung zurückführte.

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wird in der Tat die Übersetzungsarbeit bezeichnenderweise mit der psychischen Verfassung verbunden. Am 16. August 1803, nach einem Treffen in Murrhardt, konnte Schelling die (partielle) Fähigkeit, aus dem Griechischen zu übertragen, noch als Hinweis auf luzide Momente bei Hölderlin erwähnen: Der traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt habe, war der von Hölderlin. Seit einer Reise nach Frankreich [...] ist er am Geist ganz zerrüttet, und obgleich noch einiger Arbeiten z.B. des Übersetzens aus dem Griechischen bis zu einem gewissen Puncte fähig, doch übrigens in einer vollkommenen Geistesabwesenheit. (An Hegel, 11. Juli 1803, StA 7/2, 261f.)

Knapp ein Jahr später, als die Sophokles-Bände bereits erschienen waren, konnte Schelling nach einer flüchtigen Begegnung in Würzburg zwar von einer Verbesserung von Hölderlins Geisteszustand berichten, wies aber nun unter umgekehrten Vorzeichen auf die Übersetzungen hin, nämlich als Beweis für die Schwere des Falls: Dieser [Hölderlin, M.C.] ist in einem besseren Zustand als im vorigen Jahr, doch noch immer in merklicher Zerrüttung. Seinen verkommenen geistigen Zustand drückt die Übersetzung des Sophokles ganz aus. (An Hegel, 14 Juli 1804, StA 7/2, 296)13

„Ist der Mensch rasend oder stellt er sich nur so?“: Diese Frage von Voß an Abeken (StA 7/2, 303) kann also rhetorisch gemeint sein, oder aber auch nicht, wenn man die schnelle Verbreitung des Geredes über Hölderlins Zustand auch jenseits von Homburg und Schwaben in Betracht nimmt. Ähnliches gilt für weitere Anspielungen in den Rezensionen zu den Trauerspielen des Sophokles, deren Ablehnung jedoch im Großen und Ganzen fast nur noch auf philologischen und ästhetischen Argumenten beruhte.

2.1.2 Zwischen Genie und Wahnsinn. Die Rezeption zu Lebzeiten Bald sollten jedenfalls in der Rezeption der mittleren und späten Schaffenszeit Hölderlins, besonders aber bei den Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen, so

|| 13 In einem viel späteren Brief an Gustav Schwab sollte sich der 72-jährige Schelling noch einmal an „Hölderlins Erscheinung in Kl. Murrhard [...] im Frühling 1803“ erinnern, diesmal ohne die SophoklesÜbersetzungen zu erwähnen. „Es war ein trauriges Wiedersehen“, fährt er fort, „denn ich überzeugte mich bald daß dieses zart besaitete Instrument auf immer zerstört sey“ (11 Februar 1847, StA 7/2, 253). Mit dieser musikalischen Metapher führt Schelling ein Bild an, das an ähnliche Formulierungen in Bettina Brentanos 1840 erschienenen Roman Die Günderode erinnert („die zerbrochenen unbesaiteten Tasten seiner Seele“; StA 7/4, 189; zur Günderode vgl. unten, 2.1.2.2). Das spätere Treffen mit Hölderlin in Würzburg, von dem der oben zitierte Brief des 14. Juli 1804 berichtet, muss Schelling hingegen vergessen haben, da er den Brief an Schwab mit den Worten abschließt: „Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen“ (StA 7/2, 253).

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gut wie alle Bewertungen und Überlegungen vom Wahnsinnsdiskurs stark beeinflusst werden – sei es, weil sie als Produkt hoffnungsloser Raserei abgewertet oder aber als Frucht eines genialen Irrsinns verherrlicht wurden. Selbst moderate Stimmen mussten sich diesem Rahmen anpassen. Insbesondere für die Übertragungen und Anmerkungen wurde die pauschale Attribuierung von „Spuren des Wahnsinns“ zu einem Topos, was auch editionsgeschichtliche Auswirkungen hatte. Bis zum Wiedererscheinen von Hölderlins Sophokles (1905), fristen Ödipus, Antigone und die jeweiligen Anmerkungen aufgrund dieses zähen Vorurteils ein Schattendasein; ihnen bleibt im Gegensatz zu Der Tod des Empedokles nicht nur Bühnenwirksamkeit, sondern auch die Möglichkeit zu produktiver Rezeption fast ausnahmslos versagt. Dazu hat sie ihre Zugehörigkeit zum späteren ‚Wahnsinn-suspekten‘ Schaffen genauso wie ihre sprachlich-ästhetische anspruchsvolle Modernität und Originalität verurteilt. Für sie gilt von Anfang an jener „Zirkel des Mißverstehens“, der für die HölderlinRezeption der Gründerzeit nachgewiesen wurde (Kaulen 1994, 557). Manche Zeugnisse weisen jedoch, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auf ein sozusagen untergründiges Überleben von Hölderlins letztem Tragödienprojekt hin, ein Überleben, das unter den skizzierten Rezeptionsbedingungen durchaus als Sonderfall bewertet werden kann und somit als Zeichen der Langzeitprägnanz von Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen. Trotz der editorisch höchst prekären Lage und der Präsenz des Wahnsinnsdiskurses selbst in positiven Bewertungen wurden vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte Hölderlins Ödipus und Antigone vereinzelt gewürdigt, mancherorts auch in Formulierungen, die in den späteren Dekaden der „Hölderlin-Renaissance“ durch verborgene Filiationen wiederauftauchen sollten. Erste Spuren einer ‚anderen‘ Bewertung von Hölderlins Übersetzungs- und Kommentararbeit sind schon in den 1810–1830er Jahren zu finden, und zwar bereits innerhalb der Kreise, die bekanntlich die Erinnerung an den im Turm Zurückgezogenen und damit dessen Rezeption lebendig halten sollten, nicht zuletzt dank der Vermittlung von Freunden Hölderlins wie Isaak von Sinclair. Es handelt sich dabei zuerst um die Heidelberger bzw. Berliner einerseits und die Schwäbische bzw. Tübinger Romantik andererseits – in späteren Jahrzehnten sollten sich auch Hegelianer und jungdeutsche oder radikale Autoren des Vormärz zu Wort melden. Eine ausdrückliche Berücksichtigung von theatralischen Elementen findet nicht statt, die performativen Aspekte der Sprache werden jedoch manchmal gewürdigt – natürlich auf zeittypische Weise und ständig in Verbindung mit dem Wahnsinnsdiskurs. An derartige Würdigungen war jedenfalls noch nicht zu denken, als vor 1810 Hölderlins Arbeit am Sophokles-Projekt und sein Wahnsinn ansatzweise in Verbindung gebracht werden. Ein erstes Dokument stammt noch aus der Feder des bereits erwähnten, mit Voß befreundeten Solger. In der Vorrede zu seinen eigenen Sophokles-Übersetzungen, die 1808 erschienen, erwähnt Solger auch Hölderlins vier Jahre früher veröffentlichten Sophokles. Sicher nicht als Vorbild, da er wohl die Meinung des Freundes teilte. Jedoch ebenso wenig als tadelnswertes Beispiel einer nicht ge-

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lungenen Übersetzung, insofern er diese nicht eines Wortes würdigt. Solger hat vielmehr die Anmerkungen Hölderlins im Sinn, und zwar als alarmierenden Präzedenzfall, wenn er seine eigenen einleitenden Worte zur Übersetzung rechtfertigt: Ohne die Anmaßung, seinen [Herders; M.C.]14 großen Forderungen Genüge leisten zu wollen, glaube ich doch auch hiezu das Meinige mit Wenigem beitragen zu müssen, zumal da ich sehe, daß man diese fast überall ganz übergeht, der einzige Uebersetzer des Sophokles aber, der etwas der Art versucht hat, in abentheuerliche Ausschweifungen gerathen ist. (FHA 16, 30)15

Damit ist zweifellos Hölderlin gemeint, und bezeichnenderweise impliziert Solgers Wendung „abentheuerliche Ausschweifungen“ einen kritischen Bezug auf die Anmerkungen selbst und eine sehr vage Anspielung auf die 1808 nunmehr zirkulierende Nachricht vom wahnsinnigen Dichter, die in privaten Zeugnissen bereits mit Arbeitsexzessen in Verbindung gebracht worden war.16 Ein kausaler Zusammenhang zwischen den gedanklichen Anstrengungen Hölderlins bei der Arbeit an Übersetzung und Kommentar und dem Ausbruch der Krankheit könnte also hier, interessanterweise sehr früh, in der „offiziellen“ Rezeption von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen aufscheinen. Den von Schelling mit Bedauern (und privat) erwähnten Befund einer die Spuren des Wahnsinns tragenden

|| 14 Gemeint ist Herders in Über die neuere deutsche Literatur zum Ausdruck gebrachtes Anliegen, den Übersetzungen antiker Literatur erklärende Einleitungen vorauszuschicken; vgl. dazu Baillot (2002). 15 Das Rezeptionsdokument ist in der StA nicht verzeichnet, die FHA zitiert es aus: Des Sophokles Tragödien. Übersetzt von Karl Wilhelm Ferdinand Solger. 1 Teil. Berlin 1808. Solger war wie Voß d.J. ein Schüler von Friedrich August Wolf. 1804 hatte er bereits eine formgetreue Übersetzung des König Ödipus veröffentlicht; 1808 folgte die Buchausgabe, die auch „metrische und syntaktische Treue“ zum Original anstrebte. Als „Zweck“ der Übersetzung nennt Solger „ein altes Kunstwerk, so wie es im Altertum selbst in allen seinen Beziehungen zu seiner Zeit da war, uns durch unser eigenthümliches Organ wieder zur lebendigen Anschauung bringen zu helfen“ (vgl. Baillot 2002, 163f.). Die von philologischer Seite wertgeschätzte Arbeit Solgers haben sowohl Goethe als auch Tieck für ihre Inszenierungen in Erwägung gezogen. Letzterer wurde ausdrücklich davon abgeraten, da Solgers Übersetzung als zu kompliziert für Schauspieler und Zuhörer galt (vgl. Boetius 2005, 72). 16 Zur damaligen Bedeutung von „Abenteuer“/„abenteuerlich“ und „ausschweifen“/„Ausschweifung“ vgl. Grimm, ad voces. Solger könnte mit „Ausschweifung“ durch Überanstrengung verursachte, konfuse Abschweifungen meinen, vielleicht auch wunderlich-abwegige Ausführungen. Von „betäubenden Ausschweifungen“ im ausdrücklichen Sinne von Exzessen im Lebensgenuss wird hingegen in Waiblingers einflussreicher Schrift Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn (1831) die Rede sein, und zwar zusammen mit „Sinnentaumel“ und „wilden unordentlichen Genüssen“ als Auslöser des Wahnsinns während der Monate in Frankreich: „Er konnte unmöglich ein wüstes Leben ertragen. Er war für ein reines, geordnetes, thätiges Leben geboren, seine geistige und körperliche Natur mußte zu Grunde gehen, wenn er besinnungslos genug war, nur genießen zu wollen, ohne zu fühlen, wie er vorher fühlte, ohne zu genießen. Es währte kurze Zeit, so gerieth sein Geist durch die Schwächung eines so unordentlichen Verhaltens dermaßen aus den Fugen, daß er Anfälle von Wuth und Raserey bekam“ (StA 7/3, 60). Waiblinger erdichtete dabei ein regelrecht sensationslüsternes Märchen, das viele Jahrzehnte lang als authentisch weiter tradiert werden sollte.

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Arbeit potenziert also Solger ansatzweise zur Annahme, dass gerade die Strapazen die Geisteszerrüttung (mit)verursacht hätten. Bezeichnend ist darüber hinaus der Umstand, dass Solger Hölderlin nicht einmal namentlich zu erwähnen braucht – bereits 1808 ist er antonomastisch der Sophokles-Übersetzer und -Interpret, der in der Auseinandersetzung mit dem antiken Text „in abentheuerliche Ausschweifungen“ geraten ist. Auf den 29. Dezember 1808 sind dann die tagebuchartigen, wohl aber erst später aufgezeichneten Passagen datiert, in denen Karl August Varnhagen von Ense von einem Besuch bei Hölderlin referiert, bei „einem Dichter im wahren vollen Sinne, einem ächten Meister der Poesie, der aber nicht am Hofe zu suchen ist, noch in Cotta’s Abendgesellschaft, sondern – Im Irrenhaus“ (StA 7/2, 370).17 Der damals 23jährige Varnhagen, der Hyperion bereits enthusiastisch gelesen hatte und zur Zentralfigur des Berliner Hölderlin-Kreises werden sollte,18 war von Justinus Kerner, seinem Studienkollegen, zum Dichter geführt worden. Als angehender Mediziner hatte Kerner 1806/07 Hölderlin im Tübinger Klinikum aus nächster Nähe kennenlernen können und nahm nach dessen Einzug in den Turm die Aufgabe „alleiniger Beobachtung und Behandlung“ wahr.19 Varnhagen erinnert sich bei der Gelegenheit mit einem Gemisch aus Faszination und Mitleid an den eigenen, wenige Jahre zurückliegenden Eindruck angesichts der Sophokles-Übersetzungen des nun Internierten, die ihm „ziemlich toll vorgekommen war[en], aber nur litterarisch toll, worin man bei uns sehr weit gehen kann, ohne grade wahnsinnig zu sein, oder dafür gehalten zu werden“. Dieser Eindruck habe ihn sogar damals literarisch inspiriert: er habe sich „für den Doppelroman, zu den übrigen litterarischen Figuren, auch einen Übersetzer Wachholder ausgedacht, der wie Hölderlins’s Sophokles reden sollte“. Gemeint sind Die Versuche und Hindernisse Karl’s, die er zusammen mit seinem Freund Wilhelm Neumann verfasst hatte und 1808 in Berlin und Leipzig hatte drucken lassen. Die geplante biographische Hölderlinparodie ist dort aber nicht zu finden, denn Varnhagen überlegte es sich – „durch Zufall“, wie es etwas geheimnisvoll heißt – anders. „Und wahrlich zum Heil“, kann

|| 17 Hölderlin war damals aber bereits seit anderthalb Jahren im Turm. Erschienen ist Varnhagens Beleg erst 1832, in einer zweiten Fassung 1843, vgl. StA 7/2, 372. 18 Vgl. StA 7/4, 306ff. Vgl. Kelletat (1970) 306 zum „Kreis [...], dem diese Hölderlin-Begeisterung gemeinsam war [...]: Achim von Arnim und Bettina, Charlotte von Kalb mit ihrer Tochter Edda und Karoline von Woltmann, Hegel und Sinclair, Johannes Schulze und Leutnant Diest und doch wohl auch Rahel [Varnhagen; M.C.]“. 19 Vgl. StA 7/2, 366f. und die weiteren von Adolf Beck zitierten Dokumente. Kerner führte laut eigener Aussage auch Hölderlins „Krankentagebuch“.

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er getrost nachtragen, „Denn mir wäre es ein schrecklicher Gedanke, einen Geisteskranken verspottet zu haben. [...] Ich fühle mich wie einer großen Gefahr, einem tiefen Frevel entgangen“ (StA 7/2, 370f.).20 Wie bereits Solger, so stellt auch Varnhagen im Folgenden eine vage Kausalverbindung zwischen angestrengter Arbeit an den Übersetzungen, existentieller Not und Krankheit her.21 Neu dabei, und zugleich die Hölderlin-Rezeption im 19. Jahrhundert antizipierend, ist hingegen der intendierte Übergang zum Fiktionalen: Wie noch deutlicher in der Diskussion der Empedokles-Rezeption aufscheinen wird, führt die romantisch gefärbte Überlagerung von Leben und Dichtung zur Fiktionalisierung Hölderlins. Er wird damit zur prototypischen Figur des zeittypisch als Zusammenhang von Genie und Wahnsinn neugedeuteten furor poeticus.22 Varnhagen verfolgte zwar den Plan nicht weiter, bezeichnenderweise jedoch ist dieser überaus wichtige Strang der Rezeption zumindest ansatzweise hier angelegt, genauer: in Varnhagens Bezeichnung der Sprache der Übersetzungen als „toll“. Als dann 1811 Kerner die „literarische Groteske“ Reiseschatten. Von dem Schattenspieler Luchs23 veröffentlicht, in der u.a. „der wahnsinnige Dichter Holder“ auftritt (StA 7/3, 470), hat die Fiktionalisierung von Hölderlins Biographie im Schatten des

|| 20 Von der Gefahr, der er entronnen ist, erzählt Varnhagen auch am 1. November 1810 in einem Brief an seine spätere Ehefrau Rahel Levin: „O Rahel, mit menschlichen Dingen ist es so beschaffen, dass es doch oft wohl anders sein mag, als man glaubt, und die sichersten Anzeichen täuschen! Ich wollte den Dichter Hölderlin im Doppelroman verspotten, und erfuhr mit Entsetzen, dass er seit vielen Jahren in Tübingen wahnsinnig ist“ (StA 7/4, 357). 21 „Er wollte seinen Jammer in Arbeit vergraben, er übersetzte den Sophokles; der Verleger, der den ersten Theil drucken ließ und ausgab, ahndete nicht, daß in dem Buch schon manche Spur des Überganges zu finden sei, der in dem Verfasser leider nur allzubald sichtbar wurde“ (StA 7/2, 371f.). Dieses Motiv, d.h. das Begraben seines Jammers in Arbeit, erinnert an das „ewige Brüten“, das Seckendorf zusammen mit der „tötende[n] Einsamkeit“ als die Auslöser von Hölderlins Krankheit nannte (An Justinus Kerner, 7. Februar 1807, StA 7/2, 381). Die Verschlimmerung von Hölderlins Zustand führte selbst seine Mutter bereits Ende 1802 in einem Brief an Sinclair darauf zurück, dass er „sich durch Arbeiten öfters sehr anstrengt“ (StA 7/2, 242); dies wirkte fort in Berichten des Nürtinger Bürgermeisters (11. März 1805, „zu viele Geistes Anstrengung“) und Dekans (11. März 1805, „das überspannte Studieren“) sowie des Staatsministeriums (9.10.1806, „Folgen von angestrengten Studien [und] Arbeit bei Nacht“) – vgl. dazu Becks Anmerkungen, StA 7/2, 361. 22 Dazu vgl. allgemein Burwick (1996), wo auch die romantische Rezeption Hölderlins berücksichtigt wird (203–228); Martin/Stiening (1999), wo die Topik „Genie und Wahnsinn“ anhand der unterschiedlichen Rezeptionsgeschichten Hölderlins und Lenzens analysiert wird. Zur „Identifikation und Anlehnung“ als Hölderlin-Grunderlebnis der Romantiker vgl. Kaspers (1991). 23 Zu Kerners Reiseschatten als Rezeptionsdokument vgl. die Passagen mit Hölderlin-Bezug und Becks Kommentar, StA 7/3, 470–475. Darüber hinaus Grüsser (1990) sowie Koch (2007), von dem die Bezeichnung „literarische Groteske“ stammt.

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Wahnsinnsdiskurses ihre erste Verwirklichung gefunden.24 Man könnte etwas vereinfachend sagen, dass der weniger zögerliche Kerner Varnhagens Plan mit drei Jahren Verspätung realisiert habe: Holder redet in den Reiseschatten zwar nicht „wie Hölderlin’s Sophokles“, seine verworrenen Worte sind vielmehr von Kerner erfunden25 – unbezweifelbar wird hier jedoch ein Geisteskranker als solcher verspottet, was manche zeitgenössischen Kritiker Kerner auch vorwarfen.26 Auf Kerners Schattenspiele folgten weitere Beispiele fiktionaler Biographik, in denen ein je andersartiges Verhältnis zu Hölderlins Figur und Dichtung auszumachen ist. Man denke etwa an Waiblingers Romane Phaeton (1823), wo erdichtete Elemente aus Hölderlins Leben mit intertextuellen Verweisen auf den Hyperion vermischt sind, und Lord Lilly, ein inzwischen verschollenes, laut Eduard Mörike nicht veröffentlichungswertes Manuskript, in dem Hölderlin und andere Figuren aus den Tübinger Jahren Waiblingers „mit einer Art von Alteration [...] mehr oder weniger kenntlich [...] gleich einem Schattenspiel an einer trüben Wand hinschwanken“ (An Wilhelm Hartlaub, 26. Dezember 1841, StA 7/2, 266). In der zweiten Jahrhunderthälfte wären noch zu erwähnen: Feodor Wehls „dramatisches Gedicht in einem Akt“ Hölderlins Liebe (eine Art Tasso-Imitation, die in Dresden am 26. Juli 1850 mit Emil Devrient in der Titelrolle uraufgeführt wurde); in der epischen Sparte Moritz Hartmanns Novelle Eine Vermuthung (1861), die noch Norbert von Hellingrath „für bare Münze genommen und als ergreifendes Momentbild aus der Tragödie der Heimkehr Hölderlins anerkannt“ habe (Beck, StA 7/2, 209), und Heribert Raus gewichtiger, auf die Frankfurter Jahre zentrierter „kulturhistorischer Roman in zwei Teilen“ Hölderlin (1862), dessen Schilderung der Familienverhältnisse die Gontard-Erben empörte.27 Der hier angeführten Liste wären bis 1900 weitere Beispiele hinzuzufügen;28 das 20. Jahrhundert sollte dann eine noch größere Anzahl und eine breitere typologische

|| 24 Die Technik des Schattenspiels (laterna magica), welche Kerner satirisch mit der Reisefiktion vermischt, macht aus den epischen Darstellungen eine theatralische Szenenfolge in nuce. 25 So Adolf Beck: „Holders Reden sind [...] sicher von Kerner erfunden“ (StA 7/3, 474). Anders Koch (2007), der Zitate aus den Reden des kranken Hölderlins nicht ausschließt. 26 Dazu Grüsser (1990). Kritiken verzeichnet auch die StA, vgl. 7/2, 413. Die Kerner-Forschung hat dann das Werk aufgewertet, vgl. das von Beck bejahend zitierte Urteil von Josef Gaismaier: „genialste Dichtung Kerners“ (StA 7/3, 474, aus der einleitenden Skizze zu Leben und Werk in der Ausgabe der Sämtlichen poetischen Werke, Leipzig 1905). 27 Über den Brief der Maria Belli-Gontard an Karl Gutzkow vom 14. April 1862 sowie über ihre drei Wochen später erschienene Berichtigung von Raus „Irrtümern“ in Didaskalia, einem Beiblatt des Frankfurter Journals, vgl. Bandelow (2004) 182ff. Die Nichte väterlicherseits von Jakob Friedrich Gontard und Susette Gontard hatte auch Kontakt zu Hölderlin gehabt. 28 „Als den ersten Hölderlin-Roman“ könne man laut Gaier (2006) 201 Vischers Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879), dessen Figur A.E. (Auch Einer / Albert Einhart) Züge Hölderlins trüge, anführen. Tatsächlich findet der Erzähler, der zum Nachlassverwalter von A.E. wird, einen Zettel in der Hölderlin-Ausgabe des Verstorbenen, wo Worte zu lesen sind, die ein Stereotyp der Hölderlin-Rezep-

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Palette an Fiktionalisierungen von Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn liefern, vom traditionellen Roman zum Tendenzstück, vom Hörspiel zum Film. Typisch für die Rezeption des 19. Jahrhunderts ist jedenfalls der Umstand, dass die Grenzen zwischen Biographik und Kritik, zwischen Fiktion und Dokumentation, zwischen produktiv-intertextueller Rezeption und Fälschung anders gesetzt sind und als anders gewichtig betrachtet werden müssen als in der späteren Zeit. „Man kann von Hölderlin sagen, er sey nicht nur ein Dichter, sondern auch selbst ein Gedicht“ (StA 7/4, 52) – Wolfgang Menzels Satz aus der Besprechung der Gedichtausgabe 1826 könnte als Motto der ganzen Hölderlinrezeption des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden. Somit verwundert es kaum, dass biographische Elemente und insbesondere der Wahnsinnsdiskurs selbst in den seltenen Erwähnungen der Sophokles-Übersetzungen in den restlichen Jahren bis zu Hölderlins Tod 1843 konstant vorkommen, ja vorherrschen – wohlgemerkt sowohl im positiven Sinne einer tragisch-genialen Begabung („Mythisierung“ bzw. „Sakralisierung des Wahnsinns“) als auch konträr als Stempel bemitleidens- bzw. tadelnswerter Geistesverwirrung („Pathologisierung“ des Wahnsinns). Diese janusköpfige Bewertung teilen übrigens die Sophokles-Übersetzungen mit weiteren Werken des Autors: Nicht nur andere Texte aus der Spätzeit, sondern sogar Hyperion und weitere Dichtungen aus der mittleren ‚unverdächtigen‘ Phase sollten während des gesamten 19. Jahrhunderts im Schatten der „Krankheit“ gelesen, erörtert und eventuell wiederabgedruckt werden.29 Bemerkenswert ist für die frühe Rezeption von Hölderlins Sophokles, dass so gut wie jede selbst beiläufige Erwähnung, die man für die Zeit bis 1846 auffinden kann, die Übersetzungen in einem Atemzug mit dem Delirium nennt, entweder einfach weil sie chronologisch in die Zeit der Verwirrung fallen und somit deren Spuren tragen würden, oder aber, weil die nunmehr eindeutig pathologisierte Anstrengung der Übersetzungsarbeit den Ausbruch der Krankheit kausal bedingt hätte – diese zweite nicht zuletzt durch die Hölderlin-Editoren favorisierte Option wird langsam aber stetig die Oberhand gewinnen und das offizielle Hölderlin-Bild in der zweiten Jahrhunderthälfte stark prägen. Der Gymnasiallehrer und Schulreformer Johannes Schulze etwa, der wie Solger und Voß d.J. in Halle bei Friedrich August Wolf klassische Sprachen studiert hatte, durch die Bekanntschaft mit Sinclair auf Hölderlin gekommen war und später in Berlin dem preußischen Kreis von Hölderlin-Verehrern angehören sollte, fand um 1813

|| tion im 19. Jahrhundert wiedergeben: „Armer Werther Griechenlands“ (Vischer 1919, 281; zur klischeehaften Formel vgl. Castellari 2002, 80–138). Eher als ein Hölderlin-Roman ist Vischers Werk also ein Roman, wo die Hölderlin-Rezeption zum Thema wird, darin mit Fontanes Vor dem Sturm (1878) vergleichbar (dazu vgl. Zuberbühler 1997). 29 Dazu vgl. Castellari (2002) 52–128.

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„einzelne Stellen selbst in seinem Sophokles“ unübertreffbar – „selbst“, heißt es bezeichnenderweise, in jenem Text, den „er schon halb im wahnsinnigen Zustand übersetzte“ (StA 7/2, 427). Das verhältnismäßig frühe und positive Urteil Schulzes ist überaus kennzeichnend für die schiere Unmöglichkeit, unter damaligen Rezeptionsverhältnissen das Sophokles-Projekt Hölderlins unabhängig vom Wahnsinnsdiskurs zu bewerten. Somit wird es offensichtlich einer kritischen Auseinandersetzung entzogen, die über eine ephemere Würdigung hinausginge; darüber hinaus sollten die Stellungnahmen zu Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen bald zu sekundären Urteilen, ja Stereotypen werden, die ohne unmittelbare Kenntnis der Vorlage weiter tradiert wurden. Als folgenschwer für die Rezeptionsgeschichte von Hölderlins Sophokles erwies sich dabei der Umstand, dass eine direkte Einsicht in die Vorlage immer komplizierter werden sollte, da die Sophokles-Übersetzungen hundert Jahre nicht neu verlegt wurden. Nun gilt es zu erörtern, warum. Dass einerseits bereits in den 1820er Jahren die Bedingungen für einen Reprint hätten geschaffen werden können und andererseits nicht primär ästhetische, sondern vielmehr moralisch-biographische Bedenken den schwäbischen Editoren den Wiederabdruck nicht opportun erscheinen ließen, zeigen zeitgenössische Zeugnisse verschiedenster Art. Erstens werden in den Jahren der Sammlung von Handschriften für die Gedichtausgabe, die 1826 erscheinen sollte, von Karl Ziller auch Manuskripte der Sophokles-Übersetzungen in Nürtingen, also in einem bei der Mutter aufbewahrten Papierenfundus, gesichtet. Die „ausgelesenen Schriften“ hat aber der von Karl Gock beauftragte Student an Hölderlins Neffen Breunlin geschickt. „Es sind meistens Übersetzungen aus Sophocles u Bruchstücke nachgeschriebener Collegien“, fügt er hinzu (StA 7/2, 557).30 Besagte Autographen sind verschollen, was auch etwas über die geringe Aufmerksamkeit der Zeitgenossen hinsichtlich deren Inhalts besagt. Aus editorischer Perspektive bestand natürlich die Option, die Erstausgabe von 1804 neu zu drucken, und dabei womöglich die vielen offensichtlichen Druckfehler zu korrigieren,31 was aber weder zu Lebzeiten noch postum in den irreführend betitelten Sämmtlichen Werken geschehen sollte. Dass es „nicht geraten sey sie [die Sophokles-Übersetzung, M.C.] nochmals abdrucken zu lassen, indem sie schon häufige Spuren einer inneren Geisteszerrüttung an sich“ trügen, bekam der Hölderlin-Verehrer und Befürworter einer Hölderlin-Ausgabe Leutnant Heinrich von Diest um 1822 von keinem Geringeren als Hegel zu hören (StA 7/2, 544),32 während die schwäbischen Editoren – sowohl Uhland und Gustav || 30 Adolf Beck stellt die Vermutung auf, es könnte sich bei den „Collegien“ um die Aufsätze der Homburger Zeit handeln, die Ziller irrtümlich als Nachschriften betrachtete (StA 7/2, 559). Es könnten damit auch Skizzen der Sophokles-Anmerkungen gemeint sein (vgl. FHA 16, 64). 31 Die von Hölderlin verfasste Liste der „Drukfehler im Ödipus“ sollte erstmals 1913 im 5. Band von Hellingraths historisch-kritischer Hölderlin-Ausgabe gedruckt werden. 32 Im selben Jahr schickte Gock den Wilmanschen Sophokles an Kerner – Adolf Beck findet „immerhin bemerkenswert“, dass er „eine neue Auflage des Trauerspiels auch nur erwog“. Gock vermerkt

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Schwab (Gedichte 1826) als auch dessen Sohn Christoph Theodor (Friedrich Hölderlin’s sämmtliche Werke 1846) – in allen Sparten eine restriktive, strategisch an der Installierung des Dichters als ‚Klassiker‘ und an dem normativen Ausschluss des ‚Nochnicht-Reifen‘ und des ‚Nicht-mehr-Gesunden‘ arbeitende Auswahl trafen. Hier war kein Platz für die Sophokles-Übersetzungen. In einer „Anzeige“ der Sämmtlichen Werke werden sie denn auch wie die übrigen Produkte „seines traurigen Gemüthszustandes“ als poetisch „im Allgemeinen gänzlich unbedeutend“ abgetan (1847, StA 7/3, 447). Wenn dann Schwab im zweiten erklärtermaßen Texte biographischer Relevanz enthaltenden Band derselben Ausgabe auch einzelne Stellen aus den SophoklesAnmerkungen zitiert (Schwab 2, 311ff.), so zeugt dies einzige Überbleibsel der Wilmans-Ausgabe von 1804 einmal mehr von der lediglich dokumentarischen Bedeutung, die im 19. Jahrhundert dem ganzen Sophokles-Projekt, ja eigentlich dem gesamten Spätwerk Hölderlins von den Hölderlin-Editoren zugestanden wurde.33 2.1.2.1 „Weil er nie ein leeres Wort geschrieben“. Achim von Arnim und Hölderlins Sophokles Ganz anders verhält es sich, wenn man einen Blick in die Schriften von Dichterkollegen und Intellektuellen oder gar einiger „Litteraturhistoriker“ aus den 1820er bis 1840er Jahren wirft, vor allem dann, wenn man über die in beliebigen Variationen wiederkehrenden Phrasen wie „die Sophokles-Übersetzungen tragen Spuren des Wahnsinns“ hinwegliest und der Fährte einer anderen Rezeption folgt, die einen eigenen Hölderlin entdeckt und manchmal auch erdichtet. Achim von Arnim, der wie sein Mitstreiter Brentano Hölderlins Dichtung seit den ersten Jahren des Jahrhunderts dank Isaak von Sinclair und Joseph Görres zu schätzen gelernt hatte, war „wahrscheinlich [...] durch sein rekonstruierendes Eindringen der bedeutendste und genaueste Kenner Hölderlins unter den Zeitgenossen“ (Gaier 2002a, 477). Arnim ragt unter den Romantikern insbesondere aufgrund seiner Seiten über Hyperion34 und Empedokles heraus sowie wegen seines Plans, den Empedokles zu vervollständigen: der erste Versuch überhaupt, Hölderlins Theatertexte fortzuschreiben (dazu vgl. 2.2.2.1).

|| jedenfalls ausdrücklich, dass „diese Übersetzung [...], bereits das Gepräge von H. unglücklicher Überspannung“ trägt. Er stellt zwar in der Zeit vor der Neuauflage des Hyperion (1822) und dem Erscheinen der Gedichtsammlung (1826) dem Editorenteam sein Sophokles-Exemplar zur Verfügung („für den Fall, daß sie solche vielleicht nicht selbst gelesen haben“) und kommt tatsächlich auch auf die Frage der Abdrucksrechte für die Übersetzungen zu sprechen („wenn sie einer neuen Auflage werth wären“); seine Abneigung ist jedoch von vornherein spürbar. Kein Wunder, dass es zu keinem Wiederabdruck gekommen ist (Brief vom 6. Februar 1822; StA 7/2, 530; 533). 33 „Aus der Periode seines traurigen Gemüthzustandes sind nur einige Proben des biographischen Interesses wegen beigefügt worden“, wie es in der oben bereits erwähnten Anzeige heißt (StA 7/3, 447). 34 Vgl. Castellari (2002) 63f.

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Arnims Bewunderung für Hölderlin, den „grösten aller elegischen Dichter der Deutschen“,35 ging sichtlich über die Wertschätzung einzelner Stellen und Texte hinaus: In den Literar-Notizen 1818 nahm er nicht nur den Wiederabdruck des Hyperion und die Sammlung der Gedichte vorweg, sondern forderte eine Ausgabe aller Dichterwerke, wobei er seiner Zeit knapp hundert Jahre voraus war: „Vollständig müßten sie gegeben werden, weil er nie ein leeres Wort geschrieben“ (StA 7/4, 359). Darunter also auch das Sophokles-Projekt, das Arnim in seinem eindrucksvollen Essay zum Dichter Ausflüge mit Hölderlin (1828, StA 7/4, 55–60) mitberücksichtigt.36 Als erster unternimmt er hier den Versuch, den Gedankengängen über das Tragische in den „Anhängen“, wie er die Anmerkungen nennt, unvoreingenommen zu folgen. Arnims Urteil über die Übersetzungen ist zwar, wie zu jener Zeit unumgänglich, nicht ganz klischeefrei – die Charakterisierung von „Einzelne[m]“ darin als „im Ausdruck höchst eigenthümlich, im Ton höchst tragisch“, fällt jedoch erheblich günstiger aus als das vieler Zeitgenossen; vor allem das Ringen des Dichters um eine moderne Darstellungsweise und Sprache nimmt er offensichtlich wahr. Noch intensiver setzt sich Arnim mit den erörternd-kommentierenden Versuchen der Anmerkungen auseinander, um durch ausgiebige Zitate Hölderlins „volle Kraft“, obwohl „schon gebrochen im Theoretisiren“, seine „fessellos[e] [...] Untersuchungsweise“ darzulegen. Arnims Auseinandersetzung, in der sich Faszination und Befremden das Gleichgewicht halten, gipfelt nach der Anführung der ersten „Rhythmus“-Stelle37 aus den Antigone-Anmerkungen in den Worten: So setzt er sich von aller kleinlichen Quälerei der Philosophie wieder glänzend in die Freiheit und dringt mit einfachen Worten wunderbar tief ein, wenn er nun über das tragische ausspricht: „Der kühnste Moment [...] da wo die zweite Hälfte angeht. Die Darstellung des Tragischen [...] durch grenzenloses Scheiden sich reiniget“. (StA 7/4, 58)

„Diese Anschauung“, eigentlich eine von Arnim selbst komponierte Kollation aus zwei verschiedenen Stellen respektive aus den Antigone- und den Ödipus-Anmerkungen (hier, der berühmten Stelle über die „Darstellung des Tragischen“), sieht der Romantiker im weiteren Verlauf seines Essays auch als Grundlage des Empedokles.

|| 35 So, als eine Art Leitspruch, im Eröffnungssatz des Essays Ausflüge mit Hölderlin (StA 7/4, 55). Hyperion bezeichnete Arnim bereits 1817 als „herrlichste aller Elegien“ (An den Bruder, 21. Oktober 1817; StA 7/2, 437), daran anschließend ist 1818 in einem Zeitschriftaufsatz von „den Werken Hölderlins, des größten deutschen Elegikers“ die Rede (StA 7/3, 359). 36 Offensichtlich benutzte Arnim für seinen Aufsatz die bei Wilmans erschienenen Bände, aus denen er zitiert. 37 Dabei handelt es sich um den zweiten Absatz der Antigone-Anmerkungen, wobei der erste Satz über die „poetische Logik“ weggelassen ist; vgl. StA 5, 195. Arnim kommentiert den Begriff des „Rhythmus im höhern Sinne“ bzw. „kalkulablen Gesetz“ nicht eigens und ignoriert den weiteren Wortlaut der Anmerkungen über den „Rhythmus der Vorstellungen“ und die „Cäsur“ als „gegenrhythmische Unterbrechung“ (StA 5, 195; 7/4, 57).

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Arnim erwähnt später noch einmal die Sophokles-Anmerkungen (so die „höchst merkwürdige“ Stelle über den „eigentlicheren Zeus“ und die „vaterländischen Vorstellungen“ im Antigone-Kommentar), um die Entwicklung von Hölderlins „Ansicht“ und insbesondere den „Übergang [...] zu seinem Pathmos, das merkwürdigste, aber auch zerstörteste unter seinen Gedichten“, zu markieren (StA 7/4, 59). Dieser Essay, der durch Gedankenreichtum und Prägnanz besticht, stellt für die Rezeption von Hölderlins Sophokles ein kleines Juwel und zugleich eine verpasste Gelegenheit dar. Erstmalig liest Arnim die Anmerkungen ernstlich als Quelle, um in Hölderlins Welt vor allem in ästhetischer und religiöser Hinsicht einzudringen. Nachdrücklich entwirft er das Bild eines Dichters, dessen ganzes Oeuvre durch poetische und philosophische Tiefe gekennzeichnet ist und somit einer Veröffentlichung wert wäre. Neben den Hyperion- und Sophokles-Bänden38 lag ihm ja mit der Ausgabe von Schwab-Uhland aus dem Jahr 1826 eine „Sammlung seiner zerstreuten Gedichte“ vor, angesichts derer er, wie es im Eingangsteil der Ausflüge heißt, sich verpflichtet fühlt, „auf Lücken zu merken, auf manches, was [...] fehlt“ (StA 7/4, 55f.). Die Wertschätzung der Sophokles-Übersetzungen und vor allem -Anmerkungen jedoch, die in den Ausflügen mit Hölderlin 1828 zum Vorschein kommt, wurde von wenigen geteilt. Stark von seinem Essay beeinflusst ist etwa eine anonyme Skizze, die 1830 erschien und in Hölderlins „dichterische[r] Begeisterung und hinlängliche[r] Gelehrsamkeit“ eine vielversprechende Prämisse für die übersetzerische Arbeit sah, „wenn es ihm vergönnt gewesen, im vollen Besitz seiner Kraft sein Unternehmen auszuführen“. Die Würdigung der Anmerkungen (auch hier: „Anhänge“) nimmt übrigens nahezu gänzlich Arnims Wortlaut auf und die Zitate sind dermaßen übereinstimmend, sodass man den Text eigentlich ein Plagiat nennen könnte; ihm ist somit keine produktive Aneignung der Überlegungen des Romantikers zuzuschreiben, höchstwahrscheinlich liegt ihm auch überhaupt keine Auseinandersetzung mit Hölderlins Originaltext zugrunde (StA 7/4, 170f.).39 Auch einige spätere, kurze Erwähnungen von Hölderlins Sophokles könnten auf Arnims Ausflüge zurückgeführt werden, etwa ein || 38 Beck nimmt an, dass Arnim eine Kopie der Wilmanschen Ausgabe „offenbar selbst besaß“, und zwar seit einer gewissen Zeit (StA 7/4, 64). Was den Hyperion angeht, so stammen Arnims erste Worte aus dem Jahr 1815 (StA 7/2, 436, mit Zitat aus der „Scheltrede“); die Lektüre ist sicher früher datierbar; spätestens 1813 (Brief an Brentano vom 3. August 1813), womöglich bereits in den Heidelberger Jahren dank Joseph Görres, der 1804 eine Hyperion- Rezension des Romans veröffentlicht hatte und 1806 in die Universitätsstadt kam, oder infolge des um 1806 belegten Kontakts mit Sinclair (Brief Brentanos an Arnim vom Oktober 1806, StA 7/4, 354). Somit ist der Ausdruck „Wiederabdruck seines Hyperion“ am Anfang der Ausflüge kein Hinweis darauf, dass Arnim Hölderlins Roman erst in jener zweiten Auflage aus dem Jahre 1822 kannte (StA 7/4, 55). 39 Bei Beck ist von „Abklatsch von Arnims Ausflügen“ für den zweiten Teil der in dem Freimüthigen erschienenen Würdigung die Rede (StA 7/4, 172). Vgl. auch ebenda die Erörterung der in dem anonymen Text und in der damaligen Publizistik zirkulierenden falschen Nachricht vom Tod des Dichters, die unzweifelbar vom „sensationelle[n] Interesse an dem Schicksal des kranken Dichters“ zeugt. Seebaß (1922) 33 erwähnt Theodor Mundt als möglicher Verfasser der Würdigung.

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Brockhaus-Artikel aus dem Jahre 183340 oder weitere Belege aus den 1840ern, die meist von jungdeutschen Autoren stammen.41 Solche Rezeptionsdokumente des Vormärz sind als ‚blasse Kopien‘ zu bewerten, die im Sammelsurium der biographisch ausgerichteten Hölderlin-Rezeption der folgenden Dekaden fast jede Aussagekraft verlieren. Arnims profundes Eindringen in Hölderlins zweites tragisches Projekt bleibt in der essayistisch-kritischen Publizistik eine Ausnahmeerscheinung. Ganz resonanzlos musste ein früherer „sonderbare[r] Plan“ Arnims bleiben, „Vorlesungen über praktische Aesthetick nach Hölderlins Hyperion“ zu schreiben (1814),42 denn er wurde nie verwirklicht. Wohl aus den Überlegungen zu einer „praktischen Ästhetik“ – und wohl zu derselben Zeit43 – ist eine handschriftlich überlieferte Charakteristik von Hölderlins Antike-Verständnis entstanden, die, so Becks Glosse, „weitere Ausführungen Arnims vermissen“ lässt: Worin liegt der Reichthum im Vergleich mit Schiller und Göthe, wenn er das Alterthum darstellt, weil er gerade auf ihrem Standpunkte steht, er verirrt sich nicht in Theorien über das Alterthum, nicht in einsamen Zusammenreihungen, was in der Art sich einfinden konnte, aber die Götter der Alten umstehen ihn alle wie nahende Sterne, mit deren Bewohnern er redete [reden] kann, denn er hat die Natur, in deren Anschauung diese Gebilde entstanden, ebenso angeschaut wie die Alten wenigstens wie ein Theil der alten Mythenseher. (StA 8, 22)

|| 40 Im anonymen Beitrag für das Conversationslexikon der neuesten Zeit und Literatur (und ein Jahr darauf im laut Beck im Wesentlichen damit übereinstimmenden Artikel der Allgemeinen deutschen Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände) wird in einigen Punkten die Arnim-Linie weitergeführt, für andere Aspekte aus Waiblingers Aufsatz geschöpft, ohne sich über die offensichtlich divergierenden Perspektiven Gedanken zu machen. Dies wird besonders deutlich, wenn von „jene[r] unselige[n] Übersetzung des Sophokles“ die Rede ist, „in deren Anhängen der grauenhafteste Wahnsinn mit dem Tiefsinn mancher Bemerkungen [...] zu dem entsetzlichsten Chaos sich verschwistert hat, das je in Wort und Schrift zur Öffentlichkeit gefördert worden“. Sensationsgier angesichts des Wahnsinns und Ergriffenheit angesichts des scheiternden Genies verschaffen sich Geltung: „Die Übersetzung selbst ist größtenteils matt, obwohl in den Zeiten seiner ungeschwächten Kraft Hölderlin, welcher den Geist der Antike so lebhaft in sich aufgenommen und in eigenen lyrischen Gedichten mit so genialer Bemeisterung der Form wiederzugeben verstand, gewiß der Berufenste gewesen wäre, den Sophokles zu übertragen“ (StA 7/4, 273). – Arnims Wortschatz, Übernahmen aus der Arnim-Kontrafaktur des Freimüthigen-Aufsatzes, Waiblingers Pathographie sind zu einem für viele andere typologisch ähnliche Belege der Zeit typischen Sammelsurium verschmolzen. 41 In den wenigen Worten, die Vormärz-Autoren in ihren Würdigungen Hölderlins Sophokles widmen, scheint (oft phrasenhaft) die Arnim-Linie durch, etwa bei Heinrich Laube (1840, vgl. StA 7/4, 256–258). 42 Vgl. den Brief Arnims an Savigny, 13. August 1814, StA 8, 20 sowie den im Sudelbuch Arnims enthaltenen, wohl mit dem Brief so gut wie gleichzeitig entstandenen Entwurf (22f.). In späteren Jahren erinnert sich Arnim oft an den nie verwirklichten Plan, der bereits im Brief an Savigny als Zukunftsmusik bezeichnet wird. 43 Im Sudelbuch Arnims steht diese undatierte Notiz zirka dreißig Seiten vor dem Entwurf, vgl. StA 8, 22.

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Man wäre versucht, bereits in diesen Gedanken nicht nur einen Bezug auf den Briefroman, sondern auch auf die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen hineinzulesen. Dass sich Hölderlin „nicht in Theorien über das Alterthum, nicht in einsamen Zusammenreihungen“ verirre, wäre etwa mit der späteren Stelle in den Ausflügen zu parallelisieren, wo ihm die Fähigkeit zugesprochen wird, in den Überlegungen zum Tragischen „sich von aller kleinlichen Quälerei der Philosophie wieder glänzend in die Freiheit“ zu begeben (StA 7/4, 58).44 Wie dem auch sei, dieser handschriftliche Befund zeugt von einem sehr frühen Einblick in die Originalität von Hölderlins Antike-Verständnis und stellt einen vorläufig letzten Beweis für Arnims komplexe Hölderlin-Rezeption dar. 2.1.2.2 „Er muß die Sprache geküsst haben“. Bettina Brentanos Hölderlinvariationen. Arnims Ausflüge haben keinen Verleger oder Herausgeber dazu gebracht, Hölderlins Sophokles wieder aufzulegen, die Literaturkritik und -geschichtsschreibung sollten bis auf weiteres seriöse Auseinandersetzung mit dem Übersetzer Hölderlin meiden. Spuren von Arnims förmlicher Entdeckung der Relevanz von Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen tauchen anderswo wieder auf, nämlich in dem Fiktion und Dokument kühn verknüpfenden Buch seiner Frau Bettina von Arnim, geborener Brentano. Achim war seit einem knappen Jahrzehnt tot, als 1840 Die Günderode erschien. Der sehr frei bearbeitete Briefwechsel Bettinas mit der 1806 in den Freitod gegangenen Caroline von Günderrode45 nimmt Bezug auf die früheste Zeit, in der Hölderlins Werk im Romantikerkreis rezipiert wurde. Die beiden in der Korrespondenz herausragenden „großen, und großartigen, dithyrambischen Ergüsse über Hölderlins Dichtertum und Kunstanschauung“ (Beck, StA 7/4, 201; dazu Wuthenow 1986) gehören

|| 44 Dies würde übrigens beweisen, dass Arnim Hölderlins Sophokles bereits in jenen frühen Jahren kannte. 45 Die unkorrekte Schreibung des Nachnamens mit einem -r-, die bis ins 20. Jahrhundert hinein weit verbreitet war, geht auf Bettina zurück. Karoline von Günderrode war eine der ersten, die außerhalb von Hölderlins Freundes- und Bekanntenkreis sein Werk rezipierten. Wie für viele Zeigenossen, ging ihre Rezeption von der Lektüre des Hyperion aus (um 1800, Vgl. StA 7/2, 161). Die von Bettina erdichtete gemeinsame Begeisterung für Hölderlin kann also tatsächlich einen Einfluss des Dichters auf die Romantikerinnen bezeugen – Karoline war jedoch bereits gestorben, als Bettina Sinclair kennenlernte. Im Günderode-Kommentar von Walter Schmitz wird Günderrodes Drama Mahomet, der Prophet von Mekka (1805) als ein „an Hölderlins Empedokles angelehntes Drama“ bezeichnet (BWB 1, 1111f.). Weitere Belege für dieses intertextuelle Verhältnis sind jedoch nicht vorhanden. Hölderlins Trauerspiel-Bruchstücke waren damals noch unveröffentlicht; daß Günderode Zugang zu einem Empedokles-Manuskript, wie es bei Achim von Arnim vermutlich bereits um 1805 der Fall war, wäre lediglich als eine Arbeitshypothese zu betrachten (vgl Rölleke 1974, 158 sowie unten, 2.2.2.1).

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wohl zu jenen Buchpassagen, die am stärksten aus der Altersperspektive Bettinas bearbeitetet und mit neuen Zusätzen, darunter auch Einschüben hölderlinscher Provenienz (gerade den Sophokles-Anmerkungen), angereichert wurden. Von Bettinas Günderode soll hier nicht wegen ihres sehr geringen dokumentarischen Interesses oder wegen ihrer kritischen Gesamteinsicht in Hölderlins Werk die Rede sein, die nicht nur aus heutiger Perspektive viele Mängel aufweist. Dokumentation und kritische Auseinandersetzung lagen übrigens auch ganz und gar nicht in der Absicht der Autorin. Vielmehr sollen die Günderode-Passagen als entscheidende Etappe in der Hölderlinrezeption bis zur sogenannten Wiederentdeckung um 1900 gelesen werden: Nicht in Achim von Arnims, sondern in Bettinas fantastisch-exaltierter Version, die Leben und Dichtung untrennbar verknüpfte, überlebte die Spur von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen. Auf ihrer überspannten, in manchem aber auch feinsinnigen Darstellung beruht nämlich in viel stärkerem Maße als bisher erkannt die spätere Hölderlin-Rezeption. Nichtsdestotrotz ist ein Einfluss von Arnims Hölderlinlektüren und -Interpretationen auf seine Gattin unübersehbar. Darüber ist in der einschlägigen Literatur erstaunlich wenig die Rede. Stattdessen wird Bettinas Hölderlinbegeisterung eher auf ihren Kontakt mit Sinclair, den sie selber in der Günderode verarbeitet, und auf die Lektüre von Waiblingers Aufsatz Friederich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn (1831) zurückgeführt. Beides trifft natürlich zu. Die Vermittlung von Sinclair bestimmt wie erwähnt von Anfang an die romantische Hölderlinrezeption. Den Aufsatz, „den Einer Namens Waiblinger, der drei Jahr mit ihm gelebt, geschrieben hat“, erwähnt Bettina außerdem ausdrücklich in ihrem weiteren Werk mit Hölderlin-Bezug, Illius Pamphilius und die Ambrosia (StA 7/4, 210).46 Aus Waiblingers Hölderlin-Essay stammt etwa das Zitat über die „feine Organisation“, die Hölderlin laut Sinclair zum Verhängnis geworden sei (StA 7/4, 209), was Bettina mit kleinen Variationen in beide fiktional-dokumentarische Briefwechsel einarbeitete.47 Waiblingers Darstellung steht

|| 46 Das weniger bekannte Werk Illius Pamphilius und die Ambrosia (1847/48) basiert auf dem Briefwechsel zwischen Bettina Brentano und ihrem jungen Bewunderer Philipp Nathusius aus den Jahren 1837–1841. Dementsprechend kommen die Briefpartner chronologisch plausibel auf die Günderode zu sprechen; Nathusius wurde durch Bettina übrigens auch zum Hölderlin-Verehrer. Anders als bei Bettinas Goethe-, Brentano- und Günderrode-Büchern ist der Pamphilius eine lediglich stilistische Bearbeitung der Briefwechsel-Vorlage: „Die Veränderungen sind nur geringfügig und berühren nicht den sachlichen Gehalt der handschriftlichen Briefe“ (BWB 3, 1151). 47 Im fiktionellen Rahmen der Günderode handelt es sich um Worte Sinclairs über Hölderlin: „Hölderlins Wahnsinn [ist] aus einer zu feinen Organisation entstanden“ (StA 7/4, 188). Bei Waiblinger war von der „feinen Organisazion“ ausdrücklich am Beginn des Lebensberichts die Rede, und zwar im Sinne einer Art programmatischen Erklärung des postulierten Kausalzusammenhangs zwischen bestimmten biographischen Ereignissen und dem Ausbruch des Wahnsinns: „Wir theilen zuerst einiges über sein früheres äußeres Leben mit, und hängen dann sogleich unsere Bemerkungen an, sobald wir etwas finden, was auf sein späteres Schicksal bezogen werden muß. Denn die Keime, die ersten Gründe und Ursachen desselben sind in den frühesten Entwicklungsjahren seines Lebens,

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also nachweislich Pate bei Bettinas Auslassungen über den Kranken – es handelt sich ja beim bio-pathographischen Aufsatz des Stiftlers bekanntlich um einen der wirkungsvollsten Texte der gesamten Hölderlinliteratur, und zwar weit über die Spätromantik hinaus. Der Günderode-Text gehört aber sicher nicht zu den zahlreichen Rezeptionsdokumenten, die eine unkritische Übernahme von Waiblingers Krankengeschichte kennzeichnet – Bettinas Hölderlin-Bild ist vielleicht verworrener, jedoch sicher profunder. Waiblingers Darstellung hat Bettina zum Beispiel unmöglich eine Einsicht hinsichtlich Hölderlins Sophokles entnehmen können, während sie ansatzweise bei ihrem Mann Achim von Arnim formuliert ist. Waiblinger geht auf die Übersetzungen kaum ein, datiert sie darüber hinaus falsch und wertet sie gänzlich im Rahmen des Wahnsinnsdiskurses ab;48 Bettina schildert einen durchaus denkbaren, regen Gedankenaustausch der beiden Dichterinnen Günderode und Brentano von Arnim über Poetik und Sprache des Dichter-Übersetzers. Im fiktiven Rahmen sollen die Briefe durchaus die ‚originelle‘ Stimme Hölderlins wiedergeben: Bettina erzählt der älteren Freundin von seinen Gesprächen mit Sinclair und vor allem von dem, was derselbe bei ihr „aus den Reden des Hölderlin aufgeschrieben hat in abgebrochenen Sätzen“. Die „Orakelsprüche, die [Hölderlin] als der Priester des Gottes im Wahnsinn ausruft“, verschenke sie nun unmittelbar an die Briefpartnerin. Bettina gibt zu, dass „vieles fremd drinn ist was die Dichtung belangt“, fügt aber sofort hinzu, sie habe „besser durch diese Anschauungen des Hölderlin den Geist gefaßt, als durch das wie mich St.Clair darüber belehrte“ (StA 7/4, 198f.). Tatsächlich mischt Bettina aus einem Abstand von nahezu dreißig Jahren einiges, was sie womöglich durch Sinclair erfahren hat, mit den Ansichten und Texten ihres verstorbenen Mannes über Hölderlin und mit „Einflicksel[n]“, so Adolf Beck, aus den Antigone-Anmerkungen (StA 7/4, 206ff.). In der Collage aus Vorgefundenem und Erfundenem werden Hölderlins Überlegungen zur tragischen Sprache in der Günderode zum ersten Mal und in einem fiktiven Kontext produktiv fortgeschrieben. Sie dienen entsprechend einem wichtigen Rezeptionsmodus Hölderlins im 19. Jahrhundert: der mythographischen Stilisierung des genialen und an der Genialität zugrunde gegangenen Dichters.

|| ja gewissermaßen einzig und allein in der unselig feinen geistigen Organisazion zu suchen, die bey allzuvielen Täuschungen, harten Ereignissen und traurigen Combinazionen äußerer Umstände sich endlich in sich selbst zerstörte“ (Hervorhebung von mir, M.C.; StA 7/4, 52). 48 „Er wurde von ihm [Sinclair; M.C.] zur Stelle eines Bibliothekars berufen. Aber Hölderlin war verloren. Seine Anfälle der Raserey wurden ungestümmer und häufiger als je. Er beschäftigte sich mit einer Übersetzung von Sofocles, die des Wundersamen und Närrischen schon manches enthält“ (StA 7/3, 61). Waiblingers falsche Chronologie rückt die Arbeit am Sophokles-Projekt noch weiter in die „Wahnsinn“-Zeit und dient somit der von ihm betriebenen Pathologisierung von Hölderlins Leben und Werk.

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Dass Bettina beim Verfassen der Günderode wohl dank der Vermittlung von Moriz Carriere49 auf Hölderlins Sophokles-Bände konkret zurückgreifen konnte, bezeugt das längere abgewandelte Zitat aus der Ödipus-Übersetzung, der „Klagegesang dem Päan geweiht“, den sie in den allerersten Brief mit Hölderlin-Bezug einarbeitet. Dabei handelt es sich eigentlich um die Z. 1330–1365 der hölderlinschen Übersetzung, die Bettina zu einem performativen Zweck gekürzt und bearbeitet hat: „So hab ich mir die Zeilen zusammengerückt sie zu singen, diese Leidensprache“ (StA 7/4, 191). So lautet die von der Forschung noch nie berücksichtigte Ödipus-Transformation: Weh! Weh! Weh! Weh! Ach! wohin auf Erden? Io! Dämon! wo reissest du hin? Io! Nachtwolke mein! du furchtbare, Umwogend, unbezähmt, unüberwältigt! O mir! wie fährt in mich Mit diesen Stacheln Ein Treiben der Übel! Apollon wars, Apollon, o ihr Lieben. Der das Wehe vollbracht, Hier meine, meine Leiden. Ich Leidender, Was sollt ich sehn, Dem zu schauen nichts süß war. Was hab ich noch zu sehen und zu lieben, Was Freundliches zu hören? – ihr Lieben! Führt aus dem Orte geschwind mich, Führt, o ihr Lieben! den ganz Elenden, Den Verfluchtesten und auch Den Göttern verhaßt am meisten unter den Menschen. (StA 7/4, 191)50

|| 49 Moritz Carriere, Schriftsteller, Philosoph und Universitätsprofessor, ist eine wichtige Figur der Hölderlin-Rezeption. Im Hause Arnim verkehrte er hauptsächlich in den späten 1830ern. Carriere selbst erzählt von seiner Vermittlerfunktion in Sachen Sophokles/Hölderlin: „Ich gab ihr [d.h. Bettina Brentano; M.C.] die Übersetzung aus Sophokles mit den wundersamen, halb wahnsinnig träumerischen und doch so schmerzvoll tiefsinnigen Erläuterungen; daraus sind die herrlichen Stellen über den Dichter und die Offenbarungen aus seinem verschleierten Gemüt hervorgegangen, die ihm Bettina in den Briefen an die Günderode in den Mund legt“ (StA 7/3, 270f., vgl. auch die Anmerkungen Becks dazu). In der Günderode-Fiktion heißt es hingegen: „St. Clair gab mir den Oedipus den Hölderlin aus dem Griechischen übersetzt hat“ (StA 7/4, 190). Wirkliche und ausgedachte Erinnerungen mögen sich hier überlagern. Adolf Beck schreibt dazu: „Nicht unmöglich, daß beides [...] zutrifft“ (203). 50 Bettina zitiert im Folgenden auch, diesmal unverändert, die Z. 1464f. (Ödipus an Kreon).

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Im Vergleich zum Text Hölderlins (Z. 1330–1365, vgl. StA 5, 184–185) hat Bettina alle Eingriffe des Chors gestrichen, die Reden des Ödipus um einige Zeilen und in Einzelfällen auch um einzelne Worte gekürzt; seltener hat sie den Text auch sprachlich bearbeitet – etwa „solch Unglük“ (Hölderlin) mit „das Wehe“, „den ganz nichtswürdigen“ (Hölderlin) mit „den ganz Elenden“ ersetzt. Solche Eingriffe sind nicht mit Blick auf den Originaltext des Sophokles erfolgt, der nicht ein einziges Mal im GünderodeBuch erwähnt wird, sondern eher zum Zwecke der Sangbarkeit.51 Aus den 36 dialogischen Versen Hölderlins ist somit das genau halb so lange monologische Klagelied Bettinas entstanden. Dabei besticht die romantische Transformation der Tragödienpassage auch dadurch, dass Bettina sich des Palimpsest-Charakters von Hölderlins Text qua Übersetzung zwar vollkommen bewusst ist, ihn jedoch gleichsam als Vorläuferin der Bearbeitungen des 20. Jahrhunderts als eigenständiges Werk betrachtet und als Basis für die eigene Transformation benutzt. Nicht primär als Verdeutschung einer griechischen Tragödie betrachtet sie also Hölderlins Ödipus, sondern als hervorragendes Werk der deutschen Dramatik. So modern und so intensiv ist Bettinas produktive Rezeption der „Leidenssprache“ des Ödipus, dass sie auch den fiktiven Rahmen des Günderode-Briefwechsels sprengt. Bereits dort wurden die performative Qualität betont, der Übergang von der Lektüre in den Gesang sowie dessen Wirkung thematisiert: Und das nährt mich, stärkt mich, wenn ich Abends schlafen gehe dann schlag ichs auf und lese es, lese hier dem Päan gesungen, den Klaggesang, den sing ich Abends auf dem Dach vom Taubenschlag aus dem Stegreif, und da weiß ich, daß auch ich von der Muße berührt bin und daß sie mich tröstet, selbst tröstet. (StA 7/4, 190)

Dass es bei einem phantastisch-sentimentalischem Erguss nicht blieb, bezeugt nicht nur die etwas anekdotische Bemerkung Clemens Brentanos über seine Schwester, dass, „was sie [...] vom Singen auf den Dächern [schreibt], das ist wahr, das hab ich gehört“.52 Bettina, deren musikalische Produktion und Poetik (Liedkompositionen sowie musikästhetische Passagen in den Briefromanen) sowie deren rege Förderung des Musiklebens in ihrem Berliner Salon bekannt sind,53 hat tatsächlich auch Hölderlin vertont und zwar nicht nur in der der Hölderlin-Forschung bereits bekannten,

|| 51 Aus der Perspektive der Autorin könnte man ihre Eingriffe als Versuch deuten, Hölderlins Text einfacher und melodiöser zu gestalten: Striche und Kürzungen entlasten makrostrukturell die Syntax, Weglassungen und kleinere Veränderungen produzieren Alliterationen, Assonanzen und Konsonanzen. 52 So in einem Brief an Emma von Niendorf, vgl. BWB 1, 1146. 53 Bettina hat u.a. Gedichte Goethes sowie ihres Bruders und ihres Mannes vertont, manches ist jedoch unveröffentlicht geblieben. Kontakte hatte sie zu Musikern wie Spontini, Liszt, Meyerbeer, Brahms sowie Schumann, der ihr die ebenfalls in der Hölderlin-Rezeption zu situierenden Gesänge der Frühe widmete. Die Forschung, vor allem die feministisch ausgerichtete Kulturwissenschaft, hat in letzter Zeit die musikalische Poetik Bettinas als typischen Ausdruck einer auf die Vorstellungen der

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Fragment gebliebenen Komposition auf der Basis von Hälfte des Lebens und Die Thränen („dilettantische Entwürfe“, Lawitschka 2002, 501). Darüber hinaus hat sie Hölderlins Dramensprache als erste gesungen und vertont und höchstwahrscheinlich diese Vertonung auch (in einem verschollenen Heft) fixiert, wie nun zu erörtern ist. Im Juni 1842, also unmittelbar nach Veröffentlichung der Günderode, schreibt Bettina nach Köln an Franz Liszt und kündigt ihm unter polemischer Bezugnahme auf die Potsdamer Antigone-Aufführung mit Mendelssohns Bühnenmusik einen eigenen Gegenentwurf an: Nach dem Rhein werde ich kommen im August, da werde ich Dir ein Heft Melodien mitbringen, die ich dem König widmen will, weil sie ihm einen Begriff geben sollen, dass jene Musik der Antigone mit der griechischen nicht kann eine Spur anklingen; und diese hauen freilich über die Schnur des noch nie Dagewesenen.54

Bei diesem unauffindbaren „Heft Melodien“55 handelt es sich, so meine Vermutung, um Bettinas leider verschollene Vertonung von Passagen aus Hölderlins Ödipus und von anderen Texten desselben. Im Unterschied zur Übersetzung Donners und der Musik Mendelssohns, die „mit der griechischen nicht [...] eine Spur anklingen“, meint wohl Bettina, dass Hölderlins Übersetzung und ihre Vertonung derselben das ursprünglich Tragische treffen. Eine weitere Briefstelle kann die These stützen. Wenige Tage vor dem Schreiben an Liszt hatte Bettina nämlich bei Friedrich Wilhelm VI., dem oben erwähnten „König“, um die Erlaubnis nachgesucht, ihm „ein Heft Melodien“ widmen zu dürfen, „zu denen die Aufführung mich anregte“, wie es im Brief heißt, „die ich eben stechen lasse, die Texte sind von Hölderlin aus der Zeit da er schon mit Spuren von Wahnsinn am Oedipus übersetzte“.56 Es ist m.E. mehr als wahrscheinlich, dass darin auch die in der Günderode bereits eingearbeitete, intertextuell-musikalische Transformation der Ödipus-Verse Hölderlins enthalten war. Da Bettina die Entstehung der Melodien und ihren Anspruch ausdrücklich mit der Antigone von Tieck/Donner/Mendelssohn in Verbindung bringt, liegt die Vermutung nahe, dass sie

|| Frühromantik basierte Ästhetik der Musik als besserer Sprache einerseits, als einen geschlechtsspezifische Zuschreibungen ihrer Zeit unterlaufenden Kulturentwurf andererseits aufgewertet. Dazu vgl. Nieberle (1999). 54 20. Juni 1842, BWB 4, 466. Bettina hatte die Einladung zur Premiere am 28. Oktober 1841 nicht wahrnehmen wollen und wohnte erst einer späteren Aufführung bei. 55 Vgl. MGG, ad vocem „Arnim, Bettina“, Personalteil I, 976–980, wo keine Hölderlin-Vertonungen verzeichnet sind sowie IHB-Sonderband, wo lediglich die frühe Liedkomposition angeführt wird. In einem späten Brief an Kertbeny ist von „6 Lieder[n]“ die Rede, darunter Hälfte des Lebens, die sie „komponiert“ habe (2. November 1849, vgl. BWB 3, 1274). 56 Vgl. BWB 4, 986. Der Brief ist auf den 16. Juni 1842 datiert. Mit dem preußischen König korrespondierte Bettina seit seiner Inthronisation 1840; ihm widmete sie 1843 das Werk Dies Buch gehört dem König.

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vornehmlich Passagen aus den Sophokles-Übersetzungen, vielleicht aus beiden enthalten. Insofern im Brief an den König etwas vage von Texten aus der Zeit, in der Hölderlin an seinem Sophokles arbeitete, die Rede ist, könnten daneben auch Gedichte gemeint sein, die nach dem damaligen Editionsstand in jene Periode gehörten – Bettina hatte spätestens seit 1839 nicht nur Die Trauerspiele des Sophokles, sondern auch ein Exemplar der Gedichte zur Verfügung.57 Obwohl es sich um einen verschollenen Notentext handelt, über den genauere Informationen fehlen, stellt diese bisher von der Forschung unbeachtete, letzte Etappe der produktiven Rezeption Hölderlins seitens Bettina die Krönung einer Pionierleistung dar. Einmal abgesehen davon, dass im „Heft Melodien“ wahrscheinlich Teile von Hölderlins Tragödienübersetzungen vertont werden, und zwar mehr als hundert Jahre vor ihrem Einzug ins Musiktheater durch das Opernpaar des Carl Orff (Antigonae, 1949; Oedipus der Tyrann, 1959), so ist es der Kontext, in dem sie entstehen und für den sie gedacht waren, der ihnen eine historische Bedeutung verleiht. Wie in der Günderode-Fiktion Hölderlins Ödipus-Übersetzung als Ausgangstext für eine performativ intendierte Transformation diente (Bearbeitung und Gesang), so greift hier nämlich die Dichterin/ Musikerin auf Hölderlins Texte zurück,58 vertont und bündelt sie zu einem wortmusikalischen Werk, das als polemischer Gegenentwurf zu jenem Antikenbild gedacht ist, das durch die Inszenierung einer griechischen Tragödie um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreich verbreitet wurde und das sie hingegen als unecht betrachtete. „Dass jene Musik der Antigone mit der griechischen nicht kann eine Spur anklingen“, behauptet Bettina ausdrücklich, und in diesem Sinne versteht sie ihren eigenen musikalischen Konterschlag als unerhörte Neuheit (das „noch nie Dagewesen[e]“). Dass sie Hölderlins Übersetzung auf ähnliche Weise der donnerschen entgegensetzte, scheint anhand des in der Günderode gesungenen Preisliedes für Hölderlins Sprache naheliegend. Zum ersten – und lange Zeit zum letzten Mal – schließt der Rekurs auf Hölderlins Sophokles das Bekenntnis zu einem anderen quer zur zeitgenössischen Theaterpraxis liegenden Antikenbild ein und zu einer von zeitgenössischen Übersetzungen antiker Literatur abweichenden Sprache. Hinter Bettinas höchst eigenartiger schöpferischer Umwandlung Hölderlins steht mit Blick auf ihre Günderode eine zugleich dichterische und denkerische Faszination. Der Einblick in sein Werk, vor allem in das Sophokles-Projekt, von dem ihre moderne und vielschichtige Transformation zeugt, ist ausdrücklich und in erster Linie auf die Sprache zentriert, sowohl auf ihre performative Praxis als auch auf die sie bestim-

|| 57 Vom Verleger Moritz Veit erbat sie im November 1839 „ein Exemplar von Hölderlin’s Gedichten“, dabei handelt es sich um die Sammlung, die 1826 von Uhland und Schwab herausgegeben worden war. Vgl. BWB 1, 1077f. Einzelne Gedichte Hölderlins lagen ihr gedruckt oder als handschriftliche Kopien vor. 58 Anhand der Günderode-Passagen darf vermutet werden, dass Hölderlins Texte dabei auch bearbeitet wurden.

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mende poetologische Theorie. Selbstverständlich gehört auch die biographische Dimension dazu, nur wäre es m.E. verkehrt, eine solcherart tiefgründige Auseinandersetzung mit den Texten, und nicht nur mit der Figur des Dichters, auf eine romantische Poetisierung der Biographie zu reduzieren.59 Es ist vielmehr so, dass die Begeisterung für den romantisch verklärten „göttlichen Wahnsinn“ als Anziehungspunkt für die Dichterin fungiert hat: „ich möchte wohl hin, mir kommt dieser Wahnsinn so mild und groß vor“ (StA 7/4, 188). Das eigentliche Hölderlin-Erlebnis war dann, wie aus Bettinas Günderode-Erzählung offensichtlich wird, die Begegnung mit der Sprache des Dichters: Wenn ich bedenk – welcher Anklang in seiner Sprache! – Die Gedichte, die mir St. Clair von ihm vorlas – zerstreut in einzelnen Kalendern – ach was ist doch die Sprache für ein heilig Wesen. Er war mit ihr verbündet, sie hat ihm ihren heimlichsten innigsten Reiz geschenkt, nicht wie dem Goethe durch die unangetastete Innigkeit des Gefühls, sondern durch ihren persönlichen Umgang. So wahr! er muß die Sprache geküßt haben. (StA 7/4, 189f.)

Hölderlin wird hier zum Priester einer Kunst-, ja einer Sprachreligion stilisiert, wobei besonders die körperlich-erotische Metaphorik ins Auge fällt, mittels deren eine Art Liebesverhältnis des Dichters mit der Sprache suggeriert wird. Ausführlicher und konkreter wird ihre Lobpreisung, wenn kurz darauf vom Ödipus die Rede ist: Er [Sinclair; M.C.] sagte man könne ihn so wenig verstehen oder wolle ihn so übel verstehen daß man die Sprache für Spuren von Verrücktheit erklärt, so wenig verstehen die Deutschen was ihre Sprache Herrliches hat. – Ich hab nun auf seine Veranlassung diesen Oedipus studirt; ich sag Dir, gewiß, auf Spuren hat er mich geleitet, nicht der Sprache, die schreitet so tönend, so alles Leiden, jeden Gewaltausdruck in ihr Organ aufnehmend, sie und sie allein bewegt die Seele daß wir mit dem Oedipus klagen müssen, tief tief. – Ja, es geht mir durch die Seele, sie muß mittönen wie die Sprache tönt. Aber wie mir das Schmerzliche im Leben zu kränkend auf die Seele fällt, daß ich fühl wie meine Natur schwach ist. So fühl ich in diesem Miterleiden eines Vergangnen Verlebten, was erst im griechischen Dichter in seinen schärfsten Regungen durch den Geist zum Lichte trat, und jetzt durch diesen schmerzlichen Übersetzer zum zweitenmal in die Muttersprache getragen, mit Schmerzen hineingetragen – dies Heiligtum des Wehtums, – über den Dornenpfad trug er es schmerzlich durchdrungen. (StA 7/4, 190)

Die Ödipus-Übersetzung, insbesondere ihre sprachliche Beschaffenheit, ist Ausgangspunkt für eine exaltierte Leidensverherrlichung, wie man sieht, die deutlich in Identifikation mündet. Die antike tragische Figur, der „schmerzliche Übersetzer“ und

|| 59 Darauf ist sie oft reduziert worden. Vgl. Bothe (1992) 25–34, wo die Günderode unter dem Stichwort „romantische Poetisierung der Biografie“ erörtert wird, während „romantische Werkrezeption“ lediglich den Männern Brentano und Arnim zugestanden wird. Vgl. auch die umsichtigeren Anmerkungen Becks zu den Dokumenten von Bettinas Hölderlinrezeption in der StA, vor allem zur Günderode 7/4, 200–209. Beck erkennt einerseits die historische und ästhetische Bedeutung von Bettinas Würdigung der Sprache Hölderlins. Andererseits erörtert er ihre „Leichtfertigkeit“ im Umgang mit Hölderlins Sophokles-Anmerkungen.

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die Dichterin sind im „Heiligtum des Wehtums“ vereint.60 Sprache erlangt hier auch die Bedeutung eines körperlichen Mediums, womöglich auch im Gefolge von Hölderlins Anmerkungen. In körperlich-performativer Form kulminiert dann nicht umsonst Bettinas Hölderlin-Begeisterung: Unmittelbar darauf wird von jener Transformation einer Tragödienpassage zum Klagelied für den persönlichen Sing-Gebrauch berichtet, die schon erörtert worden ist. Der Weg, auf dem sich Bettina von Arnim dem romantisierten Phänomen Hölderlin nähert, ist bei aller Eigenartigkeit und Rührseligkeit klar, und in dieser Form sollte ihre Hommage an den Dichter auch rezipiert werden. In ihrer Rekonstruktion der Aufnahme von Sinclairs Hölderlin-Botschaft unter den Romantikern um 1806, die wohl etwas prosaischer als in ihrer Schilderung ausgefallen sein dürfte,61 verbindet sie die Reaktionen der Dichtergemeinschaft von damals – Brentano, Arnim, Günderrode und bestimmt auch sie selbst – mit weiteren Etappen der Hölderlin-Rezeption der 181030er Jahre (Arnim, Waiblinger, Carriere usw.) sowie mit dem eigenen späteren Lektüre-Erlebnis. Ergebnis dieser Komposition aus Gehörtem, Gelesenem und Erlebtem ist, wie erörtert, ein Unikum der Hölderlin-Rezeption des 19. Jahrhunderts: Die produktive Transformation von Hölderlins Übersetzung in eine performative Wort-Musik-Form. Es ist nicht immer möglich, und auch nicht unbedingt notwendig, zwischen einer „originellen“ Rezeption Bettinas und ihren „Anleihen“ bei anderen zu unterscheiden. Man kann etwa durchaus vermuten, dass sie beim Verfassen der Günderode auf Notizen der Worte Sinclairs oder aber auf Veröffentlichungen oder auch Manuskripte ihres verstorbenen Mannes bezüglich Hölderlin zurückgreifen konnte.62 Wie dem auch sei, Bettina kommt das Verdienst zu, der minoritären Wertschätzung von Hölderlins Übersetzungs- und Kommentararbeit zu Sophokles eine Form gegeben zu haben, die rezeptionsfähig war – zwar keine kritische oder essayistische, geschweige denn wis-

|| 60 Die Identifikation ist natürlich ein Zeichen für die biographisch ausgerichtete Rezeptionsfolie, die auch Bettinas Hölderlinbild prägt – als Leidender wird Hölderlin dem Ödipus, der Autor/Übersetzer der fiktionalen Figur, angenähert. Ähnliches geschieht in der Hyperion- und in der Empedokles-Rezeption: Bettinas Hölderlin-Bild ist nicht zuletzt darin für das 19. Jahrhundert exemplarisch, dass es die verschiedenen Stränge der Rezeption zusammenbringt und zugleich bei späteren Autoren Schule macht. So findet man die Ödipus-Hölderlin-Parallele im Zeichen des Leidens bereits 1844 in Johannes Minckwitzs Ode Auf Hölderlins Tod: „Blind war Oedipus [...] Ihm gleich, weiltest du blind unter den Sehenden. [...] War unglücklicher einst Laïos’ armer Sohn / Mitleidswerter? Du trugst geistige Nacht, indeß / Sein Leiden empfand vervielfacht / Der unselige müde Greis“ (StA 7/3, 526f.). 61 In einem Brief Brentanos an Achim von Arnim vom Oktober 1806 wird Sinclair als „unangenehmer, ungeduldiger Mensch“ bezeichnet (StA 7/4, 354). 62 Seltsamerweise fehlt m.W. in Bettinas Hölderlin-Rezeption eine auch nur flüchtige Erwähnung des Empedokles, obwohl die Tragödienfragmente Achim von Arnim so intensiv und nachhaltig fasziniert hatten.

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senschaftliche Form, sondern eine fiktionale, die stark durch den „Genie & Wahnsinn“-Diskurs bestimmt wurde. Gerade auf diese Art und Weise erwies sich jedoch Bettinas „Rettung“ Hölderlins als sehr wirkungsmächtig. Dies ist für die Fragestellung dieser Arbeit von besonderer Bedeutung, wie nun am Beispiel „Rhythmus“ zu zeigen ist. Bereits Achim von Arnim hatte in den Ausflügen mit Hölderlin jene Stelle aus den Antigone-Anmerkungen zitiert, in der vom „Rhythmus, im höhern Sinne, oder [dem] kalkulable[n] Gesetz“ die Rede ist. Arnims kommentarlose Nennung des Begriffs im Rahmen der erstmaligen Auseinandersetzung mit den Gedankengängen der Sophokles-Anmerkungen wird in der Günderode zu einer regelrechten Rhythmus-Obsession. Der Wortstamm kommt im ganzen Buch einundvierzigmal vor, in den Hölderlin-Passagen wird „Rhythmus“ zum Schlüsselwort. Die ganze Poetologie Hölderlins liest Bettina im Zeichen des Rhythmus – freilich entsprechend der fiktional-dokumentarischen Hybridität des ganzen Buches als angebliche Zitate aus den Reden Hölderlins, die Sinclair teils mündlich, teils schriftlich vermittelt habe. Hier seien nur einige Passagen angeführt aus dem Wortschwall, mittels dessen die Autorin sich Wendungen Hölderlins anverwandelt, in manchem sie vereinfachend oder missverstehend. Doch was in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht am bedeutsamsten erscheint, ist ihre Aufladung der hölderlinschen Ausdrücke mit Faszination und Pathos: Die Gesetze des Geistes aber seien metrisch, das fühle sich in der Sprache, sie werfe das Netz über den Geist, in dem gefangen, er das Göttliche aussprechen müsse, und so lange der Dichter noch den Versaccent suche und nicht vom Rhythmus fortgerissen werde, so lange habe seine Poesie noch keine Wahrheit, denn Poesie sei nicht das alberne sinnlose Reimen, an dem kein tieferer Geist Gefallen haben könne, sondern das sei Poesie: daß eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, daß nur im Rhythmus seine Sprache liege, während das poesielose auch geistlos, mithin unrhythmisch sei [...]. Nur der Geist sei Poesie der das Geheimniß eines ihm eingebornen Rhythmus in sich trage, und nur mit diesem Rhythmus könne er lebendig und sichtbar werden, denn dieser sei seine Seele, aber die Gedichte seien lauter Schemen, keine Geister mit Seelen. – Es gebe höhere Gesetze für die Poesie [...]. – Nur allein dem füge sich der Rhythmus, in dem der Geist lebendig werde! [...] Und jedes Kunstwerk sei Ein Rhythmus nur, wo die Cäsur einen Moment des Besinnens gebe, des Widerstemmens im Geist, und dann schnell vom Göttlichen dahingerissen, sich zum End schwinge. So offenbare sich der dichtende Gott. Die Cäsur sei eben jener lebendige Schwebepunkt des Menschengeistes, auf dem der göttliche Strahl ruhe. – Die Begeistrung welche durch Berührung mit dem Strahl entstehe, bewege ihn, bringe ihn ins Schwanken; und das sei die Poesie die aus dem Urlicht schöpfe und hinabströme den ganzen Rhythmus in Übermacht über den Geist der Zeit und Natur, der ihm das Sinnliche – den Gegenstand – entgegentrage, wo dann die Begeistrung bei der Berührung des Himmlischen mächtig erwache im Schwebepunkt, (Menschengeist), und diesen Augenblick müsse der Dichtergeist festhalten und müsse ganz offen, ohne Hinterhalt seines Karakters sich ihm hingeben [...]. (StA 7/4, 195–197)

Die seitenlange eigenwillige Umschreibung, die zentrale Begriffe von Hölderlins Anschauungen wie etwa Lebendigkeit, Zäsur, Körper herausarbeitet und sie zeitgemäß

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im Lichte des Wahnsinns deutet,63 kulminiert in der von späteren Interpreten sogar als authentisches Wort Hölderlins wiederaufgegriffenen Gnome Alles ist Rhythmus: Einmal sagte Hölderlin, Alles sei Rhythmus, das ganze Schicksal des Menschen sei Ein himmlischer Rhythmus, wie auch jedes Kunstwerk ein einziger Rhythmus sei, und alles schwinge sich von den Dichterlippen des Gottes, und wo der Menschengeist dem sich füge, das seien die verklärten Schicksale, in denen der Genius sich zeige, und das Dichten sei ein Streiten um die Wahrheit, und bald sei es in plastischem Geist, bald in athletischem, wo das Wort den Körper (Dichtungsform) ergreife, bald auch im hesperischen, das sei der Geist der Beobachtungen und erzeuge die Dichterwonnen, wo unter freudiger Sohle der Dichterklang erschalle, während die Sinne versunken seien in die notwendigen Ideengestaltungen der Geistesgewalt die in der Zeit sei. (StA 7/4, 198)

Die Bettina-Brentano-Forschung verweist auch auf mögliche vor-hölderlinsche Quellen für ihre Rhythmus-Ausführungen (Hemsterhuis, Heinse);64 darüber hinaus ist die Bedeutsamkeit des Begriffs selbstverständlich im Rahmen der seit Anbeginn für die Romantik charakteristischen, ja programmatischen musikzentrierten Verschmelzung von Kunst und Leben einerseits sowie von Kunst und Kunstreflexion andererseits zu sehen. Ebenfalls plausibel erscheint jedoch die Annahme, dass beim Verfassen der Günderode-Briefe die Lektüre von Hölderlins Sophokles-Anmerkungen, in denen insgesamt sechsmal vom „Rhythmus“ die Rede ist,65 das Interesse der Dichterin für die Rhythmus-Frage wieder entfachte und womöglich die durch Sinclair vermittelten Hölderlin-‚Kenntnisse‘ reaktivierte. Damit läge die Auseinandersetzung mit Hölderlin den meisten Rhythmus-Passagen der Günderode zugrunde.66 Bettinas Aneignung von Hölderlins Anmerkungen ist nicht nur per se als Einzelfall produktiver Rezeption von Bedeutung, wie etwa in der Bearbeitung und Vertonung der Ödipus-Verse, sondern auch rezeptionsgeschichtlich. Die nicht einhellig positive, vielmehr polarisierte Reaktion auf das Günderode-Buch war zwangsläufig auch mit der Rezeption der darin enthaltenen Hölderlin-Paraphrasen verbunden. Auch || 63 Damit gebührt Bettina Brentano das Verdienst, sich als erste mit den Theoremen Hölderlins beschäftigt zu haben, die erst im späten 20. Jahrhundert im Rahmen produktiver und kritischer Rezeption ihre Wirksamkeit entfalten sollten. Vgl. die Passage, in der die Begriffe vom „Tödlichfaktischen“ und „Mord aus Worten“ aus den Antigone-Anmerkungen frei wiedergegeben und weitergesponnen werden: „Der Leib sei die Poesie, die Ideengestalt, und dieser, sei er ergriffen vom Tragischen, werde tödtlich factisch; denn das Göttliche ströme den Mord aus Worten, die Ideengestalt, die der Leib sei der Poesie, die morde – so sei aber ein Tragisches, was Leben ausströme in der Ideengestalt – (Poesie); denn alles sei tragisch. – Denn das Leben im Wort (im Leib) sei Auferstehung (lebendig factisch), die bloß aus dem Gemordeten hervorgehe“ (StA 7/4, 196). 64 Vgl. BWB 1, 1164f. 65 Viermal kommt bei Hölderlin auch das abgeleitete Adjektiv „(gegen-)rhythmisch“ vor. 66 Neben dem zentralen Begriff Rhythmus können auch weitere Ausführungen Bettinas mit Hölderlins Anmerkungen in Verbindung gebracht werden; in der oben angeführten Stelle etwa der Verweis auf den „athletische[n Geist], wo das Wort den Körper [...] ergreife“ (vgl. oben, 1.4). Auch im späteren Illius Pamphilius (vgl. oben, Anm. 48) rekurriert der Begriff in Bezug auf Hölderlin (vgl. FHA 9, 419).

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diesbezüglich kann der Rhythmus-Diskurs als Indikator für auf den ersten Blick wohl unerwartete Filiationslinien bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein gelten. Nicht nur die Lyrikergeneration eines Emanuel Geibel kam um 1840 zu „unsere[m] deutschen Griechen, de[m] unglücklichen Hölderlin [...] über den Zauber und die Gewalt des Rhythmus“, wie sie ihm Bettinas Günderode vermittelte;67 nicht nur Publizisten des Vor- und Nachmärz wie Theodor Opitz fesselte „der göttlich-freie Rhythmus der Poesie Hölderlin’s“ unter dem Eindruck der Günderode-Schilderungen.68 Noch sechzig Jahre später wirkt ihre ‚Rettung‘ von Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen nach, 1903 wird Karl Wolfskehl dem eine Hölderlin-Ausgabe bei Diederichs vorbereitenden Paul Ernst empfehlen, auch Bettinas „unbedingt authentische“ HölderlinPassagen in der Günderode zu berücksichtigen (Kelletat 1968, 263). Noch 1913 wird der von Wolfskehl ebenfalls beratene Norbert von Hellingrath, der vermittels Hölderlins Sophokles auch dessen Pindarübertragungen ‚entdeckt‘ und veröffentlicht hatte, Bettinas Günderode sowohl in seiner Dissertation (1910) als auch im Anhang zum epochemachenden fünften Band seiner Hölderlin-Ausgabe zu den „wichtigere[n] Ausführungen über Hölderlins Sophoklesübertragungen“ zählen (Hell. 5, 348, vgl. 3.1). 2.1.2.3 In hora mortis. Hölderlins Sophokles in den 1840er Jahren Die falsche Nachricht von Hölderlins Hinscheiden zirkulierte bereits seit zwei Jahrzehnten, als am 7. Juni 1843 der 73-jährige im Turm tatsächlich verstarb. Es ist zu Recht bemerkt worden, dass solch makabre Vorwegnahme des Todes Zeichen des morbiden Interesses seitens einer gewissen Publizistik am Los des geisteskranken Dichters war69 – die breitere Kreise umfassende Anteilnahme an Hölderlins Schicksal war ihrerseits Begleitphänomen einer ernsteren Beschäftigung mit ihm und seiner Dichtung, die bei allem Biographismus in Einzelfällen Glanzleistungen erreicht hatte, wie im vorigen Kapitel am Beispiel der angeblich für das ganze neunzehnte Jahrhundert verkannten Sophokles-Übersetzungen gezeigt wurde. Die 1840er Jahre fangen mit Bettinas Verherrlichung des Sprachvirtuosen und Meisterübersetzers in der Günderode an; ihren Höhepunkt erreichte die damalige Rezeption mit den 1846 von Christoph Schwab herausgegebenen Sämmtlichen Werken sowie mit der auf ihnen basierenden 1848 von Alexander Jung veröffentlichten ersten

|| 67 Geibel an Bettina, November 1841. Vgl. StA 7/3, 264f. Vgl. auch sein 1841 in der Sammlung Zeitstimmen erschienenes Gedicht Abschiedsworte an den Leser mit dem von Bettina inspirierten Bild Hölderlins als leidender Dichter: „Und dein Haupt, o Schwan der Griechen, schönheitstrunkner Hölderlin / Sollte statt der Lorbeerkrone nur ein Dornenkranz umzieh’n“ (StA 7/3, 514f.). 68 Vgl. StA 7/4, 236. Bezeichnenderweise zitiert Opitz die Hölderlin-Passagen aus Bettinas Günderode, als ob es sich um authentische Worte des Dichters handelte. 69 Vgl. StA 7/4, 172f.

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Monographie zu Hölderlin.70 Eine Konjunktur erlebten die Sophokles-Übersetzungen in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Wie bereits erwähnt, veröffentlichte Schwab lediglich im biographischen Teil des zweiten Bandes einzelne Passagen aus den Anmerkungen; die Übersetzungen wurden programmatisch weggelassen. Damit folgte Schwab einerseits den editionspolitischen und ästhetischen Leitlinien des so genannten „Schwäbischen Kreises“ von Dichterverehrern, dem er selber als Galionsfigur angehörte, und fungierte andererseits für die späteren Hölderlin-Editoren des 19. Jahrhunderts als Vorbild. Den nicht nur aus Berlin laut werdenden Forderungen einer wirklichen Gesamtausgabe kam er nicht nach.71 Ist im Vorwort des ersten, die Gedichte und Hyperion beinhaltenden Bandes lapidar davon die Rede, dass die Sophokles-Übersetzungen „zu wenig Werth [...] und allgemeines Interesse“ erregen würden, „als daß sie die Aufnahme in diese Sammlung verdient hätte[n]“ (Schwab 1, VI), so erwähnt Schwab im Folgenden Arnims Ausflüge und Karl Rosenkranz’ Hölderlin-Charakteristik in Aus Hegels Leben72 als wichtige Vorläufer. Vom ersteren hat er nicht die Annäherungsversuche an die tragische Sprache Hölderlins, jedoch vielleicht das Interesse an den Anmerkungen übernommen, die er wie erwähnt im zweiten Band wenigstens auszugsweise anführen wird. Gänzlich abgeneigt hingegen zeigt sich Schwab gegenüber Bettina Brentanos Mischung aus Fiktion, Erhörtem/Gelesenem und Fortgeschriebenem in ihrem Günderode-Buch, das er den schlichten Fiktionalisierungen Kerners und Waiblingers gleichsetzt: Was Bettina in der Günderode dem wahnsinnigen Hölderlin in den Mund legt, das kann wohl auf strenge historische Wahrheit so wenig Anspruch machen, als, was Justinus Kerner in den Reiseschatten den wahnsinnigen Holder, oder Waiblinger den irren Phaeton [...] sagen lässt, obgleich diesen Ereignissen die Beobachtung Hölderlins ihre Entstehung gegeben hat. (Schwab 1, XI)

|| 70 Die von Gustav Schlesier geplante Untersuchung zu Hölderlin blieb hingegen unvollendet. Die tradierten Exzerpte, die zeitgleich mit Schwabs Arbeit an der Gesamtausgabe entstanden, zeigen, dass Schlesier bei seinen Vorarbeiten auch inzwischen verschollene Briefe berücksichtigen konnte. Vgl. dazu Steimer (2002). 71 Achim von Arnim hatte bereits 1818 die Forderung geltend gemacht. Moritz Carriere schrieb dann am 18. Januar 1842 einen Brief an Cotta: „Freilich müßte wohl sein Sophokles mit dem Hyperion u den Gedichten verbunden werden, u die Ausgabe der letzern bedarf einer Vervollständigung“. Bezeichnenderweise bekräftigte er sein Anliegen, indem er auch auf Die Günderode und auf eigene Schriften hinwies, in denen „Hölderlin, der Prophet einer schönern Zukunft für Staat und Kirche, der größte Elegiker, der je gelebt“, bereits gewürdigt worden sei (StA 7/3, 270). 72 Aus einem Brief von Rosenkranz an Christoph Theodor Schwab vom 13. Juli 1843 geht hervor, dass dieser Rosenkranz’ Hölderlin-Kapitel gelesen hatte; die beiden tauschen auch Gedanken über Datierungs- und Einflussfragen in Sachen Hölderlin, Hegel und Schelling sowie über das Verbleiben von Sinclairs Nachlass aus. Vgl. StA 7/3, 354 (Erstdruck in Pöggeler 1973, 32f., nun auch in Rosenkranz 1994, 304f.).

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Hat Schwab die Zitate aus Hölderlins Tragödientheorie in Bettinas Variationen nicht erkannt? Hat er ihre begeisterte Aufnahme und Transformation der Ödipus-Übersetzung als pure Fehleinschätzung missachtet? Wohl kaum. Schwab war sich zweifellos der intertextuellen Arbeit Bettinas und somit des Grundunterschieds zu den zitierten Biofiktionen bewusst – diese Spur hätte er verfolgen können. Bei der Ablehnung von Bettinas romantischer Nachdichtung, die im Übergehen der Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen ihre editorische Entsprechung fand, spielen andere Faktoren eine wichtige Rolle. Neben der allgemeinen Skepsis gegenüber Bettina sind einerseits der feste Vorsatz zu nennen, Hölderlin als „eine[n] unserer größten Lyriker“, als herausragenden Vertreter des nationalen Kanons zu etablieren, und in Verbindung damit andererseits die zensierende Umsicht mit den Werken, die „Spuren des Wahnsinns trugen“ (Schwab 1, XIII). Nicht unwichtig war dabei auch der Umstand, dass die Sophokles-Texte als solche bereits rubriziert worden waren, etwa in Waiblingers Leben, Dichtung und Wahnsinn, der für Schwab „am meisten Werth“ für seine Edition und Rekonstruktion hatte (XII). Wenn Schwab im biographischen Teil seiner Ausgabe auf Hölderlins SophoklesÜbersetzungen zu sprechen kommt, verkennt er vollkommen deren sprachliche Beschaffenheit, die „wohl an Hölderlins frühere Weise“ erinnere (Schwab 2, 310). Darüber hinaus kritisiert er ohne merklichen Fortschritt gegenüber den zeitgenössischen Rezensionen ihre fehlende metrische Entsprechung zu den Originalen in den Chorpartien, ihre teilweise exzessive Abhängigkeit, teilweise offensichtliche Unkorrektheit dem Griechischen gegenüber. Fazit: Sie sind insgesamt „undeutlich und nebelhaft“ (ebd.). Entschieden mehr Raum gewährt er den Anmerkungen, wobei er, wie erwähnt, wahrscheinlich den Spuren Achim von Arnims folgt, an dessen Urteil auch die allgemeine Charakterisierung zu Beginn seiner Ausführungen erinnert: „Noten [...], in welchen treffende Gedanken abwechselnd aus dem sonderbar verworrenen Chaos rätselhafter und unsinniger Bemerkungen hervortauchen“ (ebd.). Über das Anführen einiger längerer Zitate oder Umschreibungen des Inhalts geht Schwab nicht hinaus. Die Antigone-Anmerkungen, „immer unverständlicher und verworrener“ (312), werden nahezu ganz übergangen – eine solcherart marginale, zusammenhangslose und höchst bruchstückhafte „Edition“ konnte keine kritische oder aktive Rezeption befördern. Alexander Jungs Hölderlin-Buch (1848) trägt deutliche Spuren dieser editorischen Sachlage. Er folgt bei der Erörterung der einzelnen Werke oder Werkgruppen explizit Schwabs Einteilung: Nach der vom Herausgeber [...] passend getroffenen Zusammenstellung gruppiren sich die Werke Hölderlins, 1) Gedichte; 2) Hyperion oder der Eremit in Griechenland; 3) Briefwechsel; 4)

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vermischte Briefe; 5) Jugendgedichte; 6) Prosaisches; 7) Hölderlins Leben; 8) Gedichte aus der Zeit des Irrsinns; 9) Anhang. (Jung 1848, 27)73

Das Fehlen einer gesonderten Berücksichtigung der Empedokles- und Sophokles-Projekte hat in Jungs Interpretation verschiedene Gründe und unterschiedliche Folgen für die Theatertexte Hölderlins. Ist die Philosophentragödie als dramatisches Gedicht unter der ersten Werkgruppe eingestuft und wird sie dementsprechend eingehend erörtert, so leiden hingegen die Ödipus- und Antigone-Übersetzungen und -Anmerkungen um die Mitte des Jahrhunderts schlicht unter dem Mangel an Kanonisierung: Editorische Zugriffschwierigkeit und phrasenhafte Interpretation bedingen einander. Selbst der Baltendeutsche Jung, der doch Kontakt zu den nördlichen Hölderlin-Kreisen in Königsberg und Berlin hatte,74 Bettinas Günderode-Buch mit Begeisterung gelesen hatte und als einen „göttliche[n] Dialog des Platon“, als eine „erhabene Ideefuge des Universums“ bezeichnete,75 fand zu den späten Theaterprojekten Hölderlins keinen Zugang. „Hölderlin wird aufsteigen am literarischen Himmel Deutschlands wie ein Stern, wenn Deutschland Dichter von seiner Großartigkeit der Begriffe und Einfachheit des Ausdrucks vertragen kann“ – diesen der Zukunft zugewandten Worten der Karoline von Woltmann, die Jung seiner Hölderlin-Monographie als Motto voranstellte, ist vielerorts prophetische Bedeutung im Hinblick auf die so genannte Hölderlin-Renaissance zugesprochen worden. In ihrem geschichtlichen Zusammenhang gelesen und im Kontext der Aussparung des Sophokles zeugen sie vielmehr von einem allzu konservativ-klassizistischen Standpunkt, um Hölderlins doch nicht so

|| 73 Für diese Entscheidung kritisiert wurde Jung sofort von Rosenkranz, dem Freund aus gemeinsamen Königsberger Jahren, der in einem Brief vom 30. Januar 1849 nach einigen Lobesworten über die Monographie einen scharfen Tadel gerade im Hinblick auf die Anordnung der Kapitel nach Schwabs Schema ausspricht: „Wie sehr bedauere ich noch einmal, daß Ihr Eigensinn diese trefflichen Darstellungen dadurch beeinträchtigt hat, daß sie [sic!] statt der natürlichen Folge sich an die künstliche gehalten haben! Hätten Sie die notwendige Genesis der zufälligen Gruppierung des Herrn Schwab vorgezogen, denken Sie, lieber Jung, wie das Ihre Kombination befruchtet, wie das Ihre Penetration geschärft, wie das den Pomp Ihres Stils erst recht entfaltet hätte“. Kritik wird darüber hinaus bemerkenswerterweise daran geübt, dass Jung „die tiefe Einwirkung des Sophokles, namentlich der Ödipodie, auf Hölderlin“ nicht berücksichtigt habe (Rosenkranz 1994, 413f.). 74 Zu Karl Rosenkranz und Alexander Jung als Vertretern des Königsberges Kreises sowie zu ihrer Verbindung mit der Berliner Hölderlin-Rezeption vgl. Kelletat (1970). Rosenkranz’ Hölderlin-Charakteristik (1843 in Aus Hegels Leben, vgl. StA 7/4, später in Buchform in G.W.F. Hegels Leben, Berlin 1844) ist ein einflussreiches Dokument der frühen Hölderlin-Rezeption und weckte unter anderem das Interesse am philosophischen Hintergrund von Hölderlins Werk. Darüber hinaus prägte Rosenkranz metaphorische Formeln, die lange Zeit Schule machen sollten (etwa „incarnirtes Hellenentum“; vgl. StA 7/4, 225–231 sowie Castellari 2002, 89–92). Zur „nordischen“ Rezeption Hölderlins zwischen Baltikum und Spree, vom Vormärz bis zu Theodor Fontane, vgl. Zuberbühler (1997) 89–114. 75 Alexander Jung: Vorlesungen über die moderne Literatur der Deutschen (1842, zit. aus StA 7/4, 207).

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,einfach‘ ‚ausgedrückte‘ Theaterprojekte in ihrer experimentellen Komplexität zu erfassen.76 Man könnte versucht sein, das Fehlen von Hölderlins Sophokles in den führenden Rezeptionsdokumenten der 1840er Jahre als Folge einer Konkurrenz der beiden Hölderlin-Diskurse zu lesen, die ja auf recht unterschiedliche Weise der so genannte „schwäbische“ und der „Berliner“ Kreis pflegten. Spannungen sind belegt und die kühle Aufnahme von Bettinas Günderode in Tübingen könnte als Zeichen gelten für die aneinander vorbeigehenden Rezeptionsstränge. Darüber hinaus sind die spärlichen Würdigungen von Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, auf die noch einzugehen ist, beinahe ausschließlich als Filiation der Arnim-Brentano-Linie zu interpretieren, dagegen sollte sich die bio-pathographische (Waiblinger) bzw. editionspolitisch-biographische (Schwab/Uhland/Schwab) Degradierung des Spätwerks nachhaltiger auswirken. Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, welche die verschiedenen Schattierungen auf zwei Fronten reduzierte, würde jedoch der facettenreichen Konstellation nicht gerecht – Alexander Jungs Position wäre ein treffendes Beispiel dafür, dass eine ‚nördliche Hölderlinsozialisation‘ keineswegs automatisch zur Begeisterung für Hölderlins Sophokles führte. Vielmehr sind vielschichtige Wirkungskräfte am Werk, die sich gegenseitig beeinflussen, so dass man bei der Zuschreibung zu „Schulen“ behutsam vorgehen und nur vor expliziten Verweisen auf bestimmte Interpretationslinien Filiationen ausmachen sollte.77 Als gesichert kann wohl gelten, dass es mehr als Jungs historisch bedeutsame, aber bis auf einzelne Fälle nicht so resonanzreiche Monographie, Christoph Schwabs Auswahl für die Sammlung 1846 war, die sich für den Hauptstrom der Hölderlin-Rezeption ab Mitte des 19. Jahrhunderts als richtungsweisend erwies. Noch in der Zeit zwischen Bettinas leidenschaftlichem Lobpreis des „Rhythmus“ und Christoph Schwabs postumer die Übersetzungen nicht berücksichtigender Edition, brach sich die Hölderlin-Begeisterung einer neuen Generation Bahn. In den Jahren um Hölderlins Tod herum erscheinen nämlich die bedeutsamsten Dokumente der Vormärz-Rezeption, die vornehmlich durch Autoren aus jungdeutschen und radikalen Kreisen repräsentiert ist. Dabei wird Hyperion meist als das zentrale Werk Hölderlins gewürdigt. Das geschieht nicht selten im Rahmen einer politisch zugespitzten Interpretation, die aus Hölderlin in vielerlei Hinsicht einen Zeitgenossen macht. Als

|| 76 Karoline von Woltmann gehörte zum Berliner Kreis der Hölderlin-Verehrer; nichstdestotrotz stand sie Bettina Brentanos Verklärung des wahnsinnigen Dichters in der Günderode sehr kritisch gegenüber. Vgl. ihren Brief an Jung vom 30. August 1843: „Daß sein [Hölderlins; M.C.] Wahnsinn eine phantastisch abstracte Bedeutsamkeit gehabt habe glaube ich nicht; Bettina träumt von dergleichen einen Modentraum“. Im selben Schriftstück ist auch der von Jung als Motto benutzte wirkungsvolle Satz zu finden (StA 7/3, 462). 77 Vgl. Bothe (1992) 22–74; Gaier (2002a) 468–480. Zu schematisch Pellegrini (1956, Übers. 1965).

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„politischer Dichter in der schönsten Bedeutung, Dichter des ganzen, vollen Menschen, Dichter im Reich der Freiheit“ wurde er etwa vom Feuerbachianer Theodor Opitz 1844 bezeichnet (StA 7/4, 236).78 Die bei Vormärz-Autoren je nach Gesinnung wechselnden Aussagen über politische oder kritische Elemente in Hölderlins Dichtung – eine Neuigkeit in der Hölderlin-Rezeption – vermeiden bis auf eine einzige Ausnahme die Sophokles-Anmerkungen, obwohl einige Passagen (etwa aus den Antigone-Anmerkungen) durchaus in eine solche Richtung gelesen werden können, wie es im 20. Jahrhundert auch der Fall sein sollte. Nicht nur dieser Umstand lässt den Eindruck entstehen, dass hier in gewisser Hinsicht eine „Rezeption der Rezeption“ vorliegt – nicht jedoch allgemein, so als ob diese Autoren kein genuines Hölderlin-Erlebnis aufzuweisen hätten und sozusagen nur aus zweiter Hand berichteten, wie Henning Bothe unterstellt (Bothe 1992, 37). Vielmehr entspricht solch selektive Rezeption der damaligen editorischen Situation und dem noch prekären Kenntnisstand hinsichtlich des Dichters und seines Werks: Den ausführlichen aus eigener Auseinandersetzung mit den Texten herrührenden Worten über den Briefroman und die weiteren Werke Hölderlins aus den 1790ern stehen oft nur vage Kenntnisse und dementsprechend auch ungenauere Aussagen oder Behauptungen aus zweiter Hand über das übrige Oeuvre und, zeittypisch, über das Paar Leben & Wahnsinn gegenüber. Erstaunlich früh für einen noch nicht kanonisierten Dichter wie Hölderlin besteht zudem bereits um die Mitte des Jahrhunderts ein zwar nicht umfangreicher, jedoch intensiv zitierter Rezeptionskanon, eine Tradition der Darstellung, Auslegung und Würdigung, auf die explizit verwiesen werden kann: Es handelt sich dabei in erster Linie um Waiblingers und Bettinas Skizzen, aber auch um kurze Erwähnungen in literaturgeschichtlichen Arbeiten, zu denen bald die ersten gewichtigeren Stellungnahmen aus den 1804er Jahren hinzukommen: Theodor Mundt, Karl Rosenkranz bis zu Schwab und Jung.79 Eins der schönsten Stücke über Hölderlin überhaupt, nicht nur aus dem Vormärz, ist Theodor Mundts Würdigung in seiner 1842 erschienen Geschichte der Literatur der Gegenwart (StA, 7/4, 262–265).80 Sie kann exemplarisch angeführt werden für die || 78 Zur Hyperion-Rezeption im Vormärz vgl. Castellari (2002) 73–102. 79 Die Ausbildung einer solchen frühen „kritischen“ Tradition kommt etwa in dem immerhin fünfzig Seiten langen Hölderlin-Beitrag besonders klar zum Vorschein, den ein W.B. Mönnich im „Album des literarischen Vereins in Nürnberg für 1845“ veröffentlichte. Mönnich nimmt explizit auf Arnim, Menzel, Mundt und Rosenkranz sowie für biographische Daten auf Waiblinger und Schwab Bezug. Es beginnt damit eine Reihe kleinerer Arbeiten zu Hölderlin, die in den Jahren 1840–1880 meist Vorstellungen der erwähnten Autoren weitertradieren und nur selten von einer Auseinandersetzung mit den Primärtexten zeugen. Hinsichtlich der Sophokles-Übersetzungen referiert Mönnich ein diffuses Urteil, indem er über eine „Arbeit, welche namentlich in einigen Exkursen gar wunderliches Zeug enthalten soll“ schreibt. Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der „Arbeit“ selbst war entweder unmöglich oder wurde als unnötig erachtet (Mönnich 1845, 54). 80 Dabei handelte es sich um ein Unternehmen des Berliner Simion-Verlags: Friedrich Schlegels Geschichte der alten und neuen Literatur musste neu aufgelegt und mit einem Fortsetzungsband ergänzt

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soeben beschriebene Mischung aus eigenem, offensichtlich tief erschütterndem Lektüre-Erlebnis einerseits und der „Rezeption der Rezeption“ andererseits. Mundts Charakteristik gipfelt in der oft zitierten Bezeichnung Hölderlins als „tiefsinnige[r] Hieroglyphe der modernen Bildung“ (StA 7/4, 262). Im Unterschied zu anderen Vormärz-Autoren kommentiert Mundt auch Hölderlins Sophokles-Projekt ausführlich. Er erblickt Hölderlins Modernität gerade in den Anmerkungen: Es ist [...] die Übersetzung des Sophokles, an welche er seine eigenen gewaltigen Anschauungen vom Tragischen knüpfte, die er in Anhängen tiefsinnig, aber schon mit den Spuren der ihn ereilenden Geistesverwirrung, entwickelte. Es ist überhaupt merkwürdig, daß sein Wahnsinn an dieser Beschäftigung mit dem großen Dichter des Alterthums zum Ausbruch kam und aus denjenigen Untiefen des Geistes in ihm hervorstieg, in denen er sich die erschütterndste und zerstörendste Ansicht vom Tragischen zu begründen gesucht. Dies Tragische, oder „das Ungeheure, wie der Gott und Mensch sich paart,“ ist ihm besonders die zermalmende Niederlage der menschlichen Kraft, die zwischen ihrem sinnlichen Interesse und der ewigen himmlischen Bestimmung in die Mitte geworfen und aus der Einheit der gränzenlosen göttlichen Harmonie, die durch ihre That zu erreichen sie sich vermessen, sich wieder hinausgeschleudert sieht in die gränzenlose Trennung und Vernichtung. Solche Tragödie vollbrachte sich ihm auch in seinem eigenen Geschick, und dies war derselbe Zwiespalt, an welchem Hölderlin’s Geist scheiterte und der Vernichtung anfiel. Auf dieselbe Anschauung gründete er auch das wunderbare poetische Fragment: Empedokles, das sich in seiner Gedichtsammlung findet. (StA 7/4, 263f.)

Die Nähe zu Arnims Ausflügen, die Mundt eingangs in anderem Zusammenhang zitiert hatte, ist unübersehbar: lexikalische Übernahmen, das gleiche Zitat aus den Ödipus-Anmerkungen, ähnliche Vorbehalte angesichts der „Spuren der Verwirrung“, Herausarbeitung einer poetologischen Kontinuität zwischen dem Empedokles- und dem Sophokles-Projekt (vgl. oben, 2.1.2.1). Die biographisierenden Elemente – etwa die vermeintliche Affinität zwischen der Tragödientheorie und dem „Geschick“ des Dichters, die ansatzweise zum Kausalzusammenhang wird – sind durch andere Quellen inspiriert: Bettinas Günderode ist die wahrscheinlichste,81 die Mythographie des an den eigenen dichterischen Bemühungen zugrunde gegangenen Dichters ist jedenfalls eine Konstante der frühen Hölderlin-Rezeption. Die Abhängigkeit von früheren Rezeptionsdokumenten ist also offensichtlich. Nichtsdestotrotz darf sich eine Besprechung von Mundts Hölderlin-Porträt nicht auf diesen Quellennachweis beschränken. Mundts Leistung, die nur auf einer eingehenden persönlichen Beschäftigung mit Hölderlins Texten beruhen kann, ist kulturgeschichtlich bedeutsam und besteht in der Einsicht, dass Hölderlins antik-modernen Theaterprojekten ein Anspruch auf Wirkung in der Gegenwart zugrundeliegt. Dass || werden. Aufgenommen wurde Mundts Literaturgeschichte sehr gut. Dazu vgl. Hartmann (2003) 148– 153. 81 Bettinas Buch wird an anderer Stelle in der Geschichte der Literatur der Gegenwart ausführlich und begeistert besprochen, vgl. Hartmann (2003) 150.

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dabei Mundts als „jungdeutsch“ nur approximativ beschriebene historische Position eine Rolle spielt, ist selbstverständlich und keineswegs als diminutio zu verstehen.82 Mundt erblickt in Hölderlins Rückkehr zu Sophokles keine Flucht in die Antike, sondern eine Herausforderung für die Moderne: Vielleicht hat kaum ein Dichter das wahre Bedürfniß des modernen Geistes so tief empfunden und erkannt, als Hölderlin. Je mehr er sich an die Formen der Antike und an ihr plastisches Harmonieleben hingegeben hat, desto entschiedener gelangt er auch im Innern zu dem Gegensatz des antiken Geistes, nämlich der wahrhaft modernen Weltanschauung, die er in seinen Anmerkungen zu Sophokles an einer sehr merkwürdigen Stelle auf das Vaterländische begründet, indem er sagt: „Für uns, die wir unter dem eigentlichen Zeus stehen [...]“. (StA 7/4, 264)

Durch die Herausarbeitung des „Gegensatzes“ gelangt Mundt zu einem kritischen Verständnis des Sophokles-Projekts als moderne Fort- und zugleich Umschreibung der Antike, was Bettina Brentano im Rückgriff auf Hölderlins rhythmische Sprache als Gegenentwurf zur klassizistischen Antikebeschwörung produktiv rezipiert hatte. Die zitierte Stelle aus den Antigone-Anmerkungen ist dieselbe, die auch Arnim angeführt und ebenfalls als „merkwürdig“ bezeichnet hatte. Dieser Filiation aus dem Aufsatz des Romantikers durchaus bewusst, geht Mundt in der unmittelbar folgenden Schlusspassage seiner Hölderlin-Charakterisierung einen Schritt weiter und bestätigt damit sein progressiv-experimentelles Verständnis der Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen. Gerade mit Blick auf die Romantiker attestiert er Hölderlin die Fähigkeit „zu einer thatsächlicheren Gestaltung des modernen Geistes“. Dies Losringen „von der Reflexion zur Thatgestaltung“ (StA 7/4, 265) soll nicht, wie Adolf Beck anmerkt, „im praktischen, etwa politischen Sinne“ verstanden werden (StA 7/4, 267). Doch sind hier auch nicht so sehr die vaterländischen Hymnen gemeint, die der Mitherausgeber der Stuttgarter Ausgabe als mögliche Bezugspunkte anführt. Unmittelbar nach der Würdigung der tragödientheoretischen Passagen und der Herausarbeitung von Hölderlins auf die Moderne zielender Übersetzungs- und Erörterungsarbeit spielt Mundt eher auf eine konkrete Gestaltung bzw. Vollendung des Sophokles-Projekts als Grundlage für die „thatsächlichere Gestaltung des modernen Geistes“ an. Mundt erkennt in dem Theaterprojekt das Potential für eine Überwindung des Klassizismus („Übergang aus der classischen Bildung in ein nationales Literaturleben“), die zugleich auch eine Überwindung der Romantik gewesen wäre, da die Romantiker, so Mundt, „innerhalb des Reflextionsstandpunctes verblieben“ seien (StA 7/4, 265).

|| 82 Adolf Beck würdigt Mundts Hölderlin-Medaillon als „von den literaturgeschichtlichen Darstellungen Hölderlins von Seiten der Jungdeutschen die am ernsthaftesten bemühte, die am stärksten vom Gegenstand ergriffene, die gehalt- und selbst verständnisvollste“. Sie sei allerdings „unverkennbar von jungdeutscher Mentalität bestimmt“, etwa in der Beanspruchung Hölderlins für die „moderne Bildung“ (StA 7/4, 265f.).

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Somit aktualisiert er Hölderlins Sophokles-Projekt und verleiht ihm die Bedeutung eines kulturellen Entwurfs, der im Gegensatz zu anderen der nunmehr zu Ende gegangenen Kunstepoche Geltung für die Moderne erlangen. Wie Bettina Brentano in Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen einen anderen Rhythmus der Sprache erkannt hatte, der in ihrer Transformation als Fundament dichterischer Praxis und poetologischer Reflexion produktiv rezipiert und weitertradiert wird, so erkennt Mundt in Hölderlins Sophokles-Projekt eine andere Moderne, genauer: eine anders als die Klassik auf die Antike zurückblickende und sich dadurch anders als die Romantik konstituierende Moderne. In den frühen 1840ern also, während die Antigone von Tieck/Donner/Mendelssohn großen Erfolg erntete und der Dichter, der sich eine ganz andere Form der Wiederkehr antiker Tragödien auf der modernen Bühne vorgestellt hatte, im Turm dahinschied, glühte seine „lebendige Vorstellung“ unter der Asche der Vergessenheit noch einmal auf – wobei Mundts Würdigung zugegebenermaßen wenig nachwirken sollte. Der schon in den 1820er bis 1840er Jahren virulente Kurzschluss von Biographie und Pathographie bewirkt von 1843 an hinsichtlich der Übersetzungen und Anmerkungen einen regelrechten Blackout, der erst im 20. Jahrhundert enden wird. Dafür verantwortlich sind nicht zuletzt die Sämmtlichen Werke von 1846 und die auf ihnen basierenden Studien.

2.1.3 Die Verschollenen. Hölderlins Ödipus und Antigone im späten 19. Jahrhundert Ein Verschollener: so betitelte Georg Herwegh seinen pathetischen Hölderlin-Aufsatz, der zuerst 1839 in „Die deutsche Volkshalle“ und 1845 in einer Gedicht- und Essaysammlung erschien. Als „eigentlichste[r] Dichter der Jugend, dem Deutschland eine große Schuld abzutragen hat, weil er an Deutschland zu Grunde gegangen war“, wurde Hölderlin hier vom militanten Dichter zeittypisch politisiert, und selbst der Wahnsinn metaphorisch zur politisch begründeten Rückzugsgeste stilisiert: Aus unseren jämmerlichen Zuständen, ehe noch unsere Schmach voll wurde, hat er sich in die heilige Nacht des Wahnsinns gerettet, er, der berufen war, uns voranzuschreiten, und uns ein Schlachtlied zu singen. (StA 7/3, 198)83

|| 83 Aus den darauffolgenden Worten sowie aus seiner gesamten Argumentation geht klar hervor, dass Herwegh keineswegs die These des den Wahnsinn Simulierenden vorwegnimmt. Vgl. auch Bothe (1992) 230, der gegen Adolf Beck für die „metaphorische Bedeutung des Ausdrucks“ plädiert (StA 7/3, 201).

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Dass Hölderlin um 1840 jedoch kein Verschollener war, wusste selbstverständlich auch Herwegh, der kurzweilig Stiftler gewesen war und, wohl eigene Erlebnisse zitierend, davon berichtet, wie „wenige dichterische Köpfe [...] in Schwaben [sind], die Hölderlin nicht ein paar Strophen geweiht, oder in seiner Nähe ein Paar Stunden verlebt hätten“. Selbst seine Dichtung ist noch lebendig: „die großen Worte desselben [zünden] noch so mächtig in den jugendlichen Gemüthern, als ob sie erst gestern gesprochen worden wären“ (StA 7/3, 199). Vielmehr gilt ihm Hölderlin als der von einer älteren und konservativ gesinnten Generation Verkannte und Vergessene, und dies in ausdrücklich polemischem Ton, der in Frontstellung mündet: gegen die Editoren, die ihn nicht veröffentlichen („Warum führt Cotta nicht in würdiger Ausstattung den Dichter Hölderlin uns ins schwache Gedächtniß zurück?“, StA 7/3, 198), und vor allem gegen all jene, die sein Antike-Bild nicht verstehen konnten und können: Er hat auch wohl für die mit dem Althertum sich beschäftigende Jugend mehr Werth, als der größte Philolog. Er wollte uns das Schönste aus jenen classischen Zeiten erobern, den freien, großen Sinn. Mit solchen unbequemen Anforderungen fand er natürlich im Anfange dieses Jahrhunderts keinen großen Anklang. (StA 7/3, 199)84

Nicht wissen konnte Herwegh hingegen, dass Hölderlins „unbequeme Anforderungen“ in der zweiten Jahrhunderthälfte noch weniger „Anklang“ finden würden. Als „verschollen“ wird er als Dichter auch in den Jahren 1845–1905 sicher nicht gelten dürfen, sein Ödipus und seine Antigone aber wohl. Als der 34-jährige Wilhelm Dilthey in einer frühen Studie, die den bezeichnenden Titel Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinns (1867) trug, auf die Sophokles-Übersetzungen zu sprechen kommt, muss er vorerst bemerken: vor mir liegen die beiden ersten Hefte derselben, welche zum Druck gelangten, [...] sie sind nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen und heute schon zu einer großen Seltenheit geworden. (Dilthey 1867, 114)

Wenn nicht der einzige, so war Dilthey damals doch einer der wenigen, die sich um ein sachliches Urteil über die Rarität bemühten. Auch in den Editionen des späten 19. Jahrhunderts fehlten die Übersetzungen: sowohl in den 1884 in Tübingen von Karl Köstlin herausgegebenen ziemlich selektiven Dichtungen von Friedrich Hölderlin als auch in der zweibändigen Ausgabe, die Berthold Litzmann in Fortführung der Vorarbeiten seines Vaters Carl 1896 mit dem Titel Hölderlins gesammelte Dichtungen bei Cotta veröffentlichte (Köstlin; Litzmann junior). Mag für andere Sparten des Oeuvre Hölderlins die Feststellung zutreffen, dass „der Positivismus [...] die Hölderlinfor-

|| 84 Die Nähe zu Theodor Mundts drei Jahre später erschienener, viel ausführlicherer Hölderlin-Würdigung könnte darauf zurückgeführt werden, dass der Jungdeutsche Herweghs Aufsatz kannte.

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schung entscheidend befördert“ hat, denn „seine Leistungen sind vielfältig: Sie umfassen Arbeiten zu Biografie, Textkritik und Interpretation“ (Bothe 1992, 59), so blieben die Sophokles-Übersetzungen in der „Zeit grundlegenden Sammelns und Ordnens, in der letzten Phase auch schon einer chronologischen Organisation des Werkes wie der Briefe“ (Schmidt 1995, 106) noch von allen philologischen Bemühungen ausgeschlossen. Ein Blick in die postume Biographie des Carl Litzmann (1890) genügt, um zu verstehen, warum die dort als „steif und unbeholfen“ bezeichneten Sophokles-Übersetzungen sowie die „viel Unverständliches und Sinnloses“ beinhaltenden Anmerkungen nicht in die Werkausgabe aufgenommen wurden (Litzmann senior, 625f.). Wie Literaturhistoriker und Kritiker der Gründerzeit, auf die Litzmann verweist, wiederholt betont hatten, und wie weitere positivistisch eingestellte Forscher und Editoren noch im frühen 20. Jahrhundert behaupten sollten, ist Hölderlins gesamtes Spätwerk als Produkt des Wahnsinns zu bewerten – dementsprechend stellt für Köstlin und Litzmann das Aussparen der Werke „aus der Zeit des Irrsinns“ (Litzmann junior 1, 7) einen Akt der Rücksicht dem Dichter und seinem Renommee gegenüber dar. Die „Gesundheitsideologie“ (Müller-Seidel 1995) des späten 19. Jahrhunderts, deren Wirkung auch in der Interpretation von Werken der früheren und mittleren Phase Hölderlins zu spüren ist (etwa in dem verbreiteten Vorwurf der „Gräkomanie“), hatte tatsächlich das Hölderlin-Bild namhafter Literaturhistoriker wie Julian Schmidt, Rudolf Haym und Wilhelm Scherer bestimmt und durch sie auch eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Gesundheit, Realismus und Nation waren schon in der vorwilhelminischen Epoche die Kriterien gewesen, mittels deren Hölderlin und sein Werk unter ausdrücklicher Distanzierung von früheren Würdigungen in romantischen und nachromantischen Kreisen degradiert wurden (Kaulen 1994). So konnte bereits 1858 Julian Schmidt diejenigen tadeln, die „noch immer von der Idee erfüllt sind, das Genie sei etwas Abnormes, dem wirklichen Leben Widersprechendes und daher dem Wahnsinn verwandt“, und aus diesem Grunde in Hölderlin ihr „seltsame[s] Ideal“ erkannten und „seines subjectiven Unglücks wegen gewissermaßen die Nation in Anklagezustand setzten“ – Schmidts Maxime lautete dagegen: „Für uns aber, die wir in dem Genie nichts Anderes sehen als die höchste Concentrierung der Kraft und Gesundheit, kann ein solches Schicksal wol bedauernswerth sein, aber nicht zur Empfehlung gereichen“ (Schmidt 1858, 243). Die Mythologisierung des Wahnsinns wurde also mit dessen Pathologisierung beantwortet. Unter diesen Prämissen erübrigte sich eine Auseinandersetzung mit den Texten, die nach damaligem Verständnis Hölderlins Spätzeit – sprich der „Zeit des Irrsinns“ – entstammten, was den editorischen Umgang mit denselben rechtfertigte und umgekehrt: Einen „Zirkel des Mißverstehens“ hat man diesen Teufelskreis denn auch treffend genannt (Kaulen 1994, 557). Wurden die Übersetzungen, die späten Hymnen und selbst frühere Texte also einstweilen nicht berücksichtigt, so gestaltete sich die Auseinandersetzung mit anderen Werken umso intensiver, vor allem mit dem Klassi-

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ker der damaligen Hölderlin-Forschung: Hyperion. Dessen deutschlandkritische Stellen, von jungdeutschen und radikalen Autoren noch begeistert rezipiert, wurden nun zwar meist missbilligt, wenn nicht zensiert; die Überlegungen zum Briefroman von Rudolf Haym lassen jedoch die nuancierte und tiefgründige, obgleich durchaus ambivalente Rezeption des Hyperion im späten 19. Jahrhundert erahnen (Die romantische Schule, 1870).85 Wilhelm Scherers abschätzige Tirade gegen Hölderlin, der „keine dauernde Lectüre für einen vollen heutigen Menschen“ sei (Scherer 1874, 353), ist ein zwar bezeichnendes Beispiel für ein diffuses Unverständnis, sie reflektiert jedoch nicht den Standpunkt aller Germanisten jener Zeit.86 Hölderlin wurde im späten 19. Jahrhundert zuerst isoliert und mit dem Schwerpunkt auf einzelnen Werken bzw. Werkgruppen, seit den 1880er Jahren dann eingehender und vollständiger erörtert, mit wachsender Distanzierung von den kritischen Schemata der historischen Schule. Die „Wiederentdeckung“ im frühen 20. Jahrhundert, die zur Erschließung des Spätwerks führte, wurde durch Pionierarbeiten in den vorangehenden Dekaden vorbereitet und griff teilweise auch auf die wenigen, dafür begeisterten Zeugnisse der romantischen Hölderlin-Rezeption zurück. Daneben wären andere Formen der Rezeption in den Jahren 1850–1900 zu berücksichtigen, etwa die Präsenz Hölderlins in frühen Anthologien und in Taschenbuchreihen wie der „Groschen-Bibliothek“ und der „Universal-Bibliothek“,87 die publizistische Verbreitung sowie die regelrechte Epidemie von romanhaften Lebensdarstellungen und von gänzlich fiktionalen Werken, die zwar ein anekdotischfantastisches, manchmal vollauf falsches Bild des Dichters propagierten, jedoch die dauernde Faszination bezeugen, die von Hölderlins „Schicksal“ ausging88 – auch aus solchen teils populärwissenschaftlichen, teils trivialliterarischen Quellen hat sich das Hölderlin-Interesse genährt und haben sich Formen der produktiven Rezeption entwickelt.89 Wenn die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen hingegen von diesem Interesse ausgeschlossen blieben, so hing dies von verschiedenen Faktoren ab – der || 85 Dazu vgl. Castellari (2002) 114–122. 86 Vgl. hingegen die etwas pauschale Darstellung bei Kaulen (1994) 556: „Dasselbe Urteil [von Rudolf Haym; M.C.] findet man bei den anderen führenden Literaturhistorikern der Zeit, etwa bei Julian Schmidt und Wilhelm Scherer. Die Hölderlin-Interpretation weicht bei den Germanisten des Kaiserreichs kaum voneinander ab und bleibt in ihren Grundlinien bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erstaunlich konstant“. 87 Zur Präsenz Hölderlins in „den Mitte des 19. Jahrhunderts zu Hunderttausenden auf den Markt geworfenen Klassiker-Groschenhefte[n] und -Taschenbücher[n]“ vgl. Volke (1993). 88 „Mit der Romantik beginnt die literarische Anverwandlung der Hölderlin-Biographie in den verschiedensten poetischen Gattungen, eine Entwicklung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Mode auswuchs“ (Bothe 1992, 29). 89 Friedrich Nietzsche, Theodor Fontane, Wilhelm Dilthey, Paul Ernst, Rudolf Pannwitz – lang ist die Liste derer, die Hölderlin-Texten in fragwürdig kompilierten Anthologien, in Taschenbuchausgaben o.ä. begegneten.

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schwierigen Verfügbarkeit der Erstausgabe, dem Ausschluss aus den Sammlungen, dem bio-pathographischen Vorurteil sowie ihrer sprachlichen, kulturellen und tragödienästhetischen Beschaffenheit. Wie anhand einiger Empedokles-Transformationen noch gezeigt wird, schien jedoch bereits Ende des Jahrhunderts die Zeit reif zu sein, um Hölderlins antiklassizistische, antik-moderne Theaterprojekte mit größerem Interesse zu bedenken, als es ansatzweise in den 1840er Jahren geschehen war. Der Paradigmenwechsel, der mit Wilhelm Diltheys stark durch Nietzsche geprägtem Hölderlin-Aufsatz in der Sammlung Das Erlebnis und die Dichtung (1906, 1910) als vollzogen betrachtet werden kann und seine Früchte in Norbert von Hellingraths Historisch-kritischer Ausgabe sowie in der so genannten Hölderlin-Renaissance tragen sollte, ist ein komplexes Phänomen, zu dem verschiedenartige Umstände beitrugen und der sich auf je unterschiedliche Weise auf die vielen Stränge der Hölderlin-Rezeption auswirken sollte. Für die Theaterprojekte – beim Empedokles unproblematischer als beim Sophokles – bedeutet er im Endeffekt nicht weniger als – nach über hundert Jahren – die Bühneninszenierung. 2.1.3.1 Zweimal Dilthey. Oder: Hölderlin und die „Entdeckung“ des Rhythmus Einen Einblick in die verwickelten Wege der Rezeption im Vorfeld der Hölderlin-Renaissance gewährt insbesondere in Bezug auf die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen ein Vergleich der beiden bereits zitierten Hölderlin-Arbeiten von Wilhelm Dilthey: der Studie aus dem Jahre 1867 einerseits, die wie viele frühe literaturwissenschaftliche Beiträge Diltheys unter dem Pseudonym Wilhelm Hoffner erschienen war,90 und des epochemachenden Hölderlin-Essays in Das Erlebnis und die Dichtung andererseits, den der Autor laut eigener Aussage den Beiträgen über Lessing, Goethe und Novalis für die 1906 erschienene Sammlung „neu hinzugefügt“ hatte.91 Die Aufsatzsammlung erlebte zu Diltheys Lebzeiten zwei weitere Auflagen (1907; 1910), für welche die einzelnen Kapitel unterschiedlich stark überarbeitet wurden. Darüber hinaus sind bis in die 1960er Jahre hinein dreizehn weitere Auflagen zu verzeichnen; als letzter Band krönt Das Erlebnis und die Dichtung seit 2005 die Gesammelten Schriften des einflussreichen Denkers. Nicht nur für die Hölderlin-Forschung stellen die Erlebnis-Studien eine entscheidende wissenschaftsgeschichtliche Wende dar: Sie galten von Anfang an als der „Beginn der geistesgeschichtlichen Befreiung des Faches aus

|| 90 Der Aufsatz war in einigen Punkten eine Replik auf einen Hölderlin-Beitrag David Müllers, der ein Jahr zuvor in den Preussischen Jahrbüchern erschienen war. 91 So im Vorwort zur ersten Auflage (Dilthey 1906, s.p.). In den Anmerkungen der dritten Auflage ist dann 1910 davon die Rede, dass „der Aufsatz [...] für die erste Auflage neu gearbeitet [wurde], nur daß einige Stellen eines früheren aus Westermanns Monatsheften vom Mai 1867, welcher die dichterische Bedeutung Hölderlins den Lesern jener Tage nahe bringen wollte, aufgenommen worden sind“ (Dilthey 1910, 474).

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den Fesseln des Positivismus“ (Kindt/Müller 2008, 333).92 Was Hölderlin betrifft, wirkte die Studie vor allem aufgrund der eingehenden nietzscheanisch und lebensphilosophisch geprägten Erörterung der mittleren Schaffensperiode nach, vorzüglich des Hyperion und des Empedokles, sowie wegen der Ausweitung des kritischen Blicks auf Werke, die früher als Produkte des kranken Hölderlin übergangen worden waren. Obwohl einige Interpreten bereits in Diltheys früher Hölderlin-Arbeit Spuren einer „Rehabilitierung“93 erblickt haben, leidet der Beitrag aus dem Jahre 1867 doch unter dem bereits im Titel angekündigten Vorsatz, nach den „Ursachen des Wahnsinns“ zu forschen: Die „Gesundheitsideologie“ der Zeit ist offensichtlich noch wirksam.94 Der junge Basler Professor, der freundschaftlichen und professionellen Kontakt mit Scherer hatte, nennt bereits im Einleitungsteil „das große pathologische Interesse“, das von Hölderlins Fall ausgeht, und fügt sofort hinzu, dass im gegenwärtigen, unter Preußens Führung wieder zur staatlichen Einheit findenden Deutschland „die Krankheit Hölderlins [...] vorüber“ sei (Dilthey 1867, 102f.). Ein grundsätzlicher Unterschied zum pathographischen Vorurteil – und zum nationalen Pathos – der historischen Schule ist also nicht festzustellen. Zum Abschluss dieser Studie schreibt Dilthey denn auch unter Verweis auf den „Krankheitsverlauf verwandter Naturen“

|| 92 Kindt/Müller (2008) 343ff. versuchen hingegen anhand einer Analyse des Goethe-Aufsatzes zu zeigen, dass die angebliche Wende „ohne Folgen“ geblieben sei. Dies gilt sicher nicht für die Hölderlin-Forschung. 93 Vgl. Müller-Seidel (1995). Aus der Perspektive der Rezeption Hölderlins in der Nachfolge Nietzsches betont Martens (1983) 57, dass „der im Sammelband Das Erlebnis und die Dichtung abgedruckte Aufsatz [...] zwar einzelne Gedanken der Frühschrift auf[nimmt, er] stellt jedoch insgesamt, vor allem in den interpretierenden Abschnitten, eine völlige Neufassung des frühen Aufsatzes dar, die erst nach der vorausgegangenen Beschäftigung mit Nietzsche möglich wurde“. Vgl. zum „Paradigmenwechsel“ bei Dilthey auch Bothe (1992) insbesondere 84–95; eine Einordnung der beiden Hölderlin-Arbeiten Diltheys innerhalb der Rezeptionsgeschichte des Dichters versucht Johach (2008), der allerdings wie Müller-Seidel etwas unkritisch bereits für den Aufsatz 1867 eine „Rehabilitierung“ Hölderlins ausmacht. Neuerdings hat Friedrich Vollhardt Diltheys Hölderlin-Interpretationen wieder aufgewertet, indem er die Unterschiede zwischen dem frühen und dem späten Aufsatz betont. In diesem Zusammenhang hat er auch gegen eine beträchtliche Forschungstradition den Einfluss Nietzsches entwertet (Vollhardt 2014, insb. 51). Ein solcher Einfluss ist jedoch in Diltheys Hyperion- (vgl. Castellari 2002, 136–157) und Empedokles-Lektüre nicht zu leugnen. 94 Die Verwurzelung von Diltheys frühem Hölderlin-Bild in der Ideologie des nachmärzlichen Deutschlands mindert selbstverständlich in keiner Weise seine Verehrung für den als ‚gesund‘ betrachteten Naturlyriker, die er spätestens seit seinem achtzehnten Lebensjahr empfindet. „Wenn ich diese Phantasien durchblättre [das Tagebuch aus der Heidelberger Zeit; M.C.], so wird mir die wunderliche Gemüthsstimmung wieder ganz lebendig, in der ich damals als kaum Achtzehnjähriger, in der Tasche den Hölderlin, an dem ich jetzt noch in Erinnrung jener Zeit mit besondrer Vorliebe hange, die Hügel um die Stadt durchstreifte und oft in einer Art von mystischem Taumel die aus den Tiefen der Erde dringenden Gewalt der göttlichen Natur in den hinaufstrebenden Felsen und in den schlanken leichtbewegten Bäumen zu empfinden und zu umfassen glaubte“ – so Dilthey rückblickend in einem Brief an Luise und Bernhard Scholz (vgl. Masch 1933, 114).

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(116) und im Vergleich Hölderlins mit Tasso den vielleicht am häufigsten verwendeten Topos der bio-pathographischen Hölderlin-Rezeption im 19. Jahrhundert fort. Andererseits muten einige Überlegungen Diltheys als Vorwegnahme der späteren, ganz anders strukturierten Werkanalysen an. Auch der rhetorische Ausklang unter Verweis auf Hölderlins „großes Genie“, das „noch heute [...] nicht die Stellung in der Anerkennung, besonders aber in der Kenntnis und dem Interesse der deutschen Nation erlangt [hat], welche ihm zukommt“ (116), kann als Forderung nach einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Dichtung Hölderlins bewertet werden – damit beschränkt sich dieser Beitrag keineswegs auf eine pathographische Deutung. Nicht zu vergleichen ist er jedoch mit dem Duktus der Jahre 1906–10 – sollte doch dort „statt von Krankheit [...] von dem Dämonischen in Hölderlin gesprochen“ werden und „an die Stelle der Kritik [...] die Preisung“ treten: „Hölderlin wird nicht nur [...] entschuldigt. Er wird stilisiert zum dichterischen Heros, als Seher“ (Peschken 1972, 164). Ein Blick auf die Behandlung der Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen in den mit einem Abstand von fast vierzig Jahren entstandenen Studien Diltheys mag den Wechsel der Betrachtungsweise erhellen. Verblüffend erscheint dabei der Umstand, dass ihnen in der ersten und nicht in der zweiten Arbeit mehr Raum gewährt wird. Wie ist das zu erklären? Könnte die Verschiebung der Prioritäten, d.h. von einer Fokussierung auf den Wahnsinnsdiskurs hin zum dichterischen Erlebnis, für diese Gewichtsverlagerung verantwortlich sein? Oder war Dilthey 1867, in einer Zeit also, in der die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen nahezu in Vergessenheit geraten waren, an einer ‚Rettung‘ gelegen, die ihm im neuen Jahrhundert nicht mehr nötig erschien? Beide Erklärungen sind möglich, ganz zufrieden stellend sind sie jedoch nicht. Ich nehme an, dass vielmehr die Gesamtdynamik der Rezeption des Sophokles-Projekts im 19. Jahrhundert eine Rolle spielt und insbesondere spätromantische Topoi eine Wirkung entfalten. Dilthey war sich dessen vollauf bewusst, dass die „beiden ersten Hefte“ von Hölderlins Sophokles bereits 1867 zu einer „großen Seltenheit“ geworden waren – nicht nur bibliographisch, sondern auch als Gegenstand eingehender Analyse (Dilthey 1867, 114). Er schenkt insbesondere den Anmerkungen Aufmerksamkeit, wobei er sich vor allem mit dem Ausdruck „Rhythmus der Vorstellungen“ auseinandersetzt und über dessen „Grundformen“ nach Hölderlin referiert. Dilthey scheint hier nicht so sehr an der Argumentation Hölderlins als vielmehr an der puren Begrifflichkeit gelegen zu sein: Vorzüglich der „Rhythmus der Vorstellungen“ sowie sekundär auch die als synonymisch betrachteten Ausdrücke „gesetzlicher Kalkül“ und „poetische Logik“. Wenn man nun einen Blick auf Das Erlebnis und die Dichtung wirft, so erscheinen die spärlichen Worte, die Dilthey dort den Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen widmet, als verblasster Nachklang der früheren Auseinandersetzung mit diesem Thema. „Sein rhythmisches Gefühl“, heißt es diesmal von Hölderlin als Übersetzer, „ist unvermindert, seine Sprache tönt und er gewinnt ihr erschütternde Laute des Schmerzes ab“. Die lexikalisch an Bettina Brentanos Günderode erinnernde

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Charakterisierung („Rhythmus“ und „Schmerz“) kontrastiert Dilthey anschließend durch den Verweis auf die Fehler. „In den Anmerkungen“, so fährt er fort, liegt die Poetik seiner besseren Zeiten als ein Trümmerhaufen vor uns. Es reizt in sie ganz einzudringen, doch ermüdet und enttäuscht steht man dann davon ab, in Sinnlosem einem verborgenen Tiefsinn nachzugehen. Seine Unfähigkeit einen logischen Zusammenhang festzuhalten ist augenscheinlich. (Dilthey 1910, 456)

Die Jahrzehnte zuvor beschworenen Formeln werden nicht einmal mehr erwähnt: Was bleibt, ist die Undurchdringlichkeit der Gedanken, schlimmer noch, ihre Sinnlosigkeit. Auffällig erscheint die kurze Abfertigung des Sophokles-Projekts im ErlebnisBand, vor allem wenn man bedenkt, dass zum Beispiel dem Hyperion bzw. dem Empedokles dutzendweise erhellende Seiten gewidmet sind. Der Vergleich mit der unterschiedlichen Behandlung des weiteren Oeuvres Hölderlins ist auch in anderer Hinsicht lehrreich. Bereits die zitierte prägnante Charakterisierung der Sprache in den Übersetzungen als noch vom „rhythmischen Gefühl“ durchdrungen, könnte als Indiz dienen. Hatte nämlich Dilthey 1867 im ganzen Aufsatz nur ein einziges Mal das Wort „Rhythmus“ verwendet, und zwar als Hölderlin-Zitat aus den Ödipus-Anmerkungen, so wird 1905–10 der Begriff zum hermeneutischen Leitmotiv des gesamten Erlebnis-Beitrags. Als „Rhythmus des Lebens selbst“ wird etwa Hyperion bezeichnet; Hölderlins Figur, Sprache und Werk werden nun gänzlich vom Rhythmus-Begriff her gedeutet. Es sieht also so aus, als ob der späte Dilthey aus Hölderlins später Tragödientheorie (genauer gesagt aus den Ödipus-Anmerkungen, die ihm wie dem ganzen 19. Jahrhundert wichtiger und verständlicher waren als die Antigone-Anmerkungen) den Begriff des Rhythmus wieder aufgreifen und rückläufig auf das ganze Werk applizieren würde – dabei wird 1906–10 die Sprache der Übersetzungen zwar als (noch) rhythmisch bezeichnet, eine Erörterung der Rhythmus-Stelle in den Anmerkungen, ja eine eingehende Erörterung der tragödienästhetischen Anhänge bleibt aber aus. Dass „der Rhythmus in der Sprache, in der Gliederung der Tragödie [...] für ihn Symbol für den letzten und höchsten Begriff seiner Philosophie – den Rhythmus des Lebens selbst“ sei, wird bei der Interpretation der Hyperion-Schlusshymne vage erwähnt, dass Hölderlin „diese tiefgedachte Lehre von dem Rhythmus [...] erst später veröffentlicht hat“, wird für die Interpretation als irrelevant gehalten; dabei fühlt sich Dilthey keineswegs dazu verpflichtet, näher auf seine Quelle einzugehen. Wenn er dann wieder die Begrifflichkeit der Anmerkungen aufgreift, um ein früheres Werk zu erörtern (diesmal Der Tod des Empedokles) und mit den Dramen des Sophokles strukturell zu vergleichen, glaubt Dilthey, sich rechtfertigen zu müssen, indem er beteuert, dass zwar „diese Anmerkungen [...] aus der Zeit seiner geistigen Zerrüttung“ stammen, sie jedoch „mehrfach Ideen [enthalten], die ohne Zweifel lange von ihm gehegt wurden und in seine gesunde Zeit zurückreichen“ (Dilthey 1910, 414). Die Dilthey-Forschung hat das Insistieren auf den Rhythmus-Gedanken selbstverständlich bemerkt und die Entwicklung von Diltheys Hölderlin-Auffassung bereits

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dargelegt.95 Die hier beschriebene Instrumentalisierung des Rhythmus-Begriffes ausführlicher zu behandeln, hat sie allerdings unterlassen. Von dem späteren Aufsatz ausgehend, und zwar von dem darin ausdrücklich vorgenommenen Vergleich zwischen besagtem „Rhythmus des Lebens“ und Hegels „dialektischem Fortschritt“ als „Gesetz in der Bewegung des Lebens“ (Dilthey 1910, 414), hat man versucht, einen Rückschluss auf die Hegel-Studien Diltheys und auf diese Weise auf Diltheys Philosophie im Ganzen zu formulieren (vgl. Rodi 1987). Dies ist auch hinsichtlich der späteren Hölderlin-Rezeption von Bedeutung, vor allem, wenn man sich nicht nur auf Hegel beschränkt: Diltheys Hölderlin-Aufsatz in Das Erlebnis und die Dichtung ist explizit philosophisch ausgerichtet, nicht nur hinsichtlich der Herausarbeitung von möglichen Quellen und der Verortung Hölderlins im deutschen Idealismus, sondern auch hinsichtlich der Nebeneinanderstellung von Nietzsche und Hölderlin. Damit stellt sein Aufsatz den einflussreichsten Beitrag zur Hölderlin-Rezeption in der „Nachfolge Nietzsches“ dar (Martens 1983). Gerade im unmittelbaren Anschluss an die Worte über den „Rhythmus des Lebens“ und die Dialektik, um nur ein Beispiel zu nennen, legt Dilthey eine sprachlich-musikalische und gedankliche Affinität zwischen Hölderlins Hyperion und Nietzsches Zarathustra frei, die schnell Schule machen sollte, um dann die Hölderlin Rezeption Nietzsches zu skizzieren. Es würde sich also geradezu anbieten, Diltheys (Lebens-)Rhythmus als Deutungskategorie auch im Zeichen Nietzsches zu lesen.96 Dies würde m.E. aber nicht genügen. Im Rahmen der Hölderlin Rezeption des 19. Jahrhunderts ist nämlich das Insistieren auf Rhythmus ein Indiz, das auf eine andere Fährte führt. Fassen wir kurz den Sachverhalt zusammen: Dilthey hat 1867 in einem kurzen Aufsatz, der auf Hölderlins Wahnsinn konzentriert war, eine Stelle über den „Rhythmus“ aus den Ödipus-Anmerkungen zitiert. Genau dieselbe Stelle hatte bereits Achim von Arnim in seinen Ausflügen mit Hölderlin erwähnt, im Rahmen eines verhältnismäßig positiven Urteils über Hölderlins Sophokles. Nach ihm hatte auch Christoph Theodor Schwab, womöglich durch Arnims beeinflusst, eine längere Passage aus den Anmerkungen im biographischen Teil seiner Ausgabe angeführt. Bettina Brentano von Arnim hatte darüber hinaus aus dem poetologischen Zitat ein Leitmotiv für ihre zwischen Dokumentation, Fiktion und Interpretation anzusiedelnde Hölderlin-Rekonstruktion gemacht. Rhythmus war bei ihr der Schlüsselbegriff einer auf den Sophokles-Übersetzer zentrierten

|| 95 Vgl. bereits Rodi (1987) 58: „Diese Formulierung [„Rhythmus des Lebens“; M.C.] spielt im Hölderlin-Aufsatz eine Art Schlüsselrolle“. Vgl. auch Johach (2008). Auf dem Begriff vom „Rhythmus des Lebens“ aufbauend, rekonstruiert Batz (2011) die Rolle der Musik in Diltheys Denken und verortet es im Kontext des 19. Jahrhunderts; der Hölderlin-Bezug wird aber nicht auf seine Wurzeln hin untersucht, die Filiation Bettina-Jung-Nietzsche wird nicht erkannt (vgl. insb. 145–148). Auch die Überlegungen von Bianco (2001) verbinden die Rhythmus-Begrifflichkeit nur indirekt mit Diltheys Hölderlin-Interpretation. 96 Neuere Untersuchungen zum Rhythmus bei Nietzsche (Emden 2002; Günther 2008) bieten Ansatzpunkte, die Verbindung zu Hölderlin und dessen Rezeption wird aber nicht herausgearbeitet.

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Hölderlin-Begeisterung, die in produktive, literarisch-musikalische Transformation mündete. Diltheys Rückgriff auf die Rhythmus-Stelle im Jahr 1867, und überhaupt seine Auseinandersetzung mit Hölderlins Sophokles-Projekt, erscheinen als eine Ausnahme im Panorama seiner Zeit – ihre sprachliche und inhaltliche Beschaffenheit verleitet dazu, sie in Verbindung mit Arnims und/oder Schwabs Charakterisierungen zu sehen. Neben diesen Impulsen liegt bei Dilthey auch eine persönliche Note vor infolge seiner eigenen Lektüre der „seltsam“ gewordenen Sophokles-Bände. Geringe Bedeutung würde man seiner kurzen Würdigung zuschreiben, wenn Dilthey nicht zirka vierzig Jahre später Hölderlins ganzes Werk im Zeichen des Rhythmus-Begriffs interpretieren würde. Damit geht er einen ähnlichen Weg wie Bettina Brentano, auch wenn seine Methode und seine Absicht von der ihren abweichen. Dilthey kaschiert den Ursprung seiner Deutungskategorie aus der Tragödientheorie Hölderlins, indem er ihre Gültigkeit für das ganze Werk Hölderlins reklamiert. Auch mögliche Inspirationsquellen für einen solchen Interpretationsansatz werden nicht genannt. Dass jedoch dahinter die Rhythmus-Passagen in der Günderode stehen, ist mehr als wahrscheinlich. Wörtliche Übernahmen aus Die Günderode seitens Diltheys sind nicht auszumachen; dies würde bei der Grundverschiedenheit der Texte auch ziemlich verwundern. Der Erlebnis-Aufsatz weist vor allem eine indirekte Verwandtschaft mit Bettinas-Buch aus; in dieser Hinsicht stellt Diltheys Aufsatz auch ein Beispiel für die Dynamik der Hölderlin-Rezeption im 19. Jahrhundert dar. Bereits Alexander Jung hatte nämlich in seiner den Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen so wenig zugeneigten Monographie die Rhythmus-Kategorie von der von ihm verehrten Bettina übernommen und für seine Interpretation des frühen und mittleren Werks herangezogen: In seinem 1848 erschienenen Buch konnten die Leser, darunter wohl auch Wilhelm Dilthey, Überlegungen zum „Rhythmus, de[m] heiligen Kreislauf des Daseyns“, als Motiv von Hölderlins Gedichten finden (Jung 1848, 41) sowie einen Vergleich zwischen der „wohllautende[n] Monotonie des Hyperion“ und dem „Meere [...], dessen Wogenschlag uns in seiner Erhabenheit, in seinem ewig gleichen Rhythmus auch Stunden lang fesselt“ (97). Auch Bettinas Hölderlin-Gnome „Alles ist Rhythmus“ klingt durch, wenn es anschließend bei Jung heißt: „Die Sprache in ihm ist überall Wohllaut, überall Rhythmus, überall Wellenschlag der aufgeregten Empfindung, überall Modulation“ (97f.). In offensichtlicher Vorwegnahme von Diltheys Hyperion-Interpretation ist andererseits mehrmals von der „rhythmische[n] Prosa“ die Rede bzw. wird der für den Roman charakteristische „Rhythmus der Prosa“ als Interpretationsmuster für weitere Schriften Hölderlins verwendet (191 et passim). Diltheys Abhängigkeit von Jung ist unübersehbar: Seine späte und resonanzreiche Hölderlin-Interpretation übernimmt von ihm (und über ihn von Bettina) die Kategorie des Rhythmus und transformiert sie gleichzeitig auch unter Heranziehung einiger Gedanken Nietzsches in die Interpretation, welche letztlich der „Wiederentdeckung“ die Weichen stellt. Auch Nietzsches Hölderlin-Rezeption war übrigens von Jungs Monographie – und dadurch ebenfalls zumindest mittelbar von Bettinas Günderode – stark

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beeinflusst (dazu vgl. 2.2.2.3). Die Verwurzelung der Hölderlin-Renaissance, die vornehmlich auf Nietzsche und Dilthey fußen wird, im romantischen und nachromantischen 19. Jahrhundert erscheint anhand dieser Filiationen als ein Phänomen, das die Rhetorik der „Wiederentdeckung“ lange verdeckt hat. Hölderlins Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen wurden also, wie hier zusammenfassend festgestellt werden kann, im ersten Jahrhundert nach ihrer Veröffentlichung von vielen auch wichtigen Figuren der Rezeption missverstanden, ad acta gelegt und vergessen. Ihre Geschichte im 19. Jahrhundert erzählt aber auch von wenigen, jedoch prägnanten Momenten der Nachwirkung, und von einer durch verschiedene Faktoren bedingten untergründigen Rezeption. Wiederaufgelegt wurden sie nicht, zu einer Aufführung auf dem Theater ist es nicht gekommen – was bei ihrer editorischen Lage, sprachlichen Beschaffenheit und ästhetischen Distanz zu den damaligen Bedingungen und Praktiken der Inszenierung griechischer Tragödien in Deutschland auch einem Wunder gleichgekommen wäre. Das von Hölderlin jedoch als aktueller Eingriff in das kulturelle Leben seiner Zeit verstandene Sophokles-Projekt wurde, wie hier zum ersten Mal gezeigt wurde, erstmalig in Bettina Brentanos Transformation und Vertonung des Ödipus-Chors performativ rezipiert. Theodor Mundt konnte seinerseits entsprechend seiner Auffassung von Moderne in Hölderlins Entwurf einer modernen Dichtung in den Sophokles-Anmerkungen eine Überwindung des Klassizismus (und gleichzeitig der Romantik) hineinlesen. Darüber hinaus gingen, wie anhand von Diltheys Arbeiten erörtert wurde, einige Gedanken Hölderlins theatralisch-performativer Prägung wie der des „Rhythmus“ durch Bettina und Jung in Rezeption und Forschung ein und fungierten als Auslöser für ein um 1900 aufloderndes kritisches und kulturelles Interesses an Hölderlin. Als 1906 Diltheys Erlebnis-Aufsatz veröffentlicht wurde, waren die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen erst seit einem Jahr in Wilhelm Böhms Edition erschienen. Sie aus späteren Hölderlin-Werkausgaben auszuschließen, war bald nicht mehr denkbar, auf ihre Uraufführung sollte man nur noch ein Dutzend Jahre warten müssen.

2.1.4 „Worte [...] wie antike Bronzen“. Ernst Hardt und Hölderlin Sollten die Antigone- (1919) und die Ödipus-Uraufführung (1921) erst nach dem Ersten Weltkrieg stattfinden (vgl. 3.1) und somit Teil der von Diltheys Erlebnis-Aufsatz durchaus mitgeprägten, durch Hellingraths Dissertation und kritische Ausgabe endgültig lancierten Hölderlin-Renaissance werden, so kam das deutsche Theaterpublikum bereits früher in den Genuss von Kostproben aus den Sophokles-Übersetzungen – sogar vor dem Erscheinen der Werkausgabe Wilhelm Böhms (1905), in der die beiden Tragödienübertragungen zum ersten Mal nach dem Erstdruck veröffentlicht wurden. Dies ist ein bisher nie beleuchtetes Kapitel der Hölderlin-Rezeption, das in seiner janusköpfigen Gestalt einerseits bio-pathographische Tendenzen und romantisie-

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rende Sprach- und Dichterbegeisterungen des 19. Jahrhunderts fortschreibt, andererseits von der sich um 1900 auf verwickelten Wegen rasch verbreitenden ‚Wiederentdeckung‘ Hölderlins bei neuen Dichtergenerationen Zeugnis ablegt. Am 13. Februar 1904 wurde im Deutschen Theater Hannover Ernst Hardts Der Kampf ums Rosenrote erfolgreich uraufgeführt.97 Dass im vieraktigen Schauspiel des westpreußischen, damals 27-jährigen Dramatikers98 auch Hölderlins Ödipus-Übersetzung (und überhaupt die griechische Tragödie) eine Rolle spielte, konnte der Zuschauer dem Titel sicher nicht entnehmen. Im Erwartungshorizont des damaligen Publikums war ja Hölderlin sowieso nur bedingt präsent, und wenn überhaupt, dann nicht als Sophokles-Übersetzer, sondern eher als unglücklicher, dem Wahnsinn verfallener Dichter – mit diesen Bezügen aber spielt Hardt. Überraschend müssen sich die gleich zu Beginn erklingenden Verse aus Hölderlins Ödipus angehört haben, die nur für wenige Hölderlin-Kenner im Saal als ein raffinierter Kunstgriff erkennbar waren: Doch dies mein Schicksal geh, wohin es will. Für sie, die Kinder, für die männlichen, Für mich nicht sorge, Kreon. Sie sind Männer, Daß Mangel nie sie haben werden, wo Sie sind im Leben. Meine müheselgen Erbarmungswerten Jungfraun aber, denen Nie leer von Speis’ und ohne unser einen Mein Tisch war... (Hardt 1903, 8)99

|| 97 Regie führte der Theaterdirektor Reusch. Vgl. die Besprechung von Max Ewert in „Das literarische Echo“ 2.1903/04.12, 870f. Die „begeisterte Aufnahme“ des Hannoverschen Publikums aber, die Ewert u.a. mit dem Hinweis darauf dokumentiert, dass der „Verfasser nach jedem Akte mehrmals auf die Bühne“ gebracht wurde, dämpft der Rezensent durch seine „Bedenken“ hinsichtlich der dramatischen Stringenz des Textes. Eher auf einen Bühnenerfolg als auf positive Kritiken hatte jedenfalls Hardt – auch aus finanziellen Gründen – explizit gezielt, vgl. Hardts Briefe an Botho Graef aus Athen vom 15. April und vom 10. Mai 1902 (beide Briefe sind bisher unveröffentlicht; Auszüge zitieren Schlüsser 1994, 32 und Song 2000, 37). 98 Zu Friedrich Wilhelm Ernst Hardt (Graudenz, heute das polnische Grudziądz, 9. Mai 1876 – Ichenhausen bei Ulm 3. Januar 1947) vgl. Feilchenfeldt (2010); eine knappe literaturgeschichtliche Kontextualisierung des Dramatikers um 1900, der „mit einem halben Dutzend Stücken nur ein vergleichsweise schmales dramatisches Oeuvre aufzuweisen [hat], dem jedoch schon früh Beachtung und zeitweise große Anerkennung zuteil wurde“, leistet Sprengel (2004) 537–542, ohne jedoch auf Der Kampf ums Rosenrote einzugehen. Hardt wurde dann zum Protagonisten des theatralischen und kulturellen Lebens der Weimarer Republik: als Generalintendant im Deutschen Nationaltheater Weimar (1919–1924), als Intendant im Schauspielhaus Köln (1925–26) und ab 1927 als Leiter des Westdeutschen Rundfunks. Dazu und zu seiner späteren Amtsenthebung und Verfemung in der NS-Zeit vgl. Schlüsser 1994, zur Kölner Intendanz Schulze-Reimpell 1976. 99 Dabei handelt es sich um die Z. 1487–1494 von Hölderlins Übersetzung, d.h. die Passage aus der Rede des Ödipus im 5. Akt, in der er Kreon bittet, sich der Antigone und Ismene anzunehmen. Hardt

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Diese Eingangsworte des Stücks sind in der Dramenfiktion dadurch gerechtfertigt, dass sie in einer Art Rezitationsübung von Vult, der männlichen Hauptfigur, gesprochen werden. Wenn die Uraufführung den Bühnenanweisungen des bereits 1903 gedruckten Dramentexts gefolgt ist,100 erblickte das Hannoversche Publikum unmittelbar nach dem Aufziehen des Vorhangs den „jung[en]“ und „schlank[en]“ Protagonisten, der „mit einem schweren weißen Tuch“, „einem antiken Gewande ähnlich“, behängt, „von Zeit zu Zeit in ein dünnes Buch blickend, mit langsamer, rhythmisch stark getragener Stimme“ die Verse in Hölderlins Übersetzung vortrug (8). Vult von Bergen will nämlich Schauspieler werden und übt insgeheim jeden Sonntagmorgen, wenn der Vater in der Messe ist, da der Bankdirektor andere Pläne für seinen Sohn hegt und dessen künstlerische Bestrebungen nie gebilligt hat. Der Generationskonflikt ist auch die Triebfeder des Stücks: Nach etlichen Wechselfällen endet der „Kampf ums Rosenrote“ mit dem Sieg des die Provinzstadt verlassenden Sohnes, der in Berlin Schauspieler wird und seine Traumrolle, nämlich die von Tasso in Goethes gleichnamigem Schauspiel bekommt; zum Abschluss kommt es zur Versöhnung mit dem Vater.101 Zurück aber zum Dramenanfang. Das Sophokles-Hölderlin-Zitat brach in der Mitte des Verses ab, weil Vult in der Rezitation von Frieda unterbrochen wird, einer Freundin seiner Schwester. Auf ihre Frage, „wen spielst Du denn da?“, antwortet Vult

|| gibt den Text von 1804 mit wenigen Modernisierungen in der Rechtschreibung wieder, vgl. FHA 16, 239. Song (2000) 31ff. erkennt, dass es sich um Hölderlins Übersetzung handelt, weist aber fälschlicherweise auf die Antigone hin. Der Hölderlin-Bezug wurde in den Rezensionen nicht erörtert; auch die spätere Kritik Alfred Kerrs – wohl anlässlich einer Wiederaufnahme des Stücks – übergeht Hölderlin wortlos (Kerr 1917, 73–75). 100 Nach dem Erstdruck 1903 wurde das Drama zweimal wiederaufgelegt, 1911 mit einem verkürzten Titel (Der Kampf), 1920 wieder als Der Kampf ums Rosenrote. Die drei Ausgaben in weniger als zwanzig Jahren zeugen von Hardts Erfolg als Dramatiker zu seiner Zeit. Heute ist Hardt eher für seine spätere Karriere im Theater- und Medienbetrieb bekannt. Wenn sein früheres Werk erwähnt oder analysiert wird, so gilt das Interesse den Dramen Ninon von Lenclos (1905) und Tantris der Narr (1908), vgl. Sprengel (2004) 539f. Zum Kampf ums Rosenrote lediglich Schlüsser (1994) 135ff., wo Hölderlin nur flüchtig erwähnt wird, und Song (2000) 31–37, mit nützlichen Daten zur Entstehung und Überlegungen zur literatur- und dramengeschichtlichen Positionierung des Stücks zwischen Naturalismus und Expressionismus. 101 Bemerkenswerterweise schlägt das Drama also einen Bogen von Hölderlin zu Tasso, wie es im 19. Jahrhundert oft geschehen war, wobei die deutsche Dichterfigur durch die Beziehung zur Dramenperson in Goethes Stück, und nicht so sehr mit Blick auf den italienischen Autor, zum Topos des leidenden Dichters fiktionalisiert und mythisiert wurde. In Hardts Stück wird die Beziehung nicht direkt exponiert; möglich ist, dass Hardt zeitgenössische bio-fictions kannte wie Karl Müller-Rastatts In die Nacht! Ein Dichterleben, wo es gleich am Anfang heißt: „Eine Tassonatur hat man Hölderlin genannt. Nicht mit Unrecht. Denn wie der Italiener ging auch der deutsche Dichter zu Grunde am Konflikt mit der Welt, in die er sich nicht finden konnte“ (Müller-Rastatt 1898, 6); unwahrscheinlicher ist eine direkte Kenntnis des bereits erwähnten Dichterdramas Hölderlin’s Liebe von Feodor Wehl, wo der Tasso-Bezug auch formal sehr stark wirkt.

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lachend: „Einen armen, alten Mann, der sich die Augen ausgestochen hat“ (9). Dass der arme alte Mann Ödipus heißt, und dass er mit Hölderlins Stimme klagte, will Vult vorerst nicht enthüllen, Liebesgeplänkel gewinnt schnell die Oberhand. Frieda bittet ihn aber kurz danach, „noch ein paar Verse von Deinem alten blinden Mann“ zu rezitieren. „Mit einer großen Lust am Schwung der Rhythmen“ – so die Bühnenanweisung – deklamiert Vult ein zweites Mal, indem er diesmal auf die Anfangsrede des Ödipus zurückgreift: O ihr des alten Kadmos Kinder, neu Geschlecht, In welcher Stellung hier bestürmt ihr mich, Ringsum gekränzt mit bittenden Gezweigen? Auch ist die Stadt mit Opfern angefüllt, Vom Päan und von seufzendem Gebet... (10)102

Vult wird aber sofort wieder unterbrochen. Diesmal kommt dies sehr ungelegen, denn der in sein Zimmer eindringende Kaspar Reinhold, der schon an sich ein unwillkommener Gast ist, da er beharrlich um die Gunst seiner Schwester buhlt, bringt Nachrichten, die sowohl die erotische Atmosphäre als auch die dichterische Stimmung verderben. Der Auftritt Reinholds setzt auch der Präsenz von Hölderlins Ödipus in Hardts Drama ein Ende. Wenn es dabei bliebe, wäre eine solche Trouvaille aus heutiger Sicht zwar historisch merkwürdig (Hardt muss auf Wegen, die noch zu erörtern sind, auf Hölderlins ein Jahrhundert zuvor erschienene Übersetzungen gestoßen sein), jedoch nicht sonderlich bedeutend für die Rezeption von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen. In einem etwas anderen Licht erscheint Hardts Hölderlin-Bezug, wenn man den ersten Akt weiter liest und eine dritte Textstelle berücksichtigt. Dort wird nicht mehr anonym aus dem Ödipus zitiert, sondern der Dichtername explizit genannt, dessen Werk, Leben und Rezeption fiktionalisiert. In einer Zweierszene mit der Schwester Ella wird Vults ‚Entdeckung‘ Hölderlins regelrecht inszeniert und gleichzeitig ihr (und dem Publikum) sozusagen als Geheimtipp weitergereicht. Vult präsentiert stolz den „richtige[n] Schatz, den ich diesmal beim Antiquar entdeckt habe“ und fordert Ella auf, das Buch aufzuschlagen (19).103 Sie liest den Titel vor, und die Zuschauer erfahren mit ihr, dass es sich um „Die Trauerspiele des Sophokles, übersetzt von Friedrich Hölderlin. Erster Band. Frankfurt am Main 1804“ handelt. „Ist das schön?“, fragt Ella, und Vult kann nun Schwester und Theaterbesucher mit seinem Hölderlin-Enthusiasmus anstecken:

|| 102 Vgl. die Z. 1–5 in FHA 16, 81. 103 In der Fiktion muss es sich also lediglich um den ersten Band handeln; von der Existenz eines zweiten Bandes mit den Antigone-Übersetzung und -Anmerkungen scheinen die Figuren nichts zu wissen.

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Wundervoll ist es. Lies nur einmal die Vorrede! [...] Ist das nicht schön? Wie da aus der Gepflegtheit eines jeden Wortes seine edle scheue Menschlichkeit zaghaft hervorbricht. Und wie vornehm, wie unendlich vornehm! (Ebd.)

Bemerkenswerterweise vermischt Vult bereits hier die Bewunderung für sprachliche Eigenschaften („Gepflegtheit eines jeden Wortes“; gemeint ist hier mit „Vorrede“ wohl die Widmung an die Prinzessin von Hessen-Homburg, die den Ödipus-Band eröffnete104) mit dem etwas sentimentalen Hinweis auf den Dichter und seine guten Eigenschaften („edel“, „zaghaft“, „vornehm„), wobei sich manches wohl auf beides, Sprache und Person, bezieht. Eindringlicher fällt kurz darauf die Charakterisierung der sprachlich-ästhetischen Übersetzungsleistung Hölderlins aus: „Sind die Verse schön?“, fragt die Schwester, und Vult kann nun darüber schwärmen, wie vor ihm nur die Ich-Erzählerin in Bettinas Günderode: Herrlich! mächtig und herrlich! Die Worte sind wie antike Bronzen, weißt Du. Jeder Vers wirkt wie ein ehernes Klangwunder. (Ebd.)

Ist die begeisterte Bezeichnung der Sprache Hölderlins als „Klangwunder“ eine bereits in den romantischen Würdigungen der Sophokles-Übersetzungen vorkommende Formel – und auf dieselbe Rezeptionstradition gehen wohl auch die Hinweise auf das Rhythmische in den Bühnenanweisungen zurück105 –, so erweitert Hardt dieses akustische Repertoire, indem er die Bewunderung Vults für die plastische Beschaffenheit dieser Sprache exponiert, die gerade als solche als dem Griechischen verwandt empfunden wird („mächtig“, „antike Bronzen“, „ehernes“). Der angehende Schauspieler weiß Hölderlins Sprache in ihrer performativen Wirksamkeit gebührend zu ehren. Besonders bedeutsam erscheint, dass hier die ‚Wiederentdeckung‘ der ÖdipusÜbersetzung sowohl auf der fiktionalen Ebene (Vult übt sich als Schauspieler mithilfe der Verse Hölderlins) als auch in einem metatheatralischen Sinne (der Vult darstellende Schauspieler tut dasselbe vor dem Publikum) als eine Rehabilitation für die Bühne inszeniert wird. So erklärt sich m.E. auch die retardierende Struktur, durch die Hölderlins Worte, sowohl fiktionsintern in Vults Rezitation als auch fiktionsextern auf der Bühne, zuerst ihre performative Wirkung entfalten können, um erst danach,

|| 104 Vgl. FHA 16, 75f. 105 Vgl. die bereits erwähnten Regieanweisungen für Vults Sprechweise sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Rezitation: „mit langsamer, rhythmisch stark getragener Stimme“ (8); „mit einer großen Lust am Schwung der Rhythmen“ (10). Selbstverständlich hätte Hardt auch Hölderlins eigene Überlegungen zum Rhythmus im Ödipus-Band lesen können. Die oben erörterte dritte Stelle mit Hölderlin-Bezug scheint jedenfalls für eine Dependenz von der Bettina-Tradition auch in anderer Hinsicht (im Hinblick auf Genie und Wahnsinn) zu sprechen. Bemerkenswerterweise kehrt im Drama der Bezug auf den Konnex Rhythmus-Rezitation wieder, als Vult seinen ersten Bühnenerfolg als Tasso feiert – seine geglückte Interpretation wird explizit als „rhythmisch gebändigtes Feuer“ bezeichnet (88).

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in der soeben erörterten Szene, mit ihrem Autor und seiner zögerlichen Rezeption im 19. Jahrhundert verbunden zu werden. Auch in Hardts Drama fehlt dabei ein überaus wichtiger Zug dieser Rezeption nicht: der Wahnsinnsdiskurs. Beim Lesen des Buchtitels hatte nämlich Ella das Erscheinungsdatum entdeckt und sofort bemerkt: „Achtzehnhundertvier – war er da nicht schon krank?“. „O ja!“, erwidert Vult, bevor er seine Lobeshymne auf Hölderlin anstimmte. Ella greift dann das Thema wieder auf: ELLA ― Merkt man denn aber nicht, daß ein Kranker es schrieb? VULT ― O, oft verwirrte sich Hölderlins Mund – und dann ist es fast schöner – der – hatte heiligen Wahnsinn. ELLA ― Woran ist er eigentlich krank geworden? VULT ― Mein Kind – das Schicksal hatte ihm eine große Liebe ins Herz gegeben, die nicht ins Leben durfte, da gab ihm ein gütiger Gott den großen Wahnsinn dazu, damit er sie darin verhüllen möchte – er hats getan! (19)

Der Topos vom „heiligen Wahnsinns“ und von dessen angeblicher Inspirationskraft („und dann ist es fast schöner“) sowie die Zurückführung der Ursachen auf Hölderlins Lebens- und Liebesleiden (mit Tasso-Anklängen)106 klingen noch spätromantisch – noch einmal zeigt sich die Nachhaltigkeit der Mythisierung bis ins 20. Jahrhundert hinein. Das Klischeehafte ist unverkennbar; Hardt kondensiert in dieser kurzen Wechselrede sozusagen ein knappes Jahrhundert Fiktionalisierungen und Mythisierungen der Hölderlin-Biographie, wobei diese Tradition gerade um 1900 eine erneute Konjunktur erlebte.107 Die Faszination, die von Hölderlin ausgeht und durch die man auf Wirkung beim Theaterpublikum hoffen kann, ist also um 1900 mindestens doppelt: einerseits die Begeisterung für die Sprache (hier ausdrücklich die Sprache der Sophokles-Übersetzungen, deren Bühnenwirksamkeit exponiert wird), andererseits ein leicht morbides Interesse für die Dichterbiographie, das dramaturgisch genutzt werden kann. Beides konnte Hardt im Rahmen seiner eher auf Erfolg als auf ästhetische Qualität zielenden Operation reaktivieren;108 eine tiefer schürfende Auseinandersetzung mit Hölderlins

|| 106 Hardts Wendung „da gab ihm ein gütiger Gott den großen Wahnsinn dazu [...]“ ist wohl eine Abwandlung von Goethes berühmten Versen aus der letzten Rede Tassos: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide“ (GW 5, 833). 107 Den Ausdruck „oft verwirrte sich Hölderlins Mund“ entnahm Hardt wahrscheinlich Karl Wolfskehls Hölderlin-Aphorismus in den Blättern für die Kunst: „Mit dem Epheukranz in den Locken wollte er Gebete stammeln und siehe: sein Mund verwirrte sich. Hölderlin“ (Wolfskehl 1896). 108 Des geringen literarischen Anspruchs seines Dramas war sich Hardt durchaus bewusst. Otto Brahm, bei dem er durch frühere Dramen in einem gewissen Ansehen stand, las das Schauspiel noch vor dem Druck. Das Urteil des führenden Vertreters des naturalistischen Theaters fiel dabei unmissverständlich negativ aus: Der Dialog sei „nicht lebenstreu“ und das Ganze „wenig überzeugend“, was er mit allgemeinen Schwierigkeiten verband, in die jeder Dramatiker bei der „Darstellung von Künstlerkämpfen“ gerate (Brief an Hardt vom 12. Juni 1902, vgl. Meyer 1975, 15f.). Kein geringerer als Rainer

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Theaterprojekt blieb ihm hingegen wegen der kargen Editions- und Forschungslage ohnedies verwehrt. Erwähnt werden soll hier noch ein dritter Anziehungspunkt, der ebenfalls Hardts Rekurs auf Hölderlin bedingt und seit der Romantik als Verbindungsglied zwischen der von der Sprache und der Biographie ausgehenden Faszination gelten kann: Hölderlin als Identifikationsfigur. Dazu wurde er, weil man ihn als eine dichterische Genialität und existentielle Not verbindende Gestalt betrachtete. Virulent war etwa gerade während der Entstehungszeit des Stückes eine durch die Parallelisierung mit Nietzsche potenzierte Engführung von sprachlich-denkerischem Radikalismus und dadurch bedingter Gefährdung ‚normaler‘ Lebensverhältnisse, was Hölderlin und manche seiner Figuren (vornehmlich Empedokles) zu zugleich anziehenden und bedrohlichen Folien für heterogene Identifizierungsprozesse machte (vgl. 2.2). Im Schauspiel Der Kampf ums Rosenrote, in dem auch, wie für Hardts frühe Dramatik überhaupt, der Einfluss Nietzsches erkennbar ist,109 genügt allerdings erst einmal Hölderlin als Figur, die zur Identifikation einlädt. Doch wird sie nicht vom um sein Künstlersein ringenden Vult vorgenommen, wie eigentlich zu erwarten wäre, sondern von seiner an Liebeskummer leidenden Schwester. Diese Identifikation erfolgt vorerst nur auf der biographischen Ebene und trägt sentimentale Züge. Kurz nach dem Redewechsel mit dem Bruder sagt nämlich Ella ausdrücklich mit Bezug auf Hölderlin: „Manchmal wünsche ich mir, ich möchte auch irre werden“ (20). Die Parallelisierung hat wohlgemerkt eine dramaturgische, ‚fiktionsinterne‘ Funktion, denn sie weist zusammen mit anderen verstreuten Signalen auf die gedrückte Stimmung Ellas hin, erhöht die Spannung kurz vor der unerwarteten Rückkehr des von ihr geliebten Robert Brück, dem atheistischen und sozialdemokratischen Freund ihres Bruders, sozusagen dem Bindeglied zwischen Ellas Liebes- und Vults Künstlerdrama, und antizipiert letztlich den unglücklichen Ausgang der Beziehung. Damit hat aber Hölderlin selbstverständlich nichts mehr zu tun: Dieser vorschnellen, wenn nicht trivialen Identifikation, die auf der kolportagehaften Biographistik des 19. Jahrhunderts basiert, kommt denn auch nur eine marginale Bedeutung zu.

|| Maria Rilke hingegen sprach sich über dieses und andere Dramen Hardts wohlwollend aus, obwohl nicht eingehend (Brief an Hardt vom 17. Juli 1903, vgl. ebd., 30ff.). Vgl. Anm. 117 zum Urteil von Hardts Mentor Botho Graef, Anm. 99 zu den Bedenken des ersten Rezensenten. Für Alfred Kerr, der die Handlung mit sarkastischen Nebenbemerkungen wiedergibt, ist der Mangel an Talent offensichtlich: „Man will ungern einem stillen, haltungsvollen Menschen wehetun, bloß weil er zufällig für die Dichtkunst [...] wenig veranlagt ist. Auch nachträglich konnten an seinem Zwangszustand zwei Schillerpreise nichts ändern“ (Kerr 1917, 74). 109 Vgl. dazu Song (2000) 31f., wo Vult als Nietzscheanischer „neuer Mensch“ gedeutet wird. Dort wird auch auf Hardts Ibsen-Interpretation im Zeichen Nietzsches verwiesen (Hardts Aufsatz Ibsens Menschenauffassung erschien 1900 in der Dresdner Zeitung, wo er als Feuillettonist und Redakteur aktiv war).

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Aufschlussreicher für die Dynamik der Hölderlin-Rezeption um 1900 ist ein weiterer, weniger expliziter, aber ebenfalls partieller Identifikationsprozess, der in der Dramenhandlung Vult betrifft und zugleich auf ein epochales Ereignis hin- und damit über die Grenzen der Fiktion hinausweist. Dass der willensstarke Vult (lat.: „er will“) seine ‚geheime‘ Vorbereitung auf ein Künstlerleben im Zeichen sprachlicher und biographischer Hölderlin-Begeisterung vornimmt, die ihn zur ‚Wiederentdeckung‘ der Ödipus-Übersetzung auch als performativ wirksamer Text bringt, ist Teil seines gegen den Vater und die Vätergeneration insgesamt geführten „Kampfs ums Rosenrote“, also um Selbstverwirklichung.110 In der Perspektive der Söhne und Töchter gehören die Eltern als „unsere natürlichen Feinde“ – so der ursprüngliche Titel des expressionistische Parolen vorwegnehmenden Schauspiels111 – auch deswegen einer überholten bornierten Welt, weil sie einer kunstfeindlichen Mentalität anhängen: Hölderlin wird in diesem Kontext zum Vorbild einer sich dagegen abhebenden Kunstbegeisterung und gilt zugleich als Opfer seiner poesiefeindlichen Zeit. Der „neue Mensch“112 Vult kann im Unterschied zu den anderen, eher als Opfer (die Frauengestalten) oder als Verlierer (Robert) entworfenen Figuren des Dramas aus der Faszination für Hölderlins Sprachgewalt Kraft und Mut schöpfen, um erfolgreich ein der (Bühnen)Kunst gewidmetes Leben zu führen – dies natürlich im Unterschied zu Hölderlin, weswegen nur von einer Teilidentifikation mit dem Dichter gesprochen werden kann. In diesem Sinne verkörpert Vult eine Generation von Dichtern, Künstlern und Intellektuellen, die tatsächlich kurz vor 1900 oft über verwickelte Wege und durch Kontakte zueinander Hölderlin für sich entdeckt und zur Galionsfigur einer je anders gestalteten Moderne gemacht hatte (im wirklichen Leben war natürlich die Selbstverwirklichung nur in einzelnen Fällen so erfolgreich wie im Schauspiel, wobei Hölderlin gegebenenfalls auch als ein Beispiel für ein gescheitertes Leben gelten konnte). Hardt inszeniert in seinem Kampf ums Rosenrote also nicht nur die kuriose Wiederentdeckung der so gut wie verschollenen Ödipus-Übersetzung und die emphatisch vorgetragene Bühnenwirksamkeit von Hölderlins Sprache, sondern auch den historischen Wendepunkt von einer ‚alten Zeit‘, die bis auf mehr oder weniger bekannte Ausnahmen Hölderlin ‚vergaß‘, zu einer ‚neuen Zeit‘, in der Hölderlin zum Zeitgenossen der modernen Dichter und Denker wurde. Ein Funken ‚Rhetorik der Wiederentdeckung‘, die in den späteren Jahren massiv angewendet werden sollte, scheint bereits in Hardts Drama durch. Die Analyse der Hölderlin-Stellen im Drama hat gezeigt, dass die Wurzeln von Hardts Rezeption tief ins 19. Jahrhundert reichen. Der fiktionale Hölderlin-Entdecker

|| 110 Der Titel wird textintern sozusagen gerechtfertigt: Die Geliebte Vults in Berlin, Käthe, erblickt in dessen Idealismus und Optimismus den „Sinn zu allem [...] das, wodurch alles Schöne wird... Das Rosenrote, wie Sie’s nannten“ (2. Akt; Hardt 1903, 59). 111 Zum zunächst erwogenen Titel vgl. Song (2000) 31. 112 Vgl. ebd.

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Vult mag die Ödipus-Übersetzung fast zufällig bei einem Antiquar gefunden haben, der reale Autor Hardt hat sich hingegen wohl in manche Quelle eingelesen – darunter höchst wahrscheinlich, wie die erörterten Passagen nahelegen, Bettina Brentanos Günderode. Sicher hatte Hardt auch Zugang zur Originalausgabe der Sophokles-Übersetzungen. Die Zitate sind ein Beweis dafür: Keine andere Quelle enthielt jene Passagen; Böhms Ausgabe war noch nicht erschienen, als das Drama entstand. Wie aber ist Hardt auf Hölderlin gekommen und speziell auf die Sophokles-Übersetzungen? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist anhand der zur Verfügung stehenden Materialien kaum möglich, das Erwägen der verschiedenen Möglichkeiten gewährt allerdings einen Einblick in die noch nicht genügend erforschte Präsenz Hölderlins in der „ästhetischen Kultur der Jahrhundertwende“ (Sprengel 2004, 539) vor der „Renaissance“ durch Hellingrath und den George-Kreis, weswegen hier die Position Hardts innerhalb einer Konstellation kurz zu skizzieren ist, die auch für in späteren Kapiteln zu erörternde Erscheinungen um 1900, wie etwa Rudolf Pannwitz, gilt (2.2.3.1). Die erste wichtige Figur in diesem Zusammenhang ist sicherlich der Berliner Archäologe Botho Graef,113 für den jüngeren Hardt seit 1892 eine Art Lehrmeister, Mentor und Vertrauter.114 Durch ihn kommt Hardt in Kontakt mit der modernen Literatur und Philosophie (die beiden lasen nachweislich Nietzsche und Ibsen zusammen),115 von ihm ermuntert verfasst er die ersten literarische Versuche, durch ihn erhält er auch Zugang zu Intellektuellen- und Künstlerkreisen, wo Hölderlin damals in aller Munde war, vor allem zur Schwester seines Mentors, Sabine Graef, und Reinhold Lepsius, die seit 1902 verheiratet waren. Mit Graef korrespondiert Hardt darüber hinaus in der Entstehungszeit von Der Kampf ums Rosenrote im Frühling 1902; aus diesem Briefwechsel stammen neben der Selbstaussage Hardts über die ästhetischen Mängel seines Schauspiels116 die m.W. einzigen expliziten Bemerkungen zum Rückgriff auf Hölderlin – und zwar seitens Graef, der in einem Schreiben vom 17. April 1902 „die wundervolle wirkung“ der Ödipus-Zitate hervorhebt, die „berechtigt, notwendig, ganz am platze“ und alles in allem ein „ungewöhnlich guter einfall“ seien.117 || 113 Botho Graef (1857–1917) promovierte und habilitierte in Berlin, war dann zuerst dort Privatdozent, ab 1904 a.o. Professor für Archäologie und neuere Kunstgeschichte in Jena. Aus den Berliner Jahren stammen sowohl der Kontakt zu Hardt als auch der Umgang mit den wichtigsten Intellektuellen und Künstlern der Zeit, die Graef an der Universität wie auch vor allem in den Salons frequentierte. Später datiert hingegen Graefs bekannte Verbindung zu den Malern des Expressionismus wie Nolde und Kirchner. 114 Schlüsser (1994) weist auf eine homoerotische Komponente des Verhältnisses seitens Graef hin. 115 Dass auch Hölderlin Teil der literarischen Initiation war, kann nur vermutet werden. 116 „Aufrichtig gesprochen als Kunst erwas minderwertig und sehr vulgär“, Brief an Graef vom 15. April 1902, unveröffentlicht, zit. nach Schlüsser (1994) 32. 117 Ebd., 35. Gerade weil die Hölderlin-Zitate so treffend eingearbeitet seien, rät Graef Hardt, das Schauspiel von den exzessiven Goethe-Bezügen zu entlasten. Der Ton, mit dem Graef auf die Hölderlin-Zitate eingeht, lässt vermuten, dass der Dichter bereits Konversationsthema der beiden war.

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1902, das Entstehungsjahr von Kampf ums Rosenrote, war kein unwichtiges Jahr für die Hölderlin-Rezeption: Rudolf Pannwitz, der übrigens damals auch im Salon der Lepsius verkehrte (wie bekanntlich Dilthey, Rilke, Simmel und George), schreibt die erste Fassung seiner Empedokles-Tragödie (vgl. 2.2.2.4); Wilhelm Böhm promoviert bei Erich Schmidt in Berlin (wo Dilthey lehrte und Pannwitz studierte) mit einer Arbeit über den Empedokles, dem ersten vieler wichtiger Beiträge zur Hölderlin-Forschung;118 Paul Ernst119 plant eine Hölderlin-Ausgabe (bei Diederichs, einem Verleger, der Hölderlin zu schätzen wusste120) und bekommt Anfang Januar 1903 die briefliche Aufforderung: Sehen Sie sich doch auch dessen Sophokles und die noch ganz unbekannten Pindar-Deutschungen an, die der Bonner Litzmann besitzt [...] Auch die unbedingt authentischen Aufzeichnungen welche die Bettine in der Günderode giebt, und die von außerordentlichster Bedeutung sind, sprachlich und materiell sollten Sie wenn möglich aufnehmen.

Dieses Schreiben aus München, dem zweiten Hauptort der damaligen Hölderlin-Rezeption, enthält zwar eine Fehlmeldung – die „Pindar-Deutschungen“ Hölderlins, sprich seine damals noch unveröffentlichten Pindarübertragungen, lagen nicht in Bonn, sondern in Stuttgart, wo Hellingrath sie wenige Jahre später ‚entdecken‘ sollte – zeugt aber anschaulich von einer Aufbruchsstimmung: In einigen Kreisen der sich konstituierenden literarischen Moderne gärt die Hölderlin-Renaissance. Der Briefschreiber ist auch keine unwichtige Figur dieser Bewegung: Karl Wolfskehl, der bereits 1895 als erster im George-Kreis den Anstoß gab für die Rückbesinnung auf || 118 Die Studien zu Hölderlins Empedokles wurden am 13. Dezember 1902 verteidigt; ein Jahr darauf wurde Böhm mit der Hölderlin-Ausgabe bei Diederichs betraut; die Dissertation erschien lediglich partiell (Böhm 1902). Böhms Hölderlin-Interpretation gipfelte in der zweibändigen Monographie der Weimarer Jahre (Böhm 1928–30). Dazu vgl. Pellegrini (1965) 117–137 (auf die spätere Produktion zentriert) und, etwas verklärend, Kelletat (1960); vgl. auch IGL (ad vocem) sowie zu Böhms später Hyperion-Interpretation (1943) und ihrem Verhältnis zur NS-Propaganda Castellari (2002) 218–222. 119 Paul Ernst sollte später zur produktiven Hölderlin-Rezeption beitragen, sowohl mit der Novelle Hölderlin (1920, Erstdruck in den Geschichten von deutscher Art) als auch in der Genremischung der 1912–20 entstandenen Erdachten Gespräche (Episode In der Ewigkeit, vgl. Ernst 1921, 317–331). Seine erste Begegnung mit Hölderlin datiert Ernst selber auf die Schuljahre – sie wird in den Jugenderinnerungen erzählt und kann als paradigmatisch für das Hölderlin-Erlebnis seiner Generation gelten: „Seine Gedichte und den Hyperion kaufte ich in der Reclamschen Ausgabe. [...] An Hölderlin habe ich zuerst erfahren, was Lyrik ist. Vielleicht war die Ursache eine Ähnlichkeit des Erlebens. [...] Auch Hölderlin ist durchaus Jüngling. [...] Es fiel wie in einen tiefen Brunnen, wo es nun ruhte. Es ist irgendwie Eins mit mir geworden“ (Ernst 1930, 297–300). Zu Ernst vgl. einführend Châtellier (2002), wo unter den „frühen Leseeindrücken“ auch Hölderlin erwähnt wird (28), und Thomé (2002). Zu den Erdachten Gesprächen vgl. Pirro (2016) 173–201. Zu Ernsts Hölderlin-Rezeption vgl. die belasteten Wocke (1943) 193ff. und Bartscher (1942) 180ff.; neuerdings Gaier (2002a) 481. 120 Diederichs Hölderlin-Bild war um 1900 zeittypisch durch Nietzsche geprägt (Heidler 1998, 517f.). Bereits 1898 war bei Diederichs das Hölderlin-Buch Müller-Rastatts erschienen, es sollten dann die Ausgabe Böhms (1905 und wieder 1911) und Hellingraths Dissertation folgen (1911).

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Hölderlin,121 gab 1902 zusammen mit Stefan George die Anthologie Das Jahrhundert Goethes. Deutsche Dichtung III heraus und erhob darin Hölderlin in den deutschen Lyrik-Kanon.122 In den unmittelbar darauf folgenden Jahren sollte Wolfskehl, der „Zeus von Schwabing“, weiterhin als geheimer Motor der ‚Wiederentdeckung‘ Hölderlins fungieren,123 indem er sowohl den jungen Hellingrath bei seinen Hölderlin-Studien ermunterte als auch zum Vermittler zwischen diesem und dem GeorgeKreis wurde. Damit, obgleich er selbst nicht mehr mit einschlägigen Veröffentlichungen hervortrat, prägte er die ‚Hölderlin-Renaissance‘ stark mit. Als wichtigstes Ergebnis von Wolfskehls Vermittlung kann 1910 das Erscheinen der frisch entdeckten Pindaürbertragungen in dem mit der Zeitschrift verbundenem Verlag gelten.124 Zurück aber zur Vorgeschichte der ‚Wiederentdeckung‘. Ernst Hardt selber hatte durch seine Beziehungen seit Ende des 19. Jahrhunderts Kontakte zu George und seinem Kreis sowie zu Paul Ernst.125 Dass ihm durch den Letztgenannten Einblick in die Vorarbeiten der Hölderlin-Ausgabe gewährt worden sei – und, für unsere Spurensuche entscheidend, in die Sophokles-Übersetzungen – ist zwar möglich. Dies war aber schwerlich die Hauptanregung oder gar die Quelle für die Einarbeitung der ÖdipusStellen und für den allgemeinen Rekurs auf Hölderlin in seinem Drama. Die Quellen dokumentieren erst für den Anfang des Jahres 1903, mit dem erwähnten Brief Wolfskehls, die Einbeziehung der Übersetzungen in den Editionsplan, das bedeutet knapp zehn Monate nach der Fertigstellung von Hardts Schauspiel.126 Ebenso unwahrscheinlich ist die umgekehrte Hypothese, dass Hardts ‚Wiederentdeckung‘ Hölderlins in Kampf ums Rosenrote die Bemühungen um den Wiederabdruck der Sophokles-

|| 121 Vgl. die in den Blättern für die Kunst erschienenen Aphorismen Blicke und Blitze (Wolfskehl 1896). Schon ein Jahr davor hatte Wolfskehl an anderem Ort Hölderlin zu den Stefan George „artverwandte[n] Meister[n]“ gezählt (Wolfskehl 1894). Dadurch begründete Wolfskehl eine Ahnenreihe, die lange Zeit kreisintern bestätigt wurde (vgl. Salin 1950 sowie speziell zu Wolfskehls Rolle Salin 1954, 162–232). 122 Vgl. George/Wolfskehl (1902). Die zwanzig aufgenommenen Gedichte Hölderlins (von Dem Sonnegott bis Andenken) zeugen von der wachsenden Berücksichtigung seiner Lyrik; die erste öffentliche Auflage (1910), in der Wie wenn am Feiertage... in Hellingraths Textkonstitution und mit dem Titel Hymne hinzukam, sollte größere Resonanz erfahren; die dritte Auflage (1926) änderte den HölderlinKorpus nicht mehr. 123 Zu Wolfskehls im Münchner literarischen Leben um 1900 vgl. Castellari (2010b). Seine Vermittlungsfunktion übte er in puncto Hölderlin bei Hellingrath (vgl. Pieger 1999) und auch weit über die Grenzen des George-Kreises hinaus. 124 Zur genaueren Erörtertung vgl. 3.1.1. 125 Vgl. Meyer (1975), sowohl die biographische Einleitung als auch die kommentierten Briefe an Hardt. Zwischen 1897 und 1901 konnte Hardt auch einige seiner Gedichte und Übersetzungen aus dem Französischen in den Blättern für die Kunst publizieren, vgl. Feilchenfeldt (2010) 204. 126 Auch rein textuell sind Hardts Zitate kaum in Verbindung mit der Böhmschen Ausgabe zu bringen, denn die Passagen stimmen wegen kleiner orthographischer Abweichungen nicht überein, vgl. Böhm 3, 137; 208.

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Übersetzungen direkt angeregt habe,127 dies sowohl aus chronologischen Gründen als auch deswegen, weil Wolfskehls Plädoyer von größerer Bedeutung erscheint. Paul Ernst ist jedenfalls Wolfskehls Rat gefolgt: Nicht nur den Neudruck der Sophokles-, sondern offenbar auch die Erstveröffentlichung der Pindar-Übersetzungen hat er erwogen. Selbst die von ihm herausgegebene Günderode-Ausgabe bei Insel könnte auf den Wink des Münchners zurückgehen.128 Nur stößt Ernsts Hölderlin-Plan auf Schwierigkeiten, die einen beträchtlichen Zeitverlust bewirken und erst durch einen Wechsel der Herausgeberschaft gelöst werden. Bereits Anfang 1904 liegt Ernsts Einleitung für die Hölderlin-Ausgabe vor, die aber der Literaturhistoriker Franz Schultz in einem Brief vom 7. Mai an Diederichs (der ihn wohl als Berater herangezogen hat) wegen des „zu starken Nachdruck[s] auf das Pathologische“ tadelt.129 Derselbe Schultz empfiehlt Diederichs seinen Freund Wilhelm Böhm, indem er lobend die Ergebnisse von dessen Empedokles-Dissertation auflistet: „eine vollständige Neuordnung der Bruchstücke, richtigere Lesungen, eine Menge Ergänzungen“. Schultzens informelles Gutachten, in dem übrigens ausdrücklich die Absicht befürwortet wird, „keine Auswahl“, sondern eine möglichst komplette Ausgabe zu verlegen, „auch die Sophoklesübersetzungen ganz“ – bewirkt eine editionspolitische Wende. Vier Tage später schreibt Ernst, der offensichtlich eingeweiht worden ist, einen Brief an Wilhelm Böhm und betraut darin den frisch Promovierten mit der Herausgabe des Bandes zu Empedokles und den Sophokles-Übersetzungen. Ernst verleiht dabei auch seinem Wunsch Ausdruck, Wolfskehls früherem Hinweis nachzukommen: „Mit großer Freude würde ich es begrüßen, wenn aus dem Nachlaß wenigstens noch die Pindarübersetzungen mit abgedruckt werden könnten“.130 Aus demselben Brief geht auch hervor, dass die Arbeit an dem der Lyrik gewidmeten Band so gut wie abgeschlossen war. Ernsts Einleitung aber, wie er in späteren Briefen ausdrücklich klagt, will Diederichs nicht länger drucken.131 Böhm übernimmt dann auch Ernsts Aufgabe, wird zum Hauptherausgeber der dreibändigen, unkommentierten Ausgabe und druckt darin 1905 auch die Sophokles-Übersetzungen, ein Jahr nach der Uraufführung von Hardts Drama, wo sie erstmals einem Theaterpublikum gereicht wurden. Trotz Ernsts Bemühungen bleibt Hölderlins Pindar dagegen noch der Öffentlichkeit verborgen.

|| 127 So hingegen Wocke (1941) 254: „Auf die Erwähnung in dem Stück [Der Kampf ums Rosenrote; M.C.] ist es übrigens zurückzuführen, wenn Eugen Diederichs den bis dahin geltenden Bann aufhob und die Übertragungen in die Ausgabe seines Verlages aufnahm“. Beweise dafür werden nicht erwähnt. 128 Bettinas Buch erschien 1904 mit einem Vorwort von Paul Ernst, wo auch Hölderlin erwähnt wird. 129 Der Brief wird aus Kelletat (1968) 264f. zitiert. Darauf sei auch für eine Rekostruktion der Rolle Ernsts bei der Diederichs-Ausgabe verwiesen. 130 Brief vom 11. Mai 1904, vgl. ebd., 266. 131 Ebd., 266ff.

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Die Zirkulation von Hölderlin und seinem Werk (einschließlich der als Geheimtipp geltenden Sophokles-Übersetzungen) in den Kreisen, mit denen Hardt in Kontakt war, zeugt also von einer verschiedenen Formen der ‚Wiederentdeckung‘ günstigen geistigen Atmosphäre. Sie zeugt aber auch davon, dass solche Rückgriffe auf Hölderlin gegen die gängige Forschungsmeinung bereits vor und um 1900 intensiv stattfanden. Auch die starke Abhängigkeit von der älteren, romantischen und nachromantischen Rezeption ist zum Vorschein gekommen. Die Zitate im Kampf ums Rosenrote, die darüber beredtes Zeugnis ablegen, konnten aber nicht auf eine ihnen direkt zugrunde liegende Quelle bezogen werden. Ist Hardt tatsächlich, wie seine fiktive Figur Vult, zufällig auf Hölderlins ÖdipusÜbersetzung bei einem Antiquar oder in einer alten Bibliothek gestoßen? Hat er von der Sprachkraft Hölderlins an der Universität, von Graef, im Salon der Lepsius gehört? Hat er sie direkt erlebt durch die damals weit verbreitete Lektüre der Gedichte oder des Hyperion, oder indirekt, etwa in der Günderode, oder hat er sich selbst einen Einblick in knapp hundert Jahre alte Bände verschafft, woraus das zeittypische Hölderlin-Erlebnis hervorging? Diese zweite in verschiedenen Varianten denkbare Option ist durchaus wahrscheinlich. Noch eine Fährte lohnt es sich schließlich zu verfolgen, die uns ebenfalls zu einem Hölderlin-Kenner und einer wichtigen Figur der Kultur der Jahrhundertwende führt, die jedoch in späteren Jahren zum George-Kreis und dessen ‚Hölderlinismus‘ sowie zu einer allgemein gefassten ‚Moderne‘ in Opposition zu stehen pflegte: Rudolf Borchardt.132 In seinem Frühwerk Gespräch über Formen, geschrieben nach eigener Angabe 1900–01, also mit 22–23 Jahren, unterhalten sich die Figuren Arnold, „ein junger Mann“, und Harry, „ein noch jüngerer Mann“, wobei der Ältere sich als Übersetzer von Platons Lysis ausgibt und also mit Borchardt selbst identifizierbar ist (dem

|| 132 Zu Borchardt und Hölderlin vgl. Wagenknecht 1997, wo die erste eingehende Auseinandersetzung mit Hölderlins Texten auf Borchardts Bonner Studentenjahre datiert wird: „Borchardt war in den letzten neunziger Jahren als Bonner Student mit Hölderlin näher bekannt geworden, in Berthold Litzmanns Seminaren“ (139). In einem Brief an Wolfskehl vom 31. März 1901 datiert Borchardt allerdings die erste Begegnung mit Hölderlin auf eine noch frühere Zeit (vgl. Knödler 2010, 201). Sowohl Wagenknecht als auch Knödler erörtern dann die berühmt-berüchtigte Borchardtsche Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926), wo acht Texte Hölderlins inklusive der dubios als Skizze zu einer Ode edierten Hälfte des Lebens aufgenommen sind. Borchardts Frontstellung zum George-Kreis und zur Hölderlinrezeption auf Hellingraths Spuren war damals radikal. In Texten der Jahre 1925 bis 1930 ist von der „Hölderlinkrankheit des angehenden zwanzigsten Jahrhunderts“ bzw. der „Hölderlinmode einer schlaffen, impotenten und verweichlichten Generation von Wortemachern“ die Rede; fast wie ein Überbleibsel aus den Ansichten seines universitären Lehrers Litzmann lesen sich Borchardts Worte über Hölderlins Pindarübertragungen: „tastende Interlinearversionen eines Griechisch Lernenden, der sich mit Stifte um das genaue Verständnis von Wort nach Wort quält, während in der zerstörten Persönlichkeit die Worte und Begriffe bereits zu rollen und zu bersten beginnen“ (zitiert in Wagenknecht 1997, 140).

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Gespräch folgt in der Buchedition Platons Lysis Deutsch in Borchardts Übersetzung). „Ich werde ihnen nachher ein kleines Buch mitgeben“, sagt Arnold, das Sie Mühe hätten, anderswoher zu erhalten. Es heißt „Tragödien des Sophokles von Friedrich Hölderlin“. Ich möchte, daß Sie darin die Rede läsen, in der der Bote im Ödipus den Tod der Jokaste erzählt, und dann durch den Band hin die von mir angestrichenen Stellen mit dem Original verglichen. Sie werden dann nämlich sehen, daß Hölderlin sehr durchsichtige Dinge nicht verstanden hat, einfach, weil er nicht genug Griechisch konnte. Dann aber lesen Sie die Rede des Boten noch einmal. Ich müßte Sie nicht kennen oder Sie werden um ein großes Erlebnis reicher geworden sein. (Borchardt 1905, 16)

Anfang und Ende der Stelle sind besonders interessant für unsere Belange, während der Hinweis auf Hölderlins mangelhafte Griechischkenntnisse nicht originell und in diesem Zusammenhang weniger wichtig ist.133 Zunächst erinnert der rhetorische Gestus Arnolds, der auf das schmale Bändchen („ein kleines Buch“) und auf dessen Seltenheit hinweist (Harry würde es kaum „anderswoher [...] erhalten“), daran, wie dieselbe antiquarische Rarität in Hardts Drama auftauchte – mit gekonnter Verspätung hatte Vult dort der Schwester den „richtige[n] Schatz“ präsentiert, den er „beim Antiquar entdeckt“ hatte. Zweitens rekurriert bei Borchardt die Aufforderung zum Lesen, die auch im Schauspiel zentral war und gerade wie hier – drittens – als Königsweg zum einem „große[n] Erlebnis“ betrachtet wurde. Bei Borchardt ist zwar nicht vom lauten Lesen die Rede, jedoch suggeriert der Hinweis auf eine erneute Lektüre („Dann aber lesen Sie die Rede des Boten noch einmal“) die Vorstellung, dass die Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit von Hölderlins Übersetzungen ein sprachliches Abenteuer darstellt, das auch jenseits der wörtlichen Übereinstimmung mit dem Original eine lohnende Aufgabe ist. Wie bis dahin nur in ganz wenigen Rezeptionsdokumenten scheint bei Borchardt ein Verständnis von Hölderlins Ödipus nicht nur oder nicht so sehr als Übersetzung, sondern auch als eigenständiges sprachliches Meisterwerk auf. Die Nähe zu Hardts Hölderlin-Operation, die in den Stichworten Inszenierung von Vergessenheit und Entdeckung, sprachliche Begeisterung und Aufforderung zum Hölderlin-Erlebnis zusammenzufassen ist, ist frappant. Im Schauspiel sind natürlich auch Spuren der biographischen Rezeption des 19. Jahrhunderts zu finden, die in

|| 133 Auch Borchardts Urteil über die Sophokles-Übersetzungen, bei dem Faszination und Mißbilligung gleichermaßen zusammenlaufen, stammt wohl aus der Bonner Studienzeit. In den literarhistorischen Übungen bei Litzmann, die Patmos und Der Rhein galten, sei auch der „vehement[e] Hinweis auf Hölderlins damals verschollene Sophokles-Übersetzungen“ gefallen, den Borchardt im Rückblick als „ersten Anstoß zu ihrer bald darauf erfolgenden Aufnahme in die Werke“ versteht (Borchardt 2002, 405). Stellt hier Borchardt einen direkten Zusammenhang her zwischen Litzmanns „Hinweis“ auf Hölderlins Sophokles und der Böhmschen/Paulschen Ausgabe bei Diederichs? Wie dem auch sei: Anders als die Pindarübertragungen waren die Sophokles-Übersetzungen in akademischen Kreisen partiell rehabilitiert worden, als 1905 der Neudruck erfolgte.

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Borchardts dialogischem Essay fehlen. Zwar ist Borchardts Gespräch erst 1905 erschienen, „den Wiener und Göttinger Freunden“ wurde es jedoch nachweislich wiederholt vorgelesen;134 Hardt, der nicht strikt zu den beiden Freundeskreisen gehörte, stand in persönlichem und brieflichem Kontakt zu Borchardt sowie zu einigen seiner Freunde. Der kaum zufällig zu nennenden Verwandtschaft zwischen der Stelle aus dem Gespräch und der Szene in Kampf ums Rosenrote stehen also konkrete Kontakte zwischen den beiden Autoren zur Seite, welche die Hypothese einer Abhängigkeit bekräftigen. Unter den verschiedenen Sternen der fin de siècle-Konstellation, die Hardts Begegnung mit Hölderlin ermöglichten, von Graef über Wolfskehl und Ernst, war Borchardt also einer der hellsten. Anders als viele seiner Zeitgenossen sollte Ernst Hardt in seiner späteren kulturellen Tätigkeit nur am Rande wieder mit Hölderlin in Berührung kommen,135 sein schwaches frühes Schauspiel Der Kampf ums Rosenrote hatte über die ersten zwei Jahrzehnte hinaus keine Langzeitwirkung. Zur Zeit seiner Aufführung hatte jedoch auch dessen in manchem triviale Hölderlin-Operation eine gewisse Resonanz inmitten des wachsenden Interesses für den Dichter und Übersetzer, wie eine bemerkenswerte Erwähnung aus dem Jahr 1911 beweist. Als in seiner bei Diederichs erschienenen Dissertation Hellingrath die „meinungen über die trauerspiele des sophokles“ erörtert (gemeint sind die negativen Reaktionen im 19. Jahrhundert, vgl. 2.1.1) und sie der „einzige[n] beurteilung der Pindarübertragung“ zur Seite stellte, die „1846 in Schwabs biographie“ zu finden war, klagt er, dass man durch solch ein „verwerfendes Urteil [...] sich hinwegsetzen [konnte] über was die Bettine gesagt hatte von Hölderlins sprache in den Trauerspielen des Sophokles“. Die Anmerkung führt dann zur Günderrode – ein Hinweis, den Hellingrath, wie gezeigt wurde, Wolfskehl verdankt – und fügt hinzu: „vgl. aus neuerer Zeit: Ernst Hardt zu beginn seines dramas Der kampf ums rosenrote 1903/Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen Leipzig 1905 das überhaupt sehr viel hierhergehöriges enthält [...]“.136 In einer Fußnote des Gründungsaktes der Hölderlin-Renaissance sind also die wichtigsten Spuren einer || 134 Vgl. dazu und zur Datierung die Herausgeber-Anmerkungen in Borchardt (2002) 532–535, wo auch die zeitliche Nähe zur Entstehung der Platon-Übersetzung thematisiert wird. 135 „In der Zeit, da er Leiter des deutschen Nationaltheaters in Weimar war, brachte Hardt auch den ‚Empedokles‘ heraus, und während seiner Tätigkeit am Westdeutschen Rundfunk ließ er oftmals Gedichte Hölderlins über den Sender sprechen!“. So Wocke (1941) 254, der allerdings Rezeptionsfälle überschätzt, die im Rahmen der in den 1920er Jahren florierenden Hölderlin-Renaissance keineswegs Ausnahmerscheinungen darstellten und bei denen Hardt keine Rolle mehr spielte (vgl. 3.1.2). 136 Der Passus erwähnt darüber hinaus auch Kurt Hildebrandts Attacke gegen Wilamowitz-Moellendorffs Tragödienübertragungen, in der Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als „von unsäglicher Schönheit im dichterischen Rhythmus“ charakterisiert und als Gegenbeispiel zu den „recht prosaisch[en]“ des berühmten Altphilologen angeführt werden. Dazu und zur ähnlich lautenden Verurteilung der „angeblichen Übersetzungen der Vieweg Marbach Wilamowitz Schnabel, die den Sophokles in Wahrheit verzerren und verhöhnen“ im Sophokles-Band von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe (Hell. 5, XIII) vgl. 3.1.1.

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Tradition präsent, die noch in den dunklen Stunden der ‚Vergessenheit‘ bzw. kurz vor der offiziellen ‚Widerentdeckung‘ Hölderlins Sophokles begeistert rezipiert und insbesondere den Ödipus produktiv transformiert hatte. Die Forschung, die Hellingraths Arbeit und gesamte Leistung intensiv gewürdigt hat, war diesen Spuren bisher nicht gefolgt. Wie hier gezeigt wurde, wurden in den ersten hundert Jahren der Rezeption der Sophokles-Übersetzungen (1804–1904) sowohl begriffliche Formeln entwickelt (allen voran: „Rhythmus“), die für die spätere Rezeption des Gesamtwerks Hölderlins reaktiviert wurden, als auch Versuche unternommen, seine übersetzerische Arbeit als dichterische Leistung zu betrachten, die zur literarischen Adaption, zur ästhetischen Reflexion und zur performativen Realisation in der jeweiligen Moderne geradezu einlädt.

2.2 Lyrisches Lesedrama schlechthin? Der Tod des Empedokles bis um 1900 Zwischen der Niederschrift der Empedokles-Bruchstücke (1798–99) und ihrer Stuttgarter Uraufführung am 4. Dezember 1916 in der Bearbeitung von Wilhelm Scholz vergehen fast hundertzwanzig Jahre, in denen das Trauerspiel ein bühnenfernes Leben fristet – für das erste Jahrhundertviertel auch ein so gut wie öffentlichkeitsfernes, denn die erste partielle Edition erfolgte 1826. In den darauffolgenden neunzig Jahren wurde das Werk meist als lyrisches Lesedrama rezipiert. Vereinzelte Positionen innerhalb der kritischen und literarischen Aufnahme und vor allem einige Beispiele einer im Ansatz produktiv-transformativen Rezeption des Empedokles zeugen aber von einer Wirkung der Dramenfragmente, die über diese vorherrschende Tendenz hinausgeht. Zwischen Romantik und Jahrhundertwende entwickelt sich im Rahmen einer europaweiten Faszination für Empedokles, die nicht immer eindeutig mit Hölderlins Fragmenten zu verbinden ist, eine Rezeptionsgeschichte von Hölderlins Tod des Empedokles vor der sogenannten ‚Renaissance‘, die bisher wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat. Nicht nur als Prämisse für die ‚Wiederentdeckung‘ und Bühnenrezeption, sondern auch als facettenreiches Phänomen, in dem sich kulturelle Konstrukte und literarisch-philosophische Diskurse des 19. Jahrhunderts widerspiegeln, soll sie deshalb rekonstruiert werden. Dies erfolgt im Folgenden in drei Hauptteilen, in denen einerseits übergreifende Konstellationen dargelegt werden, wobei die spezifischen Merkmale der Empedokles-Rezeption gegenüber der bei Gelegenheit der Aufnahme der Sophokles-Übersetzungen bereits illustrierten Grundtendenzen hervorgehoben werden, andererseits besondere Fälle produktiver Transformation(sversuche) von Hölderlins Trauerspielfragmenten gesondert erörtert werden. Wird in 2.2.1 zunächst ein hauptsächlich editions- und forschungsgeschichtlicher Überblick über die ersten Jahrzehnte geboten, um in 2.2.1.1 respektive 2.2.1.2 Ansätze transformativer Aufnahme zu beleuchten bzw. auf parallele Erscheinungen zur Hölderlin-Linie der Empedokles-

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Faszination zu verweisen, stellt das in 2.2.2 eingehend erörterte Beispiel Friedrich Nietzsches, das in rezeptionshistorischer Hinsicht die zentrale Erscheinung des Jahrhunderts ist, den Kulminationspunkt früherer Filiationen und zeitgenössischer Tendenzen dar, vor allem was seine konkrete Aussagen und literarische Versuche zu Hölderlin und Empedokles angeht. Gleichzeitig markiert er den Wendepunkt in der Herausbildung eines andersartigen Antike-, Empedokles- und Hölderlinbildes, was hauptsächlich in indirekter Form und bei kaschiertem explizitem Hölderlin-Empedokles-Bezug passiert. Früchte trägt dies „in der Nachfolge Nietzsches“ (Martens) unmittelbar vor und um 1900, wie in 2.3 mit Bezug auf die Empedokles-Rezeption und in 2.3.1 am speziellen Beispiel Rudolf Pannwitz aufgezeigt werden soll, der für die hölderlinsch-nietzschesche Relektüre der Vorsokratiker-Figur kurz vor dem Ausbruch der ‚Hölderlin-Renaissance‘ repräsentativ ist.

2.2.1 Der Tod des Empedokles im frühen und mittleren 19. Jahrhundert Anders als die beiden Sophokles-Übersetzungen blieb Der Tod des Empedokles in bruchstückhafter Form und zunächst unveröffentlicht; die von Hölderlin geplante Veröffentlichung in Iduna wurde wie das gesamte Zeitschriftenprojekt nicht realisiert. Erstmals ediert wurden Auszüge aus dem Trauerspiel 1826 in der Sammlung Gedichte von Friedrich Hölderlin – dies geschah zwar noch zu Lebzeiten des Dichters, jedoch zwanzig Jahre nachdem sich für ihn mit seinem forcierten Verlassen Homburgs und seinem Einzug in den Tübinger Turm eine aktive Teilnahme am literarischen und kulturellen Leben endgültig unmöglich geworden war. Die Herausgeber der Gedichte, Ludwig Uhland und Gustav Schwab, veröffentlichten im Anhang unter dem Titel Der Tod des Empedokles. Fragmente eines Trauerspiels. 1799 lediglich vier Szenen aus den heute respektive als „zweiter“ und „dritter Entwurf“ bezeichneten Fassungen der Tragödie.137 Die Aufnahme der dramatischen Fragmente (welche die schwäbischen Editoren wohl als Teile einer einzigen Fassung betrachteten) in eine Sammlung von Gedichten ist für jene Zeit eine durchaus übliche Praxis. Sie erklärt sich auch aus praktischen Gründen sowie aus der Beschaffenheit des Versdramas. Dieser Entscheidung lag daher wohl kaum das für das ganze 19. Jahrhundert typische, selbst in der späteren Hölderlin-Rezeption verbreitete kritische Vorurteil zugrunde, der Empedokles sei als „lyrisches“ Drama unspielbar oder zumindest theatralisch nicht interessant. Wichtig

|| 137 Vgl. Schwab/Uhland, 198–226. Die Verse sind nicht nummeriert; die Reihenfolge lautet wie folgt: Zuerst der Dialog zwischen Mekades und Hermokrates; dann zwei Szenen mit Empedokles und Pausanias, schließlich das Gespräch zwischen Empedokles und Manes. Vgl. auch Beißners Rekonstruktion in StA 4/2, 434.

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erscheint Uhland und Schwab bei der Veröffentlichung der Tragödienbruchstücke allerdings der Hinweis auf ihren werkbiographischen Schwellencharakter: Sie werden ästhetisch zwar in manchem gewürdigt, jedoch gleichzeitig wegen einiger vermeintlich dunkler, ja unverständlicher Passagen als Zeichen einer beginnenden psychischen Krankheit gedeutet. So sollte Schwab ein Jahr nach der Edition schreiben: Wirkliche Spuren sichtbarer Geistesverwirrung, an den Wahnwitz streifende Satzfügungen stellen sich mitten unter den erhabensten Gedanken und Bildern in den Gedichten „Andenken“ und „Die Wanderung“ ein. Selbst das bisher ungedruckte Fragment des Trauerspiels „Der Tod des Empedokles“ enthält neben vielem sogleich in seiner Herrlichkeit Verständlichen, sowohl in der Anlage, soweit auf sie geschlossen werden kann, als im Einzelnen, eine Menge Räthsel, die gewiß der Dunkelheit, die man in den Schriften des Helden Empedokles rühmte, Ehre machen müßten. (StA 7/4, 39–46, hier 45)

Bekanntlich sollte sich diese Auffassung lange Zeit halten, so dass auch Werke aus Hölderlins mittlerer Schaffensperiode im Schatten des im ganzen 19. Jahrhundert virulenten Wahnsinnsdiskurses rezipiert wurden. Die Selbstanzeige Schwabs, aus der hier zitiert wurde, wirkt sich neben der schon an sich problematischen, weil unvollständigen Überlieferung des Dramentextes insofern negativ aus, als dass von Vornherein Bedenken hinsichtlich der Verständlichkeit des Textes erhoben werden sowie eine Aura des biographisch-poetischen Kuriosums um die Fragmente gewoben wird – beides zählebige Vorurteile. Die zeitgenössischen Reaktionen auf den Erstdruck des Empedokles weisen in dieselbe Richtung: Einerseits wird dem Tragödienbruchstück oft mit der Bezeichnung „lyrisch“ die dramatische Qualität abgesprochen, andererseits begünstigen die ersten Interpreten die Identifikation der Hauptfigur mit dem Dichter (Biographismus). Als „etwas steif“ wird der „dramatische Versuch“ von einem anonymen Rezensenten betrachtet, hinter dem sich wohl der Hölderlin gegenüber mehr als wohlgesinnte Karl Philipp Conz verbirgt.138 Für den im vorigen Kapitel bereits erwähnten, Hölderlins Le-

|| 138 Zu Conzens „freundliche[r] Aufnahme“ (so Hölderlin selbst) des Hyperion, die auch in einer Rezension ihren Ausdruck finden sollte, vgl. Castellari (2002) 59–61. In einem Brief an August Mahlmann vom 8. September 1809, in dem der Tübinger Professor Texte „des [...] talentvollen, aber leider nun seit mehreren Jahren von einer traurigen Geistesstörung befangenen Dichters Hölderlin, meines Landsmannes und Freundes“ zur Publikation in der von Mahlmann herausgegebenen Zeitung für die elegante Welt anbietet, hatte er auch den „Anfang [...] eines Dramen in Jamben [...] Empedokles auf dem Aetna“ erwähnt und das Fragment (wohl also die im Stuttgarter Foliobuch enthaltene „dritte Fassung“) als eine Art Mittelstufe charakterisiert zwischen „früher komponierten“ Gedichten, die sich „vorzüglich durch Wärme und Innigkeit des Gefühls [...] auszeichnen“ würden und „späteren“, die „schon zu viel den Stempel einer gewissen überschwänglichen Spitzfindigkeit, idealisierenden Ungemeinheit und manierierten gräcisierenden Form [aufweisen würden], als daß sie allgemeinen Beifall könnten ansprechen“. Das Drama sei „schon jenem Ton annähernd, aber doch bei der Tiefe des Gefühls noch von mehr Klarheit, als manches neuere spätere“ (StA 7/3, 399).

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ben als „Gedicht“ bezeichnenden Wolfgang Menzel fungiert der Empedokles als zusätzliches Beispiel für ein durch und durch biographistisch als Ausdruck solipsistischer Erhabenheit gedeutetes dichterisches Werk: Den Schluß des Ganzen macht ein unvollendet gebliebenes Trauerspiel, der Tod des Empedokles. Dieser Grieche stürzte sich in den Feuerschlund des Aetna, und so spricht auch hier wieder die kühne, schöne, in ihrer Zerrissenheit noch so erhabene Seele des Dichters aus. (1827, vgl. StA 7/4, 50–52, hier 51f.)

Zu diesem Zeitpunkt fand im Dickicht biographischer Interferenzen nur Achim von Arnim den Weg zur Anerkennung der dramatischen Qualität von Hölderlins „großartigem“ Empedokles (1828, StA 7/4, 56) – er konnte von den dramatischen Fragmenten allerdings bereits vor ihrem Erstdruck in den Gedichten in einer Handschrift Kenntnis erhalten. Die Lektüre hat ihn sogar zunächst zum Plan einer Fortsetzung bzw. Vollendung von Hölderlins Empedokles bewogen, wie später noch dargelegt werden wird (vgl. 2.2.2.1). Die Mehrzahl der Kritiker war allerdings anderer Meinung. Der vielleicht wirkungsmächtigste Text der Hölderlin-Rezeption im 19. Jahrhundert bringt es auf den Punkt: „es ist wohl unbestreitbar“, heißt es im 1831 erschienenen Friederich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn von Wilhelm Waiblinger, „daß sein poetisches Talent kein dramatisches, sondern ein rein lyrisches war“ (StA 7/3, 59). Waiblinger begründet damit das Scheitern vom „Plan zu einer Tragödie“, den er fälschlicherweise mit einem Schweizer Aufenthalt Hölderlins in Verbindung bringt. Mit diesen Worten139 setzt Waiblinger jedenfalls Akzente für die spätere Rezeption von Hölderlins Theater insgesamt, zumal er keine weiteren Bemerkungen in dieser Hinsicht hinzufügt: Auf den restlichen Seiten seiner resonanzreichen Schrift wird Empedokles nicht mehr erwähnt. Nicht nur in zahlreichen Deutungen des Empedokles, sondern auch in vielen Aufführungsberichten des im 20. Jahrhundert endlich auf die Bühne gelangenden Trauerspiels sollte die Bühnenuntauglichkeit des als „lyrisch“ zwar literarisch gewürdigten, aber zugleich unter theatralischen Gesichtspunkten bemängelten Textes zu Variationen von Waiblingers Verdikt führen: „Aber Hölderlin war kein Dramatiker“ oder „Zum Dramatiker war Hölderlin nicht berufen“.140 Noch Mitte der 1960er Jahre konstatiert Friedrich Beißner:

|| 139 Da Waiblinger nicht näher darauf eingeht, könnte es sich dabei um einen Verweis auf das vermeintlich von Hölderlin geplante Drama handeln. Das vermutet zum Beispiel Adolf Beck (vgl. StA 7/3, 84; zum Dramenprojekt vgl. oben, Teil I, Anm. 32). Waiblingers Pauschalurteil machte jedenfalls Schule. 140 So zwei Kritiken zur Uraufführung vom Tod des Empedokles in der Bearbeitung und der Regie von Wilhelm von Scholz (Stuttgart, Königliches Hoftheater, 4. Dezember 1916), respektive von D [K. Düssel?] im Stuttgarter Neuen Tagblatt und von Hermann Missenharter in der Württemberger Zeitung (5. Dezember 1916). Zu Scholz und dem Empedokles vgl. 3.1.

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Das auch im dritten Ansatz nicht zu Vollendung gediehene Trauerspiel wird von nicht wenigen Kritikern, die ihm gerne hohe sprachliche Schönheit an einzelnen poetischen Stellen nachrühmen, als offenbarer Beweis dafür angesehen, daß die strenge dramatische Gattung dem Dichter, dem denn doch wohl zu „zarten“, zu „weichen“ Dichter, nicht liege: er sei eben ein Lyriker und kein Dramatiker. (Beißner 1964, 46)

Der große Hölderlin-Herausgeber stellt diesem lange währenden kritischen Vorurteil zwar „Hölderlins ursprüngliche[n] Sinn für das Drama“ gegenüber, der sogar in lyrischen Texten Spuren hinterlasse („stark dramatischer Einschlag“) und insbesondere in den Übersetzungen zum Vorschein komme („szenische Dichte und Fülle“).141 Dies führt Beißner aber etwas überraschend nicht zur Aufgabe des Vorurteils gegen das Drama.142 Ganz im Gegenteil: Mit einer an frühere Forschungspositionen erinnernden Argumentation spricht er dem Trauerspiel die Bühnenwirksamkeit ab:143 Man könne als Zuschauer (und vor allem als Zuhörer) zwar überaus schöne und eindrucksvolle Passagen genießen, „im ganzen jedoch bleibt ein heimlicher Verdruß, der nicht laut wird aus Respekt vor dem Dichter“, was dazu führe, dass man erwöge, „ob dieses für die konkrete Bühne vielleicht doch zu zerbrechliche ‚Weihespiel‘ als eine Art von Oratorium, nur sprachlich dargestellt, nicht zu besserer Geltung käme“.144 Mit diesem Kurzschluss verfällt man stracks einem der Literatur allzu verpflichteten Dramen- und Theaterbegriff: Lesedrama auf dem Papier, Sprechdrama im Theater. Im Unterschied zu vielen Zeitgenossen hat aber Hölderlin sein Trauerspiel (genau wie seine Tragödienübersetzungen) nicht nur als sprachlich zu realisierendes Kunstwerk konzipiert und entsprechend in szenisch reifer Form verfasst, wenn auch nur fragmentarisch. Dass das Empedokles-Stück nicht in einer musealen Aufführung

|| 141 „Es läßt sich zwar nicht rational begründen, das empfängliche Ohr jedoch kann es vernehmen, daß diese dramatische Rede szenische Dichte und Fülle hat, daß sie erst auf dem Theater eigentliches Leben gewinnt“ (Beißner 1964, 46). 142 Im 1961 erschienenen Empedokles-Band der StA hatte Beißner hingegen auf „Hölderlins genauen Sinn für dramatische Alterkation“ und allgemein auf seine geschickte Gestaltung von Rede und Gegenrede in den dialogischen Dramenpassagen verwiesen (StA 4, 316). 143 Zum Kontext von Beißners Argumentation (die allgemeine polemische Ausrichtung des Philologen gegen die „lange Reihe der Mißverständnisse, denen das unvollendete Trauerspiel bei Herausgebern, Deutern, Theater- und Rundfunkarbeitern ausgesetzt war“, ebd. 50) und zum konkreten Widersacher der Stunde (Schadewaldt, der 1962 seine 1957 verfasste Empedokles-Bearbeitung in zwei Akten aufführen ließ – offensichtlich ohne Beißners philologische Arbeit zu berücksichtigen) vgl. 3.2.2. 144 Am Ende des Aufsatzes wird dann doch eine „konkrete“ Bühnenaufführung als möglich bezeichnet; die vorgeschlagene Form der Darbietung ähnelt aber eher einem Blockseminar als einem Theaterabend: „Für Hölderlins Empedokles-Fragmente ließe sich, theoretisch, eine theatralische Darstellungsform denken. An zwei Abenden müßten die drei Bruchstücke in reinem Wohllaut auf der Bühne erscheinen (auf der Bühne, gestalthaft, nicht als ‚Oratorium‘), am ersten Abend die erste Fassung, am zweiten die beiden andern – und zwar: mit taktvoll zurückhaltenden Einleitungen und Überleitungen, Erläuterungen und Ergänzungen, die einem kunstsinnigen Publikum das vom Dichter Gewollte und Geplante deutlich machten, das schon Erreichte und noch Verfehlte“ (Beißner 1964, 61).

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als „Oratorium“ seine Wirkung entfaltet, sondern auf einer „konkrete[n] Bühne“, um Beißners Begriffe aufzugreifen, und in einer die sprachliche Dimension gerade erst performativ zur Geltung bringenden Inszenierung, ist bis auf einige Ausnahmen eine rezeptionsgeschichtlich spät gekommene Einsicht. Wie zäh solche kritischen Vorurteile noch bis vor Kurzem auf der Empedokles-Rezeption lasteten, davon zeugen nicht nur die eben angeführten Überlegungen Beißners145, sondern auch der ziemlich lange Weg, bis eine Aufführung auf der Bühne von Hölderlins Drama erst einmal möglich war und dann sich bei Kritik und Publikum auch wirksam durchsetzen konnte. Wenn man nun den Faden der kritisch-essayistischen Rezeption im 19. Jahrhundert wiederaufnimmt, so bietet die Zeit zwischen dem auszugsweisen Erstdruck in der Gedichte-Sammlung 1826146 über die reichlichere Kostproben aus den EmpedoklesTexten anbietende Sämmtliche Werke 1846 bis zur ersten Hölderlin-Monographie Alexander Jungs 1848 ein recht konfuses Bild – deutliche Konturen haben da fast allein die gängigen Vorurteile. Neben Arnim, dessen Empedokles-Versuch eigens nachgegangen werden soll (2.2.1.1), und der eigenartigen literarischen Empedokles-Filiation vor dem Hintergrund der europäischen Präsenz der Empedokles-Figur in der Literatur zwischen Romantik und Realismus – in deren spärlichen deutschen Beispielen Empedokles weniger eine dramatis persona als vielmehr eine Identifikationsfigur erscheint, wobei die Grenzen zwischen der antiken Gestalt, dem modernen Dichter Hölderlin und dem je aktuellem Rezipienten durchaus verfließen können (2.2.1.2) – sind als wenige Hölderlin-wohlgesonnene Stimmen meist dieselben anzuführen, die in dieser Untersuchung bereits mit Blick auf die Rezeption der Sophokles-Übersetzungen erwähnt wurden. Dementsprechend reichen hier knappe Angaben und tendenzielle Differenzierungen. Theodor Mundt etwa rühmt 1842 „das wunderbare poetische Fragment: Empedokles, das sich in seiner Gedichtsammlung findet“, die Titelfigur als „einen titanischen Geist, einen Abkömmling der Götter, welcher durch zu hohes Streben einen großen Untergang erleidet“ sowie als „den Volkspropheten, welchen die Irrungen der armen Sterblichen zu sehr erbarmt haben“. Wenn Empedokles dann „am Schlusse || 145 Weitere Beispiele wären anzuführen – etwa die Worte von Beißners Vorgänger in Tübingen Paul Kluckhohn, der eine Gedenkrede bei dem akademischen Festakt am 7. Juni 1943 über „Hölderlin im Bilde der Nachwelt“ hielt und mit Bezug auf die erste Bühnenbearbeitung von Wilhelm von Scholz (1910–16) bezweifelte, dass aus Hölderlins Fragmenten „ein Ganzes zu machen [sei], das den Zuschauern wirklich verständlich wird“ (Kluckhohn 1944, 7). Für die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vgl. die aus editionsphilologischer Perspektive aufschlussreiche Empedokles-Monographie von Katharina Grätz, wo jedoch die „Arbeit am Drama“ als „künstlerisches Durchgangsstadium“ abgewertet, Hölderlin jedwede Begabung für das Dramatische – in ausdrücklichem Widerspruch zu Beißners Meinung – abgesprochen wird. Ganz zu schweigen von einem performativen Bewusstsein oder gar von der Theaterdestination des Trauerspiels: In Hölderlins „Denken scheint der ‚Tod des Empedokles‘ an seine schriftliche Form gebunden, wiederholt schreibt er in Briefen von einem ‚Buche‘, an dem er arbeite“ (Grätz 1995, 6f.). 146 Die Ausgabe erlebte 1843 eine zweite, 1847 eine dritte und 1878 eine vierte Auflage.

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ausgestoßen, verlassen und geschändet“ steht, wird er implizit mit dem Dichter Hölderlin gleichgestellt, von dem kurz zuvor als Gescheitertem und der Vernichtung Geweihtem, kurz danach als Seismograph moderner Befindlichkeiten die Rede war.147 Mundt folgt hier der durchaus zeittypischen Praxis der Überlagerung von Leben und Werk; was nun seine Bewertung des Empedokles angeht, so steht dafür wie für andere Teile seines literaturgeschichtlichen Abrisses Achim von Arnims Ausflüge-Essay aus dem Jahre 1828 Pate.148 Origineller muten die Ausführungen von Karl Rosenkranz an, wenn er 1843 das „Fragment eines Trauerspiels“ als eine „großartige Composition, von welcher kein Compendium deutscher Literaturgeschichte Kund gibt“, als „Seitenstück zu der Goethe’schen Pandora und dem Shelley’schen Prometheus“ bezeichnet.149 Der Vorzug, den Rosenkranz dem „Monolog des Philosophen, als er am Rand des Aetnakraters aus dem Schlummer erwacht“ (StA 7/4, 227) gibt, legt nahe, dass er sich gerade deshalb von Hölderlins Drama angezogen fühlt, weil in ihm ein Philosoph als Hauptfigur auftritt und zwar in Umständen, die zur Identifizierung mit modernen Befindlichkeiten einladen. Damit leuchtet hier wohl zum ersten Mal in der Empedokles-Rezeption eine philosophische/philosophiegeschichtliche Perspektive auf, die sich als produktiv für die Aneignung und Verwandlung von Hölderlins Drama in der Literatur des 19. und 20., später auch im Theater des 20. Jahrhunderts erweisen sollte. Kurz nach Erscheinen von Mundts und Rosenkrantz’ Charakteristiken wurden die tragischen Bruchstücke um den Agrigentiner Philosophen (wie auch das lyrische Korpus Hölderlins überhaupt) editorisch besser erschlossen: in den Sämmtlichen Werken von 1846. Wie Gustav Schwab bereits 1844 in der Ankündigung dieser von seinem Sohn Christoph besorgten Werkausgabe kundgegeben hatte, sollten dort „mehrere erst jetzt entzifferte vollendete lyrische Gedichte und Erweiterungen des Fragments Empedokles“ zum ersten Mal erscheinen (Februar 1844, StA 7/3, 405). Friedrich Beißner glossiert dazu in seinem Editionsbericht zum Empedokles, dass es sich dabei tatsächlich um eine Erweiterung handelte, noch jedoch „ohne Unterscheidung der drei Fassungen“. Immerhin konnte Christoph Schwab auch „den Hauptteil des Grundes zum Empedokles [...], den Frankfurter Plan und, teilweise, auch den Entwurf zur Fortsetzung der dritten Fassung“ an die Öffentlichkeit bringen (StA 4, 434). Waren die „Fragmente eines Trauerspiels“ im ersten lediglich Gedichte und Hyperion betitelten Band zu finden (Schwab 2, 124–213), gerieten hingegen der Grund (Sektion

|| 147 Vgl. StA 7/4, 264 sowie 2.1. 148 Vgl. Adolf Becks Kommentar, der Mundts mit Arnims Wortwahl vergleicht (StA 7/4, 266). 149 Anders als bei Mundt – dessen Literaturgeschichte jedoch, wie Rosenkranz nicht zu wissen scheint, von Hölderlin Empedokles immerhin „Kund“ gegeben hatte – wird das „Trauerspiel“ explizit als dramatische Dichtung gewürdigt, auch wenn dazu zum Vergleich ausgesprochen lyrische Dramen herangezogen werden. Rosenkranz beurteilt es wohl als romantisierendes Antikendrama, was mit seiner Interpretation Hölderlins als „incarnirte[s] Hellenenthum“ zusammenstimmt.

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„Prosaisches“) und der Plan (inmitten des Lebensberichts) in den zweiten Band (Nachlass und Biographie, vgl. Schwab 2, 253–262; 300–303).150 Eine Wende in der kritischen Rezeption bewirkte diese Vermehrung der verfügbaren dramatischen Fragmente jedoch nicht. Wenn man einen Blick in die Rezensionen der Ausgabe und insbesondere auf die Stellungnahmen zum Empedokles wirft, so begegnet man bereits Bekanntem aus einer früheren Phase wie auch im Kontext zu Erwartendem, das hier nicht eingehend erörtert zu werden braucht. Das Trauerspielfragment wird als „ganz undramatisch“ und zugleich als „reich an herrlichen und in schönster Form ausgesprochenen Gedanken“ als Dichtung und nicht als Theatertext gewürdigt (Karl Gustav Helbig);151 „Die dramatische Form“ sei „nur Vehikel, den Empfindungen und Gedanken eines poetischen Gemüths den Ton handelnder Gegenwart zu geben“ (Johannes Minckwitz);152 selbst in den differenzierteren Überlegungen des Studienfreundes Schwabs und später bekannten Literaturhistorikers der Latinität Wilhelm Sigmund Teuffel ist von Hölderlin als „seinem innersten Wesen nach Lyriker“ die Rede, was zur sozusagen automatischen Abwertung der nicht-lyrischen Werke führt. „Daher wäre das Trauerspiel Empedokles“, fährt Teuffel kaum überraschend fort, „mehr ein lyrisches Kunstwerk geworden als eine Tragödie“.153

|| 150 Vgl. Schwab sowie die Materialien „Zur Geschichte der Ausgabe von 1846. Aus dem Briefwechsel Christoph Schwabs mit seinen Eltern“ in StA 7/3, 428–455. 151 StA 7/4, 121. Die Besprechung des Dresdner Lehrers und Konrektors, in der insgesamt Hölderlin als „Romantiker [...], freilich ganz besonderer Art“ gelesen wird, erschien am 1. März 1847 in den Blättern für Literarische Unterhaltung, eine knappere Rezension war zwei Monate zuvor in der Beilage zur Leipziger Allgemeinen Zeitung veröffentlicht worden; dazu und zu Helbig vgl. StA 7/4, 111–122. 152 StA 7/4, 152. Die Besprechung des aus der Lausitz stammenden Dichters und Philologen, der u.a. als Sophokles-Übersetzer einen Namen hatte, erschien in der Literarischen Zeitung (20. März 1847; ebd., 145–155). Zeittypisch ist auch Minckwitz’ Verdikt über das kaum als Drama zu betrachtende Fragment, in dem „den Situationen und Collisionen alle Bestimmtheit und damit auch alle dramatische Gewalt“ abgehe (152). 153 Teuffel, der als Stiftler den kranken Hölderlin wohl auch persönlich kennengelernt hatte, hielt 1846 als Tübinger Privatdozent eine Vorlesung zur deutschen Lyrik, in der er, was damals ungewöhnlich war, auch Hölderlin behandelte (vgl. StA 7/2, 122). Der Briefwechsel zwischen Teuffel und Gustav Schwab signalisiert bereits vor dem Erscheinen der Werkausgabe ein Interesse für Hölderlins Empedokles-Bruchstücke; dort gibt Teuffel auch seinen (aus heutiger Sicht durchaus berechtigten) Bedenken hinsichtlich der Textkonstitution der Trauerspiel-Fragmente Ausdruck („ob die neugefundenen Bruchstücke des Empedokles richtig eingereiht“ seien, bezweifelt er, denn „das Alte und das Neue zeigt einen nicht unwesentlich verschiedenen Plan und durfte nicht ohne Weiteres ineinander geschoben werden“; An Gustav Schwab, 25. Juli 1846, StA 7/3, 456f.). Besprochen hat dann Teuffel die Sämtlichen Werke einmal für die Monatblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, einmal für die Neue Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung (resp. Februar 1847 und 20.–21. Juli 1847, vgl. StA 7/4, 122–132, 140–143). Zu Teuffels Stellung in der Hölderlin-Rezeption vgl. Hötzer (1952), der die Befangenheit in den Vorurteilen der Zeit betont, und Castellari (2002) 93–96, wo hingegen mit Bezug auf die Hyperion-Auslegung die Vorwegnahme späterer Einsichten gewürdigt wird.

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Alexander Jung widmete dann in seiner Hölderlin-Monographie aus dem Jahr 1848, die in vielerlei Hinsicht als letzte ‚Reaktion‘ auf Schwabs Ausgabe zu betrachten ist, wenn nicht gar als „fortlaufender Kommentar zu dieser ersten Werkausgabe“,154 den Empedokles-Fragmenten einen beträchtlichen Teil seiner Ausführungen.155 Da Jungs Deutung „für mehrere Jahrzehnte maßgebend“ (Pellegrini 1965, 29) bleiben sollte und nicht nur die Forschungsgeschichte, sondern auch die hier im Mittelpunkt stehende produktive Rezeption (oft auf indirekte Weise) bis Ende des 19. Jahrhunderts beeinflusste,156 lohnt es sich, einen Blick in diese erste umfangreiche Interpretation vom Tod des Empedokles zu werfen – auch wenn sie aus heutiger Sicht in vielem wenig überzeugend, wenn nicht verkehrt ist,157 was sicher mit einem auf Hölderlin abstrakt applizierten Moderne-Verständnis Jungs zusammenhängt,158 teilweise aber auch vom damaligen editorischen Status der Fragmente herrührt. Zwei Aspekte erscheinen in rezeptionshistorischer Hinsicht besonders wichtig. Jung liest erstens „den Empedokles von Hölderlin“ als „eine poetische Apotheose der Naturphilosophie und der Philosophie überhaupt [...], in welcher der Dichter uns das Leben und Ende, fast in seiner Nothwendigkeit und daher tragisch, kurz die höchste Vollendung des Denkers, der doch zugleich Dichter ist, vorführt“ (50), und zwar in einer Perspektive, welche die antike Figur als Antizipation des Heilands betrachtet: „Diese Fahrt des Empedokles zu den Unterirdischen […] könnte in ihrem Tiefsinn als eine fortgesetzte Naturforschung, ja als Höllenfahrt der Philosophie vorgestellt werden mit Anspielung auf die Höllenfahrt Christi“ (51). Bei dem für das ganze Buch typischen „Dazwischentreten des Christlichen“ (Pellegrini 1965, 32) bleibt es jedenfalls nicht, denn Jung flicht in das Heiler-Paar auch Hölderlin ein: Nicht nur wird Empedokles als „der eigentliche Ahn Hölderlins in der alten Welt“159 genannt, sondern in

|| 154 Bothe (1992) 39. Vgl. zu Jung und dessen forschungsgeschichtlicher Stellung vgl. neben 2.1.2.3 Pellegrini (1965) 28–34; Bothe (1992) 39–43; Castellari (2002) 97–102. 155 Vgl. Jung (1848) 49–75 sowie 261 zum Grund zum Empedokles. 156 Jungs Buch war etwa zusammen mit Schwabs Ausgabe die wichtigste Quelle der kommentierten Anthologie Neumann (1853), wo Nietzsche Texte von und über Hölderlin lesen konnte (vgl. 2.2.2). 157 Eklatant ist etwa, dass „Jung auch den Inhalt der politischen Auffassungen Hölderlins abgeschwächt und verfälscht“ hat (Bothe 1992, 42), auch mit Blick auf die Empedokles-Fragmente: „Politisch in sein Gegenteil verkehrt wird das klare Bekenntnis zur Republik in der Ansprache des Empedokles an die Agrigentiner“. Tatsächlich liest er die berühmte Stelle wie folgt „Die Zeit der bloß willkürlich herrschenden Könige ist vorüber, nicht die Zeit der Könige überhaupt, sondern nur derjenigen, welche es auf Kosten aller Rechte ihres Volkes, welche es im Sinne der Despotie seyn wollen“ (Jung 1848, 68). In den frühen 1840ern noch der jungdeutschen Bewegung nah, ist Jung nun zum „Ideologen der Restauration“ geworden (Bothe 1992, 43). 158 Die bei Jung im Buchtitel exponierte „besondere Beziehung auf die Gegenwart“ lässt sich in Einklang mit Bothe als Hinweis darauf deuten, dass er „in Hölderlins Kunst [...] ein Muster, an dem die Moderne gemessen und, wo notwendig, geschult werden soll“, sieht, schlichtweg ein „Gegenbild zur Moderne“ (1992, 40f.). 159 Mit der Einschränkung jedoch: „nur mit mehrfach entgegengesetztem Schicksal“.

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dieser Gleichsetzung erkennt Jung eine vom schwäbischen Dichter selbst intendierte Zusammenstellung, insofern dieser „zum Theil sein eigenes, tragisches Schicksal darin mit[ge]dichtet“ hätte (62).160 Durch diesen exponierten Biographismus bestätigt Jung bereits verbreitete Ansichten und bereitet den Boden für Dichterdramen bzw. für Empedokles-Transformationen, in denen die Grenze zwischen dem Dichter, seinen Gestalten und oft auch dem jeweiligen gegenwärtigen Autor verschwimmen. Jung selber scheint zweitens darüber hinaus seine (dichterischen) Mitstreiter zum produktiven Umgang mit Hölderlins Empedokles aufzufordern. Als „ausgezeichnetem Fragment unserer Literatur“ (75) misst er der Tragödie eine Vorbildfunktion zu und nennt sie, in expliziter polemischer Einstellung gegen die Vormärz-Dichter, sogar ein lehrreiches Beispiel dafür, wie „die bessern unter den tendenzflüchtigen Schriftstellern unserer Zeit [...] Vertiefung in die Objekte, auf denen ihre Wahl beruht, und Darstellung dieser Objekte lernen“ könnten (75). Jung liest hier zum allerersten Mal in der Forschungstradition den fragmentarischen Charakter des Empedokles nicht (nur) als Zeichen dramaturgischen Scheiterns und erblickt selbst im Fragment eine ‚Schule‘ für Stückeschreiber: Der Tod des Empedokles wird hier – lange Zeit einmalig – mit Blick auf die „Darstellung“, also auf die dramaturgische Handhabung, als Muster gepriesen. Ganz im Sinne seines Jahrhunderts geht Jung jedenfalls über die schriftliche Dimension des Dramas nicht hinaus; theaterbezogene Fragen werden, wie zu erwarten war, nicht berücksichtigt. Ebenfalls wegweisend für die mit Jungs Monographie eröffnete Periode der Hölderlin-Rezeption wird der konservative Gestus sein, mit dem die Hölderlin-Verehrer den Empedokles (sowie das restliche Oeuvre) zwar als nachstrebenswertes Meisterwerk schätzen, aber ausdrücklich als Gegenmittel zu einer je anders gestalteten Moderne beurteilen, die bei Jung beispielsweise unter das Stichwort „Tendenzliteratur“ gefasst ist. So sollte es bis auf wenige Ausnahmen im restlichen 19. und oft auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleiben. Das Panorama der Hölderlin-Rezeption und -Forschung nach Jung, das hier nur gestreift werden soll, erweist sich im Hinblick auf den Tod des Empedokles als nicht ganz ungünstig, auch wenn gängige Klischees und biographistische Schablonen weiterflorieren. Anders als bei den fast verschollenen Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen allerdings, und eher dem Verlauf der Hyperion-Rezeption ähnlich, scheint das Interesse für Hölderlins Empedokles im 19. Jahrhundert mit dazu beizutragen, das lange währende kritische Vorurteil einer umfassenden Zeit der „Vergessenheit“ bzw. des gänzlichen „Unverständnisses“ vor der triumphalen „Wiederentdeckung“ zu widerlegen. Konnte in dieser Arbeit bereits gezeigt werden, wie bezüglich des Sophokles-Projekts das erste Jahrhundert der Rezeption vereinzelte Würdigungen und sogar Beispiele einer ansatzweisen produktiven Rezeption aufzuweisen hat und wie diese

|| 160 Auch hier mit einer Einschränkung: „wenn auch mit dem Unterschiede, daß seiner [d.h. Hölderlins; M.C.] lautern Seele alle eigentliche Selbstüberhebung stets fremd gewesen ist...“.

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einer spärlichen editorischen Existenz des Textes und dem nahezu einhelligen Schweigen kritischer Stimmen zum Trotz das untergründige Überleben der Ödipusund Antigone-Übersetzungen und -Anmerkungen garantierte, so kennzeichnet die Wirkungsgeschichte des Empedokles ein anderes Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Sparten der Rezeption. Nach dem Erscheinen von Schwabs Edition und von Jungs Buch verfügt die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts über Textausgaben und Interpretationen des Empedokles, die beide jeweils im Laufe der Jahre erweitert, verbessert und vertieft werden. Dass die Dramenfragmente aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden, besteht keine Gefahr; vielmehr greift die Wirkung des Empedokles (noch vor jeder fremdsprachlichen Übersetzung) auf das Ausland über.161 Auch die in der Regel auf bildungsprofessionelle und literarisch aktive bzw. interessierte Schichten beschränkte Kenntnis des Autors und seines Dramas erschließt sich weiteren Kreisen dadurch, dass das mittlere Schaffen Hölderlins Eingang in die damals „zu Hunderttausenden auf den Markt geworfenen Klassiker-Groschenhefte und -Taschenbücher“ findet.162 Die Figur des Dichters, die oft mit seinen fiktionalen Helden parallelisiert wird, wird durch Formen populärwissenschaftlicher Verbreitung und trivialliterarischer Adaption immer bekannter. Was die Forschungsgeschichte angeht, stellt Rudolf Hayms Empedokles-Würdigung in seinem einflussreichen Buch Die romantische Schule (1870) nach Jungs Monographie einen ersten Höhepunkt dar. Bezeichnend ist darin schon allein der qualitative Vorrang, den Haym der Tragödie gegenüber dem sonst im 19. Jahrhundert am stärksten geschätzten Hyperion gewährt.163 Haym bezeichnet Hölderlins EmpedoklesProjekt ziemlich klassizistisch als „durchdrungen von der Nothwendigkeit des engsten Anschlusses an die strenge und reine Form der altgriechischen Tragödie“ (311f.), versucht aber zugleich unter stillschweigender Verwendung hölderlinscher Kategorien164 das Antikendrama von der Poetik der Weimarer Klassik abzugrenzen. Hölder-

|| 161 Vgl. die frühe Studie von Challemel-Lacour (1867), wo der Philosoph, Übersetzer, Herausgeber der Zeitschrift La Revue des deux mondes und späterer Außenminister Frankreichs das „grand drame d’Empédocle“ als „tragédie hieratique“, „purement lyrique“ erörtert und dem französischen Publikum vorstellt. 162 Vgl. auch für weitere bibliographische Details Volke (1993) 7. 163 Rein quantitativ wird hingegen dem Briefroman eine viel ausführlichere Erörterung gewidmet, wohl deswegen, weil Haym an jenem früheren Werk seine literaturgeschichtliche Positionierung Hölderlins als „Seitentrieb der romantischen Poesie“ besser darlegen zu können meinte (so ist der Hölderlin-Teil betitelt, vgl. Haym 1870, 289–324). Zu Hayms forschungsgeschichtlicher Stellung vgl. Castellari (2002) 114–123. 164 Das angestrebte „Ideal“ Hölderlins nennt etwa Haym „ohne irgend einen accidentellen Schmuck, in lauter großen Tönen, in harmonisch wechselndem Fortschritt, ein lebendiges Ganzes“ (Haym 1870, 312). Vgl. den fast identischen Wortlaut in Hölderlins Brief an Ludwig Neuffer, 3. Juli 1799, StA 6, 339.

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lins Distanzierungsversuch von Schiller und Goethe versucht Haym zwar eher biographisch als ästhetisch zu erklären und stempelt ihn letztlich mit den Kategorien der Weimarer als zu „subjektiv“ (und somit als zum Scheitern bestimmt) ab.165 Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen Julian Schmidt, Friedrich Theodor Vischer, Wilhelm Scherer und Hermann Hettner166 scheint Haym aber Hölderlins anderen Rückgriff auf die Antike für die Moderne mindestens ansatzweise ernst zu nehmen. Am Empedokles werden vor allem die „Sprachbehandlung“ und die „Großheit der Bilder“ herausgestellt, um Hölderlins Stil als ausgesprochen ‚antik‘ zu bezeichnen, sowie der „grübelnd[e] Tiefsinn seiner Motive“ als (inhaltlicher) ‚moderner‘ Vorzug erwähnt (314). Schätzenswert erscheinen Hayms Bemühungen durchaus; eine Durchdringung von Hölderlins Ästhetik bleibt ihm aber auch aufgrund seines zeitbedingten, auf das mittlere literarische Schaffen eingeschränkten Blicks versagt.167 Seine Interpretation ist symptomatisch für jenen Teil der Hölderlin-Rezeption zwischen 1848 und dem Ende des 19. Jahrhunderts, die dem Dichter gegenüber verhältnismäßig wohlwollend eingestellt ist, ihm aber bei aller Bewunderung für seine Sprache im Panorama der Goethezeit selten mehr als epigonale Bedeutung beimisst und seine Texte als für die Gegenwart kaum aktualisierbar betrachtet. Nicht eigens erörtert werden sollen hier die bei Haym und anderen sich haltenden kritischen Vorurteile, die dem EmpedoklesDrama von Anfang an anhaften und ihm die Wirksamkeit auf der Bühne aberkennen. Im Spektrum der Literaturgeschichtsschreibung der Zeit repräsentiert Haym das Musterbeispiel für eine zwar verbreitete Kenntnis und teilweise Würdigung von Hölderlins Empedokles, die jedoch das Projekt kaum in seiner Originalität und seinem Potential an Aktualität zu erfassen wissen. Ähnlich sieht das Panorama der editorischen Bemühungen aus, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts eher quantitative als qualitative Fortschritte im Hinblick auf die Empedokles-Texte verzeichnen und oft eher dem Streben nach positivistischer Vollständigkeit der Dokumentation verpflichtet sind als einem tatsächlichen Interesse an Hölderlin.168 Eine forschungsgeschichtliche Wende,

|| 165 Vgl. Schillers Briefe an Goethe vom Sommer 1797 (StA 7/2, 98; 107), wo mit Bezug auf Hölderlin die Ausdrücke „heftige Subjectivität“ und „subjectivisch“ fallen; zur Begrifflichkeit neuerdings Kurz (2014b) insb. 37–40. Haym (1870) 313 nennt Empedokles „nur ein subjectives Bekenntnis“. Selbst der von ihm erkannte moderne Rückbezug Hölderlins auf die Antike wird letzten Endes doch zu einer biographistischen Schablone: „Am Busen des Dichters vielmehr ist die antike Form erwärmt“ (ebd.). 166 Vgl. dazu Bothe (1992) 45–63 und Castellari (2002) 112f.; 122–128; 132. 167 Zum Grund zum Empedokles heißt es lapidar: „Der Denker war schon zerstört, als der Dichter noch gesund war“; die späteren Übersetzungen und theoretischen Texte sind noch deutlicher als Früchte des Wahnsinns gekennzeichnet: „Im Pindar, den er für sich durcharbeitet, und im Sophokles, den er zu übersetzen und zu erklären unternimmt, verliert sich zuletzt sein Schaffen in pfadlosem Dunkel“ (Haym 1870, 314; 320). 168 Kein Empedokles-Fragment wurde in der 1884 erschienenen Edition Karl Köstlins veröffentlicht; Litzmann hingegen erweiterte 1895–97 die noch partielle Ausgabe Schwabs, seine Anordnung der Bruchstücke stellte aber kaum einen editorischen Fortschritt dar – in den Worten Beißners: „die ganze Entstehungsgeschichte steht bei Litzmann auf dem Kopf“ (Beißner 1958, 197, vgl. auch Grätz

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die sich im späten 19. Jahrhundert vorbereitet und bis zur entscheidenden und in vielem epochemachenden Empedokles-Interpretation Wilhelm Diltheys Anfang des 20. Jahrhunderts führt, wird erst dann möglich sein, wenn die produktive Rezeption in Literatur und Philosophie neue Antike-, Empedokles- und Hölderlin-Bilder evoziert hat – davon muss also an späterer Stelle die Rede sein, zuerst muss hier den Fort- und Umschreibeversuchen von Hölderlins Empedokles-Bruchstücken zwischen Arnim und Nietzsche nachgegangen werden. 2.2.1.1 „Titanengröße“. Achim von Arnims Vollendungsplan zwischen Empedokles und Hölderlin In Achim von Arnims bereits erwähnten Ausflügen mit Hölderlin (1828) wird Der Tod des Empedokles ausführlich erörtert, indem auch mehrere Passagen aus den 1826 zum ersten Mal erschienenen Fragmenten angeführt werden. Nach dem letzten Zitat – Worten der Hauptfigur in der letzten Szene des heute als dritte Fassung bezeichneten Entwurfs – klagt der Romantiker: Wir sehen, daß alles angedeutet ist, aber doch gehörte ein großes Talent, das sich nicht mit Prämien heraufbeschwören lässt, zur Vollendung des Werkes, welch ein Glück, wenn es sich fände. (StA 7/4, 58f.)

Adolf Beck glossiert Arnims Befund mit der Feststellung: Aus Arnims Lebenszeit, wie aus dem ganzen 19. Jahrhundert, ist ein Versuch der Vollendung oder Bearbeitung des Empedokles nicht bekannt […] Die Bemühung darum begann erst 1910 mit Wilhelm von Scholz […] und erreichte einen Höhepunkt mit Wolfgang Schadewaldt. (StA 7/4, 64)

Dem ist jedoch nicht so, wie diese Rekonstruktion später an der Linie Nietzsche-Pannwitz zeigen soll. Gerade Arnim war der erste, der mindestens den Plan einer solchen „Vollendung“ hegte. Dieser Plan, der auf einer knappen Manuskriptseite notiert ist, blieb bis 1974 unveröffentlicht. Hinter Arnims Hoffnung im Jahr 1828, es möge sich ein tüchtiger Vollender von Hölderlins Fragment finden, steckt wohl keine kokette Anspielung auf sich selbst, auch wenn die fragmentarischen Notizen, in denen er Überlegungen über Vollendungsmöglichkeiten des Empedokles anstellte, chronologisch dem Druck des Ausflüge-Essays vorausgingen. Vielmehr drückt sein Verweis, welch Glück es doch wäre, wenn sich jemand zum Fortschreiben fände, das gerade durch den nicht ausgeführten Plan gewonnene Bewusstsein von der Schwierigkeit || 1995). Erst in Böhms Ausgabe von 1905 ähnelt die Gruppierung der Fassungen dem heutigen Stand; die wenig spätere Edition von Maria Joachimi-Dege (1908) geht dagegen davon aus, dass das textuelle Material „sich ohne jede Vergewaltigung auch an der Hand der sich entwickelnden Motive zu einem Ganzen einheitlich zusammenfügen“ lasse. Vgl. Köstlin; Litzmann junior 2; Böhm 3, Joachimi-Dege 3, 22 sowie StA 4/2, 434f.

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eines solchen Unternehmens aus. Die jeweils „Vorrede zum Stoff des Empedokles“ und „Empedokles von Hölderlin“ betitelten Notizen, die von Heinz Rölleke veröffentlicht wurden (Rölleke 1974), bestehen aus lediglich vier bzw. zwölf Druckzeilen. Diese textuelle Knappheit erklärt wohl auch das Hinwegsehen der Hölderlin-Forschung über ihre Beschaffenheit; für den die Notizen durchaus anführenden Beck sind sie etwa nichts mehr als eine Vorarbeit zum Essay.169 Die Präsenz zweier Titel fand bisher kaum Beachtung, und doch verweist schon dieses paratextuelle Indiz sowohl auf das unmittelbare Verhältnis beider Notizen zu den Ausflügen als auch auf ihre unterschiedliche Typologie.170 Die erste kürzere befasst sich lediglich mit inhaltlichen Fragen des Dramas, und wie die Überschrift suggeriert mit Blick auf einen Prolog.171 Einmal abgesehen von dem Problem der schweren Lesbarkeit des Manuskripts – hier stützt man sich auf die Rekonstruktion Röllekes, während in den Anmerkungen die Lesungsvorschläge Becks angeführt werden – geht die Notiz über lose Gedankenentwürfe nicht hinaus: Vorrede zum Stoff des Empedokles Eine göttliche Natur von Herrschaft verdorben eben weil sie gottlos172 ist, weil die Menschen sie nicht erkennen könnten. Dieser wird selig an ein Lusten gemahnt, von dem er abstammt,173 sonst über das Aeussere hinaus, das ihn nicht mehr fesselt, wird fest durch die Freundschaft des Pausanias (StA 7/4, 66).

Die zweite Notiz ist hingegen durch eine zusätzliche Ebene gekennzeichnet: Dem Gestus des Kommentars kommt nämlich (mit deutlichen intertextuellen Spuren) der des Fortschreibens hinzu. Empedokles von Hölderlin Wir haben Anfang und Ende, aber es wäre ein große Aufgabe ihn zu vollenden Er hat die Gunst der Götter den Gemeinen verrathen.

|| 169 Rölleke ist da vorsichtiger. Obwohl „manches [...] dafür [spricht], daß es sich um vorbereitende Notizen Arnims zu seinem 1828 gedruckten Aufsatz handelt“, gibt er zu bedenken, dass „die undatierten Reflexionen Arnims hingegen vor 1826“ entstanden sein könnten (Rölleke 1974, 154f.). 170 Ansatzweise geschieht das bei Rölleke (1974) 156, der beide Texte in ihrer unterschiedlichen Referenz liest, wobei es fraglich erscheint, ob Arnim tatsächlich im ersten Fragment sein „Verständnis des historischen Empedokles, den er indes bereits durch die Augen Hölderlins zu sehen gelernt hat“, skizziert. 171 Ob die „Vorrede“ eine von Arnim nachweisbar erwünschte Edition von Hölderlins Drama hätte einleiten sollen oder aber eine eigene Bearbeitung bzw. „Vollendung“ desselben, muss dahingestellt bleiben. 172 Nach Beck muss man hingegen lesen: „göttlich“, bezogen auf „Natur“, vgl. StA 7/4, 67. 173 Beck dazu: „Der Relativsatz ist eindeutig. Gerade darum aber ist das Bezugswort Lusten schwer zu verstehen [...]. Sinn gäbe das Wort nur, wenn es ein göttliches Begehren meinte, in dessen Folge Empedokles ein ‚Göttersohn‘ [...] ist. Damit würde nach Arnim das Schicksal des Empedokles ins Mythische verlegt“ (StA 7/4, 67).

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Sein Bruder flucht ihm174 es läßt sich das annehmen, daß eben nur ein Göttersohn ist und jener die Ehre seines Hauses dadurch gekränkt fühlt. Da er nirgend eine Geliebte erwähnt könnte man wohl denken, daß er auch dieses irdische Bund verachtet und zu den Göttern sich sehnt. Sie haben ihn in gemeiner Art vergöttert, das heißt sie erwarten alles Irdische von ihm und das scheint der Punkt wo er untergehen muß. Sollten wir eine Vermuthung wagen, so müßte eine Apotheose das Stück schließen, die Gunst der Götter ihn aus der Menge erheben und das zaudernde Volk vom alten Abgrund zurückkehrend ihn suchen, aber [...]vom Tode [...]175 Dieser sein Glaube war aber nicht immer (StA 7/4, 66).

Dass die Vollendung des Stücks als eine „große Aufgabe“ bezeichnet wird, antizipiert den in den Ausflügen geäußerten Wunsch, dass sich „ein großes Talent“ für dieses schwierige Unternehmen finden möge. Weitere Elemente dieser Notiz kehren in dem Essay von 1828 wieder: Arnim griff wohl später auch auf diese Notiz zurück, die jedoch deswegen nicht als direkte Vorarbeit für den Essay verstanden werden muss (vgl. auch Rölleke 1974, 157). Im Essay fehlen nämlich die für unsere Belange zentralen Aussagen dieser zweiten Notiz, die m.E. als Spur einer produktiven Rezeption seitens Arnims zu werten ist. Die Überlegungen über die Schuld des Helden in seinem Verhältnis zum „Bruder“ (gemeint ist Hermokrates), zum „Volk“ („die Gemeinen“, die „Menge“) und zu den „Göttern“ sind demnach nicht nur deskriptiv, als ob Arnim die ihm vorliegenden Fragmente zu erörtern versuchen würde, sondern sind auch als kreative Weiterarbeit am Text zu lesen, bei der Arnim dessen Leerstellen zu besetzen trachtet. Dies deuten die Gedankengänge an, bei denen aus Indizien Schlüsse gezogen werden und somit die Frage einer dramatischen Motivation aufgeworfen wird;176 dies bekräftigt die Umformung von hölderlinschen Versen177 und dies bestätigt schließlich die unvollständig ausgeformte „Vermuthung“, wo sich Arnim eine „Apotheose“, fast eine Himmelfahrt evangelischer Manier, als Finale ausdenkt. „Empedokles von Hölderlin“, so der Titel der Notiz, enthält demgemäß nicht so sehr ‚Gedanken über Hölderlins Stück‘, sondern vielmehr ‚Gedanken über eine Bearbeitung von Hölderlins Stück‘. Angesichts fehlender weiterer textueller Beweise muss es bei der Annahme bleiben, dass Arnim neben seinen Plänen zur Vollendung des Stücks Hölderlins Text

|| 174 Nach Beck heiße es hingegen: „hat ihm geflucht“ oder „hat ihn verflucht“, vgl. StA 7/4, 67. 175 Was folgt ist „fraglich“ (StA 7/4, 66). 176 Vgl. die Argumentationsformeln: „es läßt sich annehmen, daß“; „Da [...]“, „könnte man wohl denken“; „das heißt“. 177 Die Palette intertextueller Relationen reicht vom fast wörtlichen Zitat („Er hat die Gunst der Götter den Gemeinen verrathen“, vgl. Hermokrates Worte: „Die Seele warf er vor das Volk, verrieth / Der Götter Gunst gutmüthig den Gemeinen“, StA 4, 95, der Passus bereits in Schwab/Uhland, 201) bis zur lexikalischen und inhaltlichen punktuellen Übernahme/Bearbeitung; vgl. dazu die genaue Analyse bei Rölleke (1974) 156ff. Rölleke schließt aus dem Vergleich der Notizen mit den in der Ausgabe 1826 enthaltenen bzw. ausgesparten Fragmenten, dass sich Arnim auch auf eine von dieser abweichende Abschrift gestützt haben könnte.

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auch konkret zu bearbeiten versucht.178 Für diese Hypothese sprechen allerdings neben den erörterten Indizien in den Notizen mindestens zwei weitere Faktoren. Einerseits hat Arnim Hölderlin an anderer Stelle transformativ rezipiert, indem er am Schluss der Ausflüge „das merkwürdigste, aber auch zerstörteste unter seinen Gedichten“, d.h. Patmos, publizierte. Dabei handelte es sich um eine „Umformung der Hymne“ (so Beck), bei der Arnim eine ihm zur Verfügung stehende „undeutlich[e] Abschrift“ dadurch bearbeitete, dass nach eigener Aussage „einiges [...] weggelassen“ und „ein Paar Worte erklärend zugefügt“ werden mussten (StA 7/4, 59).179 Bemerkenswerterweise kennzeichnet diese Patmos-Transformation dasselbe Schema, das in der Empedokles-Notiz ansatzweise durchscheint: Arnim erörtert zunächst das Gedicht und rechtfertigt parallel dazu seine Eingriffe, rekapituliert sodann „den Gang des Gedichts“, um erst danach seinen Text folgen zu lassen und das Ganze mit einem knappen Epilog abzuschließen. Als ein weiterer die Annahme einer produktiven Rezeption des Empedokles seitens Arnim stützender Faktor erscheint die Beschaffenheit seiner dramatischen Produktion. Ein beredtes Beispiel romantischer gattungsübergreifender Poetik und gleichzeitig fast postmodern anmutender intertextueller Montage, kam den heterogenen Stücken Achim von Arnims von Anbeginn so gut wie nur literarische Bedeutung zu, da für ein „Theater, das nirgend vorhanden ist“, geschrieben (Arnim an Goethe, 12. Juli 1819);180 viel blieb auch zu Lebzeiten unveröffentlicht.181 Im Unterschied zu seinen Novellen und Romanen, die ebenfalls die berühmte „Bestimmung“ Schlegels befolgen, „alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen“, und dementsprechend auch dramatische Einlagen enthalten, fielen die Dramen des Romantikers

|| 178 Bereits Rölleke (1974) 152 erhoffte sich, die „Arnim-Philologie und -Biographie“ würde bald „die lange überfälligen Fortschritte“ machen, die eine genauere Erörterung seiner Rolle in der HölderlinRezeption ermöglichen. Die sechsbändige Arnim-Ausgabe in der „Bibliothek deutscher Klassiker“ (1992, AAW) fügte den in der StA versammelten Dokumenten aber kaum etwas hinzu (vgl. dort den Abdruck der Ausflüge, AAW 6, 866–872). Die historisch-kritische Ausgabe („Weimarer Arnim-Ausgabe“, WAA) wird diesem Forschungsdesiderat wohl nachkommen; die diesbezüglichen Bände sind noch in Vorbereitung. Im elften („Texte der deutschen Tischgesellschaft“) und zweiunddreißigsten („Briefwechsel 1805–1806“) sind bereits kleinere Spuren der Hölderlin-Rezeption bei den Romantikern zu finden sind (WAA 11, 16; 209; 32, 342). 179 Zu Arnims Prosa-Bearbeitung von Patmos vgl. StA 8, 56–59 und Ute Oelmanns Anmerkungen hierzu. Das Gedicht kannte Arnim seit langem (vgl. Rölleke 1974, 149–152); ein variierendes PatmosZitat ist bereits in seinem Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores zu finden (1810, vgl. StA 7/4, 330f.). 180 Zitiert bei Stockinger (2004) 135. 181 Zu Arnims Dramatik im romantischen Kontext vgl. einführend und mit weiterführender Bibliographie Stockinger (2004) 132–135, Paulin (2009) 90–93, Ricklefs (2010) 163–166. In der historischkritischen Arnim-Ausgabe hat Yvonne Pietsch bisher die Schaubühne-Stücke ediert (1813), in den Folgebänden sollen alle „dramatischen Texte [...], die nicht Teile anderer Werke“ sind, ediert werden, darunter eine Anzahl bisher unbekannter Stücke (Vgl. WAA 13, 359; 359–369).

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schnell und bis heute in Vergessenheit. In diesem umfangreichen wie ungleichmäßigen dramatischen Schaffen, das hauptsächlich aus sehr freien mit unzähligen Zitaten aus weiteren Quellen angereicherten Dramenbearbeitungen besteht, hätte trotz der insgesamt eher dem Volkstheater und nationalhistorischen Themen verpflichteten Inhalte auch eine Empedokles-Transformation ihren Platz finden können. Bislang offen geblieben ist die heikle Frage der Datierung von Arnims Notizen, die wiederum mit dem weiterhin unklaren Umstand zusammenhängt, welche Vorlage sie in welcher Form inspiriert hat. Wenn Arnim zu Beginn der zweiten Notiz meint, dass die Textvorlage „Anfang“ und „Ende“ des Dramas biete, so korrespondiert auch diese Aussage dem Wortlaut des Ausflüge-Essays, wo noch hinzugefügt ist: „dem selbst der eigentliche Schluß noch fehlt“ (StA 7/4, 58).182 Gehen die Ausflüge jedoch sicher von dem Empedokles-Druck in der Gedichte-Ausgabe von 1826 aus, so formuliert Arnim gerade dort einige Bemerkungen zu jener Sammlung, die eine früher datierbare Kenntnis von Hölderlins Dramenfragment nahelegen. Nachdem er nämlich das Fehlen von Patmos und anderen Gedichten getadelt hatte, fügte er dort würdigend hinzu: „Wogegen diese Sammlung auch manches enthält, was mir einsammelnd zu Theil wurde, ins besondere das Fragment seines großartigen Empedokles“ (StA 7/4, 56). „Einsammelnd zu Theil“ war ihm eine Abschrift aus Hölderlins Empedokles-Projekt geworden, bevor er Teile aus dem Drama in der Gedichte-Ausgabe wiederfinden konnte. Was diese Abschrift enthielt, und wann Arnim sie erhalten hat, ist nicht mit hundertprozentiger Sicherheit auszumachen:183 ob bereits 1805– 06, wie Rölleke vermutet, oder aber später, wie Beck nahelegt. Doch unabhängig davon, ob die Abschrift tatsächlich in der Ausgabe von 1826 nicht gedruckte Fragmente enthielt184 – von Belang für die produktive Rezeption des Empedokles ist vor allem der Umstand, dass auf der Basis einer solchen Abschrift sich Arnim Notizen zum Drama und zur Möglichkeit seiner „Vollendung“ bzw. Bearbeitung gemacht hat, und dies möglicherweise, bevor Teile von Hölderlins erstem Theaterprojekt überhaupt ans

|| 182 Mit dem Ausdruck „eigentlicher Schluß“ meint Arnim den Tod des Helden, den er sich in seinen Notizen als „Apotheose“ vorstellte. Mit „Ende“ hingegen meint er entweder die auch in den Ausflügen beschriebene Szene mit dem Zwiegespräch von Empedokles und Manes (StA 7/4, 58) oder aber eine bzw. mehrere sich in seiner Abschrift befindliche aber nicht bei Schwab/Uhland abgedruckte Szenen aus der ersten oder zweiten Fassung. Diese zweite Option würde die Annahme Röllekes bestätigen, dass Arnim über eine bessere Kenntnis der Empedokles-Fragmente verfügte als die zeitgenössischen Leser der ersten Gedichte-Ausgabe. 183 „Es ist anzunehmen, daß Arnim diese ‚Empedokles‘-Abschrift zu derselben Zeit und auf die gleiche Weise wie die ‚Patmos‘-Handschrift erhalten hat [d.h. 1805–06 von Sinclair über Bettina Brentano; M.C.]“ Rölleke (1974) 152. Beck dazu: „Das ist bedenkenswert“ (StA 7/4, 66). 184 Rölleke (1974) 158: „Mit aller gebotenen Vorsicht könnte also angenommen werden, dass jene Abschrift Partikel aus allen drei ‚Empedokles‘-Fassungen geboten habe, mindestens aber Passagen aus der ersten Fassung, die der Uhland-Schwabsche Druck nicht hat“. Da aber Arnim in seinen Ausflügen die Mängel der Gedichte-Ausgabe genau auflistet, so wäre es plausibler, dass er auch auf solche Abweichungen eingegangen wäre, wenn ihm ungedruckte Dramenfragmente vorgelegen hätten.

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Licht der Öffentlichkeit kamen. Damit würde der erste Plan, den Empedokles fortzuschreiben bzw. zu vollenden, schon auf eine Zeit zurückgehen, in der seine eigentliche Rezeption noch gar nicht begonnen hatte. Die Hölderlin-Faszination Arnims hat verschiedene Facetten. Was den Empedokles angeht, so hatte bestimmt auch dessen bruchstückhafter Charakter den Romantiker bezaubert und zur Nacheiferung angespornt. Zweimal wird er „Fragment“ genannt, und nicht etwa Drama oder Trauerspiel, wenn von dessen „großartige[r]“ bzw. „höchst merkwürdige[r]“ Ausführung die Rede ist (StA 7/4, 56, 58).185 Darüber hinaus hat Arnim auch dessen sprachliche Beschaffenheit bewundert, was ebenfalls die Ausflüge bezeugen, wenn man bedenkt, wie überschwänglich die bilderreiche Würdigung von Patmos auf sprachliche Elemente eingeht (vgl. StA 7/4, 59, 65). Was den Inhalt angeht – dem sowohl in den Ausflügen als auch in den Notizen am meisten Raum gewährt wird –, so übt die Hauptfigur Empedokles mit seiner „Titanengröße“186 einen großen Zauber auf Arnim aus. Dabei sind typischerweise die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit im Zeichen der Identifikation von Figur und Dichter sowie von diesen beiden mit Arnim selber überschritten. Andreas Thomasberger und Fred Burwick haben gezeigt, inwieweit bei Arnim „Hölderlin [...] als ein neuer Empedokles beschrieben“ wird, „der sich rein der ungeschiedenen Natur aussetzt, um im Andrang des Erfahrbaren nur noch stammelnd sprechen zu können“. Damit werde die antike Figur zum „Paradigma der Ästhetik, die Arnim einmal plante, ‚an einem Dichter wie Hölderlin abzuhandeln‘“ (Thomasberger 1985, 284). „As Hölderlin’s raging alter ego“ wird Empedokles zum dritten Wanderer in der Reise (Ausflüge), die in Burwicks auf den Wahnsinn zentrierter Interpretation ein „voyage [...] to the boundaries of reason“ ist (Burwick 1996, 211–227). Kulminationspunkt der Identifikationenkette ist für ihn die lapsusartige Bezeichnung Hölderlins als desjenigen, „der sich so großartig in den Krater stürzt um etwas zu erfahren, was er doch nicht mittheilen kann“ (StA 8, 52).187

|| 185 Müßig in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive ist die Präzisierung, dass Der Tod des Empedokles kein Fragment im romantischen Sinne war. Als ein solches behandelt ihn im Zeichen einer Faszination für das Fragmentarische als erster Arnim. Diese Faszination stellt auch in der späteren Wirkung des Dramas das Pendant zu der mit dem Klischee einer fehlenden dramatischen Begabung Hölderlins zusammenhängenden, ebenfalls verbreiteten Ansicht dar, das Drama sei wegen solcher Unfähigkeit unvollendet geblieben. 186 Die Passage mit der zitierten Bezeichnung, die sich auf die Art und Weise bezieht, wie die Empedokles-Figur den Agrigentinern erscheint, ist in StA 7/4, 64 lediglich in einer Anmerkung Becks referiert. Auch AAW 6, 866–872 gibt die Ausflüge lediglich in partieller Form wieder. 187 Die in den Nachträgen der StA versammelten Vorarbeiten Arnims zum Hölderlin-Essay enthalten übrigens auch eine später getilgte Formulierung, die Oelmann so interpretiert, dass Arnim „vor dem teilweisen Abdruck 1826 keine Kenntnis von Hölderlins Drama besaß“ (StA 8, 61). M.E. deuten die wenigen Worte eher darauf hin, dass Arnim damals den Plan noch hegte, an Empedokles weiterzuarbeiten: „Hierüber ein andermal, insbesondre über seinen Empedokles, doch erklärend mögen einige Zeilen aus diesem hervor treten, denn in ihnen ist er selbst nicht im Schattenriß, sondern im Lichtriß

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Der Anfang der produktiven Auseinandersetzung mit Hölderlins EmpedoklesDrama wäre ohne solch typisch romantische Formen einer Verzeichnungen und auch Verzerrungen produzierenden „Aneignung“ des Dichters schwer zu erfassen (Kaspers 1991). Nicht ganz unähnlich sollte sich wenige Jahre später, wie bereits erörtert, Arnims Frau Bettina Brentano des Ödipus annehmen, ganz zu schweigen von dem Weiterleben (neo-)romantischer Annäherungsversuche an Hölderlin bis ins 20. Jahrhundert hinein. Im Panorama seiner Zeit erscheint Arnims kreativer Umgang mit den ihm verfügbaren Empedokles-Fragmenten einzigartig – die Spitze einer „Ausstrahlung [Hölderlins] auf [sein] poetisches Werk“, die noch weitgehend „unerforscht“ ist, obwohl, so Ulrich Gaier, die Art wie Arnim „Empedokles, die Sophokles-Anmerkungen, Patmos ernst nahm [...] bis Nietzsche einmalig“ sei.188 2.2.1.2 Empedokles-Faszinationen im mittleren 19. Jahrhundert. Ein Über- und Seitenblick auf die europäische Literaturen Nach Arnim und vor Nietzsche, noch mitten in jenen 1840er Jahren der HölderlinRezeption, die um und unmittelbar nach dem Hinscheiden des Dichters in editorischer (Schwab), interpretatorischer (Jung) und produktiver (Bettina Brentano) Hinsicht die Weichen für die Hölderlin-Rezeption im mittleren 19. Jahrhundert und darüber hinaus stellten (übrigens auch diejenige Nietzsches), sind im deutschsprachigen Raum vereinzelt dichterische Formen der Empedokles-Rezeption zu verzeichnen, die nicht aus dem Wunsch entstanden, die Trauerspiel-Bruchstücke Hölderlins zu vollenden bzw. zu einer neuen Tragödie umzuformen, sondern im Spannungsfeld von Identifikation und Nacheifern zu verorten sind. Dabei erscheint auf den ersten Blick vor allem die Selbstverständlichkeit bemerkenswert, mit der man (unter den Hölderlinkennern jener Jahre) auf den Dichter und seine Empedokles-Figur verweist, um Apotheosen des Leids bzw. Selbstmitleids zu feiern. Beispiele dafür sind HölderlinGedichte, etwa dasjenige Hermann Püttmanns, oder noch bezeichnender das regelrechte Hölderlin/Empedokles-Erlebnis Ernst Wilhelm Ackermanns im romantisch angehauchten Spannungsfeld von Leben und Dichtung. Bereits beim „radikale[n] Publizist[en] und Dichter“189 Püttmann ist die Parallele zwischen Biographie und Werk bestimmend, wenn 1844 in seinem emphatischen,

|| zu sehen: [es folgt ein kurzes Zitat aus der dritten Fassung, StA 4, 138, Z. 451–454]“; vgl StA 8, 54. Vgl. auch Thomasberger (1985) 292–299. 188 So Gaier (2002a) 476f. Hyperion sei als ein „wichtiger Intertext der Kronenwächter“ noch zu entdecken. 189 So Beck, StA 7/3, 532f., wo auch einige Informationen zu weiteren Hölderlinbezügen im Werk des in Elberfeld geborenen sozialistischen Lyrikers (1811–1874) zu finden sind, der 1854 nach Australien emigrierte.

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zum Nachruf umgewandelten Hölderlin-Gedicht190 das leidvolle Überleben des Dichters und der leidbedingte Freitod des Philosophen einander gegenübergestellt werden: Mein Hölderlin! Du Liebling meiner Seele! Wie oft hab’ ich gewünscht, daß in der Kraft Der Jugend du den steilen Pfad beendet Und früher Tod das Leben dir entrafft! Wie oft beklagt’ ich, daß die Lavagluthen Des Aetna nicht verschlungen all’ dein Leid! (Gleichwie Empedokles, den alten Weisen, Der dich in seine Lehren eingeweiht).191

Die Austauschbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit führt dann beim tatsächlich „in der Kraft / der Jugend“ verstorbenen Ackermann (1821–1846) zu einer stilisierten Schicksalsgemeinschaft, in der Empedokles, Hölderlin und der junge Dichter als Leidende zusammen gesehen werden. Im Frühjahr 1845 berichtet Ackermann seinem Vater von der „thörichte[n] Expedition auf den Krater des Schnee- und Feuerriesen“, sprich des Ätna, den er im Winter zusammen mit einem Begleiter bestiegen hat. „Wenig Genuß“ und viel „Erschöpfung“ bereitet zwar der sechsstündige „Schneemarsch [...] durch Schneesturm und dicksten Nebel“, doch das erreichte Ziel belohnt die Wanderer, denn „die Gedanken sind anders daoben im Reiche des Empedokles, und wie Du sie in Hölderlins Fragment des Namens finden kannst“ (StA 7/3, 426). Literarischen Ausdruck findet dieses Ätna- und Hölderlin-Leiden des jungen Ackermann im Jahr darauf, in einem offenbar auch Hölderlins Archipelagus nacheifernden, elegischen Fragment, das er rund drei Monate vor seinem Tod in Neapel dichtete. In dieser Ex voto. Deo reduci betitelten Elegie, welche einige Etappen der eigenen grand tour durch „Europa’s Schönstes und Bestes“ poetisch Revue passieren lässt, schimmert auch durch, wie die Absicht Ackermanns, auf dem Vulkan den Freitod zu suchen, durch die heilende Wirkung des lebensgefährlichen Ätna-Aufstiegs

|| 190 Das Gedicht trägt die schlichte Überschrift Hölderlin und wurde zusammen mit zwei gleichbetitelten Vers-Hommagen von Georg Herwegh und Theodor Opitz 1844 veröffentlicht (StA 7/3, 532), wobei anscheinend alle mindestens zum Teil in früheren Jahren, also vor dem Tod des Dichters, entstanden waren. 191 StA 7/3, 530. Merkwürdigerweise werden die zitierten Verse mit dem Vermerk versehen: „‚Der Tod des Empedokles‘, Fragmente eines Trauerspiels, ist eine der erhabensten poetischen Compositionen und kann nur mit Goethe’s Faust (I) und Shelley’s befreitem Prometheus zusammengestellt werden“. Diese Fußnote muss erst kurz vor der Drucklegung eingefügt worden sein, entweder von Püttmann selbst (etwa bei einer Bearbeitung des Gedichts nach Hölderlins Tod) oder durch die Redaktion der Zeitschrift, wo es erschien (Wigand’s Vierteljahresschrift). Nicht als Zeichen für ein „tiefes Verständnis des Empedokles“ (so Beck, StA 7/3, 533) würde ich diese Bemerkung lesen, sondern als Resonanz auf Rosenkranz’ Parallele.

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vereitelt wird. Der Trieb zur Nachahmung von Empedokles’ legendärem Sturz wird konterkariert durch eine Entscheidung für das Leben: Doch von Empedocles’ Höh’, wo’s gelockt mich zum Schlafe des Todes, Kehrt’ ich vom Tode geheilt, ringend um’s Leben, zurück. (StA 7/3, 536)

Im weiteren Verlauf des fragmentarischen Klagelieds tritt dann auch Hölderlin auf, und zwar als „Sehergestalt“.192 Einerseits gehört auch der Dichter wie der antike Philosoph in einer Art Ahnenreihe der an der Welt Leidenden bereits dem Totenreich an. Andererseits poetisiert hier Ackermann so stark die biographische Tragödie Hölderlins als „Rettung vor der Zeit“ (Beck),193 dass man versucht ist, in der Figur dessen, der „das Volle gesucht, und das Zerris’ne nur fand“ und dem „des Wahnsinns Nacht gütig umhüllet den Blick“, eine Alternative zu Empedokles und seinem Freitod zu erblicken. Ackermann scheint hier also die Philosophentragödie und das Lebensdrama des Dichters einander gegenüberzustellen (wobei für ihn eine Unterscheidung zwischen historischen Gestalten und gedichteten Figuren belanglos ist), und sich selbst in der Mitte als Nachfahre der beiden Geistesgrößen zu orten, der dem Sturz in den Ätna knapp entkommen und der Nacht des Wahnsinns vielleicht ebenfalls anheimgegeben ist.194 Rezeptionsgeschichtlich interessant an solchen epigonalen, für das 19. Jahrhundert typischen Erscheinungen ist die Tatsache, dass nicht nur damals weitverbreitete Werke Hölderlins wie Hyperion, sondern auch prekär edierte wie die EmpedoklesFragmente Teil der literarischen Kultur werden. Püttmanns und Ackermanns Gedichte können darüber hinaus, noch mehr als der frühe Versuch Arnims, als deutsches Pendant zur europaweiten Empedokles-Faszination im frühen und mittleren 19. Jahrhundert gelten. Dies ist ein Phänomen, das im Unterschied zu den in dieser Untersuchung berücksichtigten, strikt als Hölderlin-Rezeptionen zu wertenden Beispielen aus dem deutschsprachigen Raum, nicht oder nicht eindeutig in einen Zusammenhang mit Hölderlins Trauerspiel-Fragmenten zu stellen sind; deswegen seien hier nur um der Vollständigkeit der historischen Kontextualisierung willen diese Empedokles-Fiktionalisierungen erwähnt und rezeptionsgeschichtlich eingeordnet.

|| 192 Als heroisch wird Hölderlins Jenseitsleben geschildert: Er „sitzt nun auf sonniger Felshöh’ / Klar weissagenden Blicks immer gen Osten gewandt“ (StA 7/3, 537). Beck erwägt Anklänge an Hölderlins Gedichte (538); wichtiger erscheint mir hier der Kontrast des Schlussbildes zu der Schilderung des lebenden Hölderlin als Opfer eigener Unzeitgemäßheit: „der Geist, den zu spät die Zeiten geboren“ (537). 193 StA 7/3, 538. Beck verweist auch auf ähnliche Deutungen bei Georg Herwegh und Ludwig Pfau. Bereits im frühen 19. Jahrhundert ist die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein währende Tendenz zu beobachten, Hölderlins Wahnsinn als Rückzugs- und Zufluchtsmöglichkeit in poesiefeindlicher Zeit zu lesen. 194 Vgl. zu Ackermanns Hölderlin-Rezeption Requadt (1962).

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Hatte Hölderlin als erster das Leben und Sterben des antiken Philosophen zum literarischen Stoff für moderne Dichtung gemacht,195 reicht dann „die ästhetische Wirkungsspanne des Empedokles und des Empedokleischen“, so Rüdiger Görner, „literaturgeschichtlich betrachtet im Wesentlichen von Hölderlin über Nietzsche, Matthew Arnold, Brecht, Romain Rolland bis Peter Weiss“ (2013, 407). Als am wenigsten erforschter Teil dieser Geschichte kann eben jener frühe nach-hölderlinsche Höhepunkt der literarischen Empedokles-Faszination betrachtet werden, die blühte, noch bevor „mit dem Antiklassizismus Friedrich Nietzsches [...] die älteren Denker in jene Zentralposition ein[rücken], die bislang weitgehend Platon und Aristoteles reserviert war“ (Hühn 2003, 1065). Empedokles und andere „Vorsokratiker“ – den Begriff hatte in der adjektivischen Form bereits Friedrich Schleiermacher geprägt, zusammen mit Hegel der „Archeget der philosophischen Vorsokratiker-Forschung“196 – sollten bekanntlich dann einen regelrechten Siegeszug in der Philologie- und Philosophiegeschichte des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts antreten und dadurch in verschiedenen, auch ästhetischen Diskursen der Zeit um 1900 eine exponierte Rolle spielen. Entscheidend für diese Aufwertung waren die „Faszinosa des Anfänglichen und des ewig Anfänglichen“, wie Helmut Hühn richtig bemerkt, dem zweifellos bereits für deren Vorspiel, die hier im Mittelpunkt stehende literarische Empedokles-Rezeption im frühen 19. Jahrhundert, auch ein Faszinosum des Fragmentarischen hinzuzufügen ist.197 Gerade dieses Faszinosum des Fragmentarischen erscheint für die Rezeptionsgeschichte von Hölderlins Empedokles von außerordentlicher Bedeutung, denn wie die Fragmente der frühen antiken Philosophen lag auch Hölderlins Trauerspiel den Rezipienten in bruchstückhafter Form vor, wenn auch aus anderen Gründen. || 195 Hölderlins Zeitgenossen Schiller und Novalis haben lediglich stichwortartig die Idee zu Papier gebracht, den Empedokles-Stoff literarisch zu behandeln. Bei Schiller handelt es sich um die schlichte Notiz „Empedocles“ auf einem nicht sicher datierbaren Blatt aus der Zeit zwischen 1800 und 1804, wo „Pläne zu Gedichten (auch dramatischen)“ festgehalten sind (StA 4, 332). In Novalis’ Nachlass ist unter den „Allerhand poëtische[n] Pläne[n]“ das Stichwort „Empedokles“ angeführt (Aufzeichnung aus dem Sommer 1800, vgl. NW 1, 436). 196 Auf Schleiermacher, der sich mit Heraklit beschäftigte, geht das „Adjektivabstraktum ‚vorsokratisches‘“ zurück, im Laufe des Jahrhunderts ist dann auch von „vorsokratischer Philosophie“ die Rede, etwa bei Heinrich Ritter und Eduard Zeller (Hühn 2003, 1062). Hühn diskutiert auch die Fragwürdigkeit der Etikette „Vorsokratiker“, bis zur nachvollziehbaren Feststellung, dass „in der Perspektive gegenwärtiger Forschung [...] auf den Begriff [...] zu verzichten ist“ (1063). Das Konstrukt „Vorsokratiker“ bleibt rezeptionsgeschichtlich ein für die Wirkung des Empedokles so wirksamer Faktor, dass hier der Begriff im Bewusstsein der historischen Fragwürdigkeit dennoch benutzt wird. 197 Einen Höhepunkt stellt die von Hermann Diels 1903 erstmals herausgegebene, Wilhelm Dilthey gewidmete Sammlung Fragmente der Vorsokratiker dar, die bis zur sechsten, von Diels’ Schüler Walther Kranz herausgegebenen Ausgabe erweitert wurde; weitere Auflagen folgten. Die Ausgabe prägte Forschung und allgemeine Rezeption der frühen griechischen Philosophie durch die geradewegs im Titel erwähnten Grundaspekte des „Fragmentarischen“ und des „Vorsokratischen“ (vgl. Hühn 2002 und Rapp 2007).

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Dadurch wurde oft auch dieser erste Schritt in der modernen literarisch-dramatischen Wiederentdeckung des antiken Dichters und Denkers von einer durch das Fragmentarische bedingten Anziehungskraft begleitet, die als Zeichen einer innigen Verwandtschaft Hölderlins mit der griechischen Welt empfunden wurde. Gerade das Unvollendetsein von Hölderlins Empedokles verlieh ihm somit die Rolle der Vermittlung zur Antike – spätestens seit Nietzsche zu einer ‚echten‘, ‚ursprünglichen‘, letzten Endes antiklassizistischen Antike.198 Vor bzw. unabhängig von Nietzsche allerdings, ist besagte europaweite Konjunktur des literarischen Interesses an Empedokles zu verzeichnen. Ein intertextuelles Verhältnis zu Hölderlins Vorlage ist dort entweder nicht auszumachen, chronologisch und rezeptionsgeschichtlich sehr unwahrscheinlich oder überhaupt indirekt bzw. von einer Abhängigkeit von denselben antiken Quellen nicht klar zu unterscheiden. So gehören historisch durchaus interessante, allerdings resonanzarme und inzwischen vergessene Fiktionalisierungen der Empedokles-Figur und seines legendenhaften Sterbens in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, wie die „vision poétique“ des Xavier Łabensky bzw. Labensky alias Jean Polonius (betitelt Empédocle, 1829)199 oder die fünfaktige „étude antique“ Panthéia, die 1874 Félix Henneguy mit reichlich gelehrten Anmerkungen veröffentlichte,200 wie auch das nüchternere „dramatic dialogue“ Empedocle des schottischen Gräzisten John Stuart Blackie (1877) mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit nicht in die Rezeptionsgeschichte von Hölderlins Trauerspiel-Projekt.201 Das bekannteste und literarisch wertvollste Beispiel unter den spät- und nachromantischen Empedokles-Literarisierungen, Matthew Arnolds „dramatic poem Empedocles on Etna (1850),202 ist auch das einzige bisher in Bezug auf eine eventuelle || 198 Dass gerade der zunächst als „Griechenschwärmer“ abgetane Hölderlin zur Galionsfigur eines anderen Antikeverständnisses wurde, gehört zu den bedeutendsten Aspekten des sich im späten 19. Jahrhunderts wandelnden Hölderlin-Bildes, dazu vgl. mit Blick auf die Hyperion-Rezeption Castellari (2002) 128f. 199 Das mehr als dreißig Seiten lange Gedicht eröffnete 1829 die zweite lyrische Sammlung dieser vergessenen Figur der europäischen Romantik (1790–1855). Zum polnischen Grafen vgl. Asse (1900). 200 Der französische Schriftsteller (1830–1899) gesteht, er habe bei der Verfassung seines Stücks nicht vermeiden können, „faisant parler Empédocle [...] que de mettre dans sa bouche le plus possible des vers trop rares qui nous sont restés de lui“ (Henneguy 1874, 139) – um dann aber eine süßliche Liebesgeschichte mit spektakulärem gemeinsamem Sturz von Panthéia und Empédocle in den Krater darzustellen. 201 In seinen drei Szenen zentriert der Edinburgher Professor für griechische Literatur (1809–1895) politische Fragen und verzichtet auf das Todes-Motiv, denn „the story about his leaping into the crater of Mount Etna, is no doubt only a popular exaggeration of his frequent visits to that mysterious mouth of fire in his neighbourhood“ (Blackie 1877, 160). Blackie studierte in Deutschland und pflegte enge Kontakte zur kontinentalen Gräzistik; Hölderlin ist ihm auf seinem deutschen Bildungsweg jedoch wohl nicht begegnet. 202 Das Gedicht ziert dann 1852 die zweite Gedichtsammlung Arnolds. Bereits ein Jahr darauf, als die Poems in erweiterter Form erschienen, verzichtete er allerdings auf dessen Wiederabdruck.

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Hölderlin-Abhängigkeit erforschte Werk. Die Möglichkeit, dass auch Hölderlins Empedokles hier inspirierend gewirkt habe, ist eine Frage, deren Lösung allerdings die Forschung dieser Tage aufgegeben zu haben scheint.203 Der in deutschen Angelegenheiten überaus versierte Arnold wäre durchaus imstande gewesen, Hölderlin entweder direkt zu lesen (sowohl die Gedichte- als auch die Sämtliche Werke-Ausgabe Schwabs kämen chronologisch in Frage) oder aber von ihm und seinen Werken aus anderen Quellen, etwa aus Zeitschriftenaufsätzen zu erfahren (Arnim?). Bei einem Dichter wie Arnold, der als „the most pervasively intertextual of Victorian Poets“ bezeichnet wurde und dessen Empedocles on Etna ausdrücklich „a kind of intertextual medley“ darstelle,204 könnte auch Hölderlin (gut) versteckt sein. Gerade diese forcierte Intertextualität205 ermöglicht aber kaum die Bestimmung von eindeutigen Beweisen. Eher als wörtliche oder variierende Zitate wären es somit „verbal echoes“, „parallel themes and images“ und „similarity in the structure“ die, wie bereits Burwick konstatierte, für eine intertextuelle Relation sprächen. Selbst Burwick, der am meisten die Hölderlin-Hypothese stark machte und gar zum Schluss kam, dass „however little known Hölderlin might have been in nineteenth century England, Arnold was certainly one man who knew him well“, musste allerdings (etwas kontradiktorisch dazu) eingestehen, dass „we have no proof of Arnold’s reading Hölderlin“ (Burwick 1965, 42). Dieser Konstellation muss eine andere Untersuchung als die vorliegende nachgehen, indem etwa Arnolds wohl eher strukturell-dramaturgisches Verhältnis zur eventuell mittelbar bekannten hölderlinschen Vorlage erörtert und – was noch interessanter wäre – ein Vergleich von Annäherungsweise und Behandlung des antiken Stoffes bei beiden Dichtern vor dem Hintergrund der gesamteuropäischen Empedokles-Faszinationen zwischen Romantik und Realismus angestellt wird.

2.2.2 „Der reine tragische Mensch“. Friedrich Nietzsche, Hölderlin und Empedokles In seiner Studie zu „Nietzsches ambivalente[r] Hölderlin-Rezeption und deren Auflösung im Nietzscheanismus“ attackiert Gideon Stiening einen weitverbreiteten, je anders nuancierten Standpunkt älterer und neuerer Forschung und deklariert: „Hölderlin und Nietzsche [...] haben im Hinblick auf die Kernbestände ihres Denkens nichts miteinander gemein“ (2014, 62).206 Dem folgt eine Lektüre der (wenigen) Stellen bei || 203 Neben Burwick (1965) sei auch an Bonnerot (1947) erinnert. 204 So in der einschlägigen Analyse von Harrison (1990) 16; 32. 205 Vgl. die annotierte Ausgabe für eine ausgiebige Quellenangabe (Arnold 1979). 206 Mit Bezug auf Nietzsches Rolle für die Entwicklung einer „Kritik am Subjektbegriff“ skizziert Stiening etwa so den Unterschied: „Hölderlins Philosophie [...] [steht] sowohl für die Ermöglichung eines widerspruchsfreien Konzepts von Subjektivität als auch für eine Form der Kritik in philosophischer und kulturkritischer Hinsicht, die sich des Gestus der Entlarvung grundsätzlich entschlägt und

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Nietzsche mit expliziten Aussagen über den schwäbischen Dichter oder offensichtlichen Bezügen zu dessen Werk und Figur mit dem Ergebnis, dass sie entweder in ihrer Wirkungskraft überbewertet worden seien oder entgegen der communis opinio mit Hölderlins Texten nicht viel zu tun hätten. Insgesamt würden solche Hölderlin-Aneignungen Nietzsches unter dem „Ineinanderblenden von Leben und Dichtung“ leiden und „nur Facetten einer schon seit der Romantik zu verzeichnenden Instrumentalisierung Hölderlins für eine weitgehend abstrakte Kulturkritik“ darstellen (73). Dabei schneidet der „Nietzscheanismus“ der späteren Hölderlin-Rezeption nicht besser ab. Vielmehr erscheine die „Korrelation Hölderlin-Nietzsche“207 – der Stiening selbstverständlich die historische Funktion keineswegs abspricht, den „empirische[n] Verlauf einer intensiveren Beschäftigung mit Hölderlin überhaupt“ entscheidend mitgeprägt zu haben (63)208 – als ein fataler Fehlschluss: „Hölderlin wurde keineswegs besser verstanden durch Nietzsche; vielmehr wurde er gründlich missverstanden“ (79).209 Stiening macht sich sogar Emil Staigers Worte aus dem Jahr 1946 zu eigen: „Wer Hölderlin wahrhaft ehrt, wird nur mit Pein den Namen Nietzsches im gleichen Atemzuge ausgesprochen hören“ (74).210

|| entschlagen kann, weil sie die kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart auf der Grundlage einer Geschichtsphilosophie austrägt, die nicht entlarvt, sondern nach Spuren des Künftigen im Gegenwärtigen sucht“ (Stiening 2014, 61). Ähnliches gelte mit Blick auf die Moralphilosophie. 207 Auch aus der Perspektive Stienings übte „die Tatsache, dass Nietzsche wie Hölderlin in schwerer psychischer Umnachtung sein Leben beendete, einen offenbar unausweichlichen Sog für die These einer geistigen Verwandtschaft aus“ (Stiening 2014, 74). 208 Dies wird dort mit den Namen Diltheys, Hellingraths und Georges verknüpft. Diesen sind, wie diese Arbeit anhand der Empedokles-Rezeption um 1900 zu zeigen versucht, andere hinzuzufügen, die bereits vor dem Erscheinen von Diltheys Studie die Korrelation erkannt und hinterfragt (Ziegler 1898, Drews 1904) bzw. in ihren literary recyclings produktiv gesteigert haben (Ernst Hardt, Rudolf Pannwitz). Das Konstrukt einer Genealogie Hölderlin-Nietzsche war in der Tat die epochale Erfahrung einer ganzen Generation. 209 Dadurch wird, wie Stiening selber ausführt, eine vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zirkulierende, etwa noch bei Pellegrini (1954, Übers. 1965) aufzufindende Lektüre der Rezeption, in der Nietzsches Rolle nicht ohne Mythisierungen zu der eines Wiederentdeckers stilisiert wurde, nüchtern berichtigt; solch eine kritische Revision ist spätestens seit Bothe (1992) üblich. Stienings Überlegungen sind jedenfalls nicht nur mit Blick auf die ältere Forschung und auf die Rezeptionsgeschichtsschreibung von Nutzen, denn die Hölderlin-Nietzsche-Linie wird immer noch in v.a. philosophisch ausgerichteten Arbeiten überbewertet, ohne die Konstellation zu hinterfragen, vgl. etwa Babich (2009) 109–145. 210 Vgl. Staiger (1946) 205. Der Satz wird dort durch den nächsten präzisiert („Nietzsches Dionysos, dieser schon eher hysterische als numinose Gott, hat wenig zu schaffen mit dem Bacchus, den Hölderlins Dichtung kennt und feiert“) und bezieht sich auf die Benutzung des Begriffs „dionysisch“ in Romano Guardinis Buch Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit (1939), das Staiger in seinem Forschungsüberblick insgesamt keineswegs abwertet. Seine Polemik richtet sich vielmehr gegen Untersuchungen wie diejenige Hildebrandts (Hölderlin, Philosophie und Dichtung, 1940), die, so Staiger, „den Dichter missbrauch[en]“ (203).

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Staigers vor seinem historischen Hintergrund zu verortende Empörung meinte mit „Nietzsche“ den ideologisch pervertierten Nietzsche der NS-Zeit – eine Pervertierung, die übrigens Hand in Hand mit derjenigen Hölderlins vor sich gegangen war,211 wobei Staiger hingegen etwas widersprüchlich mit „Hölderlin“ den nicht verunreinigten Dichter evozierte. Einmal abgesehen von der Irritation, welche aus heutiger Sicht der Rückgriff auf diese Gegenüberstellung auslösen kann, trifft Stienings Diagnose in vielem zu. Tatsächlich erscheint Nietzsches Aneignung Hölderlins als ein janusköpfiges Phänomen, das einerseits tief in den Rezeptionsmodi des romantischen und nachromantischen 19. Jahrhunderts verankert ist und des Dichters Figur und Werk durch eine höchst persönliche Drehung in die eigene kulturelle Konstellation übersetzt. Über das effektive Ausmaß der Rezeption seitens Nietzsche von hölderlinschen dichterischen und denkerischen Anstößen hinaus wurde andererseits die unausgeglichene Begegnung von Rezipiertem und Rezipienten durch die späteren Generationen zu einem kulturellen Konstrukt, das für die kritische und produktive Aufnahme Hölderlins um 1900 und danach zentral war – und zwar jeden romantischen Ursprungs entblößt und dezidiert auf die Aktualität der Moderne bezogen. Für die Rekonstruktion der Spielarten der Empedokles-Begeisterung vor der Aufführungsgeschichte des Dramas – und allgemein in der Perspektive einer Untersuchung zur produktiven Rezeption des Dichters – sind die Fragen, die Stiening aufwirft, erst dann von Bedeutung, wenn sie anders gestellt werden, wobei auf seine Sachlichkeit angesichts übertriebener älterer und neuerer ‚Nietzscheanisierungen Hölderlins‘ keineswegs zu verzichten ist. Nicht ob Nietzsche oder die in dessen Perspektive Hölderlin lesenden Zeitgenossen und Nachkommen den ‚echten‘ Hölderlin – was auch immer das sei – missverstanden oder gar verfälscht haben, kann von Belang sein. Hier interessiert vielmehr, wie zum einen Nietzsche Hölderlin und insbesondere dessen Empedokles-Fragmente liest und transformiert und wie zum anderen, direkt oder indirekt, solch produktive Aneignung die weitere Geschichte der Empedokles-Rezeptionen lenkt. Dies hat sicherlich mit Hölderlin zu tun. Wie seine Zeitgenossen ist Nietzsche vor allem ein Leser von Hölderlins frühem und mittlerem Werk, auf den die Lebens-, Krankheits- und Rezeptionsgeschichte Hölderlins zweifellos eine große Faszination ausübte. Er gehört nicht zum begrenzten Kreis, dem die Sophokles-Übersetzungen im 19. Jahrhundert bekannt waren und zeigt Interesse weder für die theoretischen Texte noch für die wenigen Gedichte aus der Spätzeit, die ihm in den damaligen Ausgaben mehr oder weniger entstellt vorlagen. Sowohl für die Lyrik als auch für Hyperion und Der Tod des Empedokles hat die hochspezialisierte Nietzsche-Forschung jedoch Rezeptionsstränge in dessen literarischen und philosophischen Werken erkannt, und zwar in stilistischer wie inhaltlicher Hinsicht: Auch wenn kein Konsens über die effektive Bedeutung dieser meist untergründigen Präsenz des hölderlinschen Hypotextes für Nietzsches Dichten und (vor allem) || 211 Vgl. dazu die differenzierte Analyse bei Corngold/Waite (2002).

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Denken besteht, so wurden Spuren dieser Art im intertextuellen Dickicht von Werk, Briefwechsel und Nachlass akribisch nachgewiesen. Der Tod des Empedokles ist sicherlich das hölderlinsche Werk, dem sowohl quantitativ als qualitativ die größte Bedeutung in den nietzscheschen dichterischen und denkerischen Konstellationen zukommt. Mehr als zwanzig Jahre Beschäftigung mit Hölderlins Dramenfragmenten und mit dessen Hauptfigur – die für den Philologen und Philosophen nie eine rein fiktionale Gestalt war – haben Spuren hinterlassen, die typologisch sehr heterogen sind: Nietzsche schreibt über den Tod des Empedokles (und über Empedokles), streut Zitate aus den Fragmenten in seine öffentlichen und privaten Schriften ein, versucht sich produktiv-transformativ an einem eigenen Drama über den – so nennt er ihn – „reine[n] tragische[n] Mensch[en]“212 und verarbeitet Motive aus Hölderlins Trauerspiel-Fragmenten in Also sprach Zarathustra (1883–85), dem „Buch für alle und keinen“, das wenige Jahre später zur Kultlektüre der europäischen Moderne werden sollte. Den Anfang bildet auch in Sachen Empedokles der berühmt-berüchtigte Schulaufsatz, den der gerade Siebzehnjährige unter der fingierten Form eines Brief[s] an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle am 19. Oktober 1861 verfasste. Als Nietzsches Deutschlehrer Karl August Koberstein das Thema aufgab, hatte er Hölderlin vermutlich nicht unter den Dichtern vorgesehen, die seine Schüler in der Königlichen Landesschule Pforta hätten behandeln sollen – Kobersteins im 19. Jahrhundert resonanzreicher, monumentaler Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur erwähnte den Schwaben nur am Rande.213 Belegt ist jedenfalls die Reaktion des Lehrers, nachdem er Nietzsches Brief las: Sein „freundliche[r] Rath“ war, „sich an einen gesundern, klareren, deutscheren Dichter zu halten.214 Darin erkennt man unschwer die für die damalige Germanistik geltenden Maßstäbe.215 Mehr als über die Wahl des Sujets hätte sich jedenfalls Koberstein über die Art und Weise entrüsten sollen, wie sein Schüler den Aufsatz verfasst hatte. Es handelte sich dabei nämlich um ein Plagiat: Nietzsche schrieb vor allem Passagen ab aus

|| 212 „Empedocles ist der reine tragische Mensch“, notiert Nietzsche (September 1870-Januar 1871, 5[94]). Hier und im Folgenden wird aus dem Nachlass mit der in der Kritischen Gesamtausgabe (KGW) von Nietzsches Werken benutzten Systematik zitiert plus Band und Seitenzahl derselben (hier: KGW 3/3, 122); die weiteren Werke und die Briefe werden nur mit Band und Seitenzahl aus derselben Ausgabe bzw. aus der kritischen Gesamtausgabe des Briefwechsels zitiert (KGB). 213 Für sein literaturgeschichtliches Werk, das erstmals 1837 noch als Leitfaden für den Unterricht veröffentlicht und in den Jahrzehnten danach bis zur fünfbändigen postumen Ausgabe 1872–73 ausgebaut wurde, erhielt Koberstein (1797–1870) von der Universität Breslau die Doktorwürde h.c. mit der Begründung: quod Germanicarum litterarum historiam studio diurno et fructuosissimo exploravit librisque egregiis illustravit (1857). 214 Vgl. Kaulen (1994) 559. 215 Vgl. dazu Kaulen (1994) und Castellari (2002) 111.

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einer „durchgängige[n] Lebens- und Werkbeschreibung mit eingestreuten Textproben, basierend auf der Ausgabe Christoph Theodor Schwabs und im Kommentar stark beeinflusst von Alexander Jung“ (Bothe 1992, 232);216 auch Schwabs Ausgabe muss Nietzsche dabei nachweislich vor Augen gehabt haben.217 Die starke Abhängigkeit des jungen Nietzsche von den Hauptakteuren der früheren Hölderlin-Rezeption, die an sich nicht spektakulär erscheinen mag, desavouiert die Aura des Einzelgängers, der kraft seines frühreifen Genies den vergessenen Wahlverwandten für sich entdeckte – tatsächlich umgab eine solche Aura den Text, als er sehr früh unter Hölderlin- und Nietzsche-Verehrern zu zirkulieren begann.218 Auch die oft beschworene Opposition zwischen dem Pfortaner Schüler und seinem Lehrer als Zeichen eines sich anbahnenden Generationswechsels im Urteil über Hölderlin verliert dadurch an Kraft. Rezeptionsgeschichtlich darf jedenfalls nicht vergessen werden, dass auch der Schulaufsatz zur Mythisierung der Hölderlin-Nietzsche-Konstellation beitrug, die im Verlauf des erst späteren, jedoch tatsächlich stattfindenden Paradigmenwechsels um 1900 erfolgen sollte. Darüber hinaus ermöglicht eine nüchterne Analyse des Schulaufsatzes anhand des heute rekonstruierten Netzes seiner Bezüge auch eine Präzisierung des Ausgangspunkts von Nietzsches Hölderlin-Rezeption,219 die von Anfang an ambivalent ist: Ei-

|| 216 Bereits Roos 1940, 112 hatte auf die Abhängigkeit hingewiesen; die von vielen späteren Forschern vergessene Studie ist für die Hölderlin-Nietzsche-Konstellation noch heute sehr nützlich, vgl. vor allem 111–143. In den letzten Jahren hat Thomas Brobjer intensiv über den frühen Hölderlin-Aufsatz geforscht, vgl. Brobjer (2001) sowie für eine Einbettung in größere Werkzusammenhänge Brobjer (2008) und Brobjer (2012), wo er zum nachvollziehbaren Schluss kommt: „it was not a ‚free‘ essay by Nietzsche, much less a genuine letter, but was composed on a set theme, and Nietzsche excerpted almost all of his literary judgments directly from a work by William Neumann [...]. If there is any originality in the essay, it is in the choice of poet and in the skillful scholarly comments [...] an early example of his habit of evaluating and criticizing with little personal experience“ (27). Aus Nietzsches Briefwechsel kann entnommen werden, dass er kurz vor dem Abfassen des Aufsatzes seine Familie in Naumburg darum bat, ihm die Biographie nach Pforta zu schicken (vgl. die Briefe an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 12. und 17. Oktober, KGB 1/1, 181f.). 217 Bei den Passagen im Schulaufsatz „handelt es sich zumeist um wörtliche Übernahmen aus diesem anonymen Buch. Da jedoch das im Aufsatz zitierte Gedicht dort nicht abgedruckt ist, muß Nietzsche schon 1861 noch eine andere Ausgabe benutzt haben, möglicherweise die Werkausgabe Schwabs von 1846“ (Bothe 1992, 232). 218 Der Brief war bereits vor der Jahrhundertwende im ersten Band der Nietzsche-Biographie zu lesen (und zwar an erster Stelle unter den „Aufsätze[n] und Aufzeichnungen Friedrich Nietzsche’s 1861–1869“), die seine Schwester Elisabeth in den Druck gegeben hatte (Förster-Nietzsche 1895, 300– 312). 219 Wie der junge Nietzsche auf Hölderlin gekommen war, ist bis heute nicht geklärt; wahrscheinlich war eine Vermittlung des Schulfreundes Wilhelm Pinder um 1858 entscheidend (vgl. Pinder an Nietzsche, 21. November 1858, KGB 1/1, 328). Der Dichtername taucht in den Aufzeichnungen Nietzsches vom März 1861-August 1862 mehrmals auf, einmal unter dem Stichwort „Für die Ferien“, sonst

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nerseits basiert sie auf dem Mitte des 19. Jahrhunderts verbreiteten stark klischeehaften Wissen über Hölderlin, andererseits wird sie aber bereits durch eine eigenständige Akzentsetzung gekennzeichnet. Schon die Argumentationsstruktur des fingierten Briefs erscheint aufschlussreich: Sie thematisiert nämlich die Rezeptionsgeschichte, indem sie eine Frontstellung schafft zwischen den vielen, die Hölderlin nicht mögen, weil sie ihn nicht kennen bzw. nicht verstehen (darunter der ‚Adressat‘), und den wenigen, die ihn lieben – darunter der ‚Absender‘. In der Fiktion ist nämlich der ganze Brief als Replik auf Aussagen des Freundes, die den Briefschreiber „sehr überrascht“ hätten, deswegen fühle er sich „bewogen, für diesen meinen Lieblingsdichter“ gegen den Freund „in die Schranken zu treten“ (338).220 Dazu zitiert er zuerst die harschen Worte des Adressaten über die „verschwommenen, halbwahnsinnigen Laute eines zerrissenen, gebrochnen Gemütes“, die „Tollhäuslergedanken“, das „unklar[e] Gerede“ (ebd.). Aus dieser Passage geht klar hervor, dass Nietzsche einen ganzen Briefwechsel imaginiert, in dem er bereits vorher seine Sympathie für den schwäbischen Dichter zum Ausdruck gebracht hatte: die damalige Hölderlin-Rezeption wird somit explizit inszeniert.221 Da in den Worten des Hölderlin keineswegs gewogenen Freundes hauptsächlich von Gedichten die Rede ist, kann Nietzsche daran anknüpfen und zuerst dem halbherzigen Lob eine überschwängliche Preisung der Lyrik gegenüberstellen,222 um dann das „abgeschmackt[e] Vorurteil gegen Hölderlin“ durch tatsächliche Unkenntnis seiner Texte zu erklären (339):223 „Überhaupt scheinst du in dem Glauben zu stehen“, fährt er fort, „als ob er nur Gedichte geschrieben hätte“ (ebd.). Auf die Lyrik kommt Nietzsche später zurück, indem er unter anderem als Probe „die letzten Strophen aus

|| meist als Metonymie für den Biographie-Band. Aus den Notizen des folgenden Jahres geht auch hervor, dass Pinder einen Aufsatz bzw. Vortrag über ein Gedicht Hölderlins im Rahmen des von ihm, Gustav Krug und Nietzsche gegründeten „Selbstbildungsvereins“ Germania plante bzw. hielt (vgl. 11[22, 32, 39], KGW 1/2, 306; 310; 314; 471; 473; 483). 220 Zitiert wird der Aufsatz mit einfacher Seitenzahl aus den nachgelassenen Aufzeichnungen Oktober 1861-März 1862 zitiert (12[2], KGW 1/2, 338–341). Eine Vorstufe dazu kann man ebd., 337 lesen (Fragment 12[1]). 221 „Ich will dir deine harten, ja ungerechten Worte noch einmal vor Augen führen; vielleicht, daß du schon jetzt eine andre Meinung hegst: ‚Wie Hölderlin dein Lieblingsdichter sein kann, ist mir völlig unerklärlich‘“ (338). 222 „Das ist dein ganzes Lob? Diese Verse (um nur von der äußeren Form zu reden) entquollen dem reinsten, weichsten Gemüt, diese Verse, in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit die Kunst und Formgewandtheit Platens verdunkelnd, diese Verse, bald im erhabensten Odenschwung einherwogend, bald in die zartesten Klänge der Wehmut sich verlierend, diese Verse kannst du mit keinem andern Wort beloben, als mit dem schalen, alltäglichen ‚Wohlgelungen‘?“ (338). 223 „Aus diesen schnöden Worten leuchtet mir [...] ein, [...] daß dir die Werke desselben nichts als unklare Einbildungen sind, indem du weder seine Gedichte, noch seine übrigen Erzeugnisse gelesen hast“ (339).

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dem Gedicht Abendphantasie“ anführt, „in dem sich die tiefste Melancholie und Sehnsucht nach Ruhe ausspricht“ (ebd.).224 Zuerst nützt er jedoch rhetorisch die Gelegenheit, die ihm die Unkenntnis des Freunds gibt, und verbreitet sich über Hyperion225 und Empedokles, die ihm beide sehr am Herzen zu liegen scheinen. Bemerkenswert ist der Umstand, dass er nicht (wie es im 19. Jahrhundert fast ausnahmslos geschah) dem Briefroman den Vorrang gibt, sondern dem Trauerspiel. „So kennst du denn also nicht“, heißt es, den Empedokles, dieses so bedeutungsvolle dramatische Fragment, in dessen schwermütigen Tönen die Zukunft des unglücklichen Dichters, das Grab eines jahrelangen Irrsinns, hindurchklingt, aber nicht, wie du meinst, in unklarem Gerede, sondern in der reinsten, sophokleischen Sprache und in einer unendlichen Fülle von tiefsinnigen Gedanken. (339)

Die knappe Charakterisierung ist kennzeichnend für die Kopplung von gängigen Ansichten (die biographistische Lektüre mit romantisierenden Anklängen an die Mythisierung des Wahnsinns)226 mit der Würdigung der sprachlichen und philosophischen Qualität;227 weiter unten kulminiert sie im oft zitierten Schlusssatz zum Drama: „Es lebt eine göttliche Hoheit in diesem Empedokles“ (340). Besonders bedeutsam er-

|| 224 Explizit erwähnt sind zuerst, in dieser Reihenfolge und diesem Wortlaut, Rückkehr in die Heimat, Der gefesselte Strom, Sonnenuntergang und Der blinde Sänger. Dies in einem Abschnitt, in dem Nietzsche nach der Würdigung der „äußere[n] Form“ auf die „Gedankenfülle“ eingeht, die der Freund „als Verwirrtheit und Unklarheit zu betrachten“ scheine. Damit argumentiert er für seine Zeit beherzt gegen das Wahnsinn-Vorurteil, auch wenn er zugeben muss, dass der Tadel des Freunds „auch wirklich einige Gedichte aus der Zeit des Irrsinns trifft, und selbst in den frühern mitunter der Tiefsinn mit der einbrechenden Nacht des Wahnsinns ringt“ (339). Dann kommt jedenfalls Nietzsche auch auf Texte zu sprechen, die damals als „aus der Zeit des Irrsinns“ stammend geführt wurden, wenn er bemerkt: „In anderen Gedichten, wie besonders in dem Andenken und der Wanderung, erhebt uns der Dichter zur höchsten Idealität“. Titellos wird dann noch „eine ganze Reihe von Gedichten“ als bemerkenswert erwähnt, „in denen er den Deutschen bittre Wahrheiten sagt, die leider nur oft allzu begründet sind“ (340). Wie man sieht, ist Nietzsches Kenntnisspektrum bei aller Abhängigkeit von Sekundärquellen recht weitreichend. 225 „Auch den Hyperion kennst du nicht, der in der wohlklingenden Bewegung seiner Prosa, in der Erhabenheit und Schönheit der darin auftauchenden Gestalten auf mich einen ähnlichen Eindruck macht, wie der Wellenschlag des erregten Meeres. In der Tat, diese Prosa ist Musik, weiche schmelzende Klänge, von schmerzlichen Dissonanzen unterbrochen, endlich verhauchend in düstren, unheimlichen Grabliedern“ (339). Nietzsches Hyperion-Lektüre ist (über Neumann) von Jungs musikalischer Hyperion-Deutung abhängig, die ihrerseits stark durch Bettinas Günderode inspiriert wurde. Vgl. Castellari (2002) 106–111 und 2.1. 226 In dieselbe Richtung geht der Vermerk weiter unten: „In dem nicht vollendeten Trauerspiel ‚Empedokles‘“ entfaltet uns der Dichter seine eigne Natur“ (340). 227 Als Beispiel der „unendlichen Fülle von tiefsinnigen Gedanken“ kann die Erläuterung gelten: „Empedokles’ Tod ist ein Tod aus Götterstolz, aus Menschenverachtung, aus Erdensattheit und Pantheismus“ (340).

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scheint für unsere Belange, dass Nietzsche den Empedokles nicht wie die Wohlwollendsten unter seinen Zeitgenossen als lyrisches Meisterwerk preist, sondern als „dramatische[s] Fragment“, dessen Sprache derjenigen des tragischen Theaterdichters Sophokles gleichgestellt wird. Im weiteren Verlauf des Briefs ist zwar davon die Rede, dass das „nicht vollendet[e] Trauerspiel“ ihn „immer beim Lesen ganz besonders erschüttert“ habe (340, Hervorhebungen von mir). Doch war eine andere Rezeptionsform als die rein literarische für Nietzsche nicht möglich. Dass der Empedokles jedoch ein für die Bühne verfasstes Drama war und als solches auch Zuschauer impliziert, scheint aus diesen Äußerungen durchzuschimmern. Der Brief endet schließlich mit der Beteuerung, die „harten Worte“ gegen den Freund hätten nur den Zweck gehabt, dass er zur „Kenntnisnahme und vorurteilsfreien Würdigung jenes Dichters bewogen“ würde, „den die Mehrzahl seines Volkes kaum dem Namen nach kennt“ (341). Der Rahmen schließt sich also und zwar mit der neuerlichen Evokation des zu Unrecht Vergessenen. Wie die Empedokles-Stellen gezeigt haben wird neben solch zeittypischen Schablonen die Hölderlin-Rezeption Nietzsches von Anfang an durch das Interesse fürs Dramatische und Tragische beherrscht, das auch in weiteren fast zeitgleichen Texten des Schülers zu anderen Autoren aufscheint.228 Dadurch unterscheidet sie sich bereits im Schulaufsatz von zeitgenössischen Mustern. Gerade die Wirkung des Empedokles als moderner Tragödie über ein antikes Sujet zieht sich wie ein roter Faden durch das mittlere Werk Nietzsches hindurch. Wenn also Stiening grundsätzlich zuzustimmen ist, dass „solche Schüleraufsätze, wie der Nietzsches zu seinem ‚Lieblingsdichter‘, nicht überbewertet werden sollten“ (2014, 64), so lassen sich doch in ihnen bereits einige wichtige Modi seiner Hölderlin-Rezeption im Spannungsverhältnis zwischen der Abhängigkeit von den Vorurteilen seines Jahrhunderts einerseits und der Ausarbeitung einer eigenständigen Position andererseits erkennen – gerade die neuere Nietzsche-Forschung, die am detailliertesten auf die starke Dependenz von Nietzsches Schulaufsatz von zeitgenössischen Quellen eingegangen ist, konnte auf der Grundlage einer derartigen zwischen Plagiat und produktiver Aneignung changierenden Rezeption die denkerischen Anleihen skizzieren, die später Nietzsche bei Hölderlin hätte machen können.229 Was unseren Schwerpunkt angeht, der weniger auf dem Feld möglicher ästhetischer und philosophischer Einflüsse bzw. Affinitäten liegt230 als vielmehr die Rolle

|| 228 Vgl. unter den Aufzeichnungen jenes Herbsts die Texte Über die dramatischen Dichtungen Byrons (12[4]) und Versuch einer Charakterschilderung des Oktavio in Schillers Wallenstein (12[5); KGW 1/2, 344–350; 350–353. 229 Vgl. Bothe (1992) 232–235, Bothe (1993) 29, Brobjer (2001), Brobjer (2012) 27. 230 Bereits Beyer (1992) machte darauf aufmerksam, dass sich „rezeptionsgeschichtlich [...] die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit ihrer Bilder und Begriffe als die Bedingung der Möglichkeit dafür erwiesen [hat], Hölderlin und Nietzsche sowohl in große Nähe als auch in weite Ferne voneinander

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akzentuiert, die Nietzsche sowohl als produktiver Rezipient des dramatischen Empedokles-Stoffs als auch als Initiator späterer (Bühnen-)Bearbeiter gespielt hat, erscheint der Umstand von besonderer Bedeutung, dass in den Jahren 1860–1885 Hölderlins Drama bei Nietzsche präsent bleibt. Neben brieflichen Äußerungen, die eine spezielle Begeisterung für eine bestimmte Passage aus den Tragödienfragmenten bezeugen,231 und weiteren Hölderlin im Allgemeinen betreffenden Belegen,232 künden vor allem die Jahre um 1870, in denen Nietzsche an Die Geburt der Tragödie

|| zu rücken“ (3). Hier sei auf seine in vier Phasen gegliederte Rekonstruktion dieser Rezeptionsgeschichte hingewiesen, in der Heidegger eine nicht unwichtige Rolle spielte und die später durch eine sprachkritische Begründung der Affinität Hölderlin-Nietzsche vor allem von französischer Seite erneut angestoßen wurde (3–10). Die ideologisch-politisch gefährlichen Seiten erörtern Corngold/Waite (2002) mit besonderer Schärfe; skeptische Überlegungen zum philosophischen Verhältnis vor allem bei Politycki (1989), Beyer (1992) 15, Zittel (2000) 387f. und jüngst bei Stiening (2014) 62. Vor allem die amerikanische Forschung arbeitet sowohl in eher biographisch-geschichtlich als auch in theoretisch ausgerichteten Untersuchungen weiter affirmativ an der Konstellation (vgl. Young 2010, 41–46, Krell 2005, 391–432). 231 Zu einem Spruch ist für Nietzsche das Zitat aus einer Rede des Empedokles (‚erste Fassung‘) geworden: „denn liebend giebt / Der Sterbliche vom Besten“ (StA 4, 66). Er erwähnt es immer mit der Angabe, dass es von Hölderlin stamme, in einem Brief an den Schulfreund Wilhelm Pinder vom 5. Juli 1866, dann wieder in einem Brief an den Studienfreund Erwin Rohde (3. September 1869), in dem der Dichter bereits rückblickend als sein „Liebling aus der Gymnasialzeit“ bezeichnet wird (vgl. KGB 1/2, 137f.; 2/1, 51). Ein knappes Jahrzehnt später taucht das Zitat auch in Menschliches Allzumenschliches I auf (1876–78; vgl. KGW 4/2, 217). 232 Die Belege sind quantitativ begrenzt. Bis auf für unsere Belange wichtigere Aussagen, die gesondert erörtert werden, handelt es sich um folgende. Aus Hölderlins Gedicht Sonnenuntergang, das bereits im Schulafsatz erwähnt wurde, zitiert Nietzsche die ersten sechs Verse in seiner dreisprachigen (gr./lat./dt.) Schularbeit über Primum Oedipodis regis carmen choricum (April-Mai 1864): „ganz im griechischen Geiste“ habe dort Hölderlin gedichtet (Nachgelassene Aufzeichungen April 1864 bis September 1864, [1], KGW 1/3, 363). Die nächsten Stellen betreffen hingegen die frühen 1870er Jahre. In David Strauss der Bekenner und Schriftsteller, dem ersten Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873), läuft die Polemik gegen die „Bildungsphilister“ auf eine Gegenüberstellung von Vischer und Hölderlin hinaus, wobei wie im Schulaufsatz der Dichter gegen den Mainstream der Hölderlin-Rezeption seiner Zeit als „wahre[r] und ächte[r] Nicht-Philister“ verteidigt wird (KGW 3/1, 167f.). Die nachgelassenen Fragmente aus demselben Jahr zeugen von einer mit dieser Arbeit zusammenhängenden Beschäftigung, vgl. die Exzerpte in 27[66] (zu Vischer) und 27[69] (aus: Gesang des Deutschen), vgl. Frühjahr-Herbst 1873 (KGW 3/4, 211f.) sowie 29[106–107] (aus den Briefen an den Bruder vom 4. Juni und vom 1. Januar 1799) und 29 [202] (aus: Sokrates und Alcibiades und Der Rhein), vgl. SommerHerbst 1873 (KGW 3/4, 211f.; 288f.; 319). Ein Jahr darauf werden Hölderlin und Kleist als „ungewöhnlich[e] Menschen“ den „Naturen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner“ gegenübergestellt: Deswegen „verdarben“ die ersteren und „hielten das Clima der sogenannten deutschen Bildung nicht aus“ (Schopenhauer als Erzieher, 1874 als dritte der Unzeitgemäßen Betrachtungen erschienen, vgl. KGW 3/1, 348). „Das sagt alles der arme Hölderlin, dem es nicht so gut wurde, wie mir und der es nur in der Ahnung trug, was wir trauen und schauen werden“: so wird schließlich das Gedicht Gesang des Deutschen in einem Geburtstagsbrief an Richard Wagner vom 24. Mai 1875 gedeutet (Str. 1–4 und 14–15; vgl. KGB 2/5, 56).

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arbeitet, und um 1880, in denen er Also sprach Zarathustra verfasst, von einer eingehenden Beschäftigung mit dem Empedokles-Stoff. Zwei Schlüsselwerke Nietzsches (und seiner Rezeption in der Moderne) entstanden also in intensiver Auseinandersetzung mit Hölderlin und dessen Tod des Empedokles. Auch viele Leser, die diesen erst nachträglich von der Forschung herausgearbeiteten Zusammenhang nicht im Detail kannten und kennen, dürften die impliziten Rückverweise auf Hölderlin sowohl per se als auch durch weitere Indizien von Nietzsches Arbeit an Hölderlin erkannt haben. Zentral erscheint hier insbesondere Nietzsches Plan um 1870, eine Tragödie über die antike Dichter- und Denker-Figur des Empedokles zu schreiben. Von ihm zeugen fragmentarische Aufzeichnungen, die bereits 1896 in der ersten Werkausgabe unter einem einzigen (und irreführenden) Titel Empedokles. Entwurf zu einem Drama (1870–71) fast gänzlich ediert wurden.233 Eine vollständige Ausgabe dieser Fragmente erfolgte später in der Gesamtausgabe von Colli und Montinari, die ihrem genetischen Editionsprinzip gemäß Nietzsches Bruchstücke zum Empedokles-Plan in den Nachgelassenen Fragmenten von Herbst 1869 bis Herbst 1872 verstreut wiedergibt.234 Für die Rezeption um 1900 waren aber selbstverständlich die Erstausgabe 1896 (Kögel) und die zweite von 1903 (Hölzer) ausschlaggebend, die den Lesenden eine so gut wie einheitliche Ausführung bzw. zwei miteinander zusammenhängende Entwürfe suggerierten.235 Bereits im Kommentarteil der Erstausgabe wurden des Weiteren der „Parallelismus der in dieser Skizze enthaltenen Ideen mit denen der ‚Geburt der Tragödie‘“ sowie die „innere Beziehung in der Conception dieses Empedokles zur Gestalt des Zarathustra“ unterstrichen: Man kann den Empedokles einen umgekehrten Zarathustra nennen: Empedokles beginnt als apollinischer Gott und endet, vom Mitleid überwältigt, als todessüchtiger Mensch; Zarathustra überwindet, von denselben harten Einsichten über das Dasein ausgehend, neben andrem

|| 233 Vgl. Nietzsche (1896) 183–191. Im elften Band der Ausgabe Nietzsche’s Werke (zweite Abteilung), in dem Ernst Hölzer die nachgelassenen Werke aus den Jahren 1869–72 herausgab, trägt der Titel die adäquate Pluralform: Entwürfe zu einem Drama: „Empedokles“ und das Datum Herbst 1870 (vgl. Nietzsche 1903). 234 5[116–118]; 7[15]; 8 [30–37]; 9[4], vgl. KGW 3/3, 129f.; 147; 243–247; 281–283. Im Folgenden werden die Empedokles-Fragmente Nietzsches mit der bloßen Nummerierung erwähnt. 235 Der stark rezeptionssteuernde Titel (Empedokles. Entwurf zu einem Drama) wird jedenfalls dadurch relativiert, dass zwischen einem „Ersten Entwurf“, der auf den Herbst 1870 datiert sei, unterschieden wird, und einem „späteren Entwurf“ (Frühjahr 1871), dem ein „Entwurf der Anfangsscenen des ersten Actes“ als Schlussteil angehört. Darüber hinaus ist im Kommentarteil von der „skizzenhaften, ungeordneten Niederschrift der ersten Conceptionsstufe“ und der davon herrührenden Herausgeberentscheidung die Rede, „die Ordnung für den Druck mehrfach geändert“ zu haben (Nietzsche 1896, 183; 186; 189; 380).

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Menschlichem, Allzumenschlichen sogar sein Mitleid mit den höheren Menschen und endet in dionysisch göttlicher Verklärung. (Kögel in Nietzsche 1896, 380)236

Fritz Kögel, der den Band im Auftrag von Nietzsches Schwester herausgab,237 erwähnte hier Hölderlin mit keinem Wort und wollte Entstehung und Beschaffenheit des Empedokles-Plans sozusagen ganz aus Nietzsche heraus verstanden wissen, was auch die hier stillschweigend eingearbeiteten Zitate aus Nietzsches Fragmenten bezeugen.238 Dass Nietzsches nie ausgeführtes Dramenprojekt jedoch in einer Relation zu Hölderlins Trauerspiel stand, war damaligen Lesern klar und gilt heute in der Forschung als unumstritten. Uneinig sind sich die Forscher aber darin, wie die Relation selbst zu beschreiben und (vor allem) welche Rolle ihr für die bereits von Kögel genannten Hauptwerke beizumessen sei. Zu dieser kontroversen Einschätzung hat nicht wenig beigetragen, dass Nietzsches weitere Aussagen zu Hölderlin und das fragmentarische Dramenmaterial selbst widersprüchlich sind; darüber hinaus hat die Konzentration der Nietzsche-Forschung auf die Implikationen des Empedokles-Plans für Nietzsches Oeuvre in manchem den Blick auf die rezeptionsgeschichtliche Dynamik verstellt. Wie erscheint Nietzsches Plan, ein Drama über Empedokles zu schreiben, aus der Perspektive der Rezeption von Hölderlins fragmentarischer Tragödie im 19. Jahrhundert? Ein intertextuelles Verhältnis zwischen beiden Empedokles-Projekten nachzuweisen ist in verschiedener Hinsicht problematisch. Erstens sind zwar beide fragmentarischer Art und sich auch darin typologisch ähnlich, dass notizenhaften Vorstudien, Skizzen sowie Erwägungen zur dramatischen Struktur mit Angaben zu einzelnen Aufzügen, Auftritten und zur Personenkonstellation bzw. -konfiguration dramatisch ausgeformte Passagen vorangehen bzw. folgen. Nur ist das Maßverhältnis grundlegend anders, denn im Unterschied zu Hölderlin konnte Nietzsche lediglich einen einzigen Szenenentwurf schreiben (I,1) nebst einem weiteren überaus knappen Szenenanfang (II,2). Zweitens fehlt ein „intertextueller Pakt“ im Sinne Genettes, der das Abhängigkeitsverhältnis explizieren würde, denn weder in paratextuellen Angaben, noch in den skizzenhaften Notizen zu Stoff und Drama noch im Haupt- oder Nebentext der spärlichen dramatischen Passagen wird bei Nietzsche auch nur flüchtig auf Hölderlin hingewiesen. || 236 Der Zusammenhang mit der Niederschrift der Geburt der Tragödie ist dann bei Hölzer noch exponierter als bei Kögel, denn das „Intermezzo Empedokles“ erscheint zusammen mit anderen Entwürfen unter der Titelei: „Aus dem Gedankenkreise der ‚Geburt der Tragödie‘“ (Nietzsche 1903, 454). Der Herausgeberkommentar versäumt nicht, die Leser auf den zweiten wichtigen werkinternen Bezug der Empedokles-Fragmente aufmerksam zu machen: „Die merkwürdige Vorform des Zarathustra muss jedermann auffallen“ (ebd.). 237 Einführend zur Geschichte der Nietzsche-Editionen vgl. Meyer (2000), zu den hier erörterten insb. 438r. 238 Vgl. etwa Kögels oben angeführte Charakteristik des Helden anhand von Nietzsches Fragment 8[31], wo es heißt: „Aus einem apollinischen Gott wird ein todessüchtiger Mensch“.

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In diesem Sinne ähnelt Nietzsches früh abgebrochener Versuch paradoxerweise eher Matthew Arnolds (vollendetem) „dramatischem Gedicht“ Empedocles on Etna als dem (unausgeführten) Vorhaben Achim von Arnims einer Fortschreibung von Hölderlins Fragment, denn Nietzsches Verhältnis zur allerersten dramatischen Behandlung des Empedokles-Stoffs ist, wenn überhaupt, als implizit zu charakterisieren. Auf den ersten Blick könnte es wundern, dass Zeitgenossen und spätere Leser den Hölderlin-Bezug als selbstverständlich voraussetzten, denn tatsächlich sprechen für eine solche Dependenz eher externe Hinweise, d.h. der globale Kontext von Nietzsches Hölderlin- und Empedokles-Rezeption, als interne textuelle Beweise. Die Problematik einer solcherart unkritischen Annahme hat ebenfalls Gideon Stiening aufgezeigt, indem er die Relation grundlegend hinterfragt: „die Entwürfe Nietzsches [haben] – bei aller prätendierten Nähe – mit Hölderlins Empedokles wenig zu tun“ (Stiening 2014, 66). Dieser These ist insofern zuzustimmen, als dass dadurch ein sozusagen traditioneller intertextueller Zusammenhang ausgeschlossen wird. Nietzsches EmpedoklesBruchstücke zeugen in ihrem embryonalen Zustand tatsächlich nicht von der Intention, Hölderlins Fragment zu vervollständigen bzw. zu bearbeiten; Zitat, Variation oder Imitation der Vorlage kommen hier nicht als intertextuelle Praktiken vor. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Nietzsche (auch) durch das von ihm als Jugendlichem bewunderte Drama Hölderlins dazu inspiriert wurde, gerade Empedokles in den Mittelpunkt eines eigenen dramatischen Versuchs zu stellen. Darüber hinaus ist die Distanz zwischen beiden Empedokles-Projekten nicht im Sinne einer Vereinfachung bzw. Trivialisierung von Hölderlins Drama durch Nietzsche zu sehen;239 ebenso wenig zeugt sie von einem der Begeisterung des Schülers gefolgten Desinteresse bzw. Unverständnis des Basler Professors gegenüber Hölderlin. Wie bereits Jürgen Söring betont hat,240 ist Nietzsches Versuch nicht über das Anfangsstadium hinausgekommen und deswegen auch schwer zu enträtseln. Allein dies berechtigt noch nicht zu einer Lektüre wie jener Stienings, der ihn mit Hölderlins Projekt vergleicht und als unspektakulär und weniger ausgereift bewertet. Nüchtern betrachtet weist Nietzsches in zwei Ansätzen erfolgter Versuch, sich über die Möglichkeit der Dramatisierung des Empedokles-Stoffs klar zu werden, doch einige Gemeinsamkeiten mit Hölderlin auf. Dabei handelt es sich um typologische

|| 239 Vgl. Stiening (2014) 65. Nietzsche erkenne die Hölderlin beschäftigenden geschichtsphilosophischen Probleme nicht, „isoliert mithin aus den komplexen Reflexionen Hölderlins auf sozio- und kulturpolitische Prozesse einen Moment und belegt es im Furor seiner Gegenwartskritik mit devianter Lust: eben der Zerstörung“. 240 Vgl. Söring (1990) 177 zum „Grad von Dunkelheit“, den die „über rudimentäre Ansätze kaum hinausgediehen[en]“ Fragmente erreichen: „In ihrer stichwortartigen Verknappung, die nur dem Autor selbst noch durchsichtige Merkpunkte festzuhalten scheint, setzen sie dem Verständnis nicht eben leicht zu hebende Widerstände entgegen“.

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Sachverhalte oder um ähnliche Motive, insofern bis auf eine einzige Szene, in der jedoch bei Hölderlin nicht auftretende Personen, Handlungszusammenhänge und Themenkreise vorkommen, keine konkrete dramatische Ausführung vorliegt. Wie bereits bei Arnold, könnte vieles auf gemeinsame Quellen241 bzw. allgemeiner auf Nietzsches bekannte und im Einzelnen nachweisbare in der Zeit der Entwürfe zum EmpedoklesDrama erfolgte Beschäftigung mit Leben und Werk der „vorplatonischen Philosophen“ zurückzuführen sein.242 In beiden Entwürfen Nietzsches ist das Motiv vom Tod im Ätna in jeweils von Hölderlin abweichender Form präsent. Im als dreiaktigen rekonstruierten ersten und sehr knappen Entwurf243 wird die Schlusstat des Sich-Stürzens in den Vulkan nicht einmal explizit erwähnt: Vom „Verschwinden“ des Empedokles ist die Rede und davon, dass ihm „ein Freund“ (der hier sonst nicht erwähnte Pausanias) in den Tod folgt: Vor dem „um den Krater“ versammelten Volk [...] verkündet [Empedokles] vor seinem Verschwinden die Wahrheit der Wiedergeburt. Ein Freund stirbt mit ihm“ (5[118]). Im zweiten, als fünfaktig gedachten Entwurf begleitet eine „Heldin“ Empedokles in den Tod.244 Für den 5. Akt heißt es in einem ersten Plan: „Er geht in den Schlund und ruft noch ‚Fliehe!‘ – Sie: Empedokles! und folgt ihm. Ein Thier rettet sich zu ihnen. Lava um sie herum“ (8[30]). Ähnlich ist die Szene in einer zweiten Version entworfen, wo die Heldin den Namen Korinna bekommt (8[37]). Die Motivation des Freitodes erfährt in Nietzsches Skizzen bedeutende Überarbeitungen. In manchem ist sie mit früheren Überlegungen Nietzsches über die Motivation des Todes bei Hölderlin zu vergleichen – im Schulaufsatz war vom „Tod aus

|| 241 Diogenes Laertius in primis: Mit ihm hat sich Nietzsche spätestens 1868–69 für einen Zeitschriftenbeitrag in lateinischer Sprache (De Laertii Diogenis fontibus) und dann für weitere philologische Arbeiten beschäftigt, vgl. dazu Ugolini (2000) 159l.–160r.; die Abhandlung kann man in KGW 2/1, 77– 167 lesen, die weiteren Studien 169–190 (Analecta Laertiana, 1870) und 191–245 (Beiträge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes). 242 So der für das Wintersemester 1869/70 angekündigte Titel einer Vorlesung Nietzsches, die er tatsächlich erst im Sommersemester 1872 hielt; sie stellt eine „genauere und analytischere Vorstufe“ zur unvollendeten Abhandlung Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen von 1873–75 dar (Ugolini 2000, 166r.), die erst aus dem Nachlass ediert wurde und vor Empedokles abbricht (vgl. hingegen das ganze 14. Kapitel zu ihm in den Vorlesungsaufzeichnungen, KGW 2/4, 314–328). Notizen zu Empedokles findet man in großer Zahl in den Nachgelassenen Fragmenten zwischen 1869 und 1873. 243 Für die Rekonstruktion in resp. drei und fünf Akten der aufeinanderfolgenden Entwürfe folge ich u.a. Söring (1990) 191–204. Roos (1940) 126f. plädierte noch für zwei fünfaktige Pläne. 244 Vgl. Gaède (1988) 33 für eine Lektüre des Finales als „une variante à peine camouflée du Crépuscule des dieux, où ne manque ni la faute du protagoniste fidèle-infidèle, ni l’élan purificateur de l’amour, puisque une jeune femme éprise d’Empédocle s’élance dans les flammes à ses côtés. Nietzsche mobilise toutes les ressource de l’opéra wagnérien pur orchestrer le thème présocratique“. Ähnlich wagnerianisch liest Söring (1990) 189 die Schluss-Szene, wobei ihm vor allem das Vernichtungsmotiv entscheidend erscheint.

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Götterstolz, aus Menschenverachtung, aus Erdensattheit und Pantheismus“ die Rede gewesen (KGW 1/2, 340).245 Empedokles wird in Nietzsches dramatischen Entwürfen zuerst zum „Tyrann, der Religion und Kunst benutzt“, und „beschliesst Vernichtung des Volks, weil er dessen Unheilbarkeit erkannt hat“ (5[118]) – im letzten Akt bleibt jedoch diese Tat unerklärterweise unvollendet, Empedokles verkündet den Tod des „Großen Pan“ (5[116]) und wohl als Ersatz dafür, wie bereits zitiert, „die Wahrheit der Wiedergeburt“ (5[118]). In den weiteren Plänen kommt weiterhin das Motiv der „Vernichtung“ des Volks vor („Er kann die Stadt nicht heilen [...] Er will sie radikal heilen, nämlich vernichten“, 8[31]), das jedoch mit dem des „Mitleids“, das sich im Verlauf des Dramas „steigert“, auf etwas unklare Weise konterkariert wird.246 Die Entscheidung zum Selbstmord wird „im Übermaß des Mitleids“ (8[30]) gefasst, nachdem Empedokles eine Statue des Pan zertrümmert und das Volk sich geflüchtet hat – so in einer ersten Version. Wofür oder für wen Empedokles hier Mitleid empfindet, bleibt unklar. In einer zweiten Version verschwindet im Moment des letzten Ganges das Mitleid; Empedokles empfindet hier vielmehr Schuld und betrachtet den Selbstmord als Sühneakt: „[E.] fühlt sich als Mörder, unendlicher Strafe werth, er hofft eine Wiedergeburt des Sühnetodes. Dies treibt ihn in den Aetna“ (8[37], Hervorhebung von mir). Ob hier Empedokles als mehr oder weniger metaphorischer Mörder des Pan, des Volks oder der Korinna erscheinen soll, ist aus dem Wortlaut des Entwurfs nicht auszumachen. In allen Varianten blieb demzufolge bei Nietzsche die Empedokles-Figur außerhalb der Hölderlins Empedokles kennzeichnenden Frevel-Schuld-Konstellation. Lediglich der erste Entwurf nennt mit den Stichworten „Religion“ und „Natur“ zentrale Elemente von Hölderlins Dramaturgie (5[116–118]), dies aber derart knapp, dass eine Derivation schwer festzustellen ist. Ähnliches gilt für das Stichwort „Gott/Vergöttlichung“. So verehrt bei Nietzsche das Volk zwar Empedokles als Gott, wobei dies in den ersten Skizzen mit Bezug auf seine Heilskraft geschieht, während ihm in den späteren ausdrücklich als „Dionysos“ gehuldigt wird (8[37]). In wenigen Notizen taucht er auch als eine zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre anzusiedelnde Gestalt

|| 245 Die „Legenden aller Art“ über den Tod des Empedokles erörtert Nietzsche auch in seiner Vorlesung über Die vorplatonischen Philosophen, darunter auch den Vulkansturz, der auf der Basis der antiken Quellen so ausgelegt wird: „In den Aetna stürzt er sich, weil er die Meinung bestärken will ein Gott zu sein“ (KGW 2/4, 320). 246 Vgl. 8[31–33]. „Mitleid“ wird oft in den Empedokles-Fragmenten mit „Furcht“ zusammen erwähnt, was die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Tragödientheorie und deren Resonanz widerspiegelt. Eine kohärente Position dazu ist m.E. nicht auszumachen; manche Passagen lassen an eine Art anti-lessingscher Verbindung von Mitleid und Amoralität in der Gestalt des Empedokles denken („Als mitleidiger Mensch will er vernichten“, 8[31]), andere an ein herausforderndes Spiel mit den aristotelischen Affekten (die Pest führe etwa zur „Ansteckung durch Furcht und Mitleid“, als „Gegenmittel“ dazu verordnet Empedokles „die Tragödie“, 8[30]). Bekanntlich erarbeitete Nietzsche gleichzeitig in der Geburt der Tragödie eine ausgesprochen antiaristotelische Tragödienästhetik.

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auf.247 Zugleich ist Empedokles aber auch der Götterstürmer, der den Tod des Pan verkündet und vor dem Volk inszeniert. Von Anfang an kennzeichnet Nietzsche Empedokles als Religions-, Wissenschafts- und Kulturkritiker bzw. -Erneuer – ein Aktualisierungsangebot mit starker autobiographischer Brechung.248 Anders als bei Hölderlin erscheinen die Auseinandersetzung mit der offiziellen Religion (Hermokrates) und Macht (Kritias) und allgemein die politische Ebene der Handlung weniger zentral. Die Ablehnung der Königskrone ist zwar im späteren Entwurf wie bei Hölderlin für den zweiten Akt vorgesehen („Königskrone abgeschlagen“, 8[32]),249 doch wurde das Motiv nicht weiter ausgearbeitet. Bei Nietzsche ist Empedokles weniger in den Kreis seiner Mitmenschen eingebunden, vielmehr wird er als starker Mensch dargestellt, um nicht zu sagen: als der den Tod Gottes verkündende Übermensch. Seine dem Volk verkündete Botschaft einer Wiedergeburt scheint anders als bei Hölderlin, wo dem Erneuerungsevangelium ohnehin umfassendere Bedeutung und der Charakter eines geistigen Erbes zukommt, mit der „böse[n] Vernichtungslust“ des Empedokles verbunden zu sein, die sowohl die Gemeinschaft als auch die eigene Existenz und die der ihm Nahestehenden ins Verderben stürzt (8[37]). Der Tod des Helden scheint hier auch für den Untergang einer Welt zu stehen, wobei die aristokratisch-solipsistische Hauptfigur keine symbolische Vermittlerfunktion übernimmt. In den höchst fragmentarischen Notizen Nietzsches tauchen also einige GrundMotive und -Merkmale auf, die bereits bei Hölderlin eine wichtige Rolle spielten; die Art und Weise, wie solche möglicherweise durch Hölderlin inspirierten Elemente in den stichwortartigen Aufzeichnungen angeführt sind, lässt vermuten, dass Nietzsche sie im Hinblick auf eine andere Perspektive zu bearbeiten gedachte. Der HölderlinPrätext wird weder als Bezugspunkt erwähnt noch zitiert, auch eine imitative Praxis ist nicht einmal ansatzweise zu verzeichnen. Dass Nietzsche also im Sinne gehabt haben könnte, Hölderlins Tragödie fortzuschreiben, ist ausgeschlossen, auch von einem intendierten intertextuellen Verhältnis im Sinne einer Bearbeitung kann nicht die Rede sein. Der Transformationsmodus ist vielmehr der einer grundlegenden thematischen Variation, in manchem einer Berichtigung der Vorlage Hölderlins. Einzelne Motive werden skizzenhaft angeführt: auffällig etwa neben dem Motiv der

|| 247 Vgl. 8[31]: „In seiner Göttlichkeit will er helfen. / Als mitleidiger Mensch will er vernichten. / Als Dämon vernichtet er sich selbst“. 248 Andererseits trägt die Figur des Empedokles (hier und anderswo bei Nietzsche) teilweise auch Züge Schopenhauers; dazu vgl. Söring (1990) 187–190. Söring und andere diskutieren das ganze Spektrum möglicher Beziehungen der Empedokles-Entwürfe zu Nietzsches damaligen Vorbildern, also auch zu Richard Wagner, dem etwa das Motiv der „Vernichtung“ als Erlösung geschuldet sei (Söring 1990, 189; Gaède 1988, 34f.). Bedeutend bleibt auf jeden Fall die starke Aktualisierung der antiken Figur durch Nietzsche. 249 Im ersten Entwurf ist lediglich das Angebot angeführt: „Die Agrigentiner wollen ihn zum König wählen [...] Die Krone wird ihm von der schönsten Frau dargebracht“ (vgl. 5[116]).

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Krone das des Wahnsinns (5[188]). Dabei lässt sich kaum beurteilen, ob sich hinter solch knappen Notizen die Intention verbirgt, die Motive in einer ausgereiften Fassung eingehender einzuarbeiten. Andere Motive tauchen als fast bis zur Unkenntlichkeit verändert bzw. berichtigt auf. Tendenziell scheinen eher Nietzsches erste entwurfsartige Aufzeichnungen einige lose Reminiszenzen an Hölderlins Trauerspiel zu enthalten, während sich sowohl der letzte fünfaktige Plan als auch die ausgeführten Szenen-Anfänge stärker davon entfernen. Parallel dazu verdichten bzw. klären sich in den späteren Notizen Begriffe, Motive und Elemente, die man retrospektiv mit Nietzsches weiterem Oeuvre verbinden kann. Beide Entwicklungen verlaufen graduell, als ob die Arbeit an dem von Hölderlin vorgeformten dramatischen Stoff, die in vielen Aspekten einen Versuch darstellt, sich von der Vorlage zu distanzieren, Nietzsche zu mehr Klarheit über die ihn beschäftigenden Fragen verholfen hätte. Die Empedokles-Entwürfe werden so zu einer ästhetischen Selbstverständigung, in die auch hölderlinsches Gedankengut eingeflossen ist. Als Beispiel hierfür kann der Handlungsteil von Nietzsches dramatischen Plänen betrachtet werden, der als zweiter bzw. dritter Akt als jeweilige Mitte des drei- bzw. fünfaktigen Dramas gedacht ist. Dabei handelt es sich um eine in Hölderlins dramatischen Fragmenten nicht vorhandene metatheatralische Episode, ja um die stärkste Abweichung von der gemeinsamen dramaturgischen Hauptlinie, die von der krisenhaften Situation des Empedokles bis zu seinem Freitod führt. Gleichzeitig aber erscheint die Annahme berechtigt, dass Nietzsches Idee, seinem Empedokles im Rahmen eines „Festes“ eine Tragödie inszenieren zu lassen, Anregungen weiterentwickelt, die er bei Hölderlin gefunden hatte – im Frankfurter Plan etwa, der in Schwabs Ausgabe abgedruckt war, ist von einem „(großen) Fest der Agrigentiner“ die Rede, das in der geplanten Handlung eine wichtige Rolle spielt,250 während in der Eingangsszene die Athenerin Delia Panthea über den „heitern Festtag“ in der Heimatstadt berichtet, an dem Sophokles „ins Theater tritt“.251 Diese Anstöße, die stark variiert und mit anderen Anregungen verschmolzen im Endprodukt dann kaum wiederzuerkennen sind, hat Nietzsche wohl in seiner metatheatralischen Episode verarbeitet. Bereits in seinen ersten Entwürfen organisiert

|| 250 Vgl. zum ersten Akt: „Empedokles nimmt ein besonderes Aergernis an einem Feste der Agrigentiner, wird darüber von seinem Weibe, die von dem Einfluß dieses viel gehofft, und gutmütig ihn überredet hatte, daran Theil zu nehmen, etwas empfindlich und sarkastisch getadelt, und nimmt von jenem Aergernis und diesem häuslichen Zwist Veranlassung, seinem geheimen Hange zu folgen, aus der Stadt und seinem Hauße zu gehen, und sich in eine einsame Gegend des Aetna zu begeben“ (StA 4, 145). 251 StA 4, 7. Vgl. auch in derselben Fassung denselben Ausdruck, als Empedokles die Großfeste in Olympia und in Delos evoziert, um Kritias zur Überfahrt mit seiner Tochter Panthea zu überreden: „Wenn dann am heitern Festtag / Sich Hellas schöne Jugend dort versammelt, [...] Und hoffnungsfrohes Leben überall / Wie goldenes Gewölk das stille Herz / Umglänzt, dann [...]“ (StA 4, 35, Hervorhebung von mir).

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Empedokles, während in der Stadt die Pest wütet, theatralische Feste: „große Schauspiele, dionysische Bacchanale“, bei denen sich „die Kunst [...] als Prophetin des Menschenwehs“ offenbaren soll (5[116]). Dabei denkt Nietzsche bereits früh an die Einfügung einer „Theatervorstellung“ im Drama (5[117]). Genauere Konturen nehmen „die Spiele“ in den späteren Notizen an; Ort und Zeit sind: „Theater. Mittag“.252 Aufgeführt wird eine Tragödie über den Mythos von „Theseus und Ariadne“, die jeweils von „Pausanias und Corinna“ gespielt werden; auch ein „Chor“ ist vorgesehen (8[37]). Die unmittelbar darauffolgende Notiz ergänzt: „Empedokles und Corinna auf der Bühne“. Man kann annehmen, dass Empedokles die Rolle des Dionysos übernimmt; kurz darauf (und nach der „Verkündung der Wiedergeburt“) heißt es: „Er [Empedokles] wird [vom Volk] als Gott Dionysus verehrt“ – so, als ob typischerweise die play-within-the-play-Situation die (fiktionsinterne) Verwirrung zwischen Fiktion und Wirklichkeit seitens des Volks zeigen sollte (ebd.). Indem sie schließlich dann im fünften Akt Empedokles in den Tod folgt,253 spricht seine Geliebte (hier: Korinna, die Schreibweise oszilliert) Worte, welche die Identifikation mit dem mythischen Paar bekräftigen: „Flieht Dionysus vor Ariadne?“ (Ebd.). Mit Hölderlin hat der dramaturgische Kunstgriff des metatheatralischen Intermezzos an sich ebenso wenig zu tun wie auch speziell der in diesem Rahmen erfolgende Rekurs auf den Mythos von Ariadne und Theseus (und Dionysos). Darin zeigt sich neben autobiographischen Brechungen254 eher die genannte, graduelle Herausarbeitung einer Auslegung der Empedokles-Figur, in der die für Nietzsche aktuellen ästhetischen Fragen (sprich der ‚dionysische‘ Themenkreis der Geburt der Tragödie) in den dramatischen Stoff eingearbeitet werden. Gerade die Distanz zur Vorlage Hölderlins ist hier also vielsagend, denn darin scheint die auffälligste typologische || 252 So die changierenden Titel des dritten Aktes in zwei schematischen Plänen, zuerst in 8[32], dann in 8[35]. 253 Das Motiv des gemeinsamen Sturzes in den Vulkan, das m.W. in der antiken Tradition nicht vorkommt und auch bei Hölderlin fehlt, taucht kurioserweise um dieselbe Zeit beim erwähnten Henneguy auf (Panthéia, 1874). Eine gemeinsame Inspirationsquelle könnte Wagners Tristan und Isolde (UA 1865) und der (dort sukzessiv erfolgende und nicht mit dem Vulkan-Motiv verbundene) Liebestod gewesen sein. Nietzsche selbst bezeichnet um 1875 die Liebe im Tristan als „empedokleisch“ qua „Anzeichen und Gewähr einer ewigen Einheit“ (11[5] – Nachgelassene Fragmente Sommer 1875, vgl. KGW 4/1, 267). Gaède (1988) 34 deutet den Nexus Liebe/Tod in Nietzsches Empedokles-Fragmenten („l’élan purificateur de l’amour, puisque une jeune femme éprise d’Empédocle s’élance dans les flammes à ses côtés“) vor dem Götterdämmerung-Hintergrund. 254 Vgl. Söring (1990) 197: Hier sei eine erste Spur des „Ariadne-Komplexes [...], der Nietzsches Verhältnis zu Richard und Cosima Wagner zugleich reflektiert und deutet“, zu finden. „Nietzsche [läßt] in jener ‚Nebenperson‘ offenbar Wagner sterben [...], um sich als Empedokles den Weg zu seiner ‚Heldin‘ Cosima freizulegen“. In dieser „Transfiguration des Verhältnisses in den Mythos“ könne sich „Nietzsche-Empedokles-Dionysos zum ‚Erlöser‘ der von Wagner-Pausanias-Theseus verlassenen Cosima-Corinna-Ariadne stilisieren“. Für eine motivgeschichtliche Erörterung mit Bezug auf das Labyrinth vgl. hingegen Roos (1940) 112ff. Schon Gaède (1988) 34 hatte das Ariadne-Motiv mit Blick auf die „rivalité meurtrière“ mit Wagner erörtert.

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Gemeinsamkeit zwischen beiden Empedokles-Entwürfen auf. Das stellt keineswegs ein Paradox dar, denn: Wie seinerzeit Hölderlin, so verfährt auch Nietzsche im Umgang mit dem antiken Stoff. Er wird zum Ausgangspunkt für das Experiment einer modernen Tragödie, und der unvollendete bzw. unausgeführte dramatische Versuch entsteht und lebt aus der steten theoretischen Selbstverständigung über die antike und moderne Tragödie heraus, wobei beide Aspekte, der dramatische und der theoretische, als höchst aktuelle Fragen betrachtet werden. Empedokles scheint für beide Autoren, aus je anderen Gründen und auf je andere Weise, dafür geeignet zu sein, ein eigenes, ästhetisch radikales und mit Blick auf herrschende Diskurse ‚unzeitgemäßes‘ Griechenlandbild zu entwerfen, und gleichzeitig über die Möglichkeit einer Tragödie in der Moderne zu reflektieren. Im Unterschied zu Hölderlin hatte Nietzsche einen Vorgänger, der den dramatischen Stoff bereits zu einem Trauerspielentwurf bearbeitet hatte. Ihm erschien Empedokles als „reiner tragischer Mensch“255 – und somit als idealer Held einer modernen Tragödie –, insofern er für ihn das vor-sokratische und vor-euripideische griechische tragische Zeitalter verkörperte: Archaik, Pessimismus und apollinisch-dionysische Duplizität. Zugleich sah er in Empedokles als „buntgefärbteste[r] Gestalt der älteren Philosophie“ eine „Grenzfigur“, in der „die beiden Zeitalter“ miteinander ringen: „er ist durch und durch agonaler Mensch“.256 Seine legendäre Lebens- und Todesgeschichte wies einige thematische Anknüpfungspunkte auf, die Nietzsche mühelos mit eigenen, in der zeitgleich entstandenen Geburt der Tragödie herausgearbeiteten oder in späteren Werken noch herauszuarbeitenden Begriffen verbinden

|| 255 So in einem Fragment um 1870 (5[94], KGW 3/3, 123), das die unmittelbare Nähe von ästhetischen und philosophiegeschichtlichen Reflexionen sowie den dramatischen Plänen über Empedokles plastisch offenbart: „Die alten Philosophen, die Eleaten Heraklit Empedokles als die tragischen Philosophen. Die tragische Religion bei den Orphikern. – Empedocles ist der reine tragische Mensch. Sein Sprung in den Aetna aus – Wissenstrieb! Er sehnte sich nach Kunst und fand nur das Wissen. Das Wissen aber macht Fausten“. Gedanken, die zur thematischen Konstellation der Geburt der Tragödie und der Vorplatoniker-Vorlesung gehören, münden in Überlegungen zur dramatischen Figur des Empedokles – wenige Seiten weiter im selben Heft ist der erste Entwurf zum Drama aufgezeichnet (5[116]). 256 So der vollständige Wortlaut des Schlussteils vom Empedokles-Kapitel der Vorplatoniker-Vorlesung: „Auf dieser Grenze [der zwischen Wissenschaft und Magie; M.C.] steht aber fortwährend E.: u. fast in allen Dingen ist er eine solche Grenzfigur. Er schwebt zwischen Arzt und Zauberer, zwischen Dichter u. Rhetor, zwischen Gott u. Mensch, zwischen Wissenschaftsmensch u. Künstler, zwischen Staatsmann u. Priester, zwischen Pythagoras und Demokrit: er ist die buntgefärbteste Gestalt der älteren Philosophie: mit ihm scheidet das Zeitalter des Mythus, der Tragödie, des Orgiasmus, aber zugleich erscheint in ihm der neuere Grieche, als demokratischer Staatsmann, Redner Aufklärer Allegoriker, wissenschaftl. Mensch. In ihm ringen die beiden Zeitalter, er ist durch und durch agonaler Mensch“ (KGW 2/4, 328). Einige Aspekte dieser von der „Grenzfigur“ ausstrahlenden Faszination sind auch skizzenhaft in den dramatischen Entwürfen zu finden, sowohl was die verschiedenen hier aufgelisteten Facetten der Figur angeht, als auch im Hinblick auf den Zeitenwende-Begriff, der in den Dramenentwürfen in der Polarität „Vernichtung/Wiedergeburt“ aufscheint.

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konnte. Hier sei der Streit mit der herkömmlichen Religion und deren Institutionen erwähnt, den Nietzsche zu der Proklamation vom „Tod des Pan“ und den damit verbundenen dramatischen Festspielen weiter ausbaut,257 oder der Todessturz in den Vulkan, der zum grenzüberschreitenden, lebensbejahenden Zerbrechen des principium individuationis abgewandelt wird.258 Selbst die metatheatralische Episode der Tragödienaufführung als Instauration einer dionysischen Theaterästhetik durch Empedokles beruht auf einer aktualisierenden Abwandlung der antiken Quellen, wo vom Agrigentiner nicht nur als philosophischem, sondern auch als tragischem Dichter die Rede war.259 Bei einer solcherart intensiven Durchdringung des dramatischen Stoffs mit den Nietzsche damals beschäftigenden ästhetisch-kulturellen Fragen wundert es insgesamt weniger, dass Hölderlins Vorlage nicht zitiert oder strukturell stark wirksam wird, sondern insbesondere in Sachen aktualisierender Aneignung der Antike eher die Rolle eines typologischen Stimulus bekleidet. Als Nietzsche seinen dramatischen Entwurf verfasste, war Der Tod des Empedokles eher hinter den Kulissen als Referenz präsent; andere literarische Quellen dienten ihm dagegen als dramaturgische Anregung. So enthält etwa die anfängliche Charakterisierung der Hauptfigur deutlich Anklänge an Goethes Faust I;260 die Dramaturgie der einzigen ausgearbeiteten Szene, wo die zwei Sklaven Charmides und Leonidas Nachtwache halten und letzterer bei der Wachablösung über seltsame Erscheinungen in der Nacht berichtet, lässt an den Beginn von Shakespeares Hamlet denken.261

|| 257 Vgl. das elfte Kapitel der Geburt der Tragödie, wo der „Tod der griechischen Tragödie“ – sein plötzlicher Untergang, der sie von „sämmtliche[n] ältere[n] schwesterliche[n] Kunstgattungen“ unterscheide, die „alle in hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind“ – mit dem „erschütternden Schrei ‚der große Pan ist todt‘“ verglichen wird, den „einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland“ gehört hatten (KGW 2/1, 71). 258 Gleich am Anfang der Geburt der Tragödie übernimmt Nietzsche den schopenhauerschen Begriff und verbindet ihn mit Apoll (dem „herrlichen Götterbild des principii individuationis“), dessen „Zerbrechen“ und der damit verbundenen „Verzückung“ mit den „dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet“ (KGW 2/1, 25). 259 Vgl. etwa Diog. Laert. 8.58, wo bereits die u.a. von Aristoteles übernommene Angabe als umstritten bezeichnet wird. Der Philologe Nietzsche weiß, dass dahinter eine Verwechslung steckt („Häufig ist er mit seinem Großvater verwechselt worden, viell. auch, in Betreff der Tragödien, mit seinem Enkel“, heißt es in den Vorlesungsaufzeichnungen, vgl. KGW 2/4, 314); der Dichter Nietzsche nutzt hingegen den Hinweis, um die eigene Idee vom „reinen tragischen Menschen“ dramatisch zu entwickeln. 260 Vgl. den Anfang des Fragments 5[118]: „Empedocles, der durch alle Stufen, Religion Kunst Wissenschaft getrieben wird und die letzte auflösend gegen sich selbst richtet. / Aus der Religion durch die Erkenntniß daß sie Trug ist. / Jetzt Lust am künstlerischen Scheine, daraus durch das erkannte Weltleiden getrieben. Das Weib als die Natur“. Zu faustischen Elementen in Nietzsches Empedokles vgl. bereits Roos (1940) 114f. 261 Auch die Idee, ein play within the play einzubauen, kann – muss aber nicht – auf Hamlet zurückgeführt werden, so etwa bei Roos (1940) 112.

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Da Nietzsches Empedokles-Drama über das frühe Entwurfsstadium nicht hinauswuchs, können kaum Hypothesen formuliert werden über einen etwa für später geplanten, engeren Rekurs auf Hölderlins Text. Beispiele für eine intertextuelle Transformation von Texten Hölderlins, darunter auch aus dem Tod des Empedokles, sind erst für das ein Jahrzehnt später entstandene Buch Also sprach Zarathustra nachzuweisen. Dass Hölderlin hier keineswegs paradoxerweise aus Nietzsches Dramen-Plan über den Tod des Empedokles ausgeklammert wurde, während er doch eine Dekade früher im Schulaufsatz und eine Dekade später im Roman durchaus präsent ist, sondern dass hier eine direkte Bearbeitung zwar vermieden, gleichzeitig aber an Hölderlin und seinem antik-modernen Projekt festgehalten wird, zeigen neben obigen Ausführungen auch zwei Belege aus dem Nachlass der Jahre unmittelbar, nachdem Nietzsche das Projekt eines Empedokles-Dramas aufgegeben hatte. Im Herbst 1873 verfasst Nietzsche die Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, die im nachfolgenden Jahr als zweite der Unzeitgemäßen Betrachtungen erscheinen wird. In diesem kulturkritischen Werk wird etwas unerwartet auch Hölderlin erwähnt, und zwar mit Bezug auf dessen Laertius-Lektüre, die bekanntlich im Rahmen der Arbeit am Empedokles-Trauerspiel erfolgt war. „Der junge Mensch“, prangert Nietzsche die zeitgenössische Schulpraxis an, werde durch die Geschichte wie durch ein Museum begleitet und lasse „Meinung auf Meinung an sich vorübergehen“. Der Autor begreife angesichts dieser misslichen Lage das Wort und die Stimmung Hölderlins beim Lesen des Laertius Diogenes über Leben und Lehren griechischer Philosophen: „ich habe auch hier wieder erfahren, was mir schon manchmal begegnet ist, dass mir nämlich das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast tragischer aufgefallen ist, als die Schicksale, die man gewöhnlich allein die wirklichen nennt“. (KGW 1, 296)

Der Passus belegt Nietzsches Kenntnis von Hölderlins Briefen,262 und nicht nur seiner Werke, und zeugt von einem ungebrochenen Interesse am philosophisch-geschichtlichen Stoff und an Hölderlins Auseinandersetzung mit demselben. Dass dabei Nietzsche auch das eigene Scheitern beim Verfassen eines Empedokles-Dramas reflektiert, suggeriert eine zweite Passage aus demselben werkgeschichtlichen Kontext. In den Nachgelassenen Fragmenten vom Sommer-Herbst 1873, in denen sich auch Notizen zur Historie-Schrift finden, wird Hölderlin verschiedentlich exzerpiert, darunter auch aus dem Neujahrsbrief 1799 an den Bruder: Hölderlin, „Auch ich, mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun und Denken diesen einzigen Menschen (den Griechen) in der Welt nur nach und bin in dem, was ich treibe und sage,

|| 262 Vgl. auch die bereits zitierten Nachgelassenen Fragmente 29[106] und 29[107] (1873) mit Exzerpten aus Hölderlins Briefen an den Bruder vom 4. Juni und vom 1. Januar 1799.

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oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil ich wie die Gänse mit platten Füssen im modernen Wasser stehe, und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle“. (29[107])

Nietzsche scheint also, wie seine Hervorhebungen und erläuternden Kommentare in Klammern belegen, Hölderlins Briefwechsel aus den Monaten seiner mühsamen Arbeit am Empedokles aufmerksam gelesen zu haben. Er fokussiert insbesondere auf die in der Briefpassage schmerzlich zum Ausdruck gebrachte Beschränktheit des Modernen, wenn er einen produktiven Umgang mit den „einzigen Menschen“ der Antike versucht. An den beiden Hölderlin-Stellen kann man m.E. nicht nur die andauernde Beschäftigung mit dem Dichter und seinem antik-modernen Projekt erkennen. Sie erfolgt hier wohl nicht zufällig wenige Monate nach dem eingehenden Studium von Empedokles seitens Nietzsche, der seine Basler Vorlesung zur vorplatonischen Philosophie (1872) für einen dann nicht in den Druck gegebenen Band unter dem Titel Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen überarbeitete. Auf das zwei Jahre zuvor abgebrochene Dramenprojekt rückprojiziert bekräftigen sie auch die Annahme, dass sich, obgleich explizite Verweise auf Hölderlin fehlen, jenes Unternehmen in enger Auseinandersetzung mit dem Vorgänger in der Dramatisierung des Philosophenlebens herausgebildet hatte. Hölderlin fungiert weiter als „initiateur de Nietzsche“ und „intermédiaire d’Empedocle“, so die vor allem im zweiten Teil treffende Bezeichnung von Édouard Gaède (1988, 37). Also sprach Zarathustra wurde mehrfach (und von Anfang an) mit Nietzsches Dramenfragment zu Empedokles in Verbindung gebracht – dies sei eine „Vorstufe zum Zarathustra“ (Roos 1940, 113),263 oder der Zarathustra sei als „mögliches Ergebnis der Fehlgeburt seines Dramenplans“ zu werten (Söring 1990, 177).264 Einige Antizipationen der das „Buch für Alle und keinen“ bestimmenden Kerngedanken wurden anhand der bruchstückhaften Notizen bereits beleuchtet.265 Nicht allein das

|| 263 Wie oben angeführt, hatten schon die ersten Nietzsche-Editoren auf das Verhältnis hingewiesen. 264 Söring sieht in Nietzsches „Scheitern als Tragiker“ den Grund für die Aufgabe seines Programms einer Wiedergeburt der griechischen Tragödie, das etwa noch die Erstlingsschrift gekennzeichnet hatte, und verbindet dies mit der Diagnose einer Krise des Dramas in szondischem Sinne. Ob dies auch das Einfließen des Empedokles-Projekts in den Zarathustra-Roman erklärt, kann man m.E. wegen fehlender textueller Beweise kaum nachweisen. Einige Fragmente lassen jedenfalls vermuten, dass Nietzsche um 1875 (also nach dem „Scheitern“) noch plante, das Empedokles-Drama zu Ende zu schreiben („Stelle über Faust Hölderlin Schluß Empedokles“, Winter-Frühling 1875, 1[2], KGW 4/1, 85). 265 Es handelt sich dabei vornehmlich um die Motive vom Tod Gottes (im Empedokles: „Tod des Pan“) und von der Wiederkunft aller Dinge (im Empedokles: „Wiedergeburt“) und von der ebenfalls in der Gestaltung der Empedokles-Gestalt in manchem vorweggenommenen Gedankenfigur des Übermenschen.

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eigene Empedokles-Projekt jedoch, sondern auch Hölderlins Drama wirkt im Zarathustra nach,266 und zwar nicht lediglich in dem Spruch „Es ist die Zeit der Könige nicht mehr“.267 Vivetta Vivarelli hat zeigen können, inwiefern der Tod des Empedokles dank einer breiten Palette intertextueller Praktiken im Zarathustra weiterlebt: Zitat und Variation, Übernahme von Motivkomplexen und Aneignung sprachlicher und metaphorischer Mittel kennzeichnen eine produktive Rezeption, die noch weitere Werke Hölderlins einbezieht und sich auch auf den Nachlass jener Jahre erstreckt.268 Aufgrund der Überführung in die nicht theatralische Gattung der philosophischaphoristischen Schrift stellt Nietzsches Hölderlin-Reaktualisierung im überaus resonanzreichen Zarathustra, der an sich den Höhepunkt der Empedokles-Nachwirkung im 19. Jahrhundert überhaupt darstellt, eigentlich eine Abwendung von der sich ideell auf eine dramatische und theatralische Bearbeitung richtenden Rezeption eines für die Bühne verfassten Textes dar. Die von sprachlichen und thematischen Elementen ausstrahlende Faszination, die sich in den erwähnten verschiedenen Formen von literary recycling niederschlägt, dominierte offensichtlich gegenüber der Wahrnehmung einer dramatischen Wirksamkeit des Trauerspiels. Sollte mit dem Zarathustra also ein weiteres Beispiel für die Einschätzung des Empedokles als Lesedrama im 19. Jahrhundert vorliegen? Die Situation ist eigentlich komplizierter. Dass Nietzsche Hölderlins Tod des Empedokles auch wegen seiner Qualität als Drama schätzte, geht sowohl aus seiner Charakteristik im Schulaufsatz als auch aus der vermittelnden Rolle hervor, die dem Trauerspiel für seinen eigenen dramatischen Versuch um 1870 zukam. Dass gerade das Scheitern jenes Projekts Nietzsches Überführung einiger Empedokles-Motive in den Zarathustra bedingt haben könnte, wäre eine sinnvolle Annahme, die aber – einmal abgesehen von dem paradoxen Umstand, dass dort keine Hölderlin-Intertextualität auftauchte, während sie hingegen im Zarathustra hinreichend belegt ist – mit

|| 266 Auch Hyperion wurde mehrfach als Prätext des Zarathustra angeführt. Die Präsenz Hölderlins (und insbesondere vom Tod des Empedokles) im Roman wurde früh erkannt (Drews 1904, 334f.; 368); die gründlichste Studie ist Vivarelli (1989). Skeptische Stimmen weisen auf die komplexe Intertextualität des Zarathustra hin, um Hölderlins Anteil zu dezimieren, vgl. Zittel (2000) 387 und Stiening (2014) 74. 267 Hier folgt Nietzsche dem Wortlaut der Sämmtlichen Werke 1846, vgl. Schwab 1, 178 mit der Zarathustra-Stelle (3, „Von alten und neuen Tafeln“ 21, KGW 6/1, 259). Dort fügt Zarathustra/Nietzsche hinzu: „Was sich heute Volk heisst, verdient keine Könige“. 268 Die beiden Werke werden im Allgemeinen durch den „Gleichklang der Stimmung“ und „das zentrale Bild der Sonne [...] verbunden: Sowohl Empedokles als auch Zarathustra identifizieren sich mit dem goldenen Gestirn und werden von anderen mit ihm identifiziert“ (Vivarelli 1989, 509f.). Erarbeitet werden dann im Einzelnen die parallele Sonnen-Motivik und weitere Motive; auf die tiefreichende Analyse sei für weitere Details hingewiesen. Darüber hinaus bezieht Vivarellis Vergleich die „subtilere[n] und verborgenere[n] Anspielungen“ mit ein, welche die Bedeutung der hölderlinschen Mittlerfunktion auf der Ebene der Sprache“ aufzeigen, dabei handelt es sich vornehmlich um rekurrierende Bilder (530ff.).

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weiteren Materialien aus dem Nachlass der frühen 1880er Jahre gestützt werden soll. Dort sind nämlich einige Notizen zu einem Drama mit Zarathustra als Hauptfigur enthalten, in denen die Motivik des Empedokles-Projekts (z.B. das Vulkan-Motiv) überarbeitet wird.269 Nietzsche scheint also noch in den frühen 1880er Jahren an die Möglichkeit einer dramatischen Gestaltung dieses ihn ständig begleitenden StoffKomplexes zu glauben. Auch wenn ihm die Realisierung nicht gelang, so besticht doch dank dieses weiteren Belegs die Kontinuität zwischen der immer wieder aufgenommenen Arbeit am Empedokles-Komplex und dem Zarathustra. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die „deutliche Zäsur“ (Zittel 2000, 388), welche die Hölderlin-skeptische Nietzsche-Forschung zwischen einem anfänglich positiv und einem später negativ besetzten Verhältnis des sächsischen Philosophen zum schwäbischen Dichter zu erkennen glaubt, eine etwas vereinfachende Darstellung zu sein. Tatsächlich enthält der Nachlass nach 1880 auch ein paar ablehnende bis abschätzige Urteile über Hölderlin, die man vergeblich in Werken und Notizen der Jahre davor suchen würde;270 mit Vivarelli kann man jedoch angesichts der intensiven Auseinandersetzung mit Hölderlins Texten im Zusammenhang mit dem Zarathustra Nietzsches „Anerkennung seines dichterischen Werts“ als „unverändert“ bezeichnen (2011, 171f.). Dass diese Anerkennung, ja Faszination lebenslang und in hohem Maße dem Tod des Empedokles galt, haben die hier herangezogenen Belege gezeigt. Für die Rezeption der Trauerspielfragmente Hölderlins um 1900, die Nietzsche als Schüler zunächst bewundert hatte, um sie dann zum typologischen Modell für einen eigenen dramatischen Versuch zu erheben und sie schließlich in sein philosophisch-dichterisches Hauptwerk zu verweben, fungierte eine solch eigenwillige Aneignung als Resonanzkörper. || 269 „Im Jahre 1883“, notiert Vivarelli (1989) 514, „lassen sich in der Fragmentgruppe 13 [...] Spuren eines nie ausgeführten Dramenprojekts auffinden, in dem die Zarathustra-Figur viele Züge des Hölderlinschen Empedokles trägt“; Haase (1994) hat insbesondere den Vulkan-Topos erörtert (514). 270 Am schärfsten die zwei Fragmente, die beide 1884–85 Hölderlin und Leopardi, einmal auch Shelley betreffen: „Die Art Hölderlin und Leopardi: ich bin hart genug, um über deren Zugrundegehen zu lachen. Man hat eine falsche Vorstellung davon. Solche Ultra-Platoniker, denen immer die Naivetät abgeht, enden schlecht. Irgend Etwas muß derb und grob sein am Menschen: sonst geht er auf eine lächerliche Weise zu Grunde vor lauter Widersprüchen mit den einfachsten Tatsachen: z.B. mit der Tatsache, daß ein Mann von Zeit zu Zeit ein Weib nöthig hat, wie er von Zeit zu Zeit eine rechtschaffene Mahlzeit nöthig hat“ (Sommer-Herbst 1884, 26[405], KGW 7/2, 255); „Gegen den falschen Idealismus, wo durch übertriebene Feinheit sich die besten Nature der Welt entfremden. [...] Und daß solche Shelleys, Hölderlins, Leopardis zu Grunde gehn, ist billig, ich halte nicht gar viel von solchen Menschen. Es ergötzt mich, an die Revanchen zu denken, welche die derbe Natürlichkeit der Natur bei solcher Art Menschen nimmt z.B. wenn ich höre, daß L früher On trieb, später impotent war“ (Mai-Juli 1885, 34[95], KGW 7/3, 171). Auch auf jene Zeit geht eine Aussage zum Dichter (statt zur Person) zurück, die auch viel weniger scharf ausfällt: „Wie wohl thut uns schon die Form Platens und Hölderlins! Aber viel zu streng für uns! Das Spiel mit den verschiedensten Metren und zeitweilig das Unmetrische ist das Rechte: die Freiheit, die wir bereits in der Musik, durch R W, erlangt haben!“ (Frühjahr 1884, 25[172], KGW 7/2, 55f.).

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2.2.3 Auf Nietzsches Spuren. Der Tod des Empedokles um 1900 Eine Parallelrezeption der beiden ‚Dichter und Denker‘ Hölderlin und Nietzsche erfolgte bereits im späten 19. Jahrhundert, nicht allerdings auf der Basis der im vorangegangen Kapitel verfolgten, vielschichtigen und teilweise widersprüchlichen Hölderlin-Rezeption des sächsischen Philologen und Philosophen, sondern auf biographischer und dann sofort auch auf ästhetisch-kultureller Grundlage. Nicht die wenigen schriftlichen Äußerungen Nietzsches über den Dichter also und seine oft nicht direkt zu erkennenden stilistischen oder gedanklichen Übernahmen gaben in einer solchen Parallelrezeption den Ton an, sondern die Wahrnehmung einer Art Wahlverwandtschaft zwischen den beiden und teilweise auch zwischen ihren Werken sowie die vorschnelle Anwendung von Begriffen und Kategorien Nietzsches auf Hölderlin. Der erste Kulminationspunkt der „Hölderlin-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches“ (Martens) wird Wilhelm Diltheys Hölderlin-Essay sein (1905), der in dieser Untersuchung mit Bezug auf die Rhythmus-Begrifflichkeit bereits erörtert und in seiner nicht wegzudenkenden Rolle für die Hölderlin-Rezeption gewürdigt worden ist, wobei es auch schon Gelegenheit gab, auf die Spuren Nietzsches hinzuweisen. Auf die Möglichkeit (und bei ihm luziderweise auch auf das Risiko) einer biographische Momente und das Werk umfassenden Hölderlin-Nietzsche-Parallelisierung hatte jedoch bereits vor der Jahrhundertwende Theobald Ziegler hingewiesen. Ziegler, zu dessen Schülern etwa Albert Schweitzer gehörte, hatte in Straßburg den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik inne und wurde auch Rektor der elsässischen Universität. Wie viele andere war er bereits in jüngeren Jahren auf Hölderlin gestoßen, dem er auch inzwischen in Vergessenheit geratene Studien gewidmet hatte.271 „Was haben die beiden mit einander zu thun,“ sann der schwäbische Professor 1898, „der lyrische Dichter von 1798 und der Modephilosoph von heute?“ Es genüge ein „Blick auf ihr gleichartig tragisches Schicksal“, um eine „erste vorläufige Antwort“ zu bekommen, die Ziegler so zusammenfasst: Beides hochbegabte geniale Menschen, die der Welt etwas zu sagen wußten und ihr vieles auch bereits gesagt hatten, – da kommt, nicht plötzlich, sondern langsam wie ein tückischer Feind sie beschleichend, die Nacht des Wahnsinns über sie, und das Instrument, auf dem sie so virtuos ihre Weisen gespielt, ist zerbrochen, sie überleben sich selber in traurig unheilbarer Umnachtung. Aber bei keinem ein ganz scharfer und deutlich erkennbarer Trennungsstrich zwischen den Perioden der Gesundheit und der Krankheit, sondern frühe schon wirft das Kommende seine Schatten voraus und giebt dem, was sie schaffen, da und dort schon einen Stich ins Krankhafte, Krasse und Verzerrte. (Ziegler 1898, 23)

|| 271 Vgl. den frühen Aufsatz Ziegler (1877), der schon neben dem Hyperion auch dem Tod des Empedokles beträchtliche Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dort war noch kein Vergleich mit Nietzsche zu finden, der zwar Die Geburt der Tragödie und die Unzeitgemäßen Betrachtungen schon veröffentlicht hatte, breiteres öffentliches Interesse aber erst später erregen sollte.

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Die Hölderlin-Rezeption des 19. Jahrhunderts kennzeichnende Bilder und Klischees („Die Nacht des Wahnsinns“ bzw. „Umnachtung“, das „zerbrochen[e]“ Instrument, die Gesundheitsideologie) werden auch auf Nietzsche übertragen – bezeichnend ist auch der fließende Übergang von strikt biographischen Aspekten, wie im ersteren Teil des eben angeführten Passus, zu Fragen des Verhältnisses von Leben und Werk bis zur poetischen Gemeinsamkeit: „Beide sind Künstler, sind Dichter“ (26). Noch bezeichnender ist der Umstand, dass es Ziegler ein Bedürfnis ist, nach den Verbindungs- auch die Trennungslinien hervorzuheben, und zwar emphatisch: „Das Trennende [müßte] mehr betont und in den Vordergrund gerückt werden [...] als alle etwaigen Aehnlichkeiten in Schicksal, Wesen und Charakter“ (27). Daraus kann ermessen werden, wie stark bereits vor 1900 (und damit auch vor Nietzsches Tod) in der Forschung und noch mehr in der aktiven Rezeption die Strapazierung, sogar Mythisierung der Linie Hölderlin-Nietzsche verbreitet war. Tatsächlich wurden Hölderlin und Nietzsche zu Kultautoren vieler vor der Jahrhundertwende literarisch sozialisierter Intellektueller, und dies meist im Zeichen der bei Ziegler mit Bedacht herausgearbeiteten Affinität der „Schicksale“. Ein Paradebeispiel dafür ist Rudolf Pannwitz, dessen beiden Empedokles-Tragödien der Abschnitt 2.2.3.1 gewidmet ist. Ziegler, der ausdrücklich gegen solche Mythisierungen schreibt und sich darin polemisch gegen die Nietzsche-Editoren äußert,272 versucht dann anhand der verfügbaren Materialien „die tatsächlich vorhandenen Beziehungen Nietzsche’s zu Hölderlin“ auszumachen und insbesondere die beiden unvollendeten Empedokles-Projekte zu vergleichen – seine Überlegungen dazu sind teilweise noch heute von Interesse. Hier soll noch hervorgehoben werden, wie Zieglers zu diesem Zeitpunkt noch nicht nietzscheanisch geprägte Interpretation von Hölderlins Empedokles einem Seismographen gleich den langsamen Wandel des Hölderlin-Bildes registriert. Wie im ganzen 19. Jahrhundert ist für ihn zwar die Figur des Agrigentiners ein Alter-Ego des deutschen Dichters (dem „in der Maske des Empedokles steckenden Hölderlin [...] war die Figur des Empedokles allein Wert, fertig gestellt zu werden; denn das war er ja selber„, 36)273 und ähnlich zeittypisch lauten Zieglers Bedenken hinsichtlich der tragischen Begabung Hölderlins, „der trotz der Schönheiten seiner Empedokles-Fragmente doch auch kein dramatischer Dichter gewesen ist“, da er (wie wohlgemerkt auch Nietzsche), „zu weltfremd und zu monologisch“ gewesen sei (42). Ziegler oszilliert jedoch nicht mehr wie Haym zwischen der Wahrnehmung einer Andersartigkeit von Hölderlins Empedokles-Projekt gegenüber der Ästhetik der Weimarer Klassik einerseits und dem Beharren andererseits auf Bezeichnungen wie „antik“ und auf Epigonentumzuschreibungen. Bei Ziegler ist der Empedokles trotz des antiken Stoffes

|| 272 „Die Verehrer Nietzsches in Naumburg sind überhaupt nicht seine besten Interpreten; um ihn richtig zu verstehen, muß man sich meist erst von der Schwester und den Herausgebern emanzipieren“ (Ziegler 1898, 41). 273 Vgl. die fast wörtliche Übereinstimmung mit Ziegler (1877) 138.

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und ungeachtet der „den griechischen Tragikern vielfach mit feinem Ohr und Auge abgelauschte[n] und abgesehene[n] Haltung des Stückes [...] so durch und durch modern, so subjektiv und sentimentalisch, mit einem Wort: so ungriechisch als möglich ausgefallen“. Gerade darin gründe die ästhetische Qualität des „Stückes“, das „ganz anders als Goethe’s Iphigenie“ sei (37f.).274 Anders als manche nach ihm schließt Ziegler nicht den Kreis: Obwohl ihm durchaus bewusst ist, wie Nietzsche auch aus Hölderlins Empedokles Elemente eines anderen Antike-Bildes erben konnte,275 scheint er an einem Verständnis des „Griechischen“ festzuhalten, das viele seiner Zeitgenossen – nicht nur ‚in der Nachfolge Nietzsches‘ – schon aufgegeben hatten. Die entschiedene Aufwertung Hölderlins und seines Empedokles jedoch, und zwar mit expliziter Würdigung von dessen modernem antiklassizistischem Anspruch, ist trotz alledem kurz vor 1900 ein bemerkenswertes Anzeichen für die beginnende „Renaissance“ in der Hölderlin-Rezeption. Kann bei Ziegler noch von einer ‚Hölderlinisierung Nietzsches‘ die Rede sein (auf den späteren, von ihm weniger geschätzten Dichter und Denker werden wie dargelegt Kategorien appliziert, die dem früheren seit langem galten), so bietet Diltheys Aufsatz ein konträres und viel resonanzreicheres Beispiel für eine ‚Nietzscheanisierung Hölderlins‘. Seine Empedokles-Interpretation folgt in dem Erlebnis-Essay der ausführlichen Erörterung des Hyperion und insbesondere deren Coda, in der Dilthey den „Rhythmus des Lebens selbst“ als Schlüsselkategorie für sein Verständnis des Werks als „philosophischer Roman“ in der Zeitgenossenschaft Hegels und in dezidierter Antizipation Nietzsches herausarbeitet. Der in diesem Zusammenhang konstatierte „Einfluß Hölderlins“ auf Nietzsche „in seinen entscheidenden Lebensjahren“ sowie die Registrierung inhaltlicher wie stilistischer Affinitäten (insbesondere in Also sprach Zarathustra) dienen als Vorspiel zum Empedokles-Kapitel. Dort fällt dann erstaunlicherweise der Name Nietzsches nicht ein einziges Mal; auch sein eigener Dilthey höchstwahrscheinlich bekannter Versuch einer Philosophentragödie wird nicht einmal erwähnt. Unverkennbar ist aber die Interpretation des Dramas aus der Perspektive des Philosophen, die in den Worten kulminiert: Aus diesem Stoff erhob sich für Hölderlin die Gestalt eines Übermenschen, der mit unbändiger Kraft Natur und Leben beherrschte und sich dienstbar gemacht hatte, der denkend, handelnd, genießend erfuhr, was das Leben sei, [...] und stärker als jener [Hyperion; M.C] das Leben, das ihm schal und ekel geworden, verließ. (270f.)

|| 274 Auch diese Ansicht ist schon bei Ziegler (1877) 139 mit einem sehr ähnlichen Wortlaut zu finden; der frühe Aufsatz war auch als eine Replik auf Hayms Interpretation Hölderlins als „Seitentrieb“ der Romantik gedacht. 275 „Auch bei Hölderlin sagt Empedokles einmal: ‚O glaub es mir, ich wäre lieber nicht geboren‘. Für diesen tragischen, pessimistischen Philosophen interessierte sich Nietzsche und darum machte er ihn zum Helden seines Trauerspiels“ (Ziegler 1898, 40).

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Nicht nur der eklatante (und weiter unten wiederholte276) Terminus „Übermensch“ weist auf Nietzsche hin, sondern die ganze Charakterisierung des Empedokles als großes Individuum, welches das Leben in vollen Zügen authentisch lebt, und zwar bis zur letzten Konsequenz: dem Schlussakt als scheinbar paradoxaler, elitärer Lebensbejahung durch Lebensverweigerung.277 Dilthey beschränkt sich wohlgemerkt keineswegs darauf, Hölderlins Tragödie nur im Zwiegespräch mit Nietzsche zu lesen – das dramaturgische Verhältnis zu Sophokles etwa wird ausführlich behandelt278 wie auch das philosophische zu Hegel279, wobei beide Größen im Gegensatz zum erst kürzlich verstorbenen Philosophen ausdrücklicher präsent sind. Die Hölderlin-Nietzsche-Linie wird nicht nur über biographische Parallelen gezogen,280 sondern auch auf der Basis von stilistischen und inhaltlichen Berührungspunkten. Selbstverständlich erscheint vieles aus heutiger Sicht als vorschnell oder fragwürdig; rezeptionsgeschichtlich relevant erscheint hier nun, dass Diltheys Interpretation gerade durch eine so geartete, nicht pauschale sondern differenzierte und in manchem sogar getarnte ‚Nietzscheanisierung‘ Hölderlins den Nerv seiner Zeit traf und schnell zum Vorbild für andere werden konnte. Tatsächlich bringt das Erlebnis-Essay in mancher Hinsicht frischen Wind in die Empedokles-Rezeption. Anders als viele seiner Vorgänger erblickte Dilthey gerade im unvollendeten Trauerspiel ein mit dem Klassizismus unvereinbares Antike-Verständnis: Das Drama durchwalte „der tragische Zug, den Winckelmann und Goethe am griechischen Wesen nicht gewahrt haben: Hölderlin verstand ihn“. Dilthey vertieft

|| 276 Die Nietzsche-Formel kehrt kurz darauf wieder, wenn es bei der Erörterung der „Schuld“ der Hauptfigur heißt: „Empedokles ist so zum Übermenschen geworden“ (275). Vgl. auch die Anmerkungen der Herausgeber zu beiden Stellen (482) wo die Abhängigkeit von Nietzsche lediglich als „vermutlich“ bezeichnet wird. Die oben erörterte Präparation des Empedokles-Kapitels durch den Bezug auf den Philosophen und auf seinen Zarathustra scheint mir eine solche Anlehnung zu bestätigen. 277 Als indirekter Beweis dafür, dass Dilthey Anfang des 20. Jahrhunderts den Empedokles „in der Nachfolge Nietzsches“ liest, kann der Umstand gelten, dass im früheren Hölderlin-Aufsatz das Trauerspiel nicht erwähnt wird (vgl. Dilthey 1867). Allem Anschein nach gewinnt Dilthey in starkem Maße durch Nietzsche die Maßstäbe für die Beurteilung von Hölderlins Empedokles. Was die Textgrundlage von Diltheys Ausführungen dazu angeht, so vermerkt er selber in den Anmerkungen zum Essay, dass er zwar „durch die gütige Mitteilung des Herrn Erich Schmidt“ [d.h. Wilhelm Böhms Doktorvater] die Diederichs-Ausgabe sichten konnte, zu spät aber, um sie konkret zu benutzen; er stützte sich noch auf die Editionen Litzmanns und Schwabs. 278 Als „religiöse Tragödie“ wird dort Empedokles den Ödipus-Dramen des Sophokles angenähert, insbesondere dem Koloneus, dem er formal „nächstverwandt“ sei (267, 276f.). 279 Die Herausarbeitung der philosophischen Position Hölderlins und des Verhältnisses zu Hegel ist insgesamt ein Grundzug von Diltheys Interpretation, die in dieser Hinsicht Rudolf Hayms Bemühungen fortführt. Der Empedokles wird insbesondere mit Hegels „religiösen Konzeptionen“ in Verbindung gebracht, vgl. 280f. 280 Diese Parallele hat Dilthey jedenfalls in dem eher biographisch ausgerichteten Anfangs- und Schlussteil seines Essays durchaus herausgearbeitet, vgl. 242; 255; 294f.

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diese Ansicht zwar nicht, der Grundgedanke ist aber für die Herausarbeitung der Hölderlin-Nietzsche-Linie von zentraler Bedeutung. Auch das lange währende Klischee des ‚undramatischen Dramas‘ konnte Dilthey ansatzweise abbauen, indem er gleich am Anfang dafür plädierte, Hölderlins „Seelendrama“, das „auf dem Weg zu einem unbekannten Ziele, zu neuen höchsten Wirkungen, die auch heute noch niemand erreicht hat“, nicht mit herkömmlichen Wertbestimmungen zu beurteilen: Wenn man an die Bruchstücke dieser Tragödie herantritt, muß man jede Erinnerung an die in äußerer Fülle sich ausbreitende Handlung Shakespeares fallen lassen, jede Erinnerung an Regeln und Kunstform Lessings und Schillers und an die Urteile, die nach solchen Maßstäben Hölderlins Drama undramatisch finden. (266)

Kein Wort verliert hingegen Dilthey über Empedokles als Theatertext. Weder sprachlich-strukturelle Aspekte noch die Bestimmung für die Bühne werden in seiner Interpretation berücksichtigt. Auf die Möglichkeit etwa, durch eine Bühnenbearbeitung das Trauerspiel in der Gegenwart aufzuführen, wird auch nicht eingegangen, selbst formale und inhaltliche Aktualitätsbezüge werden nicht in dem Sinne hervorgehoben, dass gegenwärtige Dramatiker produktiv mit dem Empedokles arbeiten könnten. Dilthey ist – ein weiterer Beweis für den Schwellencharakter seines Hölderlin-Bildes – noch tief im 19. Jahrhundert verankert. Die durch Dilthey mitgeprägte Hölderlin-Renaissance sollte Empedokles nicht in den Mittelpunkt des neu erwachten Interesses rücken – die Werke der Jahre vor 1800 wurden insgesamt im Vergleich zum späten, tatsächlich neu zu entdeckenden Hölderlin weniger stark beachtet. In der Tat aber waren Hyperion, Der Tod des Empedokles und die frühen bis mittleren Gedichte damals bereits bekannt und hatten für jene so genannten „Hölderlin-Erlebnisse“ gesorgt, die um 1900 das Klima für die Neuentdeckungen ja vorbereitet hatten. Auch der Forschung – Dilthey ist dafür das erhellende Beispiel – diente das oft nietzscheanisch neugelesene mittlere Werk sozusagen als Sprungbrett für einen Paradigmenwechsel, der erst den Boden bereiten konnte für die Auseinandersetzung mit der Spätlyrik und den Übersetzungen aus dem Griechischen. Von der Hölderlin-Renaissance profitierte aber selbstverständlich die ganze Wirkung des Dichters, nicht zuletzt die theatralische. Die Ankunft von Hölderlins Theatertexten auf der Bühne des frühen 20. Jahrhunderts sollte gleichzeitig mit der Neuorientierung der Hölderlin-Rezeption nach 1900 erfolgen; gerade Der Tod des Empedokles wird 1916 die Reihe der Hölderlin-Inszenierungen eröffnen. Ein letztes rein literarisches Kapitel der Rezeptionsgeschichte der Trauerspiel-Bruchstücke, das sich ein Jahrzehnt davor abspielt, muss noch beleuchtet werden. Die produktive Rezeption nimmt hier explizit die Form eines Fortschreibeversuchs der um 1800 fragmentarisch gebliebenen Tragödie an, die Hölderlin-Nietzsche-Linie und die um 1900 zirkulierenden neuen Antike- und Vorsokratiker-Bilder werden zu einer Synthese gebracht und es kommt zum ersten Mal überhaupt zu einem vollständigen Ergebnis. Um Rudolf Pannwitz’ in zwei Fassungen vorliegende Empedokles-Tragödie in

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ihrem Kontext zu verstehen, gilt es den Umweg über die Schreibwerkstatt des führenden Neuschöpfers der antiken Tragödie in der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende zu nehmen, der auch ein feinsinniger Beobachter der gärenden Hölderlin-Rezeption war: Hugo von Hofmannsthal. 2.2.3.1 „Hölderlin war der Griechischste“. Empedokles-Konjunkturen zwischen Hofmannsthal und Pannwitz Unter dem Datum 30. September 1906 notierte Hofmannsthal: Den Empedokles oder eine andere sicilianische Figur aus jener Zeit furchtbarsten Wechsels (jäheste Schicksalsstürze der Tyrannen, der Städte, der Staaten) müsste ich zum Gegenstand eines Dramas machen, wenn mir je der immer gegenwärtige Gedanke der Vergänglichkeit mit besonders entsetzlicher Gewalt ins Leben träte. (HW 38, 523)

In einem Brief an Rudolf Alexander Schröder vom selben Tag erwähnt Hofmannsthal kurz (und positiv) Wilhelm Diltheys Erlebnis-Buch, so dass es nahe liegt, die unvermutete Erwähnung dieses hypothetischen Dramenprojekts (auch) mit der Lektüre von Diltheys nietzscheanischer Interpretation von Hölderlins Tod des Empedokles zu verbinden.281 Der schwäbische Dichter und auch seine Trauerspielbruchstücke waren damals Hofmannsthal natürlich bereits bekannt; vielleicht weckte das Buch Diltheys Erinnerungen an die frühere Hölderlin-Lektüre, die für Hofmannsthal wie für viele seiner Zeitgenossen auf die 1890er zurückgeht.282 Im selben Jahr 1906, wenige Wochen später, wurde dann ein Besuch bei Karl Wolfskehl für Hofmannsthal zu einem Hölderlin-Erlebnis. Harry Graf Kessler notiert in seinem Tagebuch vom 30. November 1906 über den mit ihm damals noch befreundeten Hofmannstahl, er sei nach dem Gespräch mit dem ‚Zeus von Schwabing‘ „sehr beglückt“ gewesen, denn Er habe ihm aus Hölderlin wunderbare Stellen für unsere Auswahl gezeigt, Prosa am Rande des Wahnsinns geschrieben, in der nur noch der nackte Rhythmus, aber dieser zu höchster Reinheit

|| 281 Vgl. Hofmannsthal (1937) 238f. sowie Schmid (2003) 1, 982. Hofmannsthal finde das Buch „sehr respektabel“, im Unterschied zu Schröder; er lobt daran den „Reichtum des Gehaltes“ und den „Anstand des Vortrages“. 282 Die Hofmannsthal-Forschung datiert die erste Begegnung mit Hölderlin meist auf den August 1896 und auf die Bekanntschaft mit Raoul Richter, der dann Hofmannsthal am 30. September 1896 die Ausgabe Schwabs übersandte (die Bände tragen auch auf den Empedokles-Seiten Lesespuren, vgl. HW 40, 308). Die erste Okkurrenz Hölderlins (mit Bezug auf die „frühen Gedichte“ und auf das Motiv des Jünglings) ist in Hofmannsthals Aufzeichnungen jedenfalls bereits für den Mai 1896 nachweisbar (vgl. HW 38, 356).

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und Gewalt gesteigert, vorhanden sei. Der Rhythmus als eine Art von Dämon, dem der Dichter diene.283

Dass es sich bei diesen „Stellen“ um die Sophokles-Anmerkungen handelt, worauf der Rhythmus-Diskurs hinweist, ist eine der möglichen Annahmen.284 Sicher kommt Hofmannsthal bei dieser Gelegenheit mit jenem Hölderlin-Enthusiasmus der Jahre um 1900 in engeren Kontakt, von dem bereits die Rede war und der gerade im Kreis um Wolfskehl herum mit einer dezidierten Fixierung auf den Rhythmus-Diskurs zirkulierte. Nach München war Hofmannsthal wegen seines Vortrags Der Dichter und diese Zeit gekommen, den er an demselben Abend nach dem Treffen mit Wolfskehl hielt. In jener Rede erwähnt er u.a. auch Hölderlin (HW 33, 127–148, 128). Hier wie in seinem weiteren Schaffen wahrte Hofmannsthal jedoch Distanz: Von einer Hölderlin-Rezeption seinerseits kann nur bedingt die Rede sein,285 eine produktive Auseinandersetzung mit den Texten des schwäbischen Dichters blieb in Rodaun aus; die Idee, Empedokles zum Gegenstand eines Dramas zu machen, wurde nie wiederaufgenommen, der große Bearbeiter und Erneuerer des antiken Dramas in der Klassischen Moderne beschäftigte sich nur am Rande und erst in seinen späteren Jahren mit Hölderlins Sophokles-Projekt.286 Vielmehr gebührt Hofmannsthal die Rolle des Beobachters der Hölderlin-Renaissance, mit deren Protagonisten er zeitweilig in gutem bis sehr engem Kontakt stand. Kaum eine Rekonstruktion jenes kulturellen Phänomens versäumt, die Worte aus dem vierten sogenannten Vienna Letter (1923) zu zitieren, mit denen Hofmannsthal nicht ohne eine gewisse Zurückhaltung die religiös gefärbte Begeisterung beschrieb, die seine Generation gepackt hatte: Es ist dies ein Zustand sozusagen vormessianischer Religiosität, und er hat sich auch einen Führer oder Vorläufer des Führers heraufbeschworen, nicht in Gestalt eines Menschen von Fleisch und Blut, sondern in der Gestalt eines Toten, eines durch fast hundert Jahre von der Nation vergessenen geistig hohen Individuums, dessen geistige Präsenz und Gewalt über die sich um ihn

|| 283 30. November 1906, nun in Kessler (2005) 213. Die „Auswahl“ wurde nie realisiert. 284 Nicht auszuschließen ist aber m.E. auch, dass hier eine Verwechslung vorliegt, etwa vonseiten Kesslers, und Wolfskehl nicht Texte von Hölderlin, sondern die Günderode-Passagen über Hölderlin und den Rhythmus gezeigt hat, die er hochschätzte und auch weiterempfahl. 285 Spuren einer Hyperion-Rezeption konnte Wiedemann (1993) in Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten (1907–08) lokalisieren; für die Zeit davor vgl. Böschenstein (1975), der in Notizen Hofmannsthals über Pierre Puvis de Chavennes aus der Zeit um 1900 eine Reminiszenz an die PatmosHymne erkannte. 286 Seine Referenzen waren dann die von Hellingrath initiierte Ausgabe und Ludwig von Pigenots Buch Hölderlin. Das Wesen und die Schau (1923). Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1924–25 (HW 38) zeigen das Interesse Hofmannsthals für Hölderlins ersten Böhlendorff-Brief und insgesamt für „die Gegenwart der Antike“ (ebd., 942; 971). Zum späten Hofmannsthal und Hölderlin vgl. neulich Günther (2016).

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scharende jetzige Generation eine so große und besondere ist, daß man auch hier fast eher von einem religiösen Phänomen sprechen möchte als von einem bloß literarischen. Dieser durch den Drang einer ganzen Generation aus dem Grabe Gerufene, Wiedergeborene ist der Dichter Friedrich Hölderlin. (Hofmannsthal 1959, 312)

Ähnliches gilt für eine zweite, sich teilweise mit der ‚Hölderlin-Renaissance‘ überschneidende literarische Konjunktur um 1900, von der Hofmannsthal ebenfalls nur gestreift wurde und an der hingegen einige seiner Wegbegleiter und weitere Intellektuelle seiner Zeit aktiv beteiligt waren. Die Rede ist von der auffälligen Blüte dichterischer Werke mit Empedokles als Hauptfigur. Anders als bei dem Wiener Dichter, der die Eventualität, ein eigenes Drama zu diesem Thema zu verfassen, mit dem Konjunktiv II betont hatte, kamen zwischen 1900 und 1910 mindestens fünf Autoren tatsächlich dazu, ‚ihr‘ Empedokles-Werk zu schreiben. Für diese auffällige Konzentration literarischer Empedokles-Fiktionalisierungen, die als eine Nebenerscheinung des verstärkten Interesses für diesen und andere ‚Vorsokratiker‘ im philosophischen, literarischen und kulturellen Diskurs der Zeit zu werten ist, zeichnen drei Hauptfaktoren verantwortlich, die ihrerseits miteinander verflochten sind und seit dem späten 19. Jahrhundert ihre Wirksamkeit entfalteten: die Rezeption von Hölderlin und dessen Tod des Empedokles, die Aufnahme und Verbreitung nietzscheschen Gedankenguts und die philologische Erschließung der antiken Quellen zur ‚vorsokratischen‘ Philosophie. Letztere basierte auf den „enorme[n] Fortschritte[n] der Altertumswissenschaft“ des 19. Jahrhunderts (Rapp 2007, 224ff.) und gipfelte in den von Hermann Diels 1903 edierten Fragmenten der Vorsokratiker, wodurch sie auch jenseits der akademischen Kreise wahrgenommen wurde. Zwei der Empedokles-Dichtungen der Jahre 1900–1918 stehen in einer direkten intertextuellen Relation mit Hölderlins Drama, und zwar einmal als Fortschreibung (Pannwitz 1906, 1913) und einmal als Bühnenbearbeitung (von Scholz, 1910). Die erste bietet ein glänzendes Beispiel für das Ineinandergreifen der Hölderlin- und Nietzsche-Rezeption mit der Vorsokratiker-Renaissance und soll noch näher betrachtet werden. Die zweite war mit Blick auf eine Inszenierung verfasst und wurde dann tatsächlich am 4. Dezember 1916 in Stuttgart uraufgeführt, sie gehört damit bereits in die nächste Phase der Rezeption und Transformation (vgl. 3.1). Den Auftakt unter den Empedokles-Dichtungen bildete zuerst einmal ein ganz anders gestaltetes Werk. Rudolf Alexander Schröders in Sektionen bzw. Zyklen aufgeteilte lyrische Sammlung Empedocles erschien im Jahr 1900 in fünfzig nummerierten Exemplaren mit einer Widmung an Hugo von Hofmannsthal, den er kurz zuvor kennengelernt hatte 287. Der darin enthaltene, Empedokles betitelte Zyklus umfasst 21 Gedichte, die thematisch um die Figur eines „Einsamen“ kreisen. Es liegt nahe, in ihr

|| 287 Vgl. Schröder (1900) s.p.: „HERRN VON HOFMANNSTHAL FREUNDLICHST ZUGEEIGNET“. Kennengelernt hatten sich die beiden im Februar desselben Jahres.

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ein autobiographisch verbrämtes Alter Ego des antiken Philosophen zu vermuten; explizite Bezüge oder auch nur Anklänge an die Trauerspielfragmente des Schröder durchaus bekannten Hölderlin sind nicht auszumachen. Die beiden anderen Empedokles-Versuche sind anders als jener Schröders dramatischer Art. Richard Redlichs 1902 in Berlin-Schmargendorf erschienenes fünfaktiges „Trauerspiel“ Empedokles eröffnet ein lyrisches Präludium über eine Sizilienreise, woraus bereits die vom Autor intendierte musikalisch-oratorische Form ersichtlich ist, die er sich auch mit Blick auf eine Inszenierung wünscht (Redlich 1902, 2; 5–8). Ein Bezug zu Hölderlins Trauerspielfragmenten ist im Drama des so gut wie vergessenen Schriftstellers und Korrespondenten der Magdeburger Zeitung in Berlin (1852–1910)288 nicht zu erkennen,289 genauso wie in Theodor Curtis „dramatischem Gedicht“ Das Fest des Empedokles. Dies ist der letzte dramatische Versuch des als Politiker und Publizist bekannten Schweizers,290 der 1909 in Zürich erschien. Der altertumswissenschaftliche Laie Curti wurde anscheinend von seinem tiefgründigen Interesse für die antike Figur dazu geführt, ihren kulturgeschichtlichen Kontext und ihre philosophische Bedeutung derart gründlich zu rekonstruieren, dass er seinem didaktisch-spröden Werk regelrechte Anmerkungen mit einigen wesentlichen Informationen über Empedokles sowie der gewissenhaften Angabe seiner von Karsten über Steinhart und Zeller bis zu Diels reichenden Quellen (Curti 1909, 57–62) hinzufügte. Laut eigenem Bekunden hat er in sein Drama mehrere Zitate aus Texten des Empedokles selbst und von anderen antiken Autoren sowie Selbstzitate aus der eigenen Lyrik eingeflochten – Hölderlin fehlt in diesem Reigen. Das einaktige Drama ist auf die Episode der Ablehnung der Krone durch den Philosophen zentriert, deutet sodann Empedokles’ Entscheidung für den Freitod philosophiegeschichtlich als eine Reaktion auf den Emporstieg der Sophisten um Gorgias (Curti 1909, 40f.); wie auch bei Redlich verschwindet dann Empedokles vorzeitig von der Bühne, sein Tod wird nur indirekt in den letzten Passagen von anderen Figuren, darunter auch Pausanias, referiert. Im Unterschied zu Schröders Gedichtsammlung, zu Redlichs Trauerspiel und zu Curtis dramatischem Gedicht zeichnet sich Pannwitz’ Tragödie über Empedokles durch einen expliziten Bezug auf Hölderlins Drama aus, der bereits am paratextuellen Ort aufscheint. Sowohl das 1906 in der Zeitschrift Charon veröffentlichte „Trauerspiel in drei Szenen“ Tod des Empedokles,291 als auch der sieben Jahre später als erste

|| 288 Empedokles wird auch als einziges Werk im Redlich-Eintrag vom Deutschen Literatur-Lexikon angeführt, wo er als Lyriker, Dramatiker und Fueilletonist vorgestellt wird, vgl. DLL 12, 712. 289 Die dramatis personae sind bis auf den Protagonisten keine von Hölderlin her bekannten Figuren; die Ablehnung des „Königspurpurs“ wird anders dramatisiert; ein Prozess gegen Empedokles bewirkt seine Verbannung, im letzten Akt erfährt man von seinem Tod (Redlich 1902, 4; 45f.; 53–59). 290 Zu Curt vgl. Ammann (1930). 291 Die drei Szenen erschienen separat in drei aufeinander folgenden Heften des dritten Jahrgangs der zusammen mit Otto zur Linde gegründeten Charon-Zeitschrift („kleine Monatsschrift für Dichtung“, vgl. Pannwitz 1906). Den Titel bestimmte Pannwitz selbst: „Der Titel ‚Charon‘ stammte von

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der Dionysischen Tragödien erschienene „Tragödienschluss“ Der Tod des Empedokles292 verdeutlichen im Titel bzw. Untertitel jeweils die intertextuelle Relation mit Hölderlins Tragödienbruchstücken an sich und deren Modus, d.h. der des Fortschreibens und Zu-Ende-Führens („Tragödienschluss“). In Genettes Terminologie (1982) würde das als „contrat d’hypertextuálité“ gelten: Auch wenn der Autor des Prätextes nicht explizit erwähnt wird, reichen die gleichlautende Überschrift und der Hinweis auf ein durch ein Finale zu vollendendes Werk durchaus aus, um die Verbindung zwischen beiden Texten sicherzustellen. Wie ich in einer früheren Studie zu zeigen versucht habe,293 stellt tatsächlich der „Tragödienschluss“ von Pannwitz auch in der ersten, diese spezifische Genrebezeichnung nicht tragenden Fassung den Versuch dar, an Hölderlins Fragmenten anknüpfend und ihren Handlungsstrang wiederaufnehmend294 die Dichter- und Denker-Tragödie in rascher Szenenfolge bis zum spektakulären Sturz in den Vulkan zu Ende zu schreiben. Das Abhängigkeitsverhältnis zur Vorlage ist dementsprechend in erster Linie strukturell: Pannwitz’ Tragödien setzen in diesem Sinne Hölderlins Fragmente voraus; nicht verwunderlich sind thematische Berührungspunkte (die meist jedoch auch durch gemeinsame Quellen erklärbar sind), manchmal auch stilistische Elemente, die man als Nachahmungsversuche bzw. Hölderlin-Reminiszenzen bei Pannwitz bewerten kann.295 Im Unterschied zu || mir. Ich meinte mein eigenes Anhalten in einer Zwischen-Welt“ (Pannwitz 1993, 96). Er könnte eine Reminiszenz an die Hyperion-Passage sein, in welcher der Erzähler auf eine See-Überfahrt zurückblickt und jenen Zustand zwischen Wachsein und Schlaf mit der Vorstellung verbindet, in „Charons Nachen“ gelegen zu haben (StA 3, 49). 292 Vgl. Pannwitz (1913) 9–64. Geplant war eine Werkausgabe, die aber über diesen ersten Band nie hinausging. Der Tod des Empedokles hätte somit nicht nur die Dionysischen Tragödien, sondern die ganze Ausgabe eröffnen sollen. Die exponierte Stelle spricht für die Bedeutung, die Pannwitz seinem Tragödienschluss beimaß. Der Band trägt die viel sagende Widmung: „FRIEDRICH NIETZSCHE DEM SCHOEPFER // UNSERES NEUEN LEBENS // DIE AUSGABE DIESER WERKE // ALS EINER GANZEN JUGEND // VERSPAETETE ANTWORT UND // DANKBARKEIT FUER DIE TAT“ (7). Über die Dionysischen Tragödien vgl. neben den allgemeinen Studien zum Autor vor allem Frick (1998) insb. 87–97; einige interessante Überlegungen auch bei Skrodzki (1986), Lefèvre (1997), Furness (2000), Mottel (2005). 293 Vgl. Castellari (2006b). Auf diese Studie sei für weitere Details verwiesen; die Ergebnisse der dortigen Parallelanalyse beider Fassungen von Pannwitz’ Tragödien und der ihr zugrundeliegenden Hölderlin-, Nietzsche- und Vorsokratikerrezeption wurden hier eingearbeitet. Kürzlich hat sich Szabó (2016) der „Hölderlin-Spielarten bei Pannwitz“ angenommen, auf seine von meiner Studie ausgehende aber anders fokussierte Interpretation der Empedokles-Tragödie sei deshalb verwiesen. 294 Die Handlung setzt bei Pannwitz nämlich ungefähr dort an, wo Hölderlin die Feder fallengelassen hatte, oder genauer gesagt: Wo Pannwitz, der Schwabs synkretistische Version vor Augen hatte, vermuten konnte, dass Hölderlins Arbeit unterbrochen worden war. 295 Vgl. hölderlinisch anmutende Zusammensetzungen („allheilige Natur“; 1. Fassung, 1. Szene, Z. 65) und Substantivierungen („Verworrenes, Unentwirrbares“; ebd., Z. 186). Eine stilistische Hölderlin-Rezeption wurde auch allgemein für Pannwitz’ Lyrik ausgemacht (etwa bei Guth 1973). Pannwitz sollte in viel späteren Jahren auch beachtete Aufsätze über Hölderlins Lyrik schreiben, vgl. Pannwitz (1951) und Pannwitz (1955).

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späteren Rezeptionsfällen handelt es sich jedenfalls um keine komplettierende Bearbeitung, die etwa nach Hölderlins hinterlassenen Empedokles-Plänen die Fragmente ergänzt und „vollendet“;296 noch weniger kann man Pannwitz’ tragischen Versuch mit den Bühnenbearbeitungen vergleichen, die ab 1910 entstehen und in denen mit Blick auf eine Inszenierung Hölderlins Fragmente zu einem abendfüllenden Stück adaptiert werden sollten. Pannwitz’ Tod des Empedokles hat in seinen beiden Versionen den Anspruch, ein vollauf eigenständiges Werk zu sein. Denn hinsichtlich seines Antikenbilds, seiner Dichtungs- und Tragödienauffassung sowie insgesamt seiner Lebens- und Weltanschauung wurde Pannwitz auch stark von anderen Diskursen geprägt, sodass er für seine beiden Dramen nicht nur an Hölderlin anknüpfte. Diese Kombination mehrerer Diskursstränge ist für sein „epigonal-enzyklopädisch[es]“ Werk297 und insbesondere für die „intertextuell mehrschichtige Schreibweise“, die seine Dramaturgie der „dionysischen Revision“ auch schon vor 1913 kennzeichnete,298 durchaus charakteristisch. So sind seine beiden Tragödien ohne das Phänomen Nietzsche einerseits und die Vorsokratiker-Renaissance andererseits undenkbar. Eine zeittypische Konstellation, die bei Pannwitz in besonders emphatischer und übersteigerter Form aufscheint, nicht zuletzt wegen des diese „umstrittene“299 Figur kennzeichnenden, an Größenwahn grenzenden Dünkels, der ihn zur Selbststilisierung als letzter Vertreter einer Ahnenreihe hehrer Geister trieb.300

|| 296 So wörtlich im Untertitel des als „dramatischer Hymnus“ bezeichneten Empedokles: „nach Hölderlins hinterlassenem Plan vollendet von Wilhelm Adt“ (Adt 1942, vgl. dazu 3.1.3). 297 Pannwitz ganzes Oeuvre lebt aus einer Einlegearbeit mehrerer Quellen, bei der sowohl Stringenz als auch Originalität in den Hintergrund rücken: „Epigonal-enzyklopädisch sind in der Tat alle seine Werke angelegt“ (Rovagnati 1999, 51). 298 Die Zitate sowie viele wertvolle Überlegungen zum Verhältnis zwischen der intertextuellen Transformation der Tragödie in der frühen Moderne und Nietzsches epochalem kulturgeschichtlichem Programm einer „Koalition von ‚vor-sokratischer‘ Archaik und ‚nach-sokratischer‘ Avantgarde“ stammen von Werner Frick (Frick 1998, 43ff. und passim). Dessen Untersuchung konzentriert sich auf die re-écriture der attischen Tragödie und lässt folgerichtig Der Tod des Empedokles unberücksichtigt. 299 „Die deutsche Literatur“, resümiert Pannwitz abfällig die Aufnahme der eigenen dichterischen Produktion, „charakterisierte mich später gerne mit dem lächerlichen Begriff ‚umstritten‘“ (Pannwitz 1993, 187). Eher als aufgrund seiner literarischen Werke (von denen viele im Marbacher Nachlass noch einer Veröffentlichung harren) wird Pannwitz heutzutage wegen der beträchtlichen Resonanz seiner Schrift Die Krisis der europäischen Kultur (1917) und weiterer kulturphilosophischer Bemühungen unter führenden Figuren der klassischen Moderne, etwa Hofmannsthal und Benjamin, erwähnt (vgl. Gaier 2002a, 473 für mögliche Reminiszenzen Hölderlins in Pannwitz’ Theoremen). Einführend zu Person und Werk vgl. die groß angelegte Monographie Guth (1973) und unter den neueren Arbeiten Rovagnati (1999); von Gabriella Rovagnati, der ich u.a. für den Hinweis auf die Empedokles-Tragödien zu Dank verpflichtet bin, stammen auch die jüngsten Editionen von Pannwitz’ nachgelassenen literarischen Werken und der aktuellste Sammelband (2005). 300 Zu vergleichen seien etwa gerade die Dionysischen Tragödien als „formen schaffender erkenntnis“ nur mit „aischylos“ und „dante“ (Pannwitz 1920, 17). Zum einzig berechtigten Nachfolger Nietzsches hat sich Pannwitz auch öfters ernannt.

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Chronologisch gesehen stand am Anfang tatsächlich Hölderlin: Den in vielen autobiographischen, sich selbst mythologisierenden Schriften oft erwähnten Dichter hat Pannwitz schon „als knabe“ in der im späten 19. Jahrhundert weitverbreiteten Reihe von „Meyers 10. Pf. Volksbüchern“ gelesen.301 Doch befand sich damals darunter noch nicht der Tod des Empedokles, der in jenem auf einer Reclam-Ausgabe und durch sie auf Schwabs Edition basierten Groschenheft nicht enthalten war, sodass Pannwitz vielmehr zuerst Hyperion und eine Gedichtauswahl kennenlernte. Der 1881 geborene Autor bezieht sich mit den zitierten Worten, wie aus einer anderen Stelle hervorgeht,302 auf die Zeit unmittelbar vor der Aufnahme in das Steglitzer Gymnasium (1897), wo er dann mit Mitschülern einen literarischen Verein mit dem Namen „Hyperion“ gründete und in jenem Rahmen auch einen Vortrag über den schwäbischen Dichter hielt. Pannwitz gehört also jener Generation von Hölderlin-Verehrern an, die bereits in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als Heranwachsende den Dichter für sich entdeckten. Intensiviert wurde die Rezeption des Dichters um 1900 nicht selten durch den Kontakt zu Gleichgesinnten. Für den jungen Pannwitz sollten zunächst unter anderen Hans Georg Meyer303, Rudolf Paulsen304 und Gertrud Kantorowicz,305 später auch Karl Wolfskehl306 eine Rolle spielen; während seiner Studentenzeit boten vor allem die Semester in Berlin Gelegenheit, sowohl an der Universität selbst (Dilthey, Böhm) als auch in der Berliner Salonkultur (Lepsius) an der geradezu aufblühenden Hölderlin-Rezeption zu partizipieren. Wohl auf jene ersten Jahre nach der Jahrhundertwende ist auch Pannwitz’ Lektüre vom Tod des Empedokles zu datieren: Unklar bleibt, ob es sich dabei sozusagen um eine persönliche Erweiterung der Kenntnis von Hölderlins Werk im Rahmen der

|| 301 Vgl. den Brief an Hofmannsthal vom 1./2. September 1917 (Hofmannsthal/Pannwitz 1993, 66). 302 „So auch las ich literatur: empfand ich hölderlin und shelley und fouqués undine die ich mir aus meyers zehnpfennig-bibliothek aus dem klang ihrer namen und titel selbst entdeckte“. Aus dem Kontext ist deutlich, dass hier von der Zeit vor der Einschulung in Steglitz die Rede ist (vgl. Pannwitz 1921, 10). 303 Der Dichter (laut Pannwitz „einer der ersten, die Hölderlin und Stifter in ihrer Größe erkannten“) war für den Schüler Pannwitz eine wichtige Orientierungsfigur (vgl. Pannwitz 1970, 144). Meyer gehört somit (etwa mit Botho Graef, vgl. 2.1.4) zu den heute kaum anerkannten frühen Hölderlin-Verehrern jener Zeit, die als Multiplikatoren des Hölderlin-Interessen bei jüngeren Dichtern dienten. 304 Rudolf Paulsen, später einer der Protagonisten der nationalsozialistischen Vereinnahmung Hölderlins, war Pannwitz’ Mitschüler und Mitbegründer des Vereins „Hyperion“ sowie später Mitglied des Charon-Kreises; hier „war der schwäbische Dichter als ‚Holder alter Hölderlin‘ (Pannwitz) allgegenwärtig“ (Gaier 2002a, 472). 305 „Drei tage vorm abitur lernte ich […] gertrud kantorowicz kennen […] wir kamen zufällig ins gespräch das ich glaube von hölderlin ausging“ (Pannwitz 1921, 23). Gertrud Kantorowicz machte Pannwitz mit Stefan George bekannt und fungierte als Kontakt zum Lepsius-Kreis. 306 Die persönliche Begegnung geht auf das Jahr 1903 und auf eine Italienreise zurück, mit den Worten von Guth (1986) 216 blieb sie eine „rencontre capitale, inoubliée“.

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wachsenden Begeisterung für den Dichter handelt, oder, was wahrscheinlicher erscheint, sein Interesse für die Philosophentragödie durch die beiden weiteren ‚Entdeckungen‘ zu erklären ist, die der Student Pannwitz machte. So las Pannwitz zum einem aus eigenem Antrieb zwischen 1900 und 1910 Nietzsche viel und intensiv („Ich erlebte ihn wie je ein Christ den Heilbringer“), was zu einem immer wieder heraufbeschworenen, lebensbestimmenden Schlüsselerlebnis wurde;307 zum anderen beschäftigte er sich, angeregt durch die akademische Lehre des Marburger Privatdozenten Eugen Kühnemann (1901/02)308 und dann durch weitere Berliner Impulse (von Diels u.a., 1902/03),309 mit den Vorsokratikern, und hier vor allem mit Heraklit.310 Sowohl die intensive Lektüre Nietzsches, dessen Empedokles-Fragment Pannwitz hätte schon früh kennen können,311 als auch die Auseinandersetzung mit der frühgriechischen Philosophie – eine auf gründlichem Studium der fragmentarischen Quellen basierende Leidenschaft312 – könnten Pannwitz dazu verleitet haben, die EmpedoklesFragmente Hölderlins zu lesen. Ob aus der Primärquelle oder vermittels anderer Lektüren – sicher ist, dass Pannwitz Hölderlins Tragödienbruchstücke bei der Niederschrift der ersten Fassung von ‚seinem‘ Tod des Empedokles gut kannte, wobei er sich wohl auf die Edition Schwabs stützte.313 Diese erste Fassung, die von einigen Forschern auf das Jahr 1902 datiert

|| 307 Vgl. Pannwitz (1993) 74. Dass Friedrich Nietzsche die wichtigste Gestalt in der denkerisch-dichterischen Entwicklung, ja im ganzen Leben von Pannwitz war, wurde von ihm selbst (etwa in der hier zitierten Schrift Was ich Nietzsche und George danke) und von der Forschung wiederholt hervorgehoben. Die erste Anregung kam 1900 von einem Nietzsche-Buch des späteren Sorbonne-Professors Henri Lichtenberger (La philosophie de Nietzsche, 1898, Übers. 1899); noch im selben Jahr wurde Pannwitz vom Zarathustra „aufs tiefste getroffen“ und „erschüttert“ (ebd., 64f.). Diese epochale Begegnung war der Anfang einer lebenslangen Beschäftigung; eine so starke Wirkung wie der Zarathustra sollte erst wieder die später gelesene Geburt der Tragödie haben. 308 „Ich kam zufällig in ein Kolleg“, erinnert sich Pannwitz (1970) 145 an die ersten Marburger Semester, „und dann in persönlichen Verkehr mit Eugen Kühnemann: dem jugendlich kühnen Künder und Deuter der Seele unvergänglicher Geister: der griechischen Vorsokratiker, wie der deutschen klassischen Denker und Dichter“. 309 „Ich hörte unter anderen Wilamowitz, Diels, Eduard Meyer, Wölfflin, Simmel“, vgl. Pannwitz (1993) 145. 310 Die Sprache von Heraklit, dem einzigen Denker, der für Pannwitz Nietzsche aus seiner Vorrangstellung zu verdrängen drohte, sei „eine sprache […], die bis heute niemand versteht – die die form des kosmos hat […] einen logos gewordnen mythos und einen europa gewordnen orient“ (Pannwitz 1921, 33). 311 Die Erstausgabe von Nietzsches Empedokles-Fragmenten erfolgte 1896. 312 Von diesem Lektüremodus zeugen mehrere Aussagen von Pannwitz. Bei „der ersten Fassung meiner Arbeit (1903) [d.h. die nie eingereichte Dissertation über die Vorsokratiker; M.C.] lehnte ich von den antiken an alle Deutungen ab und hielt mich an die unmittelbaren Worte, die ich dann übersetzte“ (Pannwitz 1958, 231). 313 Die Hypothese stützt sich auf den Umstand, dass Schwabs synkretistische Version eher als Litzmanns und Böhms Textkonstitutionen zu Pannwitz’ „Tragödienschluss“-Struktur passt.

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wurde (vgl. Jaeckle in Schuster 1993, 675), ist Pannwitz’ eigenen Aussagen zufolge wahrscheinlich später, nämlich erst kurz vor dem Druck, vielleicht im Veröffentlichungsjahr selbst, entstanden.314 In dem 1906 in drei Zeitschriftenfolgen erschienenen „Trauerspiel“ ist der Dreiklang an Einflüssen – Vorsokratiker, Hölderlin, Nietzsche – bereits festzustellen. Besonders auffallend ist zunächst der freie Gebrauch antiker Quellen und moderner, vor allem philosophiegeschichtlicher Materialien zum vorsokratischen Dichter und Denker. Unter Pannwitz’ Papieren jener Jahre befindet sich eine nie eingereichte Dissertation zur vorsokratischen Philosophie, als deren literarisches Pendant in mancherlei Hinsicht sein Empedokles-Drama erscheint.315 Hölderlin und Nietzsche fungieren, um es zusammenfassend zu formulieren, als Wegbegleiter in die Antike, wobei ersterer vor allem strukturell, letzterer thematisch verarbeitet wird; beide inspirieren Pannwitz stilistisch, ohne dass dieser über ein epigonales Ergebnis herauskäme. Das Trauerspiel ist in drei Szenen unterteilt: Die erste besteht aus 168, die zweite aus 295 und die dritte aus 326 ungereimten, meist jambischen Fünfhebern.316 Die drei Szenen wechseln geschickt zwischen der privaten und der öffentlichen Dimension der Empedokles-Figur, womit sie in manchem Hölderlins ähnlicher Alternation folgen. Die erste im legendären Philosophenturm bei Catania spielende Szene besteht aus einem Gespräch mit Pausanias, das zur Erörterung der Vorgeschichte in Agrigent Gelegenheit gibt, wodurch die Verbindung zu den bei Hölderlin ausgearbeiteten Ereignissen hergestellt wird,317 sowie zur Einführung in einige Themenkreise, die für Pannwitz’ Dramatisierung der frühgriechischen Philosophiegeschichte wichtig sind: das Verhältnis des Empedokles zu Pythagoras einerseits318 und zu Sokrates anderer-

|| 314 Beim Rückblick auf seine Beziehung zu dem Reformpädagogen Berthold Otto erinnert sich Pannwitz: „Aber ehe auch hier eine Trennung drohte, dichtete ich meinen ‚Tod des Empedokles‘. Das war freilich noch nicht die dionysische Tragödie, die weit später daraus erwuchs, aber schon ein jähes Vorstoszen aus dem doch-Fremden in das Eigene“ (Pannwitz 1993, 107). Da er mit seinem späteren Schwiegervater erst ab 1905 verkehrte, dürfte die Niederschrift zwischen Ende 1905 und Anfang 1906, für die zweite bzw. dritte Szene spätestens auf April bzw. September zu datieren sein. 315 Die Dissertation lag 1903 in einer ersten Fassung vor; die zweite Fassung stieß auf Unverständnis beim Berater Georg Simmel und beim als Doktorvater fungierenden Paul Hensel. 316 Die erste Tragödienfassung wird mit einfacher Szenen- und Zeilennummer aus dem CharonDruck zitiert. 317 Dies geschieht mit einer persönlichen Akzentuierung: Pannwitz’ Empedokles berichtet vor allem von einer politischen Enttäuschung, die ihn zum Verzicht auf jedwedes politische Engagement bewog: „Ich hab es in Agrigent / Versucht und hab’ gesehen wie es nicht ging. [...] Verbrecher passen auf dem Thron“ (I, 38f.; 44). Aus der Szene erfährt man, dass Empedokles zuerst nach Syrakus und erst danach nach Catania gegangen ist. 318 Kritisiert wird hier Pythagoras’ gescheiterter Versuch, in Kroton eine von religiösen Lehren inspirierte Regierung zu bilden. Empedokles weiß auch warum: „Pythagoras ist Priester und versteht // Vom Herrschen nichts“ (I, 41f.). In der zweiten Fassung verstärkt sich die Bedeutung von Pythagoras.

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seits. Letzteres ist auch der Grund für die in dieser Anfangsszene geschilderte Trennung von Pausanias, der sich in Athen mit dem von seinem Meister verhassten Rationalisten eingelassen hat319 – nach einem bewegten Wortgefecht erklingen im Szenenschluss sanftere Töne, das Lebewohl ist jedoch unvermeidbar. Die zweite Szene spielt dann auf dem Markt der ostsizilianischen Stadt und soll Empedokles aus der Perspektive seiner Anhänger und Gegner zeigen; dafür verwendet Pannwitz einen dramaturgischen Kunstgriff, indem er Empedokles inkognito erscheinen, im zeitweilig heftigen Meinungsaustausch die eigene Lehre verteidigen und den eigenen Tod am Rande des Vulkans bekannt geben lässt. Hauptkontrahenten sind zuerst der Aristokrat Alkiphron und der Dichter Hyakinthos, schließlich kommen auch einige Bürger zu Wort und vor allem Diogenes, der Empedokles scharf kritisiert, ja verspottet: Er ist Phantast. Kann gar nicht folgerecht Beweisen, urteilen, beobachten. Vier Elemente – kindlicher Gedanke! Und Haß und Liebe. Und was hat er denn Von sich? Ein ungeheuerlich Gemisch Aus allen Lehren. (II, 182–186)320

Der maskierte Empedokles antwortet hierauf mit einer langen philosophischen Rede, deren Finale ihm seinen Nachruhm garantiert: Er schwört, dass er den Empedokles Am höchsten Krater tot gefunden habe. Gewiß hat er sich in den Ätna stürzen wollen, Weil ers bei Menschen nicht mehr aushielt. (II, 279–282)321

|| 319 Pausanias wird auch deswegen scharf getadelt, weil er sich in die eleusinischen Mysterien einweihen ließ. Noch vehementer ist jedenfalls Empedokles Rüge mit Blick auf Sokrates: Der Jünger habe ihn verraten, bei dem er „in die Tiefen dringen [konnte], Die Wurzeln fassen alles ewigen Seins“, um „von Sokrates zu lernen daß / Man die Begriffe reinlich scheiden muß“ (I, 116–19). 320 Das Zitat ist charakteristisch für die das ganze Trauerspiel kennzeichnende Einarbeitung von Motiven und Begriffen der frühgriechischen Philosophie(-geschichte) in Rede und Widerrede der Bühnengestalten. 321 Dadurch nimmt er die Cataner erfolgreich für sich ein, die lauthals verkünden, der „Leichnam […] des heiligen Mannes“ soll „auf dem Markt […] bestattet werden“, denn „nur wir // Wir einzig haben Recht auf sein Grab“ (II, 288–291): Als Lebender umstritten, ist Empedokles schon vor seinem tatsächlichen Tod zum Ruhm- und Heilsbringer geworden.

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Die dritte Szene schildert den Ätna-Aufstieg, den Empedokles mit der Schwester und Geliebten Thea (einer an Hölderlin und Nietzsche angelehnten Mischfigur) unternimmt,322 und führt den Tod als Abkehr von den Menschen und als Wiedervereinigung mit der Natur „hinab ins sanfte Element“ (II, 322) vor.323 Die zweite Fassung, eine dramaturgisch etwas gelungenere, 1912–13 entstandene Überarbeitung,324 verarbeitet insgesamt verstärkt Nietzsche entlehnte Elemente, was u.a. mit der nachweislich erst 1908 erfolgten Lektüre der Geburt der Tragödie erklärbar ist, wo Pannwitz „Die Vision [...] eines Griechentums“ fand, „das mein Griechentum bestätigte und mich leidenschaftlich erregte“.325 Die Aufnahme in die Dionysischen Tragödien, ein explizit nietzscheanisches Projekt, ist dadurch gerechtfertigt.326 Die gesamte Gedankenwelt des Philosophen wird intensiv rezipiert; Empedokles wird zu einer gigantischen Gestalt erhoben. Genauso wie Dilthey die Empedokles-Figur

|| 322 Der Name Panthea, aus der die abgekürzte Form Thea stammt, ist bekanntlich schon in den antiken Quellen belegt für die von Empedokles geheilte Frau; bei Hölderlin erscheint sie zuerst in den ausgeführten Szenen, während sie dann im Personenverzeichnis der Dritten Fassung und in dem dazu gehörigen Plan als „Schwester“ der Hauptfigur angeführt ist. Aus Nietzsches Empedokles-Fragment könnte hingegen die Charakterisierung der Panthea als Geliebte stammen, die Empedokles bis an den Vulkanrand begleitet, wobei dort ein gemeinsamer Tod geplant war, zu dem es bei Pannwitz hingegen nicht kommt. 323 Diese Wiedervereinung mit der Natur wird durch die ganze Szene vorbereitet, indem letztere durch visuell-symbolische Elemente den Aufstieg als Grenzüberschreitung, aus dem Irdischem ins Göttliche, darstellt. Während des Aufstiegs stilisiert Empedokles seinen Tod zum einzigen Ausweg aus dem Weltüberdruss: „Es ist zu Sterben Zeit“ (3, 198). Dabei ist ein sich der Resignation ergebender Pessimismus zu spüren, dessen Spuren in der zweiten Fassung getilgt werden sollen, wenn Empedokles z.B. sein „Gedicht“, ja sein ganzes Denken als „große Sünde“ widerruft (20f.) und sich allgemein geringschätzig über die frühgriechische Dichtung und Philosophie ausspricht (84ff.). 324 Vgl. Pannwitz (1993) 134. Dort bezeichnet Pannwitz die neue als eine gegenüber der ersten „sehr veränderte“ Fassung. Der Anlass zur Überarbeitung dürfte die Chance gewesen sein, mit einem Band tragischer Dichtungen eine Werkausgabe bei dem Nürnberger Verleger Hans Carl zu eröffnen, der aufgrund seiner Bewunderung für Pannwitz den Verlag extra zu diesem Zweck gegründet hatte. Ebenfalls aus der Überarbeitung früherer Versuche entstanden drei weitere Dionysische Tragödien: Philoktetes, Die Befreiung des Oidipus und Der glükliche König Kroisos; Iphigenie mit dem Gotte wurde hingegen 1913 verfasst. 325 Vgl. Pannwitz (1993) 127. Mit Grundgedanken der tragödienästhetischen Schrift war Pannwitz bereits durch Studien über Nietzsche in Kontakt gekommen. Die direkte Lektüre wirkte aber äußerst anregend, das ganze tragische Quintett der Dionysischen Tragödien kann mit Werner Frick als ein unter dem Nietzscheschen Leitstern der „Fusion von Archaik und Avantgarde“ erfolgtes Unternehmen bezeichnet werden (Frick 1998, 59). 326 Jaeckle (vgl. Schuster 1993, 675f.) behauptet hingegen, dass „Pannwitz den ‚Empedokles‘ nicht als dionysisch gelten“ gelassen habe und dass „nur die weiteren vier Dramen […] als dionysisch eingestuft werden“ können. Dagegen sprechen neben der oben erörterten Eingliederung in die Dionysischen Tragödien auch die Aussagen des Autors, vgl. etwa Pannwitz (1993) 107 über die erste Fassung: „Das war freilich noch nicht die dionysische Tragödie, die weit später daraus erwuchs“.

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Hölderlins in der Perspektive Nietzsches als „Übermenschen“ gedeutet hatte, verfährt Pannwitz dichterisch. In seinem tragischen Helden verbinden sich mit typischen biographischen Interferenzen sowohl die Gedankenfigur des „Übermenschen“ und deren Pate, Zarathustra, als auch der bewunderte Mensch Nietzsche selbst und das nicht minder bewunderte autobiographische Ich. Die Makrostruktur und die Szeneneinteilung sind beibehalten, das so gut wie regelmäßige Metrum der ersten Fassung weicht hier jedoch einer freieren Handhabung. Insgesamt ist die Tragödie leicht kürzer als ihre Vorgängerin, die letzte Szene ist eindeutig knapper (und dramaturgisch prägnanter; resp. 253, 350 und 124 Zeilen).327 Auffällig sind die Veränderungen am Anfang und am Schluss: Die erste Szene wird von einem „Gespräch mit dem Schatten des Pythagoras“ eingeführt – vielleicht ein dramaturgisch von Hölderlins Manes-Szene auf dem Ätna inspirierter Eingriff, der jedenfalls thematisch auf eindeutig nietzschesches Terrain führt. In der heftigen Auseinandersetzung erscheint die Lehre des Empedokles in den Augen des ehemaligen Meisters als dionysisch, womit der in der ersten Fassung am Rande erwähnte Ausschluss des Empedokles aus dem Pythagoreischem Bund motiviert wird;328 das sich anschließende Gespräch des Empedokles mit Pausanias weist gegenüber der ersten Fassung nur geringfügige Änderungen auf. Stärker als in der vorigen Version tritt hier die Rückverbindung mit einigen in Hölderlins Fragmenten dargestellten Geschehnissen hervor: In Pythagoras’ Verwünschungen wird etwa von der Ablehnung der Königskrone in Agrigent berichtet – Pannwitz’ „Tragödienschluss“ liest diese Vorgeschichte eindeutig unter nietzscheanischen Vorzeichen.329 In der darauffolgenden Szene taucht Empedokles unverändert als Bettler maskiert auf dem Cataner Markt auf; die punktuellen Änderungen verstärken die Wirkung der zweiten Szene als Dramatisierung der Meinungsbildung über Empedokles zwischen Begeisterung, Tadel und Legende – fast wirkt es wie eine dramatisierte Doxographie.330 Nur erfährt die Hauptrede des Empedokles hier gewichtige Verände-

|| 327 Aus dieser zweiten Fassung wird mit bloßer Zeilenangabe zitiert. 328 Vgl. Pythagoras’ längste Rede (51–81), wo er Fehlhandlungen seines ehemaligen Schülers eingehend beschreibt und verdammt, indem er viermal den „Todfluch dir / ekles lasterhaftes tier Empedokles“ ausspricht. Dessen Hauptverbrechen ist die ‚dionysische‘ Enthüllung der pythagoreischen Geheimnisse: „Am tag vom sündgen gott Dionysos im wein berauscht / Zum tanze eines knaben hast du es im losen lied / Auf offnem markt vor frechem volk zerbrochen / gar verlacht“ (54–56). 329 Vgl. etwa 71–75, in denen Reminiszenzen an Nietzsches Empedokles-Fragmente aufscheinen: „Um finstre wildheit hast du priestermantel umgetan / // Im delphischen kranze bist du ihnen vorgeschritten / die // Dein schamlos treiben liebten / du das ihre : nun im prunk // Da du die krone lächelnd ausschlugst / in dem tempel dich / // Apollons bild wie lehm zertretend / sie ausschrieen: ‚unser gott!‘“ (Vgl. bei Nietzsche die Zertrümmerung des Pans und das Motiv der Vergöttlichung dessen, der die irdische Krone abschlug). 330 Nicht erst der maskierte Empedokles bringt hier die Nachricht seines Todes: Im Stimmengewirr des Marktes kursieren Legenden über das rätselhafte Geschehnis, die er zu seinem Nutzen verwertet.

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rungen. Diese sind sowohl stilistischer und thematischer Art aufgrund einer offensichtlichen Nietzscheanisierung331 als auch dramaturgischer Natur, denn diese Rede gipfelt in einem regelrechten coup de théâtre. Nach einer geschickten Umkehr aller Bezichtigungen, wobei er die ihm zugeschriebenen Fehltritte ins Positive wendet, indem er sie zu Taten einer aus der Menschenmenge herausragenden, ‚übermenschlichen‘ Persönlichkeit stilisiert,332 enthüllt Empedokles diesmal öffentlich seine Identität, wird daraufhin zum König ernannt und inszeniert seinen Todesgang: „Nun schwinde ich . ihr aber bleibt und betet / Bis euch nachtschauder aufschreckt [...] unangeblickt / Geht euer gott von euch“ (596–599). Viel stärker gerafft als in der ersten Fassung folgt nun als dritte Szene der ÄtnaAufgang. Empedokles ist nicht mehr lebensmüde und resignativ, sondern erscheint als Held eines nietzscheanisch übermenschlichen, noch im Tod lebensbejahenden Pessimismus. Das Gespräch zwischen den inzestuös verbundenen Geschwistern kreist immer noch um die Loslösung des Empedokles von menschlichen Belangen; darin ist jedoch keine Spur mehr von Resignation oder Lebenspessimismus zu finden. Schwärmend und nach den heimatlichen Elementen schmachtend, stürmt er zum Krater hinauf, wo Thea ihn „ragend und leuchtend“ (733f.) in schon übermenschlichem Triumph sieht. Sie ist schon weg, als er dann seine letzten Worte ausspricht „Ich aber Empedokles / bin genennet der Rasende“ (725). Die Tragödie schließt also nicht mit dem Sturz in den Vulkan, sondern eine Sekunde früher mit dem Bild des dionysisch hingerissenen, aufjubelnden Empedokles am Krater. Als die soeben erörterte zweite Fassung von Pannwitz’ „Tragödienschluss“ veröffentlicht wurde, befand sich die ‚Hölderlin-Renaissance‘ auf ihren Höhepunkt. Wenige Monate später konnte Norbert von Hellingrath noch vor dem Kriegsausbruch einen Privatdruck in hundert Exemplaren des epochemachenden vierten Bandes seiner die Gedichte 1800–1806 enthaltenden Ausgabe an auserlesene Empfänger wie Stefan George und Karl Wolfskehl, Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler, Rainer Maria Rilke und Georg Simmel schicken. Bereits 1913 war die historisch-kritische Ausgabe offiziell durch den ersten (Jugendgedichte und Briefe) und – noch wichtiger – mit dem fünften Band (Übersetzungen und Briefen 1800–1806) eröffnet worden. Seit 1910 waren Hellingraths Dissertation über Hölderlins Pindar-Übertragungen und diese sowie andere wichtige ‚neue‘ Hölderlin-Texte in Zeitschriften, allen voran in den Blättern für die Kunst, und in Anthologien veröffentlicht worden. Der seit geraumer Zeit bestehende, meist durch Nietzsche und Dilthey, Wolfskehl und George beeinflusste || 331 Vgl. etwa die Selbscharakterisierung des sich als Gesandten bezeichnenden Maskierten: „Ein sterbender spricht aus dem mund eines sterbenden / Ich segne mein volk als der lachende gott“ (479f.). 332 Empedokles deutet etwa seine politische Tätigkeit als Versuch, der Verrohung des Adels und der Bürger durch „die hefe des gemeinsten volkes“ (542) abzuhelfen. Auffällig Nietzscheanisch ist dabei die Stilisierung der Zerstörung zur ersten Stufe einer bevorstehenden Wiedergeburt, bei welcher der Zerstörer selbst ins Übermenschliche gesteigert wird (vgl. 553–556).

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Kreis von Hölderlin huldigenden Dichtern und Intellektuellen konnte also bisher unbekannte oder schwer zugängliche Texte vor allem aus der Spätwerk genießen; besagter Kreis erweiterte und differenzierte sich schnell, als etwa die Generation der Expressionisten hinzukam. Die Hölderlin-Forschung war zwar keineswegs ganz auf der Seite von Hellingrath und den Georgeaner – die Namen von Zinkernagel und Lange genügen zur Verdeutlichung und zur Erinnerung an die sich an Hölderlin entzündenden germanistischen Kontroversen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich teilweise die äußerst geringe Resonanz auf den Tod des Empedokles von Rudolf Pannwitz, der doch diese gleich seinen anderen Dionysischen Tragödien mit dem höchsten Anspruch ins literarische Feld lanciert hatte.333 Es ist schwer zu beurteilen, ob Pannwitz mit der Aktualität Hölderlins gerechnet hatte, als er auch den mit einem brisanten Namen verbundenen „Tragödienschluss“ bearbeitete und in den Tragödienband aufnahm. Dass eine Wirkung des Stücks ausblieb, hängt hauptsächlich von dessen literarischen Schwächen ab, von der nicht bühnenreifen Beschaffenheit der spröden und emphatischen Sprache sowie der lehrhaften populärphilosophischen Passagen. Deshalb verwundert es nicht, dass es nie zu einer Aufführung dieser und m.W. der anderen Dionysischen Tragödien gekommen ist. Auch das Aufflammen der Hölderlin-Begeisterung hatte jedenfalls Pannwitz’ Hölderlin-Operation sozusagen vorzeitig veralten lassen, und sie dadurch auch zur Wirkungslosigkeit verdammt. Anders als es etwa noch 1904 bei Ernst Hardt der Fall gewesen war, der in seinem erfolgreich auf der Bühne inszenierten Kampf ums Rosenrote auf einen Hölderlin-Effekt zwischen Sprachfaszination und Sensationslüsternheit zählen konnte (2.1.4), hatte sich die Rezeptionssituation auch nur ein Jahrzehnt später vollkommen gewandelt. Pannwitz ganz anders geartete, seriöse und anspruchsvolle Empedokles-Hölderlin-Nietzsche-Kontrafaktur kam zu spät. Denn die Zeit war reif für die dramatische und theatralische Rezeption einer direkten Bearbeitung der Empedokles-Fragmente Hölderlins, was auch sehr bald geschehen sollte. Paradoxerweise ist auch diese vor allem formale Unzeitgemäßheit von Pannwitz’ Empedokles ein Zeichen für seine Beispielhaftigkeit. Denn die in zwei Anläufen erfolgte Fortschreibung von Hölderlins Tod des Empedokles hat auch ein „Janusgesicht“, genauso wie der Autor Pannwitz.334 Einerseits kulminiert in ihr nämlich die Hölderlin-Linie innerhalb der europäischen Empedokles-Faszination zwischen Romantik und Moderne. Diese verlief seit dem Wunsch Achim von Arnims, „ein großes Talent“ würde einmal Hölderlins Werk vollenden, durch das 19. Jahrhundert und hatte durch Nietzsche eine charakteristische, bei Pannwitz dann markante Prägung bekommen, insofern bei ihm der Rückgriff auf Hölderlins Trauerspielfragmente den

|| 333 Noch geringer fiel die Resonanz des Zeitschriftenabdrucks der ersten Fassung aus. 334 Vgl. Rovagnati (2006), wo das Bild zur Charakterisierung der schillernden Persönlichkeit verwendet wird.

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Weg zur Wiederentdeckung einer archaischen, antiklassizistischen und ‚vorsokratischen‘ Antike weist. Andererseits markiert gerade das Ausbleiben der Wirkung von Pannwitz’ Bearbeitungen in dramatischer und theatralischer Hinsicht den Beginn einer neuen Phase der Empedokles- und der Hölderlin-Rezeption, in der auch die Trauerspielfragmente des nunmehr aus dem (vor allem lyrischen) Kanon nicht mehr wegzudenkenden Hölderlin einer Aufnahme ins Repertoire für würdig befunden werden – noch nicht allerdings in ihrer bruchstückhaften Beschaffenheit, sondern in einer für die Bühne bearbeiteten Form. Unter den nicht zahlreichen Lesern von Pannwitz’ Dionysischen Tragödien befand sich möglicherweise auch Hugo von Hofmannsthal, von dem die Überlegungen in diesem Kapitel über die Empedokles-Konjunktur nach 1900 ausgegangen sind. Seit 1907 bestand der briefliche Kontakt zu Pannwitz, der Hofmannsthal einige seiner Veröffentlichungen schickte. In Hofmannsthals Bibliothek sind die bereits 1906 erschienenen Charon-Hefte mit dem Empedokles-Erstling nicht zu finden: Trotz der zeitlich verblüffenden Nähe kommt Pannwitz also wahrscheinlich keine Bedeutung bei der im Herbst 1906 von Hofmannsthal erwogenen Idee zu, Empedokles „zum Gegenstand eines Dramas“ zu machen. In der Folgezeit jedoch dürfte Hofmannsthal Pannwitz’ „Tragödienschluss“ gelesen haben. Der Band der Dionysischen Tragödien ist in seiner Bibliothek verzeichnet, die Widmung des Verfassers bezieht sich auf die Begegnung im September 1917.335 Ein bedeutendes Datum: Bekanntlich sollte zwischen 1917 und 1920 die „Dichterkorrespondenz merkwürdiger Art“336 zwischen den beiden ihren Höhepunkt erreichen, als Hofmannsthal durch die Lektüre von Pannwitz’ Krisis der europäischen Kulltur regelrecht erschüttert wurde und in Briefen an deren Verfasser und an andere gestand, das Buch habe Epoche in seinem Leben gemacht. Dass Hofmannsthal auch das zweite ihm überreichte Werk des für eine Weile von ihm regelrecht vergötterten Pannwitz las („Er könnte mehr bedeuten als eine Universität“337), ist mehr als wahrscheinlich.338

|| 335 „Hugo von Hofmannsthal zur erinnerung | an den 6. und 7. september 1917 | in Fürberg am Abersee Rudolf Pannwitz“. Vgl. HW 40, 526. Anderswo beteuert Pannwitz, Hofmannsthal bereits 1913 den Band geschickt zu haben, anscheinend wurde er aber nicht erhalten (vgl. Hofmannsthal/Pannwitz 1993, 25). Eine der späteren Dionysischen Tragödien (eine verschollene Fassung der Befreiung des Oidipus) hatte Pannwitz bereits 1908 an den Sophokles-Bearbeiter Hofmannsthal geschickt, vgl. ebd., 9. 336 Stern (2006) 135. Auf den Aufsatz sei für die jüngste Rekonstruktion des Verhältnisses hingewiesen, vgl. ebd., 139 für einige Briefexzerpte. Siehe auch Rovagnati (2006) 10f. 337 Vgl. den Brief an Eberhard von Bodenhausen (3. Januar 1918) sowie Stern (2006) 139, Schmid (2003) 2, 1943. 338 In einem Brief vom 21. Juni 1918 nimmt Pannwitz Bezug auf die letzte Szene von seinem Tod des Empedokles und geht davon aus, dass sein Korrespondent die Stelle kennt (vgl. Hofmannsthal/Pannwitz 1993, 245). Schon früher hatte Hofmannsthal in jenem letzten Kriegsjahr durch Ottonie von Degenfeld erfahren, dass Pannwitz mit ihr und Dora von Bodenhausen im Schloss Neubeuern war und den beiden „herrlich“ aus dem eigenen Tod des Empedokles vorgelesen hatte (Brief vom 18. Februar 1918, vgl. ebd., 793f.)

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Der schon damals von den engsten Freunden Hofmannsthals und später in der Hofmannsthal-Forschung als suspekt betrachtete Umgang der beiden Dichter miteinander sollte nur kurz dauern, denn bei aller Bewunderung musste Hofmannsthal wie viele andere erfahren, wie schwierig ein intellektueller Austausch mit dem arroganten und zur Selbstkritik unfähigen Pannwitz war (Rovagnati 2006, 10f.); er sah sich gezwungen, den Kontakt abzubrechen. Aus seinem geistigen Bezugssystem verschwand Pannwitz jedoch nicht. Mancher Forscher vermutet mit gutem Recht, dass sich hinter dem „Ungenannte[n], dessen Umrisse“ Hofmannsthal seinen Zuhörern in der resonanzreichen Münchner Rede Das Schriftum als geistiger Raum der Nation „in die Luft hinzeichne[te]“, kein anderer als Pannwitz versteckte. Tatsächlich trägt die 1927 gezeichnete Figur dessen, der „mehr Prophet als Dichter, [...] ein erotischer Träumer, [...] eine gefährliche hybride Natur, Liebender und Hassender und Lehrer und Verführer zugleich“ ist (Hofmannsthal 1955, 401), viele Züge des früher bedingungslos Bewunderten. „Um ihn aber“, fährt Hofmannsthal dort fort, „in seiner empedokleischen Nacktheit schlägt unrealisierte Dichtung ihren Mantel, sein Hauptwerk ist ein nie geschriebenes, dem alles was er von sich gibt nur Prolegomena sind“ – Prolegomena einer „Umschöpfung seines Ich und damit einer Umschöpfung der Welt“ (ebd., 402). Der Hinweis des scharfsinnigen Diagnostikers Hofmannsthal auf die „empedokleische Nacktheit“ beschwört wohl nicht zufällig die Figur herauf, bei deren dramatischer Gestaltung als Übermensch Pannwitz auch vor einer Mythologisierung des eigenen Ich nicht zurückgeschreckt war. Er kann als weiteres Indiz dafür gelten, dass diese anonym gehaltene Beschreibung des Dichter-Sehers (auch) Pannwitz meint.339 Der „Mantel“ einer nie zum ersehnten Hauptwerk gelangenden literarisch-philosophischen Produktion umhüllt die archaische ‚vorsokratische‘ Urform des Dichtens und Denkens: Mit diesem Bild veranschaulicht Hofmannsthal virtuos den kühnen Anspruch und das bescheidene Resultat der dionysischen Operation Pannwitz’.

|| 339 Für die Identifikation der Figur mit Pannwitz vgl. Rovagnati (2006) 13 und Stern (2006) 138.

3 Ein Theaterjahrhundert. Hölderlin im Drama und auf der Bühne von den Uraufführungen bis zur Gegenwart 3.0 Einführung Den Mittelpunkt des folgenden dritten und letzten Teils dieser Untersuchung bilden die Rezeption und Transformation der Theatertexte Hölderlins von den Uraufführungen bis in die Gegenwart. Im Fokus der Rekonstruktion dieser hundert Jahre dramenund bühnengeschichtlicher Wirkung stehen Der Tod des Empedokles und beide Sophokles-Übersetzungen, wobei das Hauptinteresse dem deutschsprachigen Theater gilt. Berücksichtigt sowie an einzelnen herausragenden, die ganze Hölderlin-Rezeption prägenden Beispielen untersucht werden neben der Wirkung in anderen Sprachund Kulturräumen die Adaption nicht dramatischer Texte Hölderlins für die Bühne sowie sogenannte Dichterdramen. Die Forschungsgeschichte zum Empedokles und zu den Sophokles-Übersetzungen sowie allgemein die kritische und produktive Aufnahme Hölderlins, ja die gesamte, höchst facettenreiche Hölderlin-Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert bilden den Hintergrund der Rekonstruktion. Daher wird zwar auf einzelne, für das Theater besonders signifikante Erscheinungen punktuell Bezug genommen, sonst wird jedoch auf die einschlägige, in den letzten Dekaden intensiv betriebene Forschung in diesem Bereich verwiesen. Neben die für Teil I und II berücksichtigten Quellen historischer und literarischer Art wurden für vorliegende Sektion nunmehr auch die für theatergeschichtliche Untersuchungen typischen Quellen der Inszenierungsrekonstruktion herangezogen. Für die älteren Inszenierungen stehen meist nur indirekte metasprachliche Quellen zur Verfügung; die im Hölderlin-Archiv aufbewahrten Materialien zur Theaterrezeption bilden die Hauptquelle dieser Überlegungen, die allerdings keine Inszenierungsanalysen im theaterwissenschaftlichen Sinne darstellen sollen. Eine systematische Besprechung aller Adaptionen und Aufführungen von Texten von und über Hölderlin oder mit Hölderlin-Bezug zwischen 1916 und heute – schon rein quantitativ eine im Rahmen einer wie auch immer umfangreichen Untersuchung unmöglich zu leistende Arbeit – wurde nicht angestrebt und würde m.E. auch sehr opake Ergebnisse zeitigen. Anders als im ersten Jahrhundert der Rezeption, in dem im Kontext einer diffusen ‚Vergessenheit‘ im herrschenden Diskurs nahezu jeder einzelne Hinweis auf eine Auseinandersetzung mit Hölderlins Dramenkorpus als signifikant für die ‚trotz alledem‘ untergründig verlaufende Rezeption betrachtet werden konnte (2.1, 2.2), würde für das zweite Rezeptionsjahrhundert eine detaillierte Rekonstruktion Gefahr laufen, angesichts der Überfülle an Erscheinungen den Überblick über die Entfaltung der

https://doi.org/10.1515/9783110584714-004

200 | Ein Theaterjahrhundert dramatischen und theatralischen Nachwirkung zu verlieren und in der Folge bedeutende Rezeptionsfälle einerseits sowie ephemere Wirkungsepisoden andererseits nicht mehr klar voneinander differenzieren zu können. Hier sollen also an markanten Beispielen jene Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung herausgearbeitet werden, die entweder im jeweiligen Zusammenhang auf Resonanz stießen bzw. ein hohes künstlerisches Niveau aufwiesen, oder sich durch Rezeptionsmodi auszeichnen, die für die weitere Entwicklung oder für die Gesamtdarstellung der Rezeption von Bedeutung sind. So werden in 3.1 zuerst die Voraussetzungen (3.1.1), dann der Verlauf der Aufnahme im Theater der Kriegsjahre und der Weimarer Republik (3.2.2) und im nationalsozialistischen Deutschland (3.2.3) dargelegt. 3.2 ist der überaus intensiven dramatischen Rezeption und Bühnenpräsenz Hölderlins im Nachkriegstheater bis zur Wende gewidmet, wobei respektive in 3.2.2 die 1940–60er, in 3.2.5 die 1970–80er Jahre im Mittelpunkt stehen. Unter den vielen dramatischen Hölderlin-Transformationen für die Bühne des 20. Jahrhunderts, die mehr oder weniger eingehend erörtert werden können, wurden vier herausragende Beispiele aus der Feder führender Dramatiker zwischen Moderne und Postmoderne ausgewählt, welche zudem erlauben, die typologische Breite der Arbeit an Hölderlins Sprache im Drama und Theater aufzuzeigen. Bertolt Brechts Antigone (1948), Heiner Müllers Ödipus, Tyrann (1967), Peter Weiss’ Hölderlin (1971) und Elfriede Jelineks Wolken.Heim. (1988) sind dementsprechend gesonderte Kapiteln gewidmet (respektive 3.2.1, 3.2.3, 3.2.4, 3.2.6). 3.3 verschafft schließlich einen Überblick über gegenwärtige Tendenzen. Einzelne Forscher haben bereits Aspekte der Bühnenrezeption Hölderlins im 20. Jahrhundert untersucht. Auf die beträchtliche Sekundärliteratur zu einzelnen Dramenadaptionen und (quantitativ viel geringer) zu markanten Inszenierungen wird an entsprechender Stelle eingegangen. Was die Überblicksdarstellungen angeht, so können die Arbeiten Kindermann (1943) und Rüppel (1954, nur zum Empedokles) derzeit aus verschiedenen Gründen als überholt bezeichnet werden; nützlich sind sie für einzelne faktische Angaben, etwa zu sonst schwer zugänglichen oder durch Kriegsverluste verschollenen Quellen. Friedrich Beißners ebenfalls auf die EmpedoklesBühnenrezeption beschränkte Überlegungen (1964) verharren meist im polemischen Gestus des durch die theatralischen „Zerrbilder“ Hölderlins empörten Philologen. Hellmut Flashars 1991 erstmals erschienene, 2009 aktualisierte Untersuchung zum griechischen Drama auf der Bühne der Neuzeit bildet hingegen die Hauptreferenz für die Aufnahme von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen auf der Bühne, denen der Münchner Gräzist auch einzelne Essays gewidmet hat (vgl. insb. Flashar 1988 und Flashar 2011). Die jüngste Überblicksdarstellung über die Bühnenrezeption Hölderlins, Jörg Ennens Beitrag zum Ausstellungskatalog Hölderlin-Entdeckungen, geht verständlicherweise über eine Systematisierung partieller Forschungsergebnisse nicht hinaus (2008). Ein entsprechender Artikel im sonst die „Nachwirkungen“ facettenreich erörternden Hölderlin-Handbuch fehlt erstaunlicherweise (Kreuzer 2002).

Von den Uraufführungen bis zum NS-Theater | 201

Neben dem Versuch, einige Lücken der erwähnten Arbeiten zu füllen bzw. ungenaue, ja gar verzerrte Darstellungen zu berichtigen und einige Ergebnisse mit Blick auf bisher unberücksichtigte Quellen, neuere Forschungen sowie jüngere Rezeptionserscheinungen zu aktualisieren, zielt der hier vorliegende Überblick vor allem auf eine integrierte Rekonstruktion. Dabei werden unter Berücksichtigung von Kontinuitäten und Brüchen jene als sich gegenseitig beeinflussend und ergänzend zu betrachtende Sparten der Rezeption erörtert, die dem Empedokles- und dem Sophokles-Projekt Hölderlins zur öffentlichen literarischen und theatralischen Wirkung verhelfen, sowie andere, die nicht dramatische Werke Hölderlins mittels Adaption für die Bühne entdecken. Von einem methodologischen Standpunkt her werden dem Gegenstand entsprechend ‚traditionelle‘ philologische sowie literatur- und theatergeschichtliche Ansätze aus Theorie und Praxis der Intertextualitäts- und Intermedialitätsforschung und aus der Kulturwissenschaft zusammengeführt. Zentriert bleibt der Blick auf den literarischen Text und auf dessen theatralische Transformation bzw. Adaption (from page to stage), für dessen Erörterung zunächst die kultur- und kunsthistorischen, ideologischen und sozialpolitischen, editions- und forschungsgeschichtlichen Zusammenhänge konturiert werden.

3.1 Renaissance entre-deux-guerres? Von den Uraufführungen bis zum NS-Theater 3.1.1 Rhythmus üben und Schwung holen. Vorbereitungen eines Auftritts Goethes Sprache danke ihren Reiz der unangetasteten Innigkeit seines Gefühles, Hölderlin aber habe sich die Sprache selber mit ihrem Leibe, wie eine Geliebte hingegeben (Norbert von Hellingrath nach Bettina Brentano)1

Die Uraufführungen vom Tod des Empedokles (1916) und der beiden Sophokles-Übersetzungen (Antigone, 1919; Ödipus, 1921/22) stammen aus den Jahren während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Unverkennbar stellen sie bereits rein chronologisch das theatralische Pendant zu jener „Hölderlin-Renaissance“ dar, die in denselben Jahren in der Neuausgabe Hellingraths ihren Höhe- und für die weitere Entwicklung bedeutsamen Bezugspunkt fand. Müßig wäre die Frage, ob Hölderlins Theatertexte auch ohne jenen historischen Wandel, der in vielem auch ein Generationsphänomen war, je eine öffentliche Wirkung auf der Bühne hätten entfalten können. Tatsache ist, dass im begeisterten Klima der ‚Wiederentdeckung‘ dem Werk des Dichters (auch dem nicht ‚wiederzuentdeckenden‘, da bereits bekannten und geschätzten) sowie der Dichterfigur selbst ein Aktualitätsmoment zukam und Hölderlin

|| 1 Aus dem Vortrag Hölderlin und die Deutschen (1915), zitiert aus Hellingrath (1936) 128.

202 | Ein Theaterjahrhundert in verschiedenen kulturellen und künstlerischen Diskursen wirkungsmächtig machte – darunter auch im Theater. Diese allgemeine Hölderlin-Konjunktur, die, wie in den Ausführungen von Teil II gezeigt wurde, in der Rezeption des 19. Jahrhunderts wurzelte und gleichzeitig jedoch erst seit 1900 einen geeigneten kulturellen Nährboden fand, bildet den umfassenden Rahmen für Hölderlins Ankunft auf den Bühnen des 20. Jahrhunderts. Interessanter wird dieser Befund bei einem Blick ins Detail und durch eine damit verbundene Differenzierung des Gesamtbildes. Ist etwa für die Aufwertung der Sophokles-Übersetzungen, insbesondere mit Blick auf ihre sprachliche, auch performative Beschaffenheit, die Rolle Hellingraths kaum zu überschätzen, so lässt sich für den Tod des Empedokles eine Dynamik erkennen, die von einem anderen (auch chronologisch anderen) Verhältnis zwischen früher produktiver Rezeption, Renaissance um 1910 und Einzug ins Theater zeugt. Wie Hyperion und die frühen bis mittleren Gedichte, so stand nämlich auch der Empedokles nicht im Zentrum des infolge von Hellingraths Ausgabe neu erwachten Hölderlin-Interesses – beim Münchner Editor kann man etwa im die Gedichte 1800– 1806 beinhaltenden Band lesen, dass der späte Hölderlin, „nicht mehr durch den Hyperion oder die Dramen abgelenkt, ganz sich seinem eigentlichen Beruf, dem lyrischen und im Besonderen dem hymnischen Gedichte“ hingegeben habe, „so daß bei aller Größe das Frühere nur Vorbereitung, das Spätere nur als Nachhall erscheint“; was „im Empedokles den strengen Halt der Tragödie zu sprengen drohte oder gesprengt hat“, fügt Hellingrath fast erleichtert hinzu, werde im späten Schaffen „alles frei“ (Hell. 4, 109f.). Die wesentlich auf das späte lyrische und übersetzerische Werk konzentrierte „Renaissance“ trug freilich trotzdem dazu bei, die einigen Lesern bereits sehr gut bekannten und punktuell auch produktiv rezipierten Tragödienbruchstücke einem erweiterten Wirkungskreis zuzuführen, der durch die allgemeine Hölderlin-Begeisterung auch den Empedokles einschloss. Mit Beginn der Theaterrezeption erweiterte sich dann dieser Wirkungskreis beträchtlich. Dies alles geschah sozusagen im Kielwasser der „Hölderlin-Renaissance“ und auch chronologisch etwas später als für andere Werke Hölderlins – nicht von ungefähr erschien der den Tod des Empedokles beinhaltende Band von Hellingraths Ausgabe erst 1922 (Hell. 3). Auch in die seit Jahrhundertbeginn zahlreich erscheinenden Einzelausgaben von Hölderlins Werken fand der Empedokles bis in die 1920er Jahre hinein bis auf eine nun zu besprechende Bühnenbearbeitung keine Aufnahme.2

|| 2 Den dritten Band der historisch-kritischen Ausgabe, der neben den Trauerspielfragmenten auch den „philosophischen Nachlaß“ und einen Teil der Briefe enthielt, gab Ludwig Pigenot heraus, vgl. Hell. 3. Der erste gesonderte Druck vom Tod des Empedokles erfolgte 1920 (Hyperion-Verlag, München; erste Fassung); davor waren Empedokles-Bruchstücke oft in Gedichte betitelten Ausgaben abgedruckt worden.

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Dies hing sicherlich auch mit dem Umstand zusammen, dass das Werk bruchstückhaft geblieben war und den Verlagen dementsprechend keine konsensfähige Rekonstruktion der Fassungen vorlag. Auch nach 1900 wirkt die fragmentarische Beschaffenheit des Trauerspiels ambivalent, so wie es bereits für die Rezeption im 19. Jahrhundert bezeichnend war: Einerseits regt sie zu vielerlei produktiven Auseinandersetzungen an, andererseits verhindert sie, dass sich die Wirkung des Stücks sowohl im editorischen und kritischen als auch im dramatischen und theatralischen Bereich voll entfalten kann. Als Wilhelm von Scholz 1910 seine Empedokles-Bearbeitung und ‚Einrichtung‘ „für eine festliche Aufführung“ bei Insel veröffentlichte,3 trat die Ambivalenz vom auf Hölderlins Tragödie applizierten Begriff des Fragmentarischen besonders klar hervor.

Abb. 1: Der Tod des Empedokles (Stuttgart 1916). Regie: W. v. Scholz

|| 3 Vgl. Scholz (1910). Durch die späteren Inszenierungen dieser Bearbeitung ist der Umstand zu erklären, dass sie bis in die 1950er Jahre hinein mehrmals wiederaufgelegt wurde, meist als Bühnenmanuskript.

204 | Ein Theaterjahrhundert

3.1.1.1 „Trümmer eines antiken Tempels“. Wilhelm von Scholz und seine Empedokles-Bearbeitung Der 1874 in Berlin geborene Wilhelm von Scholz, der in jenen ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts Paul Ernst nahe stand und sich der so genannten „Neuklassik“ verschrieb,4 sollte nach seiner Abwendung von dieser ästhetischen Position die Spielleitung des Stuttgarter Schauspielhauses übernehmen und besagte Hölderlin-Bearbeitung zweimal inszenieren – beim ersten Mal handelte es sich um die bereits mehrmals erwähnte Uraufführung. Dem später bekennenden Nationalsozialisten und offenen Antisemiten, einer heute noch sehr umstrittenen Figur,5 gebührt eine wichtige Rolle bei der Bühnenrezeption des Empedokles; seine Bearbeitung wurde bis 1945 an mehreren Bühnen wiederaufgenommen, vereinzelt auch nach dem Krieg, als der lediglich als Mitläufer eingestufte Scholz es noch zu hohen Würden brachte: So übernahm er 1949 die Präsidentschaft des Verbandes Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten und wurde mit verschiedenen Auszeichnungen geehrt. Sowohl im Nachwort der 1910 veröffentlichten Empedokles-Bearbeitung als auch in späteren autobiographischen Erinnerungen an seine Begegnung und Auseinandersetzung mit Hölderlins Trauerspiel legt Scholz großes Gewicht auf das Fragmentarische. Wie ein Vergleich zwischen deklarierter Intention, konkreter Realisation und späterem Rückblick zeigt, fußt seine ganze Operation auf der Dialektik zwischen der Bruchstückhaftigkeit der überlieferten Texte Hölderlins und dem Streben nach Herstellung einer Einheit durch die eigene Bearbeitung, die Scholz als eine Art Restitution des ursprünglichen Gestaltungswillens im Sinne des Dichters versteht. Das Fragment ist in seinen Augen nicht zuletzt deswegen faszinierend, weil es eine Ganzheit erahnen lässt und förmlich nach einer Vervollständigung verlangt. Formuliert ist diese Auffassung etwa in Mein Leben (1934), wo die Aufgabe, Hölderlins Bruchstücke zu einer Einheit zu formen, als hingebungsvoll erfüllte Mission dargestellt wird: Ich fand die Trümmer eines antiken Tempels im Grase liegen und richtete sie nun ohne Zutaten so auf, daß ein Bild ihrer einheitlichen Wirkung im Geiste des Dichters sichtbar und erschütternd fühlbar ward. (Scholz 1934, 25)

Ein nahezu gleichgetöntes Bild rekurriert im späteren ebenfalls autobiographischen Band Mein Theater, wo vom Empedokles als von „eine[r] der herrlichsten Bühnendichtungen“ die Rede ist, „die – wie eine im Gras verstreute Gruppe von Trümmern eines erhabenen Tempels – seit mehr als hundert Jahren ihrer Erweckung harrte, auf das Theater zu stellen“. Auch hier liegt Scholz offensichtlich viel daran, die eigene

|| 4 Paul Ernst (zu dessen Hölderlin-Rezeption vgl. oben, 2.1.4) und Scholz sind sich bereits 1903 begegnet; auf das Jahr 1914 wird Scholz’ Loslösung von dem neuklassizistischen Bund (Ernst und Samuel Lubinski) datiert. Vgl. zur literaturgeschichtlichen Kontextualisierung Sprengel (2004) 531–537 und speziell auf Scholz bezogen Gnosa (2013). 5 Eine nicht einfach zu ziehende Bilanz versucht der Sammelband Bosch/Kopitzki (2013).

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Arbeit am Text als einen Dienst am Dichter zu schildern, bei dem ihm selbst lediglich die Rolle eines Restaurators der antik anmutenden Ruine zukomme: Seine sei eine „lediglich ordnend[e], zusammenfügend[e] Bearbeitung der Bruchstücke“ gewesen, die „dieser gewaltigsten Todeshymne, Recht und Möglichkeit, auf der Bühne zu erklingen“, gegeben habe (Scholz 1964, 76f.). Der Vergleich von Hölderlins fragmentarischem Trauerspiel mit antiken Trümmern kann angesichts der im Teil II dieser Arbeit erörterten Empedokles-Rezeption um 1900 kaum verwundern, ebenso wenig der in den späten Aussagen implizit enthaltene Umstand, dass auch für Scholz um 1910 die mit Hölderlin in Verbindung gebrachte Antike mit Nietzsche ‚dionysisch‘ gedeutet wird, wie aus den Nachbemerkungen Scholzens zu seiner Bearbeitung klar hervorgeht. In ihnen war Scholz auch genauer (und weniger rhetorisch verbrämt) auf die eigene Bearbeitung eingegangen, die keineswegs „ohne Zutaten“ bzw. „lediglich ordnend und zusammenfügend“ erfolgte. Die späteren verharmlosenden Charakterisierungen des eigenen Anteils sind wohl auch als Abwehrmaßnahmen gegen die vielen Bedenken zu verstehen, die trotz der häufigen Weiterverwendung seiner Bearbeitung gegen seine „gewaltsame“ Herangehensweise an Hölderlins Fragmente laut wurden.6 Bereits in der Widmung der eigenen Bearbeitung an Katharina von Saalfeld erläutert Scholz den Zweck seiner Operation: Sie sei ein „Versuch, eine unsrer schönsten dramatischen Dichtungen für die Bühne zu gewinnen“ (Scholz 1910, 5). Spätere Kritiker haben dieses klar ausgesprochene Ziel zu wenig berücksichtigt, benennt Scholz hier doch deutlich zwei für jene Zeit keineswegs selbstverständliche Grundannahmen, die seine tatsächlich stark in den Originaltext eingreifende Arbeit in vielem erklären, wenn auch nicht prinzipiell rechtfertigen. Erstens bezeichnet er Hölderlins Tod des Empedokles als ein hochkarätiges dramatisches Werk und stellt sich damit in die nicht sehr viele umfassende Reihe derer, die seit Achim von Arnim die dramatische Qualität des Trauerspiels zu würdigen wussten – noch um 1910 waren selbst viele Hölderlin-Verehrer anderer Meinung.7 Zweitens expliziert hier Scholz – meines Wissens zum ersten Mal in der gesamten Rezeptionsgeschichte – die fürs Theater des 20. Jahrhunderts immer selbstverständlicher werdende Vorstellung, dass jeder dramatische Text mit Blick auf eine Realisation auf der Bühne einer dramaturgischen

|| 6 Laut Seebaß (1922) 16 ist die Bearbeitung von Scholz „grundsätzlich wegen Gewaltsamkeit abzulehnen“; ähnlicher Meinung waren viele weitere angesehene Hölderlin-Forscher von Kluckhohn (1944) 7 bis Beißner (1964) 55. Rüppel (1954) 72–91, bei dem ein gegenüber Scholz stark apologetischer Unterton zu hören ist, betont, dass spätere Empedokles-Bearbeiter der NS-Jahre sich kritisch über Scholz geäußert haben, etwa Paul Smolny und Walter Kordt. Letzterer erwähnt Scholz als einen Bearbeiter, der „sich nur dadurch zu helfen gewußt [hat], daß sie weitgehend mit eigenem zugefügten Text zusammenzuflechten versuchten, was sich nicht ohne weiteres angleicht“ (Kordt 1948, 99). 7 Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist Paul Ernst, der am 30. Juni 1910 an seinen Freund Scholz schrieb: „ich kenne deine Bearbeitung ja nicht, halte die Sache aber apriori für dramatisch unmöglich“ (zitiert aus Kelletat 1968, 274).

206 | Ein Theaterjahrhundert Transformation bedarf. In diesem Sinne ist auch die Gestaltung der Titelei zu verstehen, wo die Verben „bearbeitet“ und „eingerichtet“ den Modus der Transformation bezeichnen: den einer Umgestaltung mit Blick auf „eine festliche Aufführung“. Damit fällt Scholz wohlgemerkt nicht dem Vorurteil anheim, dass es sich um ein Lesedrama handele, weshalb Hölderlins Fragmente einer ‚Einrichtung‘ bedürftig seien. Ganz im Gegenteil spricht er ihnen starke performative Kraft zu: Scholz’ Bühnenbearbeitung aus dem Jahr 1910 markiert den Beginn einer Reihe von mehr oder weniger gelungenen, mehr oder weniger tief eingreifenden Bearbeitungen von Hölderlins Theatertexten, die gerade von der performativen Kraft von Sprache und Dramaturgie des Dichters ausgehen. Prämissen, Vorgehensweise und Wirksamkeit der Bearbeitung von Scholz sind sicherlich diskutabel – wie auch bei nachfolgenden Adaptionen – und unter einem rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkt am ehesten verständlich. Der Beschaffenheit und der Bestimmung solcher Textformen zwischen Literatur und Theater jedoch nicht gerecht werden a priori vorgenommene Ablehnungen jedweden Eingriffs in den Text, die philologische Kategorien auf produktive Rezeptionsformen applizieren, als ob es sich etwa um Editionen handelte, bzw. einem kunstreligiösen Verständnis von Autor und Werk frönen, in dem sowohl für die Beurteilung von Bearbeitungen als auch von Inszenierungen lediglich die Bewahrung des dichterischen Wortes als Kriterium gilt.8 Hierbei handelt es sich um tief verwurzelte Vorurteile, die vornehmlich für die ersten Jahrzehnte der Bühnenrezeption Hölderlins wirksam sind. Sie kennzeichnen allerdings nicht nur die vielen kritischen Stellungnahmen zu Publikationen und Aufführungen, sondern bestimmen auch einzelne besonders konservative Rezeptionsfälle. Nicht von ungefähr spürten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Scholz und Bertolt Brecht, der über dreißig Jahre später Hölderlins Antigone nach seiner Façon bearbeiten sollte, ein ähnliches Bedürfnis, solcher Voreingenommenheit vorzubeugen. Liest man bei Scholz 1910, dass seine „Bearbeitung keinen philologisch-wissenschaftlichen, sondern nur künstlerischen Wert für sich in Anspruch nehmen kann“ (90), so sollte Brecht in seinem Antigonemodell 1948 in gewohnt krasser Manier Leser und Publikum warnen: „Philologische Interessen konnten nicht bedient werden“ (GBA 25, 75). Wie verfuhr nun Scholz, um die ihm verfügbaren Empedokles-Fragmente für die Bühne zu bearbeiten und einzurichten?9 Laut eigener Aussage hat er zwei Ausgaben

|| 8 Man liest etwa bei Kluckhohn (1944) 5: „Nur die Fragmente des Dichters sprechen zu lassen als ein hymnisches Feierspiel mehr denn als ein Drama, das dürfte vielleicht Bearbeitungen vorzuziehen sein, die wie die von Wilhelm v. Scholz verschiedene Fassungen und damit auch Auffassungen vermengen“. 9 Die Forschung hat Scholz’ Bearbeitung kaum im Detail analysiert, darum wird sie oben eingehend erörtert. Lediglich bei Rüppel (1954) sind Überlegungen dazu zu finden, die dem engen Kontakt zu Scholz einerseits ihren Detailreichtum und ihr Insiderwissen verdanken, andererseits aber auch hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von der Selbststilisierung des Autors Schwächen aufweisen. Ansonsten wird Der Tod des Empedokles nur kurz am Rande von Erörterungen zum dramatischen Schaffen und

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benutzt, und zwar Litzmann junior und Böhm (Scholz 1910, 90); beiden recht unterschiedlichen, da zwei gegensätzlichen Auffassungen hinsichtlich der Tragödienstruktur verpflichteten Textkonstitutionen, hat er Passagen entnommen. Rudolf Rüppel hat zu Recht betont, dass sich Scholz mit seiner „ganzheitliche[n] Betrachtungsweise“ eher der Position eines Litzmann und vor allem jener der von ihm nicht erwähnten Marie Joachimi-Dege näherte (Wilhelm Böhm hat nicht zufällig gegen die „Zusammenführung der Fragmente“ bei Scholz protestiert, vgl. Rüppel 1954, 73). Wie gezeigt wurde, ließ sich Scholz jedoch nicht durch editorische Überlegungen leiten, sondern folgte vielmehr seiner Intention, aus den Bruchstücken eine Art Urform zu rekonstruieren, die zwar nicht vorliegt, die jedoch, wie er im ersten Abschnitt seines Nachworts nachdrücklich erklärt, „in dem Geiste des Dichters eine noch deutlich erkennbare, langsam sich wandelnde Einheit gebildet [hatte], deren Wesen von den Umgestaltungen der äußeren Handlung wenig berührt worden war“. Die Fragmente, dessen ist der jene vermeintliche Einheit erahnende Scholz sicher, „lassen sich ohne Gewaltsamkeiten in Folge und Zusammenhang ordnen“ (Scholz 1910, 84). Ironie der Geschichte: Gerade einer solchen ‚Gewaltsamkeit‘ gegenüber den Bruchstücken sollte er dann bezichtigt werden. Jedenfalls fühlt sich Scholz zum Eingriff in den Text gerade deswegen berechtigt, weil er das Erlebnis des Dichters nachvollziehen und dementsprechend seinen Intentionen folgen zu können glaubt. Die Hölderlin angeblich vorschwebende totalisierende Einheit sei letzten Endes ein inhaltlicher Keim, eine bei allen Umgestaltungen gleichbleibende Grundcharakterisierung von Person und Handlung, nämlich die „innerlich freie, liebe Ablösung eines hohen, dionysisch erregten Menschen vom Leben“, so Scholz, in der „ein todesbetrunkenes Bejahen alles Daseins, der Gesamtheit des Daseins!“ unverkennbar sei (84f.). Unverkennbar ist die Abhängigkeit dieser Empedokles-Lektüre wie auch des Dichtungsverständnisses im Zeichen des „Erlebnisses“ selbst von Dilthey (und über diesen vermittelt von Nietzsche). Wie Dilthey sieht Scholz Hölderlins Drama in der Nähe der „sinkenden Handlung“ einiger antiken Tragödien (88f.) und signalisiert zugleich dessen Distanz gegenüber der „realistischen Befangenheit“ geltender, „steigender“ Formen, wodurch er eine zeittypische Vorstellung von Hölderlin als antiklassizistisch-antikem und unzeitgemäßem Dichter vertritt. Empedokles wird in diesem Sinne als „griechisch-romantisch gedichtete[s] Dionysosspiel“ bezeichnet (89). Anders als Dilthey jedoch geht Scholz über die literarische und philosophische Dimension des Dramas hinaus und zieht aus seinen Überlegungen Konsequenzen für die Bühnenwirksamkeit von Hölderlins Empedokles. Der „religiös-festliche Charakter“ antiker Inszenierungen habe im Unterschied zum zeitgenössischen Theater jener besonderen Form der „sinkenden Handlung“, ihrer „feierlich-pathetische[n], dekorative[n] Linie des Geschehens“ einen passenden Rahmen verliehen; daraus leitet

|| zur Stuttgarter Intendanz von Scholz (vgl. Edmenger 2013) oder zur Hölderlin-Rezeption im Drama und Theater des frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Schuhmann 2010, 233) erwähnt.

208 | Ein Theaterjahrhundert Scholz die Schlussfolgerung ab, dass auch hinsichtlich des Empedokles erst „im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung [...] seine dramatische Kraft, die unter dem Rankenwerk allzuvieler, wenn auch schönster Worte nur verborgen ist, ergreifend sichtbar“ wird (89). Scholz plädiert hier wohlgemerkt für eine Balance zwischen der poetischen Qualität der Sprache und deren „dramatischer Kraft“: Anders als beim Lesen wäre beim Hören – auf diese akustische Ebene zentriert Scholz hier seine Gedanken – „das unsterbliche Leben dieser, die Handlung webenden herrlichen Dialoge“ spürbar; „das Geschehen auf der Bühne würde den Hörer unermüdet durch den Wohllaut der Verse dahintragen“. Wie Scholz unter Bezugnahme auf den auch bei Hölderlin zentralen Begriff des „Lebendigen“ nahezulegen scheint, ist „[e]in neuer Genuß an der unvergleichlich lebendigen Sprache Hölderlins“ erst durch eine Aufführung dieser für eine performative Wiedergabe geschriebenen Verse möglich (89). Erst nachdem er die eigene formale und inhaltliche Deutung des Dramas und in diesem Zusammenhang seine Überlegungen zur Aufführung dargestellt hat, geht Scholz genauer auf die Vorgehensweise bei der Bearbeitung der Fragmente ein. Dabei nennt er fast alle Modi seines Eingriffs in den Text, nur nicht die allgemeine Strukturierung in zwei Aufzügen zu jeweils acht Auftritten: Eine offensichtlich auf eine ausgeglichene Komposition hinzielende Entscheidung, die nie explizit erklärt, sondern nur ex negativo mit der Verwerfung des fünfaktigen Plans Hölderlins begründet wird. Auch kleinere Interventionen, auf die noch zurückzukommen ist, werden von Scholz nicht ausdrücklich erwähnt. Seine Bearbeitung ordnet die Bruchstücke, faßt aus Parallelszenen die dramatisch wirksame Momente in einer Szene zusammen, schiebt die von Hölderlins fortschreitenden Änderungen nur äußerlich überflüssig gemachten früher ausgeführten Auftritte an ihrer Stelle dem größten der Bruchstücke, mit den notwendigsten kleinen Änderungen, ein, stellt einige Male, um das Interesse der Zuschauer wach zu erhalten, Szenen [...] um und kürzt die alles Geschehen überwuchernden lyrischen Reden so weit, daß der Zusammenhang noch sichtbar, die lebendige Anteilnahme des Zuschauerwillens am Drama erhalten bleibt. (89f.)

Seine makrostrukturellen Eingriffe bestehen also vornehmlich aus dem (Neu-)Arrangement und der Streichung von Passagen, wobei „einige weitere Kürzungsmöglichkeiten“ mit eckigen Klammern gekennzeichnet und dem jeweiligen Regisseur überlassen sind. Mit Bezug auf die heute geltende Textkonstitution entspricht der erste Aufzug bei Scholz ungefähr dem ersten Akt der ersten bzw. zweiten Fassung, wobei Empedokles’ Gespräch mit den Sklaven als sechster Auftritt vor die Szene mit Kritias gerückt wird, die ihrerseits als siebter Auftritt auch den nachfolgenden Monolog des Empedokles beinhaltet. Der zweite Aufzug hingegen präsentiert die Geschehnisse auf dem Ätna und arbeitet die drei Szenen der dritten Fassung in jene aus den früheren Niederschriften ein. Hinsichtlich weiterer Eingriffe in den Text ist Scholz weniger genau. „An selbständigen Zusätzen“, versichert er, „ist die Bearbeitung ganz arm“. Nur einmal habe

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er einen ganzen Vers hinzugefügt, sonst lediglich einzelne Worte, und dies hauptsächlich um gestrichene Stellen zu ersetzen. Tatsächlich hat man hingegen tiefergehende Interventionen festgestellt (bereits bei Rüppel 1954, 77ff.); Scholz selbst weist vage auf die vielleicht gravierendste hin, wenn er mit Blick auf den Schluss schreibt: „Eine Szene ist durch bloße Streichungen leise in ihrem Gehalt gewandelt worden: die letzte, die jetzt nicht mehr eine Erwartung des etwa wiederkehrenden Empedokles enthält, sondern wie ein Chor seinen Tod begleitet“ (90). Genau besehen stellt der achte Auftritt des zweiten Aufzuges ein gutes Beispiel für Scholz’ stark eingreifende Bearbeitungsart dar, die es nun zu beschreiben gilt. Am Anfang tritt Empedokles allein auf und spricht mit den Worten „Jupiter Befreier“ beginnend seinen Monolog, den man heute als drittletzten Auftritt der ersten Fassung kennt. Mehr als die (wenigen) Streichungen sind Scholz’ Regieanweisungen, welche die Dramaturgie stark verändern: Durch knappe Angaben („er beginnt in die Felsen zu steigen“; „steigt rasch weiter und bleibt dann stehen“; „steigt wieder“) wird die Szene zu einem Selbstgespräch während des Vulkanaufstiegs (81). Nach den Versen „Die Schwere fällt und fällt, und helle blüht / das Leben, das ätherische, darüber“ – ein Einsprengsel aus der Zwiesprache mit Pausanias aus der dritten Fassung – wird dann (wieder per Regieanweisung) der bei Hölderlin nicht dargestellte Gang in den Ätna dargestellt: „Er verschwindet in den Felsen, die von rückwärts Abendrot zu bestrahlen beginnt [sic!]“ (82). Bei dieser letzten Tat – laut Scholz einem lebensbejahenden Todesakt – ist Empedokles nicht mehr allein, denn in dem Auftritt verschmilzt der Bearbeiter bei Hölderlin aufeinanderfolgende Szenen zu einer einzigen dramatischen Situation: Während Empedokles seinen Monolog gerade beendet, treten unbemerkt Panthea und Delia auf, „bleiben erschrocken stehen“ und kommentieren dann mit verschiedenen Fragmenten entnommenen Versen das Hinscheiden der Hauptfigur; sie werden schließlich von Pausanias eingeholt. Auch in diesem zweiten Szenenabschnitt skandieren die Regieanweisungen das Geschehen bis zur Apotheose, wenn Pausanias „auf die untersten Felsenstufen“ tretend und „in das verglühende Licht“ blickend, seinen Abschied nimmt: „So gehest du festlich hinab, / du, das Gestirn, und trunken / von deinem Lichte glänzen die Täler“. Bei Hölderlin war der Passus in der dritten Person gehalten und mit einem Fragezeichen versehen; hier wendet sich der Schüler direkt an den Meister, um dann „niederknieend“ die letzten, ebenfalls von der Vorlage leicht abweichende Worte auszusprechen: „Groß ist die Gottheit / Und der Geopferte groß!“ (83).10 In dieser abschließenden Szene offenbart sich der Bearbeitungsstil von Scholz hinsichtlich seiner Intentionen sehr klar: Die dramatischen Passagen werden, auch

|| 10 Für den Wortlaut der Hölderlin-Zitate und -Variationen in der oben besprochenen letzten Szene der Bearbeitung vgl. heute StA 4, 80f.; 142; 117; 637 (Lesarten); freilich musste Scholz auf andere Textkonstitutionen zurückgreifen.

210 | Ein Theaterjahrhundert gegen ihren ursprünglichen Zusammenhang, zum Ausgangspunkt einer dramaturgischen Einrichtung, die den Erfordernissen einer wirksamen Aufführung den Vorrang vor anderen Kriterien gibt. Wohlgemerkt spielen Hölderlins Verse sowohl in ihren poetischen Bildern als auch in ihrem performativen Verweis auf Gestus und Handlung eine zentrale Rolle in Scholz’ Transformationsstrategie: Dessen die Struktur eigenwillig prägende Eingriffe gehen von der evokativen Kraft der Sprache aus und geben die Richtung für die transmediale Überführung in eine Inszenierung vor. Streichungen samt kleinen Abänderungen, Umstrukturierungen und neu eingefügte Regieanweisungen dienen diesem Zweck. Von ‚Gewaltsamkeit‘ zu sprechen, wird der produktiven Art der Transformation nicht gerecht. Vielmehr entwickelt Scholz aus Hölderlins Fragmenten eine Dramaturgie, die einige den Versen innewohnende performative Elemente variierend herausarbeitet. Dass es sich dabei um eine Bearbeitung und Einrichtung handelt, wird im Paratext korrekterweise angekündigt. Noch ein Beispiel aus dem bereits erörterten Schluss soll dies illustrieren. Die im ersten Szenenabschnitt eingefügten Regieanweisungen stellen Versuche dar, aus den von Empedokles im Monolog verwendeten Ausdrücken und Bildern Gesten und Handlung abzuleiten. So geht die Anweisung „er beginnt in die Felsen zu steigen“ unmittelbar den Versen voraus: „Ich komme. Sterben? nur ins Dunkel ists / ein Schritt [...]“. Auch unmittelbar darauf entspricht Scholz’ Einfügung „steigt rasch weiter und bleibt dann stehen“ dem dichterischen, aufsteigenden Bild der Flamme, die „freudig quillt / aus mutger Brust“ und dem darauffolgenden reflexiven Innehalten: „Schauderndes / Verlangen“. Schließlich kommt das „steig wieder“ im letzten Teil des Monologs, wo sich Empedokles sicher ist, nur mehr seine „Opferstätte“ aufsuchen zu wollen (81, vgl. StA 4, 80f.). Alles zielt also auf die Bühnenrealisation hin. Scholz stellt bereits 1910, als eine konkrete Aufführung noch nicht in Sicht war, im Abschlussteil seines Nachworts einige Überlegungen zu Regie, Bühnenbild und -Musik an, was seine ausgesprochen produktiv und praktisch ausgerichtete Auseinandersetzung mit Hölderlins Drama bestätigt. Allgemein erwägt er einen antirealistischen „Stil des Spiels“, der durch „dekorative Stilisierung“ des Bühnenbildes und durch eine plastisch-antike Sprechen und Gebärde besonders betonende Spielweise zu verwirklichen sei (91f.). Das akustische-performative Moment ist für ihn auch bei einer künftigen Inszenierung besonders wichtig; die dem „Sprachrhythmus“ zugewiesene Bedeutung und die „feierliche Musik“, die sich Scholz als Begleitung wünscht, verweisen in seinen Schlussüberlegungen auf den Wunsch des Bearbeiters nach einer festlichen, an antike Verhältnisse erinnernden Aufführungsart und treten damit ergänzend zu der bereits erwähnten Favorisierung einer Darbietungsart, die Hölderlins „lebendige Sprache“ dem Publikum wirksam nahebringt (94). Dadurch gibt Scholz einer Auffassung Ausdruck, die in den ersten Jahrzehnten der ganzen Hölderlin-Rezeption weit verbreitet war.

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3.1.1.2 Sprache und Rhythmus bei Norbert von Hellingrath Mit seinen Überlegungen zum Sprachrhythmus und seiner Aufmerksamkeit gegenüber der akustischen Wirkung von Hölderlins Sprache tritt Scholz unversehens in den Aktionsradius der um Hellingrath gepflegten ‚Hölderlin-Renaissance‘, obgleich seine Kontakte zu diesem Kreis ansonsten eher lockerer Natur waren. Anders als es jedoch bei Scholz (und noch bei Dilthey) der Fall war, war es nach 1910 vor allem der späte Hölderlin der „harten Fügung“, der aus solcher sprachlichrhythmischen Perspektive ‚neuentdeckt‘ und rezipiert wurde: der späte Lyriker, der Pindar- und – für unsere Rekonstruktion von grundlegender Bedeutung – der Sophokles-Übersetzer. Rhythmus, wie hier nur beiläufig erwähnt werden kann, war ein Schlüsselwort verschiedener künstlerischer und theoretischer Diskurse um 1900, das in zeittypischer Weise transmedial gültige unterschiedliche Facetten hatte. Was die Hölderlin-Rezeption angeht, konnte schon im Teil II die teils untergründige Filiation des Begriffs aus Bettinas Gnome „Alles ist Rhythmus“ bis zu Dilthey und darüber hinaus nachgezeichnet werden. Bei allen begrifflichen Schwankungen konstant bleibt die Verknüpfung von Hölderlins eigenartig rhythmischer Sprache mit deren Wirkung: einer Wirkung, die dem Leser und, wie in manchen Rezeptionsfällen bereits um 1900 verdeutlicht wird, auch dem Zuhörer bzw. Zuschauer gilt. Mehr oder weniger genaue Rückverweise auf Hölderlins Rhythmus-Begriff in den Sophokles-Anmerkungen, in denen solche performative Ebene durchaus mitgedacht war, sind punktuell zu finden. Jedenfalls gilt bei den Autoren um 1900 der Rhythmus-Begriff sozusagen als Passepartout zum jeweils bekannten und geschätzten Hölderlin. Bis in die 1930er Jahre hinein stellt er eine in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Dichter ungemein fruchtbare Kategorie dar;11 was den produktiven Umgang mit Hölderlin angeht, sprich in der literarischen Rezeption und insbesondere in das Akustische stark einbeziehenden Darbietungsformen, von der Lesung bis zur Theateraufführung, ist dessen Bedeutung kaum zu überschätzen. Allgegenwärtig ist um 1910 der Bezug auf den (Sprach-)Rhythmus bei Hölderlin in den Schriften von Mitgliedern des George-Kreises – so in Robert Boehringers Essay Über Hersagen von Gedichten (1911)12 oder in Kurt Hildebrandts Hellas und Wilamowitz

|| 11 Vgl. unter den auf den Rhythmus zentrierten Monographien Krieger (1926, zur Hymnik), Bertallot (1933, unter Vergleich mit Nietzsche zur Lyrik und zum Hyperion) und Seckel (1937, zur Sprache). 12 Bei Boehringer wird die Grenze zwischen Würdigung und Mythisierung des Dichters deutlich überschritten: Er führt etwa das rezeptionsgeschichtliche Konstrukt „Hölderlin bei Bettina“ als Beispiel dafür an, dass „einzig der dichter [die richtigkeit einer hersagung] beurteilen“ kann, „denn aus der rhythmischen und melodischen bewegung seiner seele hat er das gedicht geschaffen“. Weiter unten wird dann als Bestätigung dafür eine biographische Anekdote angeführt, die ebenfalls in die Mühle der Rezeption geraten und dadurch zu bedeutungsschwerer Legende geworden ist. Über Hölderlin werde berichtet, erzählt Boehringer, „dass er die nachmittage in tübingen allein mit rezitieren verbrachte. ‚Heftige ausbrüche seiner krankheit sänftigte wunderbar, mehr als einmal, eine vorlesung aus dem griechischen Homer, die er einem talentvollen jungen menschen hielt.‘ Solche

212 | Ein Theaterjahrhundert (1910).13 In Hellingraths Hölderlin-Untersuchungen und -Editionen steht alsdann die Verknüpfung von Wort und Rhythmus im Mittelpunkt. Seine diesbezüglichen Überlegungen, die in wirkungsvollen Formeln kulminieren, beziehen sich sowohl auf Hölderlins Übersetzungen als auch auf die (vor allem späte) Lyrik. Von Bedeutung ist hierbei, dass die Pindarübertragungen – also Hölderlins Übersetzung griechischer lyrischer Texte – den Ausgangspunkt seiner Arbeit bildeten. Für die Edition und im Kommentar jener bis dahin unveröffentlichten Texte erarbeitete Hellingrath den auf der spätantiken Rhetorik basierenden Begriff der „harten Fügung“. In dieser die griechische Wortfolge verfremdend ins Deutsche übertragenden Diktion ist „das einzelne wort selbst taktische einheit“, denn in anderen Worten tut „harte fügung [...] alles das wort selbst zu betonen“ (Hellingrath 1911, 2; 5). Der durch „harte fügung“ der einzelnen Worte erzeugte Rhythmus geht ferner über die „taktische Einheit“ hinaus und wird zum Kernelement der dichterisch-übersetzerischen Sprache: „In Hölderlins übertragungen aber ist wortwahl satzbau melos rhythmisches im engeren sinn“ (21). Bereits aus der hier zitierten Dissertation geht hervor, dass Hellingrath seinen Überlegungen auch im Hinblick auf die anderen späten Werke Hölderlins Gültigkeit beimisst, was in den der Edition voran- und nachgestellten Überlegungen sowie in den späteren Hölderlin-Studien (dem so genannten „Vermächtnis“) dann auch konkret erörtert wird.14 Dies ist rezeptionsgeschichtlich von großer Bedeutung. Erstens

|| vorlesungen können nur rhythmisch gewesen sein; denn das ‚antike zeit-gleichmaas wurde wie eine art öl auf den wogen empfunden‘, und Hölderlins seele war rhythmisch bewegt wie keine andere [Schwab, Bettina, Nietzsche]“ (Boehringer 1911, 94; 97). 13 Hildebrandt hatte sie in demselben georgeschen Jahrbuch für geistige Bewegung veröffentlicht, wo Boehringers Überlegungen ein Jahr darauf erschienen. Hildebrandt dient der Vergleich der Sophokles-Übersetzungen Hölderlins mit den „recht prosaisch[en]“ Tragödienübertragungen Wilamowitz-Moellendorffs (neben der Austragung eines langwierigen Streits zwischen George und seinen Anhängern und dem Berliner Altphilologen) auch der Verherrlichung der Leistung des Dichters, die „trotz mancher Fehler von unsäglicher Schönheit im dichterischen Rhythmus“ sei. Die angeführten Parallelstellen zielen offensichtlich darauf, die „fromme Gelehrsamkeit“ Wilamowitz-Moellendorffs als unpoetische Entheiligung gegenüber der „Wörtlichkeit“ Hölderlins zu entlarven, die hingegen aus einer „Verehrung“ der Tragödie als etwas Heiliges erwuchs. Hölderlin ist im George-Kreis zum Vorbild eines antiakademischen und antihistorischen Antikeverständnisses erhoben worden, das auf der Zentralität des dichterischen rhythmischen Wortes insistiert. 14 Vgl. die Paratexte in Hell. 4 und Hell. 5 (wo etwa auf die „für das Verstehen nötige Voraussetzung“ hingewiesen wird, „daß man die Fähigkeit habe, ein Gedicht als rhythmisches Gesamtgebilde, nicht nur seinem begrifflichen Inhalt nach zu erfassen“, 197) sowie die Vorträge Hölderlin und die Deutschen und Hölderlins Wahnsinn, die im Januar 1915 in der Münchner Wohnung von Hellingraths Tante Else Bruckmann vor einem erlesenen Publikum, darunter Wolfskehl und Rilke, gehalten wurden. Erstmals 1921 von Ludwig Pigenot ediert, wurden die Vorträge dann vom Fortführer der HellingrathAusgabe zusammen mit anderen Studien unter dem Titel Hölderlin-Vermächtnis gesammelt (1936). Pigenot arbeitet hier im Geleitwort ausdrücklich an einer Hellingrath-Mythographie – die Rede ist von der „treu an den Buchstaben der Texte sich anklammernden Bemühung“, von einer „bis ins Kleine hinein erfüllt[en]“ Sendung, vom „schwermütigen Ernst des Philologen Hellingrath“. Den Gefallenen

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entwickelt Hellingrath in rückwärtiger Perspektive Diltheys diffuse Rhythmus-Begrifflichkeit korrigierend weiter, indem er sie präzisiert und zugleich in ihrer Tragweite für Hölderlin erweitert: Anders als der Kulturphilosoph bleibt er nämlich bei der sprachlich-strukturellen Bedeutung des Begriffs (von „Lebensrhythmus“ ist bei ihm nie die Rede), wobei er bewusst Hölderlins Verwendung des Rhythmus-Begriffs in den Sophokles-Anmerkungen berücksichtigt. Gleichzeitig macht er den Begriff für die Interpretation von Werken fruchtbar, die Dilthey entweder unbekannt waren oder einer Betrachtung unwürdig schienen. Zweitens schafft Hellingrath nach vorne schauend und auch die produktive Rezeption einbeziehend, anhand seiner auf den Wort-Rhythmus zentrierten Analyse der Pindarübertragungen die Grundlage für eine umfassende ‚Wiederentdeckung‘ und Relektüre Hölderlins als Dichter/Übersetzer aus der und für die Gegenwart. Der ‚neue‘ lyrische Rhythmus des in „harter Fügung“ gesetzten Wortes wird zum Hölderlin-Ton der Moderne, der von Stefan George über Rainer Maria Rilke bis zu Gottfried Benn, um nur die wichtigsten zu nennen, der deutschsprachigen Lyrik nach 1900 den Takt vorgibt.15 Parallel dazu wurde Hellingraths Auslegung der dichterischen Sprache grundlegend für viele Untersuchungen der späten Lyrik Hölderlins – man denke nur an Walter Benjamins Essay Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin und an Adornos Parataxis-Studie, um die anhaltende Produktivität von Hellingraths stilistischer Kategorie auch bei Autoren zu gewahren, die in anderer Hinsicht dem Hölderlin-Bild der Georgeaner dezidiert entgegentraten.16 Für unsere Belange ist entscheidend, dass Hellingrath in dem Vorwort zum 5. Band seiner Hölderlin-Ausgabe die wortrhythmische Eigenart der Sophokles-Übersetzungen fixierte, von der an vielen disparaten Stellen bereits die Rede gewesen war. Dadurch wird nicht nur der Boden für Untersuchungen von diesen im Laufe des 20.

|| hatte bereits Stefan George in einem Gedicht verewigt als „Mönch [...] geneigt auf seinem Buche“, der trotz dem „abscheu vor dem kriegsgerät [...] angebotne schonung stolz verschmäht“ habe und „zu müd zum wilden tanze [...] in feuer erd und luft zerspellt“ endete (George 1919b, 16). Die mystische Verklärung des Philologen bildet offensichtlich das Pendant zu den Hölderlin-Mythographien im George-Kreis. 15 Sprache und Rhythmus sind selbstverständlich auch in diesem sehr gut erforschten Zusammenhang zentral. Auch aus wenigen repräsentativen Beispielen geht klar hervor, wie diese Konstellation in das jeweilige Dichtungsverständnis eingearbeitet wird. Bei Stefan George ist 1919 vom „verjünger der sprache“ die Rede, um dann Hölderlin sofort mystisch zu verklären als „eckstein der nächsten deutschen zukunft“ und „rufer des Neuen Gottes“ (1919b, 13). Rilkes Begegnung mit Hölderlin um 1914 wird einschlägig als „Spracherlebnis besonderer Art“ beschrieben, der schwäbische Dichter sei für Rilke „gleichbedeutend mit sprach-rhythmischem Wagnis und lyrisch-kompositorischer Unerhörtheit“ (vgl. Görner 2004, 53 sowie die dort besprochene Literatur). Benn bezeichnet die „rein expressionistisch[e]“ Sprache Hölderlins (und Nietzsches) als eine „Beladung des Worts, weniger Worte, mit einer ungeheuren Ansammlung schöpferischer Spannung, eigentlich mehr ein Ergreifen von Worten aus Spannung“ (1933, 15). 16 Vgl. dazu grundlegend Alt (1987), Janz (2002) und, zur „harter Fügung“-Filiation, Rossi (2014).

214 | Ein Theaterjahrhundert Jahrhunderts definitiv als dichterische Ausnahmeerscheinungen gewürdigten Werken bereitet. Es werden auch die Weichen gestellt für einen bewussteren produktiven Umgang mit der performativen Qualität der tragischen Sprache von Hölderlins Ödipus und Antigone. Hellingrath selber hatte noch vor der entscheidenden Begegnung mit den Pindarübertragungen ein performatives-akustisches Erlebnis mit Hölderlins Sophokles gemacht. Seit 1906 mit Hölderlins Werken vertraut, wobei diese erste Lektüre sicherlich durch Nietzsche geprägt wurde und die frühen bis mittleren Gedichte einschloss,17 notiert der zwanzigjährige Hellingrath zwei Jahre später in seinem Tagebuch: „Hölderlins Antigonä laut gelesen“.18 Über den Ödipus hält er dann am 13. Juli 1909 einen Vortrag im Seminar von Friedrich von der Leyen, bei dem er dann auch an seiner Dissertation zunächst über die Tragödien und erst später über die Pindarübertragungen arbeiten wird. Als Hellingrath dann 1913 „zum ersten Mal das grosse Übertragungswerk Hölderlins vereint“ herausgab, galten die Geleitworte seiner Vorrede der emphatischen Betonung des Werks als einer sprachlich einmaligen und gerade deswegen zugleich für die Moderne produktiven Leistung: In ihm werde „die Sprachgestalt griechischer Dichtung [...] in neu für sie gebildete Gestalt der lebenden Sprache übergeführt“. Die außerordentliche Aktualität der ‚Wiederentdeckung‘-Operation macht er nachdrücklich geltend: „Solcher geschichtlicher Stellung dieser Übertragungen“, fährt er fort, „entspricht ihre Bedeutung für die Gegenwart“ (Hell. 5, IX). Parallel zur Erhebung von Hölderlins Übertragungen zu zeitgemäßen Dramentexten wertet Hellingrath andere Übersetzer radikal herab, denen gerade Distanz vom „Sprachgeist“ und Auflösung des „Rhythmus ihrer Reihen [...] zu Gunsten eines ‚sinngemässen Vortrags‘“ als fatale Fehler angelastet werden. Dies gilt sowohl für Pindars Oden als auch für die Tragödien des Sophokles. Bei dem fürs Theater geschriebenen und übersetzten Korpus betont Hellingrath bezeichnenderweise erneut die akustische Wirkung: Erst „laut lesend und immer wieder laut lesend“ könne man „die verschiedenen Töne auffassen lernen, mit denen Hölderlin die [...] gränzenlose flackernde Erregtheit der Sophokleischen Chöre“ wiedergegeben hat. Als Beispiel für einen Vergleich mit anderen Übersetzern dient auch hier, wie bereits bei Hildebrandt,

|| 17 „Auch Hellingraths wegweisende Arbeit“ sei „aus einer intensiven Beschäftigung mit Nietzsche hervor[gegangen]. Vielfache Zitate in Briefen und Schriften belegen in den Jahren 1904 bis 1908 eine intime Nietzsche-Kenntnis […]. 1905 schrieb der Siebzehnjährige eine Fortsetzung des Zarathustra“ (Martens 1983, 62). 18 Die Art des Hölderlin-Spracherlebnisses, das durch die Lektüre der Sophokles-Übersetzungen inspiriert wird, erinnert an die fiktive Episode in Hardts Drama Kampf ums Rosenrote, wo der Held Vult in der ersten Szene Monologe aus dem Ödipus rezitiert. Man könnte sogar vermuten, dass Hellingrath auch durch Hardts Drama dazu verführt wurde, in und aus Hölderlins Sophokles-Übersetzungen zu lesen; dass Hellingrath spätestens beim Verfassen seiner Dissertation Hardts Drama kannte, ist belegt (vgl. 2.1). Verschiedentlich belegt ist in Hellingraths familiärem und freundschaftlichem Kreis auch der Usus des lauten Lesens dichterischer Texte (vgl. Bohnenkamp 2014, passim).

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der Ödipus: Hellingrath listet zuerst „Solger Thudichum Minckwitz Donner“ als die „Befähigte[n]“ mit „ehrliche[m] Streben“ und daraus resultierender „redliche[r] Arbeit“ auf – Hölderlin kennzeichne hingegen die „unfehlbar[e] Leichtigkeit dessen dem unsre Sprache wie keinem sich hingab“. Die neueren „angeblichen Übersetzungen der Vieweg Marbach Wilamowitz Schnabel“ schneiden dann schlecht ab, weil sie nicht nur wie die früheren die „Dunkelheit und gewaltsame Härte [des Originals] aufhellen und abschwächen“, sondern es „in Wahrheit verzerren und verhöhnen“. Die „Unvergleichlichkeit Hölderlinscher Kunst“ wird hier wieder in der „harten Fügung“ und im antiromantischen und antimelodischen Wort-Rhythmus gesehen: Obwohl diese Termini nicht explizit benutzt werden, erscheint in der Rede von der „gewohnten Weichheit und Verständlichkeit deutscher Dichtung“, die besagte „Dunkelheit und gewaltsame Härte“ des „griechischen Urbildes“ nur „wegdeuten und wegleugnen“ kann, Hölderlins anders geartete, „schwer zugänglich[e]“ und von solcher Weichheit „abgewandte“ dichterisch-übersetzerische Sprache ex negativo als leuchtendes Gegenbeispiel (Hell. 5, XI). Auch die Frage der Fehlerhaftigkeit von Hölderlins Übersetzung tritt hinter der Würdigung ihrer dichterischen Fügung zurück. Hellingrath vollzieht rezeptionsgeschichtlich gesehen einen großen Sprung, wenn er im Anhang des 5. Bandes die „sonderbar vermischte Kenntnis und Unkenntnis der griechischen Sprache“ (335) als Nebenfaktor gegenüber dem sprachlich produktiven, „lebendigen“ Umgang mit dem Original bewertet: Da Hölderlin, heißt es dort, „die Vorlagen im Wesentlichen als Kunstwerk und Sprachgestalt angingen […], gab er sich mit grammatischem und intellectualem Verständnis rasch zufrieden“. In diesem Sinne kann Hellingrath als allererster in solcher Dezidiertheit die „Übersetzung des Ödipus als mustergültige Übertragung“ bezeichnen (Hell. 5, 353). Der Weg zu einem Verständnis von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als eigenständige Werke, und insbesondere als sprachlichrhythmische Meisterstücke, ist damit geebnet. Natürlich fehlte es nicht an Gegenstimmen. Man denke etwa an die im letzten Kriegsjahr im Euphorion erschienene Rezension von Frank Zinkernagel, dem mit Hellingrath konkurrierenden Herausgeber einer Hölderlin-Edition beim Insel-Verlag. Außer den oft zitierten Worten über „den unverkennbaren Stempel der Katatonie“, den „fast jede zweite Zeile“ von Hölderlins Spätwerk trage,19 und Seitenhieben auf George, auf dessen Dichtungsverständnis und allgemein schlechten Einfluss alle ‚Fehler‘ des jungen Editors zurückgeführt werden, verdienen hier die unmittelbar darauf folgenden Bemerkungen Aufmerksamkeit, wo Zinkernagel nach den Gründen

|| 19 Zinkernagel versuchte, die ‚Wiederentdeckung‘ des späten Hölderlin zu diskreditieren, in dem er das ‚gesundheitsideologische‘ Vorurteil reaktivierte, das im vorigen Jahrhundert virulent gewesen war. Flankiert wurde er von humanwissenschaftlicher Seite durch Wilhelm Lange und seine Pathografie des Dichters (Lange 1909).

216 | Ein Theaterjahrhundert für Hellingraths eindringliche Aufwertung der Übersetzungen sucht. „Um dem Gefühlsgehalt des Lautes, des Rhythmus, der Sprachmelodie restlos zum Ausdruck zu verhelfen“, heißt es dort, „glaubte er auf alle ‚Gedankenkunst‘ mit höhnischem Lächeln herabschauen zu dürfen“ (Zinkernagel 1914, 358). Bei aller polemischen Schärfe, und obwohl Hellingrath eine Vernachlässigung inhaltlicher Aspekte kaum zugeschrieben werden kann, trifft Zinkernagel damit einen Punkt, der besonders deutlich die Frontstellung aufzeigt zwischen der ‚alten‘ historisch-positivistischen Schule und der ‚jungen‘ durch Nietzsche, Dilthey und George geprägten Generation. Henning Bothe hat in seiner Hellingrath wenig, George und seinem Kreis überhaupt nicht geneigten Wirkungsgeschichte aufgezeigt, inwieweit die „Suspendierung der Inhaltästhetik“ die ‚Hölderlin-Renaissance‘ nach 1900 prägt. Mit Blick auf die Übersetzungen aus dem Griechischen habe sie etwa zur Erarbeitung von Kriterien für deren Beurteilung geführt, welche die bis dahin übliche „Genauigkeit des semantischen Transfers“ als Maßstab aufgegeben hätten und mit dem Begriff der „Mediatisierung“ zu umschreiben seien. „Indem Hellingrath die Sprache der Nachdichtungen in seinem Verständnis von harter Fügung aufgehen läßt“, rekonstruiert Bothe die rezeptionshistorische Filiation, „knüpft er zunächst an die Interpretationen Diltheys an, die Hölderlins Texte entsemantisiert und der Musik angenähert hatten“. Der allgemeinere Einfluss Nietzsches lasse sich in der „Philologenkritik“ erblicken, die hinter Hellingraths kompromissloser „Enthistorisierung von Werk und Author“ stecke und im George-Kreis auf fruchtbaren Boden gefallen ist bzw. fallen würde (Bothe 1992, 99–101; 110). In der Sekundärliteratur wird die Position Hellingraths kontrovers bewertet. Bothes Urteil, der Münchner Philologe habe, „die Grenzen zwischen Wissenschaft, Mythologie und Dichtung verwisch[end]“ und eine „sprachchauvinistische Ausdeutung der Hölderlinschen Nachdichtungen“ verbreitend, den Boden bereitet für die irrationalistischen Interpretationen von Gundolf, Bertram und Kommerell, ist umstritten. Auf jeden Fall träfe dieser Vorwurf mehr auf die Vorträge zu, die Hellingrath 1915 auf Fronturlaub hielt und die erst postum erschienen, als auf seine Editions- und Erörterungsarbeit. Ob das „organisierte Mißverständnis“ – d.h. der Versuch, „Hölderlin für den deutschen Nationalismus in Anspruch zu nehmen“ – in Hellingraths Münchner Vorträgen Hölderlin und die Deutschen und Hölderlins Wahnsinn tatsächlich seinen Höhepunkt fand, oder ob es sich nicht eher um eine postume doppelte Mythologisierung zweiten Grades handelte, bei der der Dichter wie auch sein im Krieg gefallener Editor Opfer verzerrender Darstellungen wurden, wie etwa Kaulen und Hoffmann meinen, müsste erst noch eigens untersucht werden.20

|| 20 Vgl. Bothe (1993) 107ff. Zu Hellingrath vgl. neben den vielen Studien und Dokumentensammlungen von Pieger (1992, 1993, 1999, 2001) und den Erinnerungen von der Leyens (1960) die Rekonstruktionen bei Kaulen (1991) und Hoffmann (1995), die beide ein positives, in manchem apologetisches Gegenbild zu Bothes eher kritischen Äußerungen entwerfen; zu einer Unterscheidung des Hölderlin-

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Vor diesem Hintergrund aber dürfte unsere Perspektive auf die Sophokles-Übersetzungen und ihre Rezeption bei und nach Hellingrath mindestens einige Aspekte erhellen, die für die Rekonstruktion dieses komplexen wie zentralen Wendepunkts in der Editions-, Forschungs- und Wirkungsgeschichte Hölderlins von Belang sein könnten. In einem enger gefassten Kontext zeigt sich nämlich in voller Klarheit, wie der durch Hellingraths Edition und Interpretation geschärfte Blick auf die sprachlichrhythmischen Eigenschaften der Ödipus- und Antigone-Übertragung im Rahmen einer Herausarbeitung ihrer „Unvergleichlichkeit“ und „Bedeutung für die Gegenwart“ den Anstoß für kritische und produktive Auseinandersetzungen gab, die weit über die Grenzen des George-Kreises und der irrationalistisch-konservativen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts hinausgingen. So sprechen Namen wie Walter Benjamin, Albert Ehrenstein, Walter Hasenclever und Wilhelm Michel, deren Beitrag zur Rezeption in dem Jahrzehnt von 1915 bis 1925 nun zu erörtern ist, für das ungemein breite Spektrum der ästhetischen (und ideologischen) Positionen, in denen Hölderlins Sophokles-Projekt durch Hellingraths Vermittlung an Aktualität und Bedeutung gewann. 3.1.1.3 Aktualität von Hölderlins Sophokles zwischen ‚Renaissance‘ und Expressionismus: Michel, Benjamin, Hasenclever und Ehrenstein 3.1.1.3.1 Wilhelm Michel Der Hellingrath persönlich am nächsten stehende Essayist und Dichter Wilhelm Michel (1877–1942) hätte auch selbst Hellingraths Platz in der Hölderlin-Rezeption einnehmen können. 1910 war er vom Verlag Georg Müller beauftragt worden, das Gesamtwerk Hölderlins kritisch zu edieren. Er übertrug jedoch die Arbeit schon bald an den zehn Jahre jüngeren Hellingrath, den er 1911 in Paris kennenlernte. Beide waren damals bereits auf eigenen Wegen auf Hölderlin gestoßen: Michel, seit fünfzehn Jahren mit dem Dichter vertraut und aktiv am Münchner Hölderlin-Enthusiasmus um

|| Bildes Hellingraths von demjenigen der strikten Georgeaner tendiert neulich Jamme 2014. Eine gemäßigtere Position nimmt Albert (1994) 198–208 ein, bei der die postume Instrumentalisierung Hellingraths wie dessen in manchem leicht zu instrumentalisierende Begrifflichkeit ausgewogen erörtert werden – dort erkennt man, inwieweit die „Umfunktionierung des Georgeschen Aristokratismus zum völkisch begründeten Modell von Führer und Gefolgschaft“ auch für die nationalkonservative und nationalsozialistische Hölderlin-Hellingrath-Mythisierung gilt (206). Luzide Porträts Hellingraths mit weiterführender Bibliographie bieten Oelmann (2002) und Pieger (2012). In einem die Marbacher Hellingrath-Tagung dokumentierenden Band kann man nun auf den neuen Forschungsstand gebrachte Untersuchungen zu dessen Verhältnis zum George-Kreis (Oelmann 2014), zu Wolfskehl (Wägenbaur 2014) und zu zeitgenössischen sprachästhetischen Positionen lesen (Jacob 2014). Darüber hinaus sei zum ästhetisch-poetologischen Horizont der Hölderlin-Edition Hellingraths auf Kurz (2014c) verwiesen, zu Benjamins Hellingrath-Nachfolge auf Nägele (2014); für eine umfassende Dokumentation der Kontakte zu Hofmannsthal auf Bohnenkamp (2014).

218 | Ein Theaterjahrhundert 1900 partizipierend, betrachtete seine Begegnung mit dem Dichter von Anfang an als ein „religiöses Erlebnis“ (Heuschele 1959, 161). In Paris wollte er Hellingrath sein erstes Buch über Hölderlin überreichen, eine soeben bei Piper erschienene Aufsatzsammlung – nur das erste Beispiel einer lebenslang andauernden essayistischen Produktion zum Dichter. Bis heute sind hiervon einerseits seine in der Forschung lange gültige These einer „abendländischen Wendung“ in Hölderlins Spätwerk und andererseits sein immer wieder neu aufgelegtes Leben Friedrich Hölderlins aus dem Jahr 1940 bekannt.21 Teil dieser intensiven Auseinandersetzung sind auch drei Bühnenfassungen von Werken Hölderlins, durch die Michel in der ersten Jahrhunderthälfte zum wohl meistgespielten Bearbeiter des Dichters avancierte. Sowohl beim Tod des Empedokles als auch bei beiden Sophokles-Übersetzungen handelt es sich um sehr behutsame vor allem von Philologen geschätzte Adaptionen – Beißner lobt etwa die „aus feinem Stilgefühl“ erfolgte Bearbeitung des Empedokles, die er und andere positiv gegen jene von Wilhelm von Scholz abheben (1964, 55). Alle drei Hölderlin-Adaptionen Michels werden bei Gelegenheit der Besprechung ihrer Inszenierungen auf der deutschen Bühne der 1920er Jahre noch einmal näher betrachtet werden (3.1.2). Hier sei vorläufig nur noch angemerkt, inwieweit der Kontakt zu Hellingrath und der kritische Hölderlin-Diskurs um 1910, an dem Michel aktiv beteiligt war, als Vorspiel zu jener Theaterrezeption zu sehen sind. Auch bei Michel steht von Anfang an „Die Sprache Hölderlins“ – so der Titel eines seiner 1911 publizierten Essays – im Mittelpunkt des Interesses. Tatsächlich werden bereits in jenem frühen Text Überlegungen zu „Hölderlins Dichtungen“ als „Tanz, kultische[m] Tanz des Sprachkörpers“ angestellt, die aufgrund ihrer stark performativen Prägung und des spürbaren Einflusses von Nietzsche und Dilthey durchaus mit zeitgleich entstandenen und bereits dargestellten Versuchen, Hölderlins Sprache als rhythmische lebendige Bewegung zu kennzeichnen, verglichen werden können. Wenn Michel ein knappes Jahrzehnt später in seiner feierlichen Rede über Hölderlin zum 150. Geburtstag verkündet, dass lediglich „Monate vergehen“ sollten, „bis unvergleichliche Übertragungen des Sophokles, die

|| 21 Michel ist eine über einige spezielle Fachgebiete hinaus (Hölderlin-Forschung, ExpressionismusForschung) wenig bekannte Figur, obwohl er 1925 den Georg-Büchner-Preis erhielt und ein beachtliches essayistisches Werk hinterließ. Erinnerungen und Hommagen (Heuschele 1959, Heuschele 1984, Weitz 1993) bieten teils informative Porträts, welche die problematischen Aspekte dieser Figur im Rahmen der nationalkonservativen Kultur aber kaum erhellen (auch wegen der ideologischen Position der Huldigenden selbst, zu Heuschele vgl. etwa Albert 1996, 249–251). Zu Michel und der Hölderlin-Rezeption vgl. Martens (1983) und Kaulen (1994); die frühere Besprechung bei Pellegrini (1956, Übers. 1965) ist rein forschungsgeschichtlich ausgerichtet. Zu Michels Rolle in der ExpressionismusSzene um 1920 und insbesondere in der so genannten „Darmstädter Sezession“, zu deren Gründungsmitgliedern er gehörte, vgl. Welch/Wolbert (1997). Nach seinem Studium in München, wo er mit der Hölderlin-Renaissance in Kontakt kam, war der aus dem Rheinpfälzischen stammende Michel seit 1913 vor allem in Hessen tätig.

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er uns schenkte, ihre Uraufführung erleben werden“, so meint er nicht nur eine Antigone- und eine Ödipus-Inszenierung als Ergebnis seiner Mühen als Bearbeiter und Organisator – beide waren jedoch entgegen seiner Verlautbarung nicht die allerersten – sondern er bezieht sich auch auf die Umsetzung von jenem „Tanz des Sprachkörpers“ in die theatralische Form, für die diese Übertragungen verfasst worden waren. Eine Verzerrung von Hölderlins geschichtsphilosophischen Vorstellungen stellt hingegen die von Michel ebenfalls in dieser Rede postulierte „Überwindung der Antike im Deutschtum“ dar, die der Dichter durch sein Spätwerk vollendet habe (1920, 15). Michels Hölderlin-Bild war von Anfang an laut eigener Aussage „eine Votivtafel […] und zugleich ein Weihegeschenk aus der Seele unseres Volkes, die in ihm bis zur Todlust lebendig war“ (1911, 14). In der Rede wird Hölderlin als „der einzige Deutsche, der mit jedem Wort tief aus dem raunenden Herzen des Deutschtums sprach“, bezeichnet (1920, 11), in den späteren Schriften als „der einzige deutsche Dichter [...], der ausschließlich vom Geist unsrer Volksgemeinschaft bestimmt wird“, der „nicht nur zum Erzieher, sondern zum Sänger, zum Propheten und Gesetzgeber seines Volkes geworden. Ihm wurde anvertraut, das Geheimnis des Deutschtums auszusprechen“ (1924, 7; 9). Kommerells berühmt-berüchtigte Hölderlin-Formel „Deutschester Dichter deutschesten Schicksals“ klingt hier bereits an.22 Anders als der aus dem George-Kreis stammende Kommerell sollte Michel allerdings während der NS-Diktatur aus dem öffentlichen Diskurs fast verschwinden, und anders als sein Studienfreund Wilhelm von Scholz sollte er – nach Otto Heuschele auch dank seines tief christlich geprägten Weltbildes (1959, 162ff.) – kein bekennender Nationalsozialist werden.23 Unterm Hakenkreuz konnten aber linientreue Akademiker Michels Hölderlin-Interpretation „im Zeichen der nun schon erstarkenden nationalen Kräfte“ positiv rezipieren, weil er im Dichter „Züge des völkischen Sehers“ erblickt habe (Kindermann 1943, 37). Wörtlich sollte eine derartige ideologische Vereinnahmung nicht genommen werden; unmissverständlich liefert jedoch Michel mit seinen durchaus im Geist der Zeit üblichen deutschtümelnden Begriffen und Thesen ein leicht an die nationalsozialistische Propaganda anpassbares Gerüst, und das viel deutlicher, als es bei Hellingrath der Fall war. Dieser schrieb immerhin über Michels frühe HölderlinArbeiten, letzterer habe dort „als erster wesentliche Dinge ausgesprochen, die einmal gesagt werden mußten“ (vgl. Heuschele 1959, 161). Für die spätere Theaterrezeption

|| 22 Vgl. Bothe (1993) 32, der aus Kommerells Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik zitiert (1928). Zu Kommerell und Hölderlin, vornehmlich in den späteren Jahren des Marburger Ordinariats, vgl. Kaiser (2008) insb. 641–655. Zu Kommerells Verbindung zu Stefan George sowie zum Bruch kurz nach dem Erscheinen des erwähnten Buches vgl. einführend Weichelt (2012). 23 Weitz (1993) versteht seine Rede auch als Verteidigung Michels gegen postume Beschuldigungen und eine unterstellte Nähe zur NS-Ideologie. Michel muss sicher sein in der Eröffnungsrede der Darmstädter Herbstausstellung 1921 sehr früh formulierter öffentlicher Protest gegen den Antisemitismus positiv angerechnet werden (Verrat am Deutschtum). Ähnliches gilt laut Weitz für die Freundschaft mit Martin Buber und für die nach 1933 erfolgte „Isolierung“ (59).

220 | Ein Theaterjahrhundert Hölderlins in den 1930–40er Jahren kann dies nicht unerwähnt bleiben: Auch wenn Michels Bühnenbearbeitungen kaum Konzessionen an den deutschnationalen bis nationalsozialistischen Diskurs machten, sollten der Rahmen seines Hölderlin-Bildes und seine persönliche Mitarbeit an einigen Inszenierungen Hölderlins Wirkung im dritten Reich prägen. 3.1.1.3.2 Walter Benjamin Ein Gegenbeispiel zu Michels nationalkonservativem Hölderlin-Bild stellt Walter Benjamin dar. Nicht nur in seinem frühen Essay zur Lyrik, wie es in der Forschung Konsens ist,24 sondern noch in seinen späteren Überlegungen zur Aufgabe des Übersetzers (BW 4, 9–21, Druck 1921) schwingen einige Aspekte aus Hellingraths Erörterungen über Hölderlins (Übersetzungs-)Sprache und ganz allgemein jener Enthusiasmus für Hölderlins Sophokles in den Jahren um den Weltkrieg mit, der erst die Uraufführungen ermöglichte.25 Gleichzeitig eröffnen einige Gedanken Benjamins blitzartig Perspektiven, die Jahrzehnte später in der dramatischen und theatralischen Arbeit Bertolt Brechts und Heiner Müllers an Hölderlins Übersetzungen Früchte tragen sollten, weshalb an dieser Stelle seine wenn auch nicht umfangreiche Beschäftigung mit Hölderlin einer Vertiefung Wert erscheint.26 Aus einem Brief an Herbert Blumenthal vom 22. Juli 1910 geht hervor, dass der damals achtzehnjährige Benjamin Hölderlin „für sich“ als Lyriker bereits „entdeckt“ hatte (BB 1, 14); demselben Freund gegenüber erwähnt er zwei Jahre später Diltheys

|| 24 Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, 1914/15 entstanden und erst 1955 veröffentlicht, ist ein Paradebeispiel für die fließende Rezeptionssituation jener Jahre (BW II, 105–125). Dort kann nämlich Benjamin Hellingraths Begriffe für die Interpretation von Dichtermuth/Blödigkeit nutzbar machen, noch nicht aber auf dessen neue Edition und dadurch auf eine exaktere Rekonstruktion. Dazu, zum biographischen Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und dem Tod von Benjamins Dichterfreund Heinle sowie zur impliziten Kritik an der Heroisierung Hölderlins im George-Kreis vgl. einführend Janz (2002) 439f. sowie Primavesi (2006); vgl. auch die eingehenden Studien von Alt (1987) und Honold (1998). Neuere Überlegungen schließlich bei Nägele (2014), wo zum Schluss auch knapp auf die weitere, teils untergründige Präsenz von Hellingraths Begrifflichkeit in Benjamins späteren Studien hingewiesen wird (83). 25 Die erste nachdrückliche Nennung des Sachverhalts findet man bei Kaulen (1987) 79ff., wo „die Vermittlung durch Norbert von Hellingrath“ in ihrer Bedeutung hervorgehoben wird; der Partizipation Benjamins an der Hölderlin-Begeisterung nach 1900 steht Kaulen skeptisch gegenüber. Vgl. auch Primavesi (1998) 180ff. 26 Ein Blick in die Internationale Hölderlin-Bibliographie genügt für die Feststellung, dass die Konstellation Hölderlin-Benjamin und ihre Folgen für Hermeneutik und Ästhetik des 20. Jahrhunderts Gegenstand zahlreicher Untersuchungen sind. Da hier die Rezeption der Theatertexte Hölderlins im Mittelpunkt steht, ist vor allem auf Kontinuitäten und Brüche mit dem Klima der ‚Wiederentdeckung‘, auf die Nähe Benjamins zu anderen Formen der Aufwertung der Sophokles-Übersetzungen und auf die Filiation im Drama hinzuweisen. Dazu vgl. insb. Primavesi (1998).

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Hölderlin-Studie mit ehrenden Worten (12. August 1912; 58). Diesem ersten Referenzpunkt folgt bald Hellingrath, wodurch die Begeisterung für den Dichter noch gesteigert wurde; dem inzwischen im Weltkrieg Gefallenen hatte er seine Arbeit über Blödigkeit und Dichtermuth zu lesen geben gewollt, deren „äußerlicher Anlaß“ die Pindar-Dissertation gewesen war (An Ernst Schoen, 25. Februar 1917; 355). Ein Brief an Gershom Scholem vom Ende desselben Jahres drückt nachdrücklich ein regelrechtes Bedürfnis aus, die neuedierten späten Gedichte zu Gesicht zu bekommen, wenn er an den Freund „die dringende Bitte“ richtet, ihm den vierten Band der Ausgabe Hellingraths zu besorgen: „Dieses Buch ist sobald als möglich zu haben“, denn „sehr wichtig“; eine „möglichst beschleunigte Bestellung und Absendung“ wird erbeten (6. Dezember 1917; 399). Kein Wunder, dass Hölderlin auch in anderen Arbeiten Benjamins der letzten Kriegsjahre maßgeblich (so etwa in der Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Druck 1920) oder punktuell (wie in Über das Programm einer kommenden Philosophie) genannt wird.27 Für unsere Fragestellung besonders wichtig ist der Umstand, dass Benjamin Begriffe aus den Sophokles-Anmerkungen („Zäsur“) für die eigenen Interpretationen literarischer Texte (Goethes Wahlverwandtschaften, 1922, Druck 1924/25) und für ästhetische Arbeiten, die im Ursprung des deutschen Trauerspiels (1916–28, Druck 1927/28) kulminieren, übernimmt und abwandelt (Primavesi 1998). Dabei variiert er aus Hellingrath und aus der Forschung des GeorgeKreises entlehnte Formeln, etwa die Bezeichnung des späten Stils als „barock“ oder die Frage der „Wörtlichkeit“,28 um Hölderlins späte Übersetzungen zu charakterisieren. Selbst die direkt von Hölderlin übernommenen Begriffe schulden offensichtlich der „Renaissance“ um den Münchner Editor viel: Nicht von ungefähr rekurriert Benjamin mit „Zäsur“ auf einen Aspekt, der mit für Hellingrath wichtigen Fragen des sprachlichen „Rhythmus“ und „Körpers“ der Tragödie eng verbunden ist. Wenn Benjamin in der Aufgabe des Übersetzers Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als „monströse Beispiele solcher Wörtlichkeit“ bezeichnet (BW 4/1, 17) um sie dann im Schlussteil „Urbilder ihrer Form“ zu nennen (21), in denen die „Harmonie der Sprachen so tief [ist], daß der Sinn nur noch wie eine Äolsharfe vom Winde von der Sprache be-

|| 27 Dazu vgl. die Lemmata von Peter Fenves und von Justus Fetscher in Lindner (2006) 134–167. 28 Vgl. die Rede von der „Barockstufe“ in Hellingraths Vorrede (Hell. 4, XVI, „barock“ taucht auch oft auf). Vgl. darüber hinaus BW 4/1, 17f. mit Hellingraths weniger eindeutiger Benutzung von „wörtlich“/„Wörtlichkeit“, Hellingrath (1911) 20; 24f. Primavesi (2005) 206 erörtert überzeugend Benjamins Gedankengang und zeigt dessen Verwandtschaft mit Hellingrath auf: Der Vorrang der „Wörtlichkeit“ vor dem Inhaltlichen führe bei Hölderlin zur „Annäherung an die fremde Rhythmik“ (was zugleich die Gefahr des Schweigens impliziere: „Erst der weitgehende Verzicht auf erklärende Interpretation vermag ein anderes, gestisches und rhythmisches Sprechen freizusetzen“). Zum durch Nietzsche und Wölfflin beeinflussten Barock-Begriff Hellingraths vgl. Kurz (2014c) 219–222.

222 | Ein Theaterjahrhundert rührt wird“, so überträgt er in die eigene Theorie hellingrathsche Bilder und Gedanken, die ihrerseits wiederum in der Hölderlin-Verehrung des 19. Jahrhunderts wurzelten. Selbst eine mythographische Heroisierung Hölderlins, die viele Rezeptionsdokumente dieser und der vorhergehenden Epoche kennzeichnet, klingt bei Benjamin durch, wenn er „die ungeheure und ursprüngliche Gefahr aller Übersetzung“ bei Hölderlin lauern und realisiert sieht, in dem Sinne daß die Tore einer so erweiterten und durchwalteten Sprache zufallen und den Übersetzer ins Schweigen schließen. Die Sophokles-Übersetzungen waren Hölderlins letztes Werk. In ihnen stürzt der Sinn von Abgrund zu Abgrund, bis er droht in bodenlosen Sprachtiefen sich zu verlieren. (17)

Hier kann freilich weder die vielschichtige Präsenz Hölderlins in Benjamins Gedankenwelt detailliert analysiert werden, noch kann die Filiation der Linie HölderlinBenjamin in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden. Vielmehr galt es, anhand einzelner lexikalischer Spuren zu zeigen, wie die hellingrathsche Neuaufwertung des späten Hölderlin und dessen ‚hartfügiger‘ dichterisch-übersetzerischer Sprache nicht nur innerhalb der „konservativen Revolution“ und in weiteren konservativ bis reaktionären Kreisen, sondern auch bei einem Benjamin nachhaltig wirken konnte – und auch durch ihn weiter rezipiert werden sollte. Noch Anfang der 1930er Jahre nämlich, als Benjamin seiner schon früher datierenden Abneigung gegen die heroisch-nationalistischen Zerrbilder Hölderlins aus dem George-Kreis beredten Ausdruck verlieh,29 war der späte Hölderlin in seiner Gedankenwelt präsent, und zwar explizit mit Bezug auf formale Aspekte des zeitgenössischen Dramas und Theaters. Als Motto zu einem Aufsatz über Brechts episches Theater, der dann nicht abgedruckt wurde,30 hatte er das Zitat aus dem Böhlendorff-Brief gewählt, in dem Hölderlin gerade jenes durch Brechts Theater aktuell gewordene Wort benutzt hatte: „Das hat Dein guter Genius Dir eingegeben“, so 1801, „daß du das Drama epischer behandelt hast“.31

|| 29 Dabei handelt es sich um die Wider ein Meisterwerk betitelte Reaktion auf Max Kommerells Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Erschienen 1930 in der Literarischen Welt, ist diese Auseinandersetzung mit dem Bild Hölderlins im George-Kreis heute in BW, 3/1, 252–259 zu lesen. 30 Vgl. dazu Müller-Scholl (2006) 81. Der Aufsatz Was ist das epische Theater? Studie zu Brecht reagierte auf Brechts Berliner Mann ist Mann-Inszenierung vom 6. Februar 1931 und allgemein auf die Debatte, welche Brechts Benutzung des Begriffs „episches Theater“ (Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 1929/30) ausgelöst hatte. 31 StA 4, 426. Zum Brief vgl. 1.3 sowie Castellari (2016a). „Episch“ benutzte Hölderlin freilich meist mit Bezug auf die eigene Poetik der „Töne“, in der die drei traditionellen Gattungen („Dichtarten“) in einem komplexeren, musikalisch geprägten Rahmen eingefügt sind. Im Briefkontext wird „episch“ hingegen eher als Synonym von „modern“ verwendet. Allemann glossiert das Wort „episch“ als „auf unser Nationelles, die Nüchternheit“ hindeutend (ebd., 1078), was ebenfalls mit dem Ringen um die

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Auch ein zweiter Schlüsselbegriff der sich damals entwickelnden Ästhetik Brechts – „Geste / gestisch“ – wurde bezeichnenderweise von Benjamin auf den schwäbischen Dichter zurückgeführt, indem die Hölderlins Terminologie entliehene und bereits im Goethe-Essay weiterentwickelte Gedankenfigur der „Zäsur“ in die neue der „Geste“ überführt wurde: Im Essay Das epische Theater ist gestisch von 1931 kommt Benjamin damit Brecht selbst, der damals den Begriff noch nicht definitiv geprägt hatte, zuvor, indem er ihn durch die eigene, von Hölderlin beeinflusste „Ästhetik der Zäsur“ für die zeitgenössische Theatertheorie fruchtbar macht.32 1940 nahm sich Benjamin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben; er erlebte nicht mehr, dass Brecht 1947–48 als erste Theaterarbeit nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil Hölderlins Antigone-Übersetzung bearbeitete und inszenierte, womit er ein stark „episch“ und „gestisch“ geprägtes Modell für das Nachkriegstheater schuf. Die potentielle sprachlich-performative Produktivität von Hölderlins „monströsen“ Sophokles-Übersetzungen – die schon Hellingrath letzten Endes mit dem der „Verfremdung“ eng verbundenen Begriff der „harten Fügung“ verbunden hatte – könnte aber vielleicht bereits in den vielen Gesprächen Benjamins mit seinem Augsburger Freund angeklungen sein.33 3.1.1.3.3 Walter Hasenclever Lange vor Brecht wurde Hölderlins Antigone-Übersetzung allerdings von einem anderen deutschen Dramatiker aktualisierend frei rezipiert, und zwar noch mitten im Ersten Weltkrieg, also vor ihrer absoluten Uraufführung. Dabei handelt es sich um keine direkte Bearbeitung, wie später bei Brecht, und insgesamt erscheint das Verhältnis zur Hölderlin-Vorlage von 1804 bei näherer Betrachtung eher gedanklich geprägt als intertextuell.34 Die oft missachtete Antigone (1917) von Walter Hasenclever, der 1940 in Südfrankreich ein ähnlich tragisches Schicksal wie Benjamin erlitt, vermag nichtsdestotrotz zu erhellen, mit welcher erstaunlichen Geschwindigkeit die durch Hellingrath erneut lancierten Sophokles-Übersetzungen nicht nur im kritischen und ästhetischen, sondern auch im literarischen Feld eine konkrete Wirkung zeitigten, und zwar auch in avantgardistischen Kreisen. || Möglichkeit einer modernen deutschen Tragödie zusammenhängt. Benjamins im Motto aufscheinende Annäherung Hölderlins an Brecht kann in diesem Sinne als Erkennen einer gemeinsamen Ausrichtung auf die Bedingungen des zeitgenössischen Dramas verstanden werden. 32 Vgl. Müller-Scholl (2006) 88 sowie Primavesi (1998) 10. 33 Über die „große, für Benjamin wie Brecht prägende intellektuelle Freundschaft“ (Müller-Scholl 2006, 77) wird in Wizisla (2004) eingehend berichtet. 34 Bei Flashar liest man: „Hölderlins Übersetzung hat [...] keine Spuren im Text Hasenclevers hinterlassen“ (1991, 133). Diese bezüglich direkter intertextueller Relationen nachvollziehbare Feststellung geht mit einer grundsätzlichen Skepsis hinsichtlich möglicher weiterer Anhaltspunkte einher. „Der Ansatz beider“ sei „grundverschieden“, Müller-Seidels These einer Nähe Hasenclevers zur „Hölderlin-Verehrung“ wird als fraglich bezeichnet.

224 | Ein Theaterjahrhundert „In der Zeit des Expressionismus“ wurde Hölderlin, wie einschlägige Studien gezeigt haben, „aufgenommen [...], als hätte man es mit einem Dichter der Gegenwart zu tun“.35 Auch bei dieser jungen Dichtergeneration diente Nietzsche bekanntlich als Multiplikator des Hölderlin-Interesses, so dass auch in expressionistischen Schlüsseltexten die beiden gerne miteinander verglichen wurden;36 oft stilisierten Autoren und Kritiker diesbezügliche Lektüreerlebnisse als aufschlussreich aufeinanderfolgend – Hasenclever stellt hier keine Ausnahme dar. Auffällig ist die Breite der Wirkung: Zu der Hölderlin-Rezeption in der expressionistischen Lyrik und der produktiven Auseinandersetzung mit seinen Bühnentexten im Drama und Theater gesellt sich eine verstärkte Faszination für die Figur. Der mythologisch gedeutete Wahnsinn, aber auch, in dezidierter Abgrenzung von zeitgenössischen Tendenzen, politisch-revolutionäre Elemente der Dichterbiographie37 fließen in „die große Anzahl von Dichtungen“ ein, epische und dramatische, die Hölderlins Leben „zum Gegenstand haben“ (Bartsch 1974, 14).38 Tatsächlich stellt, wie Bartsch erörtert, die expressionistische Rezeption in mancher Hinsicht eine Parallelerscheinung zur Hölderlin-Rezeption im George-Kreis dar, obwohl man m.E. die Unterschiede nicht überbetonen darf und stärker auf die offensichtlichen Verbindungslinien hinweisen müsste. Zum einen spielte auch für die Expressionisten die editorische und interpretatorische Neuerschließung Hölderlins durch Hellingrath, zuerst in Georges Blättern für die Kunst und dann in der Werkausgabe, eine Schlüsselrolle; zum anderen bietet etwa die Figur Wilhelm Michels ein Beispiel für die fließenden Übergänge und die rege Kommunikation zwischen ästhetischen Diskursen und Gruppierungen nach 1900 in Sachen HölderlinRezeption. Als ein solches Beispiel kann auch Hasenclevers Antigone betrachtet werden, ein zu seiner Zeit in Schrift- und Bühnenform rege diskutiertes Drama, für das der Aachener Dichter 1917 den renommierten Kleist-Preis bekam. Einerseits zeugt es von einer

|| 35 So Müller-Seidel (1982) 375. Zu Hölderlin im Expressionismus vgl. auch Bartsch (1974), wo auf die Frühzeitigkeit und Intensität der Rezeption hingewiesen wird: Gedichte Hölderlins wurden in wichtigen Zeitschriften des Expressionismus veröffentlicht, Lesungen organisiert (eine bereits 1912 im Neopathetischen Cabaret). Hölderlin wurde in der Lyrik schnell produktiv rezipiert, etwa durch Heym, Trakl, Ehrenstein, Becher und Kasack. 36 Vgl. Bartsch (1974) 16: „Zwischen Hölderlin und den Expressionisten steht als Vermittler Friedrich Nietzsche“. Vor allem die früh und an exponierter Stelle erschienene Stellungnahme von Heinrich Ilgenstein in Die Aktion (1911) verdient hier Beachtung, sie greift auf noch frühere Publikationen desselben zurück (vgl. Seebaß 1922, 50). 37 Im expressionistischen Kontext wurde die Figur Hölderlins zum Revolutionär stilisiert (etwa bei Ludwig Rubiner). 38 Hölderlin. Szenen aus einem Schicksal des Österreichers Walther Eidlitz wurde 1917 verfasst und 1919 aufgeführt; die Liebes-, Revolutions- und Wahnsinnsgeschichte kann inhaltlich mit den oben besprochenen Hölderlin-Rezeptionen Hasenclevers und Ehrensteins verglichen werden (dazu vgl. Klimbacher 1994). So gut wie unerforscht ist Eugen Neubergers Hölderlin (1920), ein biographisches Drama mit starken Aktualisierungsangeboten (Bartsch 1974, 12).

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kriegsbedingt politisch und pazifistisch gefärbten „Umdeutung“39 der griechischen Tragödie; andererseits ist es Teil eines Hölderlin-Diskurses im Theater der Moderne. Aufschlussreich erscheint eine nähere Betrachtung des Dramas auch deswegen, weil es einen Schnittpunkt der Hölderlin-Rezeption mit der in neueren Studien differenziert untersuchten Antikenrezeption im deutschen Expressionismus darstellt.40 Gerade mit Bezug auf die Figur der Antigone stellt Müller-Seidel fest, dass „die Anwesenheit der sophokleischen Tragödiengestalt im deutschen Expressionismus [...] mit der Wiederkehr Hölderlins aufs engste verknüpft“ ist (1982, 378). Dass dahinter Hellingraths Neuausgabe mit der emphatischen Aufwertung der sprachlich-rhythmischen und theoretischen Arbeit Hölderlins in beiden Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen steht, beweisen Reaktionen aus der Feder von mehr oder weniger bekannten dem Expressionismus nahe stehenden Schriftstellern, darunter Gustav Landauer, der heute vergessene Iwar von Lücken oder auch die für unsere Belange wichtigen Ehrenstein und Hasenclever.41 Über den letzteren stellt Müller-Seidel fest, „daß Walter Hasenclevers Antigone. Tragödie in 5 Akten in der zeitlichen wie räumlichen Nähe einer verbreiteten Hölderlinverehrung entstanden ist“ (381). Doch mag es mehr als eine „Nähe“ gewesen sein. Hasenclevers Antigone, für deren Niederschrift dem Dichter lediglich die Fassung Hölderlins vorlag (Kotsiaros 2006, 63), kann als früher Höhepunkt des Prozesses der ästhetischen Verselbständigung von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen hin zu eigenständigen Kunstwerken und von seinen -Anmerkungen hin zu zeitgemäßen Deutungen des Tragischen gewertet werden, ein Prozess, der nach verstreuten Anfängen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch Hellingrath nachdrücklich initiiert wurde. Denn Hasenclever gründet seine Tragödie (die, wie nochmals zu betonen ist, keine Bearbeitung darstellt und keine intertextuelle Praktik, d.h. weder Zitat noch Variation oder Imitation der Vorlage, aufweist) eher auf einen imaginären Dialog mit dem deutschen Dichter als mit dem attischen Tragiker – eine typologische Art des Umgangs mit Hölderlin, die Hasenclever inauguriert und späteren Dramatikern vererbt. Dass Sophokles mit dem pazifistisch-messianischen Drama wenig zu tun hat, betonte Hasenclever selber in einem Brief an Ehrenstein,42 und die Entscheidung für den

|| 39 Secci (1969) 133. Damit gemeint ist eine fürs Theater der Zeit typische, tiefgründige Transformation der Vorlage, die durch etliche Veränderungen der dramatischen Struktur, Hinzufügung neuer Szenen, starke Reduktion der Personenreden gekennzeichnet ist, wobei das Ganze von einer inhaltlichen Neuinterpretation der Figuren- und thematischen Konstellation begleitet wird. 40 Vgl. etwa Göhler (2012), die in ihrer umfangreichen Studie auch Hasenclever behandelt (317–344). 41 Vgl. Müller-Seidel (1982) 379ff., wo etwa auf Landauers Worte über „Hölderlins Ödipus und Antigone [als] bei weitem die reinsten und schönsten und gewaltigsten deutschen Dichtungen aus dem Griechischen“ hingewiesen wird (aus einem Vortrag, 13. März 1916). Der Deutschbalte von Lücken, ein „vergessener Poet des Dresdner Expressionismus“, hatte nachweislich mit Hasenclever und Ehrenstein Kontakte (vgl. Gaskill 1980). 42 Der Brief stammt aus dem 26. Juni 1917; vgl. dazu Fornaro (2013) 28.

226 | Ein Theaterjahrhundert Antigone-Stoff wird anderswo explizit mit der Intention verknüpft, durch die antike Maskierung brisante Themen unter Umgehung der Zensur aufgreifen zu können.43 Auch die zeitgenössischen Bühnenrealisierungen betonen vor allem inhaltliche Momente der Aktualisierung: Beim Regisseur der Frankfurter Inszenierung 1919, Richard Weichert, ist etwa davon die Rede, dass jede Figur als „Mensch unserer Tage trotz des griechischen Gewandes“ darzustellen und die Tragödie „nicht als antikisierende Sprechoper“ zu spielen sei (Weichert 1919, 119). Selbst die zeitgenössischen kontroversen Reaktionen auf die Aufführungen, die gespalten ausfielen zwischen jenen, welche die gewagte Neudichtung und ihr Aktualisierungsangebot begrüßten, und dem mit Unverständnis, wenn nicht gar Empörung reagierenden Großteil der Kritik,44 bestätigen den Sinn und das Ziel von Hasenclevers Operation. Er strebte keine traditionelle Bearbeitung an, geschweige denn eine Verharmlosung des attischen Dramas wie in der ihm verhassten bildungsbürgerlichen Tradition klassizistischer Prägung. Hölderlin fungiert dabei, wie bereits Lia Secci in ihrer Studie zum griechischen Mythos im deutschen Expressionismus herausgearbeitet hatte und wie neuere Untersuchungen bestätigen,45 als Modell einer aktualisierenden Transformation des antiken Dramas in die Moderne. Dabei hat Hasenclever offensichtlich weniger den Umstand berücksichtigt, dass Hölderlins Antigone eine Übersetzung war, sondern eher jene Aspekte der mehr als hundert Jahre zurückliegenden sprachlich-interpretatorischen Arbeit favorisiert und vertieft, die ihm in ihrer Aktualität produktiv erschienen. In diesem Sinn verband die Forschung einige Entscheidungen Hasenclevers bei seiner „Umdichtung“ mit vor allem politischen und religiösen Elementen von Hölderlins Antigone. So weise die revolutionäre Stimmung und Handlung im expressionistischen Drama auf Hölderlins Stichworte des „Aufruhr[s]“ und der „politischen“ und „republikanischen“ „Vernunftform“ zurück (StA 5, 271f). Auch die ebenfalls in den Antigone-Anmerkungen erörterte Annäherung des Mythos an „unsere [...] Vorstellungsart“ (268) durch Umschreibungen der Götternamen und allgemein der religiöse Synkretismus bei Hölderlin kann mit Hasenclevers sprachlicher wie inhaltlicher Ver-

|| 43 Vgl. Göhler (2012) 334. Dort wird auch der aus solchen Erklärungen des Autors entstandene Kurzschluss beschrieben, dass ein Teil der älteren Forschung dazu geführt hat, Sophokles’ Antigone überhaupt nicht bei der Interpretation des Dramas Hasenclevers zu berücksichtigen. Ein anderes, bei Göhler nicht berücksichtigtes forschungsgeschichtliches Problem stellt der bei Kerényi (1969) 32f. und Flashar (1991) 133 vertretene Standpunkt, nach dem die Distanzierung von Sophokles an sich zum qualitativ negativen Merkmal wird. 44 Flashar spricht von einem „merkwürdigen Befund: Hasenclevers Antigone wurde ein ausgesprochener Bucherfolg [...] und scheiterte auf der Bühne“ (1991, 133). 1917 fanden wegen des Aufführungsverbots Lesungen statt; rege diskutiert wurden die zeitgenössischen Nachkriegsinszenierungen in Frankfurt (1919, Regie: Richard Weichert) und Berlin (1920, Regie: Karlheinz Martin). 45 Vgl. Fornaro (2013) 26, 28f.

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mischung von christlicher Tradition (mit starken messianischen Zügen) und nietzscheschem-dionysischem Gedankengut verglichen werden.46 Gerade darin, dass „die Nähe zu Hölderlins Antigonä spürbar“ bleibt, „entfernt sich dieses expressionistische Drama nicht völlig von dem Spielraum der Tradition“.47 Sophokles wird damit erst durch die Vermittlung Hölderlins für die Bühne der Gegenwart ‚gerettet‘. Es bleibt dabei wohlgemerkt bei einem losen Bezug des Expressionisten auf Grundtendenzen der Vorlagen, die er entsprechend seinen dramaturgischen Absichten variierte, wobei ihm für weitere Aspekte auch andere, ihm zeitlich und persönlich nähere Formen der theatralischen Antikerezeption als Vorbild dienten.48 In Hasenclevers Antigone eine geglückte Aktualisierung von Hölderlins antik-modernem Projekt zu sehen, verweigerte die Forschung sich stets aufgrund ästhetischer Einwände. Tatsächlich ist das Antikendrama (gleich etlichen anderen Dramen des Expressionismus) inzwischen aus dem Repertoire verschwunden und dies liegt in seiner sowohl lexikalischen als auch strukturellen Redundanz begründet, weshalb es nicht verwundert, wenn dem Stück heutzutage nur noch der Stellenwert eines dramen- und theaterhistorisch interessanten Experiments zugesprochen werden kann. Für die Geschichte der Hölderlin-Rezeption im Drama und auf dem Theater ist es trotz seiner dramaturgischen Schwächen repräsentativ, was paradox erscheinen mag, insofern weder die Leser der erstmals 1917 erschienenen Tragödie noch das Publikum der zwischen 1919 und 1920 an wichtigen Bühnen aufgeführten Inszenierungen einen Hinweis auf den schwäbischen Dichter finden konnten. Neben dem bereits herausgearbeiteten Umstand, dass hier zum ersten Mal eine produktive Aneignung von Hölderlins Antigone qua autonomes Tragödienprojekt (Text und Interpretation) mit sowohl in literarischer als auch in theatralischer Form verhältnismäßig großer Breitenwirkung vorliegt, ist für die Rezeption die signifikante politische Polarisierung zu nennen, hebt sich doch Hasenclevers pazifistisch-mystischer Appell gegenüber der deutschnationalen Inanspruchnahme Hölderlins als Referenzpunkt für Formen der patriotischen bis chauvinistischen Kriegsverherrlichung radikal ab. Schließlich

|| 46 Bei Secci (1969) 141 ist von „sincretismo dionisiaco-cristiano“, bei Fornaro (2013) 26 darauf aufbauend von der religiös angehauchten Sprache und dem dionysischen Antikenbild die Rede. 47 So Müller-Seidel (1982) 384, bei dem auch die hölderlinsche Konstellation unter den Stichworten Geist des Aufruhrs, Zeitenwende und religiöse Sinngebung zu erkennen ist. 48 Vgl. bereits Secci (1969) 164 für den Hinweis, dass Hasenclever als Komparse in Max Reinhardts epochemachender Arena-Inszenierung des König Ödipus in der Übersetzung/Bearbeitung Hofmannsthals auftrat (1910). Jene in München, Berlin und anderen Städten ungemein erfolgreiche Aufführung inspirierte Hasenclever maßgeblich zur Einführung von Massenszenen und zur Auflösung der Chorpartien in Einzelreden verschiedener Personen (zur Inszenierung und ihrem Kontext vgl. Flashar 1991, 126–128; zu Hasenclever Göhler 2012, 332f.). Fornaro (2013) 29f., bei der die Nähe zwischen Hasenclevers dramatischem Stil und den Erfordernissen von Reinhardts Theater deutlich herausgearbeitet und die Berliner Inszenierung 1920 als aussagekräftiges Beispiel angeführt wird, zitiert Reinhardts Bewertung von Hasenclevers Drama als eine Nachahmung von Hofmannsthals Ödipus.

228 | Ein Theaterjahrhundert scheint in diesen ästhetischen und politischen Diskursen sowie mit Blick auf die gesamte ‚Hölderlin-Renaissance‘ seit 1900 und verstärkt in der Nachfolge Hellingraths diese expressionistische Antigone einen vorläufigen Kulminationspunkt in dem überaus raschen Aufwertungsprozess der bis vor Böhms Ausgabe 1905 fast verschollenen Sophokles-Übersetzungen darzustellen. Der nächste Schritt konnte nur die Aufführung von Hölderlins Ödipus und Antigone als Tragödien für die zeitgenössische Bühne sein. 3.1.1.3.4 Albert Ehrenstein Den Wunsch nach einer solchen Aufführung sprach im letzten Kriegsjahr Albert Ehrenstein nachdrücklich aus: „Wann endlich sprechen Hölderlins Trauerverse zu mehreren? Vielleicht gibt es noch Hörer für diese unerhörten, von Anbeginn verschollenen Weihespiele!“. Der mit Hasenclever befreundete Ehrenstein – auf den regen Kontakt beider, vornehmlich 1914 in Weimar, könnte man übrigens auch den Umstand zurückführen, dass dem Dramatiker gerade Hölderlins Antigone-Übersetzung vorlag49 – beschloss mit den zitierten pathetischen Worten das Vorwort zum von ihm herausgegebenen Band Trauerspiele des Sophokles (Ödipus der Tyrann, Antigonä). Übersetzt von Friedrich Hölderlin (1918). Dieses Vorwort trägt den Titel Die Verblendung, dessen an sich deutlicher Bezug auf das Schicksal des Ödipus, wie man bei der Lektüre erfährt, auch Kreons fehlender Einsicht gilt. Die knappen Überlegungen Ehrensteins, der beide Tragödien als Aufforderung zu einer Art universellen Liebe, zur Einhaltung der „Du-sollst-nicht-töten“-Maxime liest (VI) und bei Sophokles „die Ahnung von Moses, Buddha, Christus“ zu spüren meint (VIII), korrespondieren offensichtlich mit Hasenclevers pazifistisch-messianischem Programm. Flashar tut solche Betrachtungen Ehrensteins als „Abstrusitäten“ ab (1991, 144).50 Im Schlussteil des Vorworts kommt allerdings der Wiener Expressionist zu einem für unsere Rekonstruktion wichtigen Themenwechsel, wenn er mit Blick auf die Sprache über das bittere Los der antiken Tragödie in der Gegenwart klagt: Die griechischen Trauerspiele [...] sprachen bisher nur in unwürdiger Form zur deutschen Menge. Auf den Bühnen [...] lärmen sprachlich lachhafte, angeblich rhythmische Pegasusritte, die geschäftigen Verballhornungen beschäftigungslos skandierender Gymnasialphilologen oder Tendenzgymnastiker. Zaunkönigsflüge. Freudisch aufgeklärte Industrieritter lieferten die pikante Anekdote vom jungen Schwellfuß, der in die Familie geheiratet hat. (X)

|| 49 Ehrenstein scheint in den 1910er Jahren als Multiplikator des Interesses an Hölderlins Antigone im deutschen Theaterdiskurs zu fungieren, vgl. unten zur Zürcher Uraufführung. 50 Vgl. dagegen Göhler (2012) 336 und Fornaro (2013) 27f. Ehrensteins humanistisch-pazifistische Deutung muss freilich im zeitgenössischen Kontext verstanden werden, Hasenclevers Tragödie wie Romain Rollands Aufruf A l’Antigone éternelle (1915) bilden in diesem Zusammenhang einen passenden Referenzrahmen.

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Die Verurteilung allzu schulmeisterlicher Übersetzer steigert sich zu Tiraden gegen moderne Bearbeiter („magistrale Grammatiker oder Neolibrettisten, keineswegs Dichter – bestenfalls Werkzeug“), vor denen Hölderlin als bislang unerreichtes und verkanntes Vorbild erstrahlt: Die adeligsten, reinsten und heiligen Übertragungen hellenischer Tragödien erklangen dem deutschen Publikum nie. Friedrich Hölderlins geweihten, himmelhoch über Schulmännerweisheit oder den Gestaltungswillen der Tantiemenwelt erhabenen Nachdichtungen des „Ödipus“ und der „Antigonä“ fehlt bisher die Aufführung. (Ebd.)

Bemerkenswerterweise findet Ehrenstein zu keiner eindeutigen Gattungsbezeichnung von Hölderlins Texten – von „Übertragungen“ und „Nachdichtungen“ ist hier die Rede, oben sogar von „Weihespiele[n]“. Hier wie auch in der Entscheidung, beide Sophokles-Übersetzungen (samt -Anmerkungen) als Einzelband zu veröffentlichen, mag dieselbe Vorstellung maßgebend wirken, die auch bei Hasenclever durchschimmerte. Ödipus und Antigone genießen bei mehreren Dichtern und Intellektuellen der 1910er Jahre den Status eigenständiger Dramen und Bühnenwerke. Daraus erklärt sich auch Ehrensteins Vergleich mit Bearbeitungen und nicht nur mit Übersetzungen sowie nicht zuletzt sein Bemühen um eine baldmöglichste Inszenierung. Sophokles wird hier freilich keineswegs übergangen, wie es tendenziell bei Hasenclever geschah. Ehrenstein versucht im Gegenteil, das Verhältnis Hölderlins zum antiken Tragiker als das „seine[s] herrlich gewaltigen, höchsten und tiefsten Diener[s]“ zu erörtern und den Akt der Übersetzung bzw. Nachdichtung und Kommentierung als „Opferhandlung, Entsühnung, Mysterium“ zu umschreiben (XI). Ehrensteins Vorwort ist ein Plädoyer für eine Bühnenwirkung Hölderlins, bei der letzterer zum alleinmöglichen modernen Vermittler des Sophokles erhoben wird. Dabei kommen kurz vor den tatsächlichen Uraufführungen von Ödipus und Antigone die seit 1900 die kritische und produktive Rezeption kennzeichnenden Grundelemente zum Ausdruck. Unter ideologisch und ästhetisch teils stark divergierenden Vorzeichen wird also in den 1910er Jahren Hölderlins sprachlich-rhythmische Leistung als für die Gegenwart gültig anerkannt, wobei mit polemischen Seitenhieben auf die historisch-philologische Tradition nicht gespart und oft die performative Kraft seiner Bühnensprache hervorgehoben wird. Sein Empedokles und vor allem sein Sophokles werden als einheitliche, Antike und Moderne, Dichtung und Kommentar miteinander kombinierende Projekte gewürdigt und rezipiert. Heterogene Formen der Aktualisierung, seien sie philosophischer, künstlerischer, politischer oder religiöser Art, wirken zusammen und führen zu recht unterschiedlichen, von Hölderlin auch stark abweichenden Aneignungen. Dabei wird auf Rezitation und Aufführung als geeignete Darbietungsformen für Texte hingewiesen, die bei aller dichterischen Schönheit nicht als Lesedramen, sondern erst performativ ihre volle Wirkung erzielen können.

230 | Ein Theaterjahrhundert Insbesondere das akustische Moment wird hier berücksichtigt und sollte dann – manchmal auch zuungunsten der Entfaltung aller theatralischen Mittel – in den ersten Inszenierungen betont werden. Nicht nur in dieser Hinsicht haben allerdings die bislang erwähnten Autoren aus recht verschiedenen Perspektiven den Boden für die Bühnenwirkung von Hölderlins Texten bereitet – der „unbestechliche“ Philologe Hellingrath (Kaulen 1991) wie der (populär)wissenschaftliche Interpret Michel, der Bearbeiter und Deuter von Scholz wie der Dramatiker Hasenclever, der Kultur- und Kunstphilosoph Benjamin wie der Expressionist Ehrenstein schufen die Voraussetzungen für eine Rezeption von Empedokles, Ödipus und Antigone im Theater, die bis in die Gegenwart weiterwirkt.

3.1.2 Die Uraufführungen und die Bühnenpräsenz von Hölderlins Theatertexten in der Weimarer Republik 3.1.2.1 Der Tod des Empedokles auf der Bühne 1916–1926 Noch im Ersten Weltkrieg erlebte Hölderlins Tod des Empedokles in der württembergischen ‚Heimat‘ des Dichters seine Uraufführung. Der Spielleiter Wilhelm von Scholz, dessen Bearbeitung und Einrichtung der Inszenierung am 4. Dezember 1916 zugrunde lag, hatte in dem seit Ende des 19. Jahrhunderts vom Generalintendanten Joachim Gans zu Putzlitz geleiteten und zu bemerkenswertem Ansehen gebrachten Königlichen Hoftheater Stuttgart auch die Regie übernommen. Die von Scholz 1910 im Empedokles-Nachwort nachdrücklich gewünschte „feierliche Musik“ als Begleitung einer möglichen Bühnenrealisierung wurde nach vorliegender Dokumentation tatsächlich eingesetzt. Detaillierte Informationen über die Orgelmusik von Max Reger und Philipp Wolfrum, für die sich der Regisseur entschieden hatte, und über ihren konkreten Verwendungsmodus verlieren sich im Dunkel der Zeit. Ein Blick in die zeitgenössischen Rezensionen offenbart allerdings, dass gerade das „Feierliche“ einen Schwerpunkt der ganzen Inszenierung bildete. Dies entspricht durchaus Scholz’ Überlegungen von 1910, wo nicht nur mit Blick auf die eventuelle musikalische Begleitung, sondern auch bezüglich der dramatischen Handlung von Hölderlins Drama und des entsprechenden ideellen Rahmens einer sie zu voller Geltung bringenden Vorstellung wiederholt den Begriff „feierlich“ verwendet wurde. Scholz selber trug wesentlich dazu bei, die Wirkung der als festliches Ereignis empfundenen Uraufführung zu kanalisieren, indem er rezeptionssteuernde Überlegungen in den Druck gab.51

|| 51 Sein Hölderlin auf der Bühne betitelter Artikel erschien im Berliner Tagesblatt und Handels-Zeitung (30. November 1916) und am Tage der Uraufführung auch im Stuttgarter neuen Tagblatt.

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Dies garantierte aber keineswegs eine einhellig positive Reaktion.52 Dass Scholz „das dramatische Gedicht Hölderlins entdeckt und gerettet“ hat, lobt etwa D. (d.h. wohl der Kulturressortleiter Karl Konrad Düssel) im Stuttgarter Neuen Tagblatt (5. Dezember 1916), der neben weiteren anerkennenden Worten jedoch auch Kritik hinsichtlich der gestrichenen Textpassagen äußert sowie die Aufführung insgesamt als „ein[en] Versuch“ bezeichnet. Die mangelhafte Diktion der Schauspieler und weitere konkrete Schwächen der Vorstellung werden selbst in Abgrenzung von der zustimmenden Publikumsreaktion von anderen Kritikern hervorgehoben: In den „etwas künstlich gemachten lauten Beifall“ habe etwa K. Schmidt „nicht einzustimmen“ vermocht (Der Beobachter. Ein Volksblatt aus Schwaben 5. Dezember 1916). Im Mittelpunkt aller Besprechungen steht bezeichnenderweise weniger die Inszenierung an sich als der dramatische Text, der ja auch die Novität des Abends darstellte. Selbst die spätere anonyme Besprechung in Der unsichtbare Tempel (Februar 1917), die Bearbeitung und Inszenierung so gut kennt und anfangs derartig lobt, dass man auf den ersten Blick geneigt wäre, zu denken, Scholz könnte sich hinter dem Rezensenten verbergen, wartet im Schlussteil mit Bedenken auf. Die „wachsende Bedeutung, die Hölderlins Werk für den Geist der Gegenwart gewonnen hat“, wird in den Eine Hölderlin-Uraufführung betitelten Seiten luzide gewürdigt, die Trauerspielfragmente werden als „Tragödie des mystischen Bewußtseins“ inhaltlich aus religiöser Perspektive gedeutet und formal als „von großer und starker Handlung durchglüht“ bezeichnet. Diese durch den Zusatz, dass „Hölderlins Tragödie nicht ohne weiteres zu den ‚lyrischen Dramen‘ gezählt werden darf“, bekräftigte Äußerung fällt aufgrund ihrer unzeitgemäßen Würdigung des Empedokles als wirkungsmächtiger Theatertext besonders auf (34). Dann wird Scholz’ Leistung gerade mit Blick auf die besondere Beschaffenheit der Hölderlin-Vorlage allerdings relativiert. Da die „dramatische Handlung nicht das tragende Element, sondern [...] lediglich die äußere Auswirkung eines ganz innerlichen, tragischen Vorgangs“ ist, wird hier argumentiert, müsste „eine endgültige Bearbeitung [...] versuchen, die merkwürdige künstlerische Eintracht dieser beiden Verläufe in die volle Deutlichkeit zu erheben“ (ebd.). Verbesserungsbedürftig ist also letztendlich die Arbeit des Bearbeiters, und dies auch im

|| 52 Selbst Rüppel (1954) 84–90 muss zugeben: „Im Spiegel der damaligen Zeit war die Aufführung kein ‚Erfolg‘“. Da seiner Meinung nach jedoch „Scholz als Dichter [...] dem Genius Hölderlin in aller Ehrfurcht gegenüber[stand]“ und „dem Werk die Bühnenlebendigkeit“ gab, indem er seine Theatererfahrung „mit dem hohen Einfühlungsvermögen verband“, muss Rüppel die Reaktionen der Kritik kolportieren und die in Wirklichkeit fließende Rezeptionssituation auf ein Schwarz-Weiß-Bild reduzieren: „Die Presse war geteilter Auffassung, schärfste Ablehnung und begeisterte Zustimmung standen sich gegenüber“. Rüppel beendet seine offensichtlich parteiische Rekonstruktion wie folgt: „Scholz hat damit Recht behalten. Ich glaube, daß die Geburt des Bühnenempedokles für eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Bühnengeschichte der ersten Jahrhunderthälfte gilt“. Mir scheint Scholz’ entscheidender Beitrag zur Bühnenrezeption des Empedokles eher in seiner Bearbeitung und Initiator-Rolle zu liegen als in seiner Regieleistung.

232 | Ein Theaterjahrhundert Detail, da dem offensichtlich sachkundigen Rezensenten „Hölderlins Verse hie und da allzu klassizistisch geglättet“ erscheinen. Weniger differenziert fallen die Urteile anderer Kritiker aus, bei denen die Vorlage Hölderlins und die Bearbeitung von Scholz nicht unterschieden werden. Der bereits genannte K. Schmidt ist sich nach der Vorstellung sicher: „Von einem Drama kann überhaupt nicht gesprochen werden. Es ist ein dramatisiertes Epos mit reichlicher Lyrik durchtränkt. [...] In unserer Zeit“, meint er mit Bezug auf den Kriegsalltag, aber ohne explizite Begründung, „wäre es besser gewesen, das Stück wäre ein Buchdrama geblieben“. Und ein Anonymus stellt passend zu diesem Urteil im „Staats-Anzeiger für Württemberg“ fest: „Zum Dramatiker, darin bestärkte auch diese Aufführung, war Hölderlin nicht berufen“ (9. Dezember 1916). Ähnliche Urteile finden sich beim bereits erwähnten D. („Hölderlin war kein Dramatiker“) und bei einem E.M., der meint, das aufgeführte sei „kein vollgültiges Bühnenwerk“ (Schwäbischer Merkur 5. Dezember 1916). Letzterer geht auch auf das nicht gelungene Verhältnis zwischen der sprachlichen Schönheit und der performativen Durchschlagkraft des Empedokles ein, das in anderen Besprechungen implizit war. „Gerade die gerühmte Erhabenheit der Dichtersprache“ werde „der Bühnenwirksamkeit des Werkes gefährlich“. Aus einer nicht unähnlichen Perspektive, jedoch mit beifälligerem Ton, fängt R. Krauß die „vom Alltag himmelweit entfernte Stimmung“ ein, die von der Sprache der „wundersame[n] Tragödie“ Hölderlins ausstrahle (und die seiner Meinung nach Scholz’ Regie doch zu „vollkommene[r] Wirkung“ gebracht habe); gleichzeitig weist Krauß allerdings darauf hin, dass die mangelnde Diktion der Schauspieler „in diesem Fall“, in dem die „Zuschauer [...] mehr als je Zuhörer sein mußten“, besonders kontraproduktiv gewesen sei. Sowohl in den Aussagen, die einer nunmehr langen Tradition entsprechend dem Empedokles als lyrisches bzw. Lese-Drama überhaupt keine oder eine eingeschränkte Wirkung auf der Bühne zugestehen, als auch in jenen, die variantenreich die Schönheit und die Kraft der dramatischen Sprache oder sogar (in einem Fall) der Handlung würdigen, erkennt man also Positionen wieder, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Umlauf waren. Die Theaterkritik reflektiert das Spektrum damaliger Betrachtungsweisen von Hölderlins Trauerspielfragmenten, wie sie sich aus vorliegender Rekonstruktion ergeben haben. Ansätze zu einer Würdigung des performativen Potentials des Dramas, die in Scholz’ Nachwort von 1910 auch mit Blick auf gestische Aspekte einer zukünftigen Aufführung zu finden waren, sind zwar vorhanden, sie beschränken sich jedoch auf den akustischen Moment und sind mit Bedenken hinsichtlich ihrer tatsächlichen Bühnenwirksamkeit verknüpft. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass man nach der Uraufführung 1916 und parallel zu den Wiederaufnahmen von Scholz’ Einrichtung in einigen Empedokles-Inszenierungen bis 1922, die nun zu erörtern sind, Formen des öffentlichen Rückgriffs auf Hölderlins Drama verzeichnen kann, die auf das Darstellerische und Theatralische so gut wie gänzlich verzichten: Lesungen und rezitatorische Abende

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nämlich, die zuerst 1918 und 1919 in Dresden und Halle (Bearbeitung von Rudolf Glaser)53 und dann mit einem gewissen Erfolg in den 1920er Jahren insbesondere unter der Leitung von Ludwig Wüllner stattfanden.54 Diese fast nur akustisch ausgerichteten Rezeptionsformen haben kaum dokumentarische Spuren hinterlassen. Sie zeugen zwar von einem wachsenden Interesse für Hölderlin und sein Drama, zu dem auch Scholz’ Inszenierung beigetragen haben mag, sie sind jedoch auch als Zeichen des verbreiteten (Vor-)Urteils zu verstehen, wonach sich der Empedokles für eine ‚echte‘ Theateraufführung nicht eignen würde. Lesungen und Rezitationsabende stellen dementsprechend einerseits das produktive Pendant zu einigen kritischen Stellungnahmen hinsichtlich der Bühnenwirksamkeit des Dramas dar, andererseits sind sie als Begleiterscheinung der in dieser Rezeptionssparte klar dominierenden Lesungen und Rezitationen aus den Gedichten Hölderlins zu verstehen, und damit trotz ihres performativen Charakters nicht als Teil der Theaterrezeption. Bis auf weiteres bleibt die Bühnenrezeption des Empedokles eng mit der Figur von Scholz verbunden: Ein Jahrzehnt lang wird so gut wie nur seine Bearbeitung aufgeführt, er selber zeichnet als Initiator der meisten Inszenierungen. Dies gilt exemplarisch für die 1920 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des schwäbischen Dichters auf vier wichtigen Bühnen der jungen Weimarer Republik zur Aufführung gebrachten festlichen Inszenierungen von Tod des Empedokles. Den Auftakt bildete noch einmal die Stuttgarter, nach Kriegsende in Württembergisches Staatstheater umbenannte Bühne. Hier führte Scholz noch einmal als Regisseur am 11. März seine leicht veränderte Einrichtung auf. Die meisten Aufführungen fanden im Kleinen Haus, die Geburtstagsvorstellung (20. März) fand jedoch im großen Haus statt.55 Es folgten unmittelbar darauf eine Münchner Inszenierung im Prinzregententheater unter Leitung von Otto Liebscher (UA 25. März), eine im Frankfurter Schau-

|| 53 Die Quellen sind in der Beschreibung dieser Veranstaltungen uneinig. Kindermann (1943) 31 spricht für Dresden und Halle sowohl von Aufführungen als auch von Rezitationen in verteilten Rollen. Die im Hölderlin-Archiv aufbewahrten Dokumente fügen Details hinzu: Am 27. Februar 1918 fand die Dresdner Lesung im Residenz-Theater statt, die im Hallenser Stadttheater folgte fast zwei Jahre darauf (5. Dezember 1919); für Rüppel (1954) handelte es sich hierbei jedoch um eine Inszenierung der scholzschen Bearbeitung. Eine knappe Rezension in den Dresdner Nachrichten (28. Februar 1918) legt nahe, dass die Bearbeitung von Glaser, über die sonst nichts bekannt ist, auf der ersten Fassung vom Tod des Empedokles basierte und sie durch einige Einsprengsel aus den späteren Fassungen erweiterte; bei der Darbietung handelte es sich wohl um eine rezitatorische Lesung mit aufgeteilten Rollen. 54 Stark herausgestellt werden die „großen Sprecher [Friedrich Kayßler und vor allem Ludwig Wüllner], die Hölderlins Wort von Stadt zu Stadt trugen“, bei Kindermann (1943) 34. 55 In den im Hölderlin-Archiv aufbewahrten Presseankündigungen ist von einer „Neueinstudierung“ die Rede. Beide Akte erhielten bei der Festaufführung am 20. März jeweils eine musikalische Einführung: einmal durch Glucks Ouvertüre zur Iphigenie auf Aulis und dann durch Bruckners „Adagio“ aus der 7. Symphonie.

234 | Ein Theaterjahrhundert spielhaus unter der Regie Richard Weicherts (UA 26. März) und eine in der symbolischen Republikhauptstadt Weimar, in deren Nationaltheater der uns bekannte Hölderlin-Kenner Ernst Hardt eine Vorstellung mit der Musik von Paul Warschawski leitete (UA 27. März).56 Zum ersten Mal in der Bühnenrezeption Hölderlins wurde also ein Dichterjubiläum zum Anlass für Hölderlin-Aufführungen. Diese Koinzidenz sollte sich auch später wiederholen, wobei dann auch andere Gelegenheiten (etwa wissenschaftliche Tagungen oder Preisverleihungen) zu Inszenierungen bzw. Formen performativer Rezeption genutzt werden sollten. Diese keineswegs überraschende Erscheinung ist auch für andere Rezeptionsmodi geradezu typisch, mag es sich dabei um eine essayistische und literarische Hommage, editorische bzw. kritisch-wissenschaftliche Publikationen und Tagungen oder künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Dichter und seinem Werk handeln, und dies gilt selbstverständlich nicht nur für Hölderlin. Bereits im ‚vergesslichen‘ 19. Jahrhundert war der hundertste Geburtstag Hölderlins im März 1870 mit Würdigungen und Feierlichkeiten verschiedenster Art gefeiert worden.57. Der 100. Todestag im Kriegsjahr 1943 sollte dagegen auch auf dem Theater zum Höhepunkt der Inanspruchnahme Hölderlins für die NS-Propaganda werden. Mit Blick nun auf die Bühnenrezeption im Jahr 1920 kann festgestellt werden: Es bestand durchaus die bei solchen Anlässen typische Gefahr, dass die Bedeutung der Hölderlin-Aufführungen über den okkasionellen Rahmen nicht hinausgeht. Dies betrifft hauptsächlich die Stuttgarter Inszenierung, die in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung der Uraufführung war. Nicht nur in dem Sinne, dass sich trotz der „Neueinstudierung“ die beiden Inszenierungen tatsächlich beträchtlich ähnelten und dementsprechend das künstlerische Niveau und die Wirkung keine greifbaren Fortschritte zeitigten,58 sondern mit Blick auf den der ganzen Inszenierung Scholz’ zugrundeliegenden Sinn. Bereits 1916 hatte seine Regie den Charakter einer Hommage

|| 56 Kindermann (1943) 32 erwähnt auch eine Inszenierung in Wiesbaden, über die keine Kenntnisse zu ermitteln sind. 57 Zu jenen Feierlichkeiten, bei denen Hölderlin „nur in seiner Heimat [...] öffentlich gedacht“ wurde, sowie zur „Feier der Stadt und der Universität Tübingen, als dem Dichter 1881 im Botanischen Garten ein Denkmal errichtet wurde“ vgl. Kurz (2004) 140–142. 58 Ganz anderer Meinung Kindermann (1943) 31f., der betont, dass das, „was 1916 noch rhetorisch geblieben war, [...] nun eine manchmal schon ekstatische Stimme“ gewonnen habe, denn „die Qual des Erlittenen geistert unausgesprochen und doch vernehmlich genug durch Spiel und Gebärde – und das Publikum fühlt die Entrücktheit als eine karge Stunde der Erlösung“. Wie seine ganze Rekonstruktion entspringt solch eine Einschätzung einem vorgeformten ideologischen Schematismus. „Die erschütternde deutsche Seelennot der Zusammenbruchszeit [d.h. der politischen Spannungen nach dem Weltkrieg]“, habe „den dichterischen Seher, der ihr das Wort der Aufrichtung gerade auch von der Bühne her schenkte“, gebraucht. Von der Inszenierung im Prinzregententheater heißt es dann, dass sie „knapp nach der Befreiung Münchens aus den Fängen des kommunistischen EisnerRegimes zu einem hohen Fest des Wiederfindens im Eigensten, des Heimkehrens in den Raum der angestammten Deutschheit“ geworden sei.

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an den Dichter gehabt: allgemein durch die feierliche Stimmung, die Konzentration auf dichterische Aspekte und die von Scholz gelenkte Rezeptionssteuerung in den Druckmedien sowie für das Publikum ganz konkret in dem Moment, in dem die Panthea spielende Darstellerin einen „Lorbeerkranz zu Füßen einer rasch improvisierten, an das Tübinger Hölderlindenkmal erinnernden Geniusbildsäule“ niederlegte,59 wodurch das Drama über Empedokles letztendlich in den Hintergrund trat: Im Mittelpunkt stand die Würdigung Hölderlins. Verstärkt wiederholte sich diese Konstellation 1920, als das Drama erneut ganz im Zeichen der Dichter-Feier stand. Das Risiko einer Ritualisierung und Musealisierung der Theateraufführung ist dabei hoch, denn die genannten Operationen verleihen der Vorstellung schnell den Charakter obligaten zeremoniellen Rezitierens der holden Verse des noch holderen Dichters; die spätere Bühnenrezeption des Empedokles sollte dies in mancher Hinsicht bestätigen.

Abb. 2: Der Tod des Empedokles (Frankfurt a.M. 1920). Regie: R. Weichert. Bühnenbildentwurf von L. Sievert

Einen qualitativen Sprung stellten demgegenüber die Münchner, die Weimarer und vor allem die Frankfurter Inszenierung dar, die alle ebenfalls Scholz’ Bearbeitung als Vorlage benutzten. Mit Otto Liebscher, Ernst Hardt und hauptsächlich mit Richard

|| 59 So berichtet E.M. im Schwäbischen Merkur (5. Dezember 1916).

236 | Ein Theaterjahrhundert Weichert – der wenige Monate zuvor die Antigone Hasenclevers mit dezidiert aktualisierendem, anti-musealem Elan auf die Bühne gebracht hatte – gelangt Der Tod des Empedokles in die Hände von führenden Regisseuren, welche das künstlerisch fortschrittliche Theater jener Nachkriegsjahre entscheidend prägten: Liebscher als Oberspielleiter in München, Hardt als Generalintendant in Weimar und Weichert in der Stadt am Main, wo er nach seinen ersten Erfolgen in Mannheim (1918 mit Hasenclevers Der Sohn) als künstlerischer Leiter im Schauspielhaus und später auch an den Städtischen Bühnen zur Galionsfigur des „Frankfurter Expressionismus“ wurde.60 In den Worten des zehn Jahre jüngeren Hasenclever ist Weichert „der kommende Typ des Regisseurs: besessen, leidenschaftlich, suggestiv [...] ein dionysisches Temperament, ohne Feierlichkeit, aber nicht ohne Sinn für die Festlichkeit des Theaters“.61 Mit dem Bühnenbildner Ludwig Sievert realisierte Weichert richtungsweisende Inszenierungen: Der zeittypische Verzicht auf realistische Nachbildung verband sich dort mit einer visionären Vorstellung des Regietheaters, bei der das Verhältnis zum dichterischen Text von Respekt und zugleich Freiheit gekennzeichnet war. Bühnengeschichtlich wird gerade Der Tod des Empedokles für einen „künstlerische[n] Höhepunkt in Weicherts Frankfurter Zeit“ gehalten, da der Regisseur in jener Inszenierung „für Hölderlins feierliches Pathos eine ganz und gar zeitgemäße Form“ gefunden habe (Brauneck 1993–2007, 4, 333f.). Gerade die Bearbeitungs- und Einrichtungsidee von Scholz war mit einem „feierlich[en] Pathos“ überlastet. Bezeichnenderweise rekurrieren sowohl der AusnahmeZeitzeuge Hasenclever als auch der große Theaterhistoriker Brauneck auf den Begriff des „Feierlichen“, um Weicherts Regiestil respektive dessen Hölderlin-Inszenierung zu charakterisieren. Dabei sind die verschiedenen Nuancen des Begriffs zu berücksichtigen. Bei Hasenclever wird „feierlich“ offensichtlich von „festlich“ abgegrenzt: Auf diese Weise will er einerseits die fast sakrale Stimmung von Weicherts Theater einerseits unterstreichen und sie andererseits von gravitätisch-statischen Inszenierungen à la Scholz unterscheiden (der seinerseits eigentlich gerade eine „festliche“ Aufführung anvisiert hatte, aber nicht die tiefe Kluft zwischen Absicht und Ergebnis). Brauneck trifft sich in manchem mit Hasenclever, wenn er Weicherts Regiekonzept als Versuch liest, eine Kontinuität zwischen dem (rezeptionsgeschichtlich bedingten!) „feierlichen Pathos“ von Hölderlins tragischer Sprache und der nicht minder pathetisch aufgeladenen Theaterästhetik des Expressionismus zu konstruieren: Die via maestra der expressionistischen Hölderlin-Rezeption, welche die für das gesamte frühe 20. Jahrhundert charakteristische Enthistorisierung im Sinne einer ästhetischen bzw. politischen Aktualisierung des Dichters als unmittelbaren Zeitgenossen intensivierte.

|| 60 Zum theatergeschichtlichen Zusammenhang vgl. Brauneck (1993–2007) 4, 326–347, insb. 332ff. 61 Hasenclevers Rückblick ist ebd., 333 zitiert.

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Rezeptionsgeschichtlich bedeutsam ist hier vor allem der Umstand, dass Weichert versucht, eine für die Aufführung von Hölderlins Trauerspiel geeignete Theatersprache zu entwickeln, statt wie etwa Scholz alles auf die akustische Wirkung der dichterischen Verse zu setzen – mit anderen Worten, Hölderlins Drama gelangt zum ersten und lange Zeit letzten Mal mit Weicherts Inszenierung ins Regietheater.62 Die verbale und die musikalische Ebene bleiben wichtig; parallel dazu werden aber gestische, szenische und generell visuelle Momente stärker eingesetzt. Hiermit verwirklicht Weichert übrigens, was Scholz als Bearbeiter und Einrichter, wie aus seiner Buchausgabe hervorgeht, teilweise im Sinne hatte, als Regisseur aber allem Anschein nach nicht zu realisieren vermochte. Barbara Wendt-Krämer, die auch anhand des Regiebuchs Weicherts die Empedokles-Inszenierung rekonstruiert hat (1985),63 hebt insbesondere visuelle Elemente hervor, die in genuin expressionistischer Manier prioritär als Ausdrucksmittel eingesetzt werden. Die Sieverts Bühnenbild dominierende begehbare Diagonale schafft eine symbolische Raumteilung, die durch die ausdrucksstarke Farbwahl hervorgehoben wird: Rot gekleidet steigt Empedokles auf dem dunkelblauen Kamm des Ätna entlang in Richtung Krater, der Horizont hinter ihm ist durch gelb-weiße Lichtstrahlen ins Symbolisch-Sakrale entrückt, der Todesgang wird zur einer Apotheose stilisiert. Das Individuum, dessen Über-Menschlichkeit und zugleich metaphysische Einsamkeit durch eine sich auf typisch expressionistische Manier verdichtende Konzentration auf die Darstellerfigur ausgedrückt werden, steht im Mittelpunkt: Hier ist es der von der Kritik hoch gelobte Carl Ebert, der in der Rolle des Empedokles zum semantischen Zentrum der Inszenierung wird. Weichert strebt offenkundig eine synthetische Theatersprache an, in der verschiedene künstlerische Ausdrucksweisen miteinander vereint werden. Die Sprache Hölderlins wird in die Inszenierung integriert, indem die zeittypische Insistenz auf ihrer performativ-rhythmischen akustischen Schlagkraft ins Musikalische gesteigert wird: Wie die sich ansonsten zu Hölderlins Textvorlage keineswegs positiv äußernden Rezensionen zeigen,64 verfehlte die einem Sprechgesang ähnliche || 62 Dem König des deutschsprachigen Regietheaters jener Zeit, Max Reinhardt, hatte der einflussreiche Kritiker Herbert Ihering bereits 1912 empfohlen, Hölderlins Tod des Empedokles in der scholzschen Bearbeitung mit Alexander Moissi als möglichem Hauptdarsteller auf die Bühne zu bringen. Zu dieser denkwürdigen Begegnung, die den Verlauf der Bühnenrezeption der Trauerspielfragmente hätte ändern können, kam es aber nicht, Reinhardt sollte nie ein Hölderlin-Stück aufführen. Vgl. Rüppel (1954) mit Bezug auf eine Besprechung Iherings in der Schaubühne (4. Juli 1912). 63 Dies ist ein Zeichen für die Bedeutung jener Empedokles-Inszenierung: Sonstige Aufführungen der 1920er Jahre finden nur in spezifischen Studien zur Hölderlin-Rezeption Erwähnung, während Weicherts Tod des Empedokles das Interesse von Theaterhistorikern und -wissenschaftlern weckte und immer noch weckt. 64 Bernhard Diebold warnte etwa in der Frankfurter Zeitung: „Kein Theater mittlerer Kunstkraft wage sich an den ‚Empedokles‘; es wird die Poesie in Deklamation und Eintönigkeit ertränken“ (vgl. Wendt-Krämer 1985).

238 | Ein Theaterjahrhundert Vortragsweise nicht ihre Wirkung. Die „Festlichkeit“ des theatralischen Ereignisses im Sinne Hasenclevers wurde so akzentuiert, ohne einem abgedroschenen pseudoexpressionistischen „Schreistil“ zu frönen – auch dies wurde in den Besprechungen ausdrücklich vermerkt.65 Die Empedokles-Hochkonjunktur im Jubiläumsjahr wirkte noch kurze Zeit nach. Ihr sollte bis auf wenige teils wirkungsvolle Reprisen bis 1926 dann jedoch ein zwölfjähriges Schweigen folgen. Der Tod des Empedokles wird also nicht wirklich im Theaterrepertoire der Weimarer Republik aufgenommen. Auch nach 1933 werden noch einige Jahre vergehen, ohne dass sich auch nur eine Bühne für die Trauerspielfragmente über den Agrigentiner Philosophen interessieren würde. Eine kurze Darstellung der Zeugnisse der bis 1926 verhaltenen Resonanz mögen vor dem Hintergrund des bereits Erörterten vielleicht die Ursachen für die längste Pause in der Bühnenrezeption des Empedokles beleuchten.

Abb. 3: Der Tod des Empedokles (Darmstadt 1926). Regie: E. Legal

Weicherts Einfluss ist vor allem in den beiden Inszenierungen Ernst Legals, erstmals in Berlin (1923) und dann in Darmstadt (1926), zu spüren. Beide erzielten auch die größte Wirkung und werden daher hier einzeln behandelt. Bis auf die letztgenannte

|| 65 Vgl. dazu Wendt-Krämer (1985): Die Kritik habe insbesondere die musikalische Rezitation der Verse geschätzt.

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sowie eine resonanzarme studentische Laienaufführung in Heidelberg (UA 24. Februar 1924)66 liegt allen Empedokles-Aufführungen dieses ersten Rezeptionsjahrzehnts die Fassung von Scholz zugrunde. Insgesamt ist in der Danziger (Uraufführung im April 1921)67, der Bochumer und Duisburger (15. Juni 1922)68 sowie der Wiener (19. Juni 1923)69 Inszenierung auch eine Kontinuität mit Scholz’ Regiestil zu erkennen, die vor allem in der Konzentration auf das gesprochene Wort und auf das Feierlich-Monumentale aufscheint. Sowohl in der österreichischen Hauptstadt als auch im Ruhrgebiet brillierte Ludwig Wüllner als Empedokles. 1923 im Berliner Staatsteather unter der Intendanz von Leopold Jeßner, drei Jahre später im Hessischen Landestheater Darmstadt, wo er selber Intendant war, inszenierte hingegen Ernst Legal Empedokles-Aufführungen, die alle Ausdrucksmittel des modernen Theaters einsetzten.70 Besonders für die Berliner Vorstellung ist die Linie auffällig, welche von Weichert zu Legal führt: Kontinuitätszeichen sind die Benutzung der scholzschen Fassung, das Engagement desselben Darstellers für die Rolle des Empedokles (Carl Ebert) sowie expressionistische Stilelemente sowohl in der Regie – etwa bei der Alternation von Massen- und Einzelszenen – als auch in dem abstrakt wirkenden Bühnenbild von Rochus Gliese.71 Die Darmstädter Inszenierung von

|| 66 Wie die spätere und resonanzreichere Fassung Wilhelm Michels basierte sie auf der zwei Jahre zuvor erschienenen Textrekonstruktion Ludwig von Pigenots in Hell. 3, mit Rekurs auf die so genannten erste und zweite Fassung. 67 Im Stadttheater Danzig wurde Der Tod des Empedokles von Hermann Merz inszeniert, der dabei laut Kindermann nicht näher bezeichnete „Sinfonieteil[e]“ Beethovens erklingen ließ. Werden die im Stil der nationalistischen Propaganda verfassten Passagen über die „jenseits der durch das Versailler Diktat geschlossenen Grenzen des Unrechtes im vom Mutterland abgeschnürten Danzig“ realisierte Inszenierung vernachlässigt, bietet Kindermann einige anderswo unauffindbare Informationen. Empedokles wurde (überzeugend) von Ferdinand Neuert gespielt; bezeichnend für die Aufführung sei das „Maestoso der gehobenen Sprachmelodie“, das zusammen mit dem szenischen „heroisierenden Rahmen“ die von Scholz erwünschte monumentale Stimmung geschaffen zu haben scheint (Kindermann 1943, 34). 68 Regie führte hier Saladin Schmitt, der in der Weimarer Republik und später im Dritten Reich (dessen Kulturideologie der „dem geist-aristokratischen Pathos des George-Kreises verpflichtet[e]“ Schmitt „ablehnend gegenüberstand“) dank seiner Klassiker-Inszenierungen bekannt wurde (Brauneck 1993–2007, 4, 510). Kindermann (1943) 35 registriert das geglückte Zusammentreffen von Wüllners „Persönlichkeitskunst“ und Schmitts „Monumentalregie“. 69 Friedrich Rosenthal, der seinen Lieblingsschauspieler Wüllner engagieren ließ, leitete die Inszenierung im Deutschen Volkstheater (Musik von Carl Hieß). Kindermann vermerkt, dass die Aufführung „von der akademischen Jugend stürmisch gefeiert wurde“ (1943, 35). . 70 Zu Legal als Schauspieler, Schauspiel- und Opernregisseur sowie als Intendant vgl. Barkhoff (1965), insb. zur Mitarbeit mit Jeßner 21f. und zur dreijährigen Darmstädter Generalintendanz 22–24. 71 Kindermann lehnt unter Verwendung antisemitischer Argumente die Inszenierung als „Satyrspiel“ vehement ab; eindeutig sind seine Tiraden gegen Jeßner und gegen die Schauspieler jüdischer Abstammung gerichtet (1943, 35f.).

240 | Ein Theaterjahrhundert 1926 markiert dann, z.B. in der Szenerie von Paul Thesing,72 den Übergang in eine traditionellere, in manchem ‚klassischere‘ visuelle Sprache, so dass die spätexpressionistische Atmosphäre der Inszenierung (und der Darmstädter Bühne der 1920er Jahre im Allgemeinen) etwas abgemildert erscheint.73 Ebenfalls aus dem Umkreis des Darmstädter Expressionismus kam wie bereits erwähnt Wilhelm Michel, dessen Bühnenfassung der zweiten Empedokles-Inszenierung von Ernst Legal zugrunde lag. Wie in Stuttgart Wilhelm von Scholz, so war Michel der spiritus rector eines Darmstädter Höhepunkts der frühen Theaterrezeption Hölderlins: Als Initiator und Vermittler, als Hölderlin-Kenner, -Bearbeiter und -Interpret schuf er die Voraussetzungen dafür, dass zwischen 1922 und 1926 alle drei großen Theatertexte auf den Brettern des Hessischen Landestheaters aufgeführt werden konnten. Der Tod des Empedokles kam in dieser Reihe zuletzt, nachdem Eugen Keller die michelschen Bühnenfassungen des Ödipus und der Antigone bereits inszeniert hatte (vgl. 3.1.2.2). Dabei markiert Legals Empedokles-Regie auch das Ende von Hölderlin-Inszenierungen auf der Bühne der Weimarer Republik überhaupt. Der Darmstädter Höhepunkt ist somit auch ein Schlusspunkt. Michels Bühnenfassung des Empedokles weist deutliche Unterschiede zur scholzschen „Bearbeitung und Einrichtung“ auf; beide verbindet zwar die Intention, den Bühnen einen zugleich Hölderlin-getreuen und inszenierungstauglichen Text anzubieten, ihre Prämissen und Art der Umsetzung unterscheiden sich aber deutlich voneinander. Michel legt eine sehr behutsame Überarbeitung der in der Ausgabe von Ludwig von Pigenot (1922)74 als erste Fassung isolierten Szenengruppe vor; prinzipiell sind bei ihm lediglich vorsichtige Kürzungen zu vermerken, keine Hinzufügungen oder einschneidenden Abänderungen. Das sprachliche Material ist durchweg hölderlinscher Provenienz. Dementsprechend wurde sie nur als Bühnenmanuskript vervielfältigt. Anders als Scholz mit seiner separaten Publikation sowie einigen seine ‚Einrichtung‘ betreffenden Entscheidungen scheint Michel letztendlich keine selbständige Arbeit angestrebt zu haben. Seine Bühnenfassung präsentiert sich ausdrücklich als dem Dichterwort und dessen theatralischer Umsetzung verpflichtet; der Bearbeiter bleibt, theatralisch gesprochen, hinter den Kulissen. Der von Michel zur Uraufführung seiner Bühnenfassung beigesteuerte, aber erst nachträglich in den Darmstädter Blättern für Theater und Kunst erschienene Aufsatz zeigt, inwieweit dies intendiert war. Geleitet habe ihn || 72 In kunsthistorischem Rückblick wird Thesing deswegen gerühmt, weil er in seiner Bühnengestaltung „die diskrepante Szenerie von südlich-schöner Gartenlandschaft und wild-urtümlicher Felsengegend am Aetna mit der Sprachgestik und dem dramatischen Geschehen in Einklang zu bringen“ versuchte (Welch/Wolbert 1997, 68). 73 Vgl. auch unten die Erörterung der Ödipus- und der Antigone-Inszenierung in demselben Theater (1922–23), die stilistisch in manchem die spätere Empedokles-Inszenierung vorbereitet haben. 74 Dabei handelt es sich um den dritten Band der von Hellingrath initiierten historisch-kritischen Ausgabe.

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der „denkbar einfachste Grundgedanke“, d.h. die ihm angeblich natürlich aus dem ihm verfügbaren Textmaterial erwachsene Idee, „ausschließlich der ersten ausgeführten Fassung“ zu folgen (Rüppel 1954, 92). Hatte Scholz sich von dem Gedanken lenken lassen, dass den Fragmenten ein einheitlicher Dichterwille zugrunde liege und dass der Bearbeiter dementsprechend zu dessen Rekonstruktion verpflichtet sei, so betrachtet Michel die drei Fassungen gleichsam philologisch-nüchtern als nicht auf einen gemeinsamen Nenner zurückführbar und lässt die eigene Entscheidung für die erste und am weitesten ausgeformte Niederschrift als Beweis wissenschaftlicher Seriosität erscheinen. Dass es sich dabei nicht weniger als bei Scholz um eine Stilisierung handelt, bei der letzten Endes vielmehr die eigene Hölderlin- und Empedokles-Interpretation bei der Wahl der Bearbeitungsmodi maßgebend ist als die konkrete Beschaffenheit der Texte, geht aus einem offenen Widerspruch hervor, den Michel in seinen Überlegungen zu übertünchen versucht. Im Gegensatz zur proklamierten philologischen Strenge und zum Prinzip der Natürlichkeit/Einfachheit steht nämlich die Übernahme der sogenannten Manes-Szene aus der dritten Fassung in Michels Bühnenfassung. Dabei ist die Begründung dafür inhaltlicher Natur und hat nichts mit den Betrachtungen textkritischer Art zu tun, mit denen der Bearbeiter seine angeblich „ausschließliche“ Nutzung der ersten Fassung begründet hatte; vielmehr entsprechen sie seiner eigenen Deutung vom Tod des Empedokles. In dem Einsprengsel aus der späteren Niederschrift erkennt Michel nämlich den Hinweis, „daß der Opfertod des Empedokles zugleich ein Opfer im Dienste des Volkes und Landes“ sei (Rüppel 1954, 93). Deswegen hat er die Szene in die frühere Handlung integriert, wo dieser ihm offensichtlich unverzichtbare Aspekt nicht deutlich genug zum Vorschein komme. Unschwer erkennt man in dieser einzigen, jedoch gravierenden Abweichung von der proklamierten Methode, ja noch mehr in den sie rechtefertigenden Überlegungen, Michels Zugeständnisse an den deutschnationalen Diskurs wieder, der nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und in den wachsenden politisch-kulturellen Spannungen der Weimarer Republik immer virulenter wurde. Inwieweit dies auch die Empedokles-Inszenierung Legals und ihre Wirkung prägte, lässt sich angesichts der aktuellen Dokumentationslage kaum beurteilen. Augenscheinlich konnten die nicht gerade konvergierenden Weltanschauungen von Bearbeiter und Regisseur durch die Verortung der Inszenierung jenseits ideologischer und tagespolitischer Deformationen ausgeglichen werden, denn die wenigen einschlägigen Quellen sprechen von einer „reinen“, „strengen“ Vorstellung, deren Schwächen gerade nicht in der Überzeichnung, sondern in der eher exzessiven Stilisierung lag (Rüppel 1954, 99). Die Kehrseite der Medaille ist selbstverständlich, dass dadurch eine produktive Auseinandersetzung mit den Trauerspielfragmenten massiv eingeschränkt, wenn nicht ganz unmöglich wurde. Im Vergleich zu den beiden früheren Berliner EmpedoklesInszenierungen scheint die Darmstädter Aufführung demnach, einmal von der jeweils zugrunde gelegten Bühnenbearbeitung abgesehen, durch einen schwächeren produktiven Einsatz, ein künstlerisch niedrigeres Niveau und ein global seichteres

242 | Ein Theaterjahrhundert Resultat gekennzeichnet zu sein, kurz: eine frühzeitige Musealisierung des gerade für die Bühne wiederentdeckten Empedokles. Es wundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Kindermann in seiner verzerrenden Rekonstruktion der Empedokles-Rezeption im Theater der 1920er–40er Jahre die Darmstädter Inszenierung gerade mit Bezug auf Michel als „volksgeschichtlich [...] deshalb so bedeutsam“ findet, weil sie „ausdrücklich im Zeichen der nun schon erstarkenden nationalen Kräfte, das heißt im Zeichen der sich anbahnenden Wiedergeburt der Nation steht“. Bei diesen Behauptungen kann er sich auf Michels Begründung zur Übernahme der Manes-Szene berufen und braucht weiterhin andere Reflexionen des Bearbeiters über den antiken Opfer-Begriff nur leicht zu verdrehen, um bereits in jener Empedokles-Aufführung von 1926 „den ewig deutschen Geist der heraufdringenden Wiedergeburt“ zu erblicken. Der parteitreue Theaterhistoriker kann anschließend problemlos eine Kontinuität zur Wiederaufnahme vom Tod des Empedokles „erst lange nach all den geschlagenen Schlachten, erst lange nach dem Sieg der Aufrechten“, sprich im NS-Theater der 1930er Jahre, suggerieren: Die „Hölderlins würdige theatralische Feier“ Michels und Legals wird auf diese Weise nicht als letzte Etappe der zehnjährigen Bühnenrezeption seit 1916, sondern als Vorspiel zur späteren, eigentlich aber erst 1938 wieder einsetzenden Wirkung gedeutet (Kindermann 1943, 37f.). Dieser Kunstgriff ermöglicht es Kindermann auch, die Frage nach möglichen Gründen für das Ausbleiben von Empedokles- und überhaupt Hölderlin-Inszenierungen in den letzten Jahren der Weimarer Republik und in den ersten des Dritten Reiches zu umgehen. Auch spätere Rekonstruktionen (von Rüppel 1954 bis Ennen 2008) gehen dieser Frage nicht nach. Dabei klafft hier eine Lücke von zwölf Jahren. Auch in Anbetracht dessen, dass andere Formen der Hölderlin-Rezeption – Edition, Forschung, literarische Wirkung usw. – hiervon nicht betroffen sind, mag diese Enthaltsamkeit der deutschsprachigen Bühnen interne, also mit dem Theaterdiskurs jener Jahre zusammenhängende Gründe haben. Allem Anschein nach hat Der Tod des Empedokles es nicht ins feste Repertoire aufgenommen zu werden geschafft. Die je nach Rekonstruktion zwischen zehn und zwölf Inszenierungen in zehn Jahren (1916–1926) – eine ernüchternde Zahl, auch wenn es sich in einzelnen Fällen um anspruchsvolle und viel beachtete Aufführungen handelte – verdanken sich überwiegend der Initiative einzelner Persönlichkeiten aus dem Umkreis der ‚Hölderlin-Renaissance‘. Der auch damit begründbare Hommage-Charakter einiger Inszenierungen (nicht nur im Jubiläumsjahr 1920) lässt sich oft an allzu deklamatorischen oder feierlichen, wenn nicht gar starr-musealen Darstellungsformen erkennen. Auch wenn dies nicht immer der Absicht von Bearbeitern bzw. Regisseuren entsprach, so ist es doch offensichtlich mit jener Akzentuierung des Akustischen verbunden, welche die Hölderlin-Rezeption nach 1900 und vor allem nach Hellingrath geprägt hatte. Dies hat wohl maßgeblich dazu beigetragen, dass trotz zweier sich gerade in ihren Unterschieden komplettierender Bearbeitungen beide keinem Regisseur der Weimarer Republik nach 1926 als Bühnentexte geeignet erschienen. Auf die künstlerisch

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überzeugendsten und aufgrund ihrer Darbietungsorte Frankfurt und Berlin reichlich von Publikum und Kritik beachteten Versuche von Weichert und von Legal folgten keine vergleichbaren. Einerseits könnte man das theatergeschichtlich mit dem Übergang von expressionistischen hin zu ‚neusachlichen‘ Ausdrucksformen und thematischen Konstellationen erklären, denen tatsächlich Sprache, Struktur und Diskurs von Hölderlins Empedokles fern zu stehen scheinen. Vollauf vermag diese Begründung jedoch kaum zu befriedigen, denn in der fließenden Situation der Theaterästhetik bestanden bis in die frühen 1930er Jahre durchaus expressionistische neben traditionellen oder gar konservativen Darstellungsformen weiter fort, wobei letztere ja übrigens damals der Hölderlin-Rezeption eher nahe standen.75 Dass nach 1933 expressionistische oder anders geartete moderne, avantgardistische Annäherungsversuche an Hölderlin auf deutschem Boden nicht mehr möglich waren, erklärt sich von selbst, auch schon allein weil viele Akteure der theatralischen ‚Wiederentdeckung‘ zur Emigration oder zur Aufgabe ihrer künstlerischen Tätigkeit gezwungen wurden.76 Die Bedingungen des deutschen Theaters im Exil ermöglichten dann kaum einen Rückgriff auf die Theatertexte des schwäbischen Dichters, dessen Rezeption innerhalb des Reichs hingegen fest in den Händen der „Braunhemden der Literaturgeschichte“ war, wie ein entsetzter György Lukács 1935 feststellen musste (185). Über die langsam ‚unterm Hakenkreuz‘ erfolgte Rückbesinnung auf Hölderlin als Theaterdichter wird noch an späterer Stelle zu berichten sein. 3.1.2.2 Antigone und Ödipus auf der Bühne 1919–1924 Nun gilt es, durch einen kleinen Schritt zurück unsere Aufmerksamkeit erneut auf Hölderlins Sophokles-Übersetzungen zu lenken, die parallel zum Tod des Empedokles uraufgeführt und dann (eher selten) im Theater der frühen Weimarer Republik inszeniert wurden. Ehrensteins Appell, man lasse Hölderlins „erhaben[e] Nachdichtungen“ vor einem Publikum erklingen, lag gar nicht lange zurück, als am 26. Juni 1919 die Antigone unter Josef Daneggers Leitung im Stadttheater Zürich ihre Weltpremiere hatte; Elisabeth Bergner übernahm dabei die Titelrolle, Wilhelm Dieterle spielte Kreon. Bei diesen am Anfang einer glanzvollen, auch internationalen Karriere stehenden Hauptdarstellern – hauptsächlich die zweiundzwanzigjährige Bergner, spätere Czinner, die in den 1920er Jahren unter Max Reinhardts Regie reüssieren und auch in der Emigration und der Nachkriegszeit sowohl als Filmschauspielerin als auch als

|| 75 Vgl. Brauneck (1993–2007) 4, 348–391. 76 Auch um dies zu verdeutlichen, werden in vorliegender Untersuchung lebensgeschichtliche Aspekte erwähnt: Auf den ersten Blick mit der Hölderlin-Rezeption nicht unmittelbar zusammenhängend, zeigen sie doch, inwieweit die kulturelle und künstlerische Wirkung des Dichters vom politischen Kontext abhing.

244 | Ein Theaterjahrhundert Regisseurin Erfolge feiern sollte77 – und darüber hinaus bei einem Regisseur, dem man professionelle Kunstfertigkeit nicht absprechen kann, wäre vielleicht eine wirkungsvollere Inszenierung zu erwarten gewesen.78 Tatsächlich weisen die überlieferten Zeugnisse auf einer eher misslungene Tragödienaufführung hin, weshalb sowohl Kindermann als auch der zuverlässige Flashar der Zürcher Vorstellung kaum Bedeutung zumessen. Der von antisemitischen Einstellungen geprägte Theaterhistoriker tut sie als „Versuch“ ab: Gleich einer früheren, von ihm fälschlicherweise zu den Inszenierungen von Hölderlins Übersetzung gezählten Kölner Antigone-Aufführung79 sei sie „noch vereinzelt geblieben“ und letztendlich wirkungslos (Kindermann 1943, 45). Der Gräzist erblickt in ihr nach Sichtung der zeitgenössischen Rezensionen „keine eigentliche, adäquate Wiederentdeckung“; von ihr seien schlichtweg „keinerlei Anregungen“ ausgegangen (Flashar 1991, 144). Die Zürcher Inszenierung zählt Flashar zu „den Seltsamkeiten der Rezeptionsgeschichte“ (ebd.), fast als wäre sie (vor allem hinsichtlich des Rekurses auf Hölderlin) eine Überraschung. Eigentlich sind aber Verbindungen zu Ehrenstein und allgemeiner zum expressionistischen Hölderlin- bzw. Antigone-Enthusiasmus mehr als wahrscheinlich, auch wenn sie nicht mit letztgültiger Sicherheit postuliert werden können.80 Überhaupt bleiben viele Aspekte der Entstehung und der Form der Zürcher Inszenierung aus Mangel an Dokumenten im Dunkeln. So ist zum Beispiel unklar, ob

|| 77 Die 1897 geborene Bergner hatte um 1920 in Zürich ihr erstes wichtiges Engagement; die Rolle der Antigone war ihre Abschiedsrolle am Stadttheater. Ihre nächsten Stationen waren Wien, München und vor allem Berlin. Nach der Heirat mit dem Filmregisseur Paul Czinner folgte bald die gemeinsame, durch die NS-Machtübernahme bedingte Emigration. Die Künstlerin blieb bis ins hohe Alter vielfältig aktiv (vgl. Völker 1990, insb. 40–60). Der vier Jahre ältere Dieterle sollte u. a. auch bei Max Reinhardt arbeiten. Er emigrierte bereits 1930 in die USA, wo er als Filmregisseur tätig war. Nach seiner Rückkehr setzte er im europäischen Theater die Tradition Max Reinhardts fort. 78 Der Wiener Josef Danegger (eigentlich: Deutsch), der aus einer Schauspieler-Familie stammte, war vierzehn Jahre lang Spielleiter in Zürich. Zum Theater in der Schweiz zwischen den Höhepunkten um 1918 (DADA) und um 1940 (Inszenierungen von in Deutschland verfemten Autoren im Schauspielhaus) vgl. Brauneck (1993–2007) 4, 538–548. 79 Jene Kölner Inszenierung basierte eigentlich auf Donners Übersetzung (2. Mai 1913, Regie von Hans Werckmeister); die Verwechslung Kindermanns wurde von anderen Forschern übernommen (vgl. berichtigend Flashar 1988, 353f.). 80 Eine Verbindung zu Ehrensteins Sophokles-Hölderlin-Edition ist wegen der expressionistischen Prägung von Buch und Inszenierung sowie aufgrund persönlicher Kontakte, hauptsächlich des Verhältnisses Elisabeth Bergners zu Ehrenstein wahrscheinlich. Letzterer war ihr in den Jahren 1916–18 nach Zürich gefolgt und arbeitete dort eng mit dem damaligen Theaterdirektor Alfred Reucker zusammen. Tatsächlich ist bei Völker (1990) 60 vermerkt, dass zum „großen Befremden“ Reuckers „Ehrenstein ausgerechnet für die als ‚dunkel‘ geltende Hölderlinsche Übertragung votiert“ habe. Ein Beleg hierzu wird aber nicht angegeben, ein direkter Einfluss Ehrensteins auf die Entscheidung für Hölderlin und auf die Benutzung seiner Edition bleibt die näher liegende Hypothese.

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Hölderlins Übersetzung gekürzt bzw. bearbeitet wurde.81 Der Inszenierungsstil erschien jedenfalls auch Zeitgenossen künstlerisch dem Expressionismus verpflichtet; Hinweise auf eine politische Akzentsetzung fehlen, vielmehr wurde Antigones Geschichte als persönlich-pathologisches „Leidensdrama“ gedeutet (ebd.). In einem Punkt stimmen die Quellen überein, nämlich dass die Inszenierung verrissen wurde.82 Die beiden auffälligsten Regieentscheidungen stellen gleichzeitig die am schärfsten kritisierten Aspekte dar. Einerseits stieß die Wahl von Hölderlins Übersetzung an sich auf Unverständnis;83 andererseits verdunkelte die Verschiebung des nach antiker Praxis vom Morgengrauen bis zum Abend verlaufenden Geschehens in eine nächtliche Handlung nicht nur optisch die Kunstwahrnehmung des anscheinend nicht zahlreichen Publikums.84 Dass in den Augen, oder besser: in den Ohren vieler Rezipienten Hölderlins Übersetzungssprache „für eine Theateraufführung doch zu kompliziert“ sei, so etwa ein bei Flashar zitierter Kritiker der Züricher Post (28. Juni 1919), verwundert für jene Aufführung noch weniger als für die folgenden (1991, 144). Flashar, ein profunder Kenner der deutschsprachigen Sophokles-Übersetzungen sowie ihrer Bühnenwirkung, schreibt hierzu allgemein: „Wer im Theater Antigonae oder Oedipus in der Übersetzung Hölderlins hört und sieht, wird zwar von der Sprachgewalt ergriffen sein, kann aber manches nicht verstehen und muss manches falsch verstehen“ (2007, 26). Selbstverständlich müsste solch eine Wirkung auf den Hörer historisch differenziert betrachtet werden; darüber hinaus kennzeichnet eine Theaterinszenierung etwa im Gegensatz zur stillen bzw. lauten Lektüre gerade, dass die Sinnerzeugung der Produzenten und dementsprechend die Sinnwahrnehmung der Rezipienten keineswegs an der verbalen Ebene des Textes haften bleibt. Vielmehr wäre danach zu fragen – gesetzt, die Quellen geben darüber Auskunft –, wie das jeweilige Bühnenereignis die

|| 81 Bühnenfassungen lagen 1919 noch nicht vor. Dass Michels Bearbeitung, die wenige Jahre später inszeniert wurde, zu diesem Zeitpunkt bereits fertig war und zur Verfügung stand, ist kaum denkbar, denn Michel selbst scheint 1920 von der Zürcher Inszenierung nichts zu wissen und betrachtete die sich in Darmstadt in Vorbereitung befindlichen Aufführungen beider Sophokles-Übersetzungen als Uraufführungen. Durchaus möglich ist hingegen, dass der Zürcher Inszenierung Hölderlins von Ehrenstein 1918 herausgegebener Text zugrunde lag, vgl. die vorige Anmerkung. 82 „Hölderlin und ich wurden von der Kritik verrissen. Aber ich war doch gut, und Hölderlin ist gewaltig“ – so Elisabeth Bergner in einem Brief an Thomas Schramek, zit. aus Völker (1990) 60. 83 „Weshalb von den vielen Übersetzungen gerade diese gewählt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis“ (Züricher Post 28. Juni 1919). 84 Vgl. in Flashar (1991) 144 eine Rezension aus der Neuen Zürcher Zeitung (28. Juni 1919); auf dieser Rezension basieren obigen Ausführungen zur Zürcher Inszenierung. Flashar erwägt eine Verbindung zwischen der Entscheidung, Antigone als Nachtstück aufzuführen, und Max Reinhardts Arena-Inszenierungen von Hofmannsthals König Ödipus (1910), die zwischen Nacht und Morgengrauen angesiedelt waren (vgl. ebd. und 126–128).

246 | Ein Theaterjahrhundert Wirkungen des akustisch dargebotenen Textes (zwischen Sprachgewalt und Dunkelheit usw.) durch andere Elemente integriert bzw. verfremdet und wie der Theatertext im weiten Sinne dem Zuschauer ‚verständlich‘ sein kann. Um im Kontext um 1920 und im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Informationen zu bleiben: Den damaligen Theaterbesuchern war Hölderlins Übersetzungssprache ein Novum, für manche ein faszinierendes, für viele ein befremdliches. Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen waren bestimmt nicht zu vergleichen mit jenen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auf deutschen Bühnen noch zirkulierenden, etwa von Donner oder von Wilamowitz-Moellendorff, aber selbst neuere Übertragungen sowie poetisch gehobene Dramen und Bearbeitungen der klassischen Moderne und des Expressionismus könnten ihnen nur mit Vorsicht gegenübergestellt werden. Generell ist festzuhalten, dass den Inszenierungen sowohl von Sophokles’ Tragödien als auch von mehr oder weniger frei nach Sophokles bearbeiteten Dramen nach 1900 meist sprachlich höchst andersartige Texte zugrunde lagen – auch der Höhepunkt damaliger Bühnenwirkung der antiken Tragödie und von Antikendramen, sprich Max Reinhardts Inszenierungen von Hofmannsthals Antikendramen bzw. Übertragungen (und, wenn man will, auch deren musiktheatralische Adaption durch Richard Strauss), basierte auf im Vergleich zu Hölderlins Übersetzungen sprachlich glätteren Textvorlagen.85 Gerade die Entdeckung der sprachlichen Andersartigkeit der Sophokles-Übersetzungen Hölderlins für die Bühne gilt Flashar als am „folgenreichsten“ für die Rezeption der antiken Tragödie im Theater der 1920er Jahre, deren innovative Züge mit den Schlagworten „Feierliche Innerlichkeit“ und „Schicksalswalten“ benannt und mit Entwicklungen in der zeitgenössischen Altertumswissenschaft parallelisiert werden (Karl Reinhardt, vgl. Flashar 1990, 143ff.). Tatsächlich ist nun zu zeigen, dass nach dem Zürcher Erstling Hölderlins Sophokles-Übersetzungen im Zeichen einer apolitischen Zeitlosigkeit inszeniert wurden, bei der ein Rückzug sowohl geschichtlicher als auch existentieller Art (in die Archaik bzw. in die Innerlichkeit) favorisiert wurde, und in der Tat sollte dieser Ansatz bis auf einige (markante) Ausnahmen über Jahrzehnte dominieren – Flashar spannt den Bogen bis in die 1960er Jahre und verweist auf eine ähnlich konstant bleibende Einstellung der deutschsprachigen Tragödienforschung von Reinhardt bis Wolfgang Schadewaldt. Überblicksweise mag dies gelten, wobei an späterer Stelle die einzelnen Etappen sowie Brüche und Kontinuitäten zu erörtern bleiben, nur sei im Vorfeld der Analyse der diese Entwicklung einleitenden || 85 Anders als die Forschung, die eine vergleichende Betrachtung von Hölderlins und Hofmannsthals Tragödienübersetzungen bzw. Adaptionen hinsichtlich der Impulse, die der Wiener Dichter durch seinen Kontakt zu Hellingrath und anderen erhielt, weitgehend versäumte, hat das zeitgenössische Theater die Gegenüberstellung beider sprachlicher, kultureller und theatralischer Auseinandersetzungen mit griechischen Vorlagen und mit den Griechen allgemein produktiv genutzt: Die Rede ist von der Elektra-Antigone-Kombination Alles ist Tot. Formen der Einsamkeit, die Werner Schroeter für die Berliner Schaubühne inszeniert hat (17. Juni 2009, vgl. Castellari 2016b).

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Darmstädter Inszenierungen bemerkt, dass sie sich zwar mit Blick auf spätere Hölderlin-Aufführungen als traditionsbildend und in diesem Sinne als „folgenreich“ erweisen werden, jedoch im Kontext des überaus facettenreichen Theaterdiskurses der Weimarer Republik kaum Wirkungen zeitigen sollten. 1922 und 1923 war also die Darmstädter Bühne jener Ort, an dem beide SophoklesÜbersetzungen Hölderlins zwar nicht ihre Ur-, jedoch nach übereinstimmender Meinung ihre erste resonanzreiche Aufführung erlebten. Wilhelm Michel lieferte sowohl zum Ödipus als auch zur Antigone Bühnenbearbeitungen, die er selbst als höchst behutsam bezeichnete und gerade als solche von späteren Forschern positiv beurteilt wurden – es handelt sich hierbei um eine der bereits erörterten Empedokles-Bearbeitung ähnliche Konstellation. Als Bearbeiter der Tragödienübertragungen sah sich Michel jedoch mit anderen Problemen konfrontiert. Dies gilt für alle weiteren Versuche dieser Art. Darüber hinaus können die auftretenden Schwierigkeiten auch für die Inszenierung von Belang sein, wie nun am Beispiel Michels, der für alle größeren Theatertexte Hölderlins eine Bühnenbearbeitung angefertigt hat, illustriert werden soll. Bei Ödipus und Antigone spielt einerseits die für den Empedokles heikle Frage der Unvollständigkeit keine Rolle, insofern beide Übertragungen komplett vorliegen. Anders als die Trauerspielfragmente werfen sie auch keine grundsätzlichen editorischen Probleme auf: Eine Entscheidung zwischen hinsichtlich ihrer philologischen Rekonstruktion divergierenden Vorlagen muss seitens des Bearbeiters nicht gefällt werden. Die für den Tod des Empedokles kennzeichnende (und ambigue) vom Fragmentcharakter des Stückes herrührende Faszination, die auch eine Herausforderung darstellt und die oft, vor allem im frühen 20. Jahrhundert, die Vorstellung einer vermeintlichen Einheit der Komposition impliziert, die es zu erretten gilt (so z.B. bei Scholz), weicht bei den Sophokles-Übersetzungen einer nicht minder ambiguen Faszination des sprachlichen Grenzfalls. Hier wird der Bearbeiter mit einem dichterischen Duktus konfrontiert, und dadurch mit einer transformierenden Übertragung des Griechischen und Antiken ins Deutsche und Moderne, die an Kühnheit kaum zu überbieten ist. Vordergründig erscheinen für den jeweiligen Bearbeiter vor allem der Umgang mit den sogenannten ‚Fehlern‘ und, damit oft verbunden, der mit der sogenannten ‚Dunkelheit‘ von Hölderlins Übersetzungen – beides stark kontextabhängige Begriffe. In einigen Fällen wird die Auseinandersetzung mit den Übersetzungen durch die Einbeziehung der Sophokles-Anmerkungen bzw. anderer theoretischer Aussagen Hölderlins ergänzt, womit die bereits bei der sprachlichen Bearbeitung des dramatischen Textes aufscheinenden thematischen Konstellationen ästhetisch und kulturgeschichtlich vertieft werden. Anders und intensiver als bei den Trauerspielfragmenten zu Empedokles, deren Sprache und Antike-Moderne-Konstellation ebenfalls eine große Ausstrahlungskraft innewohnt und die damit auch zur produktiven Auseinandersetzung drängen, sieht sich der Bearbeiter von Ödipus und Antigone mit Texten konfrontiert, bei denen nahezu jedes Wort bzw. Wortgefüge ein breites Spektrum an Fragen aufwirft, die vom Verhältnis zur antiken Vorlage bis zu ihrer zeitgenössischen literarischen wie theatralischen Wirksamkeit reichen. Letzten Endes geht es hierbei

248 | Ein Theaterjahrhundert um Bearbeitungen von bereits mit bearbeitendem (und kommentierendem) Gestus verfassten Übersetzungen, um eine intertextuelle Dramatik „au troisième degré“,86 die entsprechend komplexe formale und inhaltliche Stratifikationen produziert, zu der in der intermedialen Form der Inszenierung eine weitere Transformationsschicht hinzukommt. Jeder Bearbeiter der Sophokles-Übersetzungen wird seinen Schwerpunkt auf einige Aspekte legen sowie bestimmte Fragen mehr oder weniger berücksichtigen. Auf diese Weise entstehen Polarisierungen zwischen einerseits stark und andererseits wenig eingreifenden, zwischen einerseits unter Bezugnahme auf Sophokles die ‚Fehler‘ ‚berichtigenden‘ und andererseits unter Berufung auf Hölderlin sie ‚tolerierenden‘ oder gar ‚potenzierenden‘, zwischen einerseits im Geiste einer ‚Restauration‘ des Dichterwortes und andererseits im Sinne einer produktiv-aktualisierenden Transformation seiner Sprache verfahrenden Bearbeitungen. Wenn, wie es meist der Fall ist, die Bearbeitung mit Blick auf eine oder in enger Verknüpfung mit einer Inszenierungsarbeit erfolgt, wird die Richtung bei der Schwerpunktsetzung stark von theatralischen Fragen beeinflusst. Als Bearbeiter verfuhr Michel behutsamer als beim Empedokles. Er änderte die Vorlage nur geringfügig. Mit Hellingrath teilte er neben der Bewunderung für die akustische Sprachkraft des späten Hölderlin die Auffassung, dessen Übersetzungen kämen in ihrer ‚Härte‘ Sophokles’ Sprache viel näher als andere geschmeidigere, bis dahin eher als bühnentauglich betrachtete Verdeutschungen. Die sprachliche Leistung Hölderlins ist auch für ihn mit anderen Maßstäben zu beurteilen als jenen einer wortgetreuen Übersetzung. Die beiden Tragödienübertragungen betrachtet er nicht als Diensttexte, sondern als eigenständige dichterische Werke: „Oedipus der Tyrann ist ebensosehr ein hölderlinsches wie ein sophokleisches Werk“, heißt es etwa in einem seiner anlässlich der Vorstellungen erschienenen Zeitungsartikel.87 Aus diesem Grund nahm er seine wenigen Eingriffe in den Text nicht so sehr im Hinblick auf eine größere Texttreue zur griechischen Vorlage (die er durchaus vor Augen hatte) vor, sondern mit Blick auf die Eigenlogik des deutschen Textes und auf seine Bühnenwirksamkeit – „Fehler, die keine Dunkelheit ergaben“, erörtert er, „blieben unverändert“. Als handlungsweisend offenbart sich hierbei auch ein pathetisch-sakraler Gestus: Michel wage die Profanation des hölderlinschen Textes nur um des Dichters willen, also da, wo „die helfende Hand eingreifen [muss], gerade um Hölderlins Text zu retten“.

|| 86 Vgl. Frick (1998a) 502, wo Genettes Begriff der littérature au second degré (1982) für die Beschreibung von Brechts Antigone-Bearbeitung variiert wird, dazu eingehend in 3.2.1. 87 Der Artikel erschien unter dem Titel Sophokles – Hölderlin: „Oedipus der Tyrann“. Bemerkungen zur Textbearbeitung der Darmstädter Uraufführung in der Frankfurter Zeitung (25. April 1922) und einen Tag darauf, also am Tag der Premiere, in der Krefelder Zeitung.

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Aus dieser manchmal seltsam anmutenden Mischung aus Verehrung des sprachgewaltigen Wiederbelebers der antiken Tragödie einerseits und dem eigenen Sendungsbewusstsein andererseits, zur Errettung eines offensichtlich der Errettung bedürftigen Textes berufen zu sein, erwuchsen Michels Bühnenfassungen von Ödipus und Antigone, die nicht nur den von ihm mitgestalteten Darmstädter Inszenierungen zugrundelagen, sondern die mehrmals für spätere Aufführungen der 1930–40er und sogar bis in die 1950er Jahre hinein wiederaufgenommen werden sollten.88 Zu dieser Langzeitwirkung trug sicherlich die von vielen gewürdigte Nähe zu Hölderlins Vorlage bei, eine Neutralität der Textbearbeitung, die Michels Fassungen für unterschiedliche künstlerische und kulturelle Operationen prädestinierte. Eine ebenso wichtige Rolle spielt auch der inhaltlich prägnante Umstand, dass Michel beide Sophokles-Übersetzungen als sprachlich moderne Texte präsentiert, die sich für zeitgenössische Inszenierungen der antiken Tragödie eignen, wobei er ihre mehr als ein Jahrhundert zurückliegende Entstehung als Beweis für Hölderlins Unzeitgemäßheit deutet. Auch hier befindet sich Michel im Einklang mit der ‚Hölderlin-Renaissance‘, wenn er „Hölderlins ungestümes Durchbrechen zur älteren Schicht des Originals“ als eine Leistung interpretiert, bei der „Hölderlin [...] das, was heute ‚zeitgemäß‘ ist, 100 Jahre zu früh“ wagte. Er unterstreicht diese Vorstellung noch, indem er Hölderlins Antigone von 1804 in die Nähe der 1922 entstandenen und uraufgeführten Antigone von Jean Cocteau rückt. Er vergleicht sie also mit einem höchst brisanten Werk der zeitgenössischen Literatur, bei dessen Pariser Inszenierung sogar Pablo Picasso (für das Bühnenbild) und Artur Honegger (für die Bühnenmusik) mitwirkten und das darüber hinaus nicht eine Übersetzung, sondern eine „freie Bearbeitung“ der antiken Vorlage war: Offensichtlich stand für Michel Hölderlins Sophokles-Projekt dem des Franzosen an Aktualität und Eigenständigkeit nicht nach.89 Die Uraufführungen von Michels Bühnenbearbeitungen konnten keine der Inszenierung Cocteaus vergleichbare künstlerische Mitwirkung vorweisen. Sowohl für den Ödipus als auch für die Antigone fand Michel allerdings im Darmstädter Oberspiellei-

|| 88 Flashars Angabe zur Benutzung von Michels Fassungen „bis ca. 1942“ (1998, 145) ist irreführend. In mindestens vier Antigone-Inszenierungen der 1950er Jahre wurde Michels Bearbeitung benutzt, zum letzten Mal am 12. April 1959 im Münchner Residenztheater (Regie von Helmut Henrichs, Bühnenbild von Teo Otto). 89 Die Zitate stammen aus einem Zeitungsartikel Michels im Berliner Börsen-Courier, den er anders als die früher erwähnten nicht bei Gelegenheit der Premiere veröffentlichte, sondern ein paar Monate später (3. Februar 1924). Dies erklärt möglicherweise auch den Versuch, die bereits uraufgeführte Antigone durch den Bezug auf zeitgenössische Beispiele aufzuwerten. Zu Cocteaus Antigone und Oedipe roi vgl. Flashar (1991) 147–151; Antigone, die am 20. Dezember 1922 uraufgeführt wurde, bezeichnet Flashar als „eine der wenigen freien Bearbeitungen einer griechischen Tragödie, die keinerlei aktuellen Zeitbezug aufweist, sondern deren Konzept ein rein ästhetisches ist“; sie sei sowohl „gegen die verstaubten, klassizistischen Sophoklesaufführungen“ als auch „gegen die ästhetische Avantgarde der Zeit“ gerichtet (148).

250 | Ein Theaterjahrhundert ter Eugen Keller einen gleichgesinnten Mitgestalter (der Schweizer war „ein überragender, kunstbesessener Regisseur“, der Hölderlins „urtümliche Sprachgewalt“ rühmte90) zugunsten einer stilsicheren homogenen Regie, bei der „die Begegnung von Gott und Mensch in der zeitlosen Tragik sichtbar und als ehrfürchtig aufzunehmendes Erlebnis für die Gegenwart rezipierbar“ wurde (Flashar 1988, 145): Darauf beruhte für beide der Kern der sophokleischen Tragödien und gleichzeitig der Erkenntnisgewinn, den erst Hölderlins Vermittlung brachte.91 Der Bühnenbildner Theodor Pilartz erfand dazu abstrakt-symbolische Szenarien – den Hintergrund der Handlung bildeten „mächtig[e] Treppen und Quade[r]“ für den Ödipus, eine „blaue Wand“ für Antigone –, die wie die „zeitlosen Kostüme“ die Inszenierung in die gewünschte ahistorische und sakrale Dimension rückten (ebd.). Wie später die Regie Legals (Der Tod des Empedokles 1926) scheinen die Sophokles-Hölderlin-Inszenierungen des Duos Michel/Keller den durch Gustav Hartung geprägten spätexpressionistischen Stil des Hessischen Landestheaters um einige Ausdrucksformen (Abstraktion, Antirealismus, Archaismus) zu bereichern, während die politische und soziale Dimension, welche den Schwerpunkt Hartungs bei der Inszenierung zeitgenössischer Stücke bildeten, ausgeklammert werden. Die von Michel gepriesene Aktualität Hölderlins ist in den Darmstädter Inszenierungen der 1920er Jahre eindeutig auf die sprachliche und ästhetische Ebene beschränkt. Sowohl die Ödipus-Inszenierung am 26. April 1922 als auch die am 9. Dezember 1923 erfolgte Aufführung der Antigone werden also oft – nicht zuletzt wegen des gelungenen Zusammenwirkens konzeptueller Grundlagen und künstlerischer Gestaltung – für die ‚eigentlichen‘ Uraufführungen von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen gehalten. Ein zweiter Grund dafür ist ihre Resonanz, die stärker ausfiel als bei vorhergehenden Versuchen: Sowohl die Zürcher Antigone-Inszenierung Daneggers als auch die eigentliche Premiere des Ödipus, die ein knappes halbes Jahr vor der Darmstädter Vorstellung im Schauspielhaus Köln unter der Regie Otto Liebschers stattgefunden hatte,92 waren (wenn überhaupt) skeptisch bis ablehnend aufgenom-

|| 90 Flashar (1991) 145 übernimmt den Ausdruck „urtümliche Sprachgewalt“ aus einem viel späteren autobiographischen Rückblick Kellers. Dort charakterisierte er die Wirkung von Hölderlins Sprache auf der Bühne als eine auf Anhieb befremdende Dunkelheit, die erst eine performativ geschickte Darbietung in klangvolle Klarheit überführen könne: „ganz deutsch und ganz griechisch [...], zunächst dunkel scheinend, beim Erklingen mühelos eingehend“ (ebd.). 91 Kindermann (1943) 43f. berichtet positiv über die Darmstädter Ödipus-Inszenierung: Er lobt die Leistung der Schauspieler, die „einfühlsam[e] Regie“ und das „kubisch-expressive“ Bühnenbild. Bedenken hegt er hinsichtlich der „allzu schreienden und allzu divergierenden Kostümfarben“ und der Behandlung der „zu sehr in irrtümlich verchristlichte Auffassungen tendierenden“ Schlussszene. Alles Konzessionen an den expressionistischen Geschmack. 92 Kindermann deutet dies als einen Konkurrenzkampf zwischen beiden Bühnen: „Schon auf die bloße Ankündigung hin, das Hessische Landestheater in Darmstadt würde [...] Sophokles-Hölderlins Ödipus den Tyrannen aufführen, trachtete das Kölner Stadttheater [...] mit einer eigenen Bearbeitung

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men worden. Zwar wurde Michels und Kellers Sophokles-Hölderlin-Diptychon teilweise heftig kritisiert,93 den negativen Besprechungen standen aber auch eindringliche Würdigungen gegenüber. Interessant erscheint diese nun zu erörternde Polarisierung gerade deswegen, weil hier Hölderlin der Zankapfel ist. In der Hessischen Landeszeitung (27. April 1922) polemisiert Alex von Frankenberg gegen die grundsätzliche Entscheidung, auf Hölderlins Ödipus-Übersetzung zurückzugreifen, denn der Dichter stelle schlicht den Prototyp des theateruntauglichen Hymnikers: Wenn in der gesamten deutschen Literatur einer auszufinden war, der nicht auf die Bühne gehört, der mit jeder Faser seines Lebens und jedem Worte seines Werkes der dramatischen Kunstform ferner stand als etwa dem Beruf eines Ofensetzers, so ist es Hölderlin, der reine hymnische Dichter.

Auch die Bearbeitung habe daran nichts ändern können – süffisant empfiehlt von Frankenberg dem Bearbeiter Michel und all denjenigen, die „es mit Hölderlin gut meinen und nicht wollen, daß ihm nach fast hundertjähriger Vergessenheit das Schicksal einer gewaltsamen Ueberschätzung mit ihren unausbleiblichen Folgen beschieden werde [...] davon ab[zu]stehen, ihn in seiner unverschuldeten Schwäche bloszustellen“.94 Die ratlose Reaktion der Kritik auf die Zürcher Aufführung 1919 weicht hier einer entschiedenen Frontstellung. Ganz anders lautet es einen Tag später in der Frankfurter Zeitung bei dem zwei Jahre zuvor über Hölderlins Lyrik promovierten Karl Viëtor: „Nach fast 120 Jahren erscheint Sophokles in der einzigen deutschen Nachdichtung, die diesen Namen verdient, zum ersten Mal auf die Bühne!“; Michels Verdienst um diesen beispiellosen „deutsche[n] Sophokles“ wird vorbehaltlos gerühmt.95

|| zuvorzukommen“ (1943, 43). Über Verfasser und Beschaffenheit der Bearbeitung, die am 7. Dezember 1921 in Köln uraufgeführt wurde, konnte nichts ermittelt werden. Liebscher, den Kindermann als „Vorkämpfer Hölderlins“ bezeichnet, hatte die Münchner Erstaufführung vom Empedokles geleitet; er sollte 1943 eine der vielen Kriegs-Antigone inszenieren (im sogenannten Deutschen Theater Memel, im okkupierten Klaipėda) und dafür einen Artikel in der Memelwacht beisteuern (19. März 1943). Dort setzt er auf die akustische Wirkungskraft („erst beim Hören kann man die zauberhafte Sprachkunst Hölderlins ganz erfassen“): Eine Einsicht, die auch seine früheren Hölderlin-Inszenierungen geprägt haben dürfte. 93 Kindermann reduziert die bei der Darmstädter Aufführung keinen Beifall spendenden Zuschauer auf eine „Phalanx der materialistischen Widersacher“, die negativen Besprechungen auf das „Gekläffe der Besserwisser“ (1943, 44). 94 Flashar hebt beide Darmstädter Inszenierungen als besonders niveauvoll und bedeutend hervor, erwähnt keinen Verriss und übergeht, dass sie, obgleich „jeweils mit mehreren anschließenden Vorstellungen“ belohnt, nicht zu einer Aufnahme der hölderlinschen Sophokles-Übersetzungen ins Stückerepertoire der Weimarer Republik führten (1998, 145). 95 So in einem am 28. April 1922 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Artikel, drei Tage nachdem Viëtor seine Frankfurter Antrittsvorlesung zu Hölderlins Hymnik gehalten hatte. Er lehrte dann

252 | Ein Theaterjahrhundert In den Kritiken zur Antigone-Aufführung, die einigen Quellen nach noch wirkungsvoller gewesen sein soll,96 kommen die Gründe für die Aufspaltung in zwei Lager noch klarer zum Vorschein. Die von Siegfried Kracauer mit der Kategorie des „Grenzhaften“ charakterisierte „deutsche Antigone“ Hölderlins (Frankfurter Zeitung 10. Dezember 1923) erfordert vom Publikum laut einem weiteren Kritiker eine andere Wahrnehmungsform, denn „unter Hölderlins Händen wird uns Sophokles nicht ein Erforschtes, sondern ein Erlebnis“.97 Eine Pressenotiz, die einen Tag nach der Uraufführung im Darmstädter Tagblatt erschien und m.E. aus der Feder Wilhelm Michels oder jedenfalls eines an der Inszenierung Beteiligten hervorgegangen sein könnte, nennt als „Aufgabe des Zuschauers“ das Sich-Hineinhören „in des Sophokles tiefe Gedanken wie in Hölderlins dichterische Sprache und wundervollen Rhythmus“.98 Wie Flashar ausgeführt hat, wird hier der Anspruch auf „eine ganz andere Rezeptionshaltung [...], als sie bisher in den dem Geschmack des Bildungsbürgertums des Jahrhundertbeginns angepaßten Übersetzungen z.B. von Wilbrandt und Wilamowitz üblich gewesen war“, formuliert (1991, 145). Durch den Rückgriff auf Hölderlins ‚hartfügige‘ Sprache und eigenwillige Antike-Transformationen wird eine Wende eingeleitet, die im Allgemeinen zur „Betonung des Erlebnisses, der strengen Form, des Sakralen, des Rituellen, des Archaisch-Mythischen, der Begegnung von Mensch und Gott“ in der kritischen wie inszenatorischen Rezeption der griechischen Tragödie in den 1920er Jahren führt (146). In diesem Sinne bezeichnet Flashar die ‚Entdeckung‘ von Hölderlins Übersetzungen für die Bühne als das „Folgenreichst[e]“ überhaupt in der von ihm mit der Formel „feierliche Innerlichkeit und Schicksalswalten“ charakterisierten Zeit zwischen Kriegsende und NS-Machtübernahme (142 sowie 142–163). Dass diese Inthronisierung von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als „zeitlos gültige Aussage eines Sprachkunstwerkes von sakraler Tragik [...], der gegenüber die adäquate Rezeptionshaltung die der ehrfürchtigen Hingabe ist“ (147), bei Hölderlin vorhandene Dimensionen ausblendet und andere verzerrt, wird durch den Rezeptionsprozess selbst bedingt. Sicher kann man in dieser Auffassung sowie in der daraus resultierenden Inszenierungsart eine der in diesem Kapitel erörterten Tendenzen der Hölderlin-Rezeption nach 1900 konvergieren sehen; andersgeartete Annäherungsversuche widersprachen offensichtlich teilweise oder gar vollkommen dem Zeitgeist.

|| hauptsächlich in Gießen, 1937 ließ er sich pensionieren und emigrierte mit seiner vom NS-Regime als ‚Halbjüdin‘ eingestuften Frau in die USA, wo er in Harvard lehrte; Berufungen (Marburg, Hamburg) lehnte der bedeutende Hölderlin-Forscher ab. 96 Dies zeigen die oben angeführten Reaktionen wie auch Kindermann (1943) 45: Dem Ensemble des Ödipus sei die Inszenierung „diesmal noch viel intensiver“ gelungen. Auch für Antigone schuf Pilartz das Bühnenbild; der frühere Ödipus-Darsteller Fritz Valk übernahm hier die Rolle des Kreon. 97 So Dietrich Distelmann in der Neuen Badische Landeszeitung (12. Dezember 1923; zitiert nach Flashar 1991, 146). 98 Darmstädter Tagblatt (10. Dezember 1923, zitiert nach Flashar 1991, 145).

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Michels und Kellers Ödipus- und Antigone-Inszenierungen markieren hingegen einen paradigmatischen Wendepunkt. Vor diesem Hintergrund frappiert ein Umstand, der bei Flashar infolge seines Untersuchungsgegenstandes keine wichtige Rolle spielt, der aber in unserer Rekonstruktion zum zweiten Mal erscheint und offenkundig von Belang ist. Obwohl nämlich den Darmstädter Aufführungen geradezu historische Bedeutung zukommt, führten sie keineswegs zur Aufnahme von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen in den Spielplänen. Wie bei der Empedokles-Inszenierung aus dem Jahr 1926 folgt ihnen eine lange Zeit des Schweigens: Ödipus wurde einmal 1924 in Stuttgart vom auch als Filmregisseur bekannten Wolfgang Hoffmann-Harnisch inszeniert99 und dann bis 1941, als Paul Smolny eine von Hans Schwarz durchgesehene Fassung im Leipziger Neuen Theater inszenierte, nicht mehr. Nach der Antigone 1923 vergingen ebenfalls siebzehn Jahre, bevor Lothar Müthel seiner denkwürdigen Wiener Einstudierung (1940) die Fassung Michels zugrunde legte (vgl. 3.1.3).100 Ist die griechische Tragödie allgemein „mit den [...] Inszenierungen antiker Dramen durch Tralow, Fehling, Jeßner und Appia/Wälterlin [...] in den Zwanziger Jahren integriert in das bereits durch Reinhardt inaugurierte Regietheater in der damals modernsten Form“ (Flashar 1988, 160), so gilt das für die Sophokles-Übersetzungen Hölderlins nicht.101 Knapp zehn Jahre vergehen in der Weimarer Republik – bekanntlich eine Blütezeit für die Bühne insgesamt – ohne dass die soeben ‚entdeckten‘ Theatertexte Hölderlins auch nur einmal aufgeführt würden. Die bereits im Zusammenhang mit dem Tod des Empedokles formulierten Gründe für eine ausbleibende Kanonisierung des Stückes im Theater der Weimarer Republik treffen in vielem auch auf das so ähnliche Schicksal seiner Sophokles-Übersetzungen zu. In ihrem Fall mag jedoch die Dauer der Lücke noch mehr verblüffen, hatten doch die Inszenierungen um 1922/23 das öffentliche Interesse geweckt und hatte die Aufwertung Hölderlins als Übersetzer seit spätestens Hellingrath doch keineswegs nachgelassen. Auch wenn schließlich den Regisseuren mehrere Übersetzungen von Ödipus und Antigone zur Verfügung standen, so mussten doch beide Stücke nicht erst ihre Bühnentauglichkeit beweisen wie der Theaterneuling Der Tod des Empedokles. Michels Bühnenfassungen hätten sich auch für die Auswahl von Hölderlins Übersetzungen vorteilhaft erweisen können. Dass Hölderlins Antigone, Ödipus und Empedokles trotz erfolgreicher Inszenierungen und der ihnen bescheinigten Bedeutung eines Paradigmenwechsels keine

|| 99 Die Bearbeitung Wilhelm Michels lag der Premiere am 22. März zugrunde (Württembergisches Landestheater). Über die Inszenierung konnten keine weiteren Informationen ermittelt werden. 100 Kindermann (1943) und Ennen (2008) gehen wie Flashar (1991) auf die Frage nicht ein. 101 Flashars spätere Feststellung – „Auffallend häufig“ würden „die Übersetzungen Hölderlins erst seit dem Einsetzen des so genannten modernen Regietheaters“ erscheinen – stimmt erst für die zweite Jahrhunderthälfte. (2007, 25).

254 | Ein Theaterjahrhundert Aufnahme in den Spielplänen des sich entwickelnden Regietheaters fanden, mag insgesamt damit zu begründen sein, dass im überwiegenden Teil des Theaterdiskurses der Weimarer Zeit Hölderlin (noch) nicht als Klassiker im weiten Sinne – auch nicht als ‚antiklassizistischer‘ bzw. ‚moderner‘ Klassiker – galt. Die die Bühnenrezeption erst ermöglichende ‚Hölderlin-Renaissance‘ hatte aus Hölderlin, vor allem aus dem späten Lyriker und Übersetzer, einen Vorläufer seiner Epoche gemacht und ihn zugleich zum geistigen Zeitgenossen der Gegenwart erklärt. Obwohl diese Wiederaufwertung Hölderlins Dramatiker sowie Regisseure zur produktiven Rezeption und Transformation veranlasste, konnten nur einzelne künstlerische Erscheinungen über den kurzlebigen Charakter einer Hommage an den Dichter oder eines Theaterexperiments hinausgehen. Eine Tradition konnten diese Bemühungen nicht begründen.

3.1.3 Hölderlin und das NS-Theater 3.1.3.1 Das Theater ‚unterm Hakenkreuz‘ und die Hölderlin-Rezeption 1933–45 Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der damit einhergehenden Machtergreifung der Nationalsozialisten und Gleichschaltungsprozesse in allen Sparten der Gesellschaft dauerte es nicht lange, bis in der Bühnenlandschaft des so genannten Dritten Reichs grundlegende Veränderungen eintraten. Gerade das Theater war bekanntlich, vielleicht noch stärker als der Film, das künstlerische Medium, dem die nationalsozialistische Kulturpolitik meinungs- und stimmungslenkende Ziele bei der Bevölkerung aufoktroyierte; dazu zählten auf den ersten Blick harmlosere Ablenkungsmanöver zwischen platter Unterhaltung, historisierender Deutschtümelei und in manchem noch bildungsbürgerlich anmutender Klassikerpflege, aber auch die direkte Indoktrination im Sinne völkischer Ideologie, politischer Indienstnahme und rassistischer, speziell antisemitischer Aufhetzung. Die bereits in den Endjahren der Weimarer Republik eskalierenden Entwicklungen – „pogromartige Störaktionen“, die Theaterskandale hervorriefen bzw. Inszenierungen verhinderten – hatten nun politische, ja gesetzliche Verankerung. Der in allen Institutionen des Staates stattfindende „Säuberungsprozess“ betraf das Theaterwesen schmerzlich: Der durch Amtsenthebungen und Entlassungen mit Berufsverbot begründete „Substanzverlust an kreativem Potential“ für das deutsche Theater war enorm (Brauneck 1993–2007, 4, 501); die Zahl der ins Exil getriebenen oder zum Schweigen gebrachten Künstler und Autoren ebenso, tatsächlich ein „große[r] Exodus“ (Rühle 2007, 715).102 Die wenigen Ausnahmen – protegierte, verhältnismäßig

|| 102 Vgl. einführend zum theatergeschichtlichen Rahmen Brauneck (1993–2007) 4, 501–528 sowie Rühle (2007) 725–991. Bei Rühle wird noch im Schlussteil der Ausführungen zum Theater der Weimarer Republik (715–719) die beeindruckende Liste jener bedeutenden Bühnenautoren und -Künstler aufgeführt, die „gleich nach dem Reichstagsbrand [...] das Theater in Deutschland [verließen] und

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kompromissbereite bis tolerierte Persönlichkeiten von hohem künstlerischen Niveau, die ihrerseits Freiräume für andere Künstler und für große Kunst zu schaffen vermochten – bestätigen eine sonst flächendeckende Anpassung des Theaterwesens an die politischen Grundlagen und Ziele des Regimes: Der prominente Fall Gründgens am Berliner Staatstheater oder, für die Hölderlin-Rezeption wichtiger, das parallele Beispiel von Heinz Hilpert und seinen Auseinandersetzungen mit Machthabern und Lakaien zwischen Berlin (Deutsches Theater) und Wien (Theater in der Josefstadt) sind umstrittene Ausnahmeerscheinungen. Nachdem der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels per Erlass alle Theater seiner Führung unterstellt hatte (‚Theatergesetz‘, 15. Mai 1934), konnten beide an führenden Schauspielbühnen agierenden Theaterleute, auch dank innerparteiischer Machtkämpfe, die zentralistischen Vorgaben des von Goebbels kreierten Reichsdramaturgen Rainer Schlösser umgehen – nicht ohne Konzessionen an den öffentlichen Diskurs zu machen bzw. dazu genötigt zu werden. Sind die Ziele der nationalsozialistischen Kulturpolitik im Theaterwesen einerseits auf die Gestaltung der Spielpläne, andererseits auf die Förderung von dramatischen und theatralischen ‚völkischen‘ Formen gerichtet, erscheint vor allem der erste Punkt für die Hölderlin-Rezeption von Belang. Weder in der Dramenproduktion der Jahre 1933–45 – der offiziell geförderten, wie auch der „nichtnationalsozialistischen“103 –, noch im so genannten Thingspiel, einem chorisch angelegten Massentheater mit angeblich germanischen Wurzeln kultischer Art, wurde nämlich auf Hölderlin als Vorbild oder Vorlage rekurriert. Kaum überraschend, denn weder thematisch noch stilistisch sind hier Ansatzpunkte erkennbar. Sowohl die auf politische Zeitstücke über die ‚Bewegung‘, auf Geschichtsdramen mit mittelbarem Gegenwartsbezug und auf die tragische Überhöhung des Heldenhaften abonnierte Dramatik meist neoklassizistisch-traditionalistischer Prägung, als auch die an den so genannten Thingstätten organisierten Großinszenierungen oder weitere auf ein sich selbst inszenierende Kollektiv ausgerichtete Spielformen weisen lediglich bedingt und indirekt Ähnlichkeiten mit der Bearbeitungs- und Inszenierungsweise der erst spät ins Repertoire aufgenommenen Theaterprojekte Hölderlins auf, ganz zu schweigen von

|| ihre oft langen Wege ins Exil“ begannen bzw. „von Auslandsaufenthalten nicht nach Deutschland“ zurückkehrten. Noch beeindruckender ist Rühles Vermerk, dass „die Liste derer, die das deutsche Theater in jenen Monaten verließen, [...] zwei Bände“ fülle (715). 103 So bezeichnet Friedrich (2009) 360 die nicht linientreue Dramatik im Titel der ihr gewidmeten Unterkapitel seiner sozialgeschichtlichen Einführung zu Drama und Theater der Jahre 1933–45: „Das Spektrum der nichtnationalsozialistischen Bühnendramatiker umfaßt anfängliche Mitläufer gleichermaßen wie unpolitische Verfechter der Kunstautonomie, christliche Autoren und spätere Widerstandskämpfer“. Für eine historische Kontextualisierung sei auf das gesamte Kapitel verwiesen, das auch Tendenzen der Exildramatik skizziert.

256 | Ein Theaterjahrhundert anderen, auf volkstümlichen Traditionen basierenden bzw. auf Unterhaltung hinzielenden Formen.104 Im Übrigen konnte die Gegenwartsdramatik der NS-Jahre im Unterschied zur Exilliteratur keine Langzeitwirkung haben; die offiziell gefeierten bis tolerierten Dramatiker wurden mit Ausnahme des späten Gerhart Hauptmann schnell nach dem Krieg vom Spielplan getilgt oder kamen erst mit neuen Stücken wieder zur Geltung; die staatliche Förderung der Thingspielbewegung wurde sogar bereits um 1937 eingestellt, denn die von den Machthabern ersehnte Resonanz der Spektakel bei den Massen war ausgeblieben. Anders verhält es sich mit dem Thema ‚Hölderlin im NS-Theater‘, wenn man sich einen quantitativen Überblick über die Inszenierungen seiner (mehr oder weniger bearbeiteten) Werke verschafft. „Den stärksten Zuwachs an Aufführungen“, fasst Manfred Brauneck mit Blick auf die ‚anderen Klassiker‘ neben dem „weitaus an erster Stelle“ stehenden Friedrich Schiller zusammen, „erhielten nach 1933 die Dramen von Kleist, Lessing und Hölderlin“ (1993–2007, 4, 510). Auch Bogusław Drewniak kam in seiner älteren theatergeschichtlichen Rekonstruktion auf Hölderlin zu sprechen und reihte ihn nach Friedrich Hebbel gar unter die „Großen Annektierten“ ein: „Auf die Bühne gelangten nicht nur seine berühmten Nachdichtungen“, sondern auch die bei Rezitationsabenden vorgetragenen Gedichte; selbst transmediale Transformationen wurden gefördert: „Die Wiener Staatsoper gab 1944 dem Komponisten Orff den Auftrag, eine Oper nach ‚Antigone‘ von Friedrich Hölderlin zu schreiben“. Die Hinwendung zu Hölderlin habe „1943 ihren Ausdruck in der Gründung der ‚Hölderlin-Gesellschaft‘ in Tübingen unter der Präsidentschaft von Gerhard Schumann“ gefunden (1983, 176). Abgesehen von einigen unkorrekten Details105 und dem plakativen Charakter dieser Rekonstruktion ist Drewniaks Gesamtbild darin zutreffend, dass die Inszenierung von Hölderlins Theatertexten im NS-Theater – allerdings nicht nur seiner Nachdichtungen, sondern auch die Empedokles-Fragmente – mit der gesamten Hölderlin-Rezeption zusammen hängt. Nicht nur die bei Drewniak erwähnten Ereignisse, sondern der ganze „Komplex von multimedial inszenierten Aktivitäten, die dem Dichter“ um

|| 104 Vgl. Friedrich (2009) 366 sowie Brauneck (1993–2007) 4, 505f. 105 Der Vertrag zwischen Baldur von Schirach und Carl Orff, der eine dreijährige großzügige Förderung des Komponisten vorsah, wurde am 4. Dezember 1941 unterzeichnet (vgl. Massa 2006, 44 sowie die ganze Rekonstruktion 25–44). Orffs Antigonae, deren Partitur teilweise bereits in den Kriegsjahren entstanden und im Frühjahr 1949 abgeschlossen war, und der später komponierte Oedipus der Tyrann wurden respektive 1949 und 1959 uraufgeführt und gehören dementsprechend rezeptionsgeschichtlich in die Nachkriegszeit (3.2.2). Die chronologische Präzisierung über den kompromittierenden Vertrag mit von Schirach – die Operation diente aus der Perspektive des Auftraggebers gleichermaßen dem antisemitisch begründeten Ersatz von Mendelssohns Antigone-Bühnenmusik und der ideologischen Antike-Aneignung über Hölderlins Vermittlung – ist auch für unsere Rekonstruktion wichtig: Noch deutlicher wird damit die Verbindung zu Müthels Wiener Antigone (vgl. 3.1.3).

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den 7. Juni 1943 herum, also den 100. Todestag, gewidmet wurden, stellt den Höhepunkt der Hölderlin-Rezeption der NS-Zeit dar, im Sinne eines „im Kontext der Feierlichkeiten inszenierten Produkt[s] ‚Hölderlin‘“ – so in Gerhard Kaisers zutreffender, auch im Folgenden verwendeter Begrifflichkeit (2008, 607; 610). Auffallend ist dabei, dass es sich bei dieser Hinwendung zu Hölderlin seitens der Propaganda um eine „ziemlich spät entbrannte Liebe“ zu handeln scheint (Drewniak 1983, 176), die eng mit den Entwicklungen und Neuorientierungen der nationalsozialistischen Kulturpropaganda in den Kriegsjahren und insbesondere in den Monaten nach Stalingrad und des laut verkündeten ‚totalen Kriegs‘ verbunden ist.106 Hölderlin Theaterpräsenz in der NS-Zeit, die in der nunmehr ausgiebigen Forschung zur einschlägigen Rezeption und Nachwirkung zwar als entscheidend erwähnt, aber kaum vertieft wurde,107 bestätigt im Ganzen diesen allgemeinen Befund von einem eher langsamen Herantasten an Hölderlin und dessen plötzlicher Erhebung zum Vorbild in der „Choreographie des Untergangs“ im Jahr 1943, als „die große Stunde Hölderlins als der Sinnfigur für den heroischen Untergang schlägt“ (Kaiser 2008, 606; 612). In jenen Monaten waren es oft Empedokles-Inszenierungen, die das Unheil der Verzerrung und Verdrehung anrichteten. Andererseits zeigt eine ins Detail gehende Rekonstruktion der Theaterrezeption, die hierauf folgt und die neben Aufführungen und Bearbeitungen des Trauerspiels in den Jahren 1938–1944 (3.1.3.2) auch die später einsetzende und spärlichere Bühnenpräsenz der Sophokles-Übersetzungen berücksichtigt (3.1.3.3), dass und wie bereits in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre im Theater auf Hölderlin zurückgegriffen wird, teilweise den späteren ‚Höhepunkt‘ vorbereitend; zweitens dass und wie aufschlussreiche Kontinuitäten und Brüche sowohl mit der früheren Rezeption bis Mitte der 1920er Jahre als auch mit Formen der Hölderlin-Aneignung im Drama und Theater des Exils und der Nachkriegszeit zu verzeichnen sind, wobei das Bild einer isolierten Zwischenzeit der Verderbnis revidiert wird; drittens dass und wie dank der exponierten Stellung des Theaters in der NS-Zeit die Verwicklung in tagespolitische bis propagandistische Diskurse auch bei || 106 Goebbels zu trauriger Berühmtheit gelangter Aufruf im Berliner Sportpalast datiert auf den 18. Februar 1943. Bis zu Theaterschließung sollten 18 Monate verstreichen. 107 Hier ein Überblick. Claudia Alberts grundlegende Beiträge betreffen: die Exilrezeption und insbesondere Hanns Eislers Hölderlin-Rezeption (Albert 1991), Hölderlin im Rahmen der Klassikerrezeption im Nationalsozialismus (Albert 1994) und darin insbesondere die publizistische Aneignung (Albert 1995, Albert 1996); eine gelungene Übersicht über das Ganze bietet ihr Eintrag im HölderlinHandbuch (Albert 2002b). Auf Bothe (1991) sei für eine etwas radikale Rekonstruktion der Linie George/Hellingrath-NS-Rezeption verwiesen. Bei Gerhard Kurz kann man eine luzide Behandlung der „Annexion Hölderlins“ in der NS-Zeit (Kurz 1994, 112) und einen Abriss des heiklen Themas Heidegger, Hölderlin und der Nationalsozialismus lesen (Kurz 2014a). Auf die Auseinandersetzung mit Hölderlin in der damaligen Germanistik konzentriert sich Gerhard Kaisers Beitrag (Kaiser 2008); für einen Überblick über die Rezeptionslandschaft und spezifisch über die Forschung zum Hyperion der Jahre 1933–45 verweise ich auf Castellari (2002) 209–226. Weitere Einzelstudien werden im Folgenden an gebotener Stelle erwähnt.

258 | Ein Theaterjahrhundert sich ‚apolitisch‘ gebenden Operationen unumgänglich war – dies sollte nicht zuletzt zu einem längst fälligen Überdenken nachträglicher bzw. apologetischer Lossprechungen führen. Die „Fülle widersprechender und zudem auf verschiedenen Ebenen kultureller Produktion angesiedelter Charakteristika“, welche die ausgewiesene Expertin Claudia Albert als die Hölderlin-Rezeption der 1930er–40er Jahre prägende Elemente herausarbeitet (2002, 444), trifft nur teilweise für das Drama und Theater zu, wie hier dargelegt werden soll. Erstens ist anzumerken, dass die Exilautoren und die so genannten inneren Emigranten auf andere Gattungen bei ihrer produktiven Rezeption oder Auseinandersetzung mit Hölderlin zurückgriffen (Lyrik, Musik, Essayistik). Erst in der Nachkriegszeit werden diese Rezeptionsformen beim ‚anderen Deutschland‘ einige spärliche Spuren im dramatisch-theatralischen Bereich hinterlassen; sie werden in vorliegender Rekonstruktion an späterer Stelle wiederaufgenommen (vgl. 3.2.1.1). Auf das Theater des Dritten Reichs hätten die im Geist des ‚inneren Widerstands‘ praktizierten Rezeptionsformen darüber hinaus keine Wirkung gehabt, denn wie erwähnt war das Theater durch die starke Kontrolle von oben und durch die präventive Amputation möglicher Gegenstimmen gegen jede Kritik abgeschottet worden. Die Möglichkeit aristokratischen Rückzugs in einen Hölderlin-Freiraum im Sinne einer emphatischen, gleichsam (kunst-)religiösen Innerlichkeit, der von Intellektuellen, Akademikern und Schriftstellern gewählt (bzw. fingiert oder nachträglich rekonstruiert) wurde, war angesichts der öffentlichen Wirkung im Theater nicht gegeben. Wie zu zeigen ist, mussten die Versuche, sich mit einer solchen Einstellung an die Bearbeitung oder Inszenierung von Dramen zu machen, im Sand verlaufen, da sie sich der widerspruchsvollen Verstrickung in den offiziellen Hölderlin-Diskurs nicht entziehen konnten. Aufschlussreich erweist sich ein paralleler Blick auf die gesamte Hölderlin-Rezeption einerseits und auf die spezielle Bühnenrezeption andererseits, wenn man die Frage der ‚verspäteten‘ Aufnahme in den NS-Diskurs anschneidet. Wie im vorigen Kapitel erörtert, konnte von einer Bühnenpräsenz Hölderlins bereits in den späten 1920er Jahren nicht mehr die Rede sein; die durch die ‚Wiederentdeckung‘ gestiftete Hölderlin-Begeisterung schien keine feste Aufnahme seiner Theatertexte im Repertoire mit sich gebracht zu haben. Schon die Tatsache, dass die erste Hölderlin-Inszenierung der NS-Zeit am 12. Februar 1938 debütierte, zeigt, dass in diesem Sinne eine Kontinuität zwischen der Spätphase der Weimarer Republik und den Anfangsjahren der NS-Diktatur bestand. Was die Hölderlin-Rezeption insgesamt betrifft, kann wiederum eine gegensätzliche Kontinuität festgestellt werden: ein stetig wachsendes kritisches und editorisches Interesse, das Nachwirkungen vor allem im deutschsprachigen Literatur- und Kulturraum, aber auch weltweit zeitigte. Nach vereinzelten Übersetzungen und kritischen Würdigungen vor allem in Frankreich und Italien bereits im 19. Jahrhundert, wird Hölderlin in den 1920–30er Jahren im Ausland endgültig zu einem repräsentativen deutschen Dichter. In dieser breiten, nicht nur auf Europa beschränkten Resonanz schwingt die von Hellingrath

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und George angestoßene Renaissance mit, die Hölderlin zu einer für die Moderne bedeutenden Figur stilisiert hatte. In essayistischen Beiträgen und wissenschaftlichen Untersuchungen aus dem Ausland wird er meist als kanonischer Autor aufgefasst, entweder als ‚Klassiker‘ oder ‚Romantiker‘; dagegen pflegt die produktive Rezeption, vor allem in der Lyrik, von einer sprachlichen bzw. thematischen Aktualität Hölderlins auszugehen.108 Um ein Beispiel für die internationale Verbreitung zu nennen, das einen für vorliegende Arbeit zentralen Text betrifft: Der Tod des Empedokles wird zwischen 1929 und 1944 nach vorliegenden Quellen mindestens in sieben Sprachen übersetzt: Der ersten Übersetzung ins Französische von André Babelon bei Gallimard109 folgen unter anderem die russische (1931)110 und die italienische (1936).111 Selbst wenn in dieser Sparte nach 1933 kulturpolitische ‚Einflüsse‘ des NS-Regimes, um einen euphemistischen Ausdruck zu benutzen, als Motor von übersetzerischen und editorischen Unternehmungen im besetzten oder alliierten Ausland vorauszusetzen sind, darf die gesamte Konjunktur, die Hölderlin über die deutschen Grenzen hinaus – eigentlich auch über die europäischen112 – zum Autor von Weltrang macht, nicht darauf beschränkt werden. Vielmehr ist diese internationale Wirkung, die nach dem Krieg weiteren Aufschwung erleben und auch die Bühne erreichen sollte, als ein komplexeres, vielschichtiges Phänomen zu betrachten, das in der vorliegenden Untersuchung nur gestreift werden kann. Hier gilt es vor allem darauf hinzuweisen, dass es von einem kontinuierlich wachsenden Interesse an Hölderlin zeugt – was im Kontrast zur Theaterrezeption, jedoch durchaus im Einklang mit der allgemeinen innerdeutschen kritischen und produktiven Wirkung steht. Denn auch in Deutschland blüht in der Zeit die Hölderlin-Rezeption. Neben dem ununterbrochenen Erscheinen von Einzel- oder Sammelausgaben von Hölderlins

|| 108 Als Beispiel sei auf die Rezeption in der italienischen Lyrik der 1930–40er Jahre hingewiesen, wo in Hölderlin meist der Zeitgenosse, der dichterische Bruder in der ‚bleiernen Zeit‘ erblickt wurde. Dazu vgl. Cordibella (2009). 109 Zur Hölderlin-Rezeption in Frankreich um 1930 vgl. Lernout (1994) 21f. 110 Die „intensive Periode der Aneignung Hölderlins [...] auch in Rußland“ seien die 1920er Jahre gewesen. Die erste Empedokles-Übersetzung (Смерт Эмпедокла) stammt von Jakow Golosowker, der auch den Kommentar liefert; die Einleitung schreibt der Kulturpolitiker Anatoli Lunatscharski; beide gehören zu den wichtigen Vermittlern Hölderlins in der damaligen Sowjetunion, wobei zu vermerken ist, dass sich die „resolute ideologische Restriktion“ ab 1936 auch für die Hölderlin-Rezeption lange Zeit nachteilig auswirkte. Dazu vgl. Rathaus (1995) 153–155. Lunatscharski verfasste auch eine biographische Komödie über Hölderlin (Bankirskij dom, 1929), die, wie im Titel angedeutet (Das Haus des Bankiers), die Frankfurter Zeit und die Liebe zu Susette Gontard zum Thema hat; zu Lunatscharski und seinem Verhältnis zur deutschen Literatur vgl. Angres (1970), zu Hölderlin 124–127. 111 Lanciano, Carabba-Verlag, Übersetzung und Einleitung von Giuseppe Faggin, ‚erste‘ Fassung. 112 Beispielsweise in Japan, vgl. Takahasi (2002) 461f.

260 | Ein Theaterjahrhundert Werken,113 parallel zum stetigen Treiben der Hölderlin-Forschung im akademischen Bereich und der konstanten essayistischen Auseinandersetzung mit dem Dichter – davon kurz im Folgenden –, kennzeichnet die Jahre vor und nach der historisch-politischen Zäsur 1933 alles in allem eine Erweiterung der produktiven Rezeption – nur eben (noch) nicht im dramatischen und theatralischen Bereich. Erst die Nachwirkungen in der bildenden Kunst und vor allem in der Musik zeigen ansatzweise ähnliche Konstellationen wie die Bühnenrezeption, wobei diese weniger von sprachlicher Performanz und sprachlichem Darbietungskontext abhängigen Kunstformen allerdings mehr Chancen auf Entfaltung im Exil hatten.114 Die literarische Rezeption Hölderlins bei deutschen Lyrikern und Prosaschriftstellern – Letzteres vor allem in biographisch ausgerichteten Erzählungen – fand in unterschiedlichen Formen Eingang in die Literatur der späten Weimarer Republik. Dann wirkte Hölderlin auf affirmative bis unkritische Autoren der NS-Zeit und Vertreter der ‚inneren Emigration‘ und der Exilliteratur weiter; eine Hölderlin-Abstinenz wie in Drama und auf der Bühne lässt sich hier überhaupt nicht feststellen.115

|| 113 Die beiden konkurrierenden großen editorischen Projekte von Hellingrath und von Zinkernagel wurden bereits in den 1920er Jahren abgeschlossen, respektive 1923 (mit den von Seebaß und Pigenot postum besorgten Bänden 2 und 6 und dem Wiederabdruck der ganzen historisch-kritischen Ausgabe) und 1926 (mit dem 5. Band, wobei der Apparatband unveröffentlicht blieb). 1943 sollten die Bände 1–4 der Ausgabe Hellingraths in Berlin in dritter, um Nachträge vermehrter Auflage erscheinen, zeitgleich mit dem ersten Band der von Friedrich Beißner herausgegebenen Stuttgarter Ausgabe. Zwischen Mitte der 1920er Jahre und Anfang der 1940er kamen viele weniger anspruchsvolle Leseoder Einzelausgaben auf den Buchmarkt; für eine Liste vgl. Hoffmann/Zils (2005) 234 (wo allerdings, meines Erachtens irreführend, auch die Bearbeitungen unter den Editionen verzeichnet werden). 114 Das Spektrum der musikalischen Rezeption in den 1930–40ern reicht von Paul Hindemith in Deutschland und Hanns Eisler in Hollywood bis auf die Gedichtkompositionen im KZ der dort ermordeten Viktor Ullmann und Gideon Klein (vgl. einführend Lawitschka 2002, 503f. sowie zu Eisler Albert 1991); demgegenüber ist die durchaus präsente Musikrezeption Hölderlins im Einklang mit der Diktatur wenig erforscht. Ähnliches gilt für die Nachwirkungen in der Kunst – in beiden Fällen ist vielmehr der enormen und niveauvollen Produktivität im Exil und vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit geschenkt worden. Über Hölderlin im NS-Film konnte bis auf das bekannte Tod fürs Vaterland-Zitat im Propagandastreifen Stukas (1941) nichts ermittelt werden. 115 Als selbsternannte Hölderlin-Nachfolger in der Lyrik wähnten sich Baldur von Schirach und Josef Weinheber; die damaligen Wirkungsgeschichten bestätigten meist solche gewagten Filiationen und konstruierten Hölderlin-Linien auch bei weiteren, heute vergessenen Autoren (vgl. Wocke 1941, 1943 und 1948, Pongs 1944 und Bartscher 1942). In der Prosa melden sich ebenfalls dem Rad der Geschichte in die Speichen Gefallenen mit Novellen, Erzählungen und Romanen, die oft Biographisches verarbeiten: eine seit Jahrzehnten verbreitete, meist epigonale Form der Hölderlin-Rezeption (vgl. etwa IHB, 80–82). Als einziges dramatisches Werk taucht das kurze Stück Skardanelli (sic!) von Friedrich Forster (Pseud. von Waldfried Burggraf 1895–1958) auf. Als Schauspieler und als Direktor des Bayerischen Staatstheaters München tätig, war damals Forster einer der „erfolgreichsten Gegenwartsdramatiker“, insbesondere durch sein Gustav-Vasa-Drama Alle gegen einen, einer für alle, das seit der Uraufführung 1933 den „Führermythos“ propagierte (Friedrich 2009, 343; 359). Vor dem 1939 zusammen mit drei weiteren Dichterdramen (zu Kleist, Droste und Ferdinand Raimund) erschienenen

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Als eine Form der produktiven Rezeption Hölderlins wird schließlich hier auch Martin Heideggers philosophische ‚Zwiesprache‘ mit Hölderlin verstanden, auch wenn die Art und Weise, wie dessen berühmte Erläuterungen von ihm selbst dargereicht und von den damaligen und von vielen späteren Hörern und Lesern rezipiert wurden, sie eher als interpretatorische Arbeiten erscheinen lassen, vergleichbar – auch wenn nicht verwechselbar116 – mit literaturwissenschaftlichen und philosophiegeschichtlichen Untersuchungen.117 Denn von Anfang an ist Hölderlin in der Philosophie des Freiburger Professors nicht so sehr Gegenstand der Untersuchung, sondern Figur einer „Kehre“, des Dichters Texte (oder Textbrocken, oder einzelne Wendungen und sogar Worte) sind Impuls schöpferischer Umgestaltung und Einarbeitung in das eigene Gedankensystem.118 Heidegger selbst datiert auf die Jahre 1928–29 den Zeitpunkt, in dem ihm Hölderlin, den er seit der Jugend kannte und schätzte, „zum Ge-

|| Einakter hatte Forster bereits zwei Novellen mit Hölderlin-Bezug veröffentlicht: Die Gontard und Die letzte Begegnung (beide 1934). In Skardanelli, 1824 im Tübinger Turm spielend, wird ein Gespräch zwischen dem alten Hölderlin und dem jungen Eduard Mörike („ein Student“) inszeniert: Der sich am Anfang und Ende verstellende Hölderlin gibt in der Stückmitte seine echte Identität zu, nennt Scardanelli seinen „Narr“ und empfiehlt Mörike, auch wahnsinnig zu werden (bzw. sich wahnsinnig zu stellen), um kummerlos zu leben. 116 Heidegger präsentierte sich bekanntlich als „antiinstitutionelle[n] und antiintellektuelle[n] Denker“ (Kurz 2014a, 94), seine Hölderlin-Erläuterungen „wollen keine Beiträge zur Hölderlin-Forschung liefern“ (Buchheim 2002, 432) und entbehren in ihrem Anspruch jeder historischen Kontextualisierung. Darin ist Heidegger aber nicht der Einzelgänger, der er gerne gewesen wäre, vielmehr wurzelt sein Hölderlin-Bild in seiner Zeit. Gerhard Kurz weist geschickt auf die „Affinität vieler seiner Denkmotive zu Dispositionen in der Tiefenstruktur seiner Epoche, zu manifesten und latenten Gefühlslagen und Denkmustern, zur Ästhetik der europäischen Avantgarde“ hin: expressionistischer Existentialismus, konservative Revolution, Hölderlin-Sakralisierungen um Stefan George und Norbert von Hellingrath sind die wichtigsten Konstellationen, die hier genannt werden können (2014, 95 und ff.). 117 Zu Heidegger und Hölderlin vgl. Kurz (2014a), wo auch die neuere Literatur zum Thema – die eine ganze Bibliothek füllen würde – in die als gültig zu betrachtende Bilanz einbezogen wird. Einen Überblick hat bereits Buchheim (2002) vorgelegt. In vorliegender Arbeit kann das Thema in seiner ganzen Tragweite nicht gewürdigt werden; hier geht es nur darum, Heidegger im Rahmen der Rezeption einzustufen, ihre Wirkung auf parallele und spätere Erscheinungen zu verorten und ihre typologische Verwandtschaft zu Formen der produktiven Nachwirkung aufzuzeigen. 118 In Heideggers wuchtiger Auseinandersetzung mit Hölderlin liegt eine Episode, die vielleicht peripher erscheinen mag, im Rahmen der hier versuchten Rekonstruktion aber Bedeutung gewinnt: In den späten Vortrag zu Hölderlins Erde und Himmel (abgedruckt 1960 im Hölderlin-Jahrbuch), genauer in die Vorbemerkung zur dritten Wiederholung am 27. November 1959 in Freiburg im Breisgau, arbeitet er ein längeres Zitat aus Bettina Brentanos Günderode ein, um sich und seinen Hörern verständlich zu machen, „in welchem Sinne Hölderlin das Dichtertum [...] erfährt“. Heidegger beruft sich also bewusst auf ein eminentes Beispiel der produktiven Rezeption, um „Hölderlins Bestimmung des Dichterischen“ zu beleuchten. Dabei handelt es sich bezeichnenderweise um eine der vielen, uns bereits bekannten Passagen über den „Rhythmus“ in Bettinas Briefroman, deren Herkunft aus Hölderlins Sophokles-Anmerkungen Heidegger ausdrücklich vermerkt (Heidegger 1960, 18).

262 | Ein Theaterjahrhundert schick“ geworden sei. Von da an ist vor allem der späte Hölderlin in Heideggers Denken zentral, wobei dieser ausdrücklich keinen Beitrag zur Hölderlin-Forschung leisten will, sondern sich als den „Dichter des Dichters“ (und den „Dichter der Deutschen“)119 einzig Verstehenden oder besser: dessen Dichtung ‚recht‘ ‚Hörenden‘ präsentiert, um auf Hölderlin den neuen Anfang der Philosophie zu gründen.120 Bekanntlich stellen einige Freiburger Vorlesungen zu Hölderlin und daraus entstandene Vorträge, hauptsächlich der 1936 in Rom gehaltene zu Hölderlin und das Wesen der Dichtung, den Hauptteil von Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlin in der NS-Zeit dar (1934–1943), die durch entsprechende Veröffentlichung und Verbreitung bereits in den Jahren 1939–44 bekannt wurde – und nicht, wie vor allem in früheren einschlägigen Publikationen zu lesen ist, erst nach dem Krieg auf Resonanz stießen.121 Spätere ebenfalls aus Vorträgen hervorgegangene Erläuterungen erschienen erst in den 1960er Jahren, die Vorlesungstexte noch später. Ist die Wirkung von Heideggers Hölderlin-Arbeiten nach dem Krieg sowohl in der deutschsprachigen Hölderlin-Forschung und -Rezeption122 als auch, vielleicht noch stärker und langzeitwirksam, in der französischen Rezeption zwischen Literatur und Philosophie schlichtweg als enorm zu bezeichnen,123 soll hier ausdrücklich betont werden, dass || 119 Die erste, zum geflügelten Wort gewordene Formulierung stammt aus dem Römischen Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung, die zweite Bezeichnung fiel in der Vorlesung des Wintersemester 1934/35 über Germanien und Der Rhein, vgl. den Wortlaut und den Kommentar dazu bei Kurz (2014a) 101. 120 Zum „rechten Hören“ sowie zu den oben zitierten Denkfiguren („Kehre“, „Geschick“) vgl. einführend Buchheim (2002) 432. Diese und andere Worte Heideggers sind schnell zu Formeln (wenn nicht Phrasen) geworden, die heute noch mehr oder weniger im Sinne des Originals mit Bezug auf Hölderlin benutzt werden. 121 Albert (1994) 210–214 vermerkt etwa, dass heideggersche Formeln aus der Römer Rede 1936 in der Publizistik Verbreitung finden – oft aus dem Zusammenhang gerissen. Die „die ganze Studentenschaft durcheinanderbringend[e]“ Wirkung des aus dem Vortrag herausgegangen Aufsatzes (so Erich Rothacker an Paul Kluckhohn am 13. März 1937) und den raschen Abverkauf der ersten Auflage erörtert Kurz (2014a) 93. 122 Besonders wirkungsvoll war Heideggers Hölderlin-Aneignung in der Forschung der ersten Nachkriegsdekaden, dazu vgl. 3.2.2.1. 123 „Verantwortlich für die philosophische Auszeichnung Hölderlins in Frankreich war ein deutscher Exeget: Martin Heidegger“, kann Manfred Koch resümieren. Heideggers „immense Wirkung im Frankreich der Nachkriegszeit“ finde in Maurice Blanchot die Schlüsselfigur; rezeptionsgeschichtlich interessant erweist sich dabei die produktive Art und Weise, wie gerade der Rekurs auf Hölderlin in der sprachphilosophisch ausgerichteten französischen Philosophie für die radikalisierende bzw. alternative Lektüre Heideggers entscheidend ist; dem Nexus muss als dritter ein ebenfalls unkonventionell gelesener Nietzsche hinzugezogen werden. Dazu vgl. Koch (2002) 454–457, hier 454 sowie eingehender Lernout (1994), wo eine Differenzierung zwischen politisch rechts bzw. links anzusiedelnden Heidegger-Lektüren ausgemacht wird und dementsprechend anders verlaufende Hölderlin-Aneignungen in der Französischen Philosophie nachgezeichnet sind (einerseits Jean Beaufret, François Fédier, Jean-Luc Marion, Alain de Benoist, Démètre Théraios; andererseits Maurice Blanchot, Jean Hyppolite, Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe, vgl. Kapp. 3 und 4). Darüber

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sie entgegen verbreiteter Meinung bereits in den späten 1930er und frühen 1940er über die universitäre Hörerschaft und das Publikum der Vorträge hinaus wirken konnten. Ein direkter Einfluss Heideggers auf die hier im Mittelpunkt stehende dramatische und theatralische Rezeption ist jedoch nicht auszumachen.124 Dies wird auch durch Heideggers „Erläuterungen“ selber bedingt, denn auch dort, wo er Hölderlins Theatertexte in seine Argumentation einbringt – etwa die Antigone-Übersetzung in der Ister-Vorlesung, aus der ein einschlägiger Vortrag entwuchs –, bleibt die Frage des jenen Dichtungen innewohnenden dramatisch-theatralischen Charakters oder gar der Realisation auf der Bühne unberücksichtigt. Zeitgenössische oder spätere Autoren und Künstler, die ihrerseits Hölderlins dramatisch-theatralische Werke rezipierten, können durchaus ein mittelbares und allgemeineres, nicht unbedingt affirmatives Verhältnis zu Heideggers so wirkungsmächtiger Hölderlin-Rezeption eingegangen sein; Heideggers zitierfähige Sprüche mögen auch manchmal in Programmheften u.ä. auftauchen.125 Im Kapitel 3.2.6 wird ein prominentes Beispiel eines (überaus kritischen) Hölderlin-Heidegger-Bezugs in Elfriede Jelineks Dramatik erörtert. Hier soll weder die philosophische Bedeutung des Rekurses auf Hölderlin in Heideggers System selbst und in der Rezeption von Heideggers Denken noch seine Strategie der Hölderlin-Aneignung erörtert werden, denn dies würde den Rahmen der Untersuchung sprengen; noch weniger sinnvoll würde hier eine Abschweifung über die Frage ihrer politischen Bedeutung im Rahmen der heiß umstrittenen Verstrickung Heideggers in den Nationalsozialismus erscheinen – rein chronologisch folgt die erste Hölderlin-Vorlesung, nach der bereits erwähnten früher zu datierenden „Kehre“ || hinaus bietet Lernout ein lehrreiches Panorama über weitere, eher auf marxschen und freudschen Denktraditionen basierende Hölderlin-Bilder im Frankreich der Nachkriegszeit (Kap. 5 und 6) sowie Formen der produktiven Rezeption in der Erzählliteratur (Kap. 7). Darauf und auf die Entsprechungen in der deutschsprachigen Hölderlin-Rezeption ist in den nächsten Kapiteln dieser Arbeit zurückzukommen. 124 Pietro Massa (2006) 58f. kann allerdings „zwischen Martin Heideggers Deutung von Hölderlins Antigonae [...] und Baldur von Schirachs gleichzeitiger Kulturpolitik in Wien [...] eine substantielle Verbindungslinie“ erblicken, denn er verknüpft die dortige theatralische Rezeption der HölderlinÜbersetzung mit den Gedanken des Philosophen in der Ister-Vorlesung von 1942. Wurde in der nationalsozialistischen Propaganda tatsächlich „die Deutsche Nation als Bewahrer und Beschützer eines gesamteuropäischen Bewußtseins“ und damit auch als alleinige Erbin der Antike inthronisiert – in den letzten Kriegsjahren auch als letztes, auf Tod und Leben zu schützendes Bollwerk der Tradition angesichts der bevorstehenden Niederlage –, und sind bei Heidegger durchaus ähnliche Gedankengänge aufzufinden, so scheint mir eine direkte Verbindung kaum auszumachen. Lothar Müthels Wiener Antigone-Inszenierung fand bereits im Herbst 1940 statt, die Antigonae-Oper Carl Orffs wurde per Vertrag Ende 1941 in Auftrag gegeben. 125 Von „Heideggers Rezeptionsschicksal als Zitiergröße“ ist bei Albert (1994) 214 treffend die Rede. Solch ein Schicksal scheint mir in der Art und Weise der Hölderlin-Aneignung Heideggers vorgegeben zu sein, der mit aus dem Zusammenhang gerissenen, oft knappen Zitate-Splittern sein philosophisches Puzzle zusammensetzte.

264 | Ein Theaterjahrhundert dank/durch Hölderlin, der Niederlegung des Freiburger Rektorats um ein halbes Jahr, also um zirka anderthalb Jahr vor der berüchtigten Rektorats-Rede. Heideggers Verhältnis zum NS-Regime wurde in der Forschung derart gegensätzlich beurteilt, dass die einen in der Hinwendung zu Hölderlin eine Kontinuität, die anderen einen Bruch mit dem kurzen offiziellen Engagement Heideggers für das Regime erblickten (vgl. Buchheim 2002, 436). Gerhard Kurz hat überzeugend das Spannungsfeld beschrieben, indem er einerseits auf die „Nähen und Annäherungen“ zum Nationalsozialismus hinweist, die trotz aller späteren Distanzierung seitens Heideggers bestehen blieben – was die damaligen „Hörer und Leser Heideggers“ dazu führen konnte, „ihr Einverständnis mit dem Regime mit einem elitären Abstand“ zu verbinden –, und andererseits das Verhältnis zur damaligen Hölderlin-Konstellation erörtert: „Freilich hatte Heidegger mit diesem Dichter auch einen Dichter gewählt, der vom Nationalsozialismus propagandistisch herausgestellt und vereinnahmt wurde“. Und dies massiv zu einem Zeitpunkt, wie hinzuzufügen ist, als Heideggers Auslegung schon bekannt war und somit auch auf solche Vereinnahmung wirkte. Heidegger habe allerdings darauf geachtet „seine Deutung Hölderlins von der offiziellen und offiziösen nationalsozialistischen Deutung abzusetzen“ (Kurz 2014a, 98). Es galt bei diesem knappen Exkurs zu Heidegger einerseits aufzuzeigen, wie seine Hölderlin-Aneignung als eine der sich in jenen Jahrzehnten sichtlich differenzierenden produktiven Rezeptionsformen gedeutet werden kann, welche aus der Hölderlin-Renaissance mehr oder weniger direkt entwuchsen – bei Heidegger ist der Bezug zu Hellingrath deutlich erkennbar, angefangen mit der Widmung der grundlegenden Überlegungen über Hölderlin und das Wesen der Dichtung dem Gedächtnis des Gefallenen.126 Andererseits sollte hervorgehoben werde, dass Heideggers ‚Zwiesprache‘ mit Hölderlin eine indirekte Bestätigung der allgemeinen Theater-Abstinenz der Jahre darstellt: Das bezüglich seiner Langzeitwirkung folgenreichste rezeptionsgeschichtliche Ereignis der NS-Zeit überhaupt, vergleichbar nur mit der späteren Gründung der Hölderlin-Gesellschaft samt Jahrbuch und dem Beginn der Stuttgarter Ausgabe (1943), geht mit keinem Wort auf das Theater ein. Ähnliches gilt für die – von Heidegger allerdings prinzipiell keines Blickes gewürdigte – Sekundärliteratur zu Hölderlin zwischen den letzten Jahren der Weimarer Republik und den 1930ern. In einer Zeit, die grundlegende Arbeiten zu Hölderlin aufzuweisen hat – man denke nur an Beißners 1933 erschienene Monographie zu den Sophokles-Übersetzungen127 –, bekundet die germanistische und die sich immer stärker mit Hölderlin beschäftigende philosophiegeschichtliche Forschung so gut wie

|| 126 Es sei hier auf Gerhard Kurz’ diesbezügliche Ausführungen hingewiesen (2014a, 99–104). 127 Die Arbeit entstand als Dissertation in Göttingen (1932) und kann gegenüber Hellingraths und Zuntz’ (1928) (um Pindar zentrierten) Untersuchungen als die erste grundlegende, philologisch genaue Behandlung betrachtet werden, die das Sophokles-Projekt in den Mittelpunkt rückt. Darauf baut – neben Beißners Edition des Übersetzungswerks (5. Band der StA, 1952) – die gesamte nachfolgende

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kein Interesse für Der Tod des Empedokles, Ödipus und Antigone als Theatertexte. Dies zu einem Zeitpunkt, in dem alle drei bereits ihre Uraufführung und weitere Inszenierungen erlebt hatten – auch in einer Zeit allerdings, in der die Auseinandersetzung mit Phänomenen der Gegenwart bzw. der künstlerischen Rezeption meist nicht zur wissenschaftlichen Praxis philologischer Disziplinen gehörte. Das Interesse an der Rezeption Hölderlins war lange auf den gewohnten Usus, Forschungsberichte zu veröffentlichen, also auf die wissenschaftliche Sparte beschränkt;128 Formen der produktiven (zuerst fast nur literarischen) Nachwirkung wurden erst – und bezeichnenderweise – ab den späten 1930ern im Rahmen von Untersuchungen und seitens von Forschern berücksichtigt, die päpstlicher als der Papst waren und durch solche Arbeiten kulturpolitische Desiderata des Regimes (und persönliche Karriereansprüche) bedienten.129 Kein Wunder, dass man da die Hölderlin-Rezeption in der Lyrik eines Weinheber gipfeln sah.130 Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung, als schließlich auch das Theater berücksichtigt wurde, fällt mit dem Höhepunkt der politischen In-

|| wissenschaftliche Forschung auf. Beißners textkritisch orientierte Arbeit berührt die theatralische Dimension und Bestimmung der Sophokles-Übersetzung mit keinem Wort. 128 Claudia Albert nimmt in ihrer rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung die Forschungsberichte der Jahre 1937–47 eigens unter die Lupe und zeigt überzeugend auf, wie dort eine apolitische Philologie befürwortet wird, welche die Hölderlin-Forschung der Nachkriegszeit um Beißner und Beck herum dominieren sollte (Albert 1994, 216–227). 129 „Die Hölderlin-Philologie [bot] ein besonders geeignetes und prestigeträchtiges Feld für Selbstdefinitionen und Abgrenzungskämpfe“ (Albert 2002b, 445). 130 Vgl. Wocke (1941), Bartscher (1942), Wocke (1943), Pongs (1944), Wocke (1948). Gegen solche Verzerrungen traten etwa Adolf Beck und Emil Staiger als Vertreter der ‚anderen‘, philologisch arbeitenden Schule in Forschungsberichten an (Albert 1996, 252). Werner Bartscher war ein Schüler Kindermanns, bei dem der „Versuch einer Wirkungsgeschichte Hölderlins“ als Dissertation entstanden war. Hermann Pongs, dessen Aufsatz in der Iduna betitelten ersten Nummer des Hölderlin-Jahrbuchs erschien, widmet Emil Strauss breiten Raum; Pongs, der 1934 zusammen mit Julius Petersen die vielsagende Namensänderung der traditionsreichen Zeitschrift Euphorion in Dichtung und Volkstum vornahm, gilt als ein belasteter Vertreter nationalsozialistischer Literaturwissenschaft; in der HölderlinForschung spielt er eine marginale Rolle – grundlegend dazu Gaul-Ferenschild (1993). Helmut Wocke scheint damals der Experte für Hölderlin-Nachwirkungen gewesen zu sein; er konnte auch nach dem Krieg – anders als der wahrscheinlich gefallene Bartscher und der seines Amtes Enthobene, allerdings weiter uferlos publizierende Pongs (Albert 2002b, 445) – weiter dazu beitragen, auch an exponierter Stelle: Der letzte zitierte Aufsatz erschien im Hölderlin-Jahrbuch. Zu Wocke als einem der „erfolgreichen Vermittler“ siehe auch Albert (1996) 246–249, wo die für die Hölderlin-Rezeption nach 1945 typische Verschiebung vom Deutschnationalen zum Schwäbischen, vom Reaktionären oder gar Völkischen zum Christlichen bei der Beibehaltung des „Gestus der zwanziger Jahre“ beobachtet wird (vgl. ähnliche Positionen bei Heuschele und in manchem selbst bei Heidegger).

266 | Ein Theaterjahrhundert strumentalisierung Hölderlins zusammen: Die Rede ist von dem Buch Heinz Kindermanns, Hölderlin und das deutsche Theater, das aus Vorträgen des frisch berufenen Wiener Ordinarius für Theaterwissenschaft hervorging.131 Der Großteil der Hölderlin-Forschung ging andere Wege. Bis Ende der 1930er Jahre kommt es im akademischen Feld kaum zu Beiträgen, die Hölderlin und sein Werk plakativ für die Kulturpolitik instrumentalisieren; eine Änderung brachte auch hier der Krieg. Selbstverständlich gab es bereits in den früheren Dekaden Tendenzen, die meist in der Nachkommenschaft der konservativ-irrationalistischen ‚Entdeckung‘ und Auslegung durch den George-Kreis bzw. in dessen Nähe weiterhin Hölderlin-Bildern frönten, die nach 1933 unschwer bzw. mit wenigen Retuschen in den offiziellen Diskurs passten oder zumindest toleriert wurden. Die neue Lesart strebte grundsätzlich nach De-Aristokratisierung und Annäherung an ‚volkshafte‘ und nationale Vorstellungen, mitunter kam es auch zur Tilgung des Bezugs auf den gestorbenen und nunmehr verpönten George. Die forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Rekonstruktion dieser Phase der kritischen Auseinandersetzung mit Hölderlin hat recht unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt. Bei Werner Volke etwa liest man, dass „die in den dreißiger und vierziger Jahren erscheinenden großen, das Bild der Hölderlin-Forschung noch heute mitprägenden Arbeiten [...] in ihren Anfängen fast alle in die zwanziger Jahre“ zurückreichen würden und „im Kern frei von der sich allmählich breitmachenden nationalsozialistischen Ideologie“ geblieben seien (1983, 321) – somit wird die Selbstrepräsentation eines Teils der vor- und nachkriegszeitlichen Hölderlin-Forschung als apolitische Philologie kritiklos als gültig hingenommen. Bei Hennig Bothe hingegen wird die „nationalistische Hölderlinlegende“ allgemein als „Beitrag der George-Schule, der die Hölderlindiskussion im zwanzigsten Jahrhundert am stärksten und am längsten geprägt“ hat, gedeutet, um dann spezifisch am Beispiel Robert Hulshöfers zu zeigen, wie „mühelos [...] die nationalsozialistische Propaganda“ daran anknüpfen und dadurch die „Instrumentalisierung des Dichters zum Legitimationspoeten faschistischer Ideologie“ betreiben konnte (1992, 218). In einer Fußnote, die eigentlich der Differenzierung dienen und alternative Forschungslinien (die „positivistische“ um die älteren Böhm und Zinkernagel und die „werkimmanente“ eines Beißner) aufzeigen sollte, wird letzten Endes bei Bothe aufgezeigt, wie der „durch die exegetischen Eingriffe des George Kreises“ zur „Angelegenheit der rechtsintellektuellen Öffentlichkeit

|| 131 Der Österreicher Heinz Kindermann (1894–1984) kam 1942 nach einer Karriere als Germanist in Danzig und München an die Donau zurück und wurde bald Institutsdirektor. Die Vorträge zu Hölderlin und dem deutschen Theater hielt er in Göttingen (12. Februar 1943) und in Wien anlässlich der Hölderlin-Feier (8. Juni 1943). Trotz zahlreicher Proteste konnte 1954 das NSDAP-Mitglied und der Verfasser eindeutig völkischer Untersuchungen, der im Zuge der Entnazifizierung entfernt worden war, seine Stelle erneut antreten (Kirsch 1996). Kindermann gilt als Paradebeispiel der auch nach dem Krieg vielerorts ‚braun‘ gebliebenen Theaterwissenschaft.

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geworden[e]“ Hölderlin so stark in die „faschistische[n] Propagandamaschinerie“ gezerrt wurde, dass sich ihr „auch bedeutende Gelehrte wie Beißner“ ergeben hätten (275) – hier wird wohl implizit auf die berüchtigte Feldauswahl Bezug genommen, die Beißner 1944 für die Frontsoldaten anfertigte.132 Die Frage ist, wie man sieht, umstritten – zu einer Klärung verhilft die nachträgliche „Entlarvung von Personen“ wohl kaum, die in beiden zitierten Fällen betriebene Identifizierung von chronologisch verschiedenen Phasen und typologischen andersartigen Aspekten der Rezeption gewiss nicht. Es sei hier deshalb auf die umsichtigen und differenzierteren Rekonstruktionen von Claudia Albert zurückgegriffen, deren soeben zitierte Worte auch zur „Erkenntnis von Strukturen“ auffordern (1994, 10). Albert sieht ebenfalls in Stefan George den Begründer von drei die Rezeption steuernden Topoi: Hölderlin sei bereits in der so genannten Renaissance als „Führer zu einem neuen Vaterland“, als „Magier an den Grenzen der Sprache“ und als „Seher einer mythischen Gemeinschaft“ stilisiert worden (1991, 157). Insgesamt sei die „Sakralisierung der Dichtergestalt“ und die „Mythisierung des Dichterworts“ das Erbe des Kreises, das im „ideologischen Konstrukt ‚Hölderlin 1943‘“ noch zu erkennen sei (1994, 191).133 Die Chronologie ist dabei so wichtig wie die grundsätzliche Erkenntnis, dass „der Weg von der Deutungspraxis der George-Schule zu einem wie auch immer differenzierenden Hölderlinbild der Nationalsozialisten länger und komplizierter war, als es die zahlreichen verbalen Parallelen aus dem Gebiet der Kampf- und Vaterlandsmetaphorik nahelegen“ (190). Albert gebührt auch das Verdienst, zwischen der bis zu einem gewissen Grad und Datum abgeschieden weiterarbeitenden Gelehrtenwelt und der publizistischen und „popularisierende[n] Hölderlin-Rezeption“ zu unterscheiden, die eher volkspädagogischen Zielen und der Indoktrination diente (190), was auch zu einer chronologischen Differenzierung verhilft. Zwar begegnet man in den Jahren 1935–1937 bereits Versuchen, von „Hölderlins Sendung an unsere Jugend“ oder ähnlich klingenden Aktualisierungen zu sprechen (vgl. ebd.), auch kann Gerhard Kaiser seine aufschluss-

|| 132 Die Auswahl (einzelne Gedichte und Passagen aus Hyperion und Der Tod des Empedokles) erschien 1943 bei Cotta im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft und des Hauptkulturamtes der NSDAP. Beißner verzichtet dort auf Anmerkungen und Kommentare; selbst ein Vorwort fehlt – dies ein Unterschied zu ähnlichen Feldpostausgaben, etwa die Leipziger mit eindeutiger Instrumentalisierung in den einleitenden „Gedenkworten“ Paul Smolnys (Leipzig 1944, vgl. Kaiser 2008, 621; zu Smolny vgl. unten). Zu Beißners Feldauswahl vgl. Tgarth (1983), eher verharmlosend, und Rath (1994), wo die „Praxis berufsmäßiger Sinnvermittler“ differenzierter erörtert wird, „von denen sich manche 1943–44 in Bezug auf Hölderlin zu Sinnverdreher-Diensten hergaben“ (229). Eine nüchtern kommentierte Dokumentensammlung kann man bei Kahlefendt (1993) 156–163 lesen. Ein Porträt Beißners bietet Oellers (2000), der nachdrücklich beteuert: „Der Gelehrte misstraute jedweder Ideologie“ (232). 133 Dazu vgl. übereinstimmend Kurz (1994); zur Präsenz dieses Rezeptionsmusters bei Heidegger vgl. Kurz (2014a).

268 | Ein Theaterjahrhundert reiche Spurensuche zu Hölderlin als einem „der zirkulations- und resonanzträchtigsten Sinnstiftungsangebote, an denen die Literaturwissenschaft beteiligt ist“, mit einer Rede aus dem Jahr 1933 beginnen lassen; und zu erwähnen ist schließlich die rezeptionsgeschichtlich aufschlussreiche Eingravierung von Hölderlin-Versen (aus der Ode Der Tod fürs Vaterland)134 am Eingang des Berliner Reichssportfeld anlässlich der Olympischen Spiele 1936. „Ihr Höchstmaß an feldübergreifender Aufmerksamkeit“ jedoch, wie Kaiser vermerkt, „erreicht die Inszenierung von Hölderlin als Sinnstifter [...] erst im Laufe der frühen 1940er Jahre“ (2008, 601). Mit dem Jubiläum 1943 ist der Höhepunkt erreicht – dann werden auch rein philologisch-akademische Ansprüche in einen derart übergroßen Diskurs verwickelt, dass ein ‚Verlust der Unschuld‘ tatsächlich jederzeit droht. Gerhard Kurz hat „das Thema Hölderlin 1943“ unumwunden als „schwer und auch schmerzlich“ bestimmt (1994, 103). Im 100. Todesjahr schlägt „die große Stunde Hölderlins als der Sinnfigur für den heroischen Untergang“: Die Feierlichkeiten werden zu einem „Komplex von multimedial inszenierten Aktivitäten, die dem Dichter gewidmet sind“, und gleichzeitig tagespolitische Zwecke der Nach-Stalingrad-Propaganda im Zeichen des ‚totalen Kriegs‘ erfüllen sollen (Kaiser 2008, 606f.). „Hölderlin [...] ist auf allen ‚Kanälen‘ präsent“: Vordergründig im Medium Theater und auch bei öffentlichen Reden und Vorträgen, in musikgerahmten Rezitationsabenden und in Presseberichten, im Hörfunk wie an der Front – und nicht zuletzt im akademischwissenschaftlichen Bereich, wo sich laut Kaiser „im Zeichen Hölderlins [...] noch einmal das komplexe Wechselspiel gegenseitiger Ressourcenfunktionalisierung zwischen Literaturwissenschaft und Politik“ entfalte (608). Auf Hölderlin legen offensichtlich unterschiedliche Gruppen aus unterschiedlichen Gründen großen Wert. Kurz stellt etwa für die Initiierung der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe – mit der Gründung der Hölderlin-Gesellschaft das folgenreichste Hölderlin-Ereignis um den 7. Juni 1943 überhaupt – nüchtern fest: Da „kamen zwei unterschiedliche Interessen zusammen: ein politisches Interesse, das Hölderlins Werk für den Krieg mobilisieren wollte, und ein philologisches Interesse: die Absicht, eine neue historisch-kritische Ausgabe der Werke Hölderlins zu veranstalten“ (1994, 118). Vernunftehen, Kompromisse, Hölderlin-Schändungen – die Urteile über die Ereignisse zu Beginn der Hölderlin-Gesellschaft und ihrer Publikationen mögen heute sehr unterschiedlich ausfallen.135 Wenn man sich in den damaligen Rezeptionshorizont versetzt, muss man allerdings feststellen, dass andere Aspekte und Medien den damaligen öffentlichen Hölderlin-Diskurs stärker prägten als Editions-Projekte, || 134 Die Ode wurde bekanntlich des Öfteren in Anspruch genommen, insbesondere die Schlusswendung „Dir ist, / Liebes! nicht Einer zu viel gefallen“ (StA 1, 299), was mit dem Thema selbst zu erklären ist und auch früher in patriotischer bis nationalistischer Hinsicht geschehen war. Virulent – und rezeptionsgeschichtlich bedeutend – war dabei die biographistische Überlagerung mit dem Gefallenen Hellingrath. 135 Vgl. die Rekonstruktion anhand der Dokumente in Kahlefendt (1993).

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Gründungen von Gesellschaften, Herausgabe von Sammelbänden und Jahrbüchern. „Das Hauptinteresse der kriegsbegleitenden Kulturpropaganda“, vermerkt Kaiser, lag „keineswegs beim textuellen Medium Literatur“; das „Theater, an das weiterhin die meisten Mittel des Propagandaministeriums fließen“, gehört eher zu den führenden Medien. Die „Hölderlin-Erzählung“ – wohlgemerkt ein „bereits erprobtes bildungsbürgerliches Narrativ mit hohem Kontingenzbewältigungspotential“ – wird dementsprechend überwiegend auf der Bühne seine zwei propagandistischen Hauptaufgaben erfüllen. Einerseits dient Hölderlin „als sinnstiftende Figur“ der „Kompensation des kriegsbedingten Todes des einzelnen Soldaten“, andererseits wird er „zum fragmentarisch anzitierten Stichwortgeber, mit dessen Hilfe die drohende Kriegsniederlage den Firnis der Tragik und der Schicksalshaftigkeit erhält und zum heroischen, durchhaltewilligen ‚Endkampf‘ einer ganzen Nation stilisiert werden soll“ (Kaiser 2008, 611–618). Wenn der so verzerrte Hölderlin „für den heroischen Untergang“ zeugen soll, gewinnt insbesondere „Der Tod des Empedokles [...] als Zitatarsenal eine erheblich größere Bedeutung“ als die Gedichte (Albert 1994, 228–230): Daraus erklärt sich nicht nur die Präsenz von Passagen aus dem Trauerspiel in vielen publizistischen Texten bis in die Feldpostausgaben hinein, sondern auch seine Hochkonjunktur auf der Bühne. Der soll nun nachgegangen werden. Nach diesem Überblick über den theatergeschichtlichen Kontext und über die Hölderlin-Rezeption der Jahre 1933–45 stellt sich noch einmal die Frage über die lang anhaltende Bühnenferne Hölderlins zwischen den späten 1920er und den frühen und mittleren 1930er Jahren. Wie erklärt sich also aus dem Erörterten, dass erst 1938, nach einer zwölfjährigen Absenz, und dann intensiver in den Kriegsjahren Hölderlins Theatertexte wieder auf die Bühne gelangen, während andere Rezeptionserscheinungen bei aller Schwankung eher durch Kontinuität (auch über den historischen Umbruch vom 30. Januar 1933 hinaus!) gekennzeichnet sind? Als triftig scheint sich die These aufzudrängen, dass die aus dem Bühnenrepertoire der Weimarer Republik verschwundenen Theatertexte anders als die Forschung über Hölderlin oder dessen rein literarische Rezeption in der neuen kulturpolitischen Situation und bei einem stark bevormundeten Medium wie der Bühne ‚unterm Hakenkreuz‘ auf eine explizite politische Brisanz warten mussten, um wiederaufgenommen zu werden. Da es in der späten Weimarer Republik keine HölderlinInszenierungen gab, konnte es auch keine Wiederaufnahmen und damit keine Kontinuität geben; und ein neues spezifisches Interesse fehlte noch – darin hat die Präsenz Hölderlins auf dem Theater durchaus Parallelen mit Formen der popularisierenden und publizistischen Hölderlin-Rezeption, die ebenso spät florierten. Ende der 1930er Jahre erwacht offensichtlich solch ein Interesse, um dann 1943 zum Höhepunkt zu kommen – in direkter Verbindung zur Kriegspropaganda und mit starken Bezügen zum Tod des Empedokles. Hinzu kommen andere, jeweils einzelne Aspekte oder Erscheinungen mitbestimmende Faktoren. So konzentrierte sich etwa die NSDiktatur in den ersten Jahren auf die 1934 und 1936 gefeierten und regimekonform verkleideten Klassiker Schiller (175. Geburtstag) und Kleist (125. Todestag), so dass

270 | Ein Theaterjahrhundert Hölderlin eher später bedacht wurde – darauf weist noch einmal Claudia Albert hin (1994, 11). Auch der Misserfolg von in den 1930er Jahren massiv geförderten Formen des völkischen Theaters, etwa das Thingspiel, oder die hoffnungslose Niveaulosigkeit der offiziell befürworteten Dramatik mögen den späten Rekurs auf Hölderlin erklären. Was speziell die Sophokles-Übersetzungen angeht, so wurden sie auch deshalb seltener als der Empedokles gespielt, weil sich die griechische Tragödie schlechter als das Trauerspiel in die Kriegslegitimationsrhetorik einfügte – dazu an späterer Stelle. 3.1.3.2 Sinnstifter des Untergangs. Empedokles-Bearbeitungen und Inszenierungen 1938-1944 Zum ersten Mal nach anderthalb Jahrzehnten gelangte also Anfang 1938 ein Theatertext Hölderlins wieder auf die Bühne. Der Leipziger Schauspieldirektor Paul Smolny inszenierte am 12. Februar seine eigene Neufassung von Der Tod des Empedokles im Alten Theater der sächsischen Stadt; Oskar Braun dirigierte dabei die Szenenmusik von Hans Stieber, vor dem stark antikisierenden Bühnenbild von Heinz Helmdach trat Hans Jungbauer in der Titelrolle auf.

Abb. 4: Der Tod des Empedokles (Leipzig 1938). Regie: P. Smolny. H. Jungbauer als Empedokles

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Smolny, der bereits damals auf eine bedeutende Karriere als Schauspieler (ausgebildet wurde er bei Max Reinhardt) und auf vielfältige Erfahrungen als Intendant verschiedener Provinztheater zurückblicken konnte, hat seine zweiaktige Bühnenbearbeitung von Hölderlins Trauerspiel im selben Jahr zweimal veröffentlicht; gegenüber dem unverkäuflichen Bühnenmanuskript, das auf jedwedes Vor- oder Nachwort verzichtet und den Spieltext ohne Szeneneinteilung abdruckt, bietet die Buchausgabe neben dem Dramentext und theatergeschichtlichen Quellen (etwa dem Theaterzettel der Uraufführung) das „ausführlich[e] Nachwort des Spielleiters“, wie der Frontispiz besagt (Smolny 1938). Am selben paratextuellen Ort wird auch dem Gestus Ausdruck gegeben, mit dem sich der moderne Bearbeiter an Hölderlins Torso herangemacht hat: Beim gedruckten Text handle es sich um „die neue Einrichtung des unsterblichen Werks für die heutige Bühne von Paul Smolny“ (ebd.). Die Rede von einer neuen Einrichtung weist auf die früheren von Scholz und eventuell auch von Michel hin, der die eigene allerdings als Bearbeitung bezeichnet hatte. Im Nachwort erwähnt Smolny die Autoren der anderen Bearbeitungen mit keinem Wort; betont wird immerhin, dass „hierbei die Lesarten der letzten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse benutzt wurden“ (Smolny 1938, 125) – als Grundlage ist hier wohl die Edition der dramatischen Bruchstücke im von Ludwig von Pigenot 1922 besorgten 3. Band der von Hellingrath initiierten historisch-kritischen Ausgabe gemeint; Zinkernagels frühere Edition und weitere Hölderlin-Werkausgaben, oft Leseausgaben der mittleren bis späten 1920er Jahre standen noch zur Verfügung, in allen waren auch die Empedokles-Fragmente enthalten.136 Smolnys Anspruch, eine neue und philologisch ‚getreuere‘ Bearbeitung geliefert zu haben, hält einer genaueren Untersuchung aber kaum stand. Bereits Rüppel hat aufzeigen können, dass Smolnys Version der ein Vierteljahrhundert älteren des Wilhelm von Scholz in vielem nachgestaltet und dementsprechend nicht so neu war; was die angebliche Treue zum Text angeht, verfuhr Smolny eher aktualisierend, etwa bei den „sehr geschickte[n] Streichungen und Textanordnung[en]“ (Rüppel 1954, 108) – selbstverständlich ein gutes Recht jedes Bearbeiters, nur weckt Smolnys Vertuschung der Anleihen bei Scholz Zweifel, ob er wirklich gewissenhaft und respektvoll mit dem ‚unsterblichen Werk‘ umgangen ist. Denn Smolnys Einrichtung „für die heutige Bühne“ – dies wohl die einzige tatsächlich zutreffende Angabe im Titel – kommt vielmehr einer Aktualisierung der hölderlinschen dramatischen Vorlage gleich. Die zwei Akte zu jeweils 8 und 7 Szenen basieren auf der so genannten ersten und zweiten Fassung vom Tod des Empedokles,

|| 136 Über die historisch-kritischen Ausgaben hinaus und speziell zum Tod des Empedokles kann hinzugefügt werden, dass das fragmentarische Trauerspiel 1921, 1924 (zweimal), 1925, 1928 (zweimal) in Werkausgaben oder Sammlungen Eingang fand; die Einzelausgabe bei Reclam, von Seebaß herausgegeben, kam hingegen erst 1942 heraus und erfuhr bereits 1944 einen Nachdruck. Für Details vgl. Hoffmann/Zils (2005) 234.

272 | Ein Theaterjahrhundert wobei auch die Manes-Szene aus der dritten Fassung übernommen wird. Die Auslassungen und die Umstellungen einiger Passagen dienen vor allem der Herausstellung der Hauptfigur zum heroischen Einzelnen, durchaus im Sinne eines „Übermenschen“, der ‚sein‘ Volk mit einer „politischen Botschaft“ versorgt.137 Diese, wie die Presse zustimmend berichtete, bestehe im „Aufruf zur Selbstgestaltung des Volkes“.138 Auch wenn hier offenbar die berühmte Rede gemeint ist, in der Empedokles die Agrigentiner auffordert, „Gesez und Brauch, der alten Götter Nahmen“ kühn zu vergessen und „wie Neugeborne, / Die Augen auf zur göttlichen Natur“ zu heben (StA 4, 65), ist in Smolnys Einrichtung (und Regie) die Selbstgestaltung des Volkes und auch der Volk-Begriff an sich anders schattiert als in Hölderlins Antikendrama. Smolny lässt keinen Zweifel daran, dass die für die „heutige Bühne“ neueingerichtete Tragödie ‚heutige‘ und vor allem ‚deutsche‘ Verhältnisse thematisiere: Bereits bei Hölderlin, so heißt es etwa im Nachwort, habe die Antike „als Form und Inhalt, [...] nur ‚Deutschland‘, als Sinn und Wesen“ gegolten, denn „dafür dichtete er, dafür litt er, dafür vereinsamte er“ (Smolny 1938, 119). Der pathetische Rückgriff auf Hölderlins angeblich Deutschland-zentriertes Dichten und Leiden dient Smolny zur Rechtfertigung der eigenen, als Fortsetzung von Hölderlins Anliegen ausgegebenen weiteren Aktualisierung. „Opferwillen“ und „unbeirrbare[r] Zukunftsglaub[e]“, um Worte eines weiteren Rezensenten aufzunehmen,139 seien die Inhalte der Botschaft des Empedokles an das Volk: Dessen „Selbstgestaltung“ hat also keine emanzipatorische, wenn man will aufklärerische Bedeutung (geschweige denn eine antityrannisch-revolutionäre), sondern besteht in der aufopfernden, mit chiliastischen Hoffnungen verbundenen Hingebung an eine führende Gestalt. Ein 1938 in Deutschland mehr als einleuchtendes Programm. Der Inkonsequenz kann man Smolny sicher nicht bezichtigen: Seine dramaturgische Einrichtung, sein kommentierendes Nachwort wie seine Regie selber sind auf kohärente Weise alle darauf gerichtet, die erörterte Aktualisierung des EmpedoklesStoffes zur deutschen Schicksalsfrage zu bewerkstelligen; zur weiteren Resonanz des Ganzen verhilft die gleichgeschaltete Presse. Bezeichnenderweise wird die gesamte Operation so präsentiert, als handele es sich um eine Widergewinnung des ‚wahren‘

|| 137 So Smolny selbst, zit. aus Kindermann (1943) 40. 138 So lautete insgesamt die Passage aus der Kölnischen Zeitung, die in der Buchausgabe von Smolnys Einrichtung abgedruckt wurde: „[Ein Theater] muß im Wort des Dichters die politische Botschaft heraushören, die unmittelbare Anrede an die Wirklichkeit, den Aufruf zur Selbstgestaltung des Volkes, dessen Kernstück die große Rede des Empedokles an die Agrigentiner ist“ (Smolny 1938). 139 In der Frankfurter Zeitung wurde anhand der genannten Stichworte der smolnyschen HölderlinEinrichtung Erfolg verheißen: „eine Bearbeitung […] von der man wünschen möchte, daß sie weiter über die Bühnen gehe, denn es erscheint an der Zeit, daß dieses Trauerspiel voll innerer Einkehr, voll Opferwillen und unbeirrbarem Zukunftsglauben dem deutschen Publikum zu festlicher Gelegenheit wieder fortgesetzt werde“ (Smolny 1938).

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und ‚gültigen‘ Hölderlin. Der nicht ungeschickte Smolny rekurriert in seinem Nachwort auch auf Nietzsche als Vermittler bei der Aktualisierung von Hölderlins Empedokles, der „zum geistigen Heros von übermenschlicher Großartigkeit“ werde, „der sein Schicksal in der Erkenntnis der All-Einheit selbst vollzieht! Liebender, Opfernder, Sieger in Einem: ein Held geistiger Tat“ (Smolny 1938, 121). Der Leser dieser Untersuchung erkennt in Smolnys Rückgriff auf Formeln Nietzsches zur Interpretation der Philosophen-Figur unschwer eine seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitete Sichtweise, die in der Forschungsgeschichte spätestens bei Dilthey, in der produktiven Rezeption bei Pannwitz und Scholz zu finden ist; Ähnlichkeiten mit dem letztgenannten bei der Textbearbeitung wurden bereits erwähnt. Ein Blick auf den Inszenierungsstil bestätigt den Eindruck, dass Smolnys Lektüre seine Wurzeln im Hölderlinverständnis der vorangegangenen Jahrzehnte hat: In den Quellen ist einhellig von einer Konzentration auf das Monumentale, Heroische, Gewaltige die Rede, insbesondere bei der Charakterisierung der Hauptfigur und dessen Einsamkeit und Größe; dazu habe auch das „streng[e] und kühl[e]“ Bühnenbild beigetragen (vgl. Rüppel 1954 und Ennen 2008, 99). Was Smolnys Tod des Empedokles andererseits von den früheren Inszenierungen unterscheidet, etwa von den mit monumental-feierlichen Akzenten versehenen Regiearbeiten von Scholz oder von Legal/Michel, ist die Verknüpfung der sakralen Atmosphäre und der kulturkonservativen bis deutschtümelnden Färbung mit einer überdeutlichen Aktualisierung, die unumwunden im Dienste der Macht stand. „Smolny lieferte damals“, wie Rüppel zusammenfasst, „eine Inszenierung, wie sie der Staat verlangte: einen heroischen Empedokles mit einer politischen Botschaft“ (1954, 108). Dem ist nur hinzuzufügen, dass Smolny dabei keineswegs das vom Staat Verlangte gegen die eigene Überzeugung lieferte. Kein Wunder, dass Heinz Kindermann gerade die politische Dimension in seiner Besprechung von Smolnys Inszenierung hervorhob;140 kein Wunder auch, dass Smolnys „Einrichtung“ wiederholt von anderen Regisseuren im dritten Reich aufgegriffen werden sollte, kein Wunder schließlich, dass auch sein Inszenierungsstil stilbildend für die dichte Bühnenwirkung des Trauerspiels bis 1944 wurde.

|| 140 Kindermann (1943) 38–40 lobt Smolnys „Monumentalstil“ als „unbürgerlich und unsentimental“ und betrachtet die „politische Botschaft“ – Smolnys Überlegungen wiederaufnehmend – als zentralen Punkt sowohl des Trauerspiels an sich als auch der Inszenierung, die „bei Publikum und Presse gleich stürmisch gefeiert“ worden sei. Bedenken trägt Kindermann nur hinsichtlich der „zu weit ausgesponnenen Greisenszene, die hier allzu retardierend“ wirke, ansonsten wird Smolnys Empedokles gegenüber früheren Bearbeitungen und Inszenierungen als künstlerisch einheitlicher sowie philologisch getreuer hervorgehoben – auch hier übernimmt Kindermann Smolnys Selbstaussagen.

274 | Ein Theaterjahrhundert So lag Smolnys „Einrichtung“ zwischen 1940 und der Theaterschließung nach Verordnung Goebbels (20. August 1944 zum 1. September) mindestens vier neuen Empedokles-Inszenierungen sowie drei Wiederaufnahmen vor.141 Sogar noch in der Bundesrepublik der frühen 1950er Jahren wurde sie zweimal neuinszeniert, im Kleinen Haus des Wiesbadener Staatstheaters (1. April 1953, Regie und Empedokles: Walter Grüntzig) und in einer Basler Studioaufführung von Carlheinz Caspari (30. September 1956, Stadttheater). Dadurch wurde Smolnys Empedokles-Bühnenbearbeitung vor denjenigen von Scholz und Michel die meistgespielte in den Dekaden um den Zweiten Weltkrieg herum. Smolny, der auch in der Inszenierungsgeschichte der Sophokles-Übersetzungen in den 1940er Jahren eine Rolle spielte, kann also in vielerlei Hinsicht als Initiator einer neuen Welle von Hölderlin-Aufführungen und als eine der führenden Gestalten der Hölderlin-Konjunktur in der zweiten Hälfte der NS-Zeit gelten, die eine ideologische Vereinnahmung mit dem ausdrücklichen Segen des Regimes war – was ihn allerdings daran nicht hinderte, in den ersten Nachkriegsjahren sowohl im Theater, als Intendant in Oberhausen, als auch im Wissenschafts- und Kulturbetrieb, als Mitglied des Beratenden Ausschusses der neugegründeten Hölderlin-Gesellschaft,142 bis zu seinem Tod Anfang 1950 öffentlich weiterzuwirken. Was die Empedokles-Inszenierungen in der späten NS-Zeit angeht, wirkte Smolny als Bearbeiter oder Regisseur neben seiner Hauptwirkungsstätte Leipzig und Weimar eher an Provinzbühnen – immerhin manchmal mit hohen Gästen im Parterre, etwa bei der Karlsruher Inszenierung,143 und meist mit dem zu erwartenden, wenn nicht sogar organisierten großen Pressebeifall. Seine Text- und Bühnenarbeit am Empedokles wirkte sich allerdings

|| 141 Es handelt sich fast nur um Inszenierungen im Hölderlin-Jahr 1943; die frühere in Kassel (Staatstheater, 26. November 1940, Regie von Hans-Carl Müller) brachte derselbe Regisseur wieder auf die Bühne, sowohl in der nordhessischen Stadt (20. März 1943) als auch als Gastspiel im Goethe-Theater Bad Lauchstädt (2. Juli 1944, meines Wissens die letzte Empedokles-Inszenierung der NS-Zeit überhaupt). Mit dem Jubiläum verbunden waren die Wiederaufnahmen unter Smolnys Regie in Leipzig (Altes Theater, 9. Mai 1943), im Deutschen Nationaltheater Weimar (25. Mai 1943) und in Karlsruhe (20. Juni 1943) sowie die Neuinszenierungen in Chemnitz (Städtisches Theater, 19. Juni 1943, Regie Hermann Schaffner), Regensburg (Stadttheater, 8. September 1943, Regie Fritz Herterich) und Bielefeld (Stadttheater, 12. Oktober 1943, Regie Rudi Hoffmann). 142 Nach der formellen Auflösung der 1943 gegründeten Hölderlin-Gesellschaft (14. März 1946) konnte eine Neugründung beantragt werden. Mit der Zustimmung der Französischen Militärregierung fand am 21. Oktober 1946 in Tübingen eine Gründungsversammlung statt; dort wurde der fünfköpfige Gründungsausschuss zusammen mit Friedrich Beißner und Wilhelm Hoffmann in den Vorstand gewählt, der Paul Kluckhohn zum Präsidenten kürte; darüber hinaus wurde ein beratender Ausschuss gewählt, dem Paul Smolny angehörte (vgl. Binder 1947, 241). 143 Bei der Wiederaufnahme im Hölderlin-Jahr saßen Paul Kluckhohn – der Professor hat am 7. Juni 1943 als Vorsitzender des vorbereitenden Ausschusses der Hölderlin-Gesellschaft die Gedenkrede gehalten und die Gründungsversammlung in Tübingen eröffnet – und der erste Präsident der HölderlinGesellschaft Gerhard Schumann, der daselbst seine Ansprache hielt, im Publikum.

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darüber hinaus sowohl in stilistischer als auch in inhaltlicher Hinsicht auf die weiteren Inszenierungen der 1940er Jahre aus, auch auf diejenigen in den Theaterhauptstädten Berlin und Wien. Stilbildend war hauptsächlich Smolnys Verbindung einer monumentalisierenden Theaterästhetik mit der Herausarbeitung heroischer Zügen an dem Protagonisten im Zeichen einer aktuell-politischen Auslegung, die in den Kriegsjahren und insbesondere nach Stalingrad und nach der Ausrufung des ‚totalen Kriegs‘ nicht mehr ‚nur‘ weltanschaulich regimekonform war oder sich zur Indoktrination eignete, sondern sich leicht für offensichtliche Propagandazwecke zurechtbiegen ließ. Zentral wurden dabei auf der Produktionsebene – und noch stärker in den Rezeptionsdokumenten – die bereits bei Smolny aufzufindenden Aspekte der politischen Instrumentalisierung des Empedokles: Die Opferbereitschaft, ja Opferfreudigkeit des Einzelnen, die Überhöhung der Todeserfahrung, das mystische bedingungslose Sich-Hingeben der Gemeinschaft an die vorbildliche übermenschliche Gestalt des Protagonisten. Auch in den (wenigen) Fällen, in denen dramaturgische und Regie-Entscheidungen einer expliziten Aktualisierung entgegenstanden, arbeiteten dann die Rezensenten in Presseberichten wie Mitwirkenden in inszenierungsbegleitenden Festreden oder -Akten massiv darauf hin, die Empedokles-Inszenierungen im Zeichen der allgegenwärtigen Inanspruchnahme Hölderlins für die Propaganda zu instrumentalisieren. Diesen für ein Theater der Indoktrination selbstverständlichen Umstand muss man sich immer vergegenwärtigen, um durchaus mögliche Distanzierungsgesten seitens der Produzenten oder ebenso durchaus denkbare ‚andere‘ Interpretationen seitens des Publikums nicht zu überschätzen. Darüber hinaus muss man der Tendenz mancher Stellungnahmen grundsätzlich widersprechen, so genannte ‚apolitische‘ oder ‚neutrale‘ Rezeptionsmodi als Spuren einer regimefeindlichen Position zu lesen: ‚Unpolitischem‘ oder gar ‚Unverbindlichem‘ wohnt eine affirmative, die Lage rechtfertigende Geste inne, erst recht unter einer Diktatur. Unter den vielen Bearbeitungen und Inszenierungen vom Tod des Empedokles in der NS-Zeit kann man hier neben denjenigen Smolnys auf einige andere näher eingehen, die sich für die soeben erörterte Konstellation als aufschlussreich erweisen.144 Man nehme etwa Georg Seidlers 1939 für eine studentische Aufführung besorgte Fassung. Ihr „philologischer Akzent“ – Seidler war Germanist, die Bearbeitung entstand

|| 144 Lediglich erwähnt sei eine Inszenierung, die 1939 oder früher stattgefunden haben muss, über die aber fast nichts ermittelt werden konnte – in der Forschung fand sie bisher keine Berücksichtigung. In der von Hartfrid Voß besorgten Tod des Empedokles-Ausgabe im Münchner Wilhelm Langewiesche-Brandt-Verlag, die das Datum 1939 trägt, sind auch zwei Abbildungen der Szenerie abgedruckt, die der ebenfalls in München tätige Bühnenbildner Wilhelm Heinold realisiert hat – für welche Inszenierung, ist nicht bekannt; das Abgebildete lässt an eine recht konventionelle Regie denken. Die Fassung von Voß fußt laut eigener Aussage auf „der vollständig wiedergegebenen und fast bühnenreifen Erstfassung in zwei Akten“, der „Bruchstücke aus späteren Ausführungsversuchen Hölderlins angefügt“ wurden (1939, 7).

276 | Ein Theaterjahrhundert aus der Arbeit mit Studierenden der Universität Göttingen – kam durch die damalig neue Textanordnung zustande und wurde unterschiedlich bewertet;145 konkret versuchte Seidler, alle drei Fassungen auf der Basis der Ausgabe von Pigenot in die dramaturgische Struktur der ersten einzuarbeiten. Rezeptionsgeschichtlich interessanter als dieses „philologische Wagnis“ (Ennen 2008, 100) und als die kaum dokumentierte Uraufführung an der niedersächsischen Universität ist der Rückgriff auf Seidlers Fassung, zum damaligen Stand die „umfassendste und breiteste aller Bühnenfassungen“, in der Stuttgarter Festaufführung am 6. Juni 1943 (Staatstheater, Regie von Paul Riedy, Bühnenbild von Max Fritzsche),146 am Vorabend des hundertsten Todestags des Dichters. Dadurch wurde die gewissenhafte, politisch mehr als enthaltsame Fassung Seidlers, der im Februar an der Ostfront gestorben war, zur Grundlage der wohl politischsten Empedokles-Inszenierung aller Zeiten. Der Rekurs gerade auf die Bearbeitung eines Gefallenen – ein in Presse und anderen Zeugnissen oft betonter Umstand – kann man auch im Rahmen der ideologischen Instrumentalisierung lesen. Die Stuttgarter Empedokles-Inszenierung war buchstäblich die theatralische Spitze des Eisbergs: Vor und nach dieser Festaufführung ‚in des Dichters Heimat‘ feierten mehrere Bühnen ebenfalls Hölderlins Todestag, wobei jedoch auf andere Fassungen zurückgegriffen wurde; neben den bereits erwähnten Inszenierungen von Smolnys Version sei an diejenigen von Curt Herwig in Bonn (24. Oktober), von Wilhelm Michel Mund in Gießen (14. Dezember) und von Peter Esser in Düsseldorf (18. Dezember) erinnert (alle in der Textfassung von Scholz), oder an die Dresdner Inszenierung von Wilhelm Michels Bearbeitung unter der Regie von Paul Hoffmann (9. September).147 Andere bereits erfolgreiche Inszenierungen wurden anlässlich des Ju-

|| 145 Positiv lautet etwa bereits Kindermanns Urteil, denn Seidler habe „alle Fassungen in breitestem Maße und voll Ehrfurcht berücksichtigt und im Gegensatz zu Scholz die Idee der Wiederkehr [...] in die Mitte [ge]rückt“ (1943, 41); Rüppel hingegen bewertet gerade die exzessive Textgebundenheit als Negativum aus der Perspektive der Bühnenwirkung („immer wieder mangelt die Berücksichtigung des Theaters“, 1954, 109). Ennen betont, die Fassung Seidlers habe ihre „Bühnentauglichkeit erst unter Beweis stellen“ müssen (2008, 100). Laut vorliegender Quellen hat allerdings Riedy in seiner Stuttgarter Inszenierung die fast vollständig erfolgte Einarbeitung aller Fassungen in eine Bühnenversion, die Seidler aus Pigenots Ausgabe erstellte, durch manche Striche zurückgenommen. 146 Am Tag danach, dem eigentlichen Todestag Hölderlins, wurde im Rahmen weiterer feierlicher Akte die Hölderlin-Gesellschaft gegründet. Am 6. Juni, einem Sonntag, hatten bereits Hölderlin-Veranstaltungen im Württembergischen Staatstheater unter der Ägide der NSDAP stattgefunden, abends hatte Riedys Inszenierung ihre Premiere erlebt. Am 7. hingegen folgte den nachmittäglichen Reden und Vorträgen eine Abendfeier mit Hölderlin-Vertonungen und Rezitationen. Dazu vgl. die berichtenden Passagen in Iduna (= Hölderlin-Jahrbuch 1, 1944) 12–16; 20; ebendort sind auch Kluckhohns Gedenkrede (Hölderlin im Bilde der Nachwelt), Schumanns Ansprache und die beiden Vorträge von Friedrich Beißner (Hölderlin und das Vaterland) und von Paul Böckmann (Hölderlins Naturglaube) abgedruckt. 147 Michels Empedokles-Bearbeitung wurde 1943 als unverkäufliches Bühnenmanuskript gedruckt und vertrieben, über mögliche Veränderungen gegenüber der durch Kriegsverlust bibliothekarisch

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biläums wiederaufgenommen: Die Nürnberger Aufführung unter der Regie Willi Hankes etwa, die Scholz’ Textfassung fast unverändert übernommen und mit der Musik von Christoph Willibald Gluck und dem Bühnenbild von Kurt Mayer-Pfalz am 17. März 1940 ihre Premiere gehabt hatte, wurde zwei Jahre später für eine Reprise neu einstudiert (die Rolle des Empedokles übernahm in beiden Aufführungen Karl Böhm). Ähnliches geschah mit der bedeutenden, in der Presse umjubelten Empedokles-Inszenierung von Günther Hadank am Berliner Deutschen Theater (10. Januar 1942), die ebendort nach anderthalb Jahr erneut zu sehen war.148 Diese Inszenierung, der den Quellen nach eine neue Bearbeitung desselben Hadank zugrunde lag,149 kann als ein weiteres Beispiel für die forcierte Instrumentalisierung Hölderlins betrachtet werden, auch gegen eventuellen Widerstand seitens

|| unauffindbaren Version 1926 ist nichts zu ermitteln. Verlautbarungen seitens Michels über eine erneut erfolgte Arbeit am Text sind mir nicht bekannt. 148 Von einer anscheinend erfolgreichen Empedokles-Inszenierung am 19. September 1943 in Münster, die auf der Bearbeitung des dortigen Spielleiters Walter Kordt fußte, zeugen einige Archivmaterialien (vgl. dazu auch Rüppel 1954, 131f.). Kordts Bearbeitung sollte aber erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Bühnenmanuskript (1946) und in einer Buchausgabe (1948) veröffentlicht werden, was zu interessanten Überlappungen zwischen verschiedenen Rezeptionsatmosphären führt; über weitere Inszenierungen nach 1945, als Kordt u.a. in Aachen und Koblenz als Regisseur aktiv war, konnte nichts ermittelt werden. Im Nachwort zur Buchausgabe kommen neben Angaben zu den Quellen der Bearbeitung (Pigenots Ausgabe, dabei vor allem die 1. und 3. Fassung des Trauerspiels benutzend) und kritischen Bemerkungen zu Scholz’ früherer Einrichtung einige Überlegungen Kordts zum Ausdruck, die von der damals sehr verbreiteten Tendenz zeugen, Hölderlins Trauerspiel mit Darstellungsformen wie „Weihespiel [...] Kultgesang und Kulttanz“ (1948, 94) zu vergleichen, ja überhaupt als „das erhabenste Weihespiel […], das unsere deutsche Dichtung kennt“, zu bezeichnen. Kordt, der auch Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als kongeniale Nachdichtungen und nicht einfach nur als Übertragungen zu würdigen weiß und im Allgemeinen eine Lektüre Hölderlins in der Nachfolge Nietzsche favorisiert, ist anscheinend sehr gut informiert und insgesamt auf der Höhe der seriösen Forschung seiner Zeit; gleichzeitig ist eine Tendenz zur Heroisierung der Empedokles-Figur und zur Instrumentalisierung Hölderlins im Sinne der um 1943 zirkulierenden Maximen zu verspüren, die in dem 1948 erschienenen Text nur zwischen den Zeilen zu lesen ist, denn eindeutige Termini und Bezüge sind zensiert. Darin steht Kordts Auseinandersetzung mit Hölderlin im Zeichen jener philologischen Nüchternheit bei gleichzeitiger ästhetisch-gedanklicher Kontinuität, die überhaupt die ersten Nachkriegsjahrzehnte der kritischen und produktiven Hölderlin-Rezeption des Empedokles kennzeichnet. Typologisch ist Kordts Empedokles-Bearbeitung als eine behutsame und Hölderlin-nahe zu bezeichnen, er selber kritisiert jene „bisherige[n] Bearbeiter [..., die] sich nur dadurch zu helfen gewußt [haben], daß sie weitgehend mit eigenem zugefügten Text zusammenzuflechten versuchten, was sich nicht ohne weiteres angleicht“, und folgt eher dem Vorbild Wilhelm Michels. Dadurch, fährt er fort, ist ihm „gelungen, ohne Hölderlin umdichten zu müssen, vorwiegend aus der ersten und dritten Fassung ein Drama zu erstellen, das in sich organisch abläuft, […] und doch nicht Unvereinbares gewaltsam zusammenklittert“ (Kordt 1948, 99f.). 149 Ennen (2008) 100 weist auf die Nähe zur Bühnenfassung Scholz’ hin, die bereits Rüppel vermerkt hatte, allerdings mit Bedenken über den zu Hadanks Zeit kaum mehr zu rechtfertigenden Rückgriff auf die alte und entstellende Edition Litzmanns (1954, 120). Die 1941 als Bühnenmanuskript gedruckte

278 | Ein Theaterjahrhundert der Akteure. Erstens aufgrund des Aufführungsortes – die Reichshauptstadt und Theatermetropole spielte bekanntlich eine politisch „exponierte Rolle“, unter anderem wegen des Konflikts zwischen dem Preußischen Ministerpräsidenten Herrmann Göring und dem Propagandaminister Joseph Goebbels; das Deutsche Theater, seit Max Reinhardts Weggang unter der Direktion von Heinz Hilpert, war Teil des genannten Konflikts wie auch das von Gustaf Gründgens geführte Staatstheater (Brauneck 1993– 2007, 4, 501f.). Die politisch besonders brisante Berliner Situation schuf paradoxerweise, für Hilpert und Gründgens, begrenzte Freiräume, die erst durch strittige Kompromisse bis hin zu riskanten Flirts mit den Machtinhabern möglich wurden.150 Für eine Empedokles-Inszenierung konnte allerdings damals von solch einem Freiraum gegenüber den Anforderungen des Regimes nicht die Rede sein. Hadank als Regisseur scheint zwar kaum Konzessionen an herrschende Diskurse gemacht zu haben, darin wohl vom Intendanten Hilpert unterstützt, und die Inszenierung wurde insgesamt laut verfügbarer Quellen ins Abstrakte gerückt, wobei sprachlich und gestisch eine stilisierte Ausdrucksweise vorgezogen wurde.151 Keine politische Redundanz also, wie bei Smolny und anderen zeitgenössischen Regisseuren, bei Beibehaltung allerdings des so gut wie obligaten feierlichen und monumentalen Stils. Dadurch wurde Der Tod des Empedokles der unmittelbaren Aktualisierung entzogen, aber auch – wie meist bei solchen Operationen der Fall ist – ins Unverbindliche entrückt. So war es die Kritik, der Freiräume eröffnet wurden: Sie übernahm nun selber die Aufgabe, zeitpolitische und ideologische Akzente zu setzen; stellvertretend dafür sei Kindermann zitiert, der mit „Hadanks Einrichtung und Regie alle Sünden des Jeßner-Berlin wieder gut [gemacht]“ sah und deren Aktualität „in Stunden der heldischen Kämpfe, der glückhaften Zuversicht und der bangen Sorge“ betonte (1943, 42). Noch stärker in den propagandistischen Diskurs verstrickt wurde eine hier an letzter Stelle zu besprechende Empedokles-Inszenierung der Kriegsjahre, für die der soeben erwähnte Heinz Hilpert152 Regie führte und die ebenfalls nach dem Willen ih-

|| „Bearbeitung“ Hadanks war lediglich Empedokles betitelt; sie wurde für Reprisen im Gedenkjahr wiederaufgenommen. Hadank, der als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Berliner Bühnen tätig war, wurde nach dem Krieg auch als Filmdarsteller bekannt. 150 Vgl. Brauneck (1993–2007) 4, 520ff. 151 Hinter Hans Jungbauer als Empedokles ragten „gänzlich neue, monumental stilisierte Bühnenbilder“ heraus (Ennen 2008, 100); im Mittelpunkt habe das Sprachliche gestanden, „das innere Leuchten der Sprache“ in Kindermanns Worten (1943, 42). Einhellig ist in den damaligen Reaktionen von einer künstlerisch vollendeten Aufführung die Rede, Bedenken hegt erst Rüppel (1954) 120, der die Regieentscheidungen als vom Text nicht gerechtfertigt ansieht. 152 Der 1890 geborene Hilpert hatte in den frühen 1920er Jahren auch bei Weichert in Frankfurt als Regisseur gewirkt, bevor er seine Berliner Zusammenarbeit mit Max Reinhardt begann; dementsprechend ist eine mehr oder weniger genaue Kenntnis von Weicherts wichtiger Empedokles-Inszenierung

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rer Akteure apolitisch inszeniert werden sollte. Sie kam in der zweiten Theatermetropole des deutschsprachigen Raums auf die Bühne, am Wiener Theater in der Josefstadt. Nach dem Anschluss im März 1938 stand in Wien das Theaterwesen ebenfalls im Mittelpunkt politischer Aufmerksamkeit, seit 1940 unter der Aufsicht des Reichsstatthalters Baldur von Schirach – übrigens ein Hölderlin-Kenner.153 Auf sein Geheiß wurde Lothar Müthel mit der Intendanz der prestigeträchtigsten Sprechbühne Österreichs, des Burgtheaters, betraut – dort konnte Müthel auch eine resonanzreiche Hölderlin-Inszenierung realisieren (s.u.). Heinz Hilpert, der in Berlin neben dem Deutschen Theater auch die Volksbühne leitete, übernahm 1938 als drittes Amt die Intendanz des Theaters in der Josefstadt – zwar anders als die Burg eine private Bühne, die jedoch seit dem Anschluss unter öffentliche Trägerschaft gekommen war und dadurch ebenfalls unter dem wachsamen Blick des Reichstatthalters und der Seinen stand (Brauneck 1993–2007, 4, 601f.). Auf jener Bühne, die der inzwischen im Exil dahinsiechende Max Reinhardt 1924 nach der Renovierung eröffnet hatte, wurde am 7. Juni 1943 Hilperts Bearbeitung von Hölderlins Tod des Empedokles uraufgeführt. Das Bühnenbild stammte von Caspar Neher,154 die Musik von Ludwig Zenk. Die Inszenierung gilt laut Rüppel „als die bedeutendste Leistung des Jubiläumsjahres 1943“ (1954, 130); dieses mit Blick auf die Textbearbeitung und auf die künstlerische Leistung geäußerte Urteil155 übernimmt

|| von 1920 anzunehmen. Für die Nachkriegszeit, als er u.a. den Intendantenposten am Göttinger Deutschen Theater wahrnahm und Gastinszenierung an wichtigen Bühnen gab, ist eine erneute direkte Auseinandersetzung Hilperts mit Hölderlin nicht zu verzeichnen. 153 Baldur von Schirach, der 1931 die Tochter von Hitlers Leibfotografen Hoffmann geheiratet hatte, gehörte zum engsten Kreis um den Führer. Zuerst Reichsjugendführer, wurde er 1941 zum Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien. Parallel zur politischen Karriere wurde er als Lyriker bekannt: Er präsentierte sich als Hölderlin-Nachfolger, ja -Überbieter und als solcher wurde er auch gehuldigt (vgl. Albert 1994, 237; Albert 2002b, 446). Dadurch wurde er bald zum negativen Symbol der HölderlinInstrumentalisierung: „Hörst du Hölderlin noch?“, heißt es etwa bereits 1947 eindringlich in Wolfgangs Borcherts postum erschienenem Essay Das ist unser Manifest, „Kennst du ihn wieder, blutberauscht, kostümiert und Arm in Arm mit Baldur von Schirach?“ (Borchert 1991, 311). 154 Zu Neher und der Theaterrezeption Hölderlins der 1940er Jahre vgl. auch 3.2.1. und 3.2.2. Die Bühnengestaltung für Hilperts Empedokles kann anhand der Quellen als „eine der wenigen für Neher befriedigenden Arbeiten während des Kriegs“ bezeichnet werden. Die „vorhanglose Bühne“ – eine Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Brecht? – und „ein einfacher, strenger, kompakter Raum aus Marmor“ sind die markantesten Elemente des Bühnenbilds (Greisenegger-Georgila/Jans 1995, 55). Neher, ein Jahr vor Brecht in Augsburg geboren, war mit ihm seit der Schulzeit befreundet; nach dem künstlerischen Studium arbeitete er als Bühnenbilder (bzw. ‚Bühnenbauer‘ in brechtschem Sinne) zwischen Berlin, München und anderen Städten, darunter auch für Brecht-Inszenierungen, denkwürdig etwa für die Dreigroschenoper; seit den 1930ern ist eine wachsende Beteiligung an Oper-Aufführungen und, im Sprech- wie im Musiktheater, an Inszenierungen antiker oder in der Antike spielender Werke zu verzeichnen, für deren Szenerie Nehers Stil sich als kongenial erwies. 155 Hilperts habe für seine behutsame Bearbeitung die erste Fassung herangezogen, insgesamt sei Empedokles als Protagonist in den Mittelpunkt gerückt worden, die schauspielerische Leistung sei

280 | Ein Theaterjahrhundert Ennen fast wörtlich, zentral erscheint beiden die „religiöse“ Dimension als semantisches Hauptmerkmal der Inszenierung, die keiner politischen Aktualisierung entgegengearbeitet habe (vgl. Ennen 2008, 100f.). Dass Kindermann Hilperts Inszenierung zwar als „besonders denkwürdig“ bezeichnet, jedoch nicht sonderlich erörtert und zwischen den Zeilen als zu zurückhaltend bezeichnet,156 könnte ex negativo jener Wiener Inszenierung tatsächlich tagespolitische Abstinenz attestieren. Walter Boris Fischer geht in einer viel späteren Erinnerung an jene „auf jeden theatralischen Effekt verzichtende Empedokles-Inszenierung“ so weit, sie sogar als „eine Aufführung von brennender Aktualität“ zu bezeichnen – dabei meint er jedoch gar nicht die bisher erörterte Aktualität von Hölderlin-Aufführungen in den Kriegsjahren, sondern die politische Brisanz der Empedokles-Inszenierung Hilperts als verschlüsselte Parabel über die Dämonie der Macht, als Mahnung und Prophetie zugleich, ja fast als Geste inneren Widerstands: „Denn wer hätte damals“, fährt Fischer fort, „die Parallelen zwischen dem durch die eigene Hybris den Göttern entrückten Naturphilosophen Empedokles und den Geschehnissen der Zeit übersehen können?“.157 Wäre es auch tatsächlich möglich gewesen, einen Empedokles 1943 zu einem szenischen j’accuse an den sich als Übermenschen wähnenden Machthabern umzugestalten, wird gerade durch Fischers naive Frage der Grund offensichtlich, warum die Wiener Inszenierung keineswegs in die Reihe der Inszenierungen zu stellen ist, die unterm Hakenkreuz das dichterische Wort und die künstlerische Darbietung erfolgreich als Mittel der Gewissenaufrüttlung nutzten. Denn angesichts des hier entworfenen Panoramas und im Rahmen der offiziellen Hölderlin-Rezeption jener Monate um das Jubiläum ist vielmehr umgekehrt zu fragen: Wer hätte es geschafft, im Nebel des propagandistischen Hölderlin-Weihrauchs die angeblichen Parallelen zwischen der Vermessenheit des Philosophen und den „Geschehnissen der Zeit“ nicht zu übersehen? Wohl die wenigsten im Publikum. Eine nachträgliche Konstruktion von Freiräumen im Rahmen der verbreiteten Inanspruchnahme des Dichters und seiner Werke für politische Zwecke sollte mit Vorsicht erfolgen und den Rezeptionskontext berücksichtigen, in dem die EmpedoklesInszenierungen zwischen 1938 und 1944 stattfanden; die unleugbaren und gewichtigen Unterschiede zwischen den propagandistischen Operationen eines Smolny und den ehrenvollen Versuchen eines Hadank oder Hilpert sind allerdings nicht zu übersehen. Gerade darin ist die Gewalt zu erkennen, mit der der politische Missbrauch organisiert wurde, so dass letzten Endes andere Stimmen vom offiziellen Hölderlin|| insgesamt im Mittelpunkt gewesen, wozu das sehr nüchterne Bühnenbild Nehers verholfen habe. Darin sind Ähnlichkeiten mit Hadanks ebenfalls die Rezitation und das Sprachliche hervorhebender Berliner Regie zu erkennen, die unter Hilperts Intendanz stattfand. 156 So könnte man im Kontext die Ausdrücke „straffend“, „zuchtvoll“, „asketisch“ lesen (Kindermann 1943, 42). 157 Zitiert wird Fischers Rückblick in der Neuen Zürcher Zeitung (15. Juni 1969) aus der im HölderlinArchiv aufbewahrten Kopie.

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Raunen übertönt wurden. Dass Hölderlin auch auf dem Theater, geradezu am stärksten im vom Regime so intensiv instrumentalisierten Theater, zum Sinnstifter des Untergangs verfälscht wurde, ist eine bittere Pille, aber kein unerklärliches Phänomen oder gar eine auf einzelne eklatante und meist grobe Entstellungen zu beschränkende Erscheinung. Vielmehr handelte es sich um eine geschickt orchestrierte Manipulation, bei der einige seit dem Ende des 19. Jahrhunderts präsenten, im 20. Jahrhundert in wichtigen Sparten der Hölderlin-Rezeption virulent wirkenden Dichter-Bilder und Empedokles-Lektüren wiederaufgenommen und opportunistisch verzerrt wurden; politisch enthaltsame sowie ins Abstrakte, Religiöse oder Unverbindliche gerückte Inszenierungen blieben harmlos und wurden sowieso auf Rezeptionsebene in den propagandistischen Rummel hinein gerissen; explizitere Gegenbilder waren im offiziellen Theaterbetrieb des dritten Reiches schlicht nicht möglich. In manchem ähnlich verlief in den Kriegsjahren die Theaterrezeption von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen, die aber thematisch weniger für eine theatralische Inanspruchnahme im Zeichen von Heroismus und Opfer geeignet waren und dementsprechend weniger intensiv im Mittelpunkt der Hölderlin-Instrumentalisierung im NS-Staat standen – einerseits der Grund für die geringere Zahl an Aufführungen in jenen Jahren, andererseits die Ursache für die teilweise lockerere Anbindung der Aufführungen von Ödipus und Antigone an die offizielle Ideologie im Vergleich zu den bisher erörterten Empedokles-Inszenierungen. Davon soll im Folgenden die Rede sein; davor muss noch kurz ein Blick auf eine weitere Modalität der Empedokles-Rezeption in den frühen 1940er Jahren geworfen werden, die einerseits an frühere, meist kultur- oder nationalkonservative Interpretationen von Hölderlins Trauerspiel anknüpft, andererseits eine ideologische Radikalisierung bzw. Wendung aufweist. Dabei handelt es sich um literarische Versuche der ‚Vervollständigung‘ von Hölderlins fragmentarischem Trauerspiel. Die Vorstellung einer Komplettierung ist zwar bereits in so gut wie allen bisher erörterten Bühnenbearbeitungen präsent, von Scholz über Michel bis auf Smolny usw., und zwar in dem Sinne, dass der jeweilige Bearbeiter die ihm vorliegenden Texte mit Blick auf eine vermeintliche Einheit bzw. einheitliche Struktur neuarrangiert – dadurch erklärt sich etwa die Tendenz, Teile aus verschiedenen Fassungen zusammenzubringen oder auch nur durch Umstellungen von Partien oder Überbrückungsversen der dramaturgischen Kohärenz (etwa einem zusammenhängenden Handlungsablauf) zu dienen. Bei den eigenständigen dramatischen Versuchen kommt allerdings die Absicht hinzu, meist auf der Basis von Hölderlins Skizzen und mit einer variablen Anzahl an Übernahmen von HölderlinPassagen eine neue Empedokles-Tragödie zu schreiben. Die Grenze zwischen Bearbeitung bzw. Einrichtung einerseits und ‚neuem‘ Drama andererseits ist fließend. Zwischen der wenig eingreifenden Bühnenbearbeitung eines Wilhelm Michel auf der einen und dem lediglich mit Hölderlin-Reminiszenzen gespickten originellen Empedokles-Drama eines Rudolf Pannwitz auf der anderen Seite sind mittlere Formen der intertextuellen Transformation zu verorten. Ein Beispiel dafür sind etwa die freiere

282 | Ein Theaterjahrhundert Bearbeitung eines Scholz sowie weitere Bühnenadaptionen,158 oder die nun zu besprechende Empedokles-Tragödie von Wilhelm Adt, die sich gegenüber Pannwitz’ Emanzipation vom Prätext als eine bearbeitende Fortsetzung der Vorlage ausweist.159 Adts 1942 erschienene Empedokles-‚Ergänzung‘, die hier als aussagekräftiges Beispiel angeführt wird,160 hat bereits Rüppel schlicht eine nicht als Bühnenbearbeitung zu betrachtende Operation genannt. Tatsächlich hat Adt erstens keinen mit Scholz, Michel, Smolny oder anderen vergleichbaren Versuch gemacht, Hölderlins Trauerspiel mit Blick auf eine Inszenierung zu überarbeiten (also keine oder wenigstens keine direkte Bühnenbearbeitung). Zweitens ist sein Umgang mit Hölderlins Texten ein anderer, er ist komplexer (keine oder keine pure Bühnenbearbeitung). Ein bloßer Blick auf die paratextuellen Angaben von Adts Publikation legt nahe, dass diese mit literarischem Anspruch verfasste Tragödie die Erfordernisse einer Bearbeitung mit denjenigen der Fortsetzung verbinden wollte, aber auch, dass solch eine dem Autor vage vorschwebende Intention nicht schlüssig formuliert war – der heute vergessene Schriftsteller war dem Ganzen nicht gewachsen.161

|| 158 Hier sei als Beispiel diejenige von Eberhard Gieseler genannt, die 1944 als Manuskript vervielfältigt wurde. Auf dieser Bearbeitung, die damalige Rezensionen wegen der Annäherung von Hölderlins Empedokles an ein Weihespiel lobten, basierte die Heilbronner Inszenierung vom 2. April 1944 (Stadttheater, Regie vermutlich desselben Gieselers, Musik von Wilhelm Petroff). Tatsächlich zeugt der Untertitel selbst von diesem ins Sakrale tendierenden Transformationsmodus, der allerdings erst in der Inszenierung zu voller Geltung und Wirkung kommen kann: Dort ist nämlich von einer zweiaktigen Bearbeitung der drei (!) Fragmente „als Bühnenweihspiel“ die Rede (Gieseler 1944). 159 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollten ähnliche Erscheinungen auch in der Rezeption der Sophokles-Übersetzungen auftreten, während bis zu den in diesem Kapitel noch zu behandelnden Fällen lediglich verschiedene Grade der eher behutsamen Bühnenbearbeitung zu verzeichnen sind. Als aus dem Rahmen fallendes Beispiel wäre Hasenclevers Antigone zu nennen, deren Relation zu Hölderlin allerdings als eine nicht intertextuelle erörtert worden ist. 160 Ein zweites Beispiel ist Paul Michaelis’ Empedokles und Manes. Ein dramatisches Gedicht (1943, ED 1946). Dieser Kriegs-Empedokles ist Rüppels Rekonstruktion entgangen und findet auch in späteren Studien keine Berücksichtigung. Der Autor selbst datiert und verortet die Entstehung seines Einakters in „Weisencek, den 25.–27. XI. 1943“ (Michaelis 1946, 3) und bestimmt ihn nachträglich als „Versuch, an den II. Akt, 4. Auftritt [...] von Friedrich Hölderlins ‚Der Tod des Empedokles‘ anzuknüpfen und dieses Fragment in geistgemäßer Form abzurunden. Daß es nur ein Versuch sein kann“, fährt er fort, „weiß ich sehr wohl und möchte – in tiefer Ehrfurcht vor dem Genius des großen Dichters – es ausdrücklich betonen“. Am Ende des Stücks stürzt sich Empedokles in den Krater hinein. Aus einem Vergleich mit Adts Versuch geht hervor, dass beiden Empedokles-‚Abrundungen‘ (Michaelis) bzw. ‚Vollendungen‘ (Adt) die Vorstellung gemeinsam ist, Hölderlins ehrfürchtig angebetetes Drama oder Teile davon nachahmend (und der Unmöglichkeit der Nachahmung des ebenso ehrfürchtig angebeteten Dichters bewusst) fortzusetzen: Faszination treibt zu epigonaler Imitation. Adts ideologische Anlage liegt bei Michaelis, der sein Buch „unter der Zulassung Nr. US-W-1044 der Nachrichtenkontrolle der Militär-Regierung“ kurz nach dem Krieg veröffentlichen konnte, nicht vor. 161 Wilhelm Adt, der in den hier zur Diskussion stehenden Jahren weitere Stücke veröffentlichte, wird höchstens noch als Autor einer Studie zum Verhältnis Stefan Georges und seines Kreises zu Hölderlin in der Sekundärliteratur erwähnt.

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In seinem Buch formuliert Adt seine Operation gleich zweimal, einmal auf dem Frontispiz und einmal auf dem Einband. Sowohl das, was dabei gleichbleibt, als auch, was anders ausgedrückt ist, erscheint von Bedeutung. Als Autor ist hier und dort Friedrich Hölderlin angegeben. Dabei handle es sich, wie der Frontispiz-Untertitel besagt, um „Ein Fragment in zwei Akten“ – Adt beruft sich auf die heute als „erste“ bezeichnete Fassung. Der andere Untertitel, der dann im Buch selbst an gebotener Stelle wiederkehrt, lautet hingegen: „Ein dramatischer Hymnus“, womit weniger auf die Bruchstückhaftigkeit und die dramaturgische Struktur hingewiesen, als die lyrische Qualität betont wird.162 Schließlich ist auch der Anteil Adts jeweils anders gewichtet: Auf dem Einband erscheint er als derjenige, der den Empedokles „Nach Hölderlins hinterlassenem Plan vollendet“ hat, dem anderen Titel zufolge hat er das Fragment „ergänzt und nach dem Frankfurter Plan zu Ende geführt“. Gleich bleibt also der Hinweis auf die Notizen Hölderlins zur Struktur, die Adt für seine ‚Vollendung‘ bzw. sein ‚Zu-Ende-Führen‘ benutzt hat; die zweite Formulierung, die auf den Untertitel „Fragment in zwei Akten“ folgt, weist präziser darauf hin, dass auch der Hölderlin-Teil im engeren Sinn transformiert worden ist, während die Rede von einer ‚Vollendung‘ (des „dramatische[n] Hymnus“!) anspruchsvoller und auch nebulöser erscheint. Problematisch und aufschlussreich zugleich erscheinen diese inkohärenten paratextuellen Angaben, wenn man genauer in Adts Buch schaut. Dass er etwa darauf beharrt, Hölderlin als einzige Autorinstanz für einen Text auszugeben, der quantitativ gesehen mindestens zu gleichen Teilen von ihm selbst stammt (drei von fünf Akten, plus die ‚Ergänzungen‘ in den beiden ersten und die gravierende Änderung des Titels), kann unterschiedlich bewertet werden. Der Autor Hölderlin ist selbstverständlich in einem gewissen Sinn auch eine Autorität, zumal in jenen Jahren, sowie ein Anziehungspunkt für Kritik und Leser. Durch diese Entscheidung konnte Adt vielleicht auf mehr Resonanz für seine Publikation hoffen – oder sein Verleger, dessen Intervention bei einem derart auffallenden Unterschied zwischen Einband und Frontispiz naheliegt. Neben diesen ‚äußeren‘ Gründen kann man auch andere, ‚interne‘ annehmen. In den Text selbst fügt Adt nach Ende des zweiten Aktes die ausdrückliche Angabe: „Hier schließt das Fragment ‚Der Tod des Empedokles‘ von Friedrich Hölderlin“ (Adt 1942, 57). Darauf folgen die drei neuen Akte, mit den jeweiligen Ortsangaben „Wilder Garten. Es ist Nacht“ (3. Akt, 58–79), „Straße in Agrigent. Bürger“ (4. Akt, 80–92) und „Am Ätna“ (5. Akt, 92–100). Die strukturelle Entsprechung mit dem Frankfurter Plan kann der Leser von Adts Buch auch selber überprüfen, denn im Vorwort werden die Notizen Hölderlins zu den drei letzten Akten wiedergegeben. Dabei merkt man, dass Adt makrostrukturell dem Frankfurter Plan gefolgt ist, während die einzelnen Szenen über die Angaben Hölderlins hinausgehen.

|| 162 Dies scheint allerdings im Widerspruch mit Adts Ausführungen im Vorwort zu stehen, wo er entschieden gegen das kritische Vorurteil des ‚lyrischen Dramas‘ wettert (1942, 5).

284 | Ein Theaterjahrhundert Sowohl die Entscheidung, Hölderlin als einzigen Autor und sich selbst als ‚Vollender‘ bzw. ‚Ergänzer‘ und ‚Zu-Ende-Führer‘ auszugeben, als auch die Änderung des Titels kann man auf Adts enge Anknüpfung an den Frankfurter Plan zurückführen. Denn den schlicht Empedokles betitelten Plan nimmt Adt als eine Art Testament Hölderlins, das er selber vollstreckt. Dieser Absicht gibt Adt in seinem Vorwort Ausdruck, wenn er die eigene Arbeit am Text nicht als „Rekonstruktionsversuch“ gelten lassen will, sondern als „eine ehrfürchtige, aus eigenem unbewußtem Drang kommende Nachdichtung“ (12). Der pathetische Hinweis auf den Respekt vor dem Dichter erklärt die Position Adts, der sich eben zu einer Art Diener stilisiert, der Vorgeformtes lediglich ausführt und sich dabei zugleich auf eine Art Seelenverwandtschaft mit beiden hehren Vorgänger Empedokles und Hölderlin beruft, denn das hier vage angesprochene innere Bedürfnis, das ihn zur „Nachdichtung“ getrieben habe, wird kurz darauf als eine „jäh[e] Ergriffenheit vom Stoff“, die mit „dem eigenen Erlebnis einsamer Jahre“ zusammenhänge, präzisiert (ebd.). Nicht zum ersten (und nicht zum letzten) Mal in der Rekonstruktion der Empedokles-Rezeption wird man hier mit einem Identifikationsschema konfrontiert, bei dem der jeweilige moderne Autor die eigene Befindlichkeit im Schicksal des antiken Philosophen und/oder des schwäbischen Dichters widergespiegelt sieht. Dabei werden Dramenstoff und thematische Konstellationen, biographisch-historische und aktuelle Aspekte (hier: Einsamkeit) miteinander vermischt und gleichzeitig wird eine Art epigonale Differenz zu den großen Vorgängern bewahrt – Bescheidenheit vor dem unerreichbaren Denkerisch-Dichterischen, aber auch Schutz vor der gefährlichen Seite des Auserwähltseins, dem Vulkantod bzw. dem Wahnsinn im Turm. Die Wortwahl „Nachdichtung“, die Adt trifft, kann man ebenso mit seiner epigonalen Position in Verbindung bringen. Der Begriff weist hier nicht auf eine freie bzw. bearbeitende Übersetzung hin, sondern wohl auf das Weiterdichten nach Hölderlins Plan (und temporal nach ihm); dies stellt eine weitere terminologische Abweichung von den in den Titeln erwähnten Praktiken des Ergänzens, Zu-Ende-Führens, Vollendens dar: Die terminologische Unbestimmtheit hält an. Wenn Adt im Vorwort dann allerdings konkret die eigene Vorgehensweise beschreibt, ist er schlichter und genauer: Dort wird etwa auf die bereits erwähnte Strategie eingegangen, die beiden Akte von Hölderlins ‚erster‘ Fassung als die ersten Akte der ‚Nachdichtung‘ zu übernehmen, da es ihm nicht darum gegangen sei, „durch Einbeziehung von Szenen aus den beiden weiteren bruchstückhaften Fassungen in diese erste, durch Austausch und Umstellung an der Dichtung das Mindeste zu verändern, sondern nur die Bruchstellen innerhalb der ersten Fassung behutsam und in kurzen Zeilen zu überbrücken“ (11f.). Unberücksichtigt bleiben weitere formelle Fragen – eklatant ist etwa das Schweigen Adts darüber, dass er den Torso Hölderlins dadurch als vollendet gelten lässt, dass er eigenhändig einen recht umfangreichen, auf Notizen des Dichters fußenden Tragödienteil anhängt. Dies ist ein nicht nur aus philologischer Perspektive – davon kann ein produktiv arbeitender Dichter absehen –, sondern auch in stilistischer und

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struktureller Hinsicht bedenklicher Umstand, der die Kohäsion und Ausdruckskraft des Endergebnisses stark beeinträchtigt. Am einzigen Punkt, wo die Frage explizit aufgeworfen wird oder sich von selbst stellt – im Dramentext, wo es vor Beginn des dritten Aktes heißt: „Hier schließt das Fragment ‚Der Tod des Empedokles‘ von Friedrich Hölderlin“ –, wird sie ins Affirmative gewendet, indem der emphatische Verweis wie eine Gedenkminute einen pathetischen Blick auf die bedauerliche Bruchstückhaftigkeit der Vorlage wirft, um dann das Spiel weiter zu treiben als ehrfurchtsvolle Wiedergewinnung und Vervollständigung für die Gegenwart. Aufschlussreicher ist Adt, wenn er nicht die eigene Operation zurückhaltend beschreibt, sondern weitschweifig auf Hölderlins Vorlage als „Tragödie der schöpferischen Einsamkeit“ (so ist sein Vorwort betitelt) zu sprechen kommt. Sind eigene Aspekte seiner Empedokles-Fortsetzung mit viel früheren Versuchen der Art zu vergleichen (Faszination und Identifikation, Epigonentum, Vollendungsberufung und Unzulänglichkeit), ist seine Interpretation voll auf der Höhe seiner Zeit: Von ihr steigt derselbe Weihrauch, der für Hölderlin in den vielen politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Gedenkakten um 1943 verbrannt wird. Das Vorwort vom Januar 1942 scheint sogar manches vorwegzunehmen: So klingt bereits die nach-Stalingrad-Rhetorik durch, wenn Adt den Empedokles als die Hölderlin-Dichtung bezeichnet, die am meisten „von dem schmerzlichen, heroischen Wissen durchglüht“ ist, „daß diese Sendung in seinem eigenen Volke nimmer erfüllt werden kann ohne sieghafte Untergänge“ (8).163 Der Freitod des Empedokles wird im Zeichen kriegerischen Opfers gelesen, indem er zur zeitweiligen Niederlage auf dem sicheren Wege zum Sieg instrumentalisiert wird. Wiederkehrende Stichworte in Ads Interpretation sind ohnehin unverkennbare Begriffe wie „Opfer“, „Gemeinschaft“, „Führer„, „Sendung“ usw.164 Ähnlich wie bei Smolny, von dessen Interpretation Adt im Großen und Ganzen abhängig erscheint, dient hier ein eigenwillig gedeuteter Nietzsche (vor allem der Autor des Zarathustra, der nicht umsonst als Vergleichsgröße erwähnt wird) zum Schlüssel für die Interpretation der „ganz echolos werdenden, in lächelnder Kraft und Erleuchtung sich entfernenden und ins große Allgemeine sich auflösenden Einsamkeit“ der Empedokles-Figur und seines „großen Einzelschicksal[s]“, das durch seine Aufopferung zum „ewige[n], über der werdenden Gemeinschaft leuchtende[n] Bildnis“ werde (7). Die Einzelpersönlichkeit wird also im Sinne der Übermensch-Vulgata der Zeit von der Menge abgehoben und ihr zugleich als Vorbild zum Opfer gebracht. || 163 In einigen bibliographischen Quellen wird eine 1937 im Selbstverlag erfolgte Edition von Adts Empedokles-Transformation verzeichnet, die jedoch nicht gesichtet werden konnte; das Vorwort ist allerdings im Druck von 1942 auf den „Januar 1942“ datiert und gehört dementsprechend in die Kriegsjahre. 164 Zu vergleichen mit den bei Kurz (1994) 112f. aufgelisteten Schlüsselvokabeln der „Hölderlin-Annexion“ seitens des Nationalsozialismus: Führer, heldisch, Sendung Deutschlands, Schicksal, Mythisches, Auferstehung, stählern, Härte, Kämpferisches, Schlacht, letzte Opferbereitschaft, Entscheidung, volkshafte Gemeinschaft, Feuer, Heiliges, Reines, deutsche Jugend.

286 | Ein Theaterjahrhundert Augenscheinlich ist Adt zugleich ein Epigone der konservativ-irrationalistischen Hölderlin-Rezeption des frühen 20. Jahrhunderts, die von nunmehr unerwünschten ausdrücklichen Bezügen zu den Georgeanern gereinigt wird, und williger Vollstrecker ideologischer Instrumentalisierung – eine durchaus zeittypische Erscheinung. Das berauschte Argumentieren Adts gegen hartnäckige Vorurteile über Hölderlins Drama – dass man es „für ein handlungsmäßig schwach bewegtes Gedankendrama, für eine Art sprachschönen Festspiels […] in den schlimmsten Fällen aber für einen in Stoffwahl und Ausführung mißlungenen Versuch des Lyrikers Hölderlin, die dramatische Domäne zu erobern“, hielt (5) – wie auch weitere Überlegungen zum Tod des Empedokles stehen also im Dienst einer politisch eindeutigen Inanspruchnahme im Zeichen nationalsozialistischer Ideologie: Adt geht in seinem diesbezüglichen Gerede so weit, in der Pausanias-Figur „ein Bildnis des ewigen deutschen Jünglingstums“, eine „alterslose Idealgestalt“, den „Träger des jugendlich brennenden Geistes und heldischer Gesinnungstreue“ (9), im ganzen Trauerspiel den „dichterische[n] Entwurf zum Bauwerk des Staates aus den Erdkräften […] ein realphilosophisches Staatsprojekt“ zu erblicken (10). Aufgrund der zitierten Worten würde man erwarten, dass Adt auch der eigenen Zusammenstellung von Hölderlin-Bearbeitung und -Fortsetzung Wirkungskraft zuwies und dementsprechend auch an eine Bühnenrealisierung dachte – die übrigens im damaligen Klima der Hölderlin-Rezeption durchaus denkbar gewesen wäre. Davon ist weder bei Adt noch in anderen Quellen die Rede; vielleicht hat auch die Kriegssituation dazu beigetragen, Adts Empedokles zur Wirkungslosigkeit zu verdammen. Angesichts dessen stilistischer und struktureller Schwächen und der krassen politischen Instrumentalisierung kein großer Verlust für die Nachwelt. 3.1.3.3 Kriegstragödien? Die Sophokles-Übersetzungen auf der Bühne 1940–1944 Noch länger als Der Tod des Empedokles mussten die Sophokles-Übersetzungen auf eine Wiederaufnahme an deutschen Bühnen warten, nachdem im Zuge der jeweiligen Uraufführungen eine begrenzte Wirkung in den frühen 1920er Jahren zu beobachten war. Das Jahr 1940 ist in dieser Hinsicht der Neubeginn der Rezeption von Hölderlins Sophokles-Projekt, bei dem einige Aspekte der früheren Bearbeitungen und Inszenierungen wieder zur Geltung kommen und gleichzeitig andere Akzente gesetzt werden – insgesamt überwiegen die Kontinuitäten. In jenem siebten Jahr der NS-Diktatur wurden bezeichnenderweise beide Bühnenfassungen Wilhelm Michels wiederaufgelegt, und zwar als unverkäufliche Manuskripte beim Leipziger Verlag Der junge Bühnenvertrieb – Ralf Steyer.165 Im selben Jahr ist neben dieser typischen

|| 165 Beide Drucke stellen wegen des Verlustes der Bühnenmanuskripte aus den 1920er Jahren die Basis für die Auseinandersetzung mit Michels Hölderlin-Bearbeitungen dar.

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Druckform für den Theaterbetrieb eine denkwürdige Inszenierung von Hölderlins Antigone-Übersetzung in der Bearbeitung Michels am Wiener Burgtheater zu verzeichnen, die im Folgenden als die erfolgreichste jener Jahre gesondert zu besprechen ist. Michels bewährte Fassung lag auch der zwei Jahre später erfolgten Leipziger Antigone-Inszenierung von Paul Smolny zugrunde – seiner dritten Hölderlin-Regie nach dem bereits erörterten Empedokles und dem noch zu erwähnenden Ödipus – und der darauffolgenden von Helmut Henrichs am Württembergischen Staatstheater Stuttgart (Januar 1944);166 möglicherweise war sie auch die Grundlage der wenig dokumentierten, fast gleichzeitigen Göttinger Inszenierung, während über die Textgrundlage der Antigone-Inszenierung Otto Liebschers in Memel (Klaipėda, März 1943) nichts ermittelt werden konnte.167 Eine andere Bearbeitung von Hölderlins Übersetzung lag schließlich der Frankfurter Antigone-Inszenierung unter der Regie Benno Hattesens zugrunde (26. April 1941, Schauspielhaus, Musik von Will Götze).168 Anders als in der Forschung behauptet,169 hat hier nämlich der Regisseur eine eigene Textfassung erstellt, die einigen Kritikern zufolge auf eine sprachliche Vereinfachung zielte: Hattesen habe nämlich „gekürzt, [...] manche dunkle Worte ersetzt“.170 Was den Ödipus angeht, kommt Michels Textbearbeitung erst Ende 1941 im Chemnitzer Opernhaus wieder auf die Bühne – Regie führte der dortige Intendant Hermann Schaffner –, um dann meines Wissens nicht mehr aufgeführt zu werden: Im Unterschied zur Antigone kam Michels Bearbeitung der sowieso seltener inszenierten Ödipus-Übersetzung weder in den Kriegs- noch in den Nachkriegsjahren zur Aufführung. Für seine bereits erwähnte Leipziger Inszenierung (5. April 1941) konnte der in der damaligen Theaterrezeption Hölderlins allgegenwärtige Smolny nämlich in

|| 166 Dort war Henrichs seit 1940 Oberspielleiter (und blieb es bis 1950), um dann im BRD-Theater der Nachkriegszeit wichtige Leitungsposten zu übernehmen: In Göttingen, Wuppertal und zuletzt in München (1958–1972), wo unter seiner Intendanz einige Hölderlin-Stücke inszeniert werden sollten. 167 Die Memeler Kulturwoche 1943, in deren Rahmen die Antigone-Inszenierung stattfand, war explizit „Formen und Stoffe[n] der Antike in Abwandlungen deutscher Dramatiker“ gewidmet: Bezeichnenderweise hielt man also Hölderlins Antigone für mehr als eine Übersetzung. 168 Bei Flashar (1991) 360; 402 wird der 18. April als Datum der Uraufführung angegeben. Der promovierte Germanist, Schauspieler und Regisseur Benno Hattesen (1906–1993) sollte in der Nachkriegszeit zwischen Bielefeld und Flensburg weiter im Theater wirken sowie als Film- und Fernsehschauspieler bekannt werden. Über seine Theaterkarriere in der NS-Zeit konnte wenig ermittelt werden, im Jahre 1941 war er Oberspielleiter in Chemnitz. 169 Vgl. Ennen (2008) 108. 170 So Max von Brück in der Frankfurter Zeitung (29. April 1941). Das positive Urteil über die Bearbeitung an sich und insgesamt über die Sorgfalt, die die Inszenierung auf das Akustische legte („denn bei den alten Tragikern kommt es mehr aufs Hören als aufs Schauen“), weicht dann kritischen Bemerkungen hinsichtlich weiterer Regieentscheidungen, die als zu modern abgelehnt werden (Kostüme, Sprechweise der Chorlieder). Das abschließende Wort von einer „Mischform aus Antike und Gegenwart“ ist keineswegs positiv gemeint.

288 | Ein Theaterjahrhundert Hans Schwarz einen neuen und seiner Weltanschauung noch geeigneteren Bearbeiter finden. Vom Schriftsteller und Übersetzer, der 1890 geboren wurde und damit Smolnys Generation angehörte, waren im nationalsozialistischen Deutschland neben seinem zuerst lyrischen, dann auch dramatischen Schaffen vor allem die Editionen der Werke Arthur Moeller van den Brucks bekannt; Schwarz leitete auch das Archiv des Ideologen der ‚Konservativen Revolution‘. Die Dokumente zur Leipziger Inszenierung ermöglichen kaum Schlüsse darüber, ob die Zusammenarbeit von Smolny und Schwarz der Ödipus-Tragödie tagespolitische oder sonstige propagandistische Akzente verliehen, was angesichts der beiden Persönlichkeiten denkbar wäre, aber anhand des Dramentextes nicht unbedingt einfach zu bewerkstelligen war, es sei denn, man hätte sich mit blassen Andeutungen an die Themenbereiche Kampf und Opfer zufrieden gegeben („heroisches Leben und Leiden, großes Pathos“); solche Anklänge waren in den deutschen Inszenierung der antiken Tragödie und anderer antikisierender Dramen in den Kriegsjahren allgemein verbreitet (Flashar 1990, 168f.). Vielmehr als von einer politischen Umdeutung sprechen die Quellen allerdings von Hans Schwarz’ sprachlicher Arbeit an Hölderlins Übersetzung, was uns einen interessanten Einblick in den Fortbestand einiger Grundelemente der Rezeption der SophoklesÜbersetzungen auch in Jahren gewährt, in denen das Theater im Umgang mit Hölderlin schwerpunktmäßig eher andere, ideologische Wege ging.

Abb. 5: König Oidipus (Leipzig 1941). Regie: P. Smolny. Bühnenbildentwurf von H. Helmdach

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Schwarz selber beschreibt in einem am Tag vor der Premiere veröffentlichten Artikel die eigene sprachliche Auseinandersetzung mit Hölderlins Vorlage mit Begriffen, welche uns aus früheren Versuchen bekannt sind und in Bälde bei viel geschickteren Hölderlin-Bearbeitern der Nachkriegszeit wieder anzutreffen sind; hier jedoch sind solche sonst Hölderlins sprachliche Leistung bewundernde Stellungnahmen ins Negative gewendet und – noch wichtiger – bewirken eine Abwendung von Hölderlins Übersetzung und keine nähere Auseinandersetzung. Schwarz habe „vor der Notwendigkeit“ gestanden, „entweder die Dunkelheiten des Hölderlin zu belassen, wie sie waren, und sie für poetisch zu erklären, oder sie zu beseitigen und durch eigene Arbeit zu ergänzen“. Er bemüht sich zwar dabei, Hölderlin vor allzu scharfer Kritik hinsichtlich seiner Übersetzungsleistung zu ‚verteidigen‘ – er habe kaum Hilfsmaterialien zur Verfügung gehabt usw. –; aber wegen der von Wien bis ins Sächsische vorgedrungenen Nachricht, bei der rezenten Antigone-Inszenierung Müthels sei manches kaum zu verstehen gewesen, habe er sich dazu entschlossen, relativ rücksichtslos mit der Vorlage zu umgehen und sehr stark einzugreifen. „Damit entstand nun aber“, gesteht Schwarz, „eine Bearbeitung, die die ursprüngliche Fassung Hölderlins verließ und sie dort nur bewahrte, wo sie wirklich schlechthin einmalig war“. War vorher nur von „Dunkelheit“ die Rede, kommt Schwarz nun auf „schief[e], ja unrichtig[e] Ausdrücke“ bei Hölderlin zu sprechen, die verbesserungsbedürftig gewesen seien – wohlgemerkt um der „Klarheit des Gedankens“ und der „Geschmeidigkeit des Verses“ willen. Insgesamt sei eine „Anpassung an unsere moderne Bühnensprache“ notwendig gewesen; schließlich sei „leider“ zu vermerken, es seien „nicht sehr viel Hölderlinsche Verse auf diese Weise übriggeblieben [...]. So ist im grunde eine neue Übersetzung entstanden“ (Schwarz 1941a). Trotz der lauthals verkündeten Hölderlin-Bewunderung bleibt also Schwarz bei seiner etwas altbackenen, aber durchaus zeittypischen und der ‚Reichsdramaturgie‘ überaus willkommenen Ästhetik, die vor einer allzu experimentellen Sprache Halt macht und den Weg von „Dunkelheit“ und „Unrichtigkeit“ zurück zur „Klarheit“ und „Geschmeidigkeit“ sucht. Der im Altgriechischen kundige Schwarz – gelernt hatte er es in seiner Geburtsstadt Berlin bei Wilamowitz-Moellendorff – vergleicht schulmäßig Hölderlins Übersetzung mit dem Original und streicht bzw. korrigiert so viel, dass nicht nur im Artikel von einer „im grunde [...] neue[n] Übersetzung“ die Rede ist,171 sondern auch im selben Jahr eine nun als von ihm selbst „übers. und bearb.“ Edition des König Ödipus ohne Nennung als Bühnenmanuskript erscheinen kann, die damit als eigenständige Arbeit ausgegeben wird.172 || 171 Im Programmheft der Inszenierung heißt es lediglich: „Die Fassung Hölderlins durchgesehen von Hans Schwarz“. 172 Schwarz (1941b). Ein Vermerk des Bearbeiters verweist auf den Leipziger Auftrag und erklärt mit Argumenten, die denjenigen im oben erörterten Artikel ähnlich sind, die Entscheidung, sich an die Übersetzung Hölderlins nur bedingt anzulehnen und lediglich die Passagen, „wo er für alle Späteren unerreichbar die Präzision des griechischen Urtextes wiedergibt“, zu übernehmen. Ein Blick in das

290 | Ein Theaterjahrhundert Mehr als die Edition an sich sind für unsere Belange die Begründungen von Interesse, die Schwarz dafür anführt. Denn spätestens seit Hellingrath, um nicht bis auf spätromantische Erscheinungen zurückzugehen, galt die Sprache von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen, gerade weil nicht geschmeidig und alltäglich, als Neuentdeckung für die Gegenwart und für das Gegenwartstheater. Die darauffolgenden Inszenierungen hatten zwar zu Bearbeitungen gegriffen, die in manchem Hölderlins Sprache milderten, jedoch im Großen und Ganzen ihre Radikalität beibehielten und für die Inszenierung verfügbar machen wollten; im Teil 3.1.1 wurden die bei solcher Text- und Theaterarbeit entstehenden Polarisierungen bereits erörtert sowie Michels Nähe zu Hellingraths Hölderlin-Bild und seine sehr behutsame Bearbeitung erwähnt. Beim gegensätzlich verfahrenden Schwarz hingegen, der m.W. als erster nach Michel eine Sophokles-Übersetzung Hölderlins für die Bühne bearbeitet, kommentiert und veröffentlicht hat,173 scheint die ‚Renaissance‘ des späten Hölderlin als kühner Lyriker und Übersetzer einer verblassten Bewunderung im Rahmen der Instrumentalisierung gewichen zu sein; die sprachliche Ebene war für die Ideologen keine Herausforderung mehr, sondern ein Problem. Schwarz’ radikal eingreifender Bearbeitungsmodus ist darüber hinaus nicht mit späteren Operationen eines Brechts oder Müllers zu vergleichen, die ebenfalls in Hölderlins Übersetzungstext eingreifen: Dort wird nämlich gerade die ‚Dunkelheit‘ und ‚Fehlerhaftigkeit‘ umgekehrt behandelt; sie wird zum Impuls für die Erarbeitung einer neuen ‚Bühnensprache‘ und nicht als Hindernis empfunden, das es zugunsten eines traditionelleren Duktus zu beseitigen gälte (vgl. 3.2.1, 3.2.3). Bei der damaligen Kritik fand Schwarz anscheinend große Zustimmung, auch wenn nicht allen klar gewesen zu sein scheint, inwieweit der gesalbte „Dichter unserer Zeit, der sich eingehend mit dem Drama der Griechen befaßte und selbst im ‚Pentheus‘ (1932) eine großangelegte Tragödie in altgriechischem Stil geschrieben hat“, Hölderlin bearbeitet hatte. Von einer „Pietät gegen Sophokles wie gegen

|| Bühnenmanuskript bestätigt Schwarz’ Behauptungen in dem Sinne, dass ein punktueller Vergleich mit Hölderlins Übersetzung seine Text-Strategie aufscheinen lässt: eigentlich sind ganz wenige längere Partien fast wörtlich übernommen (etwa die erste Strophe des zweiten Chorliedes, StA 5, 143, bei Schwarz 22), ansonsten werden einzelne Wendungen in einen vereinfachten Kontext eingearbeitet. Vgl. etwa die Anfangspartie der zweiten Szene des fünften Aktes, wo hölderlinsche Ausdrücke entweder wörtlich, wie „Nachtwolke mein“, oder bearbeitet, wie „Was sollt’ ich sehen/ Dem sehend nichts zu schauen süß war“ übernommen werden (StA 5, 184f.; bei Schwarz „Was sollte ich noch sehen / Dem sehend / Nichts mehr süß zu sehen war!“, 54–56); oft ist der Duktus Hölderlins in einem einzigen Versepaar teilweise zitiert, teilweise tatsächlich ‚geschmeidiger‘ gemacht: „Ein Wunder ist’s in solchem Unglück nicht, / Daß weil du doppelt leidest, doppelt jammerst“ (ebd., vgl. Hölderlin, StA 5, 184 „Ein Wunder ists in solchem Unglük nicht,/ Daß zweifach du aufjammerst, zweifach Übel trägst!“). Viele andere Passagen entstehen aus Schwarz’ Übersetzung des Sophokles. 173 Hattesens oben erwähnte Bearbeitung blieb m.W. ungedruckt, Stellungnahmen dazu konnten nicht ermittelt werden.

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Hölderlin“ ist die Rede,174 was jedoch kaum etwas über Bewandtnis und Wirkung der Bearbeitung wie über den Stil der Inszenierung besagt. Wie das im Hölderlin-Archiv aufbewahrte Programmheft, in dem Passagen aus Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus und anderen Texte zur Tragödie aus dem 19. Jahrhundert abgedruckt sind, vermitteln die Quellen vor allem den Eindruck, die Zusammenarbeit von Smolny und Schwarz habe den Charakter einer Hölderlin-Hommage im Zeichen der zeittypischen Monumentalisierung besessen. Rezeptionsgeschichtlich interessant erscheint eher der erörterte Umgang mit Hölderlins Sprache, bei dem das Radikale und Sperrige zugunsten einer Vereinfachung im Dienste der Hölderlin-Instrumentalisierung marginalisiert wird.175 Künstlerisch auf höherem Niveau und sowohl in der zeitgenössischen als auch in der späteren Diskussion viel wirkungsvoller ist die Antigone-Inszenierung von Lothar Müthel, die im Herbst 1940 im Burgtheater ihre Premiere hatte,176 lange im Spielplan blieb und bis zur kriegsbedingten Theaterschließung mehrmals wiederaufgenommen wurde; eine Reprise fand bedeutungsschwanger am 7. Juni 1943 statt, am 100. Todestag Hölderlins, und war verbunden mit einer besonderen Ehrung der im Krieg verwundeten Soldaten. Am Burgtheater wurde die Bühnenfassung Wilhelm Michels übernommen, der schon um 1918 in Darmstadt mit dem fast zwanzig Jahren jüngeren Müthel in Kontakt getreten war – auf jene Begegnung datiert übrigens Müthels Hölderlin-Begeisterung177 – und bei der Wiener Produktion als eine Art Dramaturg mit von der Partie sein konnte. Seine Bearbeitung änderte er bei der Zusammenarbeit mit dem Regisseur nur geringfügig, sein neuer Aufsatz Der Hölderlinsche Sophokles wurde im Programmheft abgedruckt.178 Dieser und weitere Hinweise auf Kontinuität machen aus der Inszenierung Müthels von 1940 in vielem eine Nachfolgeerscheinung der Darmstädter Antigone von 1923, ohne dass dabei eine diminutio gemeint wäre. Flashar, auf dessen geschickter Charakterisierung der Wiener Antigone die neuere Forschung meist basiert, hat Müthels Regiekonzept mit guten Argumenten an die Vorgängerinszenierung von Michel und Keller herangerückt. Das mythische Geschehen sei dabei im Vergleich zu

|| 174 Die Zitate stammen aus Egbert Delpys Rezension in den Leipziger Neuesten Nachrichten (8. April 1941, Der deutsche „Oidipus“). Schwarz hatte damals tatsächlich einen gewissen Ruf als Autor von Antikendramen; in literatur- und theatergeschichtlichen Rekonstruktionen wird er darum und als Übersetzer der griechischen Tragiker erwähnt. 175 Vergleichbar wird damit Schwarz’ Operation mit Popularisierungsformen, wie sie Albert (1995) erörtert. 176 Die meisten Quellen geben den 1. Oktober, andere den 16. November 1940 als Uraufführungsdatum an. 177 Vgl. Lohse (2006) 175ff. 178 Der Aufsatz ist gleichzeitig in einer Zeitschrift erschienen (Michel 1940), im Interesse einer Strategie der Werbung für die Inszenierung und der Rezeptionssteuerung in der Presse.

292 | Ein Theaterjahrhundert zeitgenössischen deutschen, nicht auf Hölderlins Übersetzungen rekurrierenden Antigone-Inszenierungen179 „[n]och stärker in eine ferne Frühzeit“ gestellt worden (Flashar 1990, 172). Flashars Vermerk: „Durch Hölderlin war das Feierliche, das Sakrale vorgegeben“ (ebd.), ist erst durch die Rückbindung an die Darmstädter Operation zu verstehen, die solch eine Weihespiel-Lektüre zu voller Geltung gebracht hatte, denn an sich ist Hölderlins Antigone keineswegs nur in dieser Weise aufzufassen und darzustellen, die sich im frühen und mittleren 20. Jahrhundert in Forschung und Rezeption am stärksten behaupten konnte.180 Dem sakralen Grundgestus entsprechen die „feierlich-rhythmische[n]“ Bewegungen der Schauspieler, deren Bärte und Masken im abstrakten Silber, das monumentale Bühnenbild von Rochus Gliese, die archaisch anmutende, „knapp-untermalende“ Musik von Franz Salmhofer: „Alles wurde in mythische Ferne gerückt“ (ebd.). In Flashars Interpretation ist dieses „Verdrängen jegliches Gegenwartsbezugs“ eine ästhetische Rückbesinnung auf die frühere Arbeit Michels und allgemeiner auf den in den 1920er Jahren dominierenden Rezeptionsmodus von (Hölderlin und) Sophokles auf der Bühne, sprich die „Wendung in die Innerlichkeit und in das Sakrale“ (ebd.). Keine Rolle hätten dabei politische Rücksichten gespielt: Das Heraufbeschwören einer mythisch-archaischen Antike sei also bei Müthel/Michel kaum mit der ebenfalls von Flashar herausgearbeiteten mehrheitlichen Tendenz jener Jahre zu verbinden, einer Tendenz zur Neutralisierung „alle[r] politischen Bezüge“ und zur Verschiebung der „Problematik der griechischen Tragödie von einer jeweiligen Gegenwart in die Ferne des Mythos, in eine ‚andere Welt‘, in der ein ritualisiertes Spiel auf im Übrigen hohem künstlerischen Niveau inszeniert wurde, das als kulturelles Ereignis oder ‚Bildungserlebnis‘ unverbindlich blieb“ (164). Umgekehrt wird auch von der „Möglichkeit [...], durch die Hülle des Mythos || 179 Gemeint ist als Vergleichsgröße insbesondere die Berliner Antigone unter der Regie von Karl Heinz Stroux (3. September 1940, Staatstheater, Bühnenbild von Traugott Müller), der Woerners Übersetzung zugrunde lag. Die Antigone-Inszenierungen eröffneten 1940 die jeweiligen Saisons des Staats- und des Burgtheaters (Rühle 2007, 901). 180 Hasenclevers und Brechts Antigone mögen als chronologisch extreme Beispiele dafür gelten. Flashar meint hier vor allem die Haupttendenz in der historischen Forschung (in der Altertumswissenschaft) und der Darstellung (auf der Bühne) jener Jahrzehnte um den Krieg herum. Was die Forschung angeht, sollte sich Karl Reinhardt etwa für eine religiöse Interpretation von Hölderlins Sophokles-Projekt stark machen („Die Sophokleische Tragödie ist für ihn ein Stück herüberzurettender und neu zu erweckender Götterfülle“), indem er von Carl Orffs „klanglich so nachzeichnende[r] Interpretation der Hölderlin-Übersetzung“ ausging, ohne hingegen sprachlich produktive bzw. aktualisierende Überarbeitungen zu berücksichtigen. Dies ein scheinbares Paradoxon der Rezeptionsgeschichte, denn die für Reinhardt wie für Wolfgang Schadewaldt so zentrale „schonungslose, harte Wortwörtlichkeit“ (bei Schadewaldt: „nackte, harte Wörtlichkeit“) ist gerade der Punkt, an dem Bearbeitungen von Dramatikern wie Brecht und Müller anknüpfen, die anders als der textkonservativ vorgehende Musiker Orff Hölderlins Sprache als Impuls fürs Weiterschreiben verstehen; ideologische Distanz zu den Dramatikern hat wohl die Oberhand (vgl. Reinhardt 1951, 287; 292; 293 und Schadewaldt 1956, 340). Diese Urteile führender Forscher finden ihre Entsprechung andererseits in ‚konservativen‘ Formen der Wirkungsgeschichte Hölderlins auf der Bühne der 1940er–1960er Jahre.

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eine indirekte ‚Regimekritik‘ anzubringen“, in der Wiener Antigone kein Gebrauch gemacht. Anderes hätte man auch kaum erwarten dürfen, denn, wie Flashar mit Verwunderung feststellt, gerade die Tragödie der ‚rebellischen‘ Tochter des Ödipus wurde in den Kriegsjahren „besonders häufig“ gespielt (1990, 169),181 jedoch nie mit antidespotischem bzw. antikriegerischem Akzent aufgeführt wie es hingegen im Expressionismus der Fall war oder in der Nachkriegszeit.

Abb. 6: Antigonä (Wien 1940). Regie: L. Müthel. H. Pistorius als Antigone

|| 181 Flashar vermerkt im Folgenden, die Verwunderung über die quantitativ starke und typologisch recht eintönige Präsenz der Antigone auf den Bühnen der Kriegsjahre im Zeichen einer Neutralisierung des Politischen und eines Entrückens in eine abstrakte bis archaische Welt des Mythos sei dadurch größer geworden, dass die damalige Rezeption der Tragödie auch andersartige Akzente zu setzen wusste, etwa bei Rudolf Bultmann.

294 | Ein Theaterjahrhundert Tatsächlich waren die Theaterinszenierungen in einer das Kulturleben so wachsam beobachtenden Diktatur für verschlüsselte Kritik weniger geeignet als andere künstlerische Ausdrucksformen. Dieser bereits bei der Erörterung der Empedokles-Rezeption ‚unterm Hakenkreuz‘ hervorgehobene Aspekt muss mit Blick auf die SophoklesÜbersetzungen differenziert werden, wofür sich Müthels Wiener Inszenierung 1940 sich als aussagekräftiges Beispiel anbietet. Im Grunde weniger direkt „für die Ziele des Nationalsozialismus mißbräuchlich in Anspruch“ genommen – so die zweite von Flashar nachgezeichnete Tendenz der damaligen Rezeption der griechischen Tragödie, die etwa in Lothar Müthels Inszenierung der Orestie in Wilamowitz-Moellendorffs Übersetzung bei den Berliner Olympischen Spielen einen Höhepunkt fand182 – wurden Hölderlins Ödipus und (hauptsächlich) Antigone gerade in den Kriegsjahren zu einer anderen Art von Politikum instrumentalisiert, oft weniger von den Produzenten als von den die Rezeption steuernden Akteuren des (theater)kulturellen Betriebs. Im Rahmen einer der nationalsozialistischen Ideologie zugrundeliegenden Auffassung der deutschen Kultur als einziger wahren Erbin der als ‚arisch‘ aufgefassten griechischen und somit der ganzen europäischen Kultur – und dadurch problemlos mit der bereits zirkulierenden Erhebung Hölderlins zum Sänger Deutschlands und des heroischen, aufopferungsvollen Kampfes zur Verteidigung ewiger deutscher (alias: wahrhaft europäischer, ‚abendländischer‘) Werte verbunden –, wurden die SophoklesÜbersetzungen Hölderlins zu Garanten dieses ideellen Kulturguts, dem auch eine Niederlage nichts anhaben konnte. Einem so arrangierten Propagandaprogramm konnte eine auch mit den besten Absichten ‚neutral‘ gehaltene bzw. ‚archaisch‘ gegenwartsferne Inszenierung gar nicht anders, als Hilfsdienst zu leisten, zumal dann, wenn sie künstlerisch überzeugend war.183

|| 182 Die Premiere am 2. August 1936 fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Anwesenheit von Frick, Goebbels, Göring, Himmler und von Schirach statt (Flashar 1990, 164). 183 Anders verhielt es sich selbstverständlich bei deutschsprachigen Antigone-Inszenierungen außerhalb der Reichweite der Hitler-Schergen. In der neutralen Schweiz – mit dem Zürcher Schauspielhaus das Zentrum des deutschsprachigen Exiltheaters überhaupt – ist Karl Gottlieb Kachlers Tätigkeit zu erwähnen, der bereits in den 1940er Jahren eine bedeutende Rolle in der Aufführung des antiken Dramas spielte. Im Juni 1944 fanden im Freilichttheater der Universität Bern und im römischen Theater Augst dessen Inszenierungen der Antigone in Hölderlins Übersetzung statt (12. und 18. Juni), akademisch-studentische Unternehmungen, die eine stark antikisierende Ästhetik mit einem „höchst symbolischem Bezug zum Zeitgeschehen“ verbanden. Kachlers gesamte Tätigkeit zielte auf „kein politisches Theater“ im strengen Sinne, sein „noch bis 1974 fortgesetzter [...] Weg, das antike Drama in unkonventioneller Spielgestaltung rein, unpolitisch, aber in Relation zum politischen Geschehen der Zeit präsent zu halten“, sei zu würdigen (Flashar 1990, 168). Das Programmheft der Berner AntigoneAufführung zeugt von dem absichtlichen Rekonstruktions-Stil einerseits (gesungene Chöre, durchweg maskiertes Spielen) und von dem Bewusstsein der historischen Distanz andererseits. Kachler sollte nach dem Krieg auch Hölderlins Ödipus (Schweizer Erstaufführung, 25. März 1953, Stadttheater St. Gallen, Gastspiele in Zürich und Baden).

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Der Fall Müthel ist in dieser Hinsicht exemplarisch. Auch wenn spätere apologetische Versuche seine Wiener Intendanz als „Kultur-Insel der NS-Zeit“ und speziell die Antigone-Inszenierung verklären, die gar den „Zusammenbruch der Tyrannei des Kreon“ zum „eigentliche[n] Gegenstand“ gehabt habe (Weitz 1993, 61), oder neutraler als „intelligente und letztlich doch unangepasste [...] Inszenierung“ bezeichnen, die den Regisseur gar als „unbequemen Parteigänger der Nationalsozialisten aus[weisen]“ würde (Lohse 2006, 179),184 scheint bei dem überzeugten Hitler-Anhänger185 und NSDAP-Mitglied Lothar Müthel keine nachträgliche Entnazifizierung möglich.186 Neben der bereits erwähnten Berliner Aischylos-Trilogie 1936 sei auf den unverkennbar antisemitischen, im Frühling 1943 in Wien inszenierten Kaufmann von Venedig hingewiesen: Werner Krauß spielte unter Müthels Regie einen rassistisch verzerrten Shylock in der Burg, während in der Stadt die Deportation der Juden in die Vernichtungslager voran ging.187 Was die Antigone-Inszenierung angeht, ist bis auf das obligate Hakenkreuz auf dem Einband des Programmheftes keine eindeutige Spur einer Instrumentalisierung der Tragödie seitens der Produktion zu vermerken; vom archaischen Inszenierungsstil, der wie auch immer geartete Aktualisierungen verbat, war bereits die Rede. Die Distanz zum Zeitgeschehen – im Programmheft eine Distanz im Zeichen der aristokratischen Hölderlin-Rezeption im George-Kreis,188 an die sowohl Michel als auch Müthel anknüpfen konnten und die zugegebenermaßen auch als Distanzierung vom

|| 184 Teilweise bedingt die mangelnde Kenntnis der damaligen Hölderlin-Rezeption solche ‚oberflächlichen‘ Urteile zu Müthels Inszenierung: Bei Lohse liest man etwa, dass „nationalsozialistische Interpreten [...] Hölderlin [...] gewiss nicht für einen Propheten oder aktuellen Ratgeber in der Situation des Jahres 1940“ gehalten hätten (2006, 176f.). 185 „Lothar Müthel, Jahrgang 1896, als Schauspieler der ekstatische Jüngling des nachexpressionistischen Theaters, der hochmusikalische Jünger Stefan Georges, war bereits vor 1933 überzeugter Hitler-Anhänger. Hitler war – nach einer Äußerung von 1934 – für ihn ‚in des Wortes ehrlichster Bedeutung ein Schutzheiliger‘“ (Lohse 2006, 179). 186 Müthel wirkte in der Nachkriegszeit zwischen Weimar und Frankfurt als Schauspieler und Regisseur. 187 Rühle (2007) 954–958 geht von demselben zeitlichen Zusammenfall aus, mindert allerdings die Verantwortung des Regisseurs („Lothar Müthel wollte kein judenfeindliches Stück“), zitiert zur weiteren Entlastung eine Kritik aus dem Völkischen Beobachter (!) und fragt sich schließlich, ob Werner Krauß (der, wie hier zu erinnern ist, bereits als Jüd Süß-Darsteller an der antisemitischen Propaganda tatkräftig mitgewirkt hatte!) vielleicht doch gerade durch eine Übertreibung der stereotypischen Elementen die antijüdische Propaganda als unsinnig herausstellen wollte. 188 Abgedruckt wurden dort u.a. Stefan Georges Hölderlin-Gedicht und Passagen aus seinem darauffolgenden rhapsodischen Text über das „greifbar[e] wunder“ des plötzlichen Ins-Licht-Tretens vom „große[n] Seher für sein volk“, ein regelrechter Schlüsseltext der Mythologie der Hölderlin-‚Wiederentdeckung‘ nach 1900 (George 1919a). Darüber hinaus enthält das Programmheft Texte Hölderlins und Michels Essay Der Hölderlinsche Sophokles.

296 | Ein Theaterjahrhundert herrschenden Diskurs gedeutet werden könnte – war seitens der Produktion überdeutlich.189 Wie bereits bei Empedokles-Inszenierungen beobachtet, übernahm allerdings die Rezeptionsebene die Aufgabe der Instrumentalisierung – sie hatte die Produktion zwar vermieden, aber sicher nicht unmöglich gemacht. Auch diesmal können die Worte von Heinz Kindermann für den Jubel der gleichgeschalteten Kritik stehen, den er auch erwähnt: Michels „strenge, hoheitsvolle Inszenierung“ habe durch Vermeiden „jeglicher romantischer Sensibilität“ zur „uralte[n] griechischdeutsche[n] Klarheit“ gefunden, indem „wahrhaftig Sophokles und Hölderlin“ gespielt wurden (1943, 46): Die Archaisierung und Monumentalisierung wird als Darstellung griechisch-deutscher Wesensverwandtschaft im Zeichen des Hohen, Wahren und Tragischen interpretiert, der das Paar Sophokles-Hölderlin auf höchster dichterischer Ebene ihr Gütesiegel aufdrückt, und steht somit der Propaganda zu Diensten. Somit kann Müthels Antigone bei der Wiederaufnahme im Juni 1943, am Höhepunkt der Hölderlin-Vereinnahmung, der Verherrlichung heldischer Aufopferung im Krieg dienen. So weit entrückt ins Mythische ist die Inszenierung, so verwischt der Sinn von Antigones Beharren auf die Bestattung des Bruders bzw. von Kreons Festhalten an den Gesetzen des Staats, dass diese Indienstnahme leicht gelingt.

3.2 Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit 3.2.1 Berichtigung alter und neuer Mythen: Bertolt Brechts Antigone (1948) Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlin’schen Übertragung für die Bühne bearbeitet von Bertolt Brecht. Diese bereits im Titel ausdrücklich als eine auf die Inszenierung hin geschriebene, also als praktische Theaterarbeit bezeichnete intertextuelle Transformation von Hölderlins zweiter Sophokles-Übersetzung wurde am 15. Februar 1948 im Stadttheater Chur zum ersten Mal auf die Bühne gebracht. Der an einem denkbar provinziellen Theater erfolgten Uraufführung folgten laut Werner Hecht drei Wiederholungen und eine Matinee in Zürich – insgesamt also gerade mal fünf Aufführungen (1988, 296).190 Ein Jahr darauf wurde der Bearbeitungstext im von Ruth

|| 189 Als „Zitation politisch-militärischer Inszenierungsästhetik“ versteht hingegen Lohse (2006) 171 einige Regieentscheidungen hinsichtlich der Auftretensweise des Chors – die geometrische Anordnung und Bewegung der einzelnen Choreuten und ihre ständige Präsenz auf der Bühne kann man allerdings auch im Rahmen der monumentalisierenden und ins Abstrakte tendierenden Ästhetik der Inszenierung verstehen. 190 Auf Hechts Dokumentation und Materialsammlung zu Brechts Antigone-Bearbeitung und -Inszenierung, aus der im Folgenden wiederholt zitiert wird, sei nachdrücklich verwiesen (Hecht 1988). Als Hauptreferenzen zu Brecht dienten den folgenden Überlegungen die Einführung von Jan Knopf (2000) und das von demselben herausgegebene Brecht-Handbuch in fünf Bänden (2001–2003), auf

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Berlau redigierten Buch veröffentlicht, das Brecht und seinen Mitarbeiter Caspar Neher als Autoren anführt. Unter dem Titel Antigonemodell 1948 dokumentierte es die Churer Inszenierung anhand von Texten und Materialien sowie von Bühnenfotografien, die Berlau aufgenommen hatte.191 Als dieses erste „Modellbuch“ 1949 bei Gebrüder Weiß als 34. Band der „Versuche“ erschien, war der 1947 aus dem amerikanischen Exil über Paris in die Schweiz gekommene Brecht mit Familie und Team schon nach Berlin/Ost umgezogen; in der Hauptstadt der DDR sollte er bekanntlich bis zu seinem Tod im von seiner Frau Helene Weigel geleiteten Berliner Ensemble tätig sein. Bereits im Dezember 1947 hatte Brecht in einem Brief an seinen Sohn Stefan die im Entstehen begriffenen Antigone-Bearbeitung und -Inszenierung als „preview für Berlin“ bezeichnet;192 tatsächlich war die Schweizer Unternehmung, die erste Theaterarbeit Brechts nach der Rückkehr in den deutschsprachigen Kulturraum überhaupt, in vielfacher Hinsicht eine Vorübung auf das echte europäische Comeback.193 Dass die bereits 47-jährige Weigel die Rolle der Antigone übernahm, erklärt sich etwa auch als Aufwärmung für den ‚richtigen‘ Erfolg, den sie dann mit ihrem epochalen Auftritt als

|| den jeweils mit Bezug auf die einzelnen Artikel verwiesen wird. Zusammen mit Werner Hechts neueren Arbeiten, wesentlich etwa die Brecht-Chronik (Hecht 1997, ergänzt 2007), bilden diejenigen Knopfs und seiner Mitarbeiter die Grundlage für eine philologisch gesicherte, ‚nach-ideologische‘ Auseinandersetzung mit Brecht. Vgl. auch Müller (2009) sowie für eine Orientierung Kugli/Opitz (2006). 191 Konsultiert werden konnte lediglich die zweite Ausgabe (Berlin/Ost: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1955). Dort wird auch Peter Palitzsch angeführt, dem die ‚Gestaltung‘ zugeschrieben wurde. Die Seiten sind nicht nummeriert. Dem Vorwort von Brecht und Neher folgt nach einem fototechnische Fragen erörternden Text von Berlau (Die Aufnahmen) das eigentliche ‚Modell‘: Auf der linken Seite jeweils Regieanmerkungen, auf der rechten Bilder, unter denen Verse aus der sog. Antigone-Legende als Bildunterschrift abgedruckt sind. Der synoptische Text-Bild-Komplex verfolgt somit Schritt für Schritt die Inszenierung. Auf dem Seitenpaar, das das Vorspiel illustriert, ist eine Bühnenskizze Nehers zu sehen, dann nur Berlaus Fotos. Die Regieanmerkungen links bestehen aus punktuellen inszenierungskommentierenden Aussagen und aus fingierten Dialogen, in denen auf mögliche Fragen oder Bemerkungen eines Beobachters Antworten gegeben werden. Auf den letzten Buchseiten sind weitere Bühnenfotos und Skizzen kommentarlos abgedruckt. Der Bearbeitungstext ist erst in einem separaten Heft abgedruckt, das dem Modell beigelegt ist; in der hier beschriebenen zweiten Ausgabe ist auch der Prolog aufgenommen, den Brecht für die deutsche Erstaufführung in Greiz verfasste (1951). Die GBA, aus der hier alle Texte Brechts zitiert werden, verteilt die zum Antigone-Projekt gehörenden Texte und Bilder ihrem Editionsprinzip nach auf verschiedene Bände. Zum Antigonemodell vgl. neben Joost (2003) die ausführliche Untersuchung Baldo (1987). Unter den neueren Untersuchungen erarbeitet Taxidou (2006) einleuchtend das Modell als „crucial encounter between tragedy and Brechtian aesthetics“ (241), während Dreyer (2014) das Modell und die dort dokumentierte Inszenierung unter dem ästhetischen Prinzip der Historisierung grundlegend erörtert. 192 An Stefan Brecht, Dezember 1947. Vgl. GBA 29, 440. 193 Für eine hauptsächlich lebensgeschichtliche, viel Material aufarbeitende Präsentation zu „Brecht und die Schweiz“ bzw. zu dessen „Schicksalsjahren“ in Zürich sei auf die Arbeiten Werner Wüthrichs verwiesen (2003, 2006).

298 | Ein Theaterjahrhundert Anne Fierling in Mutter Courage und ihre Kinder hatte (1949).194 Selbst die Entscheidung für eine antike Tragödie und für Hölderlins Übersetzung als Grundlage der Antigone-Bearbeitung wurde zwar aus vielerlei Gründen getroffen, wie noch zu erörtern ist; sie gehört jedoch zweifellos zum Programm der Wiederaufnahme der im Exil notgedrungen aufgegebenen praktischen Bühnentätigkeit anhand einer ‚Klassiker‘-Bearbeitung und zur „Rückkehr in den deutschen Sprachbereich“.195 Der Vorbereitungsund somit Übergangscharakter der Churer Antigone scheint schließlich auch dadurch bestätigt zu sein, dass sich bis auf die zügige Erstellung des Modellbuchs weder Brecht noch seine Mitarbeiter bzw. Schüler wieder daran machten. Die deutsche Erstaufführung in Greiz (1951) wurde aus dem Hauptstadtquartier lediglich mit dem (verspäteten) Versand eines neuen Prologs und einiger knappen Materialien in die thüringische Provinz bedacht,196 während man sich am Schiffbauerdamm der Bearbeitung und Inszenierung anderer Klassiker, von denen man sich nicht einschüchtern lassen wollte, widmete.197 Auch nach dem Tod Brechts kam für lange Zeit

|| 194 Das für eine junge und jungfräuliche Heldin fortgeschrittene Alter der Hauptdarstellerin wurde bereits bei der Churer Uraufführung von manchem Kritiker bemerkt, allerdings meist nicht als Mangel beanstandet (die Rezensionen sind bei Hecht 1988, 195–209 gesammelt). Neben praktischen Gründen darf der Umstand nicht vergessen werden, dass in Brechts Theater kein besonderer Wert auf solche Realistik gelegt wurden; darüber hinaus wurden in Chur die Darsteller maskenhaft geschminkt. Im Programmheft der Uraufführung hieß es, dass speziell für Weigels „Rückkehr aus langem Exil Brecht seine ‚Antigone‘-Fassung“ geschrieben und dass die Schauspielerin „den viel diskutierten ‚epischen‘ Darstellungsstil“ repräsentiert habe (ebd., 179). Damit wurde ausdrücklich die Churer Antigone zur Vorübung im epischen Theater für Darsteller, Regisseur und Publikum erklärt. Private Zeugnisse bestätigen diese Intention: Vgl. den Brief an Stefan Brecht („eine Antigone-Bearbeitung, die ich für Helli gemacht habe. [...] eine Art preview für Berlin“; Dezember 1947, GBA 29, 440) und die ArbeitsjournalNotiz vom 16. Dezember 1947 („Habe [...] eine Antigonebearbeitung fertiggestellt, da ich mit Weigel und Cas die Courage für Berlin vorstudieren möchte, dies in Chur, wo Curjel sitzt, tun kann, dafür aber eine zweite Rolle für die Weigel brauche“, GBA 27, 255). Weigel selbst erinnert sich 1969 in einem Gespräch mit Werner Hecht: „Ja, wir wollten in der Schweiz ausprobieren, ob ich noch spielen kann. Deshalb suchte Brecht auch eine kleine Bühne. [...] Das war auch eine unmögliche Sache, eine 47jährige Antigone. [...] Die Schweiz, das war unsere Vorbereitung auf Berlin“ (Hecht 1988, 182f.). 195 So in der Arbeitsjournal-Notiz vom 16. Dezember 1947: „Vermutlich ist es die Rückkehr in den deutschen Sprachbereich, was mich in das Unternehmen treibt (GBA 27, 255). 196 Den neuen Prolog zur Antigone verschickte Brecht erst ein paar Tage nach der Greizer Premiere (vgl. Hecht 1997, 988); laut GBA 8, 242 geschah dies auf ausdrücklichen Wunsch des dortigen Ensembles; in Greiz hatte man von Anfang an auf das Vorspiel verzichtet, womöglich in Absprache mit Berlin. Der Prolog, der Brief und kurze Anmerkungen zur Bearbeitung, die Brecht schickte, sind bei Hecht (1988) 213–216 abgedruckt; anschließend ein Pressespiegel (217–227). In der GBA ist der Prolog im Anschluss an die Antigone-Bearbeitung abgedruckt (8, 242). 197 Vgl. Brechts spätes Essay Einschüchterung durch die Klassizität (1954, GBA 23, 316–318). Neben Stücken Brechts aus den Exiljahren, wie Mutter Courage und ihre Kinder oder Der kaukasische Kreidekreis, und einigen Dramen anderer Autoren, machten die von Brecht bzw. seinem Team bearbeiteten Dramen aus dem in- und ausländischen Repertoire den Großteil des frühen Spielplans des Berliner Ensembles aus. Als deutsche Autoren wurden Lenz (Der Hofmeister), Goethe (Urfaust), Kleist (Der

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seine einzige Bearbeitung einer antiken Tragödie und einzige dramatische Auseinandersetzung mit Hölderlin überhaupt auf keine wichtige Bühne der DDR, schon gar nicht auf die Bühne des angeblich Brecht-orthodox geführten Berliner Ensembles.198 Erst Brechts ‚ketzerische‘ Bühnenerben Heiner Müller und George Tabori – nach dem bekannten Wort Müllers gehören beide gerade dadurch zu den wenigen, die ihn nicht verraten haben –, sollten in Berlin Die Antigone des Sophokles produktiv rezipieren. Müller noch indirekt und topographisch leicht verschoben durch seine Ödipus-Bearbeitung, die 1967 im nahe gelegenen Deutschen Theater unter der Regie Benno Bessons debütierte und in vieler Hinsicht auf Brechts Spuren wandelt (3.2.3). Tabori direkt an Brechts ehemaliger Wirkungsstätte durch die Inszenierung der Antigone-Bearbeitung, die er 2006 (mit 92 Jahren!) als eigenen Beitrag zum Jubiläum-Festival anlässlich Brechts 50. Todestag im Berliner Ensemble besorgte.199 Diesen und weiteren Beispielen der international und intermedial verzweigten Wirkung von Brechts Antigone in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in neuem Jahrtausend soll in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit nachgegangen werden. Dies nicht zuletzt mit dem Ziel, dem weitverbreiteten Forschungsgemeinplatz entgegenzuarbeiten, dass eine solche Nachwirkung so gut wie nicht existiere oder höchstens inszenatorische Aspekte und gewiss nicht die Hölderlin-Transformation betreffe. Im Gegenteil: Vor allem der Modus dieser Transformation, dem im Folgenden nachzugehen ist, wurde wegweisend für produktive Hölderlin-Arbeiten in der Dramatik der Nachkriegszeit, nicht nur mit Bezug auf die Sophokles-Übersetzungen.200

|| Zerbrochene Krug) und Gerhart Hauptmann (Biberpelz und Roter Hahn) mit Bearbeitungen/Inszenierungen bedacht. Zu Brechts Bearbeitungen vgl. Joost (2001b) sowie die im selben Brecht-Handbuch versammelten Einzelanalysen (zur Antigone Joost 2001a). Der Klassiker zum Thema ‚Bearbeitungen‘ bleibt Grimm (1961) 29–50; eine frühe Rekonstruktion von Brechts Umgang mit der Antike, in der die Antigone eine Schlüsselrolle auch als Grundlage einer kritischen DDR-Antikenrezeption spielt, bot Riedel (1984) 126–131; vgl. auch den Überblick in der neueren Rekonstruktion Riedel (2000) 312–317. 198 Eine Geschichte des Berliner Ensembles legte David Barnett vor (2015). 199 Die Uraufführung fand am 25. August 2006 statt. Zu dieser Inszenierung vgl. eingehend Castellari (2013), wo Taboris Regie als teils ironische, teils ernste Fortführung der brechtschen Tendenz interpretiert wird. 200 Verbreitet sind Fehleinschätzungen zur Bühnenwirkung der brechtschen Antigone, wie in den nächsten Kapiteln zu zeigen ist, sowohl in der Rezeptions- als auch in der Brechtforschung, sowohl quantitativ als auch qualitativ. In einem Referenzwerk wie dem Brecht-Handbuch wurde etwa 2001 die falsche Behauptung verbreitet: „[n]euere Aufführungen sind über die von Hecht bis 1986 verzeichneten nicht nachgewiesen“ (Joost 2001a, 541). Hellmut Flashar, der die historische Bedeutung von Brechts Antigone nach dem Krieg sicherlich nicht verkennt, tendiert dazu, sowohl die dramatische als auch die inszenatorische Nachwirkung einiger brechtscher Elemente herunterzuspielen (vgl. dazu unten 3.2.2 und 3.2.5; vgl. für eine Übernahme von Flashars Position zuletzt Horn 2008 und Doering 2011). Auch Savage (2008) vermerkt: „today the play is as good as dead“ (151). Dass eine Bearbeitung keine mit originellen Stücken vergleichbare Wirkung hat, ist selbstverständlich. Dass seine Operation Widersprüche aufwies, hatte Brecht selber bemerkt. Untersuchungen wie diejenige Werner Fricks,

300 | Ein Theaterjahrhundert Selbstverständlich kann man Die Antigone des Sophokles mit Brechts Stücken der Weimarer Jahre und den Exildramen, die trotz Brecht-Müdigkeit auf den Bühnen der ganzen Welt ununterbrochen Erfolg haben, an Wirksamkeit nicht gleichstellen – mit weiteren Bühnenbearbeitungen Brechts jedoch gewiss.201 Wie für vorliegende Rekonstruktion zentral erscheint, ist Brechts Antigone darüber hinaus in ihrer Scharnierfunktion für die Dramen- und Theaterrezeption Hölderlins kaum zu überschätzen. Denn in Brechts Arbeit an Hölderlins Text für die Bühne – beide Dimensionen sind überhaupt nicht zu trennen, wie bereits die Publikation als Modell nahelegt – kommen Brüche und Kontinuitäten zum Vorschein und werden Akzente gesetzt sowie Tendenzen gestiftet, die für eine Erklärung des darauffolgenden Rezeptionsverlaufs unerlässlich sind. Die umfangreiche Forschung zu Brechts Antigone-Bearbeitung – der meisterforschte Rezeptionsfall überhaupt, was Hölderlins Nachwirkung in Drama und Theater angeht, und rekordverdächtig auch im Rahmen der gesamten Dichterrezeption – hat bei aller eingehenden Analyse und Kontextualisierung bisher versäumt, den Hölderlin-Anteil an Brechts dramatischer Operation integral zu beleuchten. Es fehlt bisher insbesondere an einer Untersuchung, die folgende drei Aspekte in ihrer Wechselwirkung betrachtet: 1. die Kontextualisierung von Brechts Antigone in der Hölderlin-Rezeption der 1930er–40er Jahre; 2. ihre textuelle Beschaffenheit als intensive, keineswegs okkasionelle Auseinandersetzung mit Hölderlins Sprache und Gedankenwelt; 3. ihre offene (!) Modellhaftigkeit als Fortführung von Hölderlins Streben nach einer Tragödie im Spannungsverhältnis von Antike und Moderne, mit anderen Mitteln und in anderen Kontexten, und als Vorschlag für zukünftige Theaterschaffende im Bewusstsein des unfertigen, work-in-progress-Charakters des Antigonemodells. Mehr als das notgedrungen provisorische Ergebnis von Brechts Arbeit an Hölderlin – eine Vorläufigkeit, die Brecht selbstverständlich bewusst war und die in seiner Theaterästhetik ihren Grund hat – war es der Gestus dieser transformativen, dialektisch aktualisierenden Auseinandersetzung, der Folgen haben sollte als Gegenmittel gegen sakral-feierliche Musealisierungen des dichterischen Wortes. In Brechts || teilweise auf Wilfried Barners Arbeit fußend, haben dies eingehend erörtert, ohne die historische Bedeutung des „über seinen ursprünglichen Entstehungskontext hinaus bedeutsame[n] und folgenreiche[n] literatur- und theatergeschichtliche[n] Ereignis[sses] von modellhafter und schulbildender Wirkung“ zu verkennen (Frick 1998, 481, Barner 1987). Neulich hat Dreyer (2014) mit Nachdruck auf die konstitutive Funktion von Widersprüchen in Brechts Ästhetik der Historisierung verwiesen. 201 Von ‚Brecht-Müdigkeit‘ war und ist zwischen Feuilleton und Forschung in der BRD spätestens seit den 1980er Jahren wiederholt die Rede. Tatsächlich wurde Brecht etwas weniger gespielt und das kritische Interesse ebbte nach ein paar Jahrzehnten starken Zuspruchs ab, wobei allerdings die Entwicklungen in den unterschiedlichen Sparten und in den verschiedenen kulturellen Kontexten nicht synchron verlaufen und zwischen verschiedenen Aspekten von Brechts Werk, Denken und Ästhetik zu unterscheiden wäre. Heute begegnet man der Rede von einer ‚Brecht-Renaissance‘. Die ersten fünfzehn Jahren des 21. Jahrhunderts kann man aus internationaler Perspektive heraus tatsächlich als eine Zeit erneuter Aktualität von Brechts Theater und Ästhetik bezeichnen.

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Worten: als „Entgipsung“202 Hölderlins, wodurch erst die produktive Energie der Entwicklung eines „Hölderlin-Tons“ (Buck)203 im dramatischen Schreiben und auf der Bühne frei gesetzt werden konnte.204 Als zu Beginn der Forschungen, die dieser Arbeit vorausgingen, eine italienische Studie von mir zu hauptsächlich philologischen und intertextuellen Fragen der Bearbeitung erschien, konnte darin zum ersten Mal (nach gut einem halben Jahrhundert kritischer Mühen) die Hölderlin-Ausgabe identifiziert werden, mit der Brecht gearbeitet haben muss.205 Dort wurde auch auf einen bis dahin

|| 202 So erinnerte sich Eisler in Bunge (1971) 24. 203 Vgl. dazu Buck (1990). Hier wird Hölderlins „harte Fügung“ als bereits „episierender und dialektisierender Prozeß“ (225) mit modernen Praktiken der sprachlichen Verfremdung (Brecht) und der Suche nach einer über die Mitteilungsebene hinaus hinweisenden Bühnensprache (Heiner Müller) parallelisiert. Ansatzweise, allerdings im Rahmen einer eher kritischen Beurteilung von Brechts Bearbeitung, hatte bereits Pohl (1969) auf die „zunächst befremdende Affinität des Stückeschreibers zur Sprache der gewählten Vorlage“ (245) hingewiesen und Brecht Befund der „Radikalität“ von Hölderlins Sprache mit dem Begriff der „harten Fügung“ verglichen. 204 In diesem Sinne soll durch die folgenden Überlegungen der These Sabine Doerings widersprochen werden, die in ihrer ansonsten stimulierenden Studie im Hölderlin-Jahrbuch – übrigens eine schöne Ausnahme in der Hölderlin-Forschung, die sich kaum mit Brechts Antigone beschäftigt hat und sie etwa im Nachwirkungen-Teil des Hölderlin-Handbuchs nicht einmal erwähnt – bei Brecht die Gefahr einer Musealisierung erblickt, auch im Gegensatz zu Heiner Müller (2011, 169 vgl. ähnliche Formulierungen bereits bei Flashar 1991, 192 und Frick 1998, 501). Die auf Barners (1987) und eben Fricks (1998) Untersuchungen beruhende, vertretbare Ermittlung der Widersprüche von Brechts Hölderlin-Arbeit betrifft insbesondere die Ebene der angestrebten Durchrationalisierung der Tragödie und rechnet mit den ideologischen Verkennungen seitens der älteren, meist DDR-Forschung von Brechts Antigone als genialer Überbietung der Vorlagen ab (Rilla 1950, Mittenzwei 1973, Trilse 1975). Dies führt Doering andererseits zu einer typischen Übertragung von Ansichten früher Brecht-Erben oder -Forscher auf Brecht. Dass Brecht „von der Zuversicht getragen“ gewesen sei, „er könne seine Modell-Inszenierungen vor dem Veralten bzw. Historisch-Werden bewahren“ (168), steht in krassem Widerspruch zu Brechts offenem Modellbegriff, wie unten zu zeigen ist; dass er „überzeitliche Wahrheiten“ propagieren wollte, widerspricht seiner ganzen, von methodischen Zweifeln getragenen Poetik. Im Folgenden soll der Kampf Brechts gegen die Musealisierung der ‚Klassiker‘ als Grundlage für die Arbeit spätere Dramatiker und Regisseure herausgearbeitet werden 205 Castellari (2004). Einige Ergebnisse dieser italienischen Studie sind in das vorliegende Kapitel eingearbeitet, vor allem was die Textanalyse angeht, und um neuere Forschungsbeiträge ergänzt. Direkt oder indirekt müssen Brecht und seine Mitarbeiter (auch) auf Hellingraths Ausgabe zurückgegriffen haben. Sie war die einzige unter den damals verfügbaren, wo neben den für die Bearbeitung benutzten Hölderlin-Texten (s.u.) auch jene Aphorismen ediert waren, die im Programmheft der Churer Uraufführung abgedruckt wurden, und zwar mit demselben Titel und bis auf orthographische Einzelheiten in derselben Textform. Vgl. ebd., 158–161, die Aphorismen kann man bei Hecht (1988) 179f. lesen; vgl. auch Hell. 3, 241–247; in der StA 4, 233–236 sind diese Texte zusammen mit anderen unter dem Titel Reflexion ediert.

302 | Ein Theaterjahrhundert unerkannten Rekurs des Dramatikers auf eine frühe fragmentarische Antigone-Übersetzung Hölderlins verwiesen.206 Auch wenn sich der Sinn von Brechts Antigone-Operation keineswegs in der intertextuellen Aneignung des ‚Materials‘ ausschöpft, ist das mangelnde Interesse der Forschung für die genannten Aspekte auch als Zeichen für die tendenzielle Marginalisierung bzw. plakative oder gar oberflächliche Behandlung der Hölderlin-Frage zu lesen.207 Der im Vorwort zum Antigonemodell (mit vollem Recht) verkündete Grundsatz Brechts: „Philologische Interessen konnte nicht bedient werden“ (wie auch andere Aussagen Brechts und einige bereits erörterte externe Signale, die Antigone als eine schnell gefertigte, beinahe mit links gemachte Gelegenheits- oder „Fleißarbeit“ erscheinen lassen),208 hat oft den Blick verstellt für

|| 206 StA 5, 42; vgl. Castellari (2004) 168–171 sowie unten, 3.2.1.2. Jene fragmentarische Übersetzung war in Hellingraths Ausgabe an exponierter Stelle abgedruckt, gleich zu Beginn des 5. Bandes. Allein dies hätte das Interesse des Bearbeitungsteams wecken können. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass dabei auch die Vermittlung Nehers eine Rolle spielte, der bereits in der Hamburger AntigoneProduktion 1946 mitgearbeitet und Brecht die von Ludwig Benninghoff im Rahmen jener Inszenierung realisierte Edition wohl zur Verfügung gestellt hatte, wo die frühere Chorübersetzung anstelle der endgültigen Version gesetzt worden war; vgl. unten sowie 3.2.2. 207 Die vielen Untersuchungen haben sich selbstverständlich mit Hölderlins Vorlage und mit Brechts Umgang damit aus verschiedenen Blickwinkeln beschäftigt. Nur wurde die Intensität und Komplexität dieses Umgangs nicht in seinem gesamten Ausmaß erkannt. Frühere Studien gingen oft von einer plakativen, meist ideologisch gefärbten These der gelungenen Meisterung, ja Überholung des diffizilen Klassikers durch den listigen Modernen aus; der Einfluss Hölderlins auf die Sprache Brechts und die der Bearbeitung innewohnenden ungelösten Spannungen wurden weniger berücksichtigt. So konnte Werner Mittenzwei behaupten, dank Brechts Eingriffen bekomme die „Dichtung eine größere tragische Wucht. Auch seine Schönheiten wurden durch die Bearbeitung mehr hervorgehoben“ (1973, 223; vgl. auch Rilla 1950, Bunge 1957, Grimm 1961, Trilse 1975). Andere, vor allem neuere Untersuchungen tendieren wiederum dazu, unter der Prämisse von Brechts Scheitern bei der erhofften ‚Duchrationalisierung‘ der Vorlage, besagte Spannungen teilweise überzubewerten. So wird Brechts Überführung der Antigone in säkular-moderne Gefilde missbilligt; die sprachliche Transformation sei misslungen (so bereits Pohl 1969 und Weisstein 1973, später Barner 1987, Flashar 1991, 186–193, Doering 2011). 208 Savage (2008) zitiert Brechts Urteil über seine Antigone-Bearbeitung als „Fleißarbeit“ aus Hecht (1997) 803. Brechts Wortwahl im dort zierten Brief an Ruth Berlau muss jedoch im Kontext gelesen werden (GBA 29, 436). Keineswegs abwertend klingt m.E. dort die Bezeichnung, wie eine der Bedeutungsnuancen des Wortes suggeriert („mit viel Fleiß zustande gekommene, aber wenig Anregendes enthaltende Arbeit“, DUDEN 20035). Denn im Brief bezeichnet Brecht die Arbeit an der Vorlage als „interessant wegen der Sprache“ und fügt hinzu, er habe sich „was Schweres ausgesucht, als Fleißarbeit“. Hölderlin bearbeiten, so scheint mir die Wendung lesbar, ist eine anstrengende und zugleich bzw. gerade deswegen lohnende Arbeit. Das sprachliche Erlebnis, das Brecht mit der „Fleißarbeit“ verbindet, lässt sie sogar als eine im brechtschen Sinne unterhaltende und belehrende Arbeit erscheinen – unterhaltend, weil belehrend, wie er überhaupt das Begreifen im berühmten gleichnamigen Gedicht zu den Vergnügungen rechnete (GBA 15, 287) oder das Denken als Genuss verstand (Leben des Galilei, GBA 5: passim).

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die tatsächlich intensive Auseinandersetzung mit Hölderlin, die große Folgen für den Text und auch für die Inszenierung hatte.209 Es soll deshalb im Folgenden in drei Schritten der Versuch unternommen werden, dem Anteil Hölderlins an Brechts Antigone-Operation kritische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Grundlage sind sowohl frühere als auch neue, in vielem neues Terrain anvisierende Studien, vor allem aus dem anglo-amerikanischen Raum.210 Unter Berücksichtigung der in den anderen Teilen dieser Arbeit rekonstruierten Bühnenwirkung Hölderlins sollen zuerst die im Exil gewonnenen Einsichten Brechts zu Hölderlin (3.2.1.1) behandelt werden. Dann werden die heterogenen Quellen und die textuellen Transformationsmodi eingehend erläutert, die Brecht bei der Bearbeitung von Hölderlins Übersetzung einsetzte; dabei soll erarbeitet werden, wie Brecht neue Wege einschlug und so für spätere Hölderlin bearbeitende Dramatiker stilbildende Strategien entwickelte (3.2.1.2). Zum Schluss soll dem Antigonemodell in seiner doppelten bühnen- und rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung nachgegangen werden, als Dokumentation der Uraufführung und als Inszenierungsvorschlag für kommende Theaterarbeit: für andere Inszenierungen von Hölderlins Antigone, in Brechts Bearbeitung oder nicht, wie auch für eine moderne Realisation der antiken Tragödie durch die Vermittlung eines deutschen Dichters wie Hölderlin (3.2.1.3). 3.2.1.1 Annäherungsversuche und Distanzbekundungen. Brecht und Hölderlin im Exil Brecht zählte in Essays der 1920er Jahre auch Hölderlin zu den für die Gegenwart totgesagten Klassikern, die „unter unsere Kriegsopfer“ gehörten und lediglich in ihrem

|| 209 Für die Analyse der Textvorlage grundlegend sind die Arbeiten von Pohl (1969) und Weisstein (1973) und die Anregungen anderer Forscher, Brechts Arbeit an Hölderlins Sprache in ihrer produktiven Wirkung (Fritsch 1990, Philipsen 2001, Chiarloni 2004) und als Begegnung mit einer sozusagen ur-verfremdenden Diktion aufzuwerten (Dibbel 1984, Buck 1990, Horn 2008). Insbesondere Fricks Antigone-Kapitel hat sowohl methodologisch als auch inhaltlich wesentliche Impulse für die Erarbeitung der intertextuellen Relation gegeben (1998, 481–559). 210 Tatsächlich erscheint in manchem die deutschsprachige germanistische Forschung noch unter der Jahrzehnte währenden Politisierung der Brecht-Rezeption zu leiden, was sich insbesondere auf die Interpretation des Nachkriegsschaffens Brechts, etwa der Dramenbearbeitungen, auswirkt. Neue Perspektiven auf die Antigone-Bearbeitung und -Inszenierungen brachten in den letzten Jahren vor allem englischsprachige Studien wie Wannamaker (2006), mit der Erarbeitung des Experimentalcharakters der Schweizer Unternehmung, Savage (2008) im Rahmen der Hölderlin-Rezeption (Adorno, Heidegger) und mit Verweis auf den offenen Charakter von Brechts Hölderlin-Bearbeitung, schließlich Taxidou (2008) mit Blick auf das Verhältnis von theaterästhetischer und -praktischer Arbeit bei Brecht nach 1945. Aus der Perspektive der deutschsprachigen Theaterwissenschaft kam hingegen durch Dreyer (2014) die nachdrückliche Forderung, Brechts Antigone-Inszenierung in ihrer bahnbrechenden Rolle für die Antikenrezeption im Theater seit den 1960er Jahren zu würdigen.

304 | Ein Theaterjahrhundert „Materialwert“ durch die aktualisierende „Anwendung eines politischen Gesichtspunktes“ wiederbelebt werden könnten.211 Neben den für den jungen und mittleren Brecht viel wichtigeren elisabethanischen und Weimarer Dichtern wurde auch Hölderlin zum ‚Opfer‘ dieses Klassikerbegriffs. Die Klassiker-Parodie, etwa in der Heiligen Johanna der Schlachthöfe, zielte allerdings mehr auf die bürgerlich-konservative Rezeption als auf die Autoren selbst; dabei stand die „Lebendigkeit des Materials“ im Mittelpunkt (Dreyer 2014, 80–83).212 Brechts Einstellung zur literarischen Tradition entwickelte sich in den Exiljahren und dann in der Nachkriegszeit in Richtung auf einen komplexeren und umfassenderen Umgang und wurde zum unabdingbaren Teil seiner (Theater-)Ästhetik, wie die Forschung ausführlich gezeigt hat.213 Diese durch die politische und kulturelle Geschichte der 1930–50er Jahre maßgeblich geprägte Entwicklung betrifft auch Brechts Hölderlin-Rezeption, die allerdings bis auf den Ausnahmefall der Antigone-Bearbeitung eine quantitativ recht eingeschränkte, qualitativ recht widersprüchliche Erscheinung blieb. Gerade dadurch gewinnt sie an Interesse für die noch anzustellenden Überlegungen zur Antigone. An den spärlichen Äußerungen zu Hölderlin vor der Auseinandersetzung mit seiner Übersetzung zeigt sich die in vielem nebulöse Kenntnis oder gar voreingenommene Einstellung Brechts zum schwäbischen Dichter: Kein unberührter Boden, sicherlich jedoch ein offenes Feld. Die Arbeit an der Antigone sorgte dann für Entdeckungen und Überraschungen. Zudem zeigt Brechts Umgang mit Hölderlin in den späten 1930er und frühen 1940er Jahre beispielhaft, wie die vertriebenen bzw. emigrierten deutschen Autoren und

|| 211 Vgl. Wie soll man heute Klassiker spielen? (1926); Gespräch über Klassiker (1929). GBA 21, 181f., 182; 309–315, 309. 212 Es handelt sich dabei um ein dramatisches Pendant zu den essayistischen Äußerungen. Brechts Stück über die verhängnisvolle Liaison zwischen Idealismus und Kapitalismus im Chicago der Wirtschaftskrise, entstanden ab 1929, enthält unter vielen anderen disparaten Quellen auch produktivparodistisch transformierte Verse des Dichters aus Hyperions Schiksaalslied. In einer episch-pathetischen Passage wird der Fall der Preise an der Fleischbörse, den der Fleischkönig Mauler für sich auszunutzen trachtet, durch eine ironisch zugespitzte Kontrafaktur des berühmten Gedichts über die andersgearteten Schicksale von Göttern und Menschen veranschaulicht: „Den Preisen nämlich / War es gegeben, von Notierung zu Notierung zu fallen / Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen / Tief ins Unendliche hinab. Bei 30 erst hielten sie“ (GBA 3, 211). Nicht Hölderlins Gedicht an sich wird hier wohlgemerkt dem Spott preisgegeben oder gar einer fundamentalen Kritik unterworfen. Angeprangert wird vielmehr vom unorthodoxen Marxisten Brecht die Verklärung ökonomisch bedingter Prozesse, die Spekulationen möglich machen und im Allgemeinen die soziale Ungleichheit erhalten, durch eine sakrale Aura. Die dichterische Sprache – hier Hölderlins, andernorts wird auf andere ‚Klassiker‘ zurückgegriffen – wird zur metaphysischen Überhöhung menschlich bedingter Vorgänge ins Schicksalhafte instrumentalisiert, was Brecht hier verfremdend aufzeigt. Dadurch, d.h. durch die Verhinderung von Einfühlung mittels des Widerspruchs zwischen Stil und Inhalt (Abhebung), soll der Zuschauer befähigt werden, eine kritische Haltung gegenüber der nunmehr entblößten Lüge einzunehmen. 213 Als ‚Klassiker‘ zu Brechts Umgang mit den Klassikern kann Mayer (1961) mit seinem Begriffspaar ‚gehobene/gestiftete Tradition‘ gelten.

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Künstler an ihren jeweiligen Exilorten den Dichter aufnahmen, der vom NS-Regime in Deutschland propagandistisch vereinnahmt wurde (3.1.3).214 Noch in den ersten Jahren nach Brechts Flucht aus Deutschland entstand das Erzählgedicht Der Schuh des Empedokles (1935), das 1939 an exponierter Stelle innerhalb der dänischen Sammlung Svendborger Gedichte veröffentlicht wurde.215 Ob das Gedicht eine intertextuelle Relation mit Hölderlins Empedokles aufweise, dessen Kenntnis seitens Brecht allerdings als wahrscheinlich zu bezeichnen ist,216 ist umstritten. Ein Bezug wird in der Forschung für möglich gehalten, Brechts Entmythisierung des legendären Sturzes in den Vulkan soll sich auch auf die eventuell herangezogene Hölderlin-Quelle beziehen.217 Von manchen Literaturwissenschaftlern wird dies unhinterfragt hingenommen, um Überlegungen über die jeweilige Figur- und Motivbehandlung anzustellen.218 Andere Forscher bestreiten eine Verbindung,219 betrachten nur antike Texte als Quellen von Brechts Empedokles-Gedicht und kommen zum Schluss, Brecht habe „nicht den Umweg über die bürgerliche Tradition der europäischen Moderne“ genommen: „Selbst indirekte Anspielungen auf Hölderlins Empedokles-Dichtungen fehlen“ (Wagner 2000, 595). In einer bereits veröffentlichten Studie, auf die für Details verwiesen sei, habe ich zu beweisen versucht, inwieweit sowohl textuelle Elemente als auch kontextuelle Erwägungen für einen bewussten Rückgriff Brechts auf Hölderlin sprechen.220 In der vorliegenden Rekonstruktion der

|| 214 Bekanntlich sinnierte Brecht im gleichnamigen Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten, der gegenüber er andere favorisierte: „Wir / Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß / Wählend ein andres Land. [...] / Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte“ (GBA 12, 81). Darum wurden oben die Bezeichnungen kursiv markiert. 215 Als zweite unter den „Chroniken“, der dritten und mittleren Abteilung der Sammlung, nach und vor zwei Gedichten wie Fragen eines lesenden Arbeiters und Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. 216 Nicht nur als Lesedrama: Brechts Besuch oder zumindest Kenntnis von aktuellen EmpedoklesInszenierungen ist chronologisch möglich. In der zweiten Hälfte des März 1920 pendelt er zwischen Augsburg und München, wo im Prinzregententheater Otto Liebschers Empedokles-Inszenierung Premiere feiert; im Juni 1923 wohnt er trotz wiederholter Reisen in die Hauptstadt noch in München, während Der Tod des Empedokles in der Regie Legals in Berlin aufgeführt wird. Vgl. dazu Hecht (1997) 87f. sowie 158. Vgl. auch ebd., 218f. zur Zusammenarbeit mit Legal bei der Darmstädter Uraufführung von Mann ist Mann (25. September 1926; Legal spielte die Hauptrolle), also zu einer Zeit, in der im Landestheater die Inszenierung des Empedokles in vorbereitet wurde. 217 So etwa Müller (1979) 218. 218 So Marsch (1978) 278, Knopf (1984) 118 und selbst Schäfer (2001), der das Gedicht als „Rettung des Klassikers“ liest, in seinen Erwägungen aber über vage Parallelen nicht hinausgeht. 219 So Lausberg (1999), Wagner (2000) und Wagner (2001, im für die Forschung wichtigen BrechtHandbuch). Kürzlich nahm Primavesi (2011a) erneut Brechts Gedicht unter die Lupe, ohne den Hölderlin-Bezug auch nur zu erwägen. 220 Schon der auf den Leserhorizont anspielende Titel, der Hölderlins Tragödientitel parodiert bzw. korrigiert, scheint mir ein Anhaltspunkt dafür zu sein. Brecht kann seine Entmythisierung durch die Substitution des legendären Todes durch den irdischen Schuh erst dann bewerkstelligen, wenn er

306 | Ein Theaterjahrhundert Rezeption Hölderlins im Theater kommt dem Gedicht Der Schuh des Empedokles an sich keine zentrale Bedeutung zu; es gehört in eine Wirkungsgeschichte Hölderlins in der Lyrik des 20. Jahrhunderts, deren Brecht-Kapitel noch zu schreiben ist.221 Wenn man von einer Relation zu Hölderlin ausgeht, ist allerdings der Umstand von Bedeutung, dass die lyrische Empedokles-Transformation Brechts von einem Umdenken zeugt: Die drastische Hölderlin-Parodie der Weimarer Jahre ist einer komplexeren Auseinandersetzung gewichen. Die ‚Berichtigung‘ der antiken Legenden, bei der Brecht den mysteriösen Opfertod demontiert und Empedokles als listigen Lehrer zeichnet, kann als Beispiel eines Verfahrens gelesen werden, das Traditionen umschreibt. Wie bei der späteren Antigone-Bearbeitung werden ‚klassische‘222 Vorlagen im Zeichen der verfremdenden Dialektik von Historisierung und Aktualisierung variiert oder korrigiert.223

|| seine Bezüge zur Vorlage herausstellt, wie hier im Titel. Des Weiteren sprechen einige motivische Elemente für einen Hölderlin-Bezug (Wolke-Metapher, Philosoph-Jünger- und Intellektueller-VolkVerhältnis, vgl. Castellari 2008b, 77–81). 221 Im Oktober 1942 nennt Brecht selbst, in scheinbarem Widerspruch zu anderen Aussagen derselben Jahre, Hölderlin den einzigen (!) deutschen Dichter, von dem er sich beeinflusst fühlte: „f) Einflüsse: [...] Für Lyrik: Rimbaud, Kipling, Hölderlin, Villon, Lukrez“ (Brief an Gerhard Nellhaus; GBA Registerband:744). Bereits im Gedicht Goldne Früchte hängen (1914, GBA 13, 75), das Brecht sechzehnjährig in Augsburg verfasste, hat man Reminiszenzen aus Hälfte des Lebens erkannt (Berg/Jeske 1998, 91). Ein Songtext Brechts aus dem Exilstück Mutter Courage und ihre Kinder (1939) hat Anke Bennholdt-Thomsen mit Hölderlins Ganymed-Ode parallelisiert: Die Aussicht auf die Zukunft, die den hölderlinschen Bildern in den Nachtgesängen eigen ist, wirke „so politisch [...], daß Brecht sie im Lied seiner Mutter Courage verwenden konnte: ‚Das Frühjahr kommt! Wach auf, du Christ!‘“ (2002, 343). Der Vergleich ist mit Hölderlins Passage „Der Frühling kömmt. Und jedes, in seiner Art, / Blüht“ (StA 2, 68); bei Brecht eröffnen die erwähnten Verse den Refrain vom Lied der Mutter Courage (GBA 6, 10, dann im Finale wiederholt, 86). Ein recht filigranes Verhältnis, wie man sieht; gerade auf dieser Mikroebene von variierenden Filiationen wären weitere Untersuchungen zu Brechts Lyrik anzustellen, denn eine offene Hölderlin-Intertextualität ist kaum auszumachen. 222 Brecht, der „Berichtigungen“ konkret an antiken Mythen vornahm, wollte auf diese Weise jede vorgeformte Geschichte behandeln; unter ‚Klassikern‘ verstand er keineswegs nur antike oder für eine Nationalliteratur als ‚klassisch‘ geltende Autoren, sondern die Tradition insgesamt. Die Grundopposition ist bei ihm alt/neu, selbstverständlich dialektisch betrachtet: „Das Neue kommt aus dem Alten, aber es ist deswegen doch neu“ (Volkstümlichkeit und Realismus, 1938, vgl. GBA 22/1, 410, dazu neulich Dreyer 2014). 223 Zu Brechts Berichtigungen alter Mythen betitelten Prosastücken (früher auch: Kritik der Mythen / Zweifel am Mythos) vgl. GBA 19, 338–341. In diesen Texten aus den 1930er Jahren werden die Odysseus-, Kandaules- und Ödipus-Stoffe korrigiert (also: aus einer rationalen Perspektive heraus durch den Widerruf eines Kernaspektes erläutert). Davon ist der Begriff der Mythenkorrektur inspiriert, den Vöhler/Seidensticker (2005) 1f. als „paradoxal[e] Form der Mythenrezeption“ herausgearbeitet haben (1f.). Im selben Band kommt in Bezug auf Hölderlins Antigone Anke Bennholdt-Thomsen zu Wort. Ihre Überlegungen, nach denen eher ‚Revision‘ als ‚Korrektur‘ der geeignete Begriff für Hölderlins Arbeit am Mythos wäre, wobei Revision als „eine Übersetzung in modernes geschichtsbewußtes Denken und Dichten“ zu bezeichnen sein, sind für vorliegenden Kapitel aufschlussreich. Denn dort wer-

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Gegen einen bewussten Hölderlin-Rückgriff im Empedokles-Gedicht spricht jedoch, dass in Brechts sonstigem Schaffen und Denken der Exiljahre der schwäbische Dichter am Rande vorkam. Durch die Zusammenarbeit mit Hanns Eisler in Kalifornien, aus der das Brecht- und Hölderlin-Texte enthaltende Hollywooder Liederbuch entstand,224 kam es zwar zu einer zeitweiligen Annäherung Brechts an den Lyriker, er distanzierte sich jedoch auch von ihm und ließ sich vorerst nicht zu eigener produktiver Arbeit anregen.225 Brecht lobte Eisler ausdrücklich für den antiklassizistischen, produktiven, modernen Modus seiner Adaption: Der Musiker habe Hölderlin „entgipst“.226 Tatsächlich kann man darin die von Brecht willkommen geheißene Loslösung von jahrzehntelangen, feierlich-musealen Tendenzen der Hölderlin-Rezeption erkennen; auch die eigene ‚entgipsende‘ Arbeit an der Antigone ist darin vorweggenommen. Selbst eine Bearbeitung fürs Theater von Eislers Tondichtungen wird von Brecht in einer Arbeitsjournal-Notiz erwogen (25. Juni 1943);227 nicht einmal eine für Brecht eher unübliche melancholische Note fehlt, als er den Freund die HölderlinVertonungen komponieren sah und (zeitweilig) in poetischem Genuss schwelgte.228

|| den gerade Nähe und Distanz zwischen Hölderlins Antike-Moderne-Diskurs und Brechts (und Müllers) Antike-Aneignung für die Moderne gegeneinander abgewogen. Keine Politisierung und auch keine „konkrete Aktualisierung“ sei bei Hölderlin festzustellen, seines sei „[k]ein Modell für gesellschaftliche Praxis, wie es die Arbeit am Mythos bei Brecht und Heiner Müller erstellt“. Gleichzeitig arbeite Hölderlin in seiner Antigone-Übersetzung, wovon auch sein eigener Kommentar dazu in den Anmerkungen zeugt, im Sinne einer Mythenkorrektur (als Beispiel dienen hier etwa die Niobe- und Danae-Stellen), wenn er „bewußt anders übersetzt“. Diese Mythenrezeption weise auch eine „politische Komponente“ auf im Sinne des in den Anmerkungen evozierten republikanischen Geistes und sei „strukturell als Verständnismodell für Geschichte denn doch lehrreich“ (2005, 192–199). 224 Eislers Hollywooder Liederbuch enthält sechs Hölderlin-Fragmente, die allesamt 1943 vertont wurden; es handelt sich dabei um von Eisler textuell bearbeitete und teilweise mit anderen Titeln versehene Passagen aus Hölderlins Gedichten An die Hoffnung, Andenken, Der Frieden, Die Heimat, Heidelberg, Gesang des Deutschen. Die restlichen Vorlagen des Liederbuchs stammen aus früheren oder für die Gelegenheit entstandenen Gedichten Brechts sowie anderer Autoren. Dazu vgl. umfassend Albert (1991); für einen Überblick über weitere Hölderlin-Vertonungen Eislers vgl. Lawitschka (2002) 503f.; zu Erinnerungen Eislers an die Konstellation Brecht-Hölderlin im Exil vgl. Bunge (1971). 225 Nicht wenige Forscher sehen allerdings in Eislers Vermittlung einen entscheidenden Faktor für Brechts Annäherung an Hölderlin; vgl. Mittenzwei (1973), Weisstein (1973), Fehervary (1977), Knopf (1980) und Buck (1990). M.E. überwiegen damals bei Brecht recht widersprüchliche Auffassungen des Dichters; sicherlich gehörten Eislers, Benjamins und selbst Lukács’ Hölderlin-Bild zu seinen Referenzen, auch als er sich später an die Antigone setzte. 226 Eisler in Bunge (1971) 24. 227 In Eislers Hölderlin- und Anakreon-Liedern sah Brecht „eine Möglichkeit [...] zu dramatischen Chören zu gelangen, da die Vertonungen nunmehr ganz und gar gestisch sind“ (GBA 27, 154). 228 „Als Brecht mich den Hölderlin komponieren sah [...] sagte er, schlürfend vor Begeisterung, ‚...wo deine Sonne milde dem Künstler zum Ernste leuchtet...“ [...] Brecht war hingerissen, obwohl er sagte: ‚Hanns, bist du nationalistisch‘“ (Bunge 1971, 292). Die Verspassage stammt aus Hölderlins Gesang des Deutschen (vgl. StA 2, 3–6), die Anekdote stammt laut Eisler ungefähr aus der Zeit der Stalingrad-Schlacht. Aus den Gesprächen Eislers mit Bunge geht hervor, dass zum einen Brecht beim

308 | Ein Theaterjahrhundert Insgesamt blieb es jedoch bei einer von der Gegenwart her begründeten Skepsis, denn Brecht konnte nicht umhin, hinter Hölderlins Versen die pathetischen und nationalistischen Töne seiner Zeitgenossen zu hören, die den Dichter vor ihren Karren spannten; – und nicht nur auf der NS-Seite, wie noch zu sehen ist. Eine eigene produktive Auseinandersetzung mit Hölderlin fand vorerst nicht statt, Brechts Überlegungen zur lyrischen Sprache und seine Praxis als Lyriker gingen auf ausdrückliche Distanz zu zeitgenössischen Hölderlinismen.229 Noch auf finnländischem Boden hatte Brecht in einer oft zitierten Passage im Arbeitsjournal (22. August 1940) das eigene Programm der lyrischen „Sprachwaschung“ als Gegenmittel gegen eine angebliche Fehlentwicklung der deutschen Dichtung nach Goethe verstanden, insbesondere gegen jene „völlig pontifikale Linie“, die auf Hölderlin basiere und mit einem Stefan George „ganz offen konterrevolutionär, d.h. nicht nur reaktionär, sondern wirkend für die Konterrevolution“ sei (GBA 26, 416). Zu diesem undifferenzierten Befund, in dem eine grobe Gleichstellung Georgescher Traditionen mit der im NS-Deutschland grassierenden epigonalen Lyrik mitschwang, gesellte sich in den weiteren Kriegsjahren die parallele Ablehnung der orthodoxen ‚Moskauer‘ Linie eines Johannes Becher, der seinerseits die nationalen Klassiker, Hölderlin inklusive, als humanistisches Erbe gegen die nationalsozialistische Instrumentalisierung zu verteidigen versuchte, indem er sie tatsächlich ebenso stark idealisierte. Vehement reagierte Brecht in einer Arbeitsjournal-Notiz vom 10. November 1943 auf einen Artikel Bechers in der Exilzeitschrift Internationale Literatur, der ihm als ein „entsetzlich opportunistischer Quark, Reformismus des Nationalismus“ erschien. Bechers Sakralisierung des literarischen Kanons war für Brecht die falsche Lösung eines dringenden Problems – der Vereinnahmung der Klassiker seitens der NS-Propaganda –, denn sie wurde gerade mit jenen alten Mitteln bildungsbürgerlicher Klassikerverehrung betrieben, die Brecht selber seit Jahren bekämpfte:

|| Hören von anderen Textpassagen entsetzt war („Wie kannst du sowas komponieren!“), zum Anderen allerdings den Text vorher nicht gekannt hatte und gar nicht wusste, es stamme von Hölderlin. Die Ode, wie hier abschließend erinnert werden muss, gehörte im NS-Deutschland zusammen mit Der Tod fürs Vaterland zu den meistzitierten Texten Hölderlins. Wie Albert (2002) 444 mit Verweis auf weitere einschlägigen Studien meint, zeigt sich hier eine Paradoxie der damaligen Hölderlin-Rezeption: Genau dieselben Texte „konnten [...] einmal als Aufruf zu praktischer Bewährung an der Ostfront, zum anderen aber als Appell an das ‚andere‘ oder ‚bessere‘ Deutschland im Exil gelesen werden“. Vgl. oben die luzide Position Brechts gegenüber dieser befremdlichen Austauschbarkeit der pathetischen Hölderlin-Beschwörung, etwa im Falle Bechers. 229 Und nicht zu Hölderlin selbst! Brecht liest den Dichter seinem Literatur- und Kunstverständnis gemäß in seiner heutigen ‚Brauchbarkeit‘, deswegen ist die Polemik gegen rhetorisch-idealisierende Formen der Rezeption so scharf.

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„Aber dazu dieser gigantische Spießerüberbau?“, fragte sich Brecht empört. „Das Nationalistische ist bei Schiller, Goethe, Hölderlin für uns schon unerträglich“.230 „For Brecht, then, Hölderlin was still an anathema“, glossiert dazu Helen Fehervary (1977, 91). Der widersprüchliche Charakter von Brechts Einstellung zu Hölderlin bis 1945 wird so zu einer restlosen Ablehnung vereinfacht, der gegenüber sich die kurze intensive Arbeit an der Antigone-Übersetzung mehr oder weniger überraschend abhebt.231 Unmissverständlich sollte die konkrete Auseinandersetzung mit der, so Brecht selber, „erstaunlichen Radikalität“ der Sprache des späten Hölderlin ihn zwar zu anderer Ein- und Gesamtsicht führen.232 Der eminente Praktiker Brecht würde hier allerdings keinen grundsätzlichen Wandel erblicken, sondern sich nur in seinem Lieblingsspruch bestätigt sehen, dass sich die Qualität des Puddings erst beim Essen erweise. Erst bei einer eingehenden Auseinandersetzung mit Hölderlin sollten sein Dichterbild und seine Meinung über dessen Sprache eindeutig mehr Nuancen bekommen. Brechts Hölderlin-Rezeption bis 1945 pauschal unter dem Begriff ‚Ablehnung‘ zusammenzufassen, hält einer kritischen Prüfung kaum stand, denn einige bereits zitierte Aussagen zeugen von diskrepanten Positionen; sie ist darüber hinaus wenig ergiebig für die Interpretation der Antigone-Bearbeitung selbst, denn auch dieser wohnen widersprüchliche Momente im Verhältnis zur Vorlage inne. Voraussetzung dafür war ein Klassiker-Verständnis, das Verurteilung wie Idealisierung ablehnte und auf dem Modus aktueller Transformationen der Tradition bestand. Brechts Polemik war letzten Endes gegen seiner Meinung nach falsche Klassiker-Instrumentalisierungen gerichtet und nicht gegen den jeweiligen Klassiker selbst. Grob gesagt lag ihm Hölderlin (oder Goethe oder Shakespeare...) nicht per se am Herzen, sondern die Möglichkeit, Hölderlin (oder Goethe oder Shakespeare...) für die Gegenwart transformierend zu reaktivieren; in Umwandlung von Hölderlins Worten an Wilmans zu Sophokles könnte man sagen, dass Brecht darauf zielte, den jeweiligen Klassiker zu „verbessern“, um ihn „lebendiger als gewöhnlich dem Publikum darzustellen“.233

|| 230 GBA 27, 181. Bechers Artikel von 1943 „stink[e]“ laut Brecht „von Nationalismus. Wieder wird der Nationalismus der Hitler ganz naiv akzeptiert; Hitler hatte nur den falschen, Becher hat den richtigen“ (ebd.). 231 Bei Fehervary ist damit Brechts Exilrezeption Hölderlins derjenigen anderer marxistisch orientierter Intellektueller entgegengesetzt, denn für jene gilt: „If Hölderlin had previously represented the antipode to a materialist notion of culture, he was now integrated into the history of German revolutionary thought and practice. This link between Hölderlin and Marxism constitutes the focal point of the poet’s reception in exile“. Eine Skepsis Brechts wird auch noch bei der Antigone-Bearbeitung vorausgesetzt (1977, 43, 90). 232 Arbeitsjournal-Notiz vom 25. Dezember 1947; GBA 27, 258. 233 Vgl. 1.4 sowie StA 6, 434. Im Brief Hölderlins an Wilmans vom 28. September 1803 ist „die griechische Kunst“ Objekt der ‚lebendigeren Darstellung‘, ihr „Kunstfehler“ das der Verbesserung; konkret gemeint ist im Zusammenhang Sophokles mit Bezug auf beide übersetzte Tragödien.

310 | Ein Theaterjahrhundert Brechts Stellungnahmen gegen Becher stehen im Kontext damaliger Diskussionen unter antifaschistischen Schriftstellern und Intellektuellen, etwa im Fahrwasser der gerade damals in den Moskauer Exilzeitschriften geführten Expressionismus-Debatte und der noch in der Nachkriegszeit wirksamen Frontstellung zwischen orthodoxen Vertretern des sozialistischen Realismus und den experimentellen Künstlern, die des Formalismus bezichtigt wurden.234 Brechts schwankende Ansichten über Hölderlin sind vor dem Hintergrund der ineinander greifenden politischen, kulturellen und ästhetischen Diskurse zu lesen, die in Kreisen exilierter deutscher Schriftsteller geführt wurden. Von Eisler war bereits die Rede; auch Georg Lukács spielte eine Rolle: Brecht hat höchstwahrscheinlich dessen Hölderlin-Essay von 1935 gekannt, die erste gewichtige, noch lange die ‚linke‘ Rezeption prägende marxistische Interpretation, die ausdrücklich als Antwort auf „die grob-demagogische, kraß-lügenhafte Schändung seines [Hölderlins; M.C.] Andenkens durch die Braunhemden der Literaturgeschichte“ intendiert war.235 Der Essay konzentrierte sich vor allem auf den Hyperion und die Dichterbiographie und stellte Hölderlin als Revolutionär dar, der in eine „tragische Sackgasse“ geraten sei und in dessen „idealistische[m] Nebel“ allerdings „die noch unerkannten zukünftigen Wege der dialektischen Erkenntnis verhüllt“ seien. Einige Aspekte von Brechts Hölderlin-Vorverständnis bei der Antigone-Bearbeitung können wohl darauf zurückgeführt werden.236 Die intensive, kritische Auseinandersetzung Brechts mit seinem Gegenspieler Lukács Ende der 1930er Jahre lässt darüber hinaus vermuten, dass bereits damals auch die Hölderlin-Studie Teil seiner Lektüren war. Als dann während der Antigone-Bearbeitung Brecht nachweislich aus Lukács’ Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe las,237 brauchte er nur in dem Band Goethe und seine Zeit zu blättern, um auch den anderen Essay über Hölderlin (wieder) zu finden.238

|| 234 Aus der Perspektive Brechts erläutert diese Debatten Raimund Gerz (2003a und 2003b). 235 Lukács (1935) 185. Einführend zu Lukács’ Beitrag zur und Einfluss auf die Hölderlin-Forschung mit besonderer Berücksichtigung von dessen Hyperion-Interpretation vgl. Castellari (2002) 193–202. 236 Lukács (1935) 174ff. Auch Brechts Verachtung für Georges Hölderlin-Linie kann man mit Lukács’ Essay verbinden, wo von einer Verdrehung Hölderlins bei George die Rede ist (vgl. ebd., 182f.). 237 Vgl. etwa die Arbeitsjournal-Notiz vom 26. Dezember 1947 („lese Lukács’ ‚Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe‘“, GBA 27, 259); in Vermerken der ersten Tage von 1948 geht Brecht dann auf die Quelle direkt ein. Bezüge zur Antigone-Bearbeitung werden nicht explizit hergestellt; im kurz darauf entstandenen Vorwort zum Antigonemodell wird Schillers Brief an Goethe vom 26. Dezember 1797 allerdings kommentiert (vgl. GBA 25, 75). 238 In Frage käme etwa die Berner Ausgabe 1947 von Lukács’ Aufsatzsammlung. Wenn man die oben erwähnten Spuren verfolgt, so kann man allerdings vermuten, dass Brecht dem Hyperion-Essay von Lukács bereits in der Erstveröffentlichung in Internationale Literatur (1935, Heft 6) begegnet war, einer Zeitschrift, die er nachweislich las. In Brechts Die Essays von Georg Lukács (1938) wird Hölderlin nicht erwähnt, allerdings listet die GBA auch den Hölderlin-Aufsatz unter jenen auf, die Brecht wohl zur Verfügung standen (22/1, 456f.; 22/2, 1046).

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Wie man sieht, nahm Hölderlin vor der Antigone-Bearbeitung keine zentrale Stelle in Brechts literarischer Praxis und Ästhetik ein; er tauchte punktuell auf, wurde aber kaum eindeutig beurteilt (und sicherlich nicht als „anathema“ verurteilt). In sehr wenigen Texten Brechts sind Spuren produktiver Auseinandersetzung zu erkennen, eine extensive Kenntnis des Oeuvres Hölderlins hatte er wohl nicht, aber auch von tabula rasa kann man nicht sprechen. Brecht sah den schwäbischen Dichter aus der Perspektive der gegenwärtigen Rezeption, von der er einige Beispiele und manche Tendenzen kannte. Gemessen an anderen ‚Klassikern‘ im brechtschen Sinne spielte Hölderlin weiterhin eine quantitativ untergeordnete Rolle; die widersprüchlichen Belege können als repräsentativ betrachtet werden für die Art und Weise, wie Brecht sein Verhältnis zur literarischen Tradition und insgesamt die Funktion der ‚Klassiker‘ in der gegenwärtigen Kunst und Gesellschaft verstand. Diese war die Ausgangssituation, als Brecht auf Rat von anderen Hölderlins Antigone-Übersetzung als Vorlage für eine Bearbeitung und Inszenierung nahm. Den Text kannte er anfangs kaum oder gar nicht, er sollte ihn kurz, aber intensiv beschäftigen. Danach sollte Hölderlin wieder rar und marginal in Brechts Werk werden; in seinen letzten Lebensjahren gibt es nur wenige Hinweise auf Hölderlin und die sind so gut wie nichtssagend.239 Vielmehr als der Dichter selbst war es der an ihm erprobte Modus der Klassikeraneignung, der Früchte trug. Die „erhöhte Bühnensprache“, die Brecht sich als Resultat der Arbeit an Hölderlins Diktion versprochen hatte, konnte er kaum in der nachlassenden dramatischen Produktion weiterentwickeln;240 er vererbte sie jedoch, wie noch zu sehen ist, an jüngere Dramatiker. Brechts Theaterarbeit, die in jenen DDR-Jahren Priorität vor dem Stückeschreiben hatte, verfolgte weiter die Frage der Klassiker-Bearbeitung und -Inszenierung an anderen Beispielen. Das Antigonemodell wurde als erster Versuch der Fixierung in vielem stilbildend – für das frühe Berliner Ensemble und noch stärker für spätere Unternehmungen anderer Autoren und Künstler im internationalen Kontext.

|| 239 Vgl. für Details Castellari (2004) 150f. Neben dem Kauf einer Gedichte-Ausgabe (1948) und einem Ratschlag für den Schulkanon (1951) sind Überlegungen zur „Volkssprache“ auf der Bühne, die ihn zu Hölderlin führen. Es handelt sich beim letzten Hinweis um eine Passage aus dem postum erschienen Couragemodell; die dort geäußerte Forderung, Hölderlin (wie Schiller) „im schwäbischen“ Dialekt zu sprechen, könnte damit zusammenhängen, dass Brecht bei der Bearbeitung der AntigoneÜbersetzung „schwäbische Tonfälle“ bzw. den „schwäbische[n] Volksgestus“ herausgehört hat. Vgl. GBA 25, 180 (Couragemodell); 27, 255, 258 (Arbeitsjournal, 16. und 25. Dezember 1947); 29, 440 (Brief an Stefan Brecht, Dezember 1947). 240 Vgl. allerdings Müller (2009) 200 und Forte (2008 und 2009) für eine Rückbindung dieser Suche nach einer freieren Behandlung des Verses im Drama an Brechts Überlegungen, etwa Über reimlose Lyrik in unregelmäßigen Rhythmen (1939).

312 | Ein Theaterjahrhundert

3.2.1.2 „Antigone mit Verfremdungseffekt“.241 Hölderlin-Zitat, -Variation und -Imitation in Brechts Bearbeitung Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil (1. November 1947) verbrachte Brecht nur wenige Tage in Paris, um dann in die Schweiz überzusiedeln.242 Hier traf er den engen Freund und Mitarbeiter Caspar Neher wieder, wie auch – zufällig – jenen Hans Curjel, der ihm seit den Berliner Jahren bekannt war und nun das Churer Stadttheater leitete. Schnell kam es zur Idee, dort eine Inszenierung einzurichten; unter den erwogenen Stoffen entschied man sich für die Antigone des Sophokles. Brecht verwarf die anderen Optionen – die zwei eigenen Stücke Mutter Courage und ihre Kinder und Die Heilige Johanna der Schlachthöfe und die beiden ‚Klassiker‘ der Neuzeit Phèdre und Macbeth –, wobei über die Gründe dafür spekuliert werden kann.243 Alle Dramen hätten eine herausragende Frauenrolle für Helene Weigel geboten, deren Comeback nach vielen Jahren zu den wichtigsten Gründen für die schnelle Organisation einer Inszenierung in Chur gehörte; bis auf die Johanna wären sie eigentlich alle altersmäßig geeigneter als Antigone gewesen. Brecht wollte wohl keinen eigenen Text nehmen, er dachte eher an ein Warmlaufen vor dem ‚richtigen‘ Wiederauftritt.244 Er sah offensichtlich in der Arbeit an einer griechischen Tragödie die Möglichkeit, sowohl praktisch als auch theoretisch die eigenen ‚anti-aristotelischen‘ Strategien zu

|| 241 Die Bezeichnung stammt von Caspar Neher aus den ersten Tagen der gemeinsamen Arbeit: „13. Dez 1947 [...] Abends 7h kommt Brecht. Antigone mit Verfremdungseffekt“ (zit. bei Hecht 1997, 988). 242 Unbewiesen bleibt, ob in den wenigen Tagen in Paris, die u.a. auch mit Theaterbesuchen gespickt waren, Brecht (in)direkten Kontakt mit Anouilhs Antigone hatte (1944). Philipsen (1998) und stärker Philipsen (2001) 22 sehen in Brechts Antigone das programmatische, Riedel (2002) 315 „das faktische Gegenstück zur ‚Antigone‘ Anouilhs‘“. Den nunmehr klassischen Vergleich beider Bearbeitungen stellte bereits Chancellor (1979) an, der auch Hölderlin miteinbezog; aus der Perspektive der Bühnenwirkung vgl. Flashar (1991) 173–178 resp. 186–193. 243 Zur Entscheidung für Antigone, zur Bearbeitungsentstehung, zu stilistischen und inhaltlichen Aspekten sowie Hinweisen zur Rezeption vgl. einführend Joost (2001a). 244 Vgl. neben den bereits angeführten Belegen die Rede von „preview für Berlin“ (An Stefan Brecht, Dezember 1947, GBA 29, 440) oder von einem „try out für Berlin“ (So im Brief an Lion Feuchtwanger vom März 1948, ebd., 445).

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verfeinern;245 wahrscheinlich ist bereits in dieser Orientierungsphase der Gedanke einer stofflichen Aktualität der Antigone in jenen unmittelbaren Nachkriegsjahren.246 Was die Gründe für den Rückgriff auf die Übersetzung Hölderlins angeht, sind die Quellen hingegen überdeutlich; hier ist für Spekulationen kaum Raum. „Auf Rat von Cas“, das heißt Caspar Neher, „nehme ich die Hölderlinische Übertragung“, lautet die Arbeitsjournal-Notiz vom 16. Dezember 1947 (GBA 27, 255). Neher kannte sie aus eigener Erfahrung, denn er hatte das Bühnenbild für die erste Nachkriegsinszenierung der Antigone in Hölderlins Übersetzung geschaffen (15. Februar 1946); Höchstwahrscheinlich stellte er Materialien und nicht nur Ideen aus jener Hamburger Inszenierung der Churer Produktion zur Verfügung.247 Brecht hingegen hatte keine genaue Vorstellung von Hölderlins Übersetzung und von deren Bühnenwirkung, son-

|| 245 Zeitgleich mit der Antigone-Bearbeitung und -Inszenierung nahm Brecht die Arbeit am Kleinen Organon für das Theater auf, in dem er verstreute theaterästhetische Überlegungen aus der Exilzeit (etwa Der Messingkauf) und bereits in den Weimarer Jahren formulierte Gedanken über das ‚epische Theater‘ systematisierte. Bekanntlich verstand Brecht seine Theaterästhetik und -praxis als eine antiaristotelische. Allerdings war es weniger der antike Theoretiker als vor allem die als letzte Folge des Aristotelismus betrachtete mimetische Tradition des europäischen Theaters des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die im Mittelpunkt von Brechts Polemik stand (gegen Einfühlung zugunsten einer kritischen Haltung). Zu Aristoteles selbst ist Brechts Distanz kleiner. Vom attischen Theater, auf das Aristoteles’ Poetik ja reagierte, schätzte Brecht die epischen Elemente und gleichsam sozusagen ‚Ur‘-Verfremdungseffekte; darauf kam er bezeichnenderweise im Antigonemodell zu sprechen, vor allem mit Bezug auf die „Einschnitte der Chöre“, vgl. das Vorwort in GBA 25, 75. Eine interessante Untersuchung der epischen Funktion dieser Chöre in Brechts Umwandlung der ursprünglichen antiken Verhältnisse legte Baur (1999) vor. 246 Im Antigonemodell wird die „[...] gewisse Aktualität“ ausdrücklich vermerkt (Vorwort, vgl. GBA 25, 74). Parallelen zwischen Brechts und Hasenclevers Antigone-Stücke erarbeitet anhand des jeweiligen Kriegsbezugs Kotsiaros (2006); bereits Elwood (1972) stellte den Vergleich an, allerdings erscheint dessen These von „Brechts indebtness to Hasenclever“ angesichts der Quellenlage als unhaltbar (50). Es sei hier bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, dass Brechts Antigone selbstverständlich in allen Rekonstruktionen der Mythenrezeption mehr oder weniger eingehend erläutert wird, im Klassiker Steiner (1984) 192–194 etwa, kurz aber positiv, oder eingehender bei Molinari (1977); neuerdings bei Fornaro (2012). Alternativ wird in diesen Studien der Bearbeitung Bedeutung beigemessen, so bei Steiner und überhaupt traditionell, oder dem Modell, wie bei Molinari und in den meisten theaterwissenschaftlich orientierten Untersuchungen, wobei das Projekt jeweils als Ganzes gewürdigt wird. Abwegig erscheinen Ansätze, in denen eine der beiden Aspekte zu stark herabgewürdigt wird, vgl. etwa bei Ghiglione (1998) 85ff. die Behauptung, die Bearbeitung gleiche in einigen Passagen einer schnell zusammengesetzten Strichfassung. 247 Neben möglichen szenischen und bühnenbildnerischen Elementen ist für Brechts Entscheidung für Hölderlin die Möglichkeit von Belang, dass Neher der Churer Produktion die Hamburger AntigoneEdition zur Verfügung gestellt haben könnte. Dass Brecht jene Ausgabe meinte, als er im Januar 1948 an Ruth Berlau schrieb und auf eine Antigone von Nehers Frau Bezug nahm („Hoffentlich hast du die Antigone von Erika Neher geholt“, GBA 29, 438), ist möglich. Vgl. unten für die während der Probenarbeit erfolgte, vielleicht durch einen Blick in die Hamburger Fassung inspirierte Einarbeitung von Passagen aus Hölderlins früherem Übersetzungsbruchstück.

314 | Ein Theaterjahrhundert dern nur vage Kenntnisse, wohl aus zweiter Hand, die auch zu irrtümlichen Behauptungen führten. So heißt es etwa zu einem Zeitpunkt, als der Großteil der textuellen Bearbeitungsarbeit angeblich bereits erledigt war, es handele sich um eine „ziemlich getreue Übertragung aus dem Griechischen“.248 Im Arbeitsjournal wird überdies behauptet, „die Hölderlinische Übertragung“ werde „wenig oder nicht gespielt, da sie für zu dunkel gilt“:249 Das Zweite mag eine verbreitete Meinung wiedergeben, das Erste ist jedoch eine Fehleinschätzung. Weitere Aussagen Brechts, auf die noch zurückzukommen ist, zeugen von der Überraschung angesichts einiger stilistischen und inhaltlichen Merkmale von Hölderlins Übersetzung und Kommentar: Diese Reaktionen lassen sich ebenso auf mangelnde Vorkenntnisse zurückführen. Hier sei zuerst auf die Chronologie der Bearbeitungsentstehung eingegangen, denn sie zeugt indirekt auch von diesem Hölderlin-Effekt, der zu ungeplanter Weiterarbeit und teilweise auch Kursänderungen führte. Brecht behauptete in derselben Arbeitsjournal-Notiz vom 16. Dezember 1947, er habe „zwischen 30.11. und 12.12. eine Antigonebearbeitung fertiggestellt“ (GBA 27, 255). Die sehr schnelle Arbeit, die wie üblich eine Teamarbeit war, führte jedoch, wie weitere Aussagen belegen, zu keiner abgeschlossenen, geschweige denn endgültigen Fassung.250 Über Weihnachten und die Jahreswende ging die Arbeit weiter. Als am 13. Januar die Proben begannen, war der Text auch nicht definitiv fertig, bis zur Uraufführung am 15. Februar wurden weitere Veränderungen vorgenommen.251 Dies ist an sich wohlgemerkt keineswegs verwunderlich, zumal bei Brecht. Hoch interessant ist dabei aber der Umstand, dass dieses kontinuierliche Feilen von der Auseinandersetzung mit Hölderlin herrührte, was Brecht schnell zu einer am Anfang der Arbeit kaum beabsichtigten Vertiefung in den sprachlich-dramatischen Gehalt der Vorlage und zur partiellen Überprüfung einiger Grundtendenzen der Stoffbearbeitung selbst führte.252

|| 248 Vgl. den Brief an den Sohn Stefan, in dem von einer bereits abgeschlossenen ersten Fassung der Bearbeitung die Rede ist (Dezember 1947, GBA 29, 440). 249 16. Dezember 1947; GBA 27, 255. Diese Unkenntnis über die breite Rezeption der Antigone Hölderlins im Theater der 1940er Jahre ist umso mehr verwunderlich, als Caspar Neher durch Kontakte und indirekte Erfahrungen bei seiner Tätigkeit im NS-Theater davon doch sehr gut informiert gewesen sein musste. 250 In der GBA heißt es hingegen: „Nach knapp zwei Wochen ist der gesamte Text fertig“ (8, 489). 251 Vgl. die Notiz im Arbeitsjournal vom 25. Dezember 1947 („Am Weihnachtsabend ist Cas mit Erika da. Wir arbeiten an der Antigone“, ebd., 259). Bereits Briefstellen aus den unmittelbaren Tagen nach der angeblichen Fertigstellung der Bearbeitung am 12. Dezember zeigen, dass Teile noch fehlten (vgl. die Briefe an Ruth Berlau, GBA 29, 436–438). Wahrscheinlich ist, dass eine erste Fassung Mitte Dezember (allerdings erst um den 15.) fertig war, die über Weihnachten und um die Jahreswende bearbeitet wurde zu einer neuen Fassung, die den Proben zugrunde lag. 252 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Brechts intensives Spracherlebnis im Kontakt mit der Diktion des späten Hölderlin auch einen ausgeprägten Genusscharakter hatte, wie er typisch für Brecht war. Dass er sich bei dieser Hölderlin-Arbeit intellektuell amüsierte, ist aus den hier mehrmals zitierten Briefaussagen oder Arbeitsjournal-Notizen herauszulesen; dort wird der emotionale Moment

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Als ein sprachliches Erlebnis beschrieb Brecht selber die Begegnung mit der Antigone-Übersetzung, wozu auch die persönliche Situation des aus dem Exil Zurückehrenden beitrug. „Die Rückkehr in den deutschen Sprachbereich“ habe ihn „in das Unternehmen“ getrieben, was nur bedingt stimmt, denn wie erwähnt waren eher externe Gründe für den Rückgriff auf Hölderlin verantwortlich, aber viel über die unerwartet emotionale Auseinandersetzung mit dem Text besagt. „Schwäbische Tonfälle und gymnasiale Lateinkonstruktionen“, sogar „Hegelisches“, die er in der Vorlage gefunden habe, erzeugten eine Art Heimatgefühl.253 Am ersten Weihnachtstag notierte Brecht, „Hölderlins Sprache verdiente tieferes Studium, als ich ihr diesmal widmen konnte“, denn: „Sie ist von erstaunlicher Radikalität“.254 Diese Radikalität und das Erstaunen darüber nutzte Brecht erwartungsgemäß auch für eigene Zwecke, im Sinne der Verfremdung, indem er den Effekt von Hölderlins Duktus auf Schauspieler und Publikum übertrug und ihn in die ‚epische‘ Konstruktion von Text und Inszenierung einarbeitete.255 Besagte Radikalität führte ihn aber auch dazu, dem eigenen Bearbeitungstext eine komplexe intertextuelle Beschaffenheit zu geben, in der Hölderlins Sprache als Material auf verschiedene Art und Weise reaktiviert und transformiert ist und zum Modell für die Suche nach einem der Gegenwart angemessenen, Historisierung und Aktualisierung zusammenhaltenden Stil wird. Zum ersten Mal nach Theaterexperimenten der frühen 1920er Jahre,256 stellte Brecht dabei luzide

|| nicht verschwiegen, der beim Abtauchen in die Muttersprache entstand. Eine Notiz Ruth Berlaus erinnert uns daran, dass auch die inszenatorische Arbeit durch diese Note gekennzeichnet war: „Ich war fasziniert, mit wieviel Spaß Brecht die Antigone probierte“ (Hecht 1997, 811f.). 253 „Ich finde schwäbische Tonfälle und gymnasiale Lateinkonstruktionen und fühle mich daheim“ (Arbeitsjournal, 16. Dezember 1947; GBA 27, 255). 254 Arbeitsjournal, 25. Dezember 1947; GBA 27, 258. 255 Im Kontrast zwischen dem Vorspiel und dem Tragödienbeginn ist die sprachliche Verfremdung markant bemerkbar, zieht sich dann aber durch das ganze Stück, auch wenn das sprachliche Niveau so gut wie gleichmäßig bleibt. Der hohe Duktus, dessen ‚Dunkelheit‘ Brecht durch seine imitierende Bearbeitung nur steigerte, wurde absichtlich im Sinne einer erschwerten Verständlichkeit eingesetzt: „Diese Chöre, wie auch manche Stellen des Gedichts, können beim einmaligen Anhören kaum voll verstanden werden. Teile von den Chören klingen wie Rätsel, die Lösungen verlangen. [...] Die Bearbeitung wollte diese Schwierigkeit, deren Überwindung so viel Freude macht, nicht einfach beseitigen“ (so im Rückblick in den Anmerkungen zur Bearbeitung für die deutsche Premiere 1951 in Greiz, vgl. Hecht 1988, 215). Dann wurde die Verfremdung durch die ‚epische‘, ‚gestische‘ Spielweise erzeugt, wie Brecht selber im Vorwort zum Antigonemodell exemplarisch an der Einsetzung der sog. Brückenverse und der Masken und an dem „sehr rasch[en]“, ein restloses Verstehen verhindernden „Tempo der Aufführung“ erläuterte (vgl. GBA 25, 79f.). Durch diese Priorität des (hier noch: erzählenden) performativen gegenüber dem mitteilenden Charakter antizipierte bzw. beeinflusste Brecht Aspekte der sprachlichen Transformation Hölderlins im späteren Drama und Theater, in denen allerdings für Brecht noch zentrale dramaturgische Elemente (Handlung, Personen usw.) ebenso verabschiedet werden sollten (vgl. etwa bei Müller oder Jelinek 3.2.5, 3.2.6). 256 Gemeint ist die Marlowe-Adaption Leben Edwards des Zweiten von England (1924), die aus der Zusammenarbeit mit Lion Feuchtwanger entstand. Brecht stellte also den elisabethanischen hohen

316 | Ein Theaterjahrhundert fest, unternahm er damit den „Versuch, aus gegebenen klassischen Elementen eine erhöhte Bühnensprache zu entwickeln“.257 Um das recht verwickelte intertextuelle Ergebnis von Brechts Bearbeitung und den zugrundeliegenden variierend-imitierenden Gestus genauer zu erörtern, seien hier einige Koordinaten zur Quellenlage gegeben. Neben dem eigentlichen Bearbeitungstext („Stücktext“, Die Antigone des Sophokles) ist Brechts Arbeit in einem Textkorpus dokumentiert, der partiell im Antigonemodell neben dem bildlichen Komplex abgedruckt wurde. Ein Teil davon wurde auch konkret während der Proben oder in der Inszenierung performativ realisiert. Weitere Textmaterialien kommentierender oder inszenierungsbegleitender Art liegen erst in Dokumentationen (Hecht 1988) bzw. in der Gesamtausgabe vor; sie wurden teilweise bereits zitiert und sollen im Folgenden nach Bedarf für die Interpretation herangezogen werden.258 Im Modellbuch abgedruckt wurde dann als erstes das Vorwort von Brecht und Neher, das allerdings als letzte Aussage über den Gesamtprozess von Bearbeitung und Inszenierung betrachtet werden muss. Regieanweisungen und sog. Brückenverse (Antigone-Legende) begleiteten dann den Text-Bild-Komplex. In fast all diesen im Modell enthaltenen Texten lassen sich Spuren der Auseinandersetzung mit Hölderlin erkennen. Das gleiche gilt für das Vorspiel, das die Antigone-Bearbeitung im Druck eröffnete, wie es auch die Churer Inszenierung eröffnet hatte.259 Dieser knappe szenische Text spielt, wie dort ausdrücklich vermerkt und in der Inszenierung durch Schilder deutlich gemacht wurde, im Berlin der letzten Kriegstage. Im April 1945 werden zwei Schwestern mit dem Mord an ihrem Bruder konfrontiert, dessen Körper draußen hängt; ein SS-Mann betritt ihre Wohnung und bezeichnet ihn als Volksverräter, woraus sich die Konfrontation entwickelt. Über den Ausgang der dramatischen Skizze, die aktualisierend auf die Antigone-Problematik verweist, erfährt man kaum etwas, das Vorspiel hat keinen bzw. einen offenen Schluss.260 Stattdessen beginnt unvermit-

|| Stil, den er etwa im Arturo Ui, politisch-parodistisch einsetzte, und den Duktus von Hölderlins Sophokles auf eine Stufe: auf die ‚Klassiker‘-Stufe. 257 So im Brief an den Sohn Stefan vom Dezember 1947 (GBA 29, 440). 258 Neben den privaten Quellen (Arbeitsjournal-Notizen und Aussagen in Briefen) sei hier auf zwar im Antigonemodell nicht publizierte, gleichwohl für die Öffentlichkeit gedachte Materialien hingewiesen. Im Programmheft der Churer Inszenierung (Hecht 1988, 175–180), das von Brechts Antigone-Gedicht eröffnet wurde, lasen die Zuschauer Texte von K[arl] G[ottlieb] Kachler, vom Intendanten Hans Curjel und vom Bühnenbildner Caspar Neher. Bereits diskutiert wurden die ebendort abgedruckten knappen Angaben zu Helene Weigel und die Hölderlin-Texte Aphorismen (vgl. Anm. 194 und 205). Wohl nur für das Greizer Ensemble wurden jene Anmerkungen zur Bearbeitung geschrieben, die zusammen mit dem neuen Prolog nach Thüringen geschickt wurden (Hecht 1988, 214–217). Das gesamte Textkorpus zur Antigone-Bearbeitung war, wie man sieht, groß und typologisch differenziert. 259 Vgl. GBA 8, 195–199 sowie die Variante zum Schluss, ebd., 493. 260 In der früheren, in Chur noch gespielten Variante (1948) erzählte zum Schluss die erste Schwester im klassisch ‚epischen‘ Stil, wie die Konfrontation der zweiten mit dem SS-Mann um den Körper

Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 317

telt die ‚richtige‘ Handlung der Antigone, mit dem berühmten Gespräch im Morgengrauen der antiken Schwestern Antigone und Ismene über das Bestattungsverbot, das ihr Onkel Kreon über den Leichnam ihres Bruders Polyneikes verhängt hat. Dem abrupten Wechsel der szenischen Ort- und Zeitkontexte, der verfremdend dem Zuschauer die Dialektik von Historizität und Aktualität des Darzustellenden vermitteln und seine kritische Haltung gegenüber dem Bühnengeschehen fördern soll, entspricht sprachlich-stilistisch der unvermittelte Übergang vom Knittelvers mit volkstümlichen Elementen und lutherbiblischen Reminiszenzen des Vorspiels zum hohen Duktus der Sophokles-Hölderlin-Bearbeitung Brechts.261 Das Vorspiel, in dem keine Spuren Hölderlins zu finden sind, spielt also indirekt auf die Antigone-Bearbeitung, der es vorangestellt ist, an, indem es zunächst die Zuschauererwartungen hinsichtlich der hohen tragischen Sprache (Sophokles/Hölderlin, die beide im Inszenierungstitel antizipiert sind) enttäuscht, während es stofflich Aktualität und Mythos parallelisiert. In einem zweiten Schritt lässt der jähe zeitliche und sprachliche Ruck ‚nach hinten‘ stilistische Überhöhung und historische Distanz noch stärker verspüren. An der nun einsetzenden ersten Rede der Antigone, zu Beginn ihrer Tragödie, soll exemplarisch gezeigt werden, wie Brecht bei der Bearbeitung von Hölderlins Übersetzung verfuhr; weitere Beispiele werden spezielle Aspekte verdeutlichen. Brechts Verfahren kann man typologisch als Einsatz von drei verschiedenen intertextuellen Praktiken (Genette 1982) im Verhältnis zur Hölderlin-Vorlage beschreiben: Zitat,262 Variation und Imitation. Diese breite Palette an Transformationsmodi ermöglicht Brecht, der als erster in der hier rekonstruierten Rezeptionsgeschichte eine derartig vielschichtige Arbeit an Hölderlins Text vorlegt, einen recht freien Umgang mit vor allem inhaltlichen Aspekten der Tragödie.263 Darüber hinaus gestattet sie ihm eine

|| des Bruders endete: „Und als er hat nach ihr gelangt / Hat meine Schwester nicht geschwankt / und als sie ihm das Messer eintrieb / Da war mir meine Schwester lieb“ (ebd.). Was danach geschah, blieb offen, die Ausgangsituation, ein mit dem Antigone-Stoff vergleichbares Geschehen, war allerdings gegeben. In der abgedruckten Fassung (1949) schloss das Vorspiel ganz offen ab: Die erste Schwester fragte sich nur: „Da sah ich meine Schwester an. / Sollt sie in eigner Todespein / Jetzt gehen, den Bruder zu befrein? Er mochte nicht gestorben sein“. Der Gewaltakt der ersten Vorspielfassung wurde also widerrufen, die Nähe zum unmittelbar danach einsetzenden Tragödiengeschehen zeichnete sich stärker ab. 261 Doering (2011) 146 stellt einen Vergleich mit Schiller her: Wie in der Wallenstein-Trilogie die Knittelverse von Wallensteins Lager mit dem hohen Stil der darauffolgenden zweiten und dritten Trilogieteile kontrastiert, so verhalte es sich hier zwischen Vorspiel und Stücktext. 262 Vgl. auch bei Savage (2008) die Herausarbeitung eines anders nuancierten, weniger intertextuell und eher kulturwissenschaftlich ausgerichteten Begriffs der citation zur Ausdifferenzierung von Brechts Modalität der Hölderlin-Rezeption gegenüber Interpreten wie Adorno oder Heidegger. Bei Savage ist citation immer auch schon distortion (169), damit umfasst er so gut wie die die ganze Transformationsstrategie Brechts. 263 Brecht vermerkte, dass die inhaltlich eingreifenden Modifikationen in den von ihm hinzugedichteten Passagen stattfanden: „Die Änderungen, die mich zum Schreiben ganz neuer Partien zwangen,

318 | Ein Theaterjahrhundert produktive Aneignung von Hölderlins Stilmitteln für das Drama und Theater der Gegenwart. Dabei ließ sich Brecht von den Sorgen, die andere Bearbeiter Hölderlins umtrieben, nicht stören. Weder eine Restitution des Textes noch eine Hommage an den Dichter/Übersetzer, weder eine humanistische Besinnung auf ewige Werte noch eine wohlwollende Berichtigung mancher ‚falschen‘ Stellen schwebte ihm vor. Zitat, Imitation und Variation waren für ihn Mittel, das ‚klassische‘ Material nutzbar für die Bühne hier und heute zu machen. Nicht nur war ihm jede Form der (philologischen) Treue gegenüber der Vorlage fremd; ‚Treue‘ kam für ihn, den Theaterpraktiker, einem regelrechten Bühnentod gleich. Brecht hütete sich auch davor, die berüchtigte ‚Dunkelheit‘ des Textes zu glätten, vielmehr potenzierte er sie.264 Die Frage der Übersetzungsfehler spielte für ihn ebenso keine Rolle. Textbelege zeigen, dass er zwar einige Stellen näher ans griechische Original brachte; weitere fehlerhafte oder umstrittene Stellen wurden jedoch beibehalten. Überhaupt ist eine Übereinstimmung mit Sophokles’ Antigone Brecht noch weniger wichtig als die mit Hölderlins Übersetzung.265 Die erste Szene des ersten Aktes von Hölderlins Antigone-Übersetzung (ein Schwesterngespräch von insgesamt 101 Versen) wird bei Brecht, der seine Bearbeitung nicht mit Zahlen einteilt, zu einem Block von 105 Versen. Die erste Rede der Protagonistin lautet bei Hölderlin (links) und bei Brecht (rechts) wie folgt. Kursiv gesetzte Stellen sind entweder wörtliche oder variierte Übernahmen. Brecht arbeitet in seinen

|| sind gemacht, um die griechische ‚Moira‘ (das Schicksalshafte) herauszuschneiden“ (An Stefan Brecht, Dezember 1947; GBA 29, 440). 264 Der Autor ist hier mit der Forschung einig, auch wenn sie oft der Sinn von Brechts weiterer ‚Verdunkelung‘ als Schwäche des Bearbeiters angeprangerte, vgl. etwa bereits Pohl (1969) 265 („Brechts unbestrittene Meisterschaft in der Verwertung vorgeprägter Sprachformen“ erreiche „an den Dimensionen der Sprache Hölderlins ihre Grenze“) und Weisstein (1973), dann entschieden Flashar (1991) 189f.: „Keineswegs ist Brechts Text eine Vereinfachung, vielfach sogar eine Erschwerung bis zur Unverständlichkeit [..] Es ist mehr ein Manipulieren als ein Durchrationalisieren des Textes“. Vgl. detailund nuancenreicher Frick (1998), wo die „Kontamination von Esoterik und Volksgestus“ seitens Brecht nachgezeichnet und dessen stilistische Strategie einleuchtend erörtert werden (512). 265 Analytisch ging ich in Castellari (2004) 165–167 darauf ein. Hier nur einige Koordinaten zur Orientierung. Brecht konnte entweder persönlich oder mit Hilfe von Mitarbeitern bzw. Ratgebern andere Übersetzungen bzw. das griechische Original zu Rate ziehen (dazu auch Ruth Berlaus nicht ganz zuverlässige Erinnerung, Brecht habe „verschiedene Übersetzungen von Sophokles geprüft – ich sah sogar einen Text in Griechisch, denn Brecht hatte jemanden gefunden, der ein bißchen Griechisch beherrschte – und sich dann für die Hölderlinsche Bearbeitung entschieden“, Hecht 1988, 184). Dadurch erklären sich Passagen, wo entweder durch Zusätze oder durch Streichung und Korrektur eine Nähe zum Original wiederhergestellt wird. Diese (quantitativ mäßige) ‚Rückkehr zu Sophokles‘ ist allerdings weder systematisch noch programmatisch. Weitere Belege zeigen, dass offensichtliche Übersetzungsfehler (die Brecht wohl nicht als solche betrachtete bzw. für deren Herkunft er sich nicht sonderlich interessierte) umgekehrt nicht berichtigt wurden. Vielmehr intervenierte der Bearbeiter durch Vergleich mit anderen Vorlagen da, wo ihm eine (Um-)Akzentuierung für die eigenen, ‚modernen‘ Zwecke ratsam erschien, etwa im Sinne einer ‚gestischen‘, ‚epischen‘ Sprache.

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ersten 20 Versen auch Passagen aus dem ersten Chorlied bei Hölderlin („O Blik der Sonne...“), die deswegen unten links angeführt werden. Gemeinsamschwesterliches! o Ismenes Haupt!

Schwester, Ismene, Zwillingsreis

Weißt du etwas, das nicht der Erde Vater

Aus des Ödipus Stamm, weißt du etwas

Erfuhr, mit uns, die wir bis hieher leben,

Irrsal, traurige Arbeit, Schändliches

Ein Nennbares, seit Ödipus gehascht ward?

Das der Erde Vater noch nicht verhängt hat

Nicht eine traur’ge Arbeit, auch kein Irrsaal,

Über uns, die bis hierher lebten?

Und schändlich ist, und ehrlos nirgend eines,

In langem Krieg, einer mit vielen

Das ich in deinem, meinem Unglük nicht gesehn. Fiel Eteokles uns, der Bruder. Im Zug des Tyrannen Jezt aber, ahnest du das, was der Feldherr

Fiel er jung. Und, jünger als er, Polyneikes

Uns kundgethan, in offner Stadt, so eben?

Sieht den Bruder zerstampft unterm Gäulehuf. Weinend

Hast du gehört es? oder weist du nicht,

Reitet er aus unfertiger Schlacht, denn anderes andrem

Wie auf die Lieben kommet Feindesübel?

Bescheidet der Schlachtgeist, wenn der hart

[...]

Anregend einem mit dem Rechten die Hand erschüttert.

O Blik der Sonne, du schönster, der

[Schon

Dem siebenthorigen Thebe

Hat der hinstürzende Flüchtling

Seit langem scheint, bist einmal du

Die Dirzäischen Bäche gequert, aufatmend

Erschienen, o Licht, bist du,

Sieht er Thebe, die Siebentorige, stehn, da greift

O Augenblik des goldenen Tages,

Den vom Blut des Bruders Besprengten Kreon, der hinten

Gegangen über die Dirzäischen Bäche,

Einpeitscht alle sie in die Schlacht, und zerstückt ihn.

Und den Weißschild, ihn von Argos,

Sagten sie dir’s, oder sagten sie’s nicht, was

Den Mann, gekommen in Waffenrüstung,

Weiter gehäuft sein soll auf des Ödipus

Den hinstürzenden Flüchtling

Hinschwindend Geschlecht?

Bewegst du mit der Schärfe des Zaums, [...].

(GBA 8, 200)

Anderes andrem Bescheidet der Schlachtgeist, wenn der hart Anregend einen mit dem Rechten die Hand erschüttert. (StA 5, 205–210)

Die an diesem Mikrofall zu beobachtende Phänomenologie der textuellen Bearbeitung kennzeichnet auch ihre Makrostruktur.266 Einige wörtliche Zitate, manchmal nicht an der ursprünglichen Stelle, gesellen sich zu minimalen und zu größeren Variationen anhand lexikalischen und bildlichen Materials der Vorlage, anderswo auch durch Interferenz mit weiteren Quellen. Darüber hinaus dichtet Brecht einige Passagen neu – vorwiegend wenn es darum geht, die Vorgeschichte (wie hier) oder die Handlung selbst zu ändern –, indem er allerdings den Duktus Hölderlins imitiert und mit Versatzstücken aus weiteren Passagen (wie hier), anderswo auch aus anderen

|| 266 Bereits 1957 legte Hans Bunge eine systematische Analyse vor, aus der folgende quantitative Ergebnisse hervorgingen: 19,5% der Bearbeitung bestehe aus wörtlichen Übernahmen aus Hölderlins Übersetzung, wenn man weitere transformierte Passagen hinzunehme, komme man auf einen Prozentwert von 32,1% (131); einer Statistik entgehen muss allerdings die ‚versteckte‘ Präsenz Hölderlins in den neugedichteten, imitierenden Passagen. Unter den weiteren Forschungsbeiträgen, die sich eingehend mit der stilistischen-intertextuellen Frage beschäftigten, sei auf Pohl (1969), Weisstein (1973), Flashar (1991), Frick (1998), Doering (2011) verwiesen.

320 | Ein Theaterjahrhundert Werken des Dichters (Pindar-Übersetzungen) und selbst aus nicht hölderlinschen Quellen ergänzt (Goethe z.B.). Dadurch bekommt seine intertextuelle Arbeit mit Hölderlins Sprache und Stil starke inhaltliche Prägnanz und partizipiert an der gesamten Transmotivation der Antigone-Geschichte, die fast als Korrektur bezeichnet werden kann.267 Man nehme hier die Z. 6–15 mit Antigones ‚aufklärendem‘ Bericht über den Tod beider Brüder, in dem einer der stärksten Eingriffe Brechts in die Vorlage enthalten ist. Bei ihm sind anders als bei Sophokles/Hölderlin Eteokles und Polyneikes Opfer von Kreons Angriffskrieg gegen Argos; der erste fällt in der Schlacht, der zweite auf der Flucht. Nachdem er den Tod des Bruders erlebt hat, entfernt Polyneikes sich vom Kriegsort und wird von Kreon selbst vor der Ankunft in Theben als Deserteur ermordet. Erst vor diesem Hintergrund entwickelt sich dann die bekannte Konfrontation zwischen Kreon und Antigone, die trotz Kreons Verbot und auch trotz der Passivität der Schwester Polyneikes symbolisch begräbt. Diese Konfrontation bleibt auch bei Brecht die Mittelachse der Tragödie, wie auch die allgemeine Handlungslinie mit Antigones Todesgang, dem Selbstmord ihres Geliebten (und Kreons Sohns) Hämon gleichbleibt; durch die geänderte Vorgeschichte und durch weitere Eingriffe in die Figurenkonstellation, -Konfiguration und -Charakterisierung sowie in ihre Handlungen erhält allerdings Brechts Antigone-Bearbeitung Konturen, die sie vom Original stark abheben.268 Sowohl die Bühnengeschehnisse als auch die Motivation der Figu-

|| 267 Der Begriff der transmotivation, den Genette eher für narrative Formen der hypertextuellen Transformation prägte, wurde bei Frick (1998) auf die antike Dramatik und auf Brechts Antigone angewandt. Er entspricht im Rahmen einer Arbeit am Mythos in vielem den oben erläuterten Begriffen der Mythenrevision bzw. -korrektur (Genette 1982, 379ff.). Jenseits der terminologischen Entscheidung interessiert hier folgender Punkt: Brecht greift in den Antigone-Stoff ein, um Historisierung und Aktualisierung zusammenzuhalten; dabei dient ihm Hölderlins Übersetzung als sprachliche Inspiration auch dort, wo er inhaltlich von der Vorlage stark abweicht. Der Grund dafür geht aus dem oben Erörterten hervor: Hölderlins Diktion ermöglicht ihm, Fremdes und Vertrautes, Distanz und Nähe auszuspielen. Hölderlin dient Brecht als moderner Vermittler (und Verfremder) zwischen Antike und Gegenwart. 268 Die für die Greizer Premiere verfassten Anmerkungen zur Bearbeitung bringen die wichtigsten „Änderungen des alten Gedichts“ auf den Punkt. Der Krieg ist mit dem Tod von Antigones Brüdern nicht vorbei. Kreon ist ein Tyrann, der auf die Erzgruben von Argos gesetzt und bei den Alten Thebens (dem Chor) Unterstützung für seinen Angriffskrieg erhalten hat. Anders als geplant ziehen sich die militärischen Auseinandersetzungen in die Länge, Unmut wächst in der Stadt parallel zu Antigones persönlichem Widerstand gegen das Bestattungsverbot für Polyneikes. „Kreon muß den Kampf gegen außen und innen führen und verliert den Krieg“, damit reißt er die ganze Stadt in den eigenen Untergang hinein. Dementsprechend sind auch die Figuren von Hämon, der hier den eigenen Bruder im Krieg verliert und dem sich Kreon lediglich aus Eigennutzen wieder annähert, und von Tiresias (so die Schreibweise bei Brecht) umfunktioniert; der Seher wird zu einem realpolitischen Beobachter. Die eigentliche Antigone-Handlung erhält dadurch allerdings neue Akzente (Hecht 1988, 215). Vgl. Joost (2001a) 536–541 für eine vergleichende Szenenanalyse, die sich auf die Tiresias-Figur konzentriert

Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 321

ren werden aus einer materialistischen Weltanschauung heraus verändert (Eliminierung der „Moira“)269 und durch die Brille des deutschen Schriftstellers und Künstlers gesehen, der die geschichtlichen Ereignisse der 1930–40er Jahre an der eigenen Haut erfahren hat und ein Europa in Trümmern vorfindet (Kreon als auf Hitler verweisende Gestalt).270 Das ist nicht nur als literarisch-theatralische Freiheit gerechtfertigt, sondern stellt auch den springenden Punkt dar, an dem zukünftige Beispiele der Antigone- und Hölderlin-Rezeption anknüpfen werden: Brechts Gestus der verfremdenden Aktualisierung, und nicht nur bzw. nicht zwangsläufig der Gegenstand der Aktualisierung selbst (hier: die noch frischen Erfahrungen von Diktatur und Krieg), wird stilbildend wirken. Für vorliegende Rekonstruktion besonders interessant – mehr etwa als die spezifische ‚entmythisierte‘ und teilweise aktualisierende Antigone-Lesart Brechts und der damit verbundene gerechtfertigte Zweifel, ob die von Brecht in Aussicht gestellte ‚Durchrationalisierung‘ des Mythos tatsächlich gelungen sei271 – ist der Umstand, dass bei der Konstruktion dieser neuen Antigone Brecht bei Hölderlin, seinem ‚klassischen‘ Material, bleibt. Die produktive Arbeit an Hölderlin dringt in alle Verästelungen des Textes. In der oben erwähnten Passage etwa benutzt er für seine neugedichteten Verse über Polyneikes’ Flucht Zitate aus einer anderen Stelle Hölderlins, die sich wegen der knappen Gnome über die Unterwerfung des Menschen unter die Kriegsgewalt („Anderes andrem / Bescheidet der Schlachtgeist...“)272 wie wegen des

|| und unter differenzierter Bezugnahme insb. auf Barner (1987) und auf Frick (1998) die Konstellation der ‚Durchrationalisierung‘ hinterfragt. 269 An Stefan Brecht, Dezember 1947; GBA 29, 440. 270 Neben den erläuterten Änderungen zum Stoff, die die Parallele aufzeigen (u.a. Angriffskrieg, Gewalt gegen Andersdenkende, Herrscherwillkür, Untergangsstimmung), zeugen lexikalische Elemente von der Annäherung Kreons an Hitler. Neben der punktuellen Einarbeitung der NS-Sprache in die Reden Kreons ist insbesondere die Bezeichnung des Herrschers selber eindeutig: Brecht benutzt die Lexeme „Tyrann“ und gar „mein Führer“ (gegenüber „Feldherr“ und „mein König“ bei Hölderlin; vgl. etwa GBA 8, 200, 205 mit StA 5, 205, 214; zu möglichen Übernahmen Brechts aus Hitlers Reden vgl. Fritsch 1990). Ähnlich in der Antigone-Legende, deren Schlussverse lauten: „[...] Und elend und furchtsam / Unbelehrbar, stolperte er, der viele geführet / Jetzt der stürzenden Stadt zu. Aber die Alten / Folgten dem Führer auch jetzt, und jetzt in Verfall und Vernichtung“ (GBA 25, 157–159). 271 Diese Frage stellt sich Barner (1987). Ideologischen Harmonisierungen von Brechts tatsächlich widersprüchlicher (was ihm bewusst war) Transformation wird dort eine klare Absage erteilt, wobei jedoch Brecht eine „Fehleinschätzung des Mythos-Ursprungs“ unterstellt wurde, die mit seinem Bearbeitungskonzept kaum verträglich ist. Entwickelt wurde diese Lesart über Flashar (1991), Frick (1998) und teilweise Horn (2008) bis auf Doering (2011), wo „Brechts Vorsatz [...], die Ebene des Transzendenten ganz aus dem Handlungsverlauf herauszulösen“, sich als letztendlich undurchführbar erweist (160). Diese und weitere Untersuchungen haben die Widersprüche an einzelnen Aspekten erörtert (zur „Rückkehr des durch den Rationalisierungsprozeß Verdrängten“ etwa Haag 2005, 207). 272 Bereits bei Hölderlin wurde durch die Umschreibung „Der Schlachtgeist“ der Göttername (hier: Ares) „unserer Vorstellungsart“ angenähert, wie es in den Antigone-Anmerkungen mit Bezug auf Zeus/Vater der Zeit heißt (StA 5, 268). Brecht dürfte sich in seiner ‚Durchrationalisierung‘ durch diese

322 | Ein Theaterjahrhundert gewaltigen Bildes vom „hinstürzenden Flüchtling“ für die neuen Zwecke und Kontexte als höchst geeignet erweist. Tatsächlich mag Brecht beim Lesen dieser Wendung Hölderlins den deutschen Soldaten vor sich gesehen haben, der aus einem nicht von ihm gewollten Feldzug verwahrlost zurückkehrte oder floh. Bilder wie diejenigen, die er etwa im Text-Bild-Konstrukt der Kriegsfibel sammelte und kommentierte, nicht ohne expliziten Hinweis auf die persönlich Verantwortlichen, die hinter der Rede vom tragischen Schicksal steckten.273 Brecht belässt es auch nicht bei der einen Hölderlin-Quelle Antigone: Seine Bearbeitung ist durch den Rückgriff auf weitere Texte des schwäbischen Dichters gekennzeichnet, wie auch auf andere, für unsere Belange weniger wichtige Quellen274 und Wortschatzrepertoires.275 Dies ist ein zusätzliches Zeichen für die Intensität von Brechts Hölderlin-Arbeit: Werner Fricks diesbezügliche Diagnose einer „littérature au troisième degré“ kann man auf weitere Intertextualitätsgrade erweitern.276 Denn der

|| periphrastische Strategie bei Hölderlin bestätigt gefühlt haben. Bei Brecht ist im Kontext weder eine göttliche noch eine schicksalshafte Instanz evoziert; das ‚Bescheiden‘ seitens des Schlachtgeistes steht hier für das zufällige Entkommen bzw. Getroffen-Werden des Einzelnen von der Kriegsgewalt. 273 „Such nicht mehr, Frau: du wirst sie nicht mehr finden! / Doch auch das Schicksal, Frau, beschuldige nicht! / Die dunklen Mächte, Frau, die dich da schinden / Sie haben Name, Anschrift und Gesicht“. So im Epigramm 22 der Kriegsfibel, unter dem Foto einer Frau, die in einem zerbombten Haus nach etwas oder jemand sucht (GBA 12 172). Man vergleiche es mit Antigones letzter Rede vor dem Todesgang und mit folgender Passage zu Beginn von Brechts Anmerkungen zur Bearbeitung: „Nach der Vorstellung der Alten ist der Mensch mehr oder weniger blind dem Schicksal ausgeliefert, er hat keine Macht darüber. Diese Vorstellung hat B.B. in seiner Nachdichtung durch die Meinung ersetzt, daß das Schicksal des Menschen der Mensch selber ist“ (1951, Hecht 1988, 214). 274 In Kreons erster Rede arbeitet Brecht etwa ein variiertes Zitat aus Unter dem Felsen am Wege ein, der Übersetzung eines arabischen Liedes, die Goethe auf der Basis einer lateinischen Übertragung erstellt und 1819 in Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans veröffentlicht hatte. In Goethes Worten erzählt das Gedicht „aus Mahomets Zeit [...] düster, ja finster [...], glühend, rachlustig und von Rache gesättigt“ von einer Fehde zwischen Beduinenstämmen (GW 3/1, 142–147). Stoff und Stil erklären wohl Brechts Adaption für die Rede seines blutrünstigen Kreons, der dort als Kriegsführer von der Vernichtung der Stadt Argos berichtet. Auch in diesem Mikrofall (insgesamt ein Dutzend Zeilen, vgl. GBA 8, 203f) arbeitet Brecht mit einem ‚Klassiker‘ (eigentlich: mit dessen Verdeutschung eines älteren Textes), ihn zitierend, variierend und imitierend. 275 Neben dem bereits erwähnten Fundus der NS-Sprache, wodurch die sprachliche Haltung der Herrscherfigur charakterisiert wird, stellt die Lutherbibel wie so oft bei Brecht eine weitere lexikalische Quelle dar. So greift Brecht darauf zurück, wenn er Hölderlins Diktion archaisiert („Fährlichkeit“, „Zähre“; dazu bereits Pohl 1959, 250). 276 Vgl. Frick (1998) 502, der Genettes littérature au second degré durch den „zweifache[n] PrätextBezug“ Brecht erweitert sieht. Sowohl horizontal, durch die Heranziehung weiterer doppelschichtiger Quellen (Goethes und Hölderlins Übersetzungsbruchstücke) und historisch-ideologisch konnotierter Vokabularien (NS-Sprache, Lutherbibel), als auch vertikal, durch die Verkomplizierung des doppelten Prätexts durch Hölderlin-Varianten, weist die intertextuelle Landschaft von Brechts Antigone-Bearbeitung eine mehrfache Stratifikation auf.

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Übersetzer Hölderlin firmiert in Brechts Bearbeitung durch weitere Übertragungspassagen.277 Zweimal rekurriert Brecht auf Hölderlins Pindar-Übersetzungen. Zuerst an einer Stelle, wo die Bearbeitung stark vom Original abweicht: Anstelle des dritten Chorlieds, also vor der Konfrontation Kreons mit Hämon, fügt Brecht ein nur vage mit dem ursprünglichen Stasimon zusammenhängendes, eigenes Chorlied, wo von unentzifferbaren „Lachmyschen Brüder[n]“ die Rede ist.278 In diesem Kontext taucht die Wendung „Heimlich [...] in Windeln purpurn“ auf, die aus Hölderlins Übersetzung von Pindars 4. Pythischer Ode stammt, wo Brecht wohl auch den Namen Peleas gefunden hat (GBA 8, 218).279 Außerdem, und quantitativ reicher, wird Pindar/Hölderlin kurz darauf in die Reden Hämons eingearbeitet. Der Sohn wendet sich an den Vater Kreon zuerst mit einem Vergleich, dann mit einer Gnome: Von vielem Verwalter bist du. Wenn etwa du liebst Gerüchte lieblich immer zu hören, nicht Mühe zu sehr dich mit Aufwand: löse Gleich wie ein nicht mehr steuernder Mann das Segel und treibe! 280 Heißt es nicht: Am lügenlosen Amboß stähle die Zunge?281 (GBA 8, 219f.)

|| 277 Es wurde in der Forschung versucht, wie hier nur am Rande bemerkt werden kann, auch die späte Lyrik Hölderlins als stilistische Inspirationsquelle für Brechts Bearbeitung auszumachen. Die Rede ist von Rainer Pohls nicht ganz überzeugender These, dass Reminiszenzen, etwa an die Hymne Der Einzige, in Brechts imitierendem Duktus der Antigone-Bearbeitung aufzufinden seien. Gemeint ist eine „Parallelität des Vokabulars“ („grenzlos“) und eine ähnliche Benutzung der Parataxe (mit der Formel „ist aber“). Beides könnte man allerdings auch durch die Häufung von Adjektiven mit der Endung -los und durch ähnliche syntaktische Strukturen in der Antigone-Übersetzung erklären (zit. aus Hecht 1988, 253, vgl. GBA 8, 209 und StA 2, 159f.). Überzeugender erscheint mir die Einschätzung bei Doering (2011) 163, wo dieselbe Stelle als Wechselspiel von Imitation von Hölderlins Sprachgestus einerseits und inhaltlicher Loslösung von der Vorlage andererseits gelesen wird. 278 Vgl. GBA 8, 218. Vgl. Flashar (1991) 189, wo die Stelle als ein letzten Endes kontraproduktives „gesuchte[s] Archaisieren“ gerügt wird, sowie Doering (2011) 167 für die (Brecht schon eher entsprechende) Erwägung einer humoristischen Note bei der Nennung nicht-existierender Mythen; dort wird die darauffolgende Chorpassage mit Hölderlins gnomischem Stil parallelisiert, ohne auf die PindarIntertextualität einzugehen. Bei Frick (1998) 508 wird diese als eine „Art Pindar-Parodie“ bezeichnet. 279 So lautet die Stelle in Hölderlins Übersetzung: „In den Häußern anstellend mit We-/ heklagen der Weiber, heimlich ge-/ sandt in Windeln purpurn [...]“ (StA 5, 88). Finden konnte Brecht diese und folgende Pindar-Übersetzungen im 5. Band der Hellingrath-Ausgabe. 280 Bei Hölderlin: „Von vielem Verwalter / Bist: [...] Wenn etwa du liebst Gerüchte lieblich immer / Hören, nicht mühe zu sehr dich mit Aufwand, / Und löse wie ein steuernder Mann / Das Seegel, das wehende“ (StA 5, 68). Brechts variierendes Zitieren besteht hier in einer Korrektur, da er ein „nicht“ und einen weiteren Imperativ hinzufügt. Eine politisch konnotierte Korrektur: Der Herrscher kann bzw. wird die Stadt nicht mehr steuern. 281 Bei Hölderlin: „Am lügenlosen Ambos / Stähle die Zunge“ (StA 5, 68).

324 | Ein Theaterjahrhundert Über die Funktion dieser wenigen variierten Pindar-Zitate über Hölderlins Vermittlung hat sich die Forschung kaum geäußert.282 Man könnte darin eine Art kultureller Zitate erkennen, durch die ein Weltwissen der antiken Figuren evoziert wird; das letzte Beispiel ist in diesem Sinne durch die einführende Wendung „Heißt es nicht“ vielsagend. Inhaltliche Elemente, auch in Bezug auf den ursprünglichen Kontext der Passagen in Pindars Oden, könnten auf die politischen Implikationen der Bearbeitung anspielen, denn alle drei Zitate beziehen sich auf die Themenkreise Krieg-Herrscherwillkür-Propaganda.283 Dass Brecht solche fremden Einsprengsel in die eigene Antigone einarbeitete, hat sprachliche und ästhetische Gründe. Die Diktion des schwäbischen Dichters hat ihn bei der Bearbeitung offensichtlich dermaßen fasziniert, dass er die anfängliche Mischung aus vager Kenntnis und partieller Skepsis gegenüber Hölderlin überwindet und in den ihm verfügbaren Ausgaben nach weiteren Materialien sucht, die ihm dieser deutsche ‚Klassiker‘ für die Vermittlung zwischen Antike und Moderne bietet. Hölderlin ist somit der zentrale Angelpunkt von Brechts dialektischem Spiel zwischen Historisierung und Aktualisierung des Antigone-Stoffes, in dem die griechische Tragödie in ihrer gleichzeitigen Distanz und Nähe zur Gegenwart dem Publikum verfremdend gezeigt wird – wobei in diesem ‚Zeigen‘ der Sprachgestus und die akustische Ebene mitgedacht sind. Man kann trotz der eifrigen Forschung zur formalen Beschaffenheit von Brechts Bearbeitung durchaus vermuten, dass weitere kleine Versatzstücke aus Hölderlins (Übersetzungs-)Werk noch unerkannt in ihr stecken. Die Vermutung wird durch den Umstand gestützt, dass ein zwar quantitativ mikroskopischer, typologisch jedoch eklatanter Fall lange den Interpreten entgangen ist und bis heute nicht genügend gewürdigt wurde. Die Rede ist von der Interpolation lexikalischer Elemente aus Hölderlins früher fragmentarischer Übersetzung des Chorlieds „Vieles Gewaltige gibt’s...“ in die Version von 1804 („Ungeheuer ist viel...“), die dann von Brecht bearbeitet wurde. Wie selbst die aufmerksamsten Deuter nicht bemerkt haben,284 substituierte hier Brecht einige wenige Wendungen der ersten Strophe der gedruckten Fassung, die er

|| 282 Wenn überhaupt, dann wurde die Pindar-Intertextualität als eine Strategie erörtert, die der beabsichtigten Durchrationalisierung ungewollt entgegenarbeite (so bereits Pohl 1969). 283 Angenommen, dass Brecht sich tatsächlich über lexikalisch-stilistische Intentionen hinaus für den ursprünglichen Kontext dieser Zitate interessierte, kann man für das Zitat aus der 4. Pythischen Ode, wo die Iason-Mythe erzählt wird, eine mögliche Verwendung als mythisches Exempel willkürlicher gewalttätiger Herrschaft (Peleas) erwägen. Für die weiteren Passagen, die aus einem Preislied an Hieron stammen (1. Pythische Ode), ist ein komplizierterer Prozess vorauszusetzen, bei dem Brecht das Lob des Tyrannen ins Gegenteil umkehrt: Hämon würde dann im ‚epischen‘ Sinne durch sein variierendes Zitieren auf Kreons falsche Herrschaft hinweisen. 284 Selbst bei Frick (1998) 507 wird die Stelle als lediglich brechtsche Variation aufgefasst. Bereits Bunge (1957), Pohl (1969) und Weisstein (1973) hatten in ihren stilistischen Analysen die Passage als Eingriff des Bearbeiters erörtert.

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im Unterschied zum restlichen Chorlied so gut wie wörtlich übernahm, mit den entsprechenden Ausdrücken aus dem Bruchstück von 1800. Die von der Forschung als Eingriffe des modernen Bearbeiters missverstandenen Abweichungen vom gedruckten Text Hölderlins sind also in Wahrheit Spuren einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Wort- und Bildreichtum von Hölderlins Übersetzungen, die von Brecht als Materialfundus für eine produktive und freie Transformation der Tragödie für die Gegenwartsbühne benutzt wird. Hier unten zum Vergleich die zur Diskussion stehende Passage, links in Hölderlins Übersetzung von 1804, rechts in Brechts Bearbeitung; kursiv gesetzt sind die Abweichungen der zweiten gegenüber der ersten. Ungeheuer ist viel. Doch nichts

Ungeheuer ist viel. Doch nichts

Ungeheuerer, als der Mensch.

Ungeheuerer285 als der Mensch.

Denn der, über die Nacht

Denn der, über die Nacht

Des Meers, wenn gegen den Winter wehet

Des Meers, wenn gegen den Winter wehet

Der Südwind, fähret er aus

Der Südwind, fähret er aus

In geflügelten sausenden Häußern.

In geflügelten sausenden Häusern.

Und der Himmlischen erhabene Erde

Und der Himmlischen erhabene Erde

Die unverderbliche, unermüdete

Die Unverderbliche, Unermüdete

Reibet er auf; mit dem strebenden Pfluge,

Reibet er auf mit dem strebenden Pfluge

Von Jahr zu Jahr,

Von Jahr zu Jahr

Treibt sein Verkehr er, mit dem Rossegeschlecht’, Umtreibend das Gäulegeschlecht. Und leichtträumender Vögel Welt

Leichtgeschaffener Vogel Art286

Bestrikt er, und jagt sie;

Bestrickt er und jagt sie.

Und wilder Thiere Zug,

Und wilder Tiere Volk.

Und des Pontos salzbelebte Natur

Und des Pontos salzbelebte Natur

Mit gesponnenen Nezen,

Mit listig geschlungenen Seilen

Der kundige Mann.

Der kundige Mann.

Und fängt mit Künsten das Wild,

Und fängt mit Künsten das Wild,

Das auf Bergen übernachtet und schweift.

Das auf Bergen übernachtet und schweift.

Und dem raumähnigen Rosse wirft er um

Und dem rauhmähnigen Rosse wirft er um

Den Naken das Joch, und dem Berge

Den Nacken das Joch, und dem Berge

Bewandelnden unbezähmten Stier.

Bewandelnden, unbezähmten Stier.

(StA 5, 219)

(GBA 8, 208f.)

Die vier Eingriffe Brechts erweisen sich eigentlich alle (bis auf den ersten Teil des Kompositums Gäulegeschlecht) als Übernahmen aus dem Text von 1800. Die Wendung „Umtreibend das Gäulegeschlecht“ kondensiert die Verse „Arbeitet er um, das Pferdegeschlecht / Am leichtbewegten Pflug von / Jahr zu Jahr umtreibend“. Die Substitution von „Leichtträumender Vögel Welt“ mit „Leichtgeschaffener Vogel Art“ basiert auf Hölderlins früheren Satz: „Leichtgeschaffener Vogelart / Legt er Schlingen“.

|| 285 Die GBA-Herausgeber gehen von einem Druckfehler aus (im Typoskript steht: „Ungeheurer“; 8, 494). 286 Typoskripte und weitere Drucke zu Lebzeiten weisen gegenüber dem Modell-Druck die überzeugenderen Varianten auf: „Vögel Art“ bzw. „Vogelart“ (vgl. ebd.).

326 | Ein Theaterjahrhundert Auch „Volk“ statt „Zug“ stammt aus der fragmentarischen Version, wo „der Thiere wildes Volk“ stand. Daraus nimmt Brecht schließlich auch die ganze Instrumentalangabe „mit listig geschlungenen Seilen“ statt (wie in der Version von 1804): „mit gesponnenen Nezen“ (StA 5, 42; alle Kursive von mir). Diese Kompilation gehört entstehungsgeschichtlich der letzten Phase des Textfeilens an, wie ein Blick in die Typoskripte erhellt.287 Während der Proben änderte Brecht die ursprünglich unberührt übernommene Fassung von 1804 durch Einblick in die zweite Vorlage. Diese Chronologie ermöglicht Überlegungen zu den konkreten Quellen, die ihm zu verschiedenen Zeiten der Bearbeitungsniederschrift zur Verfügung standen,288 und verhilft zu noch wichtigeren Erkenntnissen hinsichtlich der Funktion dieser Substitutionen, deren inhaltliche Wirkung auf das Ganze eher gering ist. Dass der Theaterpraktiker Brecht derartige Textveränderungen während der Proben durchführte, kann nur dadurch erklärt werden, dass die neue Version ihm im performativen Akt überzeugender bzw. wirksamer erschien; rein dichterische oder philologische Begründungen kamen nicht (mehr) in Frage. Die Veränderungen müssen ihm als für den Sprachgestus der Schauspieler eher geeigneter erschienen sein. Der „schwäbische Volksgestus“ von Hölderlins Übersetzung war sowohl im Arbeitsjournal als auch in dem Brief an den Sohn Stefan bereits in der ersten Bearbeitungsphase als eine der Entdeckungen/Überraschungen hervorgehoben worden, welche ihm die Textarbeit beschert hatte. Im Laufe der Theaterarbeit entwickelte sich dann der ebendort anvisierte „Versuch, aus gegebenen klassischen Elementen eine erhöhte Bühnensprache zu entwickeln“, zu einer zu Beginn unerwarteten Vertiefung in Hölderlins Übersetzungswerk qua Material, dessen Nutzbarkeit für die moderne Bühne literarisch-dramatische wie performativ-inszenatorische Aspekte betraf.289

|| 287 Bereits Bunge erläuterte in seiner Dissertation die Chronologie der Überarbeitung, ohne den zweiten zugrundeliegenden Text Hölderlins allerdings zu erkennen (Bunge 1957); ihm standen ein so genannter Zürcher Text (das Bühnenmanuskript) sowie Weigels Rollenbuch und Brechts Regiebuch zur Verfügung, die beide die GBA als die „ältesten im Nachlaß erhaltenen Typoskripte“ bezeichnet (8, 492; dort ist die Hölderlin-Intertextualität jedoch insgesamt mangelhaft nachgewiesen). Das von mir konsultierte Regiebuch Brechts (Brecht Archiv, 593/39) zeigt etwa am Beispiel des Verses „Umtreibend das Gäulegeschlecht“ (so in der Endversion), wie Brecht ursprünglich Hölderlins Version 1804 („Treibt sein Verkehr er, mit dem Rossegeschlecht’“) übernommen hatte, dann auf die von 1800 umwechselte („Umtreibend das Pferdegeschlecht“ per Handkorrektur), um schließlich zur letzten Version zu kommen, in die er ebenso direkt die eigene Zutat „Gäule-“ einfügte. 288 Kann der Rekurs auf das Antigone-Bruchstück mit der Hamburger Antigone in Verbindung gebracht werden (muss aber nich), so müssen die Pindar-Intertextualität und der Abdruck der Aphorismen auf eine auch nur zeitweilige Verfügbarkeit von Hellingraths Ausgabe in Brechts Werkstatt zurückgeführt werden. Die Präsenz mehrerer Quellen ist die wahrscheinlichste Option. 289 GBA 29, 440. Vgl. Buck (1990) 232 für eine Herausarbeitung der Modalitäten, in denen sich „Hölderlins Sprachgestus [...] produktiv für Brecht aus(wirkte)“.

Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 327

Abb. 7: Die Antigone des Sophokles (Chur 1948). Regie: B. Brecht und C. Neher. Bühnenbildentwurf von C. Neher

3.2.1.3 Modell antik-moderner Transformation Der Zuschauer der Churer Uraufführung und noch stärker der Leser des dazugehörigen Antigonemodells hat bis auf eventuelle persönliche Kenntnisse keine Mittel, die intertextuelle Beschaffenheit des Stücktexts in seinem Verhältnis zu seinen verschiedenen Quellen zu erkennen. Das war durchaus im Sinne von Brechts Verständnis der ‚Klassiker‘-Bearbeitung und -Inszenierung. Die Inszenierung verwies im Titel auf die Sophokles-Hölderlin-Vorlage und auf die Bearbeitung Brechts, Hölderlin tauchte sonst mit wenigen kurzen Texten (unter vielen anderen) im Programmheft auf; dort berichtete Hans Curjel kurz über die Bearbeitungsweise, Aussagen Brechts fehlten; von ihm war nur das Gedicht Antigone abgedruckt.290 Im Antigonemodell standen nicht einmal diese wenigen Hinweise, Hölderlin war dort lediglich im Titel des Stücktexts als Autor der von Brecht bearbeiteten Übersetzung aufgeführt. Die Regieanweisungen, die detailliert auf den zu sprechenden Text eingehen, nennen m.W. weder Sophokles noch Hölderlin. Die so genannte Antigone-Legende, deren 189 Hexameter lexikalisches Material aufweisen, das eventuell aus Hölderlins Vorlage oder aus der

|| 290 Vgl. Hecht (1988) 175–180. Bei Curjel ist mit Blick auf Hölderlin die Rede von der „auf gewaltigem Hintergrund sich abzeichnenden Gedankenwelt eines der großen Wunder der deutschen Sprache“; bereits er vermerkt mit Luzidität und aus der direkten Erfahrung der Vorbereitungsarbeit heraus, dass „gelegentlich [...] Brecht Gedanken und Sprache Hölderlins weiter[spinnt], um das Ganze in das Gegenwärtige zu überführen“ (177).

328 | Ein Theaterjahrhundert Auseinandersetzung damit stammen könnte, nimmt ebenso wenig expliziten Bezug darauf.291 Verwundern kann dieser Mangel an ausdrücklichen Hölderlin-Verweisen in Inszenierung und Modell kaum. Die zentrale Rolle, welche die Übersetzungstexte Hölderlins als Materialquelle für die Bearbeitung spielen, wird von diesem Mangel keineswegs vermindert. Die szenische Arbeit betrifft den Stücktext, dem als solcher Hölderlin (und, fast nur über ihn vermittelt, Sophokles) zwar eingeschrieben ist, der jedoch nun als selbständige Vorlage intermedial in eine Inszenierung transformiert wird. Selbstverständlich rühren Regieentscheidungen auch von sprachlichen, bildlichen und inhaltlichen Aspekten der Antigone-Bearbeitung, deren Spuren bei Hölderlin nachgegangen werden könnte. Diese produktionsästhetische Überlegung kann für die rezeptionsästhetische Ebene wiederholt werden, denn die Wirkung der Inszenierung ist (ebenfalls) durch die Hölderlin-Folie mitgeprägt.292 Nur ist in der Bühnenrealisation aufgrund ihrer engen textuellen Überlagerung von Zitat, Variation und Imitation der Sophokles-Hölderlin-Brecht-Textkomplex nicht mehr in seinen Komponenten unterscheidbar. Eine Zergliederung der Textanteile samt Quellendiskussion, die aus philologischer Perspektive sinnvoll ist, da sie Einblick in die Strategie des Dramatikers bei seiner Bearbeitung gewährt, erscheint dementsprechend aus einem szenischen Blickpunkt müßig. Das synoptische, Bild und Text zusammenhaltende Antigonemodell stellt für den Forscher, der die Churer Inszenierung rekonstruiert bzw. Brechts Theaterästhetik un-

|| 291 Die Legende verdankt sich einer seltsamen Konstellation: Ihrem Inhalt gemäß beruht sie auf der bearbeiteten Antigone, mit unvermeidbaren stilistischen und lexikalischen Derivationen aus der Vorlage. Ihre Form (Erzählgedicht in Hexametern) rührt hingegen von der ‚epischen‘ Funktion für die Schauspieler her, die aus dem Sprechen der Legendenverse Distanz zur Rolle erlangen sollten, und von dem Parallelprojekt Brechts, Marx’ und Engels Manifest als Lehrgedicht nach Lukrez’ Vorbild zu adaptieren. Brecht dazu im Arbeitsjournal: „Die Brückenverse schrieb ich in Hexametern, vornehmlich um zu prüfen, ob ich für das Manifest etwas hinzugelernt habe“ (GBA 27, 259). 292 Vgl. die damaligen Rezensionen bei Hecht (1988) 195–209. Erwähnt wurde Hölderlin dort den alten Vorurteilen entsprechend, die seit Jahrzehnten über die Theateruntauglichkeit seiner Texte zirkulierten; die komplexe Operation Brechts wurde wenig gewürdigt. In der Neuen Bündner Zeitung befand ein Berichterstatter, dass „die Hölderlinsche Übertragung [...] nicht befriedigen“ kann, weil sie „für die Bühne [...] zu schwer verständlich ist“ (197). C.S. deklarierte entrüstet im Tagesanzeiger, dass „die ‚Antigone‘ von Sophokles [...] das Werk eines großen Propheten“, „die ‚Antigone‘ von Hölderlin [...] das Werk eines genialen Lyrikers“ seien, die brechtsche Bearbeitung hingegen: „das Werk eines zeitbesessenen Bühnenpraktikers“ (203). Der Altphilologe Bruno Snell, der für Die Tat die Aufführung besprach, war Brechts „moralische[m] Stück“ gegenüber sehr kritisch, wenigstens bemerkte der Kenner, dass der Bearbeiter „so tief in den Sophokleischen Aufbau und in die Hölderlinsche Diktion eingegriffen [hat], daß in wesentlichen Stücken eine neue Antigone entstanden ist“ (205, 207). Die positive Rezension von Andreas Brügger (Bündner Tagblatt) verlor über Hölderlin kein Wort. Die Besprechungen erschienen am 18.–19. Februar 1948; die Matinee in Zürich (14. März) konnte kaum dem provinziellen Charakter des Unternehmens abhelfen.

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tersucht, eine unersetzliche Quelle dar; es dokumentiert einen rezeptionsgeschichtlichen Wendepunkt in der Bühnenaufnahme der antiken Tragödie und spezifisch der Sophokles-Übersetzungen Hölderlins.293 Hier soll das Modell auf zwei spezifische Aspekte hin befragt werden, die für vorliegende Rekonstruktion eher von Belang erscheinen, eine Inszenierungsrekonstruktion wird nicht angestrebt.294 Zuerst soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie die Auseinandersetzung mit Hölderlin über die Textvorlage hinaus in Brechts Verständnis der Antigone und ihrer historisierendaktualisierenden Darstellung mitgestaltete. Danach soll ergründet werden, wie sich die für Brechts Antigonemodell charakteristische Oszillation zwischen verbindlicher Inszenierungsvorlage und Offenheit auf Veränderung hin mit dem Modus der Sophokles-Hölderlin-Aneignung Brechts vertrug und wie sich dies der späteren Rezeption bot. Zentral erscheint für beide Fragen das von Brecht und Caspar Neher gezeichnete Vorwort zum Modell, eine auktoriale Öffentlichkeitsaussage, die gegenüber Arbeitsoder privaten Notizen eine Art definitiver Lesart der eigenen Theaterarbeit anstrebt.295 Der knappe Text ist in sieben Abschnitte aufgeteilt und trägt das Datum 1948; er wurde relativ schnell nach der Churer Inszenierung im Hinblick auf die Buchpublikation verfasst, die 1949 erfolgte. Die Abschnitte 2 und 3 sind für die hier zur Diskussion stehenden Aspekte von besonderem Belang. Dort begegnet man Tendenzen wieder, die als Einstellungen in der Ausgangssituation oder während der Bearbeitungsphase bereits angesprochen wurden. Von der „gewisse[n] Aktualität“ der Antigone in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist etwa die Rede, vom „Aktualitätspunkt“, der durch das Vorspiel gesetzt worden sei. Die „Analogien zur Gegenwart“ hätten sich besonders infolge der „Durchrationalisierung“ herausgestellt (GBA 25, 74). Mit dem Begriff der Durchrationalisierung intendiert hier Brecht den Prozess (nicht ein Endergebnis!)

|| 293 Man nehme die Worte Hellmut Flashars, der an sich kein sonderlicher Bewunderer der Antigone Brechts ist. Dabei handle es sich immerhin auch laut ihm „um den wohl einzigen konsequenten Versuch in der Zeit der ersten Nachkriegsjahre, in Bearbeitung wie Deutung dieser sophokleischen Tragödien und in ihrer Präsentation auf dem Theater in der Betonung der politischen Komponenten einen radikalen Neuanfang gerade auch in der Geschichte des Theaters zu setzen“ (1991, 186). Bei Frick wird im Antigonemodell die „exemplarische Veranschaulichung seines [Brechts; M.C.] ästhetisch-dramaturgischen Standpunkts“ erblickt. Dabei konzentriert sich er wie vorliegende Analyse auf die doppelte Intention von Brechts Antigone als Bearbeitung und als Modellinszenierung (1998, 465). 294 Zuletzt legte Dreyer (2014) eine solche Rekonstruktion aus geschichtlicher und theoretischer Perspektive vor. Im Rahmen einer theaterwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchung, deren Mittelpunkt die Inszenierung sein muss, werden selbstverständlich stärker als in vorliegender Arbeit der Anteil Caspar Nehers und überhaupt szenische Aspekte berücksichtigt. Ziel dieses Brecht-Kapitels ist es vor allem, die Arbeit an Hölderlins Sprache und Antike-Moderne-Projekt auszuloten; deswegen blieb die spezifisch inszenatorische Konstellation im Hintergrund. 295 In diesem Sinne herrschen im Vorwort affirmative Aussagen vor, während andere hier herangezogene Belege eher dubitativer Art sind. Modellhaftigkeit des Projekts und Arbeit am eigenen Image erklären diese Strategie zur Genüge.

330 | Ein Theaterjahrhundert der Entmythisierung bzw. „Eliminierung der Moira“, also der Vorstellung eines Schicksals, der versuchsweise in seiner Tragödien-Bearbeitung und -Inszenierung eingeleitet wurde. Dem entsprechen die größeren Eingriffe in die Handlung, die etwa die persönliche Verantwortung Kreons betonen, die Tiresias-Figur neu charakterisieren und beispielsweise Antigone in der Konfrontation mit dem Chor vor dem Todesgang ausrufen lassen: „Nicht, ich bitt euch, sprecht vom Geschick / [...] von dem sprecht / Der mich hinmacht, schuldlos“ (GBA 8, 227). Es ist möglich, jedoch m.E. durch keinen Beleg stringent zu beweisen, dass sich Brecht bei diesem ‚Durchrationalisierungs‘-Prozess in manchem als Vollstrecker einer bei Hölderlin vorgezeichneten Entmythisierung betrachtete, wobei er einige Besonderheiten der Übersetzung und der Antigone-Anmerkungen bzw. weitere Aussagen des Dichters im eigenen Sinn umdeutete. So könnte er z.B. die Substitution der Götternamen durch Umschreibungen und eventuell auch Hölderlins Begründung dazu, es gelte sie „unserer Vorstellungsart mehr zu nähern“, als aufklärerisch-rationalistischen Gestus verstanden haben.296 In Brechts Notizen findet sich lediglich die Nebeneinanderstellung der Arbeit an Hölderlins Übersetzung mit der parallel verlaufenden Abschaffung vom Mythos und von Schicksalsbegriffen: „Was das Dramaturgische angeht, eliminiert sich das Schicksal von selbst, laufend. Von den Göttern bleibt der lokale Volksheilige, der Freudengott. Nach und nach, bei der fortschreibenden Bearbeitung der Szenen, taucht aus dem ideologischen Nebel die höchst realistische Volkslegende heraus“.297 Eine explizite Rückführung dieses Prozesses auf eine Inspiration bei Hölderlin fehlt aber in Brechts Werkstatt, aus der hier zitiert wurde, ebenso wie in den veröffentlichten Texten ganz. Im Vorwort des Antigonemodells werden daraufhin der Reichweite dieser Durchrationalisierung und der damit einhergehenden Analogisierung des alten Stoffes mit der Gegenwart allerdings Grenzen gesetzt, was die Forschung oft übersehen hat. Denn Brecht hält an der Dialektik von Historisierung und Aktualisierung fest. Antigone ist für ihn keine politische Rebellin, die im Sinne gegenwärtiger Verhältnisse restlos aktualisiert werden könne: „Die große Figur des Widerstands im antiken

|| 296 Vgl. StA 5, 268. Dreyer (2014) 94 hat neuerdings die Parallele für gesichert ausgegeben, ohne jedoch darauf näher einzugehen („Durchrationalisierung – eine Idee, die sich bereits bei Hölderlin findet“). 297 Arbeitsjournal, 16. Dezember 1947 (GBA 27, 255). Für eine in Brechts Augen mögliche Verknüpfung zwischen der sprachlichen Beschaffenheit von Hölderlins Übersetzung und der eigenen Ausgrabung der „Volkslegende“ aus der ‚ideologischen‘ Kruste der Zeit sprächen bereits zitierte Aussagen Brechts zu Hölderlins Vorlage und dem Volkssprachlichen. Wenn Brecht es jedoch eher mit Lukács hielt – nach dem Hölderlin noch im „ideologische[n] Nebel“ gestanden habe –, läge der Schluss nahe, dass auch Brecht Hölderlin noch im Nebel stehen sieht.

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Drama repräsentiert nicht die Kämpfer des deutschen Widerstands“.298 Zu einer derartigen aktualisierenden Lesart – die im Theater der Nachkriegszeit wiederholt vorkommt299 –, führe gerade eine exzessive Durchrationalisierung, die „das Maß von Fremdheit [...] dieses Antigonestückes“ tilge, die ihre „historische Entrücktheit“ verwische, also jene Distanz des Bühnengeschehens zum Hier und Heute, die im epischen Theater Brechts die Einsicht in dessen Bedeutung fürs Hier und Heute erst ermöglicht (GBA 25, 75). Hölderlins Vorlage hatte Brecht letzten Endes auch zwecks einer derartigen Verfremdung bearbeitet, indem er „die opake Fremdheit des Textes“ genutzt (Dreyer 2014, 94) und imitativ fortgeschrieben hatte; das Vorwort erläuterte dies ohne direkte Nennung Hölderlins.300 Über die intertextuellen Aspekte hinaus wäre es verlockend, Hölderlins Verständnis der Antigone und des Verhältnisses von Antike und Moderne überhaupt als (eine der) Folie(n) zu lesen, die in Brechts Nachkriegsprojekt mitspielen. Bei Brecht ist Antigone eine Figur, die durch ihre Tat den Sturz des auf Mitwisserschaft, Volks-

|| 298 Eine derart plakative Überlagerung von Antike und Gegenwart würde übrigens Brechts ganzes ästhetisches Gerüst der Verfremdung zerstören. Selbstverständlich negierte Brecht keineswegs eine dialektische Lektüre des Stoffes, bei der Antigones Handlung als Rebellion, die politische Auswirkung hatte, kritisch beleuchtet würde. In den Anmerkungen zur Bearbeitung für Greiz (1951) ist etwa davon die Rede, dass Antigone, „bewegt durch tiefe Menschlichkeit“, eine „große Sittliche Tat“ ausgeführt habe. Sie stelle einen „offenen Widerstand“ dar und sei mit der Gefahr verbunden, „das eigene Volk in die Gefahr des Besiegtwerdens in einem Raubkrieg zu bringen“ (Hecht 1988, 215). Im Stücktext selbst steigert sich Antigone ansatzweise zuerst in der Konfrontation mit Kreon, wo die familiäre Frage noch vorherrscht, dann stärker in der letzten, von Brecht stark neugedichteten Rede gegenüber den Alten zu einer politischen Figur. Dort denunziert sie offen Kreons Kriegspropaganda und die Mitwisserschaft der Alten, kündigt Thebens Niederlage voraus und entwirft das Schreckensszenario von Leichen über Leichen, in dem ihr Leid um Polyneikes zu einem ungehörten kollektiven Schrei nach Gerechtigkeit wird (vgl. GBA 8, 227). Demgegenüber scheinen Interpretationen, in denen kritisch darauf hingewiesen wird, dass „die Titelheldin von Brechts Drama am Ende als im Grunde kontingente Figur erscheinen muss; denn ihr Tod [...] hat für die Katastrophe [...] keine Notwendigkeit“ (Doering 2011, 154f., auf Frick 1998, 155 fußend), letztendlich die brechtsche Bearbeitung mit den Maßstäben der ‚klassischen‘ Dramatik zu beurteilen, ohne Brechts dialektische Theaterästhetik zu berücksichtigen. Nach ihm ist die Antigone-Figur als Unruhezentrum der Handlung der widersprüchliche Moment selber. 299 Dazu vgl. insb. 3.2.5. Robert Savage bringt Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Position Brechts, der Hölderlin zwar auch ins aktuell-politische transformiert, ihn jedoch immer gleichzeitig historisiert, und der umfassend politisierten Rezeption des Dichters in den 1960er–70er Jahren auf den Punkt, wenn er schreibt: „The salient difference between Brecht and Bertaux is that between a revolutionary refunctioning of the poet and his rehabilitation as a revolutionary poet, between dramaturgy and hermeneutics“ (2008, 198f.). 300 Dort ist von der „hellenische[n] Dramaturgie“ die Rede, also vom Urtext. Dass Hölderlins Übersetzung des Urtexts durch ihren hohen Stil verfremdend wirkt, wird im Greizer Prolog thematisiert: „Freunde, ungewohnt / mag euch die hohe Sprache sein / In dem Gedicht, tausend Jahre alt / Das wir hier einstudiert“. Vgl. GBA 8, 242 und 25, 72.

332 | Ein Theaterjahrhundert verdummung und Gewalt gegründeten Regimes von Kreon zwar bewirkt, andererseits jedoch als Mitglied des Herrscherhauses, das „allzulange von Brot gegessen, das im Dunkeln gebacken ward“, selbst untergeht.301 Kann man diese schillernde Charakterisierung der Antigone mit Aspekten der Interpretation der Figur und ihres „Aufruhr[s]“ bei Hölderlin verbinden?302 Tatsächlich lassen sich nur vage Verbindungen aufzeigen, von einer Dependenz kann nicht die Rede sein. Die Möglichkeit, dass Brecht auch die Sophokles-Anmerkungen oder andere einschlägige Texte und Briefe Hölderlins flüchtig kannte, besteht zwar, ist aber durch keine eindeutigen Belege gesichert. Aufschlussreicher erscheint m.E. die Erwägung von Parallelen zwischen Hölderlins und Brechts Antigone-Stücken als Antike-Moderne-Projekten, die auf einer allgemeiner Ebene stehen und nicht im positivistischen Sinne (Einflussforschung), sondern aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive als Formen einer Fortführung bzw. Übersetzung ähnlicher ästhetischer und kultureller Konstellationen in neue Kontexte zu interpretieren sind. Dem Antigonemodell als Ganzem eignet nämlich ein Aneignungs- und Transformationsgestus, der zu Brechts Umgang mit der Tradition besser passen würde als die Hypothese, er hätte über die ihn sicher stark beschäftigenden sprachlichen, dramaturgischen und szenischen Aspekten hinaus nach theoretischer Anbindung an Hölderlin gesucht. Die Rede ist von dem Projektcharakter als Experiment einer antik-modernen Tragödie für die Gegenwart. Wie in 1.4 dargestellt, kennzeichnete bereits Hölderlins Sophokles-Projekt, in Fortführung von Tendenzen, die auch schon dem Empedokles-Projekt zugrunde lagen, eine dynamische Rückbesinnung auf die griechische Tragödie, die auf eine aktuelle Rezeption hin (idealiter eine Inszenierung) übersetzt bzw. bearbeitet (translation als re-writing) und kommentiert wurde (Sophokles-Anmerkungen). Dies mit Blick auf die Differenz von Antike und Moderne, aus der heraus die Transformation der Vorlage des Sophokles erläutert wurde, sowohl generell als auch an spezifischen übersetzerischen Beispielen.303 Bei Brecht ist mutatis mutandis eine parallele Dynamik zu beobachten, zu der Hölderlin als Vermittler zwischen Antike und Moderne hinzukommt. Brecht hat das Glück, auf die zukünftige Aufnahme seiner Texte bei einer Bühne nicht hoffen zu müssen, wie es bei Hölderlin mit dem Weimarer Theater der Fall war. Er kann die Arbeit sofort als Theaterarbeit anpacken. Eines jedoch haben sie gemeinsam: Die antike Tragödie wird für das moderne Publikum transformiert, im Sinne einer Aktualisierung, die sich der historischen Distanz bewusst bleibt. Die Kopplung von Übersetzung und Neudichtung bei Hölderlin weicht bei Brecht einem komplexeren intertextuellen Verfahren, an die

|| 301 Vgl. Arbeitsjournal, 12. Januar 1948 (GBA 27, 264). Fast gleichlautend die Worte der Alten nach dem Abgang der Antigone: „Aber auch die hat einst / Gegessen vom Brot, das in dunklem Fels / Gebacken war“ (GBA 8, 228). 302 So in den Antigone-Anmerkungen, vgl. StA 5, 271. 303 Vgl. die Mittelteile respektive der Ödipus- und der Antigone-Anmerkungen sowie oben, 1.4.

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Stelle der translation kommen Zitat und Variation der Vorlage, an die Stelle vom rewriting Variation und vor allem Imitation sowie eine Multiplikation der Quellen.304 In der Inszenierung und der sie dokumentierenden Publikation – die bei Hölderlin fehlen – kommt bei Brecht insbesondere der Kommentargestus zum Vorschein, der bei Hölderlin in den Anmerkungen zu finden war. Die Inszenierung – bei Hölderlin nur noch anvisiert – ist dann eine intermediale Übersetzung bzw. Transformation und damit auch kommentierende Erläuterung der literarischen Vorlage, zumal im gestisch-zeigenden Theater Brechts. Darüber hinaus erweist sich das Antigonemodell als Kommentar zum Stück, sowohl aus übergreifender historischer und ästhetischer Perspektive (im Vorwort) als auch mit Detailbezug auf einzelne Stellen und Aspekte durch die synoptische Interaktion von Bühnenfoto und Regieanweisung. Selbst Brechts Antigone-Legende, einem eigentlich für die Probenarbeit entstandenen Text seines Antigone-Projektes, der typologisch keine direkte Entsprechung in Hölderlins Projekt hat, kommt durch die Publikation im Modell in Form von Bildunterschriften eine Funktion zu, die produktive Rezeption der Vorlage und distanzierenden Kommentar derselben miteinander verbindet. Die Handlung wird in der Legende in narrative Dichtung in dritter Person umgewandelt, mit einigen Redeeinlagen. Fiktionsintern im Text durch den Erzählgestus, szenisch während der Probenarbeit, implizit bei der Aufführung durch die epische Spielweise der Darsteller und schließlich retrospektiv im Modellbuch, wo die Hexameter nun auch das Bildmaterial kommentieren, ist die Legende Teil der Antigone-Transformation Brechts; als solche sollte sie übrigens auch in Bühnenaufführungen rezipiert werden.305 Durch diese strukturelle Verwandtschaft mit dem Sophokles-Projekt Hölderlins stellt Brechts Antigone Mitte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal in der hier rekonstruierten Rezeptionsgeschichte eine literarische und theatralische Aneignung dar, welche die Antike-Moderne-Dynamik der Vorlage, ihre transformativ-interpretative Strategie (Übersetzung-Nachdichtung-Kommentar) und ihre Aufbereitung für die Gegenwart auf eigene Art und Weise und für die eigene Zeit produktiv umsetzt. Dies ungeachtet (oder gar gerade aufgrund!) der tief gehenden Veränderungen, die etwa die Handlung, die Personencharakterisierung, einige thematische Konstellationen wie natürlich weite Textpassagen bei Brecht erfahren. Daher rührt auch die in den folgenden Kapiteln besprochene Tendenz, dass Brechts Antigone eine eigene, typologisch und international verzweigte Rezeptionsgeschichte begründen konnte. Sowohl durch ihre ‚direkte‘ Bühnenwirkung, bei der sie im Laufe der Zeit weitgehend zum eigen-

|| 304 In dieser Phase ist der Kommentargestus in privaten Quellen (Arbeitsjournal) und in parallel zur Bearbeitung entstandenen Texten wie der Antigone-Legende belegt. 305 Produktiv wirkt sich die Antigone-Legende sowohl dramaturgisch (etwa in Heiner Müllers Ödipuskommentar) als auch theatralisch aus, denn der Text wurde für manche Inszenierung wiederaufgenommen (etwa bei Tabori).

334 | Ein Theaterjahrhundert ständigen Werk wurde, als auch qua Muster einer historisierend-aktualisierenden Sophokles-Hölderlin-Transformation, die stilbildend in der Antigone-Rezeption und für die Hölderlin-Nachwirkung im Theater insgesamt wirkte. Ermöglicht wurde diese Ausstrahlung maßgeblich durch das Antigonemodell, das den Inszenierungsprozess wie den Bearbeitungstext für künftige Dichter und Künstler gleichwertig nebeneinander stellte306 und zwischen verpflichtendem Aufführungsmuster und offenem Inszenierungsvorschlag den Akteuren viel Raum ließ. Die Art und Weise selbst, wie im Antigonemodell die verschiedenen Momente und Aspekte der Inszenierung und ihrer Vorbereitung dokumentiert werden, legt nämlich nahe, dass die dort versammelten Bilder, Regieüberlegungen und -Kommentare als Anregung für kreative Theaterarbeit zu verstehen sind. Auch das fiktive Frage-Antwort-Schema, mit dem manche Ergebnisse aus der Regiearbeit dargelegt werden, spricht für eine derartig offene Intention.307 Das Gegenteil wäre übrigens verwunderlich für einen Autor, der für einen freien Umgang mit Klassikern, Modernen und Vorlagen aller Art plädiert und sich bekanntlich auf dem eigenen Grab die Inschrift gewünscht hatte: „Er hat Vorschläge gemacht“.308 Die Modellbücher, die neben der Fixierung dramen- und bühnenästhetischer Grundsätze im Kleinen Organon für das Theater309 Brechts wichtigster Äußerungsort für praktische und theoretische Überlegungen zum epischen Theater darstellen,310 besitzen naturgemäß ein Moment der Beispielhaftigkeit, eben: Modellhaftigkeit. Es wurde daraufhin von einigen behauptet, dass diese Formen der intersubjektiven Vermittlung von Bühnenexperimenten – Versuche im Sinne Brechts – als verpflichtende Inszenierungsvorschriften zu verstehen || 306 Vgl. beispielsweise unten darüber, wie Julian Beck und Judith Malina durch das Modell Zugang zur Antigone Brechts fanden. Das Antigonemodell wurde trotz der mäßigen Auflagen manches Jahrzehnt lang zur Kenntnis genommen. 307 Vgl. beispielsweise GBA 25, 90, 92, 94, 96. 308 Allerdings geht das Gedicht Ich benötige keinen Grabstein so weiter: „Wir / Haben sie angenommen. / Durch eine solche Inschrift wären / Wir alle geehrt“ (GBA 14, 191f.). Auf dem Grabstein im Dorotheenstädtischen Friedhof, wo Brecht am 17. August 1956 beerdigt wurde, steht nur sein Name, wie in seiner testamentarischen Verfügung festgelegt. 309 Brecht bezeichnete sein theoretisches Hauptwerk als „eine kurze Zusammenfassung des Messingkaufs“ (GBA 27, 272). Tatsächlich ist das Kleine Organon ohne die Berücksichtigung des weiteren Zusammenhangs von Brechts theoretischer Reflexion in den 1930–40er und praktischer Theaterarbeit in den 1940–50er Jahren kaum zu verstehen. 310 Modellbücher dienten der systematischen Dokumentation und der Verbreitung der in einzelnen Inszenierungen erprobten praktischen Theaterarbeit; dabei werden auch Überlegungen theoretischer Art angestellt, die allerdings meist an konkreten Beispielen diskutiert und nicht abstrakt formuliert werden. Es wurden Modellbücher zur Churer Antigone-Inszenierung, zur (früheren) amerikanischen Galilei-Inszenierung und zur (späteren) Berliner Mutter Courage-Inszenierungen hergestellt (vgl. unten). Nur das erste Modellbuch wurde vollständig zu Brechts Lebzeiten abgedruckt, die weiteren Dokumentationen dienten allerdings bereits vor der jeweiligen Veröffentlichung zur Realisation von Produktionen. 1952 erschien der kollektive Band Theaterarbeit, eine Dokumentation der Arbeit des Berliner Ensembles, wo u.a. Teile des Couragemodells 1949 antizipiert wurden.

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wären. Dazu trugen in der Tat auch einige Aussagen und Maßnahmen Brechts und seines Teams bei, die etwa Mutter Courage-Inszenierungen nur dann bewilligten, wenn die im Couragemodell abgedruckte Vorlage zu Grundlage der neuen Theaterarbeit gemacht wurde.311 Die emphatische Insistenz auf der eigenen musterhaften Inszenierung als Ausgangspunkt (nie aber: Endpunkt) weiterer Produktionen wurde dabei auch historisch begründet: Als unumgängliche Erneuerung der Theaterästhetik und -Praxis an einer umfassenden Zeitenwende, als Aufbau im Ruinenfeld nach Diktatur und Krieg: „Was das Theater betrifft, werfen wir in den Bruch hinein die Modelle“ (GBA 25, 171). Selbst in jenem Modell zu Mutter Courage, aus dem hier zitiert wurde, wird allerdings explizit darauf hingewiesen, dass die Auseinandersetzung damit als freie produktive Arbeit zu neuen Ergebnissen führen muss: Modelltreue stünde wie Werktreue zu dem grundsätzlich experimentellen Theaterverständnis Brechts in krassem Widerspruch.312 So sei das Couragemodell nicht gemacht, „das Denken zu ersparen, sondern es anzuregen; nicht gemacht, das künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern es zu erzwingen“ (GBA 25, 171). Modellbücher besitzen, so kann man mit Worten aus dem Messingkauf, die Brecht auf Shakespeares Hamlet münzte, schlussfolgern, nur die „Dauerhaftigkeit des Provisorischen“: Experimentaltheater ist wie experimentelle Wissenschaft auf die kontinuierliche Überprüfung und Überholung von intersubjektiv zur Verfügung gestellten Versuchsresultaten angewiesen.313 Bereits im Antigonemodell, der ersten publizierten Aufführungsdokumentation Brechts überhaupt, kann man eine ähnliche „Dauerhaftigkeit des Provisorischen“ im Spannungsfeld von Verbindlichkeit des Modells und Freiheit demselben gegenüber erkennen. Im Vorwort, auf das nun zurückzukommen ist, wird betont, dass der Experimentalcharakter der Inszenierung – „daß sich eine neue Spielweise an einem antiken Stück versuche“ – dazu führen muss, dass „die neue Bearbeitung nicht in der üblichen Weise den Theatern zur freien Gestaltung übergeben wird. Es wurde ein verpflichtendes Aufführungsmodell hergestellt“ (GBA 25, 75). Im ersten Vorwortabschnitt war bereits der „totale materielle und geistige Zusammenbruch“ der unmittelbaren Nachkriegszeit festgestellt worden samt der Notwendigkeit, über die auffälligere „Beschädigung an den Theatergebäuden“ hinaus jener an der Spielweise abzuhelfen, die durch die „Technik der Göringtheater“ ruiniert worden war, eine Technik, „die der Verhüllung der gesellschaftlichen Kausalität diente“ (73). Auch || 311 Einsicht in Form und Funktion der Theatermodelle zwischen der „sanften Erpressung“ Brechts und der laut gewordenen Kritik gewährt Werner Hechts brillant in seiner gleichnamigen ‚Geschichte‘ (2006, 170–176). 312 Die Konstellation Experiment/Modell habe ich zu nachzuzeichnen versucht in Castellari (2009a) 153–157. 313 Vgl. GBA 22/1, 753. Wie für den Messingkauf charakteristisch, ist das Hamlet, Experiment betitelte Bruchstück in Dialogform geschrieben. Die meist die Position Brechts vertretende Philosophen-Figur kommt auf die oben erwähnte Bezeichnung in einem Gespräch mit der Figur des Dramaturgen.

336 | Ein Theaterjahrhundert hier, wie im Couragemodell, wurde also für eine historisch wie ästhetisch begründete verbindliche Benutzung des Modells plädiert, was gleichzeitig hieß: für dessen ‚Änderung‘, ‚Entwicklung‘, ‚Verbesserung‘ – alles Begriffe, die nicht umsonst wiederholt vorkommen. „Ein solches Modell“, heißt es anschließend, „steht und fällt natürlich mit seiner Nachahmbarkeit und Variabilität“ (76). Keine passive Übernahme wird als Haltung gegenüber dem Modell verlangt, sondern produktive Überprüfung und Überbietung. Denn „der Vorschlag, ein Modell zu benutzen“, – wohlgemerkt: „Vorschlag“, „benutzen“ – „enthält eine klare Herausforderung an die Künstler einer Zeit, die nur dem ‚Ursprünglichen‘, ‚Unvergleichlichen‘, ‚Niedagewesenen‘ applaudiert und die das ‚Einmalige‘ fordert“. Eine derartige romantisch angehauchte Vorstellung der „isolierte[n] ursprüngliche[n] Erfindung“ sei durch einen „kollektive[n] Schöpfungsakt“, einen „Kontinuum dialektischer Art“ zu ersetzen (ebd.). Im letzten Absatz dieses dritten Vorwort-Abschnitts, das der Klärung des Modellverständnisses in offensichtlicher Kontinuität mit der beinahe gleichzeitig im Kleinen Organon festgehaltenen Ästhetik des ‚epischen‘ bzw. ‚dialektischen‘ Theaters gewidmet ist,314 gipfeln Brechts Überlegungen in dem Ausruf: „Denn das Modell ist wahrhaftig nicht aufgestellt, die Aufführungsweise zu fixieren, ganz im Gegenteil!“ (77). In dieser Form eines (was die Benutzung angeht) bindenden und zugleich (was den Modus der Benutzung angeht) offenen Vorschlags sollte Brechts Antigone-Bearbeitung und -Inszenierung am stärksten wirken und damit auch speziell die Bühnenrezeption Hölderlins in der Nachkriegszeit prägen. Interessanterweise schließt wenige Zeilen darauf dieser Vorwortabschnitt mit der Bemerkung ab, dass die Veränderbarkeit des Antigonemodells letzten Endes auf dessen Unvollkommenheit beruhe: „Das Modell [...] ist von vornherein als unfertig zu betrachten; gerade daß seine Mängel nach Verbesserungen schreien, sollte die Theater einladen, es zu benutzen“ (ebd.). Dieser in Brechts dialektischen Überlegungen implizite Aspekt – Perfektibilität statt Perfektion, Experiment als Fortschritt in der Erkenntnis, der bald durch einen weiteren Schritt nach vorn überholt sein wird – wird somit stark exponiert. Neben dem offensichtlichen Verweis auf die Inszenierungsdokumentation und -kommentare, auf eine Regiearbeit, die als work in progress verstanden werden muss,315 kann man m.E.

|| 314 Unter den neueren Forschungsbeiträgen plädiert überzeugend Taxidou (2008) dafür, beide Werke in ihrem Wechselverhältnis zu lesen: „these two projects need to be read in tandem. His version of Antigone emerges as an experimental exercise in Epic Theater but as an equally experimental proposition in modern tragedy“ (245). 315 Damit dokumentiert das Vorwort Bedenken bzw. Schwierigkeiten, die während der Probenarbeit in privaten Zeugnissen verlautbart wurden. Vgl. etwa die Arbeitsjournal-Notiz vom 18. Januar 1948 über die nicht erfolgte Durchrationalisierung (GBA 27, 255) bzw. den Brief an Hans Curjel vom 7. Februar 1948, wo deutlich von der noch unvollständigen Durchsetzung einer epischen Spielweise die Rede ist sowie davon, dass die Aufführung „Angefangenes und Beschäftigendes“ habe (ebd. 29, 444).

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darin auch die Auffassung Brechts hinsichtlich der noch als unfertig betrachteten textuellen Arbeit an Hölderlins Vorlage wiedererkennen, die erklärtermaßen ebenso Mängel aufweist. Aussagen aus der Entstehungszeit der Bearbeitung wären hier nochmals heranzuziehen, in der die sprachliche Konfrontation mit der Übersetzung als eine Angelegenheit betrachtet wurde, die längere und tiefere Beschäftigung verdient hätte, als in den damaligen Verhältnissen möglich war. Oder ebenso bereits zitierte Passagen, in denen die erprobten Wege bei der besagten Transformation eindringlich als Versuch bezeichnet wurden; das Wort oder das entsprechende Verb kommt etwa im mehrfach zitierten Brief an den Sohn Stefan vom Dezember 1947 sogar dreimal innerhalb weniger Zeilen vor (GBA 29, 440). Das wiederholte Feilen am Text durch Rückgriff auf weitere Übersetzungstexte Hölderlins zeigt, dass Brecht noch bis in die Probenzeit mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt war; die Unzufriedenheit (zirka ein Monat vor der Uraufführung) über das „keineswegs durchrationalisiert[e]“ Stück“ belegt höchstens den Experimentalcharakter des dramatisch-theatralischen Unternehmens als opus in fieri.316 Der Unfertigkeit, der Mängel der Antigone-Bearbeitung und -Inszenierung, des Spagats zwischen Intention und Ergebnis war sich Brecht also durchaus bewusst. Das erklärt vielleicht auch, warum er weder diese noch andere antiken Tragödien bzw. Hölderlin-Texte für die eigene Theaterarbeit in Berlin wiederaufgenommen hat. Der mit 58 Jahren verstorbene Brecht könnte, so kann man weiter spekulieren, eine erneute Auseinandersetzung mit dem Dichter auf eine Zeit hinausgeschoben haben, zu der das „tiefere Studium“, die Hölderlins sprachliche „erstaunlich[e] Radikalität“ verdiente, möglich gewesen wäre; dazu kam es nicht.317 Der Experimentcharakter der Sophokles-Hölderlin-Brecht-Transformation der Antigone für die Nachkriegsbühne bestimmte dann die Modalität ihrer Aufnahme bei anderen Dramatikern und

|| Im Brief an Ferdinand Reyher vom April 1948 wird schließlich das Churer Unternehmen als „ein Versuch in der Richtung“ bezeichnet, „von der wir sprachen: zu untersuchen, was wir tun können für die alten Stücke und: was sie für uns tun können“ (448, kursiv von mir). 316 So am 18. Januar 1948 im Arbeitsjournal. Die Stelle, die plötzlich abbricht und offensichtlich noch unreife Überlegungen wiedergibt, vielleicht sogar ein Unzufriedenheitsausbruch bei stockender Arbeit oder vor irgendeiner Kritik, wurde in der Forschung überbewertet. „Die ganze ‚Antigone‘ gehört auf die barbarische Pferdeschädelstätte“, heißt es dort, „Das Stück ist ja keineswegs durchrationalisiert; nur“ (GBA 27, 265). Unklar bleibt, ob er hier sich auf die Antigone des Sophokles, auf diejenige Hölderlins oder auf die eigene Bearbeitung, auf textuelle oder (wie der Hinweis auf die Pferdeschädel und somit auf Nehers Bühnenbild nahelegt) auf szenische Aspekte bezieht. 317 So lautet der vollständige Satz in der Arbeitsjournal-Notiz vom 25. Dezember 1947: „Hölderlins Antigone-Sprache verdiente tieferes Studium, als ich ihr diesmal widmen konnte. Sie ist von erstaunlicher Radikalität“. Darauf folgen die Beispiele für den „schwäbische[n] Volksgestus“ (GBA 27, 258). Interessanterweise war darunter auch jener Stasimon-Vers angeführt (hier in der fehlerhaften Form „Treib sein’ Verkehr er, mit dem Rossegeschlecht“), der dann mehrfach bearbeitet werden sollte: Offensichtlich eine Stelle, die Brecht von Anfang an beeindruckte.

338 | Ein Theaterjahrhundert Regisseuren. Unter den direkten Wiederaufnahmen von Brechts Antigone im Sprechtheater sollten nur wenige zu bedeutender Wirkung kommen, dies erst spät und vor allem dann, wenn ein richtig freier Umgang mit dem Modell praktiziert wurde. Einschneidender wirkte sich Brechts Antigone-Versuch rezeptionsgeschichtlich dann aus, wenn er zum Ausgangspunkt für intermediale Transformationen wurde und wenn Bearbeitung und Modell indirekt zur Inspiration für eine andersartige Weiterarbeit an Hölderlin für die Bühne der Gegenwart wurde. Als derartig offenes Modell einer produktiven, komplexen ‚Klassiker‘-Transformation, die Hölderlins Theaterprojekte und die ihnen innewohnenden sprachlichen und inhaltlichem Konstellationen auf ihre aktuelle Wirksamkeit prüft, bot sich Brechts Antigone als grundsätzliche Alternative zur feierlich-sakralen Rezeption des Dichters an, die noch im Nachkriegstheater der 1940er–60er Jahre vorherrschte.

3.2.2 Museum der Worte. Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht Anfang Mai 1945, die das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete, wurden die deutschen Gebiete zwischen Rhein und Oder in vier Besatzungszonen, Berlin in vier Sektoren aufgeteilt; die Regierungsgewalt übernahmen die vier Alliierten-Mächte Frankreich, Großbritannien, UdSSR und USA. Im bereits Anfang April von der Roten Armee befreiten Wien und in ganz Österreich, das seit Ende jenes Monats von einer provisorischen Regierung als selbständige (zweite) Republik geführt wurde, wurde im Kleinen eine ähnliche Sektoren- bzw. Zoneneinteilung eingerichtet. Die Wiedereröffnung der Theater, die seit dem 1. September 1944 im gesamten Reich geschlossen waren, ging in diesem historisch-politischen Rahmen überaus, ja überraschend schnell vonstatten. Es nahmen am 30. April 1945 an der Donau das Burgtheater (mit der Sappho-Tragödie des Nationalklassikers Grillparzer, aufgeführt in einem Ausweichquartier des beschädigten Theaterhauses), am 27. Mai an der Spree das Renaissance-Theater als erste deutsche Bühne (mit Franz und Paul von Schöntans Schwank Der Raub der Sabinerinnen) ihre Aktivitäten wieder auf – in beiden Fällen handelte es sich um Wiederaufnahmen von früheren Inszenierungen. In der neutralen Schweiz hatte das deutschsprachige Theaterleben freilich keine Unterbrechung erlebt; bekanntermaßen war dort in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren das Zürcher Schauspielhaus unter Oskar Wälterlins und Kurt Hirschfelds Ägide und mit einem durch zahlreiche prominente Emigrantenkünstler bereicherten Ensemble „zu der profiliertesten antifaschistischen Bühne Europas avanciert“, u.a. durch Uraufführungen von Brechts Exildramen. Zusammen mit dem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zu Renommee gekommenen Theater Basel und im Unterschied zu eher regional bedeutenden Stätten wie die eidgenössische Hauptstadt Bern wurde das Zürcher Haus zum führenden Schauplatz des

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deutschsprachigen Theaterlebens, was im dramatischen Bereich dem raschen Aufstieg Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts zu den bedeutendsten Stückeschreibern deutscher Sprache nach Brecht entspricht.318 Bei der „zügige[n] Wiederherstellung des deutschen Theaterwesens“ in den ersten Nachkriegsmonaten319 traten unterschiedliche Bedürfnisse zu Tage: Ablenkung, Besinnung, geistige Orientierung, erneuter Anschluss an während Diktatur und Krieg verpönte oder verfälschte in- und ausländische dramatische und künstlerische Entwicklungen, öffentliche Diskussion über brisante historisch-politische, gesellschaftlich-ökonomische und kulturell-künstlerische Fragen. Dabei geriet das Theaterleben schnell in den Einflussbereich der sich anbahnenden Teilung Deutschlands und Europas in einen ‚westlichen‘ und einen ‚östlichen‘, kapitalistischen resp. sozialistischen Block. Generell kann man in den Spielplänen der ersten Spielzeiten „zwei große Projektionsflächen“ erkennen, die solchen Bedürfnissen gerecht zu werden suchten: Die ‚nationalen‘ Klassiker zum einen, allen voran Lessing mit seinem als Toleranz- oder gar Wiedergutmachungsstück aufgeführten Nathan der Weise, Goethe und Schiller, und zum anderen (inter-)nationale Gegenwartsdramatiker. Dabei wurden im ‚Westen‘ französische (vom Existentialisten Sartre bis auf eher ‚leichte‘ Autoren wie Giraudoux und Anouilh) und angloamerikanische Dramatiker, Thornton Wilder in erster Linie, bevorzugt inszeniert; unter den deutschsprachigen Zeitstücken wurde Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, das expressionistisches Pathos und expressionistische Formen mit höchst aktuellen Themen wie Kriegsheimkehr, Schuldfrage, Desorientierung verband, zu einem legendären postumen Erfolg (21. November 1947, Hamburger Kammerspiele; die Hörspielfassung war bereits im Februar 1947 ausgestrahlt worden). Im ‚Osten‘, wo auch Klassiker offiziell im Sinne der Wahrung des ‚kulturellen Erbes‘ gepflegt wurden, war das meist von deutschen Remigranten oder aus der russischsprachigen Literatur stammende Repertoire wie auch der Inszenierungsstil stärker durch die Vorgaben des ‚sozialistischen Realismus‘ bzw. von Stanislawskis Schauspielrealismus geprägt. Dies führte zur Ablehnung ‚formalistischer‘ bzw. ‚pessimistischer‘ alter und neuer Dramaturgie wie auch zu bemerkenswerten Reibungen zwischen Kulturfunktionären und Künstlern, etwa mit Brecht und seinen Mitarbeitern bzw. Mitstreitern. Dieser war im Herbst 1948 aus Zürich in den Berliner Ost-Sektor gezogen, wo 1949 das Berliner Ensemble unter der Führung seiner Frau Helene Weigel gegründet wurde. Bereits die Inszenierung von Mutter Courage im Deutschen Theater und ein paar Monate darauf des Puntila, der am 8. November 1949 den Theaterbetrieb des Berliner Ensembles noch im ehemaligen Reinhardt-Haus offiziell eröffnete, zeigten, wie schwer die „Mühen der Ebenen“ selbst für diejenigen waren, die

|| 318 Brauneck (1993–2007) 5, 523. Hier und im Folgenden basieren die Überlegungen zur Geschichte des deutschsprachigen Theaters maßgeblich auf Braunecks Rekonstruktion. 319 Ebd., 197.

340 | Ein Theaterjahrhundert den „Mühen der Gebirge“ getrotzt hatten.320 In der zirka ein Monat davor gegründeten DDR, wo schnell alle Kultureinrichtungen einschließlich der Theater der zentralistischen Kontrolle unterworfen wurden und die von der sowjetischen Besatzungsmacht in den ersten Nachkriegsjahren praktizierte Pflege ‚humanistischer‘ Klassiker und sozialistischer Neuerer eifrig nachgemacht wurde, sollten der Vorzeigeautor Brecht und ‚sein‘ Exportartikel BE wiederholt im ästhetisch-politischen Kreuzfeuer der Kritik stehen. Nach seinem Tod und verstärkt in den Jahrzehnten darauf erfolgte (erst recht im Berliner Ensemble) eine Musealisierung Brechts zum konformen Klassiker, über die sich der Geehrte wohl mehrmals im Grab umdrehte. In der ebenso neugegründeten BRD, wo zwischen Mai und September 1949 das Grundgesetz verkündet, die ersten Wahlen durchgeführt und das erste Kabinett mit Adenauer als Bundeskanzler gebildet wurden, entwickelten sich vor allem die von Land bzw. Kommune getragenen öffentlichen Theater zu Zentren kultureller und künstlerischer Tätigkeit, während viele private Bühnen, die wie Pilze aus der Erde geschossen waren, nach der Währungsreform zur Schließung gezwungen wurden. Bald geriet auch hier Brecht unter umgekehrten Vorzeichen ebenso in die Schusslinie. Der so genannte Brecht-Boykott – eigentlich mehrere davon in der Adenauerzeit, etwa nach dem 17. Juni 1953 und nach dem 13. August 1961 –, zu dem neben Politikern auch führende Kolumnisten aufriefen und dem sich Regisseure und Intellektuelle entgegenstemmten, kann als das theatralische Pendant zum allgemeinen Befund betrachtet werden, dass durch den ‚kalten Krieg‘ die „Bekämpfung des Faschismus“ in der jungen Bundesrepublik, die durch die Entnazifizierungsverfahren der Alliierten immerhin ein Stück weit in Gang gekommen war, „durch eine programmatische Bekämpfung des Kommunismus überformt, ja abgelöst“ wurde.321 Die in diesem Kapitel zu erörternde Bühnenwirkung Hölderlins während der 1940–60er Jahre, die sich fast ausschließlich im westlichen Theater entfaltete und bis auf wenige Ausnahmen die durch Brechts Antigone gesetzten neuen Akzente vermissen ließ (3.2.1), zeugt im Kleinen von dieser Polarisierung. Dazu gehört auch die unterschiedlich betriebene Pflege der Klassiker bzw. des klassischen Erbes dies- und jenseits der Elbe, und die unterschiedliche Einstellung gegenüber experimentellen bis alternativen künstlerischen Entwürfen. Hölderlin war im Theater mit der in den 1910–20er Jahren dominanten feierlich-sakralen Inszenierungstradition verbunden, die erst punktuell durch experimentelle Ansätze aufgesprengt worden war (vgl. 3.1.2). Diese Tradition wurde auch in der NS-Zeit fortgesetzt, deren ideologische Exzesse noch sehr frisch waren (3.1.3). Kontinuitätszeichen mit diesen Erscheinungen im

|| 320 Vgl. Brechts Gedicht Wahrnehmung mit beiden berühmten Bildern: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen“ (GBA 15, 205). Das zweite Bild diente Werner Hecht zum Titelzitat für seine umfassende Rekonstruktion zu „Brecht und die DDR“, auf die für Details zu den oben genannten Reibungen verwiesen sei (Hecht 2013). 321 Brauneck (1993–2007) 5, 194.

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BRD-Theater der Nachkriegszeit, die in der nachfolgenden Rekonstruktion unübersehbar auftauchen werden, müssen vor dem kurz skizzierten Hintergrund gelesen werden, wie auch das konträre Versanden anderer Rezeptionsmodi im DDR-Theater bis auf die bedeutende Ausnahme von Heiner Müllers und Benno Bessons Berliner Ödipus, Tyrann (1967, vgl. 3.2.3). Ebenso beispielhaft für den politisch-kulturellen Zustand des BRD-Theaters in den langen 1950er Jahren ist eine das Gesamtbild des Theaterwesens prägende Erscheinung, die sich auch für die Bühnenaufnahme Hölderlins von Belang erweisen soll. Die Rede ist vom sogenannten ‚Intendantentheater‘ und von den Personen, die es prägten. Nach Kriegsende, teilweise bereits in den Jahren des Besatzungsregimes, wurden die Intendantenposten mit Personen besetzt, die den Neubeginn im Theater als eine Fortsetzung früherer Verhältnisse praktizierten. Brauneck bringt das auf die einprägsame Formel: „eher Kontinuität als Bruch“ und bemerkt dazu, dass tendenziell antifaschistisch aktive Persönlichkeiten Stellen im Osten bekamen – oft Remigranten, die im Theater der Weimarer Republik aktiv gewesen waren –, während sich im Westen diejenigen, „die sich als unpolitisch darzustellen verstanden“, eher die Chance bekamen, Führungspositionen zu übernehmen. Darunter einige, die solche Posten bereits im NS-Deutschland bekleidet hatten, und die ebenso gefragten Jüngeren, die ihre Lehrjahre ‚unterm Hakenkreuz‘ hinter sich hatten.322 Keine ‚Stunde Null‘ im BRD-Theater also, wie übrigens auch, ja noch ausgeprägter, in der als ‚braun‘ geltenden Theaterwissenschaft jener Jahre.323 Kompromittierte Künstler, die vorläufig Berufsverbot erhalten hatten, standen, wenn sie prominent waren, schnell wieder im Scheinwerferlicht, etwa die Schauspieler Emil Jannings und Werner Krauß. Der ‚Tänzer auf dem Vulkan‘ Gustaf Gründgens kehrte nach der Gefangenschaft in einem russischen Lager und nach der Entnazifizierung im wörtlichen und übertragenen Sinne wieder auf die Bühne. Für seine Rehabilitierung sprach, dass er unter schwierigsten Umständen rassistisch verfolgte Kollegen geschützt hatte. Seine Intendanzen in Düsseldorf (Städtische Bühnen, dann nur Schauspielhaus, 1947–1955) und Hamburg (Deutsches Schauspielhaus, von 1955 bis zum Todesjahr 1963) prägten nachhaltig das bundesrepublikanische Nachkriegstheater unter dem Motto ‚Werktreue‘, ‚Klassikerpflege‘, ‚moralische Selbstverständigung‘. „Autoritäre Theater-Zeiten“ brachte laut Henning Rischbieter das um die herausragenden Figuren der Intendanten herum wiederaufgebaute deutsche Schauspiel mit sich.324 Die ästhetisch dominante Herangehensweise – unter der Forderung des ‚Apolitischen‘, eines der Schlüsselwörter der Adenauerzeit – bestand in der „neuklassizis-

|| 322 Ebd., 206f. 323 Vgl. etwa den Fall Heinz Kindermann, 3.1.3.1. 324 Zitiert in Brauneck (1993–2007) 5, 210; Rischbieters Rückblick stammt aus dem Jahr 1999.

342 | Ein Theaterjahrhundert tischen Traditionswahrung“ Gründgens und anderer im Sinne eines sich gegen stilistische wie politische Experimente wehrenden Festhaltens am dramatischen Wort.325 Als Gegenstück dazu gilt die in Rudolf Gustav Sellners ‚Darmstädter Stil‘ kulminierende Tendenz, Abstraktion und De-Kontextualisierung als Mittel zur Herausstellung der existentiellen Bedeutung der Klassiker für moderne Befindlichkeiten einzusetzen, wobei auch Sellner den Rahmen einer konservativen Werktreue nicht verließ. Als dritte Wegmarke gegenüber dieser traditionalistisch-historisierenden und modernistisch-abstrahierenden Tendenz wird in theatergeschichtlichen Rekonstruktionen die Auseinandersetzung mit Brecht erwähnt, die unter den oben genannten Voraussetzungen etwa Harry Buckwitz in Frankfurt suchte. In diesem Panorama sind auch die Aktivitäten von Regisseuren bzw. Intendanten zu situieren, die bereits in den (Vor-)Kriegsjahren Hölderlin inszeniert hatten und ihn nun teilweise erneut inszenieren. Heinz Hilpert etwa, der in Zürich, Frankfurt, Konstanz und dann prägend während seiner Göttinger Intendanz einen durch Werktreue und Wahrhaftigkeit gekennzeichneten Stil zur Geltung bringen konnte, oder Karl Heinz Stroux, der als Spezialist für Shakespeare und fürs absurde Theater eine Ästhetik propagierte, die sich mit Gründgens Prinzipien deckte; er wurde nicht umsonst zu dessen Nachfolger in Düsseldorf. Unter denjenigen, die bereits in den 1930er und frühen 1940er Jahren aktiv gewesen waren, jedoch auf Hölderlin erst nach dem Krieg zurückgriffen, ragt der erwähnte Sellner heraus, der Gestalter der überzeugendsten Hölderlin-Inszenierung der 1950er Jahre überhaupt: Jener Antigone von 1957 in Darmstadt, die weiter unten als „antike Tragödie“, die in Zeiten existentialistischen Leidens „zum Zeitstück“ wurde, zu würdigen ist.326 Insgesamt kann man hier als Befund der nachfolgenden Kapitel vorwegnehmen, dass Hölderlin nur mit seinen SophoklesÜbersetzungen ins Repertoire des in den ersten Nachkriegsjahrzehnten florierenden ‚Intendantentheaters‘ gelangte (3.2.2.1). Der Tod des Empedokles hingegen wurde

|| 325 Ebd., 218. 326 So Sellner selber zu seinem Verhältnis zur antiken Tragödie, die zusammen mit Shakespeare die Hauptreferenz seiner Regiearbeit war (zitiert bei Brauneck 1993–2007, 5, 226). Ebd., 225–228 wird neben der weiter unten zu erörternden Darmstädter-Ära Sellners, die zentral für die Bühnenrezeption von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen in den 1950ern war und von der aus Impulse für die 1960er Jahre ausgingen, auf die „Nähe [Sellners] in den Jahren 1932–45 (Oldenbourg, Göttingen, Hannover) mit völkisch-kultischen Ideen der NS-Theaterpolitik“, auf dessen Nietzsche- und Heidegger-Lektüren, auf die kongeniale Zusammenarbeit mit Schadewaldt in der Nachkriegszeit eingegangen. Selbst eine vor diesem Hintergrund paradox anmutende Nähe zu Brechts Ästhetik wird vom Theaterhistoriker (im Bewusstsein ihrer sonstigen Distanz) erwogen, der auf Sellners Ablehnung eines Erlebnisoder Kulttheaters und auf seine Konzentration auf fremde, abstrakte Formen bei der Inszenierung antiker Tragödien als mögliche Berührungspunkte mit Brecht verweist. Sellners „instrumentales Theater“ (so sein Dramaturg Claus Bremer), kam tatsächlich, etwa im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Schauspieler und Rolle, der Verfremdungs-Ästhetik Brechts nahe; letztendlich haben aber neben der divergierenden ideologischen Position ästhetische Unterschiede die Oberhand, allen voran die Frage der Werktreue in Klassiker-Inszenierungen, die für Sellner immer zentral blieb.

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zwar gelegentlich gespielt, wobei prominente Bearbeiter oder Berater aus der Philologie – Staiger, Schadewaldt oder Beißner – mitarbeiteten, die Inszenierungen konnten sich jedoch kaum über das regionale oder epigonale Niveau erheben (3.2.2.2). Diese rezeptionsgeschichtliche Nebenrolle des Empedokles könnte man mit der verhältnismäßigen Vernachlässigung des fragmentarisch gebliebenen Trauerspiels in der damaligen Hölderlin-Forschung begründen, die sich eher anderen Texten und Fragen widmete, wobei insbesondere die Lyrik, teilweise auch der Hyperion-Roman und die Übersetzungen aus dem Griechischen sowie überhaupt die ‚hellenisch-hesperische‘ Konstellation mit ihren religiösen und philosophischen Konnotationen (oft auf Heideggers Spuren) in den Mittelpunt editorischer und interpretatorischer Arbeiten gestellt wurden. Diese Begründung erscheint allerdings nicht ganz überzeugend bzw. nicht hinreichend, wenn man bedenkt, dass die Dynamik der Bühnenrezeption keine eins-zu-eins Entsprechung mit der Forschungsgeschichte vorweist; die bisher erörterte Entwicklung wie auch die noch zu besprechende können das belegen. Das durchaus feststellbare Verhältnis zwischen verschiedenen Rezeptionssparten ist jeweils anders zu präzisieren und im Zusammenhang mit weiteren kulturellen Kontexten zu bewerten. Gerade die Überlegungen zum Schicksal des Empedokles im Theater der Jahre 1947–1967 werden an punktuellen Beispielen zeigen, wie die jüngste ‚Vorgeschichte‘, die unheilvolle Empedokles-Konjunktur im Theater um 1943, und die Langzeitwirkung von Vorurteilen gegenüber dem Drama und seiner Eignung als Bühnenwerk dafür sorgten, dass das Stück nur selten ins Repertoire aufgenommen wurde. Als dritter Faktor sind die damals herrschenden Vorstellungen in Sachen Text und Dramaturgie zu nennen, die für eine Auseinandersetzung mit der experimentellen Form und der Fragmentarität des Stücks nicht geeignet waren. Ausnahmen davon machte man nur bei neueren Dramaturgien wie dem ‚absurden‘ Theater oder bei älteren Stücken, etwa bei Büchner, die jedoch in der modernistischen Tradition im Zeichen der ‚offenen Form‘ verstanden wurden. Die philosophischen oder gar politischen Aktualisierungsangebote der tragischen Bruchstücke Hölderlins wurden kaum zum Impuls produktiver Theaterarbeit. Die meisten Hommage-Inszenierungen propagierten museal-feierliche Bilder des griechischen Philosophen und des zu huldigenden Dichters; darin zeigt sich im Kleinen eine auffällige Verwandtschaft mit den Rezeptionsmodi der erfolgreicheren Sophokles-Übersetzungen, so dass man allgemein für diese Jahrzehnte behaupten kann, dass der Tod des Empedokles wie eine antike Tragödie und nicht wie ein Antikendrama der Goethezeit behandelt wurde. Gerade daran sollte dann das ‚Regietheater‘ in den 1970er Jahren anknüpfen und mit der Inszenierungstradition des Empedokles Schluss machen, indem das Trauerspiel doppelt aktualisiert wurde, zum Stück aus der Zeit nach der Französischen Revolution und zum Stück über brisante Fragen der Gegenwart. Dies konnte infolge eines tiefgreifenden rezeptionsgeschichtlichen Wandels geschehen, den auch die literarisch-dramatische Wirkung Hölderlins und die Bühnenrezeption der SophoklesÜbersetzungen erfuhren (3.2.4 und 3.2.5.1–3). Noch war dies in der unmittelbaren Nachkriegszeit jedoch Zukunftsmusik: In den 1940–50er Jahren und selbst noch in

344 | Ein Theaterjahrhundert den 1960er Jahren, als die deutschsprachige Theaterlandschaft doch bereits jene grundlegenden ästhetischen, strukturellen und politischen Veränderungen erlebte, die zur Etablierung einer neuen Generation von Regisseuren führten. Dazu trugen auch Impulse aus dem ausländischen alternativen Theater bei. Die Periode gilt dementsprechend als „Jahrzehnt der Regisseure“ bzw. als Zeit der endgültigen Durchsetzung des „Regietheaters“.327 Diese theatergeschichtliche Chronologie findet in der Bühnenwirkung Hölderlins vorerst keine Entsprechung. Erst zaghaft um die Schlüsseljahre 1968 (für die ‚westliche‘ Kultur im weiten Sinne) und 1970 (für die HölderlinRezeption auf beiden Seiten des ‚Eisernen Vorhangs‘) sowie verstärkt gegen Mitte des darauffolgenden Jahrzehnts, etwa in Klaus Michael Grübers Inszenierungen von 1975 (zu Empedokles) und 1977 (zu Hyperion) sollten die Verspätungen nachgeholt werden und auch Hölderlins Texte Eingang ins avancierte Theater finden. Es lohnt sich, diese chronologische Ungleichheit bereits jetzt zu erklären, denn die Gründe dafür liegen gerade in der Gesamtdynamik der Hölderlin-Forschung und -Rezeption der Nachkriegszeit, im Umstand, dass sie auf diesen kunst- und kulturgeschichtlichen Wandels nicht vorbereitet war. Die einzelnen Bühnenkarrieren der Sophokles-Übersetzungen und des Empedokles, die anschließend erörtert werden sollen, sind vor diesem Hintergrund besser zu verstehen; umgekehrt liefern sie einige symptomatische Einzelbeispiele, die den Hintergrund im Rückblick greifbarer und klarer erscheinen lassen. Die hier antizipierten Überlegungen zum Wandel um 1970 werden dann in 3.2.5 an Beispielen konkretisiert werden. Eine Ausgangssituation für die Hölderlin-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Forschungsberichte schaffen, die u.a. Adolf Beck und Emil Staiger in den 1940er Jahren veröffentlichten. Claudia Albert erblickt in der dort ausgegeben „Losung: zurück zur praktischen Interpretation, zur Auslegung und Exegese, zur Erschließung des Gedichtes als eines konkreten, in sich vollendeten und ruhenden Gebildes“ (so Beck) eine „Rephilologisierung“ um den „Modellgermanisten“ Beißner herum (Tübinger Schule), die (so Staiger) auf „philologische Treue, Entsagung und Nüchternheit“ setzte gegen jede Aktualisierung, Verzerrung und Popularisierung des Dichter-Bildes.328 Dadurch, so lässt sich dem Rückblick entnehmen, wurde dem wissenschaftlichen Ethos eine unpolitische Haltung zur Pflicht gemacht, die in ‚entsetzlicher und dunkler Zeit‘ von Diktatur und Krieg, anders als nun marginalisierte grobe Schänder, Hölderlin unbefleckt erhalten habe, um nun in Jahren anderer Drohungen seinen ‚festen Buchstab‘ zu ‚pflegen‘. Dabei wurde oft – wie soeben absichtlich nachgemacht – „die Tendenz zu einer Rhetorik des Feierns, Rühmens, und Preisens“ mit

|| 327 Dazu vgl. 3.2.5, wo mit Rückbezug auf Flashar (1990) auf den Begriff eingegangen wird. Bei Brauneck (1993–2007) ist von den 1970ern als „Jahrzehnt der Regisseure“ die Rede (vgl. etwa 5, 302ff.). 328 Albert (2002) 449. Eine „angeblich unpolitische Phänomenologie“, wie Henning Bothe herausstellt (1993, 34).

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Rekurs auf Hölderlins Vokabular verstärkt. Auch die Herkunft oder Nähe der Interpreten aus/zu dem Bereich der Theologie, einer religiös bestimmten Geistesgeschichte sowie generell aus den Reihen des „schwäbischen Protestantismus“ bzw. (wie man Alberts Diagnose hinzufügen kann) die Affinität zu einem laizistischen konservativen Humanismus hatte ihren Anteil daran. Kontinuität mit den Vor(Kriegs)jahren bedeutete Festhalten an einer Tradition, die Hölderlin „in vornehmer Distanz“ vom Tagesgeschehen und oft in Verbindung mit den „Werte[n] des christlichen Abendlandes“ bewahrt hatte und weiter zu bewahren, so meinte man, im Stande war. Angesehene (und höchst verdienstvolle) Editionen wie die Stuttgarter Ausgabe und weitere Foren der Forschung – nach den notwendigen formalen und personalen Umstellungen – wie das Hölderlin-Jahrbuch und die Hölderlin-Gesellschaft bürgten dafür (Albert 2002, 449f.).329 Wenn im Folgenden die Besinnung auf universale humanistische Werte als Motor der meisten Klassikerinszenierungen und die Pflege feierlichsakraler Aufführungsstile als Merkmal der meisten Hölderlin-Inszenierungen der ersten Nachkriegsjahrzehnte ausgemacht werden, wird man auch auf der Bühne jene ‚heilig-nüchterne‘ Stimmung wiedererkennen, die die Hölderlin-Landschaft der Westgermanistik und -Philosophie kennzeichnete.330 Die Stagnation der Hölderlin-Forschung auf der anderen Seite der Elbe, wo vorerst Lukács’ Diagnose des ‚Revolutionären in der Sackgasse‘ weiterverbreitet wurde (und in vielem hemmend wirkte)331 und unter den Hölderlin-affinen Remigranten vor allem ein Johannes Becher mit seinem gipsernen Neoklassizismus die offizielle Richtung angab,332 kann mit dem fast kompletten Hölderlin-Schweigen des regen DDR|| 329 Vgl. oben, 3.1.3. Zur westlichen Hölderlin-Forschung in der Nachkriegszeit vgl. neben Alberts Überlegungen die Rekonstruktion der „philologisch-formalistische[n] Betrachtungsweise der Hölderlin-Forschung der 50er Jahre“ im Rahmen „der restaurativen Tendenz der westdeutschen Gesellschaft“ bei Packalén (1986) 38 und ff. 330 Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang Heidegger mit seinen einflussreichen Hölderlin-Erläuterungen. „Der Einfluß Heideggers auf die vermeintlich nur werkimmanente vorgehende Germanistik zwischen 1945 und 1968“, konstatiert Scharfschwerdt (1994) 28 „ist kaum zu überschätzen“. Allerdings ist auch die anders geartete Vorgehensweise Heideggers im Vergleich zur philologischen Arbeit nicht zu übersehen; Reibungen gab es auch aus diesem Grunde schon damals. Eine strikte Ablehnung von Heideggers Hölderlin-Lektüre wurde allerdings erst später formuliert. Als 1963 Th.W. Adorno bei der Tagung der Hölderlin-Gesellschaft „vom Rednerpult aus flüchtig irritiert über die blitzenden Ränder seiner Brille in den großen Hörsaal der Berliner Akademie der Künste blickte, stand die Heidegger-Fraktion, angeführt von einem angesehenen Hölderlin-Forscher, auf und verließ unter Protest den Raum“. Die „Zäsur“ war ein erstes Zeichen des sich in wenigen Jahren vollziehenden, auf die produktive Rezeption rasch übergreifenden Wandels (Schmidt 1995, 113; Adornos aus jener Rede hervorgegangener Parataxis-Aufsatz erschien dann separat und nicht im dreizehnten Hölderlin-Jahrbuch mit den weiteren Tagungsbeiträgen). 331 Dazu Castellari (2002) 193–202; das Bild der „tragischen Sackgasse“ stammt aus Georg Lukács’ Hyperion-Aufsatz (1935). 332 Bechers Hölderlin-Rezeption, die bei Packalén 1986 mit Blick auf die Lyrik als repräsentativ für die frühe DDR dargelegt wird (vgl. auch Fehervary 1977, 66–77, Klein 1993 und Dwars 1998, 166–170

346 | Ein Theaterjahrhundert Theaterlebens parallelisiert werden, in dem andere thematische und stilistische Konstellation vorherrschend waren. Nur scheinbar paradox ist dabei der Umstand, dass die wichtige Brecht-Müller-Linie, die bei der Bearbeitung der griechischen Tragödie für das Theater der Gegenwart an Hölderlin anknüpften, fast nur im BRD-Theater produktiv werden sollte (allerdings: nachhaltig erst später), während es im Lande beinahe nur bei der literarischen Rezeption blieb. Als dann in den frühen 1960er Jahren das konservative Klima der Bundesrepublik im gesamten öffentlichen Diskurs unter Druck geriet, hinter der Maske des Apolitischen das Verschwiegene und Verdrängte erschien und vor allem im Spannungsfeld der Generationen die Verarbeitung eigener bzw. elterlicher Verstrickungen mit der unbewältigten Vergangenheit nicht mehr hinauszuschieben war, wurde das Theater zum ästhetisch-politischen Austragungsort der Konflikte und zum Experimentierfeld anderer Lebensentwürfe und Kunstformen. Im Zeichen der „programmatische[n] Distanzierung von jenem restaurativen Immobilismus, im dem sich die westdeutsche Gesellschaft im ersten Nachkriegsjahrzehnt eingerichtet hatte, wirtschaftlich saturiert, dem Stigma der NS-Verbrechen weitgehend entkommen, ‚wiederbewaffnet‘ und in die westliche Wertegemeinschaft aufgenommen“ (Brauneck 1993–2007, 5, 244), und in Anknüpfung an intellektuelle und künstlerische Entwicklungen im französischund englischsprachigen Ausland, erfuhr das deutschsprachige Theater eine Polarisierung und Radikalisierung; ausgetragen wurde diese Polarisierung sowohl in der Wahl der gesellschaftlich-politischen Themen als auch im ästhetischen Feld der dramatischen Formen und Inszenierungsstile. Es seien hier etwa die kurze, überaus intensive Erfolgsgeschichte des Dokumentartheaters nach 1962 genannt, als der alte Avantgardist der Weimarer Bühne Erwin Piscator die Intendanz der Freien Volksbühne Berlin übernahm, um anschließend die rabiaten wie aufrüttelnden Dokumentarstücke von Hochhuth, Weiss und Kipphardt zu inszenieren. Oder im selben Jahr der Übergang Kurt Hübners von Ulm nach Bremen, wo ein Jahrzehnt lang der „Bremer-Stil“ für internationale Furore sorgte, oder zuerst die Stuttgarter, später Frankfurter Leistungen eines Peter Palitzsch und die Erfolge der jüngeren Peter Zadek, Peter Stein, Claus Peymann und Klaus-Michael Grüber. Diesen Umbruch, der parallel

|| sowie 3.1 zur frühen Rezeption), wurde von einigen Interpreten auch auf den dramatischen Bereich erweitert. Bechers Kriegsstück Winterschlacht, sein erfolgreichstes Drama überhaupt, das HölderlinZitate als Motto trägt, weise in der Hauptfigur Johannes Hörder neben autobiographischen auch hölderlinsche Züge auf. Der Name selbst sei als Wortspiel zu lesen (Hölderlin + Becher). Als Schlacht um Moskau 1942 erstmals abgedruckt (Internationale Literatur) und von deutschen Exilanten 1943 in Mexiko uraufgeführt, erschien das Vers- und Prosadrama nach Kriegsende in der neu betitelten Fassung als Buch bei Aufbau (Becher 1953); nach einer Aufführung in Prag 1952 wurde der Text erneut bearbeitet. Unter den vielen Inszenierungen ist die von 1955 am Berliner Ensemble unter Brechts Leitung die wichtigste. Allerdings stellt Schlacht um Moskau/Winterschlacht keine Transformation von Hölderlins Theatertexten oder Dramatisierung seines Lebens dar und kann kaum als Teil von Hölderlins Bühnenwirkung betrachtet werden.

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zum Weiterbestehen des Intendantentheaters vor sich ging, kann man mit dem Wirken der letztgenannten Regisseure in den 1970er Jahren an alten und neuen, strukturell neugestalteten Stätten – ein Beispiel für alle: die Schaubühne am Halleschen Ufer – als abgeschlossen betrachten. Es kam überall zu Politisierung, Radikalisierung und Avantgardismus; die Epoche des autoritären Intendantentheaters schien für immer vorbei zu sein. Eine Einbeziehung Hölderlins in dieses neue ästhetisch-politische Klima fand erst um 1970 statt – zuerst vorwiegend in der Dramatik, dann auch im Theater; darauf soll in späteren Kapiteln eingegangen werden (3.2.4 und 3.2.5). Nur spärlich sind die Zeichen, die bereits im vorherigen Jahrzehnt davon zeugen, meist handelte es sich um einen indirekten Rückgriff auf Hölderlin, beispielsweise die Living Theatre-Antigone 1967. Das etwas verspätete Datum ist mit Blick auf die allgemeine Rezeption des Dichters zu erklären: Erst kurz vor 1970 war das gesamte Hölderlin-Bild zum Gegenstand einer Auseinandersetzung geworden, die neue und, wie sich erweisen sollte, für die Theaterrezeption besonders fruchtbare Perspektiven auf den Dichter eröffnete. Der stärkste Anstoß kam Ende der 1960er Jahre aus der Auslandsgermanistik, als der ausgewiesene französische Hölderlin-Forscher Pierre Bertaux mit seiner These von Hölderlins anhaltender jakobinischer Gesinnung und von der intensiven Verarbeitung dieser Gesinnung in dessen Werk den Stein ins Rollen brachte. „Daß Hölderlin ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution, ein Jakobiner war und es im tiefsten Herzen immer geblieben ist, wurde ignoriert“, hielt Bertaux 1968 der deutschsprachigen Hölderlin-Forschung vor. „In Deutschland“ sei „die politische Dimension von Hölderlins Leben und Werk unterschätzt [worden], ja sie blieb unberücksichtigt. Sie wurde als belanglos abgetan, wenn nicht gar falsch dargestellt“. Hölderlins Werk sei „eine einzige Spekulation oder Reflexion der Problematik der Revolution, eine fortgehende, eine durchgängige Metapher dieser Problematik“ (1968, 65ff., 81).333 Eigentlich wurden damit frühere Erkenntnisse wiederaufgegriffen,334 allerdings mit einer Schärfe (und einem Timing), die eine langanhaltende Diskussion entfachte und schnell die Frage nach Hölderlins Verhältnis zur Französischen Revolution über die Grenzen des akademischen Diskurses hinaus publik machte, mit den zu erwartenden Aktualisierungen in einer eminent politisierten Zeit. Für die Hölderlin-Forschung war dies sicherlich nicht der erste ‚Streit‘ – man denke an die damals noch frischen und letzten Endes noch nicht beigelegten Auseinandersetzungen um

|| 333 Hölderlin und die Französische Revolution war die Rede betitelt, die Bertaux bei der 10. Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft hielt (7.–9. Juni 1968); den Aufsatz kann man im entsprechenden Hölderlin-Jahrbuch und in der Sammlung Der andere Hölderlin lesen (1972). 1969 erschien sein gleichnamiges Buch. 334 Vgl. Castellari (2002) 261–265, wo die Studien von Theodor W. Adorno, Robert Minder, Geneviève Bianquis und Maurice Delorme aus den 1950–60er Jahren in ihrem Verhältnis zu Bertaux erörtert werden.

348 | Ein Theaterjahrhundert die ‚richtige‘ Interpretation der Fürsten-Figur in der neuentdeckten Hymne Friedensfeier –, allerdings wirkte sich kaum eine andere Debatte so stark auf die produktive Rezeption des Dichters in der Literatur und im Theater aus. Selbst die von Bertaux zirka ein Jahrzehnt später vertretene – und in der Forschung noch umstrittenere – These des ‚edlen Simulanten‘, nach der Hölderlins Wahnsinn als Verstellung zu lesen sei, hatte keine vergleichbare Wirkung; sie war darüber hinaus in der produktiven Rezeption antizipiert worden, die bereits von der ‚ersten‘ These Bertaux’ stark geprägt worden war (vgl. 3.2.4).335 Noch mehr allerdings als der Inhalt selbst von Bertaux’ Thesen war es der Gestus des Aufbegehrens gegen Stagnation, Konservatismus und Autoreferentialität in der Auseinandersetzung mit Hölderlin, der für Furore sorgte, in der Wissenschaft wie in der gesamten Rezeption. Der verhältnismäßig ‚alte‘ Bertaux, der bereits in den 1930er Jahren über Hölderlin promoviert hatte, wurde dabei zur Bezugsperson jüngerer Hölderlin-Editoren, -Forscher und -Leser, die ihr ‚neues‘ Hölderlin-Bild auch im Zeichen eines Generationskonfliktes gegen tradierte, als erstarrte betrachtete Bilder durchsetzen wollte. Entscheidend für die Bühnenwirkung von Hölderlins Texten war insbesondere das sich dabei entfaltende neue Verständnis von Entstehung und Bewandtnis derselben, die in ihrer tendenziellen Offenheit, Prekarität und Bruchstückhaftigkeit editorisch und interpretatorisch aufgewertet wurden. Dies geschah in enger Verbindung mit der gesamten biographischen und politischen Neudeutung des Dichters und im ausdrücklichen Gegensatz zu Editionspraxis und zum Textbegriff der Stuttgarter Ausgabe und der Forschung um und nach Friedrich Beißner. Diese Entwicklung, die Mitte der 1970er Jahre in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe kulminierte,336 konnte zwar auf bereits früher geführte Debatten und Kontroversen, etwa anlässlich der Edition der Friedensfeier-Hymne, zurückblicken;337 eine Auswirkung

|| 335 Bertaux (1978); vgl. Castellari (2002) 264f. für eine Diskussion der Aufnahme dieser Biographie in der Forschung. 336 Dietrich E. Sattler präsentierte „Editionsprinzipien und Editionsmodell“ der von ihm herausgegebenen neuen Ausgabe anlässlich der vierzehnten Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Bad Homburg v.d. Höhe (10.–12. Juni 1976; Sattler 1977). Vgl. Castellari 2002 für eine Durchsicht der damaligen heftigen Debatte über die FHA, zur Parallelität editorischer und interpretatorischer Ansätze im Zeichen der ‚Politisierung‘ Hölderlins in den 1970ern und für eine Bilanz aufgrund neuerer Untersuchungen; unter den überzeugendsten Rekonstruktionen sei auf Burdorf (1993) 71–78 hingewiesen; vgl. einführend mit weiterführender Literatur auch Metzger (2002) 6–9 und 11. Hier sind weniger philologische und editionsgeschichtliche Fragen als vielmehr der Einfluss neuerer Editionsmodelle und der damit verbundenen Debatten auf die produktive Rezeption zentral (vgl. insb. 3.2.5). 337 Die Friedensfeier-Handschrift war 1954 in London aufgefunden worden; von der Hymne war bis dahin nur ein Fragment bekannt (Versöhnender, der du nimmergeglaubt...). Neben der Debatte über die Figur des „Fürsten des Fests“ (StA 3, 533), anlässlich der später virulente Fragen zur historischpolitischen Konstellation aufgeworfen und die akademischen Grenzen durch eine „Flut von Feuilletonartikeln“ überschritten wurden (Wackwitz 1997, 150), bewirkte der Neufund auch ein behutsames

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auf die Theaterrezeption von Hölderlins Texten kam allerdings erst mit Klaus Michael Grübers Inszenierungen zustande, also gleichzeitig mit dem Erscheinen der ersten Bände der Frankfurter Ausgabe. Das von Anfang an bewegte Panorama der Hölderlin-Rezeption der Nachkriegszeit blieb also, um auf die in diesem Kapitel zur Diskussion stehenden ersten Nachkriegsjahrzehnte zurückzukommen, vordergründig durch eine Editions-, Forschungs- und Rezeptionskultur geprägt, die man insgesamt als konservativ bezeichnen kann und die in vielem dem geistigen Klima der langen bundesrepublikanischen 1950er Jahre entsprach. Vorherrschend war eine philologisch gesicherte, nüchtern betriebene Arbeit am Text, die die Exzesse der zurückliegenden 12 Jahre zu sanieren trachtete, aber auch Hölderlins historischer Kontextualisierung bzw. ästhetischer Positionierung entgegenarbeitete. Dabei oszillierte die Haltung von Wissenschaftlern, Kritikern und teilweise auch Künstlern gegenüber produktiv-schöpferischen Auseinandersetzungen mit Hölderlin, etwa im Theater, zwischen der Befürwortung von Produktionen, die, meist im Zeichen einer Dichter-Hommage, das dichterische Wort unangetastet lassen wollten, und der verbreiteten Skepsis gegenüber innovativeren Erscheinungen, die von Hölderlins Sprache und Gedankenwelt ausgingen, um die Texte durch entsprechende Bearbeitungen für die Gegenwart zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist die Bühnenwirkung der Sophokles-Übersetzung und der Empedokles-Bruchstücke bis Ende der 1960er Jahre zu verstehen, dem nun nachgegangen wird. 3.2.2.1 Hölderlins Sophokles-Übersetzungen im Intendantentheater (1945–1969) In der unmittelbaren Nachkriegszeit sind verhältnismäßig viele Inszenierungen von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen zu verzeichnen, hauptsächlich der Antigone. Neben der erörterten, allgemein zu beobachtenden Hinwendung zu den ‚Klassikern‘ als Trägern universaler Werte auf der Bühne der späten 1940er und 1950er Jahre sind dabei weitere Umstände für diese in manchem unerwartete Blüte verantwortlich zu machen. Die Tragödie der rebellischen Tochter des Ödipus, die den im Krieg ‚auf der falschen Seite‘ gestorbenen Bruder trotz des Verbots symbolisch begräbt und durch diesen ‚Widerstand‘-Akt338 in den Tod geht, erhielt im Nachkriegstheater sowie nachdrücklich und nachhaltig in der Literatur der Zeit eine moralisch-politische Akzentuierung unter dem Eindruck der noch frischen Erlebnisse unter der Diktatur und in den

|| Umdenken bezüglich der editorischen Vorgehensweise der Stuttgarter Ausgabe Beißners. Die Debatten vom Ende der 1950er Jahre zeugen bei aller verständlichen Differenzierung zum späteren Ansatz der FHA (Maurer 1995, 15f.) von einem starken Bedürfnis, der Komplexität von Hölderlins späten Handschriften durch möglichst ‚offene‘ bzw. ‚leserzentrierte‘ Editionsweisen gerecht zu werden. 338 Zur Problematisierung dieser Assoziation vgl. die Ausführungen zu Brechts Bearbeitung in 3.2.1.

350 | Ein Theaterjahrhundert Kriegsjahren.339 Der Rekurs auf Hölderlin bei solch einer Aktualisierung der sophokleischen Vorlage war überhaupt nicht selbstverständlich – die ‚Vorgeschichte‘ der Antigone-Inszenierungen sprach auch nicht unbedingt dafür – und wurde jeweils anders begründet bzw. nuanciert. Im Gegensatz dazu waren andere Ödipus- oder Antigone-Inszenierungen der Nachkriegszeit gerade durch (ästhetische, inhaltliche wie auch persönliche) Kontinuität mit der früheren Bühnenrezeption gekennzeichnet, allen voran Müthels stilbildende Wiener Antigone 1940–43, die wiederum auf die von Michel geleiteten Inszenierungen zurückgegriffen hatte. Es bestand neben einigen Ansätzen zu innovativer Dramen- und Bühnenrezeption von Hölderlins Übersetzungen eine Tradition weiter, die auf die 1920er Jahre zurückblicken konnte und in Großem und Ganzen, mehr oder weniger restaurativ bzw. konservativ angehaucht, bis in die späten 1960er hinein fortlebte. Im dementsprechend recht vielfältigen Panorama der Nachkriegszeit ragen zweifellos zwei große Beispiele der Rezeption heraus: Bertolt Brechts Antigone-Bearbeitung und Carl Orffs Vertonung. Dessen Antigonae. Ein Trauerspiel des Sophokles von Friedrich Hölderlin hatte am 9. August 1949 an den Salzburger Festspielen in der Regie von Oscar Fritz Schuh und unter der musikalischen Leitung von Ferenc Fricsay ihre Premiere. Für beide Hölderlin-Transformationen, der dramatischen und theatralischen Brechts und der musikalischen und theatralischen Orffs, schuf Caspar Neher das Bühnenbild.340 Die von Hölderlin ausgehenden Stücke begründeten jeweils eine eigenständige (Bühnen-)Rezeption, die sich nachhaltig auf die parallele Bühnenaufnahme von Hölderlins Übersetzungen auswirkte. Zuerst war Orffs Musikwerk,341 auf das noch zurückzukehren ist, stärker präsent, à la longue erwies sich hingegen Brechts Bearbeitung und Inszenierung als geeigneter Ausgangspunkt für vielfältige Auseinandersetzungen mit dem Antigone-Stoff, mit der Antike und auch mit Hölderlin im Theater. Beide großen Bühnenwerke wurden in ihrer gegensätzlichen Heran-

|| 339 Vgl. dazu Fornaro (2012). 340 Vgl. zu Neher unten; die Karriere Nehers beleuchtet ausführlich Tretow (2003). Es sei hier allerdings angemerkt, das Tretows These, Caspar Neher habe so einen entscheidenden Anteil an Brechts Hölderlin-Transformation gehabt, dass man eher von einer neherschen und brechtschen Antigone reden sollte, überzogen ist. Der verständliche Wille, Nehers künstlerische Arbeit in vollem Maße zu würdigen, mündet in eine verzerrte Rekonstruktion des Sachverhalts. Der zweifellos kollektive Charakter der literarischen und Theaterarbeit von Brecht und seinen MitarbeiterInnen – die zugegebenermaßen zuerst den eigenen Anteil heruntergespielt haben, um ihn allerdings dann in manchem Fall postum geltend zu machen – wird somit hier wie anderswo zur Gelegenheit, um Brecht als parasitären Autor erscheinen zu lassen. In der mehrköpfigen Brecht-Werkstatt entstand Vieles; was dann (auch) Brechts Unterschrift trug, hatte er maßgeblich geprägt und als gültig verabschiedet, die Antigone-Bearbeitung -Inszenierung stellen darin keine Ausnahme dar (vgl. Tretow 2003, 354–391). 341 Zur in der Forschung nicht gesicherten Gattungsbezeichnung (Orffs Werk oszilliere „zwischen Schauspielmusik und Literaturoper, Musik- und Sprechdrama, ‚Tragödien-Bearbeitung‘ und ‚Antikenoper‘“), vgl. Massa (2006) 26.

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gehensweise an Text und Kontext von Hölderlins Übersetzung oft miteinander verglichen.342 Eine eingehende Darstellung, die den Schwerpunkt auf Brechts Position und Rolle in der dramatischen und Bühnentransformation Hölderlins stellt, erfolgte aufgrund dieser aparten Stellung in einem separaten Abschnitt dieser Arbeit. Orffs Antigonae soll hingegen innerhalb dieses rezeptionsgeschichtlichen Überblicks noch knapp erörtert werden, es wird auch auf die zweite Hölderlin-Oper Oedipus der Tyrann hingewiesen. Dies erklärt sich aus dem Umstand, dass Orff keine produktive Arbeit am Text vornahm, sondern höchst textkonservativ vorging; eine Analyse seiner Transformation von Hölderlins Sprache mit musikalischen Ausdrucksmitteln würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Von Orffs Musikwerken und von weiteren, sich nach 1945 ständig mehrenden Fällen der musikalischen, filmischen und künstlerischen Rezeption von Hölderlins (Theater-)Texten, wird im Folgenden keine medienspezifische Erläuterung geboten; vielmehr wird ihre rezeptionsgeschichtliche Position und ihre eventuelle Wirkung auf die hier im Mittelpunkt stehenden Rezeptionsformen des Sprechtheaters dargelegt. Zur Storia di Antigone343 in der Nachkriegszeit haben allerdings auch andere Inszenierungen beigetragen; mitunter rekurrierten sie auf Hölderlin und bereiteten so den beiden erwähnten epochemachenden Antigonen344 den Boden, in manchem übten sie auch konkreten Einfluss aus. Besonders hervorzuheben ist hier die AntigoneInszenierung, die am 15. Februar 1946, also exakt zwei Jahre vor Brechts Bearbeitung, am Hamburger Schauspielhaus unter Artur Hellmers Direktion Premiere hatte. Regie führte Heinrich Koch, der damals gerade (nach Assistenzen im Berlin der Kriegsjahre bei Hilpert und bei Erich Engel) eine bemerkenswerte Karriere im BRD-Theater der 1940er–60er Jahre begann. Das Bühnenbild schuf auch hier Caspar Neher, der sich durch seine Mitarbeit an Inszenierungen mit Hölderlin-Bezug vor und nach dem Krieg große Verdienste erworben hat;345 spiritus rector der ganzen Unternehmung war Ludwig Benninghoff. Der Chefdramaturg des neueröffneten Hamburger Hauses, dem

|| 342 Vgl. exemplarisch Flashar (1987) und zuletzt Massa (2006) 50–56. 343 So war Molinaris Buch zur Geschichte der Antigone-Figur „von Sophokles bis zum Living Theatre“ betitelt (1977). 344 Der Verweis ist auf den Titel von George Steiners berühmtem Buch zur Antigone-Rezeption (1984) – so wird in der deutschen Übersetzung (1988) die englische Pluralform Antigones wiedergegeben. Anders als Molinari verfährt Steiner eher thematisch als chronologisch. Obschon getragen von einer grundlegenden Skepsis gegenüber modernen Tragödientransformationen (und gegenüber der Tragödie in der Moderne überhaupt), bleibt Steiners Buch u.a. für den Antigone-Diskurs im deutschen Idealismus ein Referenzwerk. Die in dieser Arbeit zur Diskussion stehenden Erscheinungen werden bei Steiner hingegen nur teilweise bzw. eben ‚skeptisch‘ berücksichtigt. 345 Zu Neher vgl. Tretow (2003), insb. zu seinen Bühnenbildern für Antigone-Inszenierungen 354– 391 und 440ff. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen der Hamburger und der Churer Inszenierung wird hier behauptet, „dass Nehers und Brechts Bearbeitung des Stoffes in mancher Hinsicht an die Konzeption der Hamburger Antigone anknüpft“ (362). Tretows Arbeit zeigt auch, dass Neher 1943 in Berlin tätig war, als Stroux Antigone inszenierte, und anschließend in Wien, als Müthels Antigone

352 | Ein Theaterjahrhundert wohl auch die inszenierte Strichfassung zuzuschreiben ist,346 veröffentlichte anderthalb Monate nach der Uraufführung einen Artikel mit dem vielsagenden Titel Antigone, Hölderlin und Wir (Die Welt 29. März 1946).347 Das ganze existentiell-moralische Pathos, der unmittelbare Zeitbezug und die klare „programmatische Absicht“ (Flashar 1991, 182), die hinter dem Rekurs auf jene antike Tragödie und auf Hölderlins Übersetzung steckten, tun sich im Titel plakativ, im Wortlaut des Beitrags ausführlich kund. Denn diese erste348 Wiederaufnahme der Antigone in Hölderlins Fassung nach dem Zweiten Weltkrieg bezweckte ausdrücklich eine radikale ästhetische und ideologische Wende gegenüber früheren Inszenierungen der antiken Tragödie und gegenüber den Verstrickungen des deutschen Theaters ‚unterm Hakenkreuz‘ überhaupt. „Die Aufführung der Antigone“ entscheide „über die künstlerische Moral und über das menschliche Ethos des Theaters“, hieß es mit Blick auf die Notwendigkeit eines geistigen Wiederaufbaus bei Benninghoff.349 Die nachvollziehbare Wut machte ihn zwar in manchem blind – Max Reinhardts Antike-Inszenierungen etwa fertigte er als „eine Art Völkerschau“ vorschnell ab.350 Benninghoffs Ausführungen erweisen sich allerdings aus dem Rückblick von Bedeutung, weil sie den Rückgriff auf Hölderlins

|| erneut auf die Bühne kam, und resümiert: „Es ist davon auszugehen, dass Caspar Neher Vorstellungen der beiden erwähnten Inszenierungen in Berlin und Wien gesehen hat“ (364). Wenn man hinzufügt, dass Neher auch das Bühnenbild zu Hilperts Wiener Tod des Empedokles-Inszenierung 1943 geschaffen hatte, ergibt sich eine sehr dichte Präsenz Nehers im ‚Hölderlin-Theater‘ während und unmittelbar nach dem Krieg: 1943 Empedokles (Wien, Hilpert) – 1946 Antigone (Hamburg, Benninghoff) – 1948 Antigone (Chur, Brecht) – 1949 Antigonae (Salzburg/Orff). Einen Einblick in Nehers Kunst mit besonderer Berücksichtigung der Darstellung antiker Szenerien gibt der Bildband GreisenneggerGeorgila/Jans 1995, wo auch aufschlussreiche Dokumente aus dem Nachlass abgedruckt sind, vor allem bezüglich der Zusammenarbeit mit Carl Orff. 346 Die Inszenierung benutzte die von Benninghoff mit einem Nachwort versehene Ausgabe von Hölderlins Antigone-Übersetzung, die 1946 im Alster Verlag erschienen war. Bemerkenswerterweise veränderte Benninghoff Hölderlins Text, indem er die berühmte Anfangspartie des Chorliedes „Ungeheuer ist viel [...]“ (StA 5, 219) mit der früheren Version Hölderlins „Vieles Gewaltige gibt’s [...]“ ersetzte (vgl. StA 5, 42, „Vieles gewaltge giebts [...]“; dieses frühere Übersetzungsbruchstück konnte Benninghoff in Hell. 5, 1 lesen). Zur möglichen Auswirkung dieser Entscheidung (die Benninghoff im Nachwort zwar erwähnt, jedoch kaum diskutiert; 1946, 60) auf Brechts Bearbeitung vgl. 3.2.1. Ansonsten handelt es sich bei der 1946 erschienenen Antigone um keine Bearbeitung sondern um einen Abdruck der Übersetzung; der Text wurde dann wohl in einer Strichfassung gespielt. 347 Der Text geht auf das Warum Sophokles Antigone? betitelte Nachwort zurück, das Benninghoff für die Ausgabe 1946 beigesteuert hatte. Zitiert wird hier aus dem späteren Artikel, weil dort durch die Vorbereitung der Inszenierung gewonnene Einsichten verarbeitet werden konnten; er steuerte darüber hinaus die damalige Rezeption nachhaltiger. 348 Über die Übersetzung, die der allerersten deutschen Nachkriegsinszenierung der Antigone des Sophokles zugrunde lag (15. September 1945, Köln), gibt es laut Flashar keinen Nachweis (1991, 179f.; Regie führte Karl Pempelfort). Es hätte sich also auch um Hölderlins Vorlage handeln können. 349 Zit. aus Flashar (1991) 182. 350 Ebd. Benninghoff verurteilte dort insbesondere Reinhardts Ödipus- und Orestie-Inszenierungen der 1910er Jahre.

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Vorlage sprachlich und (damit zusammenhängend) theaterästhetisch und politisch begründeten. Sie scheinen sogar prophetisch, denn sie antizipierten teilweise Brechts Operation und spätere Hölderlin-Transformationen auf der Bühne der letzten Jahrzehnte. Benninghoff kannte auch die Antigone-Anmerkungen sehr gut und legte sie offensichtlich seiner produktiven Aneignung zugrunde. Er zitierte frei daraus, wenn er behauptete, dass „der Aufruhr, das Politische, das Republikanische, das Revolutionäre, das Hölderlin der Antigone immer wieder nachsagt“, gerade durch den Rückgriff auf dessen Übersetzung in einer zeitgenössischen Antigone-Inszenierung beschworen werden sollte.351 Wie das konkret geschehen konnte, welcher Art also der Zusammenhang zwischen der sprachlichen Beschaffenheit und den politischen Implikationen der Übersetzung sei, erörterte Benninghoff nicht; der Hinweis scheint eher der diffusen Stimmung eines notwendigen radikalen Neuanfangs in der Nachkriegszeit zu entsprechen. Aus dem Nachfolgenden scheint sich die Vorstellung aufzudrängen, dass in Benninghoffs Augen es der Inszenierungsstil selbst war, der entscheidend dazu beitragen konnte, Hölderlins Sprache wirkungsvoll ertönen zu lassen, auch politisch wirkungsvoll. Hier war die Frontstellung gegenüber früheren Inszenierungen radikal: mit einer aufgetragenen Theatralik, mit Geste und Bühnenbildern, mit Monumentalisierung und Verstellung, mit tönendem Pathos und metallenem Schreien ist nichts zu machen. Das Wort Hölderlins würde sterben, das Wort Hölderlins, das so ursprünglich, so dramatisch ist wie nichts.352

Mit dieser Abwendung von einer feierlichen und monumentalisierenden Ästhetik, die in den früheren Dekaden die Hölderlin-Inszenierungen beherrscht hatte, zeigte Benninghoff der Nachkriegsrezeption einen Weg, der zwar zuerst von einigen wenigen eingeschlagen wurde, sich dann aber langfristig durchsetzen sollte, auch abseits politischer Aufbruchsstimmungen. Dabei blieb interessanterweise Hölderlins Sprache im Mittelpunkt, wie von Anfang an in der Theaterrezeption: Benninghoff befreite sozusagen die Bewunderung für Hölderlins „so ursprünglich[es], so dramatisch[es]“ Wort von der respektvollen bis raunenden Ergriffenheit, die auf je andere Art und Weise in den 1920er–40er Jahren vielleicht nicht das einzige Merkmal, doch insgesamt die Dominante der Bühnenrealisationen gebildet hatte (auch des oft im Stil der antiken Tragödie inszenierten Empedokles). Im Einklang mit einer in der Literatur || 351 Zit. aus Flashar (1991) 182; vgl. bei Hölderlin den Schlussteil der Antigone-Anmerkungen, ab dem Absatz, der mit den Worten beginnt: „Die Art des Hergangs in der Antigonä ist die bei einem Aufruhr“ (StA 5, 271f.). Der Begriff Revolution/revolutionär benutzt Hölderlin in den Sophokles-Anmerkungen nicht einmal, wiederholt aber derjenige der (vaterländischen) „Umkehr“ (etwa ebd.). Bei Benninghoff (1946) 61 wurden in einem ähnlichen Wortlaut explizit die Anmerkungen erwähnt, ohne dass er auf die noch nicht erfolgte Inszenierung eingehen konnte. 352 Zitiert wird hier direkt aus Benninghoffs Artikel, Die Welt 29 März 1946.

354 | Ein Theaterjahrhundert und Kultur der Nachkriegszeit verbreiteten Forderung nach Nüchternheit und Schlichtheit353 wurde hier für eine andere Spielweise und Regie plädiert, die Hölderlins Theatertexte in ihrer ‚nackten‘ Wirkungskraft gerechter sei. Nicht im Sinne einer auf die Vielfalt der theatralischen Zeichen verzichtenden, lediglich literarischen Rezitation, etwa in der letzten Endes immer noch feierlichen Form eines Oratoriums, sondern umgekehrt durch genuin theatralische Mitteln. Denn Hölderlins Übersetzungen, seine Texte überhaupt sind dazu gemacht, davon ging Benninghoff aus, um auf der Bühne ihre volle und ‚lebendige‘ Wirkung zu erzielen.354 Ob die rezeptionshistorisch zweifellos markante Hamburger Antigone-Inszenierung künstlerische Akzente zu setzen vermochte oder wenigstens die bei Benninghoff lautgewordenen Hölderlin-Intentionen realisieren konnte, ist aus den vorliegenden Quellen kaum in vollem Umfang nachträglich zu beurteilen. Sicherlich arbeitete Nehers „abstraktes Bühnenbild mit hellen, stoffbespannten Wänden, die in rechten Winkeln gebrochen wie Paravent aufgestellt waren, davor ein Gerüst aus Gasröhren mit dazwischen gespannten Platten“, jedweder feierlichen oder wuchtigen AntikeBeschwörung bzw. Hölderlin-Zelebration entgegen (Flashar 1991, 182). Ähnliches gilt für die Spielweise, bei der die Schauspieler Deklamatorisches oder Stilvolles vermieden und eher einer aus heutiger Sicht spätexpressionistisch anmutenden, gebrochenen, angstbeladenen Stimmen- und Körperführung Vorzug gaben (vgl. ebd.). Diese durchaus an früheren Hölderlin-Experimenten der 1920er Jahre anknüpfende Regieentscheidung lief allerdings Gefahr, das von Benninghoff abgelehnte „tönende[n] Pathos und metallene[n] Schreien“ mit nicht minder pathetischen spätexpressionistischen O-Mensch-Tönen zu ersetzen. Eine andere, gegen triumphale Ergriffenheit wie gegen existentialistische Betroffenheit gerichtete Spielweise, die von Brecht entwickelte epische, sollte sich in wenigen Monaten an Hölderlins Antigone-Übersetzung versuchen und in dieser Hinsicht den Hamburger Versuch auf eigene Art und Weise aufnehmen und überbieten.

|| 353 Benninghoff hatte vor allem den Inszenierungsstil im Sinn; auf literarischer Ebene entspräche dies der Poetik der Lakonik, des „Kahlschlags“ (Wolfgang Weyrauch). Gerade Hölderlins Sprache spielt allerdings eine doppelgesichtige Rolle, denn der Rückbezug auf sie führte in den 1940ern unumgänglich sowohl auf die ‚reinste‘ ‚dichterischste‘ Diktion wie auch umgekehrt auf die noch so frische politische Instrumentalisierung und Schändung. Man denke an eines der bekanntesten Beispiele der Lyrik der Zeit überhaupt, Günther Eichs Inventur mit dem berühmten Reim Hölderlin-Urin und dem Andenken-Zitat, oder mit Blick auf Brecht an die von ihm um 1940 ausgemachte „pontifikale Linie“ der deutschen Lyrik und seine Gegenstrategie der „Sprachwaschung“ (Arbeitsjournal, 22. August 1940, GBA 26, 416). Frieder von Ammon hat neulich, gerade von Brechts Begriffen ausgehend und u.a. Eichs Inventur als „Profanation“ erläuternd, Hölderlins Präsenz in der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet (Ammon 2014, vgl. insb. 151f. und 164–166). 354 Vgl. unten zu Beißners ähnlicher Würdigung von Hölderlins dramatischem Stil, etwa in den Sophokles-Übersetzungen, und seiner etwas widersprüchlichen Argumentation, der dem Empedokles Spielbarkeit beinahe vollständig abspricht.

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Die Rezensenten der ersten hölderlinschen Nachkriegs-Antigone teilten Benninghoffs Urteil über Hölderlins ‚ursprüngliche‘ ‚dramatische‘ Sprache anscheinend nicht: Die Bemerkungen betrafen gerade die Wahl des Textes, „dessen Schönheit unbestritten, [der] aber wegen der Dunkelheit seiner Sätze nicht bühnenwirksam ist“, wie es bei Martin Rabe in Die Zeit ausdrücklich hieß (21. Februar 1946). R.D. fragte sich noch direkter in der „Neuen Hamburger Presse“ vom 19. Februar 1946: „Warum Übersetzung Hölderlins?“ und leitete aus dieser Produktionsentscheidung den „nicht völlig“ geglückten „Durchbruch zur Sprachform“ her. Besser schnitten insgesamt die von Neher entworfenen Bühnenbild und Kostümen sowie die Inszenierung als Ganzes ab. Offensichtlich hatte die konkrete Bühnenrealisation die hochgesteckten Ansprüche hinsichtlich der sprachlichen Wirkung nicht befriedigt. Zugleich perpetuierten sich in der Theaterkritik jene (Vor-)Urteile (Dunkelheit, Bühnenunwirksamkeit), denen man bereits in den Anfangsphasen der Bühnenrezeption Hölderlins begegnete und die in den Jahren der Hölderlin-Instrumentalisierung (die in den Rezensionen von 1947 keiner Erwähnung wert waren!) meist unausgesprochen geblieben oder durch Phrasen verbrämt worden waren. Bezeichnenderweise blieb selbst die einzige mir vorliegende Besprechung, in der die Hamburger Inszenierung auch wegen der Entscheidung für Hölderlins Übersetzung gerühmt und als erfolgreich ausgegeben wurde, den uns bekannten Kategorien verhaftet. Die „noble Inszenierung“ habe einen „außergewöhnliche[n] Erfolg“ erzielt, wobei „es vor allem die Jugend war, die zum Schluß lebhaft applaudierte“; besagter Erfolg erwachse jedoch keineswegs einer „innere[n] Erschütterung“, sondern dem „Respekt vor dem Zweigestirn Sophokles-Hölderlin“; mehr war wohl kaum möglich angesichts der „schweren Hölderlin’sche[n] Verse“ (weiter unten gar: „die schwerblütigen, von dunklem Ahnenprall erfüllten Verse“). Bruno Werner, der im „Theateralmanach 1946/47“ mit diesen Worten auf die vorige Spielzeit zurückblickte (1946, 308f.), bereitete somit Benninghoffs Forderung, Hölderlins Theaterarbeiten so zu präsentieren, dass sie den Charakter literarischer Hommagen und feierlich-respektvoller, monumental erstarrter Darbietungen abstreifen, ein schnelles Ende. War die Hamburger Antigone also vonseiten der Produktion durch die programmatische Absicht gekennzeichnet, einen Bruch mit der vorherrschenden Aufführungstradition zu vollziehen, überwogen in deren unmittelbarer Rezeption eher Kontinuitätszeichen. Die restlichen Inszenierungen von Hölderlins SophoklesÜbersetzungen in den späten 1940er Jahren waren entweder kaum beachtete Erscheinungen355 oder aber stammten von uns bereits bekannten Persönlichkeiten der || 355 Es sei hier auf Ernst Ginsbergs Basler Antigone-Inszenierung (7. März 1947, Stadttheater) hingewiesen, die ein knappes Jahr vor derjenigen Brechts stattfand. In seinen Memoiren kam Ginsberg, der Brechts Antigone als überhaupt nicht gelungen betrachtete, anekdotisch auf ein Gespräch zu sprechen, bei dem Brecht über die eigene Bearbeitung behauptet habe: „Kein Mensch kann feststellen, wo Hölderlin aufhört und wo ich beginne. Bitte machen wir die Probe aufs Exempel“. Ginsberg habe es jedoch gekonnt; als Brecht aber von ihm erfuhr, dass auch Ginsberg vor kurzem die hölderlinsche

356 | Ein Theaterjahrhundert Hölderlin-Rezeption auf der Bühne, die ihre mehr oder weniger kompromissbereite Tätigkeit im Theater des NS-Staats in dem neuen Kontext fortsetzten. Hellmut Flashars allgemeiner Befund in Bezug auf den damaligen „Rückgriff auf das antike Drama“ kann auch speziell für die Hölderlin-Inszenierungen gelten: „Eine ‚Stunde Null‘ gab es auch auf dem Theater nicht, waren es doch zum größten Teil die gleichen Regisseure und Schauspieler, die unter gewiß gewandelten Bedingungen auch antikes Drama auf die Bühne brachten“ (1991, 181). Unter dieser Rubrik wären etwa der erste Nachkriegs-Ödipus anzuführen, den Paul Smolny am 21. April 1946 im Deutschen Nationaltheater Weimar inszenierte (die Presse reagierte größtenteils mit dem üblichen Hinweis auf die Bühnenuntauglichkeit)356 und die beiden Antigone-Aufführungen ein Jahr darauf von Benno Hattesen in Bielefeld (Stadttheater, 12. September 1947),357 und von Gustav Deharde in Ulm am 21. Oktober 1950.358 Bei dieser letzten wurde nachweislich die Fassung Wilhelm Michels benutzt, die im nun beginnenden Jahrzehnt noch in einer wenig dokumentierten Wuppertaler Aufführung359 und in den erfolgreicheren, recht traditionellen Regiearbeiten von Karl Heinz Stroux für die Ruhrfestspiele in Recklinghausen (Mai-Juni 1957)360 und von Helmut Henrichs in München (Residenztheater, 12 April 1959) zugrunde gelegt wurde.

|| Übertragung auf die Bühne gebracht hatte, habe er erwidert: „Das ist unlautrer Wettbewerb“ (vgl. Neue Zürcher Zeitung 19. September 1964. 356 Dabei ist die Kontinuität mit früheren Inszenierungen den Rezensenten bewusst: Bei Lynkeus [sic!] heißt es etwa: „Auf der Bühne wird diese Dichtung wohl immer eine Enttäuschung bleiben. Sie war es sogar bei der Uraufführung vor etwa 25 Jahren in Darmstadt unter der Betreuung des großen Hölderlin-Interpreten Wilhelm Michel“ (Abendpost 12. April 1946; positiver hingegen E.S. in Thüringische Landeszeitung 24. April 1946). Smolnys Inszenierung benutzte die Musik von Gerd von der Osten; aufgrund der mir vorliegenden Quellen sind Rückverweise auf die Leipziger Ödipus-Inszenierung desselben Smolny (1941) nicht auszumachen. 357 Die szenisch stark antikisierende Inszenierung Hattesens (Bühnenbild von Helmut Jürgens, Bühnenmusik von Ted Uhlich) wurde im Großen und Ganzen gelobt, auch wenn in der Kritik Bedenken hinsichtlich der Charakterisierung Kreons als Tyrann gehegt wurden. Vgl. P. Lindners Rezension in der Westfalen-Zeitung, wieder abgedruckt 1947 in Bühnenkritik, wo es gar hieß: „Zum Zorn [...] hat Kreon alles Recht, denn Polyneikes ist ein Vaterlandsverräter gewesen“. Hattesen hatte bereits 1941 Hölderlins Antigone-Übersetzung inszeniert, möglicherweise nahm er in Bielefeld die bereits damals in Frankfurt benutzte eigene Bearbeitung wieder auf. 358 Die Inszenierung, die anschließend in Biberach gastierte, konnte keine überregionale Wirkung entfalten; die Archivquellen vermitteln den Eindruck, dass sie u.a. durch Jürgen Dreiers Bühnenbild und Kostüme von einer klassizistischen Stimmung gekennzeichnet war. 359 Uraufgeführt wurde Hans Bauers Inszenierung am 6. Februar 1954 an den Wuppertaler Bühnen. 360 Vor dem Bühnenbild von Jean Pierre Ponelle spielten Käthe Gold die Antigone, Werner Hinz den Kreon. Für Details über diese erstmalige Inszenierung einer griechischen Tragödie bei den Ruhrfestspielen, die anschließend in zwölf westdeutschen Städten mit Publikumserfolg gastierte, vgl. Flashar (1991) 205f. Zur Gründung der Ruhrfestspiele in Recklinghausen und zu ihrem kulturpolitischen Auftrag vgl. Brauneck (1993–2007) 5, 205.

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Der angesehene Stroux hatte während und nach dem Krieg wichtige Berliner Antike-Inszenierungen realisiert, wie die monumentale und archaische Antigone auf der Basis von Roman Woerners Übersetzung (3. September 1940, Staatstheater, Bühnenbild von Traugott Müller, Marianne Hoppe als Antigone) oder den König Ödipus (22. Dezember 1946, Deutsches Theater; gespielt wurde die „humanistisch durchtränkte Übersetzung von Heinrich Weinstock“361). Bei diesem verkörperte Gustav Gründgens die Titelrolle „mit so viel tragischer Größe, daß die ursprüngliche Absicht der Abrechnung mit dem Nichtwissen von Verbrechen überdeckt wurde“ (Flashar 1991, 183f.). Für die Festspielinszenierung 1957 fiel die Entscheidung hingegen auf die Übertragung Hölderlins, wie gesagt in Michels Fassung. Eine von der Kritik nicht mehr wie früher gutgeheißene Wahl: Hölderlins „so klausulierte wie absolute Sprachmusik“ sei in der Bearbeitung banalisiert worden: „Da ist vieles geistig und rhythmisch unersetzbare Felsgebrock verschlichtet und ausgebügelt“ – so befand es etwa Albert Schulze Vellingshausen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15. Juni 1957). „So kein Hölderlin!“: Johannes Jacobis Wutausbruch in Die Zeit (20. Juni 1957) betraf auch die Arbeit von Karl Heinz Stroux, der „in die Irre“ gegangen sei und die notwendigen Regieeingriffe versäumt habe, die das „Dokument eindeutschender Dichterkraft“ mit ihrer „dem unmittelbaren Verständnis heute so entrückt[en]“ Sprachfügung unbedingt brauche, um bühnenwirksam zu sein.362

|| 361 Flashar (1991) 183f. Gründgens eröffnete 1947 seine Intendanz in Düsseldorf, indem er Stroux’s Ödipus-Inszenierung an die nordrheinische Bühne holte und selber in der Titelrolle auftrat. Auffallend ist der Umstand, dass dem „Interesse an dieser Tragödie in den ersten Nachkriegsjahren“, das „durch die Möglichkeit der Verknüpfung der Tragödienproblematik mit der deutschen Schuldfrage“ mitbedingt war (ebd., 184), kein Rückgriff auf Hölderlins Übersetzung entsprach. Während die Antigone-Übersetzung 1946–50 nach vorliegenden Quellen mindestens acht Uraufführungen zugrunde lag, bleibt Smolnys oben erwähnte Weimarer Inszenierung zu Ostern 1946 die einzige, nicht gerade von einem Neubeginn zeugende Reprise von Hölderlins Ödipus-Übersetzung. Damit bestanden trotz veränderter Voraussetzungen Besonderheiten des späten NS-Theaters fort, als Antigone ebenfalls deutlich vorherrschte. Eine rezeptionsgeschichtliche Wende setzt erst mit entsprechenden musiktheatralischen (Orff 1959) und vor allem dramatischen und theatralischen Transformationen (Müller/Besson 1967) ein. 362 Mit diesen Worten brachte Jacobi eine Vorstellung zum Ausdruck, die lediglich die fortschrittlichsten Versuche jener Zeit kennzeichnete, Hölderlins Übersetzung adäquat im Theater zu inszenieren, von Brecht über Sellner bis auf Besson. In einer Abschrift „nur für den internen Gebrauch“, die im Hölderlin-Archiv aufbewahrt ist, enthüllte Jacobi, dass aufgrund eines Missverständnisses der Tiresias spielende Darsteller seinen Part in der Übersetzung Woerners gelernt hatte und sie wider besseres Wissen auch tatsächlich spielte – „bezeichnend für die Einstellung des Regisseurs Stroux zum Textproblem“, vermerkt er. Über die Wirkung dieses Fehlgriffs ist nichts überliefert.

358 | Ein Theaterjahrhundert Ähnliche Töne begleiteten zwei Jahre später die Münchner Inszenierung von Henrichs, die in manchem eine Reprise aus den Kriegsjahren war.363 Bei aller „lautlose[n] Andacht eines vollen Hauses“ wurde die ‚dunkle‘ Übersetzung Hölderlins als über die traditionelle Form der textlichen Bearbeitung hinaus als adaptionsbedürftig betrachtet. Der hier zitierte Hanns Braun verwies zeittypisch auf die musikalische „Dramatisierung des Unsagbaren“ bei Orff als auf eine der möglichen Transformationsformen, die stärkere Wirksamkeit hervorrufen würden: Ausdrücklich wurde hier also eine produktive Transformation mit zeitgenössischen künstlerischen Mitteln vermisst (Süddeutsche Zeitung 14. April 1959). Auch wohlwollendere Besprechungen ließen hinter dem Lob für die „einiger Dunkelheiten wohltätig entkleidete“ Nachdichtung Hölderlins spüren, dass, obwohl „die Zuschauer von den zweieinhalb Jahrtausenden alten Dichtungen [...] gebannt“ waren,364 der seit den 1920ern übliche Inszenierungsmodus – Rückgriff auf eine behutsame Bearbeitung wie diejenige Michels, die möglichst nüchtern-neutral und mit großem Gewicht auf das Sprachliche im Zeichen sakraler-feierlicher Ausdrucksformen aufgeführt wurde – kaum mehr innovativ und breitenwirksam sein, kaum mehr über den Charakter einer dichterischen Hommage mit bildungsbürgerlichem Anspruch hinausgehen konnte.365 Durch die soeben erörterten Antigone-Inszenierungen der 1950er Jahre – man merkt es an Stellungnahmen in der Kritik wie den erwähnten –, betritt man eine Zeit, in der die Theaterpräsenz von Hölderlins Sophokles nicht nur durch die direkte Inszenierung von einer seiner Übersetzungen, sondern auch über die Arbeit moderner Autoren und Künstler, die in Hölderlin einen Vermittler zur Antike fanden, vermittelt wurde. Denn Brecht und Orff haben auf je verschiedene Art und Weise durch ihre

|| 363 Bereits Henrichs’ Stuttgarter Antigone-Inszenierung 1944 basierte auf Michels Fassung. Für die Münchner Wiederaufnahme wurde der international hochgeschätzte Teo Otto als Bühnenbildner gewonnen. Anlässlich der Tagung der Hölderlin-Gesellschaft in München (5.–7. Juni 1959) kam es zur Einladung der Mitglieder ins Theater (vgl. Anonym 1960, 284, dort wird betont, es sei „zum ersten Mal [...] in der Geschichte der Gesellschaft ein vom Hölderlin’schen Geist erfülltes Bühnenwerk in die Veranstaltungen einer Jahresversammlung einbezogen worden“). Henrichs’ Inszenierung wurde heftig und auch positiv diskutiert, verschwand aber schnell aus dem kritischen und künstlerischen Horizont: anscheinend konnte er zwar an die Tradition der Hölderlin-Inszenierungen anknüpfen und die Erwartungen eines Teils des Publikums erfüllen, aber kaum eine dafür geeignete Theatersprache entwickeln. 364 So Walter Abendroth in Die Zeit 24. April 1959, der unter dem Titel Antike Tragödie in München auch eine Hippolytos-Inszenierung besprach – auf die Dramen des Sophokles und des Euripides weist also die Pluralform hin. 365 Vgl. unten die Besprechung von Rudolf Sellners im selben Jahr inszenierter Darmstädter Antigone, die einerseits der oben genannten Tradition durchaus verpflichtet war, andererseits auf Michels Fassung verzichtete und eher mit Orffs bzw. mit Schadewaldts Operation zu vergleichen ist: Sie war um den tragischen Text und um dessen harte, nackte Kraft zentriert und verzichtete auf jede deklamationsfreudige klassizistische Harmonisierung.

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Antigone-Transformationen Ende der 1940er Jahre die Rezeption Hölderlins intertextuell und intermedial verzweigt. Es lohnt sich hier, einen exemplarischen Blick auf die erste Dekade der Inszenierungsgeschichte beider Werke zu werfen – eine Art sekundäre Bühnenrezeption von Hölderlins Übersetzungen –, um aufzuzeigen, wie der hier gebotene Überblick über die ‚direkten‘ Aufführungen von Hölderlins Übersetzungen bis Ende der 1950er Jahre nur partiell die Präsenz von Hölderlins Übersetzungen auf der deutschsprachigen Bühne dokumentieren kann. Nach der Churer Uraufführung wurde Brechts Antigone am 18. November 1951 in Greiz wiederaufgenommen (mit dem neuen Prolog). Diese deutsche Erstaufführung, für die Otto Tickardt Regie führte und Hans Reichard das Bühnenbild entwarf, fand also an einer denkbar abgelegenen Bühne statt.366 Nach Brechts Tod im August 1956367 und bis zum Ende des Jahrzehnts erregte dessen Antigone wieder ein gewisses Interesse. Neben vier DDR- (Greifswald, Gera)368 und drei BRD-Inszenierungen (Frankfurt, Schleswig, Münster)369 ist für das Jahr 1959 sogar eine japanische Inszenierung zu vermelden. Im darauffolgenden Jahrzehnt wurde die Antigone zwar noch in der Provinz

|| 366 Die Basis für die inszenatorische Arbeit stellte Brechts Antigonemodell dar. Das im HölderlinArchiv aufbewahrte Programmheft der Greizer Inszenierung enthält einen offenen Brief Brechts an die deutschen Kritiker und Schriftsteller (26. September 1951), in der die politische Spannung zwischen DDR und BRD mit Sorge wahrgenommen und für die „völlige Freiheit“ aller Autoren und Künstler plädiert wurde. Der Regisseur Ernst Otto Tickardt ließ dort auch die eigene, viel parteikonformere Stellungnahme drucken. Daran kann man einerseits die politische Bedeutung, die Brecht der eigenen Antigone-Bearbeitung noch beimaß, ablesen (als Stück über den Krieg, von dem im Brief auch die Rede ist, aber offenkundig nicht nur!), wie auch die Entfremdung Brechts gegenüber dem wachsenden illiberalen und letztendlich kunstfeindlichen Klima, in dem die (ästhetische wie inhaltliche) Freiheit der Kunst keine Priorität hatte. Ausdruck dieser Entfremdung ist bekanntlich Brechts späte Lyrik. 367 Hecht (1988) 302 verzeichnet bereits für den Januar 1951 eine Lesung im „Podium“ des Studiotheaters der Städtischen Bühne Ulm (Regie von Peter Wackernagel). Darüber wie über die ebd. erwähnte Inszenierung im Neuen Frankfurt Schülertheater (Mai 1955) konnte nichts ermittelt werden. 368 Die Greifswalder Inszenierung (1957, Regie von Hans-Joachim Meyer) wurde vermutlich von Hans Bunge auf die Beine gestellt (vgl. nächste Anm.). Die Geraer Inszenierung entstammte hingegen aus der bereits erwähnten Greizer Aufführung: Regie führte wieder Ernst Otto Tickardt (19. Januar 1958, Bühnen der Stadt Gera); das Programmheft ahmte die Bild-Text-Struktur des Antigonemodells nach. Gastspiele wurden im Laufe des Jahres zwischen Erfurt, Jena und Meiningen organisiert. 369 In Schleswig am 21. September 1958 (Regie von Horst Gnekow), in Münster am 23. April 1959 (Regie von Bertram Konrad). Weitere Daten konnten nur für die Frankfurter Inszenierung ermittelt werden. Die studentische Aufführung erlebte ihre Premiere am 30. Juni 1958 auf der Neuen Bühne der Universität Frankfurt am Main, Regie führte Karlheinz Braun. Hilfe bekam er von Hans Bunge, der nach einigen Jahren bei Brecht als Dramaturg das Brecht-Archiv leitete und 1957 gerade über Brechts Antigone-Bearbeitung in Greifswald promoviert hatte; dies lässt vermuten, dass er in der Greifswalder Inszenierung im selben Jahr involviert war. Nachweislich wurde in Frankfurt das Antigonemodell streng befolgt, die photographischen Archivmaterialien zeugen von einer regelrechten Nachahmung von Bühnenbild, Kostümen und Gestik der Churer Uraufführung. Die Frankfurter Inszenierung gastierte in Berlin und Kaiserslautern und wurde nach Brüssel zum Festival international du théâtre universitaire eingeladen. Die professionelle Kritik fand in einzelnen Fällen ermunternde Töne (auch ein

360 | Ein Theaterjahrhundert der ‚Theaterrepublik‘ gespielt, doch die Rezeption versandete bald;370 die internationale Rezeption (Frankreich, Ungarn, Israel, UK und Italien)371 als auch die Resonanz im BRD-Theater jedoch breitete sich aus, vornehmlich durch die Inszenierungen des jungen Claus Peymann (Berlin, Frankfurt), um dann in den späten Sechzigern quantitativ sogar zu explodieren, nicht zuletzt wegen der Aufsehen erregenden LivingTheatre-Adaption (1967).372

|| Herbert Ihering gab seine Unterstützung in Die andere Zeitung 17. Juli 1958), prangerte ansonsten die Unternehmung mit harten Worten an. 370 Verzeichnet sind drei Inszenierungen im Jahr 1961 (nochmals Greifswald, Regie von Kurt Veth, sowie Halle, Regie von Gotthard Müller, und Potsdam, Regie von Gerhard Meyer), dann keine mehr bis 1978 (Dresden/Radebeul, Regie von Klaus Kunick) und 1979 (Radioausstrahlung, Regie Martin Flörchinger). Danach kein Funkzeichen bis zu den letzten Tagen der DDR, als eine gemischte schweizerische, west- und ostdeutsche Produktion die Churer Wiederaufnahme (13. April 1989, Regie von Fritz Bennewitz) nach Berlin holte (Deutsches Theater, 9. und 10. Oktober 1989; dazu vgl. Flashar, 1991, 295–297 und 3.2.5). Bis auf dieser Brisanz in letzter Minute war also in der DDR Brechts Antigone, die sich einer intensiven kritischen und literarischen Rezeption erfreute, wenig bühnenwirksam. 371 Zwischen 1963 und 1967 konnten fünf französische, eine ungarische, eine israelische, eine britische und eine italienische Inszenierung ermittelt werden. Diese letzte, die in einem damals besonders Brecht-freundlichen Nationaltheater wie dem italienischen nicht weiter verwundert, brachte Regisseur Fulvio Tolusso im März 1964 auf das Teatro Stabile der Grenzstadt Trieste. Wie in den meisten Inszenierungen der Zeit folgte der früh verstorbene Tolusso, der auch Strehler-Mitarbeiter war, dem brechtschen Modell. Wie viel Hölderlin durch die Aufführung des Stücks beim italienischen Publikum bewusst ankam, ist schwer einzuschätzen, die damalige Kritik nahm den Hölderlin-Bezug kaum zur Kenntnis. Brechts Antigone wurde in den folgenden Jahren noch einige Male in Italien wieder aufgenommen bis zum gelungenen Arrangement von Federico Tiezzi, das 2004 in Prato uraufgeführt wurde und dann durchs Land auf Tournee ging. Die italienische Rezeption kann als Beispiel gelten für die besondere Rolle der Antigone-Bearbeitung: natürlich sehr wenig gespielt im Vergleich zu anderen Stücken Brechts, fungierte sie indirekt als Vehikel für die erst in den 1970ern einsetzende Bühnenwirkung Hölderlins in Italien (vgl. Castellari 2006a). 372 Zum Living Theatre vgl. 3.2.5. Eher ephemere Bedeutung kann man den (immerhin quantitativ beachtlichen) Inszenierungen in Bamberg (1960, Regie von Karl Löser), Oberhausen (1961, Regie von Joachim Fontheim), Reinbek (1962, Regie von Joachim Höppner), Münster (1967, Regie von Enrico Otto), Augsburg (1968, Regie von Hermann Kleinselbeck), Wilhelmshaven (1969, Regie von Bernd Rüde) und Bochum (1969, Regie von Stefan Orlacs) beimessen (Schüleraufführungen nicht einbegriffen). In der Darmstädter Orangerie brachte 1968 Gerhard F. Hering seine Inszenierung der brechtschen Antigone auf die Bühne, die erste Anzeichen für eine freie Behandlung des Modells aufwies – möglicherweise wurde hier die Living-Theatre-Inszenierung bereits verarbeitet. An den Antigone-Inszenierungen des jungen Claus Peymann (am 9. Juli 1963 noch ‚studentisch‘ in der Studiobühne an der Hamburger Universität, dann am 28. September 1965 an der Berliner Schaubühne und am 25. Mai 1966 am Frankfurter Theater am Turm) kann man die wachsende Emanzipation vom brechtschen Modell messen. In einem Interview zur Berliner Inszenierung gab Peymann einer sehr brechtschen Einstellung Ausdruck: „Um die Annäherungen an die Fabel zu erleichtern, sie ihres klassischen Nimbus zu berauben und ihre sehr realen Momente hervortreten zu lassen, wurde während der Arbeit versucht, den Ablauf des Stückes in Form von Zeitungsnotizen zu fixieren“. Ein Jahr später wurde noch stärker aktualisiert, durch Bezüge auf den Vietnam-Krieg im Programmheft und in der szenischen

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Inwieweit bei diesen Reprisen der Hölderlin-Prätext und allgemein der Bezug auf den schwäbischen Dichter eine Rolle spielte, lässt sich nicht immer genau rekonstruieren. Die Verzweigung der Bühnenrezeption Hölderlins durch Brechts Bearbeitung brachte allerdings bereits in den 1950–60er Jahren eine breitere Präsenz von Hölderlins Texten auf der Bühne mit sich, die tendenziell eine immer breitere ‚Akzeptanz‘ seiner Sprache im Theater auslöste. Brechts besondere Stellung in Literatur- und Theaterdebatten machte Hölderlins Sophokles-Übersetzungen auch bei politisch eher ‚linken‘ und ästhetisch eher ‚experimentellen‘ Autoren, Theaterleuten und Künstlern attraktiv, um hier orientierungshalber etwas grobe Kategorien zu benutzen. Dies geschah zuerst noch marginal, später auf breiter Front. Dass Hölderlins Übersetzungssprache dem Publikum der 1950er Jahre zu Gehör gebracht wurde, ist mehr als das Verdienst Brechts das von Carl Orff und seiner Antigone-Vertonung (1949), zu der 1959 noch Oedipus der Tyrann hinzukam. Orffs Antikeund Hölderlin-Bild sowie seine künstlerisch konservative und nunmehr ‚apolitische‘ Position, die in weitreichender Übereinstimmung mit den vorherrschenden Tendenzen der gräzistischen, germanistischen und philosophischen Forschung und insgesamt der kulturpolitischen Stimmung der ‚restaurativen‘ Adenauerzeit stand, stand im offenkundigen Gegensatz zu Brecht. Dieser hatte Orffs Antigone-Vertonung unmittelbar nach der Salzburger Uraufführung scharf kritisiert: „Die sakrale Haltung des alten Werks“, notierte Brecht, „kann Orff nur als eine exotische gestalten. Schon dadurch verliert sie alle Bedeutung“.373 Als Ironie der Rezeptionsgeschichte kann der Umstand betrachtet werden, dass die gegensätzlichen Hölderlin-Operationen Brechts und Orffs darin zusammenwirkten, dass die von beiden favorisierte Antigone fast ausnahmslos die Hölderlin-Rezeption der 1950er Jahre dominierte. Nicht von ungefähr mehren sich die Ödipus-Inszenierungen erst Anfang der 1960er Jahre, nachdem Orff auch jene hölderlinsche Übersetzung vertont und aufgeführt hatte, um dann nach der auf Brechts Spuren wandelnden Müller-Besson-Inszenierung 1967 noch breitere Kreise zu ziehen.374 War Orffs Antigone-Vertonung im ersten Jahrzehnt auch sichtlich || Realisation; methodologisch wurde dementsprechend für einen (echt brechtschen!) freien Umgang mit dem Modell plädiert. 373 Vgl. Bemerkungen zu Orffs „Antigone“ (GBA 23, 114f.). Brecht wohnte der deutschen Erstaufführung in Dresden bei (27. Januar 1950). Sein Urteil war insgesamt vernichtend; auch im allgemeineren Urteil über die Notwendigkeit von Experimenten in der Kunst schnitt Orffs Operation als lediglich formaler Versuch (d.h. ohne Berücksichtigung des Sozialen) schlecht ab: „Diesen Experimenten haftet natürlich ein gewisser Ludergeruch [...] Die Neuerungen in diesen Fällen sind nur formaler Natur [...] Wir betrachten solche Experimente als formalistische Experimente“. Bezeichnenderweise verlor Brecht dort kein Wort über Hölderlins Text: Ihm suspekt war keineswegs der Rekurs auf den Dichter oder die ‚werkgetreue‘ Übernahme der Übersetzung, sondern das heraufbeschworene Gesamtbild der Antike. Orff verfehle aufzuzeigen, inwieweit Menschliches und Kultisches in der Vorlage teilweise im Gegensatz stünden: „Diesen kostbaren Widerspruch bringt die Musik nicht so heraus!“ (ebd.). 374 Nach Smolnys Weimarer Ödipus-Inszenierung ein Jahr nach Kriegsende folgten bis 1960 lediglich eine Aufführung im Goetheanum Dornach (1953) und die Schweizer Inszenierung von Karl G.

362 | Ein Theaterjahrhundert erfolgreicher als Brechts Bearbeitung und Inszenierung, so lässt sich mit Blick auf die darauffolgende Zeit und auf die produktive Rezeption das Gegenteil behaupten.375 Orffs Antigone tauchte dann selten in den Spielplänen auf und konnte kaum als stilbildend betrachtet werden, die ohnehin erfolgsarme Ödipus-Vertonung noch weniger. Brechts Antigone spielte hingegen neben der punktuellen Wiederaufnahme im Repertoire und der internationalen Bühnenwirkung weiterhin eine Rolle als Modell einer Antike- und Hölderlin-Aneignung im deutschsprachigen Drama und Theater. Orffs Hölderlin-Vertonungen – dies einer der möglichen Gründe ihrer fehlenden Langzeitwirkung im Theater – kann man in vieler Hinsicht als bedeutendes Endprodukte der Tendenzen betrachten, welche die Rezeption von Hölderlins SophoklesÜbersetzungen in der ersten Jahrhunderthälfte beherrscht hatten, in manchem gar als deren Krönung.376 Die Linie verbindet Hellingrath, Michel, Müthel und Orff, die Arbeit an Hölderlins Antigone steht im Mittelpunkt. Erstmals ganz konkret gilt dies bezüglich der „Inkubationszeit“, so Orff selbst, die mit der Darmstädter Begegnung mit Lothar Müthel 1919 begonnen habe. Orff war damals Kapellmeister in der Hessischen Stadt, der neue Freund gab ihm Hölderlins Sophokles-Übersetzungen in Zinkernagels Ausgabe und der 24 Jahre alte Komponist wurde von deren „Sprachgewalt“ überwältigt. Er dachte rasch an eine Vertonung und knüpfte über Müthels Vermittlung mit Wilhelm Michel Kontakt.377 Die ‚Inkubation‘ verlief dann über das Wiedersehen in

|| Kachler, die zuerst in St. Gallen (23. Mai 1953, mit Gastspielen in Zürich und in Baden und positiver Resonanz in der lokalen Presse) und dann im römischen Theater Augst zu sehen war (Ende Juni 1955). Nachdem Orff auch Oedipus der Tyrann vertont hatte, entstanden neue Ödipus-Inszenierungen fürs Sprechtheater: die von Erich Holliger (Basel 1961), die von Heinrich Gaese (Stuttgart 1962), die von Alf André (Reutlingen 1962). Rudolf Noeltes Münchner Inszenierung (1962) verdient oben eine separate Erörterung. 375 Übereinstimmend Hellmut Flashar (Flashar 1991, 192; 197f.). Vgl. auch Massa (2006) 56. Orffs Antigone und noch stärker sein Oedipus der Tyrann verloren dann schnell an Reiz, die meisten neueren Aufführungen waren und sind noch heute konzertant. Darin kann man auch die Schicksalsverwandschaft von Orffs Sophokles-Hölderlin-Vertonungen mit dem (Musik)Theater der 1950–60er Jahre erblicken (etwa bei Wieland Wagner oder Günther Rennert), das in den darauffolgenden Jahrzehnten vor markanten Entwicklungen im Regietheater verdrängt wurde. Eine Tabelle der Orff-Inszenierungen bietet Massa (2006) 156f., der auch die Auseinandersetzungen wichtiger Regisseure mit Orff eingehend erörtert (zu Wagner insb. 131–153, zu Rennert 166–171, zu Sellner 159–166). 376 Flashar (1991) 197 ist ähnlicher Meinung: „Im ganzen stellen sich die Intentionen Orffs und ihre szenische Realisierung als organische Vollendung der Konzepte dar, von denen die Antigonae-Aufführungen in der Übertragung Hölderlins von Darmstadt über Wien (Lothar Müthel) mit ihren (scheinbar) zeitlosen Regiekonzepten getragen waren, in einer Kontinuität, die Orff selbst ausdrücklich betont hat“. 377 So Orff selbst: „Ich las die ganze Nacht. Noch nie war ich einer Dichtung von solcher Sprachgewalt begegnet“. Flashar (1991) 193f., wo Orffs Worte zitiert werden, resümiert eindrucksvoll, wie der junge Orff überzeugt war, es sei an der Zeit, neue Ausdrucksformen für die antike Tragödie zu erarbeiten, und wie dann der „entscheidende Anstoß“ 1918/19 in Darmstadt kam: Die Begegnung mit

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Wien 1940 anlässlich von Müthels Inszenierung von Michels Bearbeitung bis zu der anschließenden Erarbeitung der eigenen Konzeption ab 1941. Vieles verdankte sich der Vorarbeit von Michel und Müthel.378 Orff behandelte Hölderlins Antigone-Übersetzung wie einen unantastbaren heiligen Text,379 der traditionellen Sakralisierung bzw. dem feierlich-respektvollen Umgang gemäß, und erblickte in „Hölderlins genialer Sprachschöpfung“ die einzig gelungene „Verleiblichung des Griechischen in die deutsche Sprache“380 sowie eine in

|| Hölderlins Übersetzung, vermittelt durch Lothar Müthel, der ihm auch Michel vorstellte. Orffs Selbstaussagen zur eigenen Antigone- und Hölderlin-Initiation sind nicht ohne Selbststilisierung, sie verhehlen auch Wichtiges über die heiklen Wiener Jahre und den Kontakt zu Baldur von Schirach. Licht in die Sache bringt Massa (2006) 35–44. Dort werden auch das Verhältnis Orffs zur Inszenierung Müthels und der daraus entstandene Vertonungsmodus erörtert. Massa, der aus derselben Dokumentation wie Flashar zitiert (Orff 1981), lässt Orff selber erklären, wie der Ertrag aus dem Theaterbesuch 1940 und seine bereits tiefgründige Kenntnis von Hölderlins Übersetzungen und Anmerkungen zu einem eigenen Vertonungs- und Aufführungsprogramm verschmolzen: „Ich vermißte seine [Hölderlins] einzigartig mitreißende Sprachgewalt. Für mich reicht bei einer szenischen Aufführung seiner Tragödie das gesprochene Wort nicht aus. Es muß wieder Musik und Geste werden, wie es ursprünglich in der griechischen Tragödie war und wie es Hölderlin in so genialer Weise diskutierte“ (41). In diesem Sinne radikalisierte Orff die spätestens seit Bettina Brentano zirkulierende Einsicht in die akustische-musikalische Performativität der Sprache der Sophokles-Übersetzungen, die insbesondere in der Hölderlin-Renaissance nach 1900 wieder ins Bewusstsein rückte. Der Erkenntnis Orffs bezüglich der Gestik, die auch auf Hölderlins Ausführungen zu Antigone zurückgeführt werden kann, begegnete man vor ihm etwa bei Benjamin, in derselben Zeit bei Brecht. Ein gutes Jahr nach Orffs Theaterbesuch wurde der Vertrag zwischen der Wiener Staatsoper und Carl Orff unterzeichnet (Dezember 1941), in derselben Zeit begann wohl die Arbeit an der Vertonung. 378 Vgl. Flashar (1991) 194: „Orff war offenbar besonders fasziniert von dem ritualisierten, archaischen Spiel [in Müthels Inszenierung; M.C.], das diese Tragödie von jedem möglichen Gegenwartsbezug weg in die graue Vorzeit im Sinne einer zeit- und ortslosen Archaik versetzte“. 379 Schon die Art und Weise, wie beide Hölderlin-Opern Orffs bzw. deren Textbücher betitelt wurden, zeugt von einer Auffassung, die in Hölderlins Ödipus und Antigone nicht lediglich Verdeutschungen des Sophokles erblickte, sondern eigenständige Werke: der griechische Tragiker, der deutsche Dichter und der Musiker erschienen so gut wie gleichrangig als ein Dreigestirn von Autoren. Man nehme zum Beispiel den etwas verwirrenden Titel „Carl Orff: Antigonae. Ein Trauerspiel des Sophokles von Friedrich Hölderlin“ (Orff 1949, 1) und man vergleiche sie mit Brechts Abstufung: Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlin’schen Übertragung für die Bühne bearbeitet von Bert Brecht. 380 Orff (1981) 22. Ex negativo bestätigt ist diese ausschließliche Bewunderung für Hölderlins Übersetzung durch den von Massa erörterten Umstand, dass Orff noch für seinen Oedipus der Tyrann Hölderlins Übersetzung als Vorlage nahm, obwohl ihm bereits 1951 der befreundete und hochgeschätzte Wolfgang Schadewaldt die eigene neue Übersetzung geschickt hatte, mit dem ausdrücklichen Vermerk, er könne sich „die antike Tragödie heute nur in Ihrer Musik vorstellen“. Das Zitat stammt aus dem bei Massa (2006) 227 abgedruckten Brief Schadewaldts an Orff vom 30. Oktober 1951, die Arbeit an der Ödipus-Vertonung nahm Orff 1953 auf. Schadewaldts Ödipus-Übersetzung wurde am 8. September 1952 von Rudolf Sellner mit großer Resonanz uraufgeführt (vgl. Flashar 1991, 201f.).

364 | Ein Theaterjahrhundert ihrer klanglichen und rhythmischen Beschaffenheit musik-affine Form.381 Das Original floss so gut wie unverändert in das Textbuch ein:382 Die einzigen Änderungen betrafen szenische Einteilungen – die Akte wurden (durch alleinstehende römische Ziffer) angegeben – und die Einarbeitung von durchweg auf Latein gehaltenen Bühnenanweisungen für die Darsteller; die bei Hölderlin präsenten Szeneneinteilungen wurden so in manchem wiederhergestellt und einzelne wenige Elemente hinzugefügt.383 Auch in musikalischer und musiktheatralischer Hinsicht wurde jedwede mögliche Aktualisierung ausgeblendet, das ahistorische bzw. vorgeschichtliche Mythische stand im Vordergrund und wurde musikalisch stark archaisiert, letzten Endes ‚ent-gräzisiert‘, denn Orffs exotisches Instrumentarium drängte das Geschehen in eine „prähistorische Zeit“‘ (Flashar 1991, 22). Diese hatte, was Absicht war, mit Sophokles’ Griechenland nichts zu tun, ebenso wenig war sie allerdings mit einer dionysischen Antike im Geiste Nietzsches oder gar Hölderlins vergleichbar.384

|| 381 Vgl. Stolzenberg (2014) 175f. Orff habe, so werden die Worte des Musikers wiedergegeben, „‚der in Hölderlins Sprache bereits enthaltene Musik‘ Raum zu geben“ versucht. „Gemeint“, fährt Stolzenberg fort, „ist die sinnlich wahrnehmbare Klanggestalt sowie der Rhythmus der künstlerisch gefügten Sprache Hölderlins, aber auch stilistische Momente wie pointierte Kontraste oder ausdruckssteigernde Wiederholungen sinntragender Worte“. Auf Stolzenberg (2014) sei für eine Einführung in die „Präsenz Hölderlins in der Musik des 20. Jahrhunderts“ als „eines der erstaunlichsten Phänomene der Musikgeschichte und der Hölderlin-Rezeption“ (171) verwiesen und für die Präsentation ihrer wichtigsten Vertreter: Carl Orff, Wilhelm Killmayer, György Ligeti, Wolfgang Rihm und Luigi Nono. Der für die Rezeption im Musiktheater zentrale Bruno Maderna wäre der Liste hinzuzufügen. 382 Bereits in Beißners Erläuterungen zum Übersetzungen-Band der Stuttgarter Ausgabe konnte man lesen, dass Hölderlins Übersetzung „unverändert, ohne Kürzung und nicht als Libretto zubereitet, der Oper Antigonä von Carl Orff als Text“ diente; die zweite Hölderlin-Oper Orffs war 1952, als der Band erschien, noch Zukunftsmusik. Beißner, der hier nüchtern den typologischen Unterschied zu den Theateraufführungen feststellte, für die hingegen die Vorlage „bearbeitet oder ‚durchgesehen‘ worden“ war, ohne dabei Urteile abzugeben, führte zum Schluss kommentarlos auch Brechts Bearbeitung an, mit der schlichten Einführung: „Nicht unerwähnt bleibe“ (StA 6, 456). 383 Einige Beispiele aus Oedipus der Tyrann. Im ersten Akt tritt Tiresias a puero ductus ein (Orff 1959, 12, vgl. StA 6, 135); der nach Beginn des vierten Aktes auftretende Bote, der die Nachricht vom Tod des Polybos bringt – bei Hölderlin von Szenenanfang an auf der Bühne, während bei Orff zuerst nur Jocasta cum ancillis sacra atque tura ferentibus eintritt – ist bei Orff als Corinthius bezeichnet und durch die Angabe scurra versutus charakterisiert (Orff 1959, 29f.). 384 Flashar vermerkt, dass „durch die Verwendung des fremdartigen, zum Teil afrikanischen Instrumentariums“ eine Atmosphäre hergestellt wird, in der Antigones Geschichte „weder bei Sophokles noch bei Hölderlin zuhause ist“. Was die szenische Realisation angeht, ist neben der Wirkung der rhythmisch überwältigenden Musik auch die Behandlung des Chors zu berücksichtigen: Flashar zeigt, wie die frühen Inszenierungen auf kongeniale Weise durch gestische und tänzerische Elemente das Sakrale zum Exotisch-Rituellen steigerten (1991, 196f.).

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Die zeitgenössischen Inszenierungen der Antigone-Vertonung Orffs, etwa die von Flashar herausgestellten Dresdner (27. Januar 1950, Regie von Karl Arnold) und Stuttgarter (9. März 1956, Regie von Wieland Wagner),385 standen mit Orffs Konzeption in voller Übereinstimmung. Sie setzten somit im Musiktheater eine Tradition fort, die in den 1920–40er Jahren im Sprechtheater mit Sophokles-Hölderlin-Inszenierungen Bühnengeschichte gemacht hatte und in der Nachkriegszeit beredte Unterstützung bei Vertretern der Sophokles- und Hölderlin-Forschung fand.386 Unstrittig erscheint, dass in Orffs effektvoller Vertonung der Antigone- für die Bühne die Hölderlin-Konstrukte, welche die Rezeption der vorangegangenen Dekaden bestimmt hatte, im (Musik)Theater fortlebten. Es entstand zudem eine Art Rückwirkung auf die Inszenierung der Sophokles-Übersetzungen im Sprechtheater: Für ein gutes Jahrzehnt überwog auch aufgrund von Orffs erfolgreicher Antigone-Vertonung, flankiert von entsprechenden Hölderlin-Bildern im öffentlichen (westlichen) Diskurs, die „Aura des Sakralen und Feierlichen“.387 Ein Beispiel dafür ist neben einigen bereits erwähnten, eher unbeachteten Inszenierungen der 1950er Jahre Gustav Rudolf Sellners zweimalige Auseinandersetzung mit Hölderlin. Sellner war von 1951 bis 1962 als Intendant in Darmstadt einer der Protagonisten des Theaterlebens und besonders für seine Klassikerinszenierungen im Inund Ausland sehr bekannt.388 Zuerst noch in Essen (30. Dezember 1950), dann wieder

|| 385 Vgl. Flashar (1991) 195 für die sehr kritische offizielle Aufnahme der Antigone Orffs in der DDR (an der Staatsoper), wo von einem „asoziale[n] Werk“ die Rede war. Die musikalische Leitung jener Dresdner und Berliner Inszenierungen von Karl Arnold übernahm Joseph Keilberth. Als Arnold die BRD-Erstaufführung unter Georg Soltis Leitung in München auf die Bühne brachte (10. Januar 1951), war hingegen „die Zustimmung einhellig“ (ebd). 386 Bei Flashar ist von einer „gewissen Affinität der Konzeption Orffs zu den Bestrebungen und Interessen der gleichzeitigen Tragödienforschung“ die Rede, die darin bestehe, „jenseits einer Konfliktdramatik moralischer, rechtlicher oder politischer Art das Affektive, das Pathetische, das Rituelle, das Dämonische als den Urgrund der Tragödie zu begreifen“. Schadewaldt, dessen „rückhaltlose Zustimmung“ für Orffs bekannt ist, sollte durch seine einflussreichen Hölderlin-Studien eine Art Vermittlerrolle spielen und diese Konzeption auf Hölderlins Sophokles-Übersetzungen und selbst auf den Tod des Empedokles übertragen; für ihn bildeten, wie Flashar vermerkt, „Sophokles, Hölderlin und Orff eine völlige Einheit“ (Flashar 1991, 196). Auch Karl Reinhardt sprach sich 1951 sehr positiv über Orffs Antigone aus (287). Dies scheint im Widerspruch zu stehen zu der „Mitteilung der ReinhardtSchülerin Karin Alt“, die Flashar wiedergibt, nach der Reinhardt nach der Premiere „von der Musik Orffs entsetzt gewesen“ sei und gemeint habe, „sie habe mit der griechischen Tragödie nichts zu tun“, es sei denn, Reinhardt hatte sehr schnell seine Meinung geändert bzw. opportun befunden, in den später gedruckten Überlegungen zu Hölderlin und Sophokles die Rezeptionskonstellation als harmonisch darzustellen. Auch Heidegger gehörte zu den Orff-Begeisterten der ersten Stunde (ebd., 195). 387 Flashar (2011) 24f. 388 Im darauffolgenden Jahrzehnt widmet sich Sellner als Generalintendant der Deutschen Oper Berlin eher dem Musiktheater, darunter auch Orff und dessen Aischylos-Vertonung des Prometheus auf Altgriechisch (1968). Pietro Massa hat versucht, auf der Grundlage von Schadewaldts Studien zu Sophokles und Hölderlin und unter Benutzung von Archivmaterial, Schadewaldts These von einer

366 | Ein Theaterjahrhundert sieben Jahre später in seiner Hauptwirkungsstätte Darmstadt brachte er Antigone in Hölderlins Übersetzung auf die Bühne. Bereits bei der ersten Inszenierung zur Wiedereröffnung des Essener Theaters, für die Franz Mertz einen lichtvollen, zeitlos und zugleich antik geometrischen Bühnenraum schuf und Harri Rodmanns eine rhythmisch und kultisch trommelnde Musik beisteuerte, arbeitete der Regisseur auf die für ihn typische, abstrahierende, weder historisierende noch aktualisierende Façon, bei der Stilisierung im Mittelpunkt stand. Dementsprechend wurde auf der fast leeren Bühne auf Dekoratives sowie überhaupt auf Kontrastreiches oder Bewegtheit verzichtet. Das Wort und dessen evokative Kraft bildeten allesamt den Schwerpunkt, alles Psychologische wurde vermieden, nicht zu reden vom Politischen.389 Hannes Schmidt freute sich in seiner Rezension darüber, dass Sellner „glücklicherweise [...] nichts [tat], um uns kompromißfreudigen Zeitgenossen das Geschehen ‚nahezubringen‘, nein, er ging auf die Elemente der Szene zurück, auf Raum, Licht, Ton und auf das Wort“ (Die Welt 2. Januar 1951). Solch ein szenischer Minimalismus, der dem damals florierenden Existentialismus gar nicht fern war und ebenso dem Hölderlin-Bild der ‚nüchternen‘ Forschung entsprach, bezweckte die Konzentration auf das Wesentliche, auf das Dichterisch-Denkerische in der über die Zeiten hinweg gültigen sophokleisch-hölderlinschen Form. Die Wirkung einer derart um das Wort zentrierten – und, wie explizit zu würdigen ist, künstlerisch hervorragend gestalteten – Inszenierung blieb nicht aus: Bei demselben Kritiker kann man lesen, dass Hölderlins Verse „in der dünnen Luft dieser Neueinstudierung umso leuchtender, glühender“ aufblühten, wie „dunkle Bäume auf lichtem Grund“.390 Noch geglückter war solch eine von allen pathetischen Exzessen gereinigte Version einer nunmehr langen ‚feierlichen‘ Aufführungstradition in Sellners AntigoneInszenierung am 28. März 1957 in der Darmstädter Orangerie, wohl die bedeutendste Hölderlin-Inszenierung der 1950er Jahre überhaupt.391 „So atemlos still“, so prägte

|| angeblichen hölderlinschen Trilogie Der Tod des Empedokles – Ödipus der Tyrann – Antigone als Pendant zur angeblichen Trilogie des Sophokles Antigone – König Ödipus – Ödipus auf Kolonos auf Orffs Musikschaffen zu erweitern und auf dessen Trilogie Antigonae – Oedipus der Tyrann – Prometheus zu beziehen. Orffs Prometheus (1968) wäre dann als letztes Kettenglied der Trilogie mit dem sophokleischen Koloneus und dem hölderlinschen Empedokles zu vergleichen (der allerdings als erster entstanden ist), im Sinne einer orffschen „geistigen Anknüpfung an Hölderlins Rezeption der attischen Tragödie“ (2006, 105, vgl. insgesamt 97–121). 389 Vgl. zur Inszenierung Köhler (2002) 145f. 390 Abwegig erscheint Ennens Vermerk, Sellner habe mit der Essener Inszenierung „die griechische Tragödie aus der mythischen Ferne in den gegenwärtigen Alltag“ bringen wollen (2008, 110). Vielmehr gilt, wie man bei Flashar lesen kann, das Gegenteil: „Nichts lag Sellner ferner, als die Tragödie der Alltäglichkeit anzunähern“ (1991, 202). Ennens Berufung auf Parallelen zum Inszenierungsstil der brechtschen Antigone – die allerdings m.E. eher für Sellners und Schadewaldts König Ödipus 1952 gälten – führen auch keineswegs in Richtung Annäherung an die Alltäglichkeit. 391 „Der Hausgott der Darmstädter Orangerie war Heidegger, nicht Marx“ (so Georg Hensel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 25. Mai 1990).

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sich bei Georg Hensel die sakrale Atmosphäre ein, „war es noch nie“. Derselbe berühmte Kritiker und Theaterhistoriker – der aus Darmstadt gebürtige Hensel hat Sellners ‚Epoche‘ wie kein anderer aufmerksam verfolgt und dokumentiert392 – konnte so weit gehen, einen für die Theaterrezeption Hölderlin beinahe als historisch zu betrachtenden Satz hinzuzufügen: „Hölderlins Nachdichtung hat in dieser Inszenierung [...] ihre Faszinationskraft auf der Bühne erwiesen“.393 In der Kritik war darüber hinaus von hervorragenden Schauspielern,394 vom symbolträchtigen Farbenspiel der Bühnenbild- und Kostüme-Gestaltung, für die Chöre von einer „ekstatischen Religiosität“, so nochmals Hensel, die Rede. Mit Sellners Inszenierungen ist ein Höhepunkt erreicht: Darin gipfelt die jahrzehntelange Suche nach dem geeigneten Aufführungsstil für Hölderlins SophoklesÜbersetzungen im Sprechtheater im Zeichen feierlicher-sakraler Stimmung und Konzentration auf ihre sprachlich-dichterische Gewalt. Dazu trug Orffs das Wort nicht antastende Hölderlin-Musik als Höhepunkt einer schon immer die rhythmisch-musikalische Dimension und performative Kraft der Übersetzungen Hölderlins betonenden Tradition bei. Eine Tradition, die explizit auf Hellingrath zurückgeht und im 19. Jahrhundert verwurzelt ist. Hensels Worte über die endlich erwiesene Faszination von Hölderlins Sprache auf der Bühne besiegeln diese Entwicklung. Bereits Flashar hat diese Kontinuität festgestellt und sie mit parallelen Entwicklungen in der Auffassung der griechischen Tragödie verknüpft: Im Grund hält sich für die Übersetzungen Hölderlins auf der Bühne – von Brechts Fassung einmal abgesehen – der gleiche Inszenierungsstil und vor allem die gleiche Konzeption mit leichten Variationen in den verschiedenen Realisierungen bis in die Mitte der 60-iger Jahre, wie auch die philologische Tragödienforschung in ihren Methoden und Fragestellungen von Reinhardt über Lesky bis Schadewaldt in dieser Zeit eine relative Konstanz aufweist. (Flashar 1988, 310)

Der Befund kann auf die Hölderlin-Forschung erweitert werden – die hier erwähnten Reinhardt und Schadewaldt trugen dazu bei, insbesondere gerade mit Bezug auf das Empedokles- und auf das Sophokles-Projekt395 – und ist, wie an späterer Stelle noch

|| 392 Vgl. seine Sammlung zu einem „Jahrzehnt Sellner-Theater in Darmstadt“ (Hensel 1962). Die dort aufgenommene Kritik zur Antigone-Inszenierung (im Buch datiert auf den 28. März 1957) fällt in manchem Urteil anders aus als die hier zitierte, die in Die Welt am 4. April desselben Jahres erschienen war. So wird dort eher auf die Schwer- oder gar Unverständlichkeit der sprachlichen Vorlage hingewiesen. Diese Schwierigkeit sei allerdings durch eine rhythmisch langsame und skandierte, der ‚harten Fügung‘ angemessene Diktion in vielem umgegangen worden: „Der Vers Hölderlins wird dabei weniger musikalisch-melodiös gesprochen als mit einer peniblen Sorgfalt derart gegliedert, daß sich seine Bedeutung erschließt“; die Leistung Sellners sei „außerordentlich“; vgl. ebd., 181–188, hier 185. 393 Die Welt 4. April 1957. 394 Bis auf Wolfgang Schwerbrock, der das Gegenteil behauptete (Frankfurter Allgemeinen Zeitung 30. März 1957). 395 Gemeint sind die Studien Reinhardt (1951) und Schadewaldt (1956), (1957) und (1960).

368 | Ein Theaterjahrhundert zu erörtern sei wird, mit ähnlichen Konstellationen in der Rezeption des Empedokles im Nachkriegstheater bis Ende der 1960er Jahre zu vergleichen. Die Inszenierung Sellners kann als Krönung der gerade in Darmstadt mit Michels Bemühungen eröffneten Epoche betrachtet werden, wobei Sellner, anders als Regisseure der vorigen Generation, nicht auf Michels Bearbeitung zurückgriff. Allmählich setzte sich im Nachkriegstheater nämlich die Tendenz durch, sowohl beim Tod des Empedokles als auch bei den Sophokles-Übersetzungen weniger auf bereits existierende Bearbeitungen bzw. Einrichtungen zu rekurrieren. Entweder übernahm man nun Hölderlins Text bis auf punktuelle Striche sozusagen ‚rein‘, in seinem fast unberührten Wortlaut, oder man ließ produktionsintern, vornehmlich seitens des Dramaturgen und in Zusammenarbeit bzw. Absprache mit dem Regisseur, eine neue Strichfassung erarbeiten; oder man rekurrierte auf autoritative Transformationen von anerkannten Dramatikern wie Bertolt Brecht oder später Heiner Müller. Sellner wählte die erste Option: Er blieb sehr nah an Hölderlins Text, auch darin typologisch in der Tradition verwurzelt, die von Darmstadt ausgegangenen und über Wien nach Darmstadt zurückgekehrt war. Er blieb darin dem Aufführungsstil seiner KlassikerInszenierung und dem in den 1950er vorherrschenden ‚Intendantentheater‘ treu. Das ‚Theater der Regisseure‘ bzw. ‚Regietheater‘ der darauffolgenden Jahrzehnte sollte eher andere Optionen eingehen.396 Eine Zwischenposition nimmt in dieser notgedrungen groben theatergeschichtlichen Gegenüberstellung Rudolf Noelte ein. Gut fünfzehn Jahre jünger als Sellner, aber älter als Zadek und Stein, Grüber und Peymann, deren Regietheater er ablehnend gegenüberstand, nicht zuletzt weil er sich eher der Arbeit eines Walter Felsenstein und eines Jürgen Fehling verpflichtet fühlte,397 war Noelte auch in der Bühnenrezeption Hölderlins ein Einzelgänger. Seine Münchner Ödipus-Inszenierung (Residenztheater, 20. Oktober 1962, Bühnenbild und Kostüme von Johannes Waltz) ragt einzeln in dem Panorama heraus, das bisher beschrieben wurde. Noeltes Ausnahmestellung in dieser Landschaft ist die eines Regisseurs, der vor allem für Inszenierungen der bürgerlichen Dramatik zwischen Naturalismus und Impressionismus

|| 396 Zum Intendantentheater vgl. die einführenden Überlegungen in diesem Kapitel. Zum (modernen) „Regietheater“ vgl. Flashar (1991) 225, der einerseits zugibt, dass es spätestens seit Max Reinhardt [...] Regietheater“ gegeben hat, andererseits behauptet: „Aber mit gutem Grund hat man sich daran gewöhnt, die seit etwa 1968 bis in die unmittelbare Gegenwart reichende Phase des öffentlichen Theaters als ‚Regietheater‘ zu bezeichnen“. Die im Begriff implizite Aufwertung des Regisseurs und von dessen künstlerisch-interpretatorischer Deutungshoheit gegenüber Text, Schauspieler usw. wird manchmal (etwa im Feuilleton) im pejorativen Sinne benutzt, um über als willkürlich abgestempelte Inszenierungen, die ‚Gewalt an den Dichtern‘ verübten oder ‚eine Zumutung für das Publikum‘ wären, zu klagen. Hier wird der Begriff Regietheater ohne jeden polemischen Unterton verwendet. 397 Regieassistenzen leistete Noelte in den ersten Nachkriegsjahren bei den erwähnten Felsenstein und Fehling sowie bei Willy Schmidt, Karl Heinz Stroux und Erich Engel. Vgl. dazu einführend Primavesi (2011b).

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bekannt war; bei den Proben war er detailbesessen und arbeitete obsessiv an der ‚richtigen‘ Besetzung; die Textvorlagen benutzte er allerdings recht frei. Seine psychologischen Akzentuierungen und seine meisterlichen Inszenierungen mit ihren makellosen, dramaturgischen Rhythmen und Zäsuren sollten im Zuge der Politisierung des Theaterlebens bald als ‚reaktionär‘ marginalisiert werden; ihre ästhetische Meisterschaft bezweifelten auch seine ‚Feinde‘ nie.398 Dementsprechend war seine noch relativ frühe Inszenierung des Ödipus – der große Erfolg kam wenige Jahre später, vorzüglich mit Tschechow-Stücken – eine zwar „auf gesellschaftliche Kontextualisierung verzichte[nde]“ (wie die meisten früheren), jedoch stark psychologisierende Operation; von Orffs Archaisierungen und Sellners Abstraktionen war sie meilenweit entfernt. Dies behaupteten damalige Kritiker (bei Wolfgang Drews las man etwa: „Noelte säkularisiert die kultische Tragödie. [...] Er inszeniert Sophokles wie Ibsen“)399 und wiederholen heutige Theaterwissenschaftler; Patrick Primavesi arbeitet z.B. eindrucksvoll die „Verdichtung der psychologischen Stimmungen“ heraus, die in der Fernsehaufzeichnung jener Inszenierung für das ZDF heute noch spürbar ist (2011b, 103). Dazu trugen die ausgezeichnete Besetzung der Rollen des Ödipus (Thomas Holtzmann) und der Iokaste (Marianne Hoppe) bei sowie die für Noelte typische aufmerksame Behandlung des Inszenierungstempos. Einen „Gegenentwurf zu den Unternehmungen Sellners“, also der Darmstädter Antigone, hat Ernst Wendt Noeltes Ödipus genannt, zu Recht.400 Ob dem als Kritiker und später als Dramaturg und Regisseur tätigen Wendt, der weitere Hölderlin-Inszenierung aufmerksam verfolgen und selber einige realisieren sollte, auch in der Behauptung zuzustimmen ist, dass Noelte in seinem Verzicht auf das Kultische zugunsten des Menschlichen Brechts Antigone-Modell gefolgt sei und damit auch die andere Sophokles-Übersetzung Hölderlins im Zeichen einer „realistischen Antike“401 spielen ließ, ist sehr fraglich. Noelte als „Kronzeuge Brechts“ zu bezeichnen führt in die Irre. Neben der typologischen Unvergleichbarkeit von Brechts Antigone-Projekt, in dem Bearbeitung, Inszenierung und Kommentar eine Einheit bilden, mit der Münchner || 398 Zu Noelte vgl. die Textsammlung Gerlach (1996), wo u.a. Passagen aus einem Gespräch mit dem Schauspieler Thomas Holtzmann, ‚seinem‘ Ödipus in München, abgedruckt sind. Holtzmann erinnert sich dort noch an die „leisen Töne“, die „totale Beschränkung auf kleinste Nuancen“ jener Inszenierung, die „nahezu als Kammerspiel aufgeführt“ war, „daraus plötzlich ein Kriminalfall wurde, während alles Mythische verlorenging“ (ebd., 103). 399 In Drews Artikel mit dem ironischen Titel: Für ein Parkett gelehrter Ödipusse ist von Hölderlins „erhaben herakliteische[n] Sprache“ die Rede (Frankfurter Allgemeine Zeitung 25 Oktober 1962). 400 Den Ausdruck nimmt Flashar (1991, 205) auf, um dann allerdings zu argumentieren, dass auch bei Noelte wie bei Sellner Hölderlins Wort „das tragende Element“ geblieben sei. Flashar ist auch weniger als andere davon überzeugt, dass Noeltes Inszenierungsstil, mit dem Betonen vom Auf-SichGestellt-Sein des Menschen und dem Interesse für die Geschichte des Ödipus als Kriminalfall, tatsächlich psychologische Einsichten gewähre. Insgesamt fällt Flashars Urteil über die „Aufführung, die [...] nur noch durch die prägende Kraft der Sprache Hölderlins“ fessele, negativ aus (ebd.). 401 So lautet der Titel von Wendts Rezension (Theater heute Dezember 1962).

370 | Ein Theaterjahrhundert Inszenierung – nicht zu reden von Brechts Distanz gegenüber jedem „psychologischen Illusionismus“, worin Noelte einhellig eine Meisterschaft erlangte (Primavesi 2011b, 99) –, ist in Noeltes Ödipus-Inszenierung, bei aller Ablehnung des Göttlichen und Schicksalshaften, der von eigener Seelennot bedrängte Protagonist nicht ‚durchrationalisiert‘ im Sinne Brechts; seine Hilflosigkeit ergibt sich auf grundlegend pessimistische Weise aus dem unentrinnbaren Menschlichen. Der ‚Realismus‘ als tertium comparationis ist hier fehl am Platz, vor allem im Hinblick auf Brecht. Der Abdruck eines Aufsatzes über Sophokles von Karl Reinhardt im Programmheft der Münchner Inszenierung scheint auf allgemeinerer Ebene zu bestätigen, dass Noeltes SophoklesHölderlin-Operation noch ganz im Klima der 1950er Jahre verwurzelt ist, auch wenn in einer zweifellos konzeptionell anders nuancierten und künstlerisch recht unterschiedlich realisierten Form als bei Sellner. Eine Art Fortsetzung von Brechts Antigone-Operation mit Hölderlins ÖdipusÜbersetzung sollten Heiner Müller und Benno Besson mit ihrem Ödipus, Tyrann Anfang 1967 leisten (3.2.3). Bis dahin und eigentlich bis in die 1970er Jahre hinein ist in beiden Deutschlands ein produktiver Rückbezug auf Brechts Modell in eigenständigen Inszenierungen nur punktuell zu verzeichnen. Direkte Wiederaufnahmen von Brechts Antigone-Bearbeitung, die in jenen Jahren immerhin zur Verbreitung seiner Arbeitsweise an Hölderlins Übersetzung für das Theater und an der antiken Tragödie führten, konnten jene tiefschürfende Theaterarbeit in schöpferischer Form kaum weiterführen. Daneben war so gut wie keine Inszenierung von Hölderlins Antigone-Übersetzung durch einen Bezug auf Brechts (und Nehers) intertextuell und inhaltlich vielschichtige Arbeit gekennzeichnet; dies gilt sowohl für die hier gesondert erörterten bekannteren Aufführung als auch für eher marginale Erscheinungen, bei denen allerdings der Mangel an Dokumentation manchmal kaum Schlussfolgerungen erlaubt.402 Explizite Hinweise konnten lediglich für die Reutlinger Antigone-Inszenierungen von Hermann Treusch (1962) gefunden werden. Im Programmheft derselben, das im Hölderlin-Archiv vorliegt, wurde ausdrücklich Brechts Beispiel genannt, um den Rekurs auf Hölderlins Übersetzung und deren „moderne Sprache“ zu erklären, die „expressiv, stakkato-stammelnd, aber auch strömend in Satzbögen wie ein trei-

|| 402 Neben den oben erörterten und zwei Schulaufführungen sind im Hölderlin-Archiv vier weitere Inszenierungen dokumentiert. Am 19. Oktober 1955 hatte im Zürcher Schauspielhaus Werner Krauts Inszenierung Premiere, um dann in Aarau zu gastieren; die Kritik klagte einhellig über die Unverständlichkeit bzw. Bühnenunwirksamkeit des Textes und plädierte für die Benutzung der Übersetzung des Zürcher Professors Emil Staiger. Sehr wenig konnte über Carlheinz Casparis Kölner Inszenierung ermittelt werden, die 1959 im Theater am Dom auf die Bühne kam, ebenso über die Marburger Regie von Heinrich Buchmann (vermutlich August 1964). Für die Bad Hersfelder Antigone (Juli 1962) zeichnete ein griechisches Künstlerpaar verantwortlich: Regisseur Pelos Katselis arbeitete mit dem Musiker Georg Kasassoglu zusammen; die Kritik klagte über den „unverständlich psalmodierenden, schwerfällig watschelnder Opernchor“ (Gerhard Schön, Süddeutsche Zeitung 10. Juli 1962).

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bender Gesang“ sei. Ein exemplarischer Vergleich daselbst mit Woerners Übersetzung (anhand des Anfangs vom vierten Chorlied), die Wiedergabe von Brechts Antigone-Gedicht, Zitate aus den Antigone-Anmerkungen und gar aus Voß’ vernichtendem Urteil von 1804 zeugen von einer intensiven Beschäftigung mit Hölderlins SophoklesProjekt und dessen älterer und neuerer Rezeption. Großen Widerhall fand die Inszenierung an einer provinziellen Bühne durch ein nicht anerkanntes Ensemble freilich nicht.403 Das bei Treusch im Vordergrund stehende ‚moderne‘ Sprachliche ist nicht der einzige Aspekt, dem man bei einer an der Hölderlin-Brecht-Linie inspirierten Antigone-Inszenierung zu begegnen erwarten würde. Sind (vage gehaltene) Aktualisierungen mit Blick auf Diktatur und Krieg noch in den ersten Nachkriegsjahren möglich gewesen,404 so würde man jetzt eher inhaltliche (etwa eine mehr oder weniger ideologisch-politisch akzentuierte Entmythisierung), textuelle (z.B. die produktive Arbeit an der Verssprache) oder schauspielerische und regiebezogene Eingriffe erwarten; die experimentierfreudige Zeit des BRD-Theaters der Sechziger Jahre hatte in Brechts epischem Theater immerhin eine Inspirationsquelle. Das war aber nicht der Fall.405 Selbst ein Kurt Hübner, der vor allem durch seine Bremer Intendanz 1962–73 jene Jahre wie kaum ein anderer prägte und Regisseure wie Schauspieler lancierte, die noch lange das deutsche Theater bestimmen sollten, scheint in seinen beiden Hölderlin-Begegnungen keine Wende eingeleitet zu haben. Offenkundig wurde hier eine Distanz zu einem Sellner wie auch einem Noelte, aber noch keine überzeugende neue Theatersprache für Hölderlin-Inszenierungen gewonnen. Noch zu Beginn seiner Karriere als Regisseur hatte Hübner in Freiburg die Antigone-Übersetzung inszeniert (1. Oktober 1952, Städtische Bühnen, Bühnenbild von Rolf Christiansen),406 um dann || 403 Hermann Treusch war damals als Schauspieler und Regisseur vornehmlich in Stuttgart, Graz, und Hannover tätig. Später sollte er in München und Frankfurt arbeiten, um dann zum Nachfolger R.W. Fassbinders am Theater am Turm zu werden; seit den 1980er Jahren leitete er weitere anerkannte Inszenierungen und verschiedene Posten, sein Hauptwirkungsort wurde Berlin. Hölderlins Antigone inszenierte er wieder 1981 in Braunschweig als Gastregisseur. Zur Reutlinger Inszenierung sind im Hölderlin-Archiv neben dem oben erörterten Programmheft lediglich nicht aussagekräftige Besprechungen und Meldungen zu lesen, meist in der Lokalpresse. 404 Ein noch recht frühes Beispiel der Verknüpfung von Hölderlins Antigone mit der Schuld- und Verantwortungsfrage in der jüngsten deutschen Geschichte war die Sprechversion, die nach dem Frankfurter Debüt am 26. Januar 1949 Heinz und Maria Friedrich in vielen deutschen Städten aufführten. Darin ist sie mit den oben diskutierten Inszenierungen in Hamburg 1946, Chur 1948 und teilweise Bielefeld 1947 zu verbinden. 405 Noch mehr als der Brecht-Boykott, der ja die produktive Rezeption nicht verhindern konnte, wirkte sich m.E. die anhaltende allgemeine Assoziation Hölderlins mit einer eher konservativen Kultur der BRD aus, die sich erst im Laufe der späten 1960er Jahre umkehren sollte. 406 Die Inszenierung war Teil eines Antigone-Diptychons: gespielt wurde da auch Jean Anouilhs in den 1940er–50er Jahren ungemein erfolgreiche Bearbeitung der Tragödie. Im gemeinsamen Freiburger Programmheft ging Willy Grub – der in manchen Presseberichten als Regisseur angegeben wurde – auf diese Triumphgeschichte der erstmals am 4. Februar 1944 im noch okkupierten Paris aufgeführten recht prosaischen französischen Antigone ein, die auch Flashar eindrucksvoll (und kritischer)

372 | Ein Theaterjahrhundert vierzehn Jahre später die sophokleisch-hölderlinsche Tragödie in Bremen auf die Bühne zu bringen, mit Edith Clever in der Titelrolle und ihm selber als Kreon. Ein junger Bruno Ganz, der wie Clever, Margit Carstensen und Jutta Lampe und die älteren Traugott Buhre und Bernhard Minetti jenem legendären Ensemble unter Hübner angehörte, spielte den Boten (11. Juni 1966, Theater am Goetheplatz). Anders als die parallel laufende, rasch erfolgreiche Räuber-Inszenierung von Peter Zadek und Wilfried Minks (ein einziges Programmheft für beide vereinte sie unter dem Titel „Klassiker heute – zwei Beispiele“), vermochte Hübners Antigone keine neuen Akzente zu setzen und fand dementsprechend keine große Resonanz. Insbesondere der Rekurs auf Hölderlins Übersetzung, der doch programmatischen Charakter gehabt zu haben scheint,407 wurde kaum produktiv mit dem Vorhaben eines fälligen Umdenkens bei den Klassiker-Inszenierungen verknüpft, das in Zadeks Schiller-Inszenierung in die Tat umgesetzt wurde. Flashar, dem hingegen Hübners Inszenierung als „der kühne, das moderne Regietheater ankündigende Versuch“ erscheint, nennt diesbezüglich insbesondere zwei szenische Aspekte: die Verteilung der gekürzten Chorpartien an Einzeldarsteller, die unter den teilweise direkt angesprochenen Zuschauern agierten, sowie ein gewagtes symbolisches – allerdings auch für Flashar: „unverständliches“ – Bühnenbild.408 Beides stand jedoch in keinem Verhältnis zur Vorlage Hölderlins, deren Wahl beliebig erscheint;409 auch Flashar gibt zu, mit den damals für Bremen typischen „provokativ aktualisierenden Klassikeraufführungen“ konnte diese Antigone nicht schritthalten (1991, 229). Erst 1969 sollte ein anderer Brecht, der Kasseler Intendant Ulrich Brecht, für Hölderlins Antigone-Übersetzung ein innovatives Inszenierungskonzept erarbeiten, teilweise auf Sellners aufbauend, teilweise Instanzen der inzwischen erneut aktuell

|| nacherzählt (1991, 173–178). Hölderlins Vorlage wurde im Programmheft hingegen mit keinem Wort bedacht; die Besprechung in der Badischen Zeitung (9. Oktober 1952) lobte das „kultisch[e] Spiel“, das „Mysterienspielhaft[e]“, die „feierliche Strenge“. Vermutlich wurde hier auf Michels Bühnenfassung rekurriert. 407 Im Programmheft erörterte Gottfried Greiffenhagen anhand konkreter Beispiele, inwiefern Hölderlins Text mehr als eine reine Übersetzung des Sophokles sei – erwähnt wurde etwa die Substituierung der Götternamen mit Periphrasen – und leitete daraus den programmatischen Charakter ab, den eine Inszenierung dieser Nachdichtung habe. 408 „Es war der Ausschnitt eines riesigen Kopfes mit einer Nase, die wie eine Säule auf dem Boden ruhte, und mit großen Augen, deren Blick von der Bühnenwand zurückgeworfen werden sollte auf das Publikum, während die Bühnengestalten [...] sich wie kleine Marionetten auf einem von unten beleuchteten Glasboden bewegten“ (Flashar 1991, 229). 409 Flashar nennt den Versuch, „die Antigonae in der Übertragung Hölderlins der Fremdheit zu entkleiden“, ohne darauf näher einzugehen (1991, 229). In den Inszenierungs- und Rezeptionsmaterialien konnte ich keinen Anhaltspunkt dazu finden. Vielmehr erscheint das Bremer Unternehmen, wenn man in das Programmheft schaut, von der Vorstellung ausgegangen zu sein, mit Hölderlins Übersetzung einen deutschen und keinen antiken Klassiker als Vorlage zu haben.

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gewordenen Brecht-Linie einarbeitend. Der spürbare Unterschied zu Hübners in vielem zaghafter Inszenierung, die nur drei Jahre davor auf die Bühne gebracht worden war, verdankt sich offenkundig dem Eindruck, den die Living Theatre-Antigone von Julian Beck und Judith Malina und der Ödipus, Tyrann von Müller und Besson gemacht hatte; beide waren 1967 zwischen Ost und West uraufgeführt worden.410 Als Anknüpfungspunkte stechen neben einzelnen szenischen Elementen, die auf diese beiden Sophokles-Transformationen zurückgehen mögen,411 vor allem der Experimentiergestus von Ulrich Brecht und die von ihm plakativ ausgestellte Alternative hervor zwischen der ‚alten‘, besser: auf ‚alte‘ Art und Weise dargebotenen Nachdichtung Hölderlins und der ‚neuen‘ aktualisierend-banalisierenden Antigone-Version.412 Bei der am 12. Februar 1969 im Kleinen Haus des Kasseler Staatstheater aufgeführten Antigone handelte es sich nämlich um eine Doppelinszenierung: Einmal von Hölderlins Übersetzung in Ulrich Brechts Regie, zum anderen von der uraufgeführten Übersetzung Claus Bremers, für die der Oberspielleiter Kai Braak die Regiearbeit besorgte.413 Schon diese Gegenüberstellung von Hölderlins Duktus einerseits und von

|| 410 Heiner Müllers Ödipus-Bearbeitung wurde am 31. Januar 1967 in einer Inszenierung von Benno Besson am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt, die BRD-Erstaufführung folgte Ende desselben Jahres in Bochum (19. November 1967, Schauspielhaus); Regie führte dabei der dortige Oberspielleiter Hans-Joachim Heyse. 411 Auf das Beispiel des Living Theatre könnte die oben angeführte Regieentscheidung zurückgehen, die fixe Rollenbesetzung zu überwinden. Bessons Regie ist neben Sellners Tradition, wie Johannes Jacobis Besprechung nahelegt, das wichtigste Vorbild, etwa in der Archaisierung als Mittel zur Aktualisierung: „Je archaischer Sophokles dargestellt wird, desto lebendiger spricht das Beispiel aus anderer Zeit zur Gegenwart“ (Die Zeit 21. Februar 1969). 412 Der in meinen Augen als spielerisch zu verstehende Gestus, der wohl eine Reflexion auf die Inszenierungsgeschichte ist, wurde von der Kritik kaum wahrgenommen und auch in der einschlägigen Forschung nicht berücksichtigt. Flashar nennt die Doppelinszenierung immerhin eine „höchst merkwürdige Veranstaltung“ und räumt dem „Experiment dieses Abends [...] theatergeschichtliches Interesse“ ein. Flashars behutsame Überlegungen zum damaligen Versuch, dem „museale[n] Theater“ mit Hölderlins Übersetzung als heiliger Textgrundlage eine ‚andere‘ Antigone entgegenzuhalten, in der Sophokles’ Text hinterfragt und zur Diskussion gestellt werden konnte, kann man weiterspinnen zur These, dass Brechts und Braaks Doppelinszenierung das Theater ihres Meisters Sellner in Frage stellen wollte. Dass bei einer derartigen Theaterarbeit „die poetische Version Hölderlins [...] unangetastet“ geblieben sei, ist m.E. kaum vertretbar: Vielmehr gewann sie gerade durch die plakative Gegenüberstellung mit derjenigen Bremers neue Dimensionen und wurde tendenziell dem ‚Museum der Worte‘ entrissen, in das sie die meisten Inszenierungen der Nachkriegszeit verbannt hatten. Gerade durch die Entscheidung, im ersten Teil des Abends „die Fassung Hölderlins im Sinne einer leerlaufenden Theatralik ohne Masken, Musik und Tanz auf die Bühne“ zu bringen (Flashar 1991, 208f.), wurde ihre Kraft als eine gefesselte, spannungsgeladene dargestellt, die einer Befreiung harrt. 413 Claus Bremer wie auch die etwas jüngeren Ulrich Brecht und Kai Braak kamen in der ‚SellnerÄra‘ nach Darmstadt, um als Regieassistenten und Dramaturgen mit diesem zusammenzuarbeiten. Bremer, der auch in der Literaturgeschichte der Zeit durch sein Engagement für experimentelle Formen einen Platz hat (konkrete Poesie), erarbeitete für viele Regisseure seine Übertragungen bzw. Bearbeitungen von antiken Dramen, die absichtlich jedes Pathos und gehobene Stilmittel vermieden.

374 | Ein Theaterjahrhundert Bremers absichtlich der Alltagssprache angenähertem Stil andererseits zeugt von der Intention, zwei moderne Antike-Konzepte auf die Bühne zu bringen. Zuerst, an die Tradition der Hölderlin-Inszenierungen der letzten Jahrzehnte anknüpfend, archaisierte Ulrich Brecht seine Inszenierung durch Abstraktheit und Nüchternheit und rückte das Sprachlich-Rhythmische (Hölderlins) in den Mittelpunkt, verzichtete dabei jedoch programmatisch aufs Rituelle, aufs Kultische und auf Tanz oder Musik. Nach der Pause fing verfremdend Antigones Geschichte erneut an, diesmal in zeitgenössischem Ambiente und alltäglicher Sprache (Bremer). „Alles hat Möglichkeiten. Nichts hat mehr Möglichkeiten als der Mensch“:414 Der neu übersetzte bzw. umgedeutete Anfang des zweiten Chorlieds, das auf dem Bühnenhintergrund lesbar war, bezogen bereits die Rezensenten auch auf die kollektive schauspielerische Arbeit, die zeittypisch der Inszenierung zugrunde lag: keine festgelegte Rollen, sondern Figuren, die beliebig anderen Personen zugeschriebenen Text sprachen. Die Inszenierung wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen und gastierte in Ulm und Kiel. Wie dem Programmheft der Uraufführung zu entnehmen ist, ging die Doppelinszenierung auf eine langjährige Arbeit an Hölderlin zurück: Brecht hatte bereits 1965 in Ulm, wo er seit 1962 Intendant war und wo auch Bremer und Braak tätig waren, eine Inszenierung der Antigone in die Wege geleitet, die dann doch vorerst nicht gespielt wurde. Die Auseinandersetzung mit dem Text ging jedoch weiter. Zentral waren dabei vor allem die Chorpassagen und die mit dem Ensemble kollektiv debattierte Frage ihrer Umsetzung auf der Bühne. Hölderlins Sprache, die „nicht von unserer Zeit ausgeht, sondern sich die griechische anverwandelt“, wurde als geeignetes verbales Mittel betrachtet, um in Abwechslung von einzeln und gruppenweise rezitierten Passagen die Chöre zu realisieren.415 Rezeptionsgeschichtlich ist die auf künstlerisch hohem Niveau stehende DoppelInszenierung – vor allem der Hölderlin-Teil wurde in der damaligen Kritik bejubelt; den Bremer-Teil zeichnet retrospektiv die frühe Anwendung von zeitgenössischen theatralischen Mitteln auf die antike Tragödie aus (Flashar 1991, 208f.) – aus verschiedenen Gründen von Interesse. Sie brachte die Inszenierungstradition der Antigone zu einem weiteren Höhepunkt, gleichzeitig aber auch zu ihrem Endpunkt: Der SellnerSchüler Brecht zeigte noch einmal die dichterische Suggestivkraft einer von allem Mystischen gesäuberten, abstrakt-archaischen Inszenierung, die Hölderlins Sprache

|| Flashar bezeichnet sie als „mit reinem Informationswert ohne ästhetischen Reiz“. Hinsichtlich der oben besprochenen zwei Textvorlagen der Kasseler Doppelinszenierung fügt er bissig hinzu: „Fragt man nach 20 Jahren, was von den seinerzeit vorgestellten Alternativen geblieben ist, so lautet die Antwort: von Bremer nichts, von Hölderlin alles“ (Flashar 1991, 207). Mit Hölderlins Übersetzungen haben sich die Auftragsarbeiten Bremers jedoch gar nicht messen wollen. 414 Zitiert aus Flashar (1991) 208; die damaligen Besprechungen hoben den Satz als Schlüssel zur Interpretation hervor. 415 So im Programmheft (Hölderlin-Archiv).

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unverändert in den Mittelpunkt stellte; es wurde jedoch gleichzeitig suggeriert, sowohl durch die plakative Gegenüberstellung mit dem Text Bremers als auch durch das Experimentieren mit alternativen Spielweisen, dass eine auf Texttreue fixierte oder feierlich-sakrale Tradition an ihr Ende gekommen war und es nun auch im BRDTheater galt, an die produktiv-transformierende Linie der Hölderlin-Rezeption anzuknüpfen und sich dadurch neue Wege zu bahnen. Außerdem kann der etwas verblüffende Umstand nicht unerwähnt bleiben, dass diese Inszenierung, obwohl sie offenkundig eine Scharnierfunktion hatte, auch eine relativ lange Pause in der Rezeptionsgeschichte eröffnete, ein knappes Jahrzehnt, in dem – bis auf die Vermittlung über die Transformationen Bertolt Brechts und Heiner Müllers – Hölderlins Sophokles-Übersetzungen von der Bühne verschwanden. Erst 1977, in einem völlig veränderten Kontext, sollte die Antigone Hölderlins wieder im deutschsprachigen Theater aufgeführt werden; beim Ödipus Tyrann, der in den frühen Sechziger zum letzten Mal aufgeführt worden war (Noeltes Inszenierung 1962 war die letzte wichtige Inszenierung gewesen), ergab sich eine ebenfalls fast zehnjährige Abstinenz bis zu Aufführungen 1973. In diesen Pausen verstummte der Dichter jedoch keineswegs, im Gegenteil, es florierten andere Formen der Rückbesinnung und Vergegenwärtigung im Theater; im Zentrum standen dabei Hölderlin selbst und dessen Empedokles-Figur als Zeitgenossen des Aufbruchs und des Leidens. Die Politisierung des gesamten öffentlichen Lebens rund um das Jahr 1968 und der zweihundertste Geburtstag Hölderlins 1970 sollten dazu beitragen, dieser Hölderlin-Empedokles-Konjunktur eine besondere Nuancierung zu verleihen (siehe 3.2.5). Diese erste Phase der Bühnenwirkung von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen in der Nachkriegszeit wies durchaus Zeichen der Kontinuität mit prägnanten Momenten der früheren Rezeption in den Kriegsjahren auf. Brechts und andere Gegenentwürfe verliehen ihr frisches Blut, in den ‚restaurativen‘ 1950ern und selbst noch in den 1960er Jahren blieb es jedoch hauptsächlich bei der ästhetisch konservativen Richtung einer Archaisierung und Musealisierung, hochrepräsentativ bei Sellner. Mit der Kasseler Antigone-Inszenierung fand diese erste Phase ein vorläufiges Ende. Die drei ‚sellnersch‘ geprägten Künstler Brecht, Braak und Bremer hatten Hölderlins Übersetzungssprache zuerst im zeitlosen ‚Museum der Worte‘ ausgestellt, um sie dann ansatzweise mit der lebendigen Gegenwart zu konfrontieren. 3.2.2.2 Kontinuitäten. Der Tod des Empedokles auf der Bühne 1945–1969 Im Verhältnis zu den Bearbeitungen und Inszenierungen von Hölderlins SophoklesÜbersetzungen war die dramatische Rezeption und Bühnenwirkung des Empedokles in den ersten 25 Nachkriegsjahren quantitativ und qualitativ zweitrangig. Eine internationale Rezeption ist nicht zu verzeichnen, sogar die neu hinzugekommenen innerdeutschen Grenzen scheinen unpassierbar gewesen zu sein: Nach den vorliegenden Quellen fand in der SBZ und dann auf DDR-Boden keine einzige Empedokles-Insze-

376 | Ein Theaterjahrhundert nierung statt. Auch in den darauffolgenden Jahren sollte sich dort die produktive Rezeption des fragmentarischen Trauerspiels auf die intertextuelle Verarbeitung bei Heiner Müller und anderen Dramatikern beschränken.416 Die Schweizer und BRD-Inszenierungen 1945–70 – auch in Österreich stieß anscheinend das Drama auf kein Interesse – kann man zwar nicht an den Fingern einer Hand abzählen, vier Hände wären allerdings mehr als genug. Inklusive Laien- und Provinzaufführungen kommt man auf die ernüchternde Zahl von siebzehn Produktionen in einem Vierteljahrhundert. Davon waren lediglich drei-vier von überregionaler Bedeutung; bedeutende produktive Transformationen sind nicht zu verzeichnen.417 Der Tod des Empedokles schien vorerst an literarisch zentrierte, feierlich-museale Inszenierungsformen gebunden, die höchstens in Verbindung mit Hölderlin-Hommagen bzw. als Gelegenheitserscheinungen anlässlich von Jubiläen, wissenschaftlichen Tagungen usw. auf die Bühne kamen. Dramatiker, Dramaturgen und Regisseure schienen sich von einer Auseinandersetzung mit Hölderlins tragischen Bruchstücken nichts zu versprechen.

|| 416 Im Hölderlin-Archiv liegt zumindest nichts vor. 417 Zu erwähnen sind ferner zwei andersgeartete Adaptionen des hölderlinschen Trauerspiels, die dramatische von Brock und die musikalische von Reutter. Der Wahlschweizer Erich Brock, zwischen Berlin und Süddeutschland aufgewachsen, promovierte 1945 mit einer Dissertation zu Ernst Jünger an der Universität Zürich; dort war er bereits Professor, als 1954 sein Jambendrama Empedokles. Handlung in fünf Aufzügen zusammen mit einer Prometheus-Bearbeitung erschien. Darin gab Brock seiner Überzeugung Ausdruck, dass ein Drama über den Philosophen ohne Bezug auf Hölderlin in jenen Jahren undenkbar sei, „und das umso mehr, als dieses Werk ja unvollendet geblieben ist und mehr als einen der Nachfahren zum Versuch einer Bearbeitung, Zusammenordnung oder Fertigung der Bruchstücke verlockt hat“. So stritt er gar nicht ab, „daß wir uns von einigen Deutungen und Motiven Hölderlins dankbar haben anregen lassen“ (so in der Vorbemerkung, Brock 1954, 6). Ein Blick in den Dramentext (ebd., 5–77) vermittelt den Eindruck, dass bis auf einige Worte der Panthea, die reine Zitate sind (ebd., 72), und auf strukturelle Elemente wie die dramatis personae, Hölderlin tatsächlich nur als Inspirationsquelle diente; Brocks Empedokles ist demnach intertextuell-typologisch mit den Dionysischen Tragödien Pannwitz’ zu vergleichen. Über eine Wirkung von Brocks Drama liegt mir nichts vor. Als intermediale Transformation ist hingegen Hermann Reutters „concerto scenico in zwei Akten“ Der Tod des Empedokles zu bezeichnen (1954, Neufassung 1966). Wie der Untertitel nahelegt („Fragment einer Tragödie von Friedrich Hölderlin“), war diese Vertonung an Hölderlins Textvorlage eng gebunden und ging von der Faszination für die tragischen Fragmente aus. Anders als Brock verarbeitete und kürzte Reutter die verschiedenen Fassungen und fügte sie zu einem Stück in zwei Akten zu je 5 Szenen zusammen. Der als Komponist und Hochschuldirektor (Stuttgart) bekannte Reutter wurde dabei von der Vorstellung geleitet, dass durch eine Bearbeitung wie die seinige doch eine „sinnvolle Einheit der von Hölderlin hinterlassenen Fragmente“ zu rekonstruieren sei, indem „was immer sich […] zu tondichterischer Überhöhung bot“, in das Textbuch aufgenommen werde (Reutter 1966, 3). Wie auch in dem Urteil über Hölderlins Trauerspielfragmente selbst (von der „lapidaren Einfachheit ihrer lyrisch-dramatischen Aufschwünge“ ist die Rede bzw. von der „Sprache Hölderlins, dieses einmalige, urgewaltige Instrument“), war der 1900 geborene Reutter in seinem Hölderlin- und Empedokles-Bild offenkundig ein Kind seiner Zeit; sein Verhältnis zum Text kann mit demjenigen eines Scholz verglichen werden.

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Dazu mag die Empedokles-Theaterorgie um 1943 beigetragen haben, die zu den Höhepunkten der nationalsozialistischen Instrumentalisierung gezählt hatte; selbst ehrlich gemeinte Versuche, Distanz zu halten oder gar zu zeigen, wurden damals im Keim erstickt oder in ihrer Wirkung auf den Kopf gestellt. Die Skepsis gegenüber dem Trauerspiel in der DDR könnte auch darauf zurückgeführt werden.418 Sicherlich waren die Inszenierungen des ersten Nachkriegsjahrzehnts zwischen Zürich und Tübingen, zwischen Wiesbaden, Stuttgart und Basel bei aller sorgfältigen Tilgung ideologischen Gedankenguts durch viele sonstige Zeichen der stilistischen und inhaltlichen Kontinuität mit früheren Bearbeitungs- und Inszenierungsversuchen gekennzeichnet; viele hielten immer noch das Trauerspiel für ein bühnenuntaugliches Lesedrama oder als ‚schwierig‘ aufzuführen. Von einem derartig epigonalen Panorama konnten kaum Impulse zu neuer, aktueller Beschäftigung ausgehen. Der frühe Auftakt mit zwei Inszenierungen im Jahr 1947 mochte zuerst den Eindruck vermitteln, das Nachkriegstheater könne für Hölderlins Trauerspiel wie für andere ‚Klassiker‘ des deutschsprachigen Theaterkanons und ihre ‚humanistischen‘ bzw. ‚universalen‘ Werte günstig sein. Sowohl Ernst Ginsberg im Rahmen der Zürcher Junifestspiele (Schauspielhaus, 12. Juni 1947)419 als auch Günther Stark in Tübingen (Städtisches Schauspielhaus, 20. September 1947, mit Gastinszenierungen in Reutlingen)420 brachten eigene Bearbeitungen unter eigener Regie auf die Bühne. In beiden Fällen entstanden die Hölderlin-Arbeiten in Kontakt mit Germanisten. Sie waren in ihrer Tendenz zur Fixierung des Empedokles in der Form eines auch szenisch so nüchtern und karg wie möglich gestalteten Weihespiels, das „feierliche Gebärden, feierliches Wort“421 verkünde und von Hölderlin „zum Hören und nicht als Schau-Spiel gestaltet“ worden sei,422 eher dem akademischen als dem theatralischen Diskurs verpflichtet. Der Berliner Ginsberg, der sich als Schauspieler im Theater der Weimarer Republik vor der durch den Nationalsozialismus bedingten Emigration einen Namen gemacht und in der Schweiz eine neue Bühnenheimat und Wirkungsmöglichkeit

|| 418 Zur Hölderlin-Rezeption in der DDR vgl. Fehervary (1977) 99–173 sowie speziell zur Rezeption in der Lyrik Packalén (1986) 174–228 – in manchen dort erörterten Gedichten sind Anspielungen auf das Empedokles-Trauerspiel zu finden, was den allgemeinen Befund einer eher literarischen als theatralischen Rezeption in der DDR bestätigt. 419 Als Bühnenmusik rekurrierte man auf Werke von Händel, Buxtehude und Sammartini; diese Auswahl zielte auf feierliche Wirkung, man verzichtete dadurch auch auf alle Anspielungen auf Antike (Empedokles), Goethezeit (Hölderlin) oder Gegenwart (Aufführungskontext). 420 Stark hatte 1945 zuvor das Landestheater Tübingen gegründet, dessen Intendant er auch war. 421 So Emil Staiger im Programmheft der Zürcher Aufführung. 422 So Friedrich Beißner im Programmheft der Tübinger Inszenierung; vgl. unten zu seiner anderswo ausführlicher zum Ausdruck gebrachten Skepsis gegenüber der Bühnenwirksamkeit von Hölderlins fragmentarischem Trauerspiel. Zum Zeitpunkt der Tübinger Inszenierung war der Empedokles-Band der StA (4) noch nicht erschienen.

378 | Ein Theaterjahrhundert auch als Regisseur gefunden hatte, konnte auf Emil Staigers Kompetenzen rechnen.423 Für die Inszenierung Starks, der ebenso aus Berlin stammte, seit den 1920ern als Schauspieler und Regisseur (etwa als Mitarbeiter Brechts) tätig war und in der NS-Zeit wie auch nach dem Krieg Intendanzen wahrnahm, steuerte Friedrich Beißner einen Beitrag fürs Programmheft bei, der auch separat als Zeitungsartikel erschien.424 Der Zusammenarbeit mit dem jeweiligen germanistischen Lehrstuhl von Zürich bzw. Tübingen ist angesichts des rezeptionsgeschichtlichen Kontextes mehr als marginale Bedeutung beizumessen. Erstens kann man darin das Bedürfnis seitens der jeweiligen Produktion aufspüren, nach den ideologischen Exzessen und Instrumentalisierungen des letzten Jahrzehnts historisch-philologische Verankerung zu suchen. Zweitens wirkte sich die Anbindung an den akademischen Diskurs auf die Modi der Bearbeitung und Inszenierung von Hölderlins Trauerspiel aus, oder zumindest deckten sich literaturwissenschaftliche und künstlerische Interpretation weitgehend. Der Tod des Empedokles wurde als Wortkunstwerk aufgefasst, die Bearbeitung als ein Weg zur möglichst Hölderlin-getreuen Rekonstruktion der Autorintention,425 bei der Respekt vor dem Dichterwort und Anforderungen einer Bühnenrealisation behutsam gegeneinander abgewogen wurden – und Letztere meist den Kürzeren zog. Die Inszenierungen insistierten dementsprechend auf der verbalen Dimension, in deren Dienst weitere Elemente der szenischen Darstellung gestellt wurde: die Aufführungen ähnelten in ihrer sakralen und musealen Strenge eher einem Oratorium. Eine sich seit drei Jahrzehnten über historische Brüche hinweg bewährende Konstellation: Empedokles-Inszenierung als feierliche Hommage mit ausgesprochen dichterischer Wirkung, als Hölderlin-Weihespiel.

|| 423 Staiger, der noch in den frühen 1930er Jahren – u.a. als Mitglied der nationalen Front – philologische Tätigkeit und politisches Engagement als durchaus zu verbindende Dimensionen betrachtet hatte, löste sich bald von dieser Vorstellung wie von dem geistesgeschichtlich fundierten Literaturbegriff seines Lehrers Ermatinger. Er wurde 1943 dessen Nachfolger in Zürich, um anschließend zur führenden Gestalt einer werkimmanent (und damit vermeintlich auch: apolitisch) interpretierenden Germanistik zu werden, die oft die Auseinandersetzung mit der modernen Literatur scheute; dementsprechend wurde Staiger von den nachfolgenden ‚politisierten‘ Generation seit den 1960er Jahren scharf angegriffen (vgl. Wögerbauer 2000). Hölderlin, den Staiger bereits in seiner Habilitationsschrift bedacht hatte, blieb für ihn ein Referenzpunkt; dem Dichter widmete er einzelne Aufsätze. Ein weiterer Beitrag zum Empedokles, ursprünglich ein Vortrag bei der dem Empedokles gewidmeten Westberliner Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft (7.–9. Juni 1963), eröffnete das Hölderlin-Jahrbuch 1963/64. 424 Schwäbisches Tagblatt 19. September 1947. 425 Sowohl Ginsberg als auch Stark erarbeiteten keine eigenständigen Bühneneinrichtungen, sondern erstellten Strichfassungen direkt aus Hölderlins Vorlage in der populären Reclam-Ausgabe. Rüppel (1954) 143, der das Hilfsregiebuch der Zürcher und das Soufflierbuch der Tübinger Inszenierung konsultieren konnte, erörtert Ginsbergs „eigenwillige dramaturgische Leistung“, der wenig von allen Fassungen gestrichen habe, und weist auf die Nähe zu Scholz’ Einrichtung und Inszenierungen hin. Stark habe aber nicht ausschließlich auf der ersten Fassung gearbeitet.

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Neue Akzente setzten weder diese ersten noch weitere Empedokles-Inszenierungen der 1950er und 1960er Jahre.426 Bei einigen wurde anscheinend kein besonderes Gewicht auf die Frage der aufzuführenden Fassung bzw. Bearbeitung gelegt. So etwa die nicht schlecht besetzte und zeitweilig erfolgreiche Stuttgarter Inszenierung von Gert Westphal (Staatstheater, 18. November 1956).427 Der Regisseur hatte es vordringlich auf „die Wirkung des gesprochenen Worts“ abgesehen, was Ludwig Anschütz als Empedokles gekonnt umsetzte (Ennen 2006, 101). Weitere Inszenierungen beruhten auf noch älteren Bearbeitungen: auf derjenigen von Wilhelm von Scholz die Bremer von 1955 (Theater am Goetheplatz, Regie von Gerd Briese),428 auf Smolnys Einrichtung die Wiesbadener (Staatstheater, Regie Walter Grüntzig, 1. April 1953)429 und die Basler (Stadttheater, Regie Carlheinz Caspari, 30. September 1956).430 Hier war sowohl aufgrund persönlicher Kontinuitäten als auch in inszenierungsstilistischer Perspektive die Anknüpfung an die frühere Aufführungstradition noch markanter ausgeprägt als in den Nachkriegserstlingen von Ginsberg und von Stark. Die Herangehensweise an Hölderlins Trauerspielbruchstücke blieb allerdings im Großen und Ganzen konstant: Durch je verschiedenartige Kollationen der Entwürfe strebte man die Rekonstruktion

|| 426 Neben den oben erörterten seien hier eher marginale Inszenierungen der 1950–60er Jahre erwähnt. Eine Laienaufführung ging zwischen 1953 und 1954 in Dortmund, Marl, Schwerte, RemscheidLennep, wieder Dortmund und Berlin auf die Bühne, meist an Schulen. Mit dieser Unternehmung verbunden scheint die 1965 in Coesfeld von einem Gerlach geleitete Aufführung zu sein. In den Materialien des Hölderlin-Archivs ist davon die Rede, dass er bereits ein Jahrzehnt davor in Dortmund eine Einstudierung mit Gymnasiasten versucht hatte. Auch die 1962 in Höchst vermeldete EmpedoklesInszenierung ist wohl als schulische Aufführung zu betrachten. 427 „Im Hintergrund blieb hier“, wie Ennen vermerkt, „die Textbasis für die Bearbeitung. Welche Textbearbeitung hier zugrunde lag, wurde auf dem Programmzettel nicht erwähnt“ (2006, 102). Ein Blick in die Rezensionen vermittelt allerdings den Eindruck, dass es sich um eine vom Regisseur Westphal selbst erarbeitete Einrichtung handelte, die skeptisch aufgenommen wurde. Das Bühnenbild von Gert Richter, das Ennen eine „betont zurückhaltende Szenerie“ nennt (ebd., 101), die nüchternen Kostüme, die oben erwähnte Konzentration auf das gesprochene Wort: Die mit Westphals Renommee als Rezitator literarischer Werke und als Hörspielregisseur gut zusammenpassende Einstellung zum Drama scheint voll im Einklang zu sein mit dem in den 1950ern dominanten Sellner-Stil. Der Tod des Empedokles wurde also immer noch wie eine antike Tragödie inszeniert. Es kann nach dem Erörterten kaum verwundern, dass Wolfgang Schadewaldt den Vortrag zur Premiere von Westphals Einstudierung hielt (vgl. Schadewaldt 1960). 428 Auf 1955 geht wahrscheinlich die undatierte neunte (!) Auflage des Bühnenmanuskripts von Scholz’ Bearbeitung der Tragödienfragmente Hölderlins zurück. In dem Nachwort zum Neudruck beteuerte Scholz ein letztes Mal die Rolle, die seine erste Bühneneinrichtung (1910) und Inszenierung (1916) vom Tod des Empedokles gespielt hatte: eine rezeptionsgeschichtlich tatsächlich nicht wenig bedeutende Leistung. Allerdings verschwieg dort Scholz die von ihm geerntete Kritik wie auch die Pervertierung in der Empedokles-Konjunktur um 1943. So differenzierte er nicht weiter, wenn er behauptete, dass das Stück „sich als ein bühnenlebendiges dramatisches Gedicht erwiesen hat“ (52ff.). 429 Im kleinen Haus der Hessischen Bühne trat Grüntzig auch als Schauspieler in der Rolle des Empedokles auf. Die Inszenierung erregte anscheinend kaum Aufmerksamkeit. 430 Der explizit als Studienaufführung bezeichnete Basler Empedokles fand kühle Resonanz.

380 | Ein Theaterjahrhundert einer Tragödie Hölderlins an, die trotz fragmentarischer Überlieferung einem traditionellen, einheitlichen Formbegriff entsprach. Auch die Reaktionen der Rezensenten fielen auffallend ähnlich aus: Bei aller Bewunderung für die Dichtung und pietätsvollen Ehrfurcht vor dem Dichter sei das ‚Lesedrama‘ unspielbar, der große Lyriker habe kein dramatisches Talent aufzuweisen. Diesem kritischen Schicksal entging auch „die beste, Hölderlins Dichtung am meisten bewahrende aller bisherigen Bühneneinrichtungen“ von Der Tod des Empedokles nicht. Die Rede ist von Wolfgang Schadewaldts Bearbeitung, die zum ersten Mal Fritz Herterich am 17. Mai 1962 im Tübinger Landestheater431 inszenierte: Ein junger Rolf Michaelis, aus dessen Besprechung die Lobesworte stammen, eröffnete seine Überlegungen mit dem symptomatischen Motto „Dramatiker ohne Drama“.432 Schadewaldt legte seiner Bearbeitung die erste und (vor allem) zweite Fassung zugrunde, die in seiner philologischen Rekonstruktion eine zweite Stufe der Entstehungsgeschichte bildeten, und gab sie ausdrücklich als vollständige Tragödie in 2 Akten aus.433 Damit erntete er schwere Vorwürfe von Friedrich Beißner, der darin, anders als

|| 431 Die Empedokles-Rolle fiel hier Karlheinz Kellermann zu. Zur Inszenierung vgl. auch Ennen (2006) 102, wo „das einfach stilisierte, dekorativ wirkende Bühnenbild und die ausgesprochen musikalisch komponierte Szenenfolge“ hervorgehoben werden. Stilistisch war Herterichs Inszenierung demnach recht traditionell. Schadewaldts „in sich abgerundete Bühnenfassung im Sinne einer bühnengerechten Einheit“ liest Ennen als eine Operation „in der Nachfolge von Wilhelm Scholz“. Dies passt gut zur Ablehnung der Hölderlin-Philologie, die schon immer eher Michels Bühnenfassung den Vorzug gegeben und eingreifende Bearbeitungen verworfen hatte. 432 Die Welt 13. Juni 1962. 433 Schadewaldt erarbeitete seine Bühnenfassung auf der Basis der Ausgaben von Pigenot (Hell.) und Zinkernagel, ausdrücklich mit der Intention, „den Willen des Dichters zu vollstrecken“, wie im Programmheft der Uraufführung 1962 zu lesen war. Sie erschien bereits 1960 als Bühnenmanuskript bei Suhrkamp. Auch die Auffassung, die Tragödie würde in der Intention des Dichters aus zwei Akten bestehen, stammt aus Pigenot; Beißner sollte in seiner Polemik gegen Schadewaldt auf die „frappante Ähnlichkeit“, die Schadewaldts Fassung mit der Ausgabe von Schwab aufweise, hinweisen, womit er zugleich die philologische Stringenz und die Originalität von Schadewaldts Arbeit bezweifelte (1964, 53). Schadewaldt gab seinerseits später eine solche Ähnlichkeit zu Schwabs zweiaktiger Rekonstruktion (mit Erstaunen) zu (im Programmheft der Göttinger Inszenierung 1966). Zu Schadewaldts Interpretation der Tragödie, die forschungs- und rezeptionsgeschichtlich von Bedeutung war, wie ihre lang anhaltende Präsenz in der wissenschaftlichen Diskussion und ihr wiederholtes Erscheinen in Programmheften belegen, siehe die Studie, die aus einem Vortrag 1956 anlässlich einer EmpedoklesInszenierung entstand (Schadewaldt 1960). Dort tauchte sowohl der Grundgedanke, der die Rekonstruktion in zwei Akten bestimmt („wenn auch das ganze, wie ich zu sehen glaube, in seinem Wesen vollendet ist, so ist es, seiner äußeren Form nach, doch unfertig geblieben“, 267), als auch die mit der Rekonstruktion Beißners kollidierende Auffassung der Entstehungsgeschichte auf. Zur „Ätna-Stufe“, sprich der ‚dritten‘ Fassung, hieß es: „Man pflegt sie heute, fälschlich wie ich glaube, als die letzte, reifste Stufe zu proklamieren“ (268). Darüber hinaus kann man bei Schadewaldt – anders als bei Beißner – ansatzweise die Vorstellung finden, dass Der Tod des Empedokles ein durchaus theatertaugliches Stück ist. Dies sowohl in seinen strukturellen Beobachtungen, die Hölderlins produktive Auseinandersetzung mit antiker und moderner Dramatik sowie seinen Sinn für den Aufbau von

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Michaelis, Hölderlin keineswegs ‚bewahrt‘ sah. In seinem ein Jahr davor erschienenen 5. Band der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe hatte Beißner eine andere Chronologie der Entwürfe bewiesen – sie gilt bis auf Einzelheiten noch heute – und die Fragmentarität und gegenseitige Heterogenität der Fassungen behauptet. Ein Philologenstreit entbrannte, der wie so oft bei Hölderlin über die innerakademische Domäne hinausging;434 zur Debatte stand dabei die Spielbarkeit des Empedokles überhaupt. Dem Tübinger Kollegen und allen weiteren Bearbeitern der Dramenentwürfe hielt Beißner in einem späteren Vortrag unverhohlen vor, dass „die drei Fragmente [...] sich nicht zur Aufführung [eignen] – ganz und gar nicht aber in der kontaminierenden Ungestalt der Bühnenbearbeitungen“. Die „wohlgemeinten, aber allesamt verfehlten Bearbeitungen“ hätten „dem Ruhm des Dichters geschadet“ und seien letzten Endes „Zerrbilder“ (Beißner 1964, 50, 60).435 Den Ausweg aus dieser Sackgasse sah Beißner darin, dass „dieses für die konkrete Bühne vielleicht doch zu zerbrechliche ‚Weihespiel‘ als eine Art von Oratorium, nur sprachlich dargestellt“ werde (49). Eine Festlegung des Empedokles als (Vor-)Lesedrama, also, die Beißner jedoch gar nicht durch das gängige Urteil des dramatisch unbegabten Dichters begründete, ganz im Gegenteil, er schrieb Hölderlin „ursprüngliche[n] Sinn für das Drama“ zu und sah auch in dessen Lyrik einen „stark dramatische[n] Einschlag“. Dies gelte jedoch eher für die Sophokles-Übersetzungen, deren „dramatische Rede, szenische Dichte und Fülle […] erst auf dem Theater eigentliches Leben“ gewinne (ebd.). Angesichtes der bisher rekonstruierten Bühnengeschichte des Empedokles erscheint Beißners Argumentation von 1964 zugleich paradox und bezeichnend, denn sie weist aus philologischer Perspektive auf einen circulus vitiosus hin. Beißner prangerte nämlich die Praxis aller bisherigen Bearbeiter an, deren textuelle Arbeit und oft || dramaturgischen Gegensätzen im Sinn einer „polaren Tragik“ würdigten, als auch in der Schlussbemerkung, wo die genannte Erörterung der performativen Eignung des Dramas in der Aussage kulminierte: „Das alles ist dramatisch und musikalisch“ (274). Der ‚Streit‘ zwischen Beißner und Schadewaldt war nicht nur eine philologische Frage (bei der Beißner Recht hatte). Dort ist auch ein Gegensatz zu erkennen zwischen einer Auffassung, die dem Tod des Empedokles keine ‚echte‘ theatralische Wirkung beschied, und der Anschauung, man müsste für Hölderlins „Wechsel der Stimmungen und der Töne“ (nur) die geeignete Aufführungsform finden (275). 434 Das Diktum Zinkernagels, „An Hölderlin scheiden sich die Geister“, hat sich in der Nachkriegszeit mehrmals bestätigt, etwa bei den ‚Streiten‘ um Friedensfeier (1954), um Bertaux’ ,Jakobiner‘(1967/68) und ,Simulation‘-These (1978). Einführend dazu vgl. Albert (2002a) 449f. und 452f. 435 Ähnlich polemisch, aber noch nicht gegen Schadewaldt, verfuhr Beißner bereits in dem Empedokles-Band der Stuttgarter Ausgabe (1961): „Am schlimmsten aber haben sich die vielzuvielen Rundfunk- und Bühnenbearbeiter am Genius des Dichters versündigt“ (StA 4/1, 315). Auch die Gelegenheit einer Festausgabe von Der Tod des Empedokles – Erste Fassung, die den Mitgliedern der HölderlinGesellschaft 1963 als Sondergabe zur Berliner Jahresversammlung überreicht wurde, nutzte Beißner, um auf die erstmals bei Schwab 1846 auftretende „gefährliche Suggestion“ hinzuweisen, dass man durch Kollation der ersten und zweiten Fassung eine fast fertige Tragödie in zwei Akten rekonstruieren könnte. In den „gutgemeinten ‚Bearbeitungen‘ auf der Bühne“, vermerkte Beißner anschließend, musste solch ein Konstrukt „peinlich wirkungslos“ bleiben (Beißner 1962, 106).

382 | Ein Theaterjahrhundert auch persönliche Bemühungen und Mitarbeit an Inszenierungen den Einsatz des Trauerspiels im Theater überhaupt erst ermöglicht hatten, und plädierte gleichzeitig für eine Oratorium-ähnliche Aufführung, die zwar nicht in der von Beißner geforderten extremen Form einer ‚reinen‘ Rezitation bzw. szenischen Lesung, aber in ihrer Konzentration auf die dichterisch-verbale Ebene beinahe die gesamte Inszenierungsgeschichte der von Beißner abgelehnten Bühnenbearbeitungen gekennzeichnet hatte. Am Ende seiner Überlegungen räumte Beißner doch noch die Möglichkeit ein, dass selbst „für Hölderlins Empedokles-Fragmente […] sich, theoretisch, eine theatralische Darstellungsform denken“ ließe, die über die oratoriumartige, nur sprachliche Darstellung hinausgehe: An zwei Abenden müßten die drei Bruchstücke in reinem Wohllaut auf der Bühne erscheinen (auf der Bühne, gestalthaft, nicht als ‚Oratorium‘), am ersten Abend die erste Fassung, am zweiten die beiden andern – und zwar: mit taktvoll zurückhaltenden Einleitungen und Überleitungen, Erläuterungen und Ergänzungen, die einem kunstsinnigen Publikum das vom Dichter Gewollte und Geplante deutlich machten, das schon Erreichte und noch Verfehlte. (61)

Der Vorschlag – der eher an eine akademische Veranstaltung als an eine Theatervorstellung denken lässt – erscheint recht widersprüchlich. Denn er legt einen Bearbeitungsmodus nahe, der bis auf die ‚saubere‘ Trennung der drei Fassungen typologisch mitnichten andersartig ist als derjenige, der seit Scholz und Michel üblich ist. Für sich (für die Hölderlin-Philologie) jedoch beansprucht Beißner das Recht, die Grenzlinie zwischen richtigen und falschen, Hölderlingetreuen oder -ungetreuen „Einleitungen und Überleitungen, Erläuterungen und Ergänzungen“ zu ziehen. Schadewaldts Bearbeitung fand sowohl in der Tübinger Inszenierung von Fritz Herterich wie auch in der späteren Göttinger Regie von Eberhard Müller-Elmau meist kritischen Zuspruch (April 1966, im Deutschen Theater unter der Intendanz des uns bekannten Heinz Hilpert). Die jeweiligen Programmhefte und auch die vielen Rezensionen vermitteln den Eindruck, dass, wie in jenen Jahren typisch, die dramaturgische Arbeit auf literarischen und kulturhistorischen Aspekten lag und die Inszenierung dementsprechend an dichterischem Genuss, Klassikerpflege und Bildung orientiert war. Wie man sieht, wurden trotz des philologischen Einspruchs Beißners keine unähnlichen Ziele verfolgt. Ein Jahr nach der Uraufführung von Schadewaldts Bearbeitung kam es zu zwei weiteren Empedokles-Aufführungen. Den 120. Todestag des Dichters beging auch die Forschung mit der dem Tod des Empedokles gewidmeten Westberliner Tagung der Hölderlin-Gesellschaft vom 7.–9. Juni 1963. Wolfgang Kühne leitete gerade im Schiller-Theater der geteilten Stadt seine Inszenierung; für Bühnenbild und Kostüme

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sorgte Hansheinrich Palitzsch, Wilhelm Borchert spielte in der Titelrolle;436 der Inszenierung lag eine von Kühne selbst verfasste Bearbeitung mit Passagen aus allen Entwürfen zugrunde. Am 22. Juni wurde im Rahmen der Gandersheimer Domfestspiele die zwanzig Jahre alte Bühnenfassung Eberhard Gieselers aufgeführt, der auch Festival-Intendant war und die Regie übernahm; die Hölderlin-Gesellschaft wurde hierzu eingeladen. Im Gegensatz zur Berliner, von der professionellen Kritik skeptisch-ablehnend aufgenommenen Inszenierung,437 fand die Freilichtaufführung in der Roswitha-Stadt, deren Zwei-Akte-Fassung auch den dritten Entwurf berücksichtigte, eine verhältnismäßig gute Resonanz. Bis zum nächsten, viel bedeutenderem Hölderlin-Jahr 1970 – der zweihundertste Geburtstag markierte eine entscheidende Wende in der produktiven Hölderlin-Rezeption, die einer sich langsam anbahnenden Wandlung des Dichterbildes in der Forschung folgte – sollten einige wenige Empedokles-Inszenierungen noch einmal zeigen, wie fern die Bühnenrezeption des Trauerspiels von den wichtigsten und innovativsten Tendenzen des deutschsprachigen Theaters verlief und wie sehr sie noch in epigonalen Diskursen oder Bildungskontexten beheimatet war. Zwei bezeichnende Beispiele dafür sind die Wuppertaler ‚intime‘ Inszenierung von Heinz Wildhagen, der auch die dramaturgische Einrichtung als knappen Einakter besorgte (Pikkolokomödie, Februar 1966),438 und die feierlich-hieratische Inszenierung Wolfgang Greiners, die 1969 am Dornacher Goetheanums uraufgeführt wurde und mehrmals an kleinen Bühnen gastierte.439

|| 436 Aus dem Bericht zur Tagung der Hölderlin-Gesellschaft geht hervor, dass die „Inszenierung des Berliner Schiller-Theaters [...] im Zusammenhang mit der Tagung stattfand“. In der dort abgedruckten Begrüßung der Versammelten dankte der damalige Präsidenten Theodor Pfizer „Herrn Generalintendanten Barlog, der dies manchen kritischen Stimmen zum Trotz mutig gewagt hat“, wie auch dem Regisseur und den Schauspielern (Betzen 1964, 174; 176f.). Das genaue Datum der Uraufführung konnte nicht ermittelt werden. Den Archivmaterialien kann man entnehmen, dass die damalige Kritik das Stück als „unspielbar“ verwarf; die Texteinrichtung des Regisseurs bestand aus 17 Szenen und vermischte anscheinend Fragmente aus allen Fassungen. 437 Vgl. dazu auch Ennen (2006) 102. Weist Kühnes starker Eingriff in den Text schon auf Experimente der 1970er Jahre hin, so lassen die „rezitatorische Leistung“, „der den Text mit einer streng stilisierten Gestik deklamierte“ und das „bewusst einfach arrangiert[e]“ Bühnenbild von Palitzsch eher an ältere Traditionen denken. 438 Als Vorspiel zu Hölderlins Trauerspiel wurde Friedrich Forsters Stück Skardanelli aufgeführt (vgl. 3.1.3). 439 Greiner bearbeitete selber die drei Entwürfe zu einer zweiaktigen Bühnenfassung. Er steuerte auch einen Beitrag zur eigenen Inszenierung für die interne Zeitschrift Das Goetheanum bei, in dem eher der literarhistorische Kontext von Hölderlins Drama skizziert, einige Daten zu dessen Aufführungsgeschichte vermittelt und langatmige Ausführungen zum anthroposophischen Gedankengut (Rudolf Steiner, Albert Steffen) geboten wurden. Über die Inszenierung am Goetheanum, dem Sitz der von Steiner in den 1920ern gegründeten Anthroposophischen Gesellschaft und Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, wurde dort kaum berichtet. Greiners Bühnenfassung wurde im selben Jahr mit dem Titel Der Tod des Empedokles. Hölderlins Vermächtnis und um zwei Beiträge Greiners

384 | Ein Theaterjahrhundert

3.2.3 Minimalismus der Transformation, Verhandlungen mit dem Modell. Heiner Müllers Ödipus, Tyrann (1967) zwischen Hölderlin und Brecht Zwischen 1966 und 1967 adaptierte Heiner Müller die Ödipus-Übersetzung Hölderlins für die Inszenierung von Benno Besson am Deutschen Theater Berlin, deren Premiere am 31. Januar 1967 stattfand. Das Ödipus, Tyrann betitelte Bühnenmanuskript wurde im selben Jahr bei Henschel vervielfältigt; dort wurde in Klammern Stelle für Stelle die leicht abweichende Spielversion des Deutschen Theaters angegeben. Nach einer Erstveröffentlichung 1967 in einer Sammlung440 war es die zwei Jahre später erschienene Buchausgabe bei Aufbau mit allen Varianten im Anhang, die zur ersten Grundlage der weiteren Rezeption wurde und heute noch, u.a. als Basis der Werkausgabe, Geltung besitzt; der kommalose Titel von 1969 (Ödipus Tyrann) wurde bis auf einige Ausnahmen allerdings nicht weiter übernommen.441 Unverändert blieb in allen Ver-

|| sowie dem Abdruck von Hölderlins Friedensfeier ergänzt im Philosophisch-Anthroposophischen Verlag Dornach veröffentlicht. Wie man sieht, stand also die Unternehmung im Zeichen der Anthroposophie; eine darüber hinausreichende Wirkung der Dornacher Inszenierung, die streng klassizistisch war, ist nicht zu verzeichnen. 440 Dabei handelte es sich um den in Berlin/Ost und Weimar verlegten „Almanach für deutsche Literatur“ Neue Texte. Wie der Herausgeber Frank Hörnigk in der Werkausgabe vermerkt, weist dieser Erstdruck gegenüber den späteren Versionen neben kleineren Abweichungen einen markanten Unterschied auf: Die Schlussrede des Chors bricht nach der zweiten Verszeile ab, lakonisch heißt es somit am Ende: „Ihr im Lande Thebe Bürger, sehet diesen Ödipus / Der berühmte Rätsel löste, der vor allen mächtig war“ (HMW 6, 541). Dadurch wurde auch einer der entscheidenden Eingriffe Müllers in die Fassung Hölderlins – Müller setzt „immer wieder dort, wo Hölderlin von Sterblichen, einem Mann, oder dem Menschen im allgemeinen spricht, Vokabeln der Macht ein“ (Lehmann 1980, 88, hier: „mächtig“ statt „ein Mann“) – besonders exponiert und die politische Lesart der Bearbeitung in den Vordergrund gestellt. Die Schlusspassage wurde dann in der Inszenierung Bessons vollständig gesprochen, allerdings von Ödipus; in den restlichen fünf Zeilen ist dieselbe Umakzentuierung zu erkennen. 441 Vgl. Müller (1969). Diese Ausgabe „erinnert mit ihren Materialien an Brechts Antigone-Modell 1948“ (Huller 2007, 104) allerdings nur auf den ersten Blick! Neben der Bearbeitung Müllers (17–89), seinem Kommentar (dann: Ödipuskommentar, 90f.) und den erwähnten Textvarianten (179–182) wurden dort ein Vorwort von Karl-Heinz Müller, dem Dramaturgen (7–16) und ein Gespräch über „Ödipus, Tyrann“ abgedruckt (95–176). Dieses gibt die Tonbandaufzeichnung eines Gesprächs gekürzt wieder, das am 10. April 1967 im Pankower Klubhaus Erich Weinert stattgefunden hatte; daran hatte der Regisseur Besson, Heiner Müller hingegen nicht teilgenommen. Bebildert wurde der sehr schöne Band durch Radierungen, Papierschnitten, Lithographien, Federzeichnungen, Aquarellen und Gouachen von Berliner Künstlern (Erika Stürmer-Alex, Ronald Paris, Waltraud Servais, Roger Servais, Wolfgang Leber, Arwid Gorella, Rolf Händler, Dieter Göltzsche und Joachim John), insgesamt achtzehn Bilder, die alle Aspekte des Tragödienstoffes verarbeiten, in keiner Weise allerdings die Inszenierung dokumentieren. Insgesamt also ist der Band kein Modellbuch im Sinne Brechts, weder in seiner Aufmachung noch in der Funktion seiner Teile und als Ganzes. Das lange Gespräch liest sich heute wie eine

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sionen die karge Bezeichnung der drei für das Stück zeichnenden Dichterfiguren: Sophokles wurde als Autor vor dem Titel angeführt, darauf folgten die Angaben „nach Hölderlin“ und „von Heiner Müller“. Weder das Wort Tragödie noch ein Texthinweis, etwa „Übersetzung“, „Bearbeitung“ o.ä., gingen ausdrücklich auf das Original und auf die intertextuellen Relationen dazu ein. Beides war trotzdem mehr als eindeutig; das Minimum an Ausdruck genügte zur Schilderung der ganzen Konstellation. Der antike Dichter, seine bekannteste Tragödie (deren Titel ebenso auf das Nötigste zur Unterscheidung vom Koloneus beschränkt war), ein Moderner, der offensichtlich eine eigene Fassung nach (ausgehend von) derjenigen Hölderlins erstellt hatte. Dass letztere eine Übersetzung war, kann als Teil der (damaligen) Publikumsvorkenntnisse vorausgesetzt werden, und dass der 38-jährige Heiner Müller, kein Unbekannter mehr im Theater der DDR und bereits auch über deren Grenzen hinaus, den Ödipus Hölderlins mehr oder weniger eingehend bearbeitet haben musste, war auch nicht sonderlich obskur. Kaum ein Titel kann allerdings als so treffend für das Werk betrachtet werden wie dieser. Die ausdruckstarke Kargheit fasst bereits im Titel den Modus der ganzen Sophokles-Hölderlin-Transformation Müllers zusammen, tatsächlich ein „minimalistisches Bearbeitungsmodell“, wie im Folgenden eingehend gezeigt werden soll.442 Außerdem spielt sie, was die Forschung m.W. seltsamerweise bisher übersehen hat, auf die didaktisch anmutende, die Textgeschichte referierende Bezeichnung bei Brecht an: Die Antigone des Sophokles nach der Hölderlinschen Übersetzung für die Bühne bearbeitet von Bert Brecht. Auch in dieser Hinsicht antizipiert der Titel eine Grundeigenschaft von Müllers Ödipus, Tyrann: Das von Theo Buck mit den Stichworten Anlehnung, Übernahme und Bedürfnis nach Abgrenzung beschriebene Verhältnis zum Modell Brecht und zu seinem nicht einmal zwanzig Jahre alten Antigonemodell ist hier in all seiner Ambivalenz vorgezeichnet (1990, 233). Die logische Struktur ist bis auf die Umstellung von Autor und Titel am Anfang beibehalten: Die Abfolge von nach und von konstruiert die gleiche typologische Relation zwischen Sophokles, Hölderlin || überaus peinliche Verteidigung Bessons der eigenen Theaterarbeit, der es mehr mit parteitreuen Aufpassern als mit Gesprächspartnern zu tun hatte. 442 Die Definition stammt von Christian Hippe (Castellari/Hippe/Schmidt 2011, 183). Die Publikation ging aus einer Arbeitsgruppe zu Hölderlin in Heiner Müllers Theater hervor, die ich bei der Jahresversammlung 2010 der Hölderlin-Gesellschaft leiten konnte. Auf Hippes Beitrag wird im Folgenden wiederholt verwiesen; seine auf den neuesten Stand gebrachte und durch Einblick in Müllers Nachlass ergänzte Rekonstruktion fußt auf die Forschungslinie Lehmann (1980) – Primavesi (2003b) und auf der Arbeit an der Werkausgabe unter der Leitung Frank Hörnigks. Sowohl die Zusammenarbeit mit beiden Mitgestaltern der Gruppe als auch die Diskussion mit dem Publikum haben zu einer Klärung der hier dargelegten Interpretation beigetragen; dafür sei ihnen und den Tagungsorganisatoren gedankt. Bereits beim von Martin Vöhler und Georg Braungart geleiteten „Arbeitsgespräch junger Hölderlinforscher“ (Bamberg 2008) wurde mir die Möglichkeit gegeben, erste Überlegungen zu Müllers Arbeit an Hölderlin anzustellen; ihnen und den damaligen Gesprächsteilnehmern gebührt ebenso ausdrücklicher Dank.

386 | Ein Theaterjahrhundert und dem jeweiligen Modernen. Gleichzeitig entfällt bei Müller der Verweis auf die Bühnenrealisation443 und – markanter – die genaue Bezeichnung der intertextuellen Relationen. Das brechtsche Modell macht eine solche präzise Angabe überflüssig, denn es fungiert sozusagen als Verstehensfolie. Allzu genaue Anweisungen werden sogar vermieden zugunsten dezenterer oder strategisch ungenauer Hinweise. Darin ist m.E. die grundlegende Ambiguität wiederzuerkennen, die dem Modellbegriff zwischen seinem ursprünglichen Sinn für Brecht einerseits und dem musealen Verständnis andererseits innewohnt, das primär dem Berliner Ensemble unter dem Druck der DDR-Verhältnisse aufgenötigt wurde. Heiner Müller war dies so klar wie keinem anderen, so dass man in der erläuterten Balance zwischen Bezug auf Brecht und Abstinenz von ostentativer Anlehnung durchaus Methode erkennen kann. In einem Gespräch mit Olivier Ortolani aus dem Jahr 1985, in dem Müller auf seine Ödipus-Bearbeitung zu sprechen kam, lehnte er energisch die verbreitete These ab, nach der gerade „die Modellinszenierungen von Brecht eine Rolle gespielt [hätten], dieses Theater zu blockieren“. Der Interviewer hatte nach den Gründen für die Blockade gefragt, nachdem Müller die Entwicklungen im Berliner Ensemble als prototypisch für die kulturpolitische Erstarrung des Landes nachgezeichnet hatte, da die Aufgabe einer experimentellen Theaterpraxis zugunsten eines falsch verstandenen „Primat[s] der Dramaturgie“ letztendlich zur Abwertung der Regie geführt hatte; „und das ist totes Theater“, glossierte der Dramatiker, mit indirektem Verweis auf eigene Erfahrung. Gerade die Gegenrichtung hatte Brecht mit seiner „Idee der Modellinszenierung“ eingeschlagen, die auch Müllers Meinung nach „aus einer ganz aktuellen Not entstanden“ war; Brecht kehrte nach dem Krieg zurück in ein „Land mit einem verkommenen Theater, mit einer verkommenen Schauspielkunst, mit einer verschmierten und verlogenen Theaterkunst“. Mit Worten, die stark an Brechts und Nehers Vorwort zum Antigonemodell erinnern,444 erläuterte also Müller die historisch bedingte Notwendigkeit für Brecht, „seine Stücke zu schützen gegen die Verschmierung, gegen diesen Korruptions- und Verschleißvorgang“, indem er ausdrücklich als etwas „völlig Normales“ auch die Intention rechtfertigte, „daß man eine Inszenierung machte und versuchte, die zum verbindlichen Modell zu erklären für andere Theater“. Müllers luzide Einsicht in Brechts dialektischen Modellbegriff ermöglichte ihm, neben der Verbindlichkeit auch die Freiheit im

|| 443 Müllers Bearbeitung ist nichtsdestotrotz als eine auf eine konkrete Inszenierung hin verfasste Bearbeitung zu betrachten, und zwar auf ausdrückliche Bitte des Regisseurs und in engem Kontakt mit dem Inszenierungsteam (vgl. unten die Aussagen Müllers dazu sowie Hippe in Castellari/Hippe/Schmidt 2011, 173–181). Was Brecht gegenüber fehlt, ist der Projektcharakter des Unternehmens; Müllers Aufgabe beschränkt sich auf die Texterstellung. 444 Vgl. insb. die Passagen über den „totale[n] materielle[n] und geistige[n] Zusammenbruch“ (Erster Abschnitt, GBA 25, 75).

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Umgang damit zu erkennen. „Das hieß aber für Brecht nie“, klärte er dann ausdrücklich auf, „daß das Modell nicht variiert werden konnte. Das war ein Rahmen, eine Tendenz, aber nie eine Vorschrift“ (HMW 10, 348f.).445 Die auf den ersten Blick einander widersprechenden Aspekte, die in den Titelangaben von Ödipus, Tyrann erkannt worden sind – Minimalismus der Hölderlin-Transformation Heiner Müllers auf der einen, Bezug auf Brechts Antigone-Bearbeitung und -Modell auf der anderen Seite – bilden, so kann man die These dieses Kapitels vorwegnehmen, die Grundachse von Müllers Arbeit an Hölderlin und können aufgrund seines soeben erläuterten Bekenntnisses zu einer ‚echten‘ brechtschen Tradition als sich ergänzende Momente betrachtet werden. In diesem Sinne hat Ödipus, Tyrann eine Scharnierfunktion sowohl im Werk Heiner Müllers – etwa im Rahmen seiner Mythenrezeption, in Bezug zu seinen bekannteren Antikendramen und in der Schlüsselfrage seines Verhältnisses zu Brecht, wie in der Forschungsliteratur gewürdigt wurde446 – als auch in der hier rekonstruierten Rezeption und Transformation von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen im Drama und Theater.447 Die Nachwirkung Hölderlins im Werk Heiner Müllers, deren erste Spuren spätestens in den Vorarbeiten zur Sophokles-Transformation Philoktet aufzufinden sind, war keineswegs auf Ödipus, Tyrann begrenzt.448 Dieser sollte zwar die quantitativ intensivste Auseinandersetzung bleiben, Hölderlin spielte allerdings als wichtiger, manchmal versteckter Bezugspunkt in Müllers Dramatik, in seiner Regiearbeit und in einigen theoretischen Äußerungen zum Theater weiter eine Rolle; auffällig ist etwa im Gegensatz zum ‚Modell‘ Brecht die Beständigkeit, mit der Hölderlin in Müllers

|| 445 Auch der weitere Wortlaut orientiert sich an Brecht: Müller geht auf Schlüsselaspekte ein („falsche Vorstellung von Originalität“, „mehr Phantasie und mehr Kreativität“ durch die Präsenz eines Modells, praxisnahe Theaterarbeit), die im Antigonemodell und in anderen Aussagen Brechts zu finden sind. 446 Grundlegende Einsichten zu Ödipus, Tyrann im Verhältnis zu Müllers ‚Antikendramatik‘ der 1960er Jahre und zum Mythos als einem fürs ganze Werke „zentrale[n] Bezugssystem“ boten Lehmann (1980) und Emmerich (1989), dann fixiert in den Handbuchartikeln Emmerich (2003), Primavesi (2003b); umfassender gehen nun die Dissertationen Ostheimer (2002) und Huller (2007) das Thema an. Müllers Verhältnis zu Brecht und seinem Modell einer Sophokles-Hölderlin-Transformation, das bereits Fehervary (1977) und Buck (1990) eingehend beschäftigte und die genannten Arbeiten berücksichtigten, wurde neulich bei Nägele (2003) mit großer Luzidität erörtert. 447 Zu Müllers Hölderlin-Rezeption vgl. als erstes Primavesi (2003a). Erste Überlegungen zum Bearbeitungsmodus hatte Fehervary (1977) angestellt, Lehmann (1980) ging dann knapp, aber präziser und richtungsweisend darauf ein; Buck (1990) und Nägele (2003) erörtern die Hölderlin-Brecht-Linie. Emmerich (1989) und Ostheimer (2002) haben dann insbesondere Müllers Anbindung an Hölderlins Theorie vertieft; die Hölderlin-Rezeption in Müllers Theater jenseits der Ödipus-Bearbeitung, die in 3.2.5 noch erörtert werden soll, hat vor allem Theresia Birkenhauer untersucht. Die Rolle Müllers in Hölderlins Bühnenwirkung ist hingegen weniger erforscht worden; Flashar würdigt zwar die Inszenierung von 1967, allerdings mit unverhohlener Skepsis gegenüber Müllers Lesart (1991). 448 Dazu vgl. Primavesi (2003a), Birkenhauer (2008) sowie 3.2.5.

388 | Ein Theaterjahrhundert Schreibwerkstatt auftaucht. Müller beschäftigt sich eingehender mit Hölderlins theoretischen Texten. Die Sophokles-Anmerkungen mit ihrem Begriff des „tödtlichfactischen“ Wortes (1.4) tauchen etwa variiert in seinen mannigfaltigen Aussagen zur eigenen ästhetischen Position auf.449 Hölderlin begleitete ständig die Entwicklung von Müllers Dramen- und Theatersprache, teils untergründig, teils plötzlich manifest in Müllers typischen intertextuellen Collagen; durch die Vorreiter- und Vorbildrolle, die Müller seit den 1970–80er Jahren im Rahmen des so genannten ‚postdramatischen‘ Theaters bzw. der Produktion von ‚nicht-mehr-dramatischen‘ Theatertexten hatte, fand auch Hölderlin stärkeres Interesse. Dieser Konstellation soll in den folgenden Kapiteln, hauptsächlich in 3.2.5, parallel zur bemerkenswerten Bühnenwirkung von Müllers Ödipus-Transformation nachgegangen werden, die (in vielem ähnlich zu Brechts Antigone) als Multiplikator bzw. Lenker der theatralischen Rezeption von Hölderlins ‚originalen‘ Sophokles-Übersetzungen betrachtet werden kann. Hier soll zuerst einmal die textuelle Beschaffenheit der Ödipus-Transformation Heiner Müllers näher betrachtet werden. Dabei wird seine sprachliche und dramatische Arbeit an Hölderlins Übersetzung insbesondere vor dem Hintergrund des Brecht-Bezuges betrachtet, auf den bereits in den Titelangaben, und zwar bewusst vieldeutig, angespielt wird. Es soll dadurch auch einer Forschungstendenz entgegengearbeitet werden, die m.E. Müllers Arbeit von 1967 zu stark aus der Perspektive einer späteren Distanzierung von Brecht (und einer Annäherung an Hölderlin) betrachtet hat – dazu haben nicht zuletzt Müllers Rückblicke auf die frühe „Auftragsarbeit“ aus den recht gewandelten Kontexten der 1980er und 1990er Jahre heraus beigetragen. Derartiges Abstandwahren vom Modell ist bereits in einigen Aspekten von Ödipus, Tyrann vorgezeichnet, etwa in Müllers Abgrenzung von den Produktionsanforderungen und teilweise von Benno Bessons Inszenierungskonzept, wobei behutsam zwischen der Distanzierung von Brecht selbst und vom vermeintlichen Brecht-Theater

|| 449 Die Passage taucht etwa an einer Schlüsselstelle von Müllers Ästhetik auf, dem Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von PHILOKTET (1983), wo Hölderlins Rede vom „tödtlichfactischen“ Wort als „Massaker der Ideen“ paraphrasiert und mit dem Ödipus-Stoff in Verbindung gebracht wird: als das, was „Hölderlin aus der Sophokleischen Tragödie grub, damit er sich die Stirn daran zerschlagen konnte, weil es seine Gegenwart nicht mehr begriff, dem Wort als Tatsache, dem Mord aus Worten, dem Terror, der einsetzt, wenn Praxis theoretisch wird, wie die Jagd des Ödipus nach der Wahrheit des Orakels“ (HMW 8, 260, vgl. auch 1.4). Ostheimer (2002, 23ff.) nimmt diese Aussage zur Grundlage für seine Interpretation des Ödipus-Bearbeitung und erörtert, wie Müller in seiner Lesart der Tragödie nicht als Schicksalsdrama, sondern als Drama der Schuld auch Hölderlins Ödipus-Anmerkungen fortgedacht haben könnte, insbesondere wo von der „zu unendlich[en]“ Deutung des Orakelspruchs die Rede ist. Leitmotivisch zieht sich die an Hölderlin gewonnene Vorstellung vom „Wort als Mord“ als Grundeinsicht zum Tragischen bei Müller nach 1980 durch, vgl. HMW 10, 213 (Gespräch mit Sylvère Lotringer, 1982); HMW 12, 484 (Gespräch mit Holger Teschke, 1994). Weitere von Hölderlin angeregte Gedanken tauchen oft beim späten Müller auf (zum Wörtlichnehmen des Orakels seitens Ödipus vgl. HMW 12, 13; Gespräch mit Christoph Rüter, 1991; zum „leeren Transport“ vgl. HMW 12, 462; Gespräch mit Frank Raddatz, 1994).

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nach Brecht im DDR-Diskurs unterschieden werden sollte.450 Insgesamt allerdings ist Müllers kreativer Umgang mit Hölderlins Ödipus-Übersetzung erst dann in seiner Vielschichtigkeit zu bewerten, wenn seine gerade in der sprachlichen Transformation Hölderlins aufscheinende, freie und mitunter kritische Brecht-Filiation vollauf berücksichtigt wird. Damit zeigt sich an einem eklatanten Beispiel, wie stilbildend sich Brechts Gestus der produktiven Rezeption Hölderlins im Spannungsfeld von Historisierung und Aktualisierung auswirkte, und erklärt sich die in vielerlei Hinsicht parallel verlaufende Aufnahme von Brechts und Müllers Sophokles-Hölderlin-Transformationen als Stücke für das Gegenwartstheater. Müller selbst charakterisiert in seinen späten Rückblicken Motivation und Verlauf der Auseinandersetzung mit Hölderlin mit Worten und in Kontexten, die gerade in ihrer Ambiguität bezeichnend sind. 1977 ist im Gespräch mit Bernhard Umbrecht schlicht davon die Rede, dass „Besson [...] das Angebot, ‚Ödipus‘ zu inszenieren“, erhalten hatte, aber selber „mit dem Stück nicht viel anfangen“ konnte – er habe „das sehr irrational“ gefunden und sei „sehr irritiert“ gewesen. Besson bezieht hier eine der Positionen Brechts, wenn er gegenüber Mythos und Tragödie skeptisch ist. Müller bezieht die andere Position Brechts, die eines listigen Bearbeiters, der sich nicht vor dem Plagiat scheut: „Und mir fiel ein, daß es da eine Übersetzung von Hölderlin gibt, so daß man also mit relativ wenig Arbeit einen guten Text herstellen kann. Und da hab’ ich einfach den Hölderlin abgeschrieben und manchmal geändert“ (HMW 10, 111). Zwar braucht Müllers anders als Brecht (aber dank Brechts Beispiel!) keinen Ratschlag eines Freundes, um auf die Idee zu kommen, gerade Hölderlins Übersetzung zu nehmen; die Lässigkeit, mit der er auf die leichte Herstellung eines guten Textes hinweist, erinnert allerdings an die Ausgangssituation Brechts, als der die Folgen der Auseinandersetzung mit Hölderlins Sprache noch kaum absehen konnte. Christian Hippe hat Müllers Ton nicht zu Unrecht als „schelmenhaft“ bezeichnet;451 sicher sind

|| 450 Zu Müllers Distanzierung vgl. unten die Diskussion seiner Rückblicke auf die Ödipus-Arbeit. Zur Inszenierung Bessons (78 Aufführungen in 2 Jahren Laufzeit!) und zur dort bildlich evozierten „archaischen Welt“ (Kranz 1990, 122), „prähistorische[n] Zeit im Zeichen asiatischer und afrikanischer Kultur“ bzw. „prähistorische Fremde [als] Form der Verschlüsselung (Flashar 1988, 310 und 1991, 231, mit Bezug auf Orff und Brecht) vgl. auch Wieghaus (1984) und Emmerich (1989), wo insbesondere die Differenz zwischen den in Bearbeitung und Inszenierung konstruierten Antike-Bildern herausgearbeitet wird, schließlich Weigel (1987) zum politischen Anspielungsraum. 451 Castellari/Hippe/Schmidt (2011) 174. Vgl. ebd. Hippes These, dass gerade Müllers Faszination an Hölderlins Sprache ihn vor einem „ästhetischen Fehlgriff“ bewahrt habe, d.h. einer allzu plakativen Aktualisierung des Stoffes durch Bezüge zum Stalinismus. Hippe vergleicht dazu eine frühe, im Nachlass erhaltene Fassung mit der endgültigen und erkennt Müllers „Selbstkorrektur“ darin, dass er eine tatsächlich auf „stalinistische Terrorherrschaft“ anspielende Passage streicht und zu Hölderlins ursprünglicher Fassung zurückkommt. Die gestrichene Passage, die übrigens sehr brechtisch klingt („Gäule“ statt Rosse!), kann m.E. nicht als Beweis für einen „Respekt vor der sprachlichen Überset-

390 | Ein Theaterjahrhundert auch ein unpathetischer Zugang zur doppelt ‚klassischen‘ Vorlage („einfach“, „abgeschrieben“ in Bezug auf Antike bzw. Goethezeit), für den letzten Endes Brechts Materialbegriff Pate steht, und eine ironische Lakonik, die selbstbewusst die eigene minimalistische Bearbeitungsweise betont („wenig Arbeit“), herauszuhören.452 Auskunftsfreudiger war Müller 1985, als er im bereits erwähnten Gespräch mit Ortolani auf Ödipus, Tyrann zu sprechen kam. Einiges wird fast wortgenau wiederholt, die Vorlage Hölderlins wird aber in ihrer sprachlichen Qualität stärker herausgestellt, ihre Auswirkung auf die eigene Bearbeitungspraxis ausdrücklich betont. Sie gehöre „zum Besten [...], was es so in deutscher Sprache überhaupt gibt“; die „wenig[e] Arbeit“ besteht eigentlich nur in Abschreiben und Variation, diese allerdings wird an Hölderlin gemessen. Er habe „manchmal verändert, wo es mir nötig schien, oder wo mir was einfiel, aber eigentlich mit dem Vorsatz, möglichst wenig zu verändern, weil es einfach ein großer Text ist, den man so verwenden muß, wie er geschrieben ist [...]“ (HMW 10, 352). Anfang der 1990er Jahre erklärt dann Müller den Spagat zwischen der schnell und locker zu erledigenden Gelegenheitsarbeit und der im Laufe der Arbeit intensiver gewordenen Auseinandersetzung mit Hölderlin. „Erst mal mußte ich Geld verdienen“, heißt es im März 1991 im Gespräch mit Christoph Rüter, dem Dramaturgen der Inszenierung von Aischylos’ Perser, für die Müller seine letzte Bearbeitung beisteuerte.453 „Erst durch die Arbeit“, fährt Müller fort, „entstand dann Interesse. Das Schöne daran war, daß man mit wenigen Eingriffen entscheidende Veränderungen vornehmen konnte, weil der Text einfach gut ist. Dann braucht man nur ein Wort zu verändern, ein Komma zu versetzen, und schon ist es etwas anderes. Das geht aber nur mit guten Texten“ (HMW 12, 33). In der 1992 erschienenen ‚Autobiographie‘ Krieg ohne Schlacht, wird die Konstellation ein letztes Mal und mit wieder leicht veränderten Gewichtungen beschrieben. Dass er die „Nebenbeschäftigung“ überhaupt eingegangen ist, begründet Müller nun mit der Perspektive, an Hölderlin zu arbeiten: „Es hat mich sehr interessiert, weil es die Hölderlin-Fassung gab“.454 Darauf folgt wieder die Rückbesinnung auf eine gewisse Naivität, die durch die konkrete Bearbeitung allerdings von

|| zungsleistung Hölderlins“ gelten (178f.); der Begriff passt kaum zu Müllers Umgang mit Textmaterialien und seinem ‚Theater des Kommentars‘ (Primavesi). Entscheidender war die Frage der szenischen Wirksamkeit des Textes. 452 Vgl. zum Materialbegriff oben, 3.2.1, sowie Dreyer (2014). 453 Im Rahmen jener Bearbeitungsarbeit, die Müller auf der Basis der Interlinearversion Peter Witzmanns für die Perser-Inszenierung von Christof Nel verfasste (Freie Volksbühne Berlin, Frühjahr 1991), taucht die Sophokles-Hölderlin-Arbeit wieder auf (vgl. die vielen Hölderlin-Reminiszenzen im Gespräch mit Christoph Rüter, HMW 12, 19–34). Witzmann hatte übrigens bereits 1967 als Berater fungiert (vgl. Castellari/Hippe/Schmidt 2011, 175–181). 454 Kursiv von mir. So habe Müller aus Bessons Frage reagiert: „Interessiert dich das zu übersetzen?“. Müller hatte keine ausreichenden Griechisch-Kenntnisse, um selber eine Übersetzung zu erstellen; durch Selbststudium hatte er allerdings durchaus die Fähigkeit erworben, die Qualität einer

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einem bewussteren Umgang abgelöst worden sei: „Ich habe gedacht, das kann man einfach in die Schreibmaschine nehmen, ein paar Kommata anders setzen, und fertig. Dann hat es mich aber wirklich interessiert“ (HMW 9, 159). Ist die Rede von einer „große[n] Entdeckung Friedrich Hölderlins durch Heiner Müller, dessen Sophokles-Übertragung er [...] im Laufe der Arbeit geradezu verfällt“ angesichts der bereits früher belegten Auseinandersetzung mit Hölderlins dramatischer Diktion vielleicht übertrieben, so kann man Christian Hippes Diagnose einer erst in fieri gereiften Faszination für die Ödipus-Übersetzung durchaus zustimmen.455 Darin steckt, wie der Leser dieser Arbeit bereits bemerkt haben wird, eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Ursache-Wirkung-Verhältnis, das Brechts Umgang mit Hölderlins Antigone kennzeichnete, etwa dessen Erstaunen über die sprachliche Radikalität der so gut wie unbekannten Vorlage.456 Selbst Entsprechungen im Detail wären anzuführen, etwa beim „schwäbischen Volksgestus“, den beide Dramatikern aus Hölderlin herausgehört haben, allesamt Hinweise auf eine regelrechte Parallelität der Rezeption.457 Bezeichnenderweise taucht Brecht immer in den Kontexten auf, in denen

|| Übersetzung zu beurteilen bzw. mithilfe von Interlinearversionen den Text durch Vergleich mit dem Original zu bearbeiten (vgl. dazu Primavesi 2003b). 455 Vgl. Castellari/Hippe/Schmidt (2011) 174. Hölderlin brauchte Müller 1966/67 nicht mehr zu entdecken, spätestens seit Mitte der 1950er Jahre sind in seiner Arbeit Hölderlin-Spuren nachweisbar (Entstehung von Traktor mit Empedokles-Reminiszenzen, Auseinandersetzung mit Benjamins Hölderlin-Essays, Hölderlin-Spuren in der Philoktet-Werkstatt). Auch den Übersetzer Hölderlin schätzte Müller bereits, die Textarbeit an den Ödipus brachte eine andere Art und Tiefe der sprachlichgedanklichen Auseinandersetzung (vgl. Primavesi 2003a, Birkenhauer 2008). 456 Bei Brecht ist der Prozess (vage Vorkenntnisse, ‚utilitaristische‘ Textarbeit, Erstaunen, vertiefte Auseinandersetzung) in privaten Aussagen dokumentiert; Müller konstruiert die eigene ‚HölderlinBildung‘ in öffentlichen Äußerungen. 457 Vgl. das Gespräch Christoph Müllers mit Müller, B.K. Tragelehn und Mike Hamburger, das eigentlich die Frage geeigneter Shakespeare-Übersetzungen/Bearbeitungen für die Gegenwartsbühne behandeln sollte (Müller u.a. 1975). Hier leitet Müller den eigenen produktiven Umgang mit ‚Fehlern‘ ausdrücklich von Brecht ab: „Da hat der Brecht schon recht: Was den Kunstwerken die Dauer gibt, sind die Fehler. Solange eine Sache Fehler hat, ist sie lebendig, kann man was damit machen, kann man damit umgehen“, und dann weiter zum Umgang damit: „Irgendwann fand ich heraus, daß das eine Funktion hat, diese Unstimmigkeit zu lassen. Man braucht eine Weile, um diese Freiheit der Behandlung wieder zu kriegen: daß man wissentlich Sachen stehenläßt, von denen man weiß, die stimmen eigentlich nicht ganz“ (32f.). Gerade in diesem Zusammenhang kommt das Gespräch auf Hölderlin: Tragelehn führt dessen Sophokles-Übersetzungen als Beispiele an, dass auch durch extreme Annäherung an das Original der Text nicht harmonisiert oder trivialisiert wird (Benjamins ÜbersetzerEssay klingt hier durch). Daraufhin werden Brecht und Hölderlin sozusagen zusammengebracht, wenn Müller vermerkt: „Noch zu Hölderlin. Wenn man den heute liest, merkt man, daß es eine schwäbische Syntax ist. Er hat die griechische Syntax genau versucht nachzubilden, dadurch kam er ab von der deutschen Hochsprache“ (35). Diese Vorstellung entspricht so gut wie wörtlich Brechts Aussagen zu ‚schwäbischen Tonfällen‘ bzw. ‚schwäbischem Volksgestus‘ bei Hölderlin, was im unmittelbaren Fortgang des Gesprächs durch Überlegungen zur ‚gestischen‘ Bühnenwirkung nicht-standardsprachlicher Syntax nur bestätigt wird.

392 | Ein Theaterjahrhundert Müller die eben erläuterten Aussagen zur eigenen Ödipus-Bearbeitung machte. An sich keine überraschenden Erscheinung, denn Brecht gehörte selbstverständlich „zu Müllers geräumigem Schattenkabinett“, wie Marc Silberman mit müllerschen Metaphern erläutert hat, wobei „im Vergleich zu allen anderen toten Gesprächspartnern [...] die Beziehung zu Brecht tiefer und absoluter“ war.458 Es lohnt sich, auf einige dieser Stellen und auf die (auch chronologische) Dynamik dieser Anlehnungs- und Absetzungsversuche einzugehen, denn sie sagen viel darüber aus, wie viel Brecht in Müllers Ödipus, Tyrann steckt. Fangen wir diesmal mit dem Ende an: In Krieg ohne Schlacht taucht Brecht als die negative Folie auf, von der Müller seine eigene Mythenrezeption abheben möchte, nicht ohne eine gewisse Undifferenziertheit. So wird „Bessons Qualität, dieser niedere Blick auf alles“ – Müller bezieht sich hier auf Bessons Wunsch, den Namen Ödipus mit der Eindeutschung ‚Schwellfuß ‘ zu ersetzen, Qualität ist also zumindest ironisch gemeint459 – explizit als eine von Brecht geerbte Eigenschaft, als „plebejische Seite, also der Blick von unten“ verstanden (HMW 9, 160).460 Kurz darauf wird erneut und bei einer wichtigeren Frage der Brecht-Schüler mit seinem Meister identifiziert: „Brechts aufklärerische Pose gegenüber dem Mythos. Die vorsätzliche Blindheit für die dunklen Seiten der Aufklärung, ihre Schamteile“ erklärten Bessons grundsätzliche anti-tragische Inszenierung, geleitet vom „listigen Gemeinplatz: Tragik war fast gleichbedeutend mit Faschismus“ (161). Hier kommt Müller, dessen dramatisches Werk der 1960er–80er Jahre den Themenkomplex Mythos-Geschichte-Marxismus mit tragischer Wucht hinterfragt und auf ein neues ästhetisches und ideologisches Terrain gebracht hatte, ein größtmöglicher Abstand von Brecht zugute; dessen Durchrationalisierungs-Begriff wird zwar nicht explizit erwähnt, geistert aber durch seine Darstellung hindurch. Diese strategische Distanzierung von Brecht (und nebenbei von Besson) geht allerdings auf Kosten der historischen Präzision, was selbstverständlich nicht gegen Müllers Kohärenz spricht, sondern als Zeichen der im Laufe der Zeit tatsächlich erfolgten Entfernung vom Modell zu werten ist.461 || 458 Vgl. Silberman (2003) 136. Dort wird auf Müllers Auseinandersetzung mit dem Modell Brecht und dessen Theatermodellen eingegangen, nicht aber spezifisch auf Ödipus, Tyrann (dazu Nägele 2003, insb. 151). Auf Silberman (2003) sei für eine Orientierung in der Forschung zu Müllers Verhältnis zu Brecht verwiesen. 459 „Ich war dagegen. Das kann man ins Programmheft schreiben, auf der Bühne verstellt es den Blick auf die wirkliche Dimension der Tragödie“ (HMW 9, 160). 460 Müller selber weist ironisch auf Brechts künstlerische Erben hin: „Die Schüler haben sich ja den Brecht aufgeteilt, da hat sich jeder seinen Teil herausgeschnitten“ (HMW 9, 160). Zu fragen ist, ob Müller von sich dachte, dass er ebenso Teile des Modells herausgeschnitten hatte oder aber hinter dem sarkastischen Ton der Anspruch steckt, Brecht sozusagen integral, mit allen Widersprüchen und ohne nachträgliche Harmonisierungen bzw. Pauschalisierungen fortgeschrieben zu haben, was auch hieße: gegen den gängigen Erbe-Diskurs. 461 Der Einwand gegen Besson kulminiert kurz darauf in der bissigen Bemerkung: „Eine ideale Kombination waren Hacks und Besson“ (HMW 9, 161). Müller ist selbstverständlich klar, dass er damit das

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Es genügt zirka fünfzehn Jahre zurückzugehen, um Brecht in einem anderen Licht und in einem anderen Verhältnis zur Hölderlin-Arbeit zu sehen, und zwar wieder in einem zentralen Punkt des Bearbeitungsmodus. Olivier Ortolani gegenüber hatte Müller 1985, den eigenen „Vorsatz“, so wenig wie möglich von der Vorlage zu verändern, mit einem Verweis auf die berüchtigten Übertragungsfehler Hölderlins weiter begründet. „Auch mit den Fehlern, die drin sind“, hieß es, war er der Übersetzung möglichst treu geblieben, denn: „[E]s gibt Übersetzungsfehler bei Hölderlin, die aber natürlich bei ihm sofort zu einer Konzeption werden, und die ist dann interessant. Die Brechung dieses antiken Stoffes durch Hölderlin. Die Fehler kann man dann wiederverwenden, um den Stoff anders anzusehen“. Daraufhin gab Müller auch ein Beispiel für solche „Brechung“, wobei ihm ausdrücklich das Prinzip wichtiger erschien als die philologische Genauigkeit: Es gibt eine Stelle in der Hölderlin-Übersetzung, wo er formuliert, daß Ödipus sich frohlockend die Augen aussticht. Das ist ein schlichter Übersetzungsfehler, das steht nicht drin bei Sophokles. Ich weiß jetzt nicht mehr, was da steht, aber es ist auf jeden Fall das Gegenteil. Da hat er eine Vokabel falsch übersetzt, aber damit kann man natürlich ungeheuer viel anfangen. Das ist ein ganzes Konzept, das ist ein philosophisches Konzept, und diese Fehler waren mir das Interessanteste bei Hölderlin.

Dem einen Beispiel462 hat die Forschung weitere Stellen hinzufügen können, die diese beinahe durchgehend befolgte Strategie belegen: Müllers Eingriffe in Hölderlins Text, die sich meist auf knappe Änderungen auf Wort-, Wortgruppe- und Satzebene beschränken, verfolgen kaum (genauso wie Brechts viel umfangreichere Bearbeitung) das Ziel, eine größere Übereinstimmung mit dem Text von Sophokles zu erlangen. Für beide moderne Bearbeiter ist Hölderlin der wichtigere Bezug, beide ‚berichtigen‘ seinen Text lediglich im brechtschen Sinne des Wortes, indem sie ihn produktiv für die Gegenwart umwandeln, wie noch zu sehen ist. Bei Müller ist diese Strategie dermaßen stark ausgeprägt, dass er Hölderlins „Fassung gegenüber vermeintlich genaueren, richtigeren Übersetzungen, die ihm auch vom Regieteam des Deutschen Theaters nahegelegt wurden, vorzieht“. Der hier zitierte Hippe hat durch Einblick in

|| Vorhergesagte relativiert, denn Hacks Antike-Stücke sind der Klassiker-Ästhetik Brechts diametral entgegengesetzt. 462 Vgl. unten die Textanalyse der Passage, wo die von Müller herausgestellte Stelle vorkommt. Hölderlins „Und so frohlokend“ (StA 5, 183) entspricht bei Sophokles (so Manuwald) „Unter solchen Verwünschungen“; Manuwald erläutert die Stelle wie folgt: „Das griechische Wort ephymnein bedeutet wörtlich ‚dazu oder dabei singen‘, ist aber nach Ant. 1305 auch im Sinn von ‚etwas Schlechtes herbeisingen‘, also ‚anwünschen‘, zu verstehen‘“ (2012, 258f.; Hölderlin gibt an der entsprechenden Antigone-Stelle das Verb mit ‚lobpreisen‘ wieder, vgl. StA 5, 260). Hölderlins „frohlockend“ mag also inhaltlich wenig treffend sein (oder ironisch, wie wohl an der Antigone-Stelle?), wird aber dem Gestus des lauten Ausbrechens gerecht. Müller liest Hölderlins ‚Fehler‘ wohl so, als ob Ödipus die Selbstblendung jubelnd vollzöge, was zu seiner Lesart der Figur passt.

394 | Ein Theaterjahrhundert ungedruckte Materialien vom Heiner-Müller-Archiv an verschiedenen Detailbeispielen aufzeigen können, dass für Müller „die Übertragung durch Hölderlin stets weit verpflichtender als die philologisch korrekte Übersetzung des Textes“ war.463 Die Analogie zur ebenso hochgehaltenen Priorität der Hölderlin-Vorlage jenseits aller philologischen Sorge bei Brecht ist nicht zu übersehen, sie bildet die Voraussetzung für die produktive Arbeit an der tragischen Sprache, von der sowohl die Intensität als auch der Erfolg beider modernen Transformationen herrührt. Auch Müller selbst war sich m.E. dieser Analogie zu Brecht bewusst: Es kann kaum ein Zufall sein, dass er im Anschluss an die oben zitierten Worte zum „philosophische[n] Konzept“ hinter Hölderlins Fehlern auf Brecht zu sprechen kommt. „Es gibt diesen schönen Satz von Brecht“, zitiert ihn Müller zuerst direkt: „‚In der Nähe der Fehler liegen die Wirkungen.‘ Das ist schon interessant“ (353). Kurz darauf, als das Gespräch auf die Frage der Historizität bzw. Aktualität von Theaterübersetzungen angesichts der Entwicklung der dramatischen Sprache kommt, greift er erneut auf Brecht zurück: Er stelle ein „Ereignis in der Geschichte der deutschen Sprache“ dar, denn er „hat einen ungeheuren Fundus, ein ungeheures Reservoir an sprachlichen Möglichkeiten bereitgestellt. Man kann Shakespeare nicht mehr übersetzen, indem man Brecht ausklammert und die sprachlichen Möglichkeiten, die hinzugekommen sind“ (354). Brechts u.a. im Antigonemodell erprobte späte Theaterästhetik und -Praxis (Verfremdung, Historisierung und Aktualisierung, Experimentaltheater, kollektive Arbeit usw.) scheinen mir dann unausgesprochen im weiteren Verlauf durch das Gespräch zu geistern, wenn Müller gegen den Originalitätsbegriff wettert (355), antike Mythen als „sehr frühe Formulierungen kollektiver Erfahrungen“ bezeichnet, die „schlimmerweise [...] immer noch allgemein [stimmen]“ (356f.), oder wenn er dafür plädiert, „die Geschichten, die ich erzähle [...] vom Publikum zu distanzieren […]. Man muß die Geschichten soweit wie möglich vom Publikum wegrücken und das Verständnis erschweren“ (360). 1985 war also Müllers Erinnerung an die Hölderlin-Arbeit gegenüber dem späten Rückblick in Krieg ohne Schlacht noch eng mit der Auseinandersetzung mit Brecht verbunden; Müller suchte bei ihm nach sprachlich-stilistischen Elementen und nach Antworten auf Fragen der Antike-Moderne-Konstellation im Kontext des verfremdenden Gegenwartstheaters. In dem Gespräch mit Umbrecht von 1977, um unsere Spurensuche nach hinten fortzusetzen, kam Müller im Anschluss an den Rückblick auf den Ödipus, Tyrann ebenso auf Brecht zu sprechen. Nachdem er die eigene Bearbeitung recht bescheiden als „Redaktion von Hölderlins Bearbeitung“ bezeichnet hatte

|| 463 Vgl. Hippe in Castellari/Hippe/Schmidt (2011) 179f. Nicht nur Witzmann sondern auch Gerhard Piens wurde von der Produktion beauftragt, mehrere Textstellen von Müllers Arbeitsfassung zu überprüfen. Die Einwände von Piens nahm Müller nicht zur Kenntnis, diejenigen Witzmanns teilweise. Müller bearbeitete Hölderlins Text erneut, als man ihn darauf aufmerksam machte, dass einige Zeilen fehlten, statt die Übersetzung Witzmanns zu berücksichtigen.

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(HMW 10, 111), ging Müller zu seinem zwischen den 1950er und -60er Jahren so intensiven Umgang mit der antiken Dramatik über. In der griechischen Tragödie seien „Konflikte“ ausgetragen worden, die „mit dem Übergang zur Klassengesellschaft, also der Entstehung der Klassengesellschaft“ zu tun hätten und deshalb für die Gegenwart als Zeitpunkt von Belang seien, in dem es „jedenfalls vom Programm her, um die Aufhebung der Klassengesellschaft“ geht. Diese in vielem brechtsche Einsicht in die „neue Optik, [...] neue Sehweise“, die durch die Balance aus historischer Distanz und aktueller Brisanz entstehe, veranlasste den Interviewer zur ausdrücklichen Frage, „Was bedeutet, Theater zu schreiben nach Brecht“. Müllers differenzierte Antwort dazu ist hier dahingehend von Interesse, weil er energisch auf die Notwendigkeit verweist, „diese Brecht-Texte [die „späten Stücke“ bzw. die „Parabeln“; M.C.] wirklich aufzubrechen und aus dieser Kanonisierung herauszubrechen“, denn ihr „politische[r] Sprengstoff“ komme sonst kaum zur Wirkung. „So wie es jetzt gemacht wird hier“, blickt Müller auf die damalige Brecht-Pflege in der DDR und hauptsächlich am Berliner Ensemble zurück, „arbeiten diese Texte nicht mehr, es sind Operntexte und sind Monumente“ (112). Damit kommt der Gang hin und zurück in Müllers nachträglicher Einschätzung der Hölderlin-Arbeit neben und gegen Brecht wieder auf den Ursprung zurück. Die eben zitierten Überlegungen von 1977 lassen sich mit anfangs erwähnten Äußerungen zum „tote[n] Theater“, das ein falsches Verständnis von Brechts Modellen als Vorschrift mit sich gebracht habe, parallelisieren. Sie führen uns letzten Endes wieder auf die ambivalenten Titelangaben von Müllers Ödipus-Bearbeitung von 1967 (wo der Bezug zu Brechts Antigonemodell offenkundig war, jedoch nicht bis zum Ende durchgespielt wurde), und auf den in der gesamten Transformation zu erkennenden Gestus der Anlehnung, Übernahme und Abgrenzung gegenüber Brecht. Besser: Gegenüber einem ganzen Brecht-Komplex, einer Art Facettenglas für Müller, zu dem sowohl das ‚echte‘ Brecht-Bild der „Dauerhaftigkeit des Provisorischen“, als dessen notwendig verräterischer Erbe er sich fühlte, gehörte, als auch andere BrechtErscheinungsformen, etwa diejenigen seiner ‚Schüler‘ und Verwalter. Und, immer stärker beim späten Müller, jene Spur im eigenen Werk, die man lieber verwischt – anxiety of influence? Wie dem auch sei: Müllers Arbeit an Hölderlins Ödipus-Übersetzung um 1967 stellt zweifellos eine jener Spuren dar. Die Brecht-Filiation ist in allen aus jener Arbeit hervorgegangenen und publizierten Texten erkennbar, stilistisch und inhaltlich und mit jeweils anderen Nuancierungen im Spannungsfeld von Nähe und Distanz. Müller konsultierte höchstwahrscheinlich sowohl Brechts Antigone-Bearbeitung als auch das ganze Antigonemodell, wohl die zweite Auflage,464 denn Typologie, Form und Inhalt von Müllers Texten sowie sein gesamter Transformationsgestus zeugen mit an

|| 464 In der zweiten Auflage hätte Müller auch den Neuen Prolog von 1951 lesen können, der zu den unten diskutierten möglichen Bezügen seines Ödipuskommentars gehört.

396 | Ein Theaterjahrhundert Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer Kenntnis und einem Umgang mit dem ganzen Textmaterial Brechts.465 Ob Müller jemals davor eine Inszenierung der brechtschen Antigone des Sophokles gesehen hatte, konnte nicht ermittelt werden, theoretisch ist es durchaus möglich.466 Man kann schließlich davon ausgehen, dass Müller weitere Texte Brechts bekannt waren, die in die thematische Konstellation gehörten, etwa die „Berichtigung alter Mythen“ Oedipus.467

Abb. 8: Ödipus, Tyrann (Berlin/Ost 1967). Regie: B. Besson; Bearb.: H. Müller. F. Düren als Ödipus, L. Tempelhof als Jokaste

|| 465 Eine Auseinandersetzung mit den im Modell enthaltenen Bildern hat anscheinend kaum Spuren in Müllers Bearbeitung hinterlassen. Das Gegenteil gilt für Besson, der sich aus Brecht/Nehers Regiearbeit Anregungen holte. 466 In Frage kämen die sechs DDR-Inszenierungen zwischen 1951 und 1961, alle jedoch an provinziellen Bühnen. Unmittelbar vor Beginn der Arbeit an Ödipus, Tyrann kam Brechts Antigone im September 1965 (Berliner Schaubühne) und im Mai 1966 (Frankfurter Theater am Turm) auf die BRD-Bühne (Regien Claus Peymanns, vgl. 3.2.2). Die erste Inszenierung zeichnete sich durch eine kritische Auseinandersetzung mit Brechts Modell aus. 467 GBA 19, 341; vgl. auch ebd., 339 die frühere Version unter dem Sammeltitel „Zweifel am Mythos“.

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Die Hölderlin-Vorlage, die Müller für die Bearbeitung benutzte, ist der Text der Stuttgarter Ausgabe, dessen Übersetzungen-Band (5, 1952) mit wenigen und wenig aussagekräftigen Randzeichen und -notizen Müllers versehen im Heiner-Müller-Archiv aufbewahrt ist (HU Berlin); von der Produktion des Deutschen Theaters erhielt Müller Hilfsmittel und Materialien zu Sophokles’ König Ödipus.468 Informationen zu Heiner Müllers damaliger direkter Kenntnis anderer Bühnenbearbeitungen des Stoffes oder zu früheren Besuchen von Inszenierungen der antiken Tragödie konnte ich nicht erhalten. Neben der eigentlichen Hölderlin-Bearbeitung, die im Folgenden behandelt wird, entstanden aus der Arbeit zwei kürzere Texte, die sich zur Tragödie wie ein Kommentar verhalten. Dabei spielt Brecht eine Rolle, und zwar m.E. stärker als Hölderlin, nicht zu reden von Sophokles. Im Programmheft der Uraufführung wurde das zirka fünfzehnzeilige Statement Nicht Kriminalstück abgedruckt. In dieser Aussage zur eigenen Interpretation der Tragödienhandlung – die späteren Vermerken zufolge ihn hingegen damals kaum interessiert hätte469 – stellte sich Müller als Querdenker dar, als Korrektor der opinio communis: „Gegen die gewohnte Interpretation lese ich ÖDIPUS TYRANN nicht als Kriminalstück“. Seine ist tatsächlich eine historisierend-aktualisierende Lesart à la Brecht.470 Das Stück beschreibe laut Müller die „(blutige) Geburt“ des „Dualismus Praxis Theorie“, der erst zu Sophokles’ Zeiten entstanden sei und in dem „Atompilz über Hiroshima [...] seine radikalste Formulierung“ erfahren habe. Die Parallele zwischen der „Haltung des Ödipus bei der Selbstblendung“ und „der zynischen Replik des Physikers Oppenheimer auf die Frage, ob er an einer Bombe mitarbeiten würde, wirksamer als die H-Bombe, wenn dazu die Möglichkeit gegeben sei: Es wäre technisch süß (technically sweet)“ (HMW 8, 155), wird von Müller selbst an einer beispielhaften Stelle seiner Bearbeitung verankert, die ihrerseits als typisch für Müllers minimalen, jedoch einschneidenden Eingriff gelten kann. Klang nämlich Hölderlins Übersetzung der Worte des Ödipus nach der Verblendung:

|| 468 Dazu vgl. Hippe in Castellari/Hippe/Schmidt (2011) 179f. 469 „PHILOKTET hat mich als einziges von vornherein als Stoff interessiert“. Als „Gelegenheitsgeschichten“ bezeichnet er hingegen Prometheus und eben Ödipus, Tyrann (Gespräch mit Christoph Rüter, 1991, HMW 12, 33). 470 Nicht nur wegen des unverfrorenen Tons und aufgrund der oben erörterten Aktualisierungsstrategie wird man hier an Brecht erinnert. Für die Lesart Müllers, nach der Ödipus weder ein Kriminalnoch ein Schicksalsstück, sondern eine Tragödie der Wissenden bzw. des Mächtigen sei, käme neben Hölderlin (so etwa Ostheimer 2002, der auf Hühn 1997 verweist) auch die Oedipus betitelte „Berichtigung alter Mythen“ Brechts als Inspiration in Betracht. Dort berichtet Brecht, es wolle ihm „nicht in den Kopf, daß Ödipus von der Tragweite seiner Taten, ihrer gründlichen Verruchtheit nicht doch eine Ahnung hat. Die Tragödie würde dadurch nur umso tragischer“ (1933; GBA 19, 341). Brecht entwickelt daraufhin zwar Gedankengänge, die mit Müllers Lesart nicht zu verbinden sind; die mythenkorrigierende Strategie sowie Brechts Grundeinstellung, dass Schicksalsbegriffe nicht mehr mobilisiert werden können, wo doch menschliches Handeln im Mittelpunkt steht, kann man allerdings bei Müller wiedererkennen.

398 | Ein Theaterjahrhundert „Denn süß ist es / wo der Gedanke wohnt, entfernt von Übeln“ (StA 5, 187), so reicht es Müller, lediglich zwei Änderungen vorzunehmen, um einen neuen Sinn zu erzeugen: „Denn süß ist wohnen / wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem“ (HMW 6, 50; Hervorhebung von mir). Das Resultat der Verblendung ähnelt nun der Abstraktion vom Realen des modernen Intellektuellen bzw. Politikers oder, wie Müllers Deutung nahelegt, Wissenschaftlers, und ist nicht mehr mit der Befreiung von den sophokleischen kakôn zu verbinden. Diese von Müller selbst zitierte,471 dementsprechend in der Forschung oft diskutierte Stelle,472 wird von ihm anhand einer Argumentation erläutert, deren brechtsche Elemente offenkundig sind, was hingegen m.W. bisher unberücksichtigt geblieben ist. Nicht nur werden durch den Atombomben-Diskurs und die Frage der sozialen Verantwortung des Wissenschaftlers Probleme aufgeworfen, die direkt mit Brechts Leben des Galilei und der dort erfolgten Historisierung der aktuellen Problematik zu verknüpfen sind oder allgemeiner mit Brechts Auseinandersetzung mit dem Nexus Wissenschaft-Politik, in dem neben Einstein auch Oppenheimer eine Rolle spielte.473 Auch Müllers Argumentationsgang selbst basiert auf einer regelrechten Durchrationalisierung des Mythos, aus der eine im weiten Sinne des Wortes politische Frage herausdestilliert wird, und allgemein auf der Dialektik von Historisierung und Aktualisierung als Zugang zur Antike (bzw. Klassik, Tradition o.ä.). Der radikale Schluss von Müllers Nicht Kriminalstück könnte kaum brechtischer sein: „Die Verwerfung dieser Haltung bleibt folgenlos, wenn ihr nicht der Boden entzogen wird“ (HMW 8, 155).

|| 471 Bezeichnenderweise gewichtet Müller das Verhältnis der eigenen Stelle zur Vorlage Hölderlins je nach Kontext anders. In Nicht Kriminalstück wird nicht einmal darauf hingewiesen, dass die zitierten Verse vom Original zwar wenig, aber entscheidend abweichen; zum Zeitpunkt der Bearbeitung scheint das Verhältnis zu Hölderlin ein noch recht lockeres, brechtsches zu sein. Im späten Rückblick der ‚Autobiographie‘ Krieg ohne Schlacht hingegen wird die Hölderlin-Stelle vergleichend angeführt (allerdings falsch!), der eigene Eingriff gar als Fälschung bezeichnet (er habe „das Moralische herausgenommen“) und mit einer Lesart der Tragödie in Verbindung gebracht, die nun nichts mehr mit der Oppenheimer-Problematik zu tun hat. Müller erinnert sich nun an eine damalig „aktuelle Parallele zu dem Sturz von Chruschtschow“ und deutet daraufhin die eigene Umakzentuierung der Ödipus-Figur im Sinne vom „Auslöschen der konkreten Wahrnehmung zugunsten einer Idee, in der man sich jetzt ansiedeln will“ (HMW 9, 159). 1992 wird also Hölderlin explizit erwähnt, und zwar um sich als dessen Fortschreiber in der Gegenwart zu positionieren, jenseits des Moralischen. Dabei entgeht Müller mit dem falschen Hölderlin-Zitat – er schreibt dem Dichter die Wiederholung ‚wohnen‘ / ‚wohnt‘ zu, die doch Teil seiner akzentuierenden Bearbeitung war – ein lapsus, der viel über die Einverleibung der Diktion Hölderlins in die eigene sagt. 472 Zentral ist sie sowohl in den Studien, die insbesondere die intertextuelle Dimension der Arbeit an Hölderlin untersuchen, als auch in denjenigen, die die politisch-entmythisierende Transformation in den Mittelpunkt stellen (Lehmann 1980, Ostheimer 2002, Primavesi 2003a und 2003b, Huller 2007). 473 Zu Oppenheimer und insgesamt zum Wissenschaftsdiskurs beim späten Brecht vgl. Castellari (2014b) 299–312. Oppenheimer stand kurz vor Müllers Arbeit am Ödipus im Mittelpunkt des Theaterlebens, durch Heinar Kipphardts Dokumentarstück In der Sache J. Robert Oppenheimer, das 1964 seine BRD-Premiere hatte und heftig diskutierte wurde.

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Ein anderer Modus des Brecht-Bezuges ist im zweiten, neben der Bearbeitung entstandenen Ödipus-Text Müllers zu erkennen, dem Ödipuskommentar, der ursprünglich als Prolog zur Tragödie gedacht war, dann allerdings in der Inszenierung Bessons keine Benutzung fand und im Programmheft nicht abgedruckt wurde; er wurde bereits 1966 separat veröffentlicht und kam dann in die Ödipus-Drucke von 1967 und 1969 hinein.474 Der Ödipuskommentar zeugt offenkundig von der dreifachen Schichtung, in die sich Müllers Arbeit an Mythos und Tragödie gliedert, und von der dreifachen Genealogie, die sie bestimmt hat: Sophokles – Hölderlin – Brecht. Das aus 43 Hexametern bestehende Erzählgedicht ist in seiner typologischen Hybridität geradezu exemplarisch, wie nun zu erörtern ist. Erzählt wird der Mythos, zuerst anhand der Vorgeschichte (im Präteritum) und dann der Handlung (im Präsens) der sophokleischen Tragödie, wobei die Verserzählung durch wenige, graphisch in Kursiv hervorgehobene Kurzpassagen unterbrochen wird, die als Figurenrede zu interpretieren sind. Zuerst „dieses mein Fleisch wird mich nicht überwachsen“ (Z. 7), als Worte des Lajos, nachdem er seinen Sohn ausgesetzt hat, dann durchgehend ideelle Reden des Ödipus. „Keiner hat meinen Gang“, mit Bezug auf die vom Vater verursachte Lähmung (12); „Ich und kein Ende“, bei der Selbstblendung (33); schließlich „Die Welt eine Warze“, fast ein Selbstkommentar der Figur aus seinem Rückzug in die Blindheit heraus (48).475 Weiter verkompliziert wird die Mythenerzählung durch Appelle an die Zuschauer, das „Gedicht von Ödipus“ (15) bzw. „sein Beispiel“ zu ,sehen‘ (41). Zu diesem nach-brechtschen Gestus, einer verhaltenen Aufforderung an das Publikum, das Stück in seiner Beispielhaftigkeit zu lesen,476 gesellt sich der Kommentar, der im Titel antizipiert und im Hexametergedicht, vor allem im zweiten Teil, aktiv umgesetzt wird. Dort wird der Mythos nicht einfach nacherzählt, sondern neuinterpretiert; auffallend ist dann in diesen im Präsens (!) gehaltenen Passagen, die sprachlich komplexer und stilistisch aufgerauter sind (eine harte Fügung à la Müller), eine aktualisierende Lesart des antiken Stoffes, die derjenigen von Nicht Kriminalstück ähnelt. Ödipus, früher noch „der / Rätsellöser“ (26f.), || 474 Aus dem Ödipuskommentar wird hier mit einfacher Zeilennummer aus HMW 1, 157f. zitiert; Vermerke zur Entstehung, zum Erstdruck 1966/67 im Westen (Kursbuch), zu abweichenden Titeln usw. in HMW 6, 542. 475 Vgl. auch die Fragen, die Ödipus „ins Dunkel wie Netze“ geworfen habe (27): Es folgen direkte Fragesätze, dann wieder nach der Selbstblendung (35). Allerdings sind diese Fragen nur bedingt als Selbstkommentar zu lesen, denn sie sind wie der übrige Text in der dritten Person gehalten. 476 Bereits Primavesi (2003b) 262 hat auf die mögliche Parallele zu Brechts Neuem Prolog zur Antigone hingewiesen. Tatsächlich richtete sich dort der Sprecher an das Publikum: „Wir bitten euch / Nachzusuchen in euren Gemütern nach ähnlichen Taten / Näherer Vergangenheit oder dem Ausbleiben / Ähnlicher Taten“ (GBA 8, 242); Erwartungsgemäß ist der didaktisch-aktualisierende Ton bei Brecht stärker ausgeprägt. Wie typisch für die komplexe Intertextualität von Müllers Ödipus-Texten, kann für die Form des Kommentars auch die Sophokles-Hölderlin-Konstellation Pate gestanden haben: Die Schlussrede „Ihr im Lande Thebe Bürger, sehet diesen Ödipus [...]“ (HMW 6, 541) bietet genau dieselbe Aufforderung, ‚Ödipus zu sehen‘, die im Ödipuskommentar wiederholt vorkommt.

400 | Ein Theaterjahrhundert verstrickt sich durch sein Fragen in ein eigenes Netz, „in den Maschen / auf der eigenen Spur vom eigenen Schritt überholt“, und vollzieht mit der Selbstblendung einen Prozess der Spaltung von Praxis und Theorie. Dadurch isoliert er sich in das eigene beziehungslose Wissen: „In den Augenhöhlen begräbt er die Welt“ (34). Die vermeintlich ‚süße‘ Freiheit von jedweder Verbindlichkeit erweist sich als ein Teufelskreis der Subjektivität: „So lebt er, sein Grab, und kaut seine Toten“ (40). Ist hier die antike Tragödie des Sophokles (allerdings bereits in der Version Hölderlins) als Hintergrund der Mythenerzählung präsent, in die der Kommentar eingreift, wird dieser maßgeblich durch Hölderlin und durch Brecht geprägt. Im Gestus des Kommentars schreibt Müller Hölderlins Ödipus-Übersetzung und -Anmerkungen477 und m.E. noch stärker einige Prätexte Brechts fort. Neben der ‚Mythenkorrekturen‘ zu Ödipus denke ich vor allem an die Antigone-Legende und an weitere Textmaterialien aus dem Antigone-Projekt. Mit der Legende hat Müllers Ödipuskommentar nicht nur das Metrum und die lexikalisch-stilistische Imitation der Vorlage gemeinsam.478 Die Nacherzählung des Mythos war auch bei Brecht gattungsgemäß durch Redepassagen erweitert und mündete wiederholt in interpretative Momente, die dialektisch auf mögliche Aktualisierungen hin anspielten.479 Bezeichnend ist dabei, wie in Müllers Ödipuskommentar der Bezug zu Brecht problematisiert wird. Müller adaptiert Gesten und Tendenzen, ergänzt sie und variiert sie in freiem Umgang mit dem Modell. Brechts durchgehendes Präteritum wird nur für die mythische Vorgeschichte über-

|| 477 Lexikalische Elemente, die aus Hölderlins Übersetzung (evtl. auch schon bearbeitet) in Müllers Kommentar eingeflossen sind (vgl. etwa die Insistenz auf dem Lexem ‚Rätsel‘, Z. 25–27), sind wegen der intertextuellen Relation zwischen beiden fast als selbstverständliche Erscheinung zu betrachten; wie Osterheimer (2002, 56) vermerkt, entstand er einfach „in unmittelbarem Kontakt mit der Hölderlin-Bearbeitung“. Indem Müller übrigens die Übersetzung/Bearbeitung nacherzählend interpretiert, nimmt er zwar eine Position ein, die derjenigen Hölderlins in den Anmerkungen zur eigenen Übertragung ähnelt, jedoch sind m.E. die typologischen Unterschiede stärker als die Affinitäten. Eine andere Frage ist, ob Müllers Lesart des Mythos mit Gedankengängen Hölderlins in den Sophokles-Anmerkungen parallelisiert werden kann. Am stärksten hat diese Frage Emmerich (1989) behandelt, wobei er auf die Vermittlung Benjamins und Brechts hingewiesen hat (vgl. auch Primavesi 2003b und Nägele 2003). Huller (2007) favorisiert die Brecht-, Osterheimer (2002) die Hölderlin-Linie bei der Erörterung von Müllers Arbeit am Mythos. 478 Huller (2007), die den Ödipuskommentar zur Grundlage ihrer Analyse von Ödipus, Tyrann macht, geht auch auf die Parallele mit Brechts Antigone-Legende ein, wobei sie jedoch die Funktion des Hexametergedichts bei Brecht als Prolog missversteht. Aus ihrer Untersuchung zum „dreifache[n] Palimpsest“ bei Müller (also Sophokles, Hölderlin, Brecht; 103) gingen wesentliche Impulse für vorliegende Arbeit aus, insbesondere mit Blick auf die Intertextualität-Frage. 479 Dabei muss festgehalten werden, dass Brechts Text ganz unterschiedliche Wirkungen hervorruft, wenn man ihn sozusagen produktionsintern als Übungstext für Schauspieler versteht, als der er auch entstanden war, oder bereits als schriftlich fixierten Teil des Modells, wo er zum bildbegleitenden Pendant der Regiebemerkungen wird. Bei Müller kann von einem produktiven Umgang die Rede sein, der mehrere Aspekte des Prätextes berücksichtigt.

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nommen; die in der Antigonelegende überdeutlich durch narrative Floskeln und Anführungszeichen markierten, weitschweifig ausgearbeiteten Redepassagen schrumpfen bei Müller zu wenigen zitathaften Sprüchen, die in das Gedicht montiert werden. Sie erzeugen nicht wie bei Brecht eine dramatische Struktur, sondern stützen die Neuinterpretation der Hauptfigur. Das episch-didaktische Moment Brechts, bedingt auch durch die interne Funktion der Legende als Vorübung für die Schauspieler, entfällt beinahe ganz bei Müller. Dafür verlagert sich das Gewicht deutlich vom Erzähl- auf den Kommentargestus, für den Müller Brechts Durchrationalisierung des Mythos bzw. seine Mythenkorrektur variierend fortschreibt, die ebenso im Antigonemodell dokumentiert war.480 Nicht die spezifischen Versuche Brechts, den Antigone-Stoff im Spannungsfeld von Historisierung und Aktualisierung zu lesen, sind für Müller von Belang, der ja in einem anderen historischen Kontext einen anderen Stoff vor sich hat, sondern der Modus selbst, das zu variierende, weil unvollkommene Modell einer modernen Transformation des antiken Dramas für das Theater der Gegenwart. Der Ödipuskommentar zeigt überdeutlich, wie dabei Müller von Brecht ausgehen musste, um ihn ‚richtig‘ zu ‚berichtigen‘. Die dreifache Genealogie Sophokles – Hölderlin – Brecht, die im Ödipuskommentar aufscheint, bedingt schließlich auf größerer Ebene die dreifache Schichtung der Odipus, Tyrann-Bearbeitung. Dabei ist zu beachten, dass erstens gegenüber dem Kommentar hier die Hölderlin-Schicht als die zentrale erscheint und dass zweitens die Brecht-Folie, die im Modus der Transformation zu erkennen ist, eine implizite und implizit kritische bleiben muss, wie bereits anfangs anhand der Titelangaben erörtert. Sogar als anti-brechtschen Gestus, das wurde angedeutet, könnte man die Grundeigenschaft von Müllers Bearbeitung lesen, insofern sie keine makrostrukturellen Aspekte betrifft (Handlungsstruktur, Personenkonstellation, -Konfiguration und -Charakterisierung, Einfügung von Vor-, Zwischen- oder Nachspielen bzw. von ganz neugedichteten Partien), sondern sich auf der intertextuellen Mikroebene mit punktuellen syntaktischen, öfters nur lexikalischen Eingriffen begnügt. Es wurde auch für Müllers Hölderlin-Bearbeitung eine quantitative Schätzung durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass „etwa 80 Prozent des Sprachmaterials [...] von Hölderlin“ stamme (Wieghaus 1984, 129): bei Brechts Antigone kommt eine ähnliche Berechnung, wie fraglich man auch immer solche Zahlen betrachten mag, auf höchstens ein Drittel. Diesen Minimalismus der Transformation hat die Forschung von Anfang an als Grundaspekt erkannt, in seiner genaueren Beschaffenheit analysiert und manchmal auch gegen Brechts ‚Maximalismus‘ ausgespielt. Bereits Helen Fehervary parallelisierte etwa Müllers „method of adaptation“ mit Eislers Zitier-Begriff, d.h. „extracting the essential components of the original work, cancelling all metaphysical elements, and intensifying the concrete materialistic character of the original“ (1977), wobei

|| 480 Sowohl theoretisch (Vorwort) als auch fiktionsintern in versuchsweise praktischer Umsetzung: im Vorspiel, in der Bearbeitung selbst, in den Bildern und deren Prosa- oder Verskommentaren.

402 | Ein Theaterjahrhundert dort die Gegenüberstellung mit Brecht gezwungen bzw. konfus erschien.481 Genauer konnte dann Hans-Thies Lehmann in einem knappen, aber richtungsweisenden Beitrag aus dem Jahr 1980 aufzeigen, dass, obwohl Müller „praktisch Zeile für Zeile [...] Hölderlins Übertragung“ folgt, er „durch nur scheinbar geringfügige Änderungen die Vorlage in ganz spezifischer Weise“ deutete, und zwar indem er sie in einen „politischen Kontext“ brachte. Lehmann betonte insbesondere die vielen Passagen, in denen „Müller immer wieder dort, wo Hölderlin von Sterblichen, einem Mann, oder dem Menschen im allgemeinen spricht, Vokabeln der Macht ein[setzte]“,482 und leitete daraus die These ab, dass die bei Müller offenkundige (Selbst-)Isolierung des sich blendenden Tyrannen als Parabel über das Auseinanderdriften von Theorie und Praxis im Kommunismus und somit im Rahmen der Antikendramatik Müllers, der „Lehrstücke über das Problem Stalin“ zu lesen sei (87f.).483 Dadurch wurde auf entscheidende und nachhaltige Weise darauf hingewiesen, dass hinter Müllers quantitativ zurückhaltender Bearbeitung ein inhaltlich stark eingreifender Transformationsgestus steckte, der insbesondere auf die Hauptfigur und auf den historisch-ideologischen Rahmen zielte.

|| 481 Dies sowohl mit Blick auf die textuelle Bearbeitungsstrategie als auch, was die aktualisierende Lesart angeht. Fehervary liest den Minimalismus der Transformation als Gegenbeispiel zu Brecht, nennt aber gerade Elemente als charakteristisch für Müller, die von der Gemeinsamkeit mit Brecht zeugen. Der Oppenheimer-Bezug und überhaupt die moderne Lesart des Ödipus sei auch im Gegensatz zu Brecht zu interpretieren, denn „Müller’s historical frame of reference is socialism, not capitalism“; kurz darauf kommt auch eine autobiographische bzw. gemeinschaftliche Dimension ins Spiel: „Oedipus’ individual conflict, therefore, is also the author’s conflict, as it is the conflict of the audience“ (1977, 167–170). Dabei bleibt unberücksichtigt, dass auch die Überlegungen des späten Brecht zum Nexus Wissenschaft-Gesellschaft, zum Verhältnis Tradition-Gegenwart und zur Rolle des Intellektuellen auf dem Boden des ‚real existierenden‘ Sozialismus entstanden sind, und zwar mit ausdrücklichem Verweis auf bestehende Widersprüche. 482 Paradigmatisch im Tragödienschluss. Darauf geht Hippe ein, der anhand jener Schlusspassage zeigt, wie Müller durch Änderungen und Zuspitzungen von Hölderlins Vorlage Ödipus „statt als Opfer des Schicksals [...] als jemand [zeichnet], der sein ‚großes Schicksal‘ selbstbestimmt sucht“; sein Fall ist keine Schicksalstragödie (und kein Kriminalstück) mehr, sondern eine „Tragödie der Macht und Herrschaft“ (Castellari/Hippe/Schmidt 2011, 175). 483 Lehmann setzt sich in seiner Analyse mit der marxistischen Tragödienkonzeption auseinander. Müller werfe „einen materialistischen Blick auf den Erkenntnisvorgang, in dem der Kommunismus sich selbst erkundet“ (1980, 90).

Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 403

Die Forschung hat nur teilweise Lehmanns Lesart des Stücks als Stalinismus-Kritik übernommen.484 Andere Interpreten haben in der Ödipus-Figur Müllers auch andere Diktatoren erkannt,485 oder aber weniger den Politiker als den modernen Intellektuellen auf der Flucht von der Realität erblickt.486 Dass Müllers ‚Zitieren‘ Hölderlins bzw. die „dominante Zitatstruktur, also die größtenteils wörtliche Übernahme des Textes von Hölderlin“, wie Hippe als letzter festgehalten hat, ein durch einzelne Eingriffe variierendes und dialektisch aktualisierendes Zitieren ist, „eine Form der kleinen Abweichung, die punktuell ganz neue Konflikt-Dimensionen aufscheinen lässt“, kann als gesichert gelten (2011, 180–182). Darüber hinaus haben eingehende Untersuchungen gezeigt, wie Müller in seinen eigenen Textpassagen „verblüffend genau“ den Hölderlin-Ton trifft,487 wie also das Zitierende-Variierende ins Imitative übergeht: „Die Syntax bleibt komplex, Inversionen und harte Fügungen prägen Müllers Stil“ (Huller 2007, 109). Müllers intertextuelles Spiel mit seiner Vorlage, so kann man die Ergebnisse der Forschung zur Hölderlin-Problematik und im Verhältnis zu Brecht zuspitzen, besteht in einer dreifachen Hölderlin-Treue: er hält daran fest, indem er ihn erstens ‚zitiert‘, also dessen Übersetzung möglichst nah bleibt, selbst ‚gegen‘ Sophokles; indem er ihn zweitens so wenig ‚variiert‘, wie es für die gewünschte Neuakzentuierung reicht; indem er ihn drittens ‚imitiert‘, wenn neues Sprachmaterial einarbeitet werden muss. Als Beispiel sei hier eine Passage aus dem Beginn des fünften Aktes angeführt, erläutert und anschließend mit einer weiteren kurzen Stelle aus dem unmittelbar darauffolgenden Gespräch von Ödipus mit dem Chor parallelisiert. Kursiv werden im

|| 484 So vor allem Emmerich (1989), Primavesi (2003b). 485 Ostheimer (2002) 53 bringt Hitler ins Spiel, obgleich rein spekulativ. Die Forschung hat Parallelen zwischen Brechts Kreon, der als Hitler-Figur gezeichnet ist, und Müllers Ödipus aufgezeigt (Verhältnis zu Teiresias, Frage des Machtmissbrauchs). Vgl. Huller (2007) 120 zu Müllers Tragödie als umgreifende „Diskussion der Tyrannis“. 486 Bei Wieghaus ist Ödipus’ Selbstblendung die „Geburt des Intellektuellen als Selbstentfremdung des Menschen von seiner Praxis, als folgenschwere Flucht aus der Geschichte“ (1984, 129). Durchaus im kritischen Sinne vermerkt Flashar, Müllers und Bessons Operation führe zu „einer ganz anderen Erfahrung als zu der einer sophokleischen Tragödie“, und resümiert: „Hier wurde nicht Selbsterfahrung des Menschen als Menschen, nicht die Begegnung von Mensch und Schicksal, nicht ein WissenWollen in einer tragischen Analysis vorgeführt, sondern ein Ödipus, der als Sonderling, als individualistischer Selbstdenker aus der Gesellschaft flieht, auf dem Höhepunkt symbolisiert durch die Blendung als Ausdruck äußerster Individualität und szenisch umgesetzt, indem Ödipus die mittlere Tür des Bühnenhauses förmlich durchbricht, um sich dann die breite Treppe herunterzustürzen“ (1990, 230). Huller kommt zum Schluss, es sei „auch eine Lesart jenseits eines konkreten politischen Bezugs möglich: Es geht bei Ödipus auch um den Intellektuellen als den Typus einer neuen Zeit“ (2007, 142). 487 „Wie für Brecht wurde so der ‚Hölderlin-Ton‘ zu einer Art von Experimentierfeld für eine neue Ausdruckgestaltung hoher Form, kommunikativer Offenheit und dialektischer Spannung“ (Buck 1990, 238). Weniger überzeugend ist die Behauptung, Müller verschaffe sich „womöglich noch größere Distanz zum poetischen Übersetzer Sophokles’“ (ebd.).

404 | Ein Theaterjahrhundert Folgenden die Stellen von Müllers Bearbeitung gesetzt, die von Hölderlins Übersetzung abweichen. [DER BOTE]

[MAGD]

[…]

[…]

Die goldnen Nadeln riß er vom Gewand,

Die goldnen Nadeln riß er vom Gewand ihr

Mit denen sie geschmükt war, that es auf,

So daß sie überall nicht mehr bedeckt lag

Und stach ins Helle seiner Augen sich und sprach,

Und stach ins Helle seiner Augen sich und sprach

So ungefähr, es sei, damit er sie nicht säh’

So ungefähr, das sei, damit er sie nicht säh

Und was er leid’, und was er schlimm gethan,

Und was er schlimms getan, und was er leide

Damit in Finsterniß er anderer in Zukunft,

Damit in Finsternis er säh in Zukunft

Die er nicht sehen dürft’, ansichtig werden mög’

Die er zu nah gesehen, seine Nächsten

Und denen er bekannt sei, unbekannt.

Nicht kennend die Bekannten, nicht gekannt.

Und so frohlokend stieß er öfters, einmal nicht,

Und so frohlockend stieß er vielmal, einmal nicht

Die Wimpern haltend, und die blutigen

Die Wimpern haltend, in die blutigen

Augäpfel färbten ihm den Bart, und Tropfen nicht,

Augäpfel. Die färbten ihm den Bart, und Tropfen, nicht

Als wie von Mord vergossen, rieselten, sondern

Von Mord vergossen, rieselten, sondern schwarz

[schwarz Vergossen ward das Blut, ein Hagelregen.

Verschüttet ward das Blut, ein Hagelregen.

Aus einem Paare kam’s, kein einzeln Übel,

Aus einem Paare kams, ein paariges Übel.

Ein Übel zusammen erzeugt von Mann und Weib.

Ein Übel, zusammen erzeugt von Mann und Weib.

Ihr alter Reichthum wahrhaft wars vor diesem

Ihr altes Glück, und wahrhaft wars vor diesem

Ein Reichtum. Aber jetzt, an diesem Tage,

Ein Glück noch, aber jetzt, am heutigen Tage

Geseufz und Irr’ und Tod und Schmach, so viel

Geseufz und Irre, Tod und Schmach, so viel

Von allen Übeln Nahmen sind, es fehlet keins.

Von allen Übeln Namen sind, es fehlt keins.

CHOR

CHOR

Wie ruhet er im Übel jezt, der Arme?

Wie wohnt er jetzt, in seiner Nacht, der Blinde?

(StA 5, 182f.)

(HMW 6, 46f.)488

Die Z. 1288–1307 bei Hölderlin entsprechen dem letzten Teil des langen Botenberichtes, in dem am Anfang des 5. Aktes der Selbstmord von Jokaste und die Selbstblendung von Ödipus referiert werden. Diese Schlusspassage, in der insbesondere die Handlung von Ödipus, nachdem er der toten Mutter und Frau ansichtig wurde, im || 488 So die Übersetzung Manuwalds: „[Diener:] Er riss die goldgetriebenen Nadeln des Gewandes / von ihr ab, mit denen sie sich zu schmücken pflegte, / hob die Hände und zerstach die eigenen Augen, / wobei er solches ausrief: Dass sie nicht sehen sollten / weder, welches Unheil er erlitten, noch, welches er angerichtet habe, / sondern im Dunkel künftig die sähen, die sie nicht hätten (sehen) / dürfen, und die, von denen er es wünschte, nicht erkennten. / Unter solchen Verwünschungen stach er vielmals, nicht einmal / nur, in die geöffneten Augen. Blutig benetzten / dabei die Augäpfel seinen Bart und hörten nicht damit auf. {(und nicht entsandten sie sc. nur) feuchte Tropfen Blut, sondern / in Schwall brach schwarz ein blutiger Hagelschauer hervor.} / Dieses Unheil ist aus beiden hervorgebrochen, nicht aus einem / allein, sondern für Mann und Frau vermengt. / Das frühere, alte Glück war vordem / wirkliches Glück; doch jetzt, an diesem Tag, / Stöhnen, Verderben, Tod, Schande, wie viele Namen / es gibt von allen Übeln: Keines fehlt. // Chorführer: Und jetzt, hat der Arme in seinem Unglück etwas Ruhe?“ (2012, 254–258, Z. 1268–1286).

Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 405

Mittelpunkt des Berichtes steht, wird von Müller weitgehend übernommen, Satz- und Versgefüge sind so gut wie exakt die gleichen, Änderungen betreffen einzelne Worte oder Wendungen. Dabei wird gleich in den ersten beiden Versen ersichtlich, wie Müller Hölderlins Abweichungen von Sophokles bzw. Übersetzungsfehler fortschreibt. Bei Hölderlin heißt es etwa, dass Ödipus das Gewand der toten Jokaste aufmacht („that es auf“), bevor er sich ihre Nadel in die eigenen Augen sticht. Bei Sophokles hingegen nimmt er die Nadeln bzw. Spangen, die er vom Gewand abgerissen hatte, und hebt sie zur Selbstblendung bzw. hebt er die Arme zu dieser Handlung auf. Die andere Handbewegung bei Hölderlin intensiviert Müller dahingehend, dass er im Vers darauf die bei Hölderlin nur angedeutete Nacktheit des toten Körpers expliziert: „So daß sie überall nicht mehr bedeckt lag“. Dass Müller dies bewusst tut, dass er also ‚gegen‘ Sophokles sich von Hölderlin für die eigene produktive Transformation inspirieren lässt, ist, wie oben erwähnt, kontextuell durch die ihm von der Produktion zur Verfügung gestellten Hilfsmittel belegt, die er zur Rückkorrektur hätte benutzen können, und von Selbstaussagen des Dramatikers selbst. Die hier angeführte Passage bietet textinterne Beweise dafür, dass Müller (wie vormals Brecht) recht utilitaristisch mit den ‚Fehlern‘ umgeht, die er wie sein Vorgänger zu dem ihm verfügbaren sprachlichen Material zählt. So kann die zweifache Substitution des Wortes „Reichtum“ (so Hölderlins buchstabennahe Übersetzung von olbos, hier meist mit ‚Segen‘ wiedergegeben) mit dem allgemeineren und vielleicht auch dem Kontext näheren Wort „Glück“ (vgl. Schmidts Stellenkommentar dazu, DKA 2, 1368) dadurch erklärt werden, dass Müller aus eigener Initiative oder auf Rat anderer dem Original näherkommen wollte. Dies sicher nicht aus Überlegungen philologischer Art, sondern weil ihm die andere Option hic et nunc besser zu funktionieren schien, sei es aus metrischrhythmischen Gründen, sei es wegen des Kontrastes zum ebenso zweifachen „Übel“ der vorherigen Verse. Umgekehrt blieb Müller bei Hölderlins Lösung, wo ihm die Abweichung bzw. Akzentuierung oder eben der Übersetzungsfehler einfach besser passte. So hätte Müller die durch Hölderlins fehlerhafte Brubachiana-Vorlage bedingte, unklare Passage „es sei, damit er sie nicht säh...“ durch Einsicht in moderne Versionen verbessern können (gemeint war, dass die Augen das Unglück nicht sehen sollten), oder den von Hölderlin eingeführten Vergleich „Als wie von Mord vergossen“ durch eine Sophokles nähere, einfache Ergänzung, etwa „von rinnendem Blut“, ersetzen können (vgl. DKA 2, 1367). Beides tat Müller nicht, er beließ es auch bei einem anderen eklatanten Fehler – hier schon im Rahmen der ‚Fehlerphilosophie‘, die er nachträglich auf den eigenen Umgang mit Hölderlin applizierte –, wo Hölderlin Ödipus ‚frohlokend‘ die Selbstblendung durchführen lässt. Die Frage des Chors, welche die angeführte Passage abschließt, ist ein gutes Beispiel für die weitere Strategie Müllers, disparates Hölderlin-Material einzusetzen und imitativ den Text punktuell zu transformieren bzw. ins Gegenwärtige aufzubrechen. Hölderlins Übersetzung weist hier keine signifikante Abweichung von Sophokles auf. Ausgetragen wird sozusagen das intertextuelle Spiel zwischen beiden modernen

406 | Ein Theaterjahrhundert Dichtern, dem Übersetzer und dem Bearbeiter – ein innerdeutsches Spiel. Müller ändert hier verhältnismäßig viel, indem er in alle bedeutungstragenden Worte eingreift. Statt ‚ruhen‘ benutzt er ‚wohnen‘, das ‚Übel‘ wird durch die Nacht-Metapher ersetzt, Ödipus wird nicht als der ‚Arme‘, sondern als der ‚Blinde‘ angesprochen, die ‚Nacht‘ ist in diesem Sinne ‚sein‘, es ist die Nacht der Blindheit, die nun seine ‚Wohnung‘, sein Lebensort oder gar sein Gefängnis geworden ist. Insgesamt ist Müllers Text stärker metaphorisch und gleichzeitig konkreter, sogar grausamer: Die Selbstblendung bewirkt keine Ruhe, auch nicht die Ruhe nach dem Übel, das Leiden des Ödipus, dem nicht einmal der mitleidende Trost zukommt, vom Chor ‚arm‘ genannt zu werden, ist körperlicher (Blindheit) und psychischer Art (Nacht-Metapher); moralische bzw. religiöse Aspekte fehlen ganz. Durch diese lexikalischen Ersetzungen nimmt Müller eine spätere Stelle vorweg, die hier bereits zitiert wurde, weil sie, durch Autoraussage bestätigt, wohl als Schlüssel seiner ganzen Ödipus-Transformation gelesen werden kann. Ödipus selber wird im darauffolgenden Auftritt dem Chor gegenüber beinahe ganz hölderlinisch behaupten: „Denn süß ist wohnen / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem“. Das Lexem des ‚Wohnens‘ – Sprachmaterial Hölderlins,489 das Müller allerdings fast obsessiv wiederholt und dadurch auch verändert – ist das Bindeglied; Ödipus ‚wohnt‘ in seiner Nacht bzw. seinen Gedanken nicht wie (armer) Wissender, der den „Übeln“ fern ist (so bei Sophokles und Hölderlin, Z. 1406f.).490 Der Ödipus Müllers ‚wohnt‘ als Verblendeter, der allen Kontakt zur Wirklichkeit („allem“) verloren hat und trotzdem sich in ‚süßem‘ Umgang mit sich selbst wähnt. Vor diesem Hintergrund können nun nicht nur die Anteile Hölderlins, sondern auch die Anteile Brechts an Müllers Transformation – und ihr Verhältnis zueinander – genauer beleuchtet werden. In seinem Ödipus, Tyrann verfährt Müller genau nach denselben intertextuellen Praktiken, die Brecht in seiner Antigone bei der Bearbeitung der Übersetzung Hölderlins eingesetzt hatte. Zitat, Variation und Imitation sind zwar anders gewichtet, die Modi der Hölderlin-Transformation bleiben allerdings dieselben. Für beide ist der Urtext des Sophokles sekundär, besonders nachdem bei beiden eine Art Hölderlin-Effekt durch die Auseinandersetzung mit der sprachlichen Beschaffenheit der Vorlage eingesetzt hat, der u.a. einen produktiven Umgang mit den ‚Fehlern‘ und ein imitatives Fortschreiben bewirkte. Die Zentralität Hölderlins führt beide Bearbeiter dazu, auf Umwegen auf dessen Text(e) (wieder) zurückzugreifen: Bei Brecht sei etwa an die Multiplikation und Stratifikation der Hölderlin-Quellen erinnert (3.2.1.2); bei Müller ist ein ähnliches Verfahren aufzuspüren, wenn er etwa gegen besseres Wissen (Produktion und Berater) Hölderlin restauriert oder eine Selbstkorrektur vornimmt und punktuell die eigene Transformation zurücknimmt.

|| 489 Allerdings so gut wie wörtlich das Griechische wiedergebend; Manuwald übersetzt: „Denn wenn / das Denken frei von dem, was schlimm ist, wohnt, das ist süß“ (2012, 274, Z. 1389f.). 490 Vgl. StA 5, 187: „Denn süß ist es, / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von Übeln“.

Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 407

Die extensive Hölderlin-Nähe Brechts, der meist auf eine genaue Entsprechung verzichtet, dabei allerdings in großem Stil auf Variation und vor allem auf Imitation gesetzt hatte, und die intensive Hölderlin-Treue Müllers, in der das variierende Zitat, fast eine Tarnung purer Wörtlichkeit,491 vorherrscht, haben denselben Ursprung und kommen über verschiedene Strategien auf vergleichbare Resultate. Eine zentrale Rolle spielen für beide das Fortschreiben des „Sprachgestus“ Hölderlins auf der einen und die „Durchrationalisierung“ des Mythos auf eine historisch-politische Dimension hin auf der anderen Seite. Für Brecht wie für Müller liegen bereits in Hölderlins Übersetzung (für den mittleren und späten Müller sicher auch in dessen Tragödieninterpretation) Tendenzen zu einer historisch bewussten Aktualisierung des Mythos vor; somit erscheinen „Sprachgestus“ und „Durchrationalisierung“ als sich ergänzende Momente: Hölderlin wird als bester Vermittler zur Antike in dem Sinne gesehen, dass sein Sophokles-Projekt bereits die Mittel zur Transformation der Tragödie in der und für die Moderne zur Verfügung stellt. Müllers kritische Filiation aus Brechts Antigonemodell besteht um 1967 also zuallererst darin, dass er die eigene Transformationsarbeit einer (anderen) antiken Tragödie auf der Basis von Hölderlins Übersetzung als Brecht-gerechte Veränderung des Modells versteht. Ausgerechnet indem er sich daran anlehnt, etwa was die Strategien der sprachlichen Bearbeitung selbst oder den in den Paratexten experimentierten Modus des Kommentars angeht, findet er zu Möglichkeiten der Abgrenzung. Diese akzentuierte er in Rückblicken auf die frühe Arbeit stärker, als sie damals eigentlich war. Tatsächlich bildet die kurze, aber dichte Auseinandersetzung Müllers mit der griechischen Tragödie, Hölderlin und Brecht in einem (und in Bezug zueinander) einen Wendepunkt; gerade daraus erklärt sich die nachträglich kritischere Einstellung gegenüber Brecht. Denn auch durch die Überprüfung der Wirksamkeit von Brechts Umgang mit Mythos und Tragödie und durch die parallele Einsicht in Hölderlins Antike-Moderne-Projekt entwickelte Müller die Positionen, aus denen heraus er sich in späteren Jahren „gegen einen simplifizierten Brecht“ abgrenzte (Nägele 2003, 150). Man kann tatsächlich sagen, dass bei der gleichzeitigen Konfrontation mit Sophokles, Hölderlin und Brecht Heiner Müller vor allem vom zweiten Dichter neue Impulse für das eigene Theater erhielt; Belege dafür sind neben der Ödipus-Bearbeitung ihre Bühnenwirkung und Müllers spätere Hölderlin-Lektüren (3.2.5). Zu dieser weiterhin fruchtbaren Hölderlin-Rezeption kam Müller jedoch, wie in diesem Kapitel zu zeigen versucht wurde, erst auf Brechts Spuren. Die er, ganz brechtisch, im Nachhinein zu verwischen versuchte. || 491 Vgl. dazu, zur Benjamin-Folie und zum Verhältnis von „mitteilungsloser Wörtlichkeit“ und experimenteller Poetik Primavesi (2003a) 132. Müller erwähnt Hölderlin als Beispiel einer Sprachbenutzung, die über die konkrete Aussage hinausgeht und mit der er sich identifiziert: „Können Sie sich Hölderlin als Tagebuchschreiber vorstellen? Undenkbar! Das ist eine Frage des Verhältnisses, das man zur Sprache hat. Ich kann Sprache, wenn ich schreibe, nicht als Instrument der Mitteilung benutzen. Das geht nur, wenn ich spreche“ (im Gespräch mit André Müller, 1987, vgl. HMW 10, 601).

408 | Ein Theaterjahrhundert

3.2.4 „Ein Stück aus dem Gegenwärtigen“. Subjektive Aktualisierungen im Dichterdrama am Vorbild des Empedokles: Peter Weiss’ Hölderlin (1971) Am 18. September 1971 brachte Peter Palitzsch das neue Stück Hölderlin mit Peter Roggisch in der Hauptrolle im Württembergischen Staatstheater Stuttgart zur Uraufführung. Dadurch rückte der Autor Peter Weiss nach dem bitteren Misserfolg von Trotzki im Exil und der Erholung nach einem schweren Herzanfall wieder in den Mittelpunkt der literarischen und theatralischen Debatten.492 Der bereits mit dem Experimentaltext Der Schatten des Körpers des Kutschers (1959) und den autobiographischen Romanen Abschied von den Eltern (1961) und Fluchtpunkt (1962) zuerst bei der Kritik, dann beim Publikum erfolgreiche Prosaist war nach dem internationalen Durchbruch durch Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964) als bedeutendster deutschsprachiger Dramatiker nach Brecht gefeiert worden. Dabei war er schnell zum Sinnbild des engagierten Intellektuellen in Zeiten äußerster Politisierung des öffentlichen Lebens geworden – nicht als Vertreter einer neuen Generation, sondern als verspäteter Neuankömmling bzw. Heimkehrer in das deutschsprachige kulturelle Leben. Der 1916 nahe Berlin geborene Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus der gerade bröckelnden Habsburgischen Doppelmonarchie war mit den ersten literarischen und künstlerischen Versuchen beschäftigt, als er 1935 Deutschland verlassen musste. Nach einigen Exiletappen, u.a. in Prag und London, ließ er sich in Schweden nieder, dessen Staatsbürger er 1940 wurde und zeitlebens blieb. Der mehrfach begabte Weiss, der als Maler und Filmer in Stockholm hervortrat, oszillierte zwischen der schwedisch- und der deutschsprachigen schriftstellerischen Produktion; die Annahme des Schatten-Romans bei Suhrkamp bedeutete die Aufnahme in das deutschsprachige Literaturfeld. Schon bald konzentrierte sich Weiss auf Drama und Theater. Nach dem Marat/Sade waren es im Spätsommer 1965 zuerst einige programmatische Äußerungen zum Nexus Kunst-Politik, dann das in der Presse bereits im Vorfeld der Uraufführung lebhaft diskutierte Dokumentardrama über den sogenannten Auschwitz-Prozess, Die Ermittlung (UA 19. Oktober 1965), die Weiss’ Position brisanter und auch aus vielen Perspektiven kritisierbarer machte. In 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt etwa, einem zuerst auf Schwedisch in der Stockholmer Zeitung Dagens Nyheter erschienenen Statement (1. September 1965), bekannte der bis dahin einen ‚dritten Standpunkt‘ zur Weltpolitik vertretende Weiss, dass „die

|| 492 Die Premiere von Trotzki im Exil erfolgte am 20. Januar 1970 im Schauspielhaus Düsseldorf, Regie führte Harry Buckwitz. Den Herzinfarkt erlitt Weiss am 8. Juni 1970. Zur intellektuellen Biographie vgl. Dwars (2007) sowie Schmidt (2016); die beste Grundlage für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung bleibt die Monographie Beise (2002); dort vgl. 98–193 zum Trotzki, 104–110 zum Hölderlin; zur Hölderlin-Uraufführung u.a. Iden (2005) 130–132.

Hölderlin im Theater der Nachkriegszeit | 409

Richtlinien des Sozialismus [...] die gültige Wahrheit“ für ihn enthielten. Zwar würden im so genannten real existierenden Sozialismus, ja geradezu in dessen Namen, „Fehler“ begangen; sie sollten allerdings „zum Lernen da sein und einer Kritik unterworfen werden, die von den Grundprinzipien der sozialistischen Auffassung ausgeht“. Getragen von einer aus heutiger Sicht zumindest naiv zu nennenden Zuversicht, dass „die Selbstkritik, die dialektische Auseinandersetzung, die ständige Offenheit zur Veränderung und Weiterentwicklung“ als „Bestandteile des Sozialismus“ tatsächlich die jeweiligen führenden Kader zur Beseitigung der erwähnten „Fehler“ bewegen würden, kam Weiss zu einer ‚Seitenwahl‘: „Zwischen den beiden Wahlmöglichkeiten, die mir heute bleiben, sehe ich nur in der sozialistischen Gesellschaftsordnung die Möglichkeit zur Beseitigung der bestehenden Mißverhältnisse der Welt“.493 Diese ‚Seitenwahl‘ hatte erwartungsgemäß in den öffentlichen Debatten vorerst mehr Gewicht als die ihr innewohnende (und offen ausgesprochene) Einsicht in Mängel und Fehlentwicklungen auf beiden Seiten und als ihre letzten Endes utopische Ausrichtung. Zuerst Die Ermittlung, dann auch die weiteren Dokumentardramen Gesang vom Lusitanischen Popanz (1967) und Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des langandauernden Befreiungskrieges in Viet Nam als Beispiel für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen die Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von Amerika, die Grundlagen der Revolution zu vernichten (1969) wurden vor diesem Hintergrund, im Rahmen der jeweiligen BRD- und DDR‚internen‘ ästhetisch-politischen Debatten und im Umkreis der deutsch-deutschen und der weltpolitischen Konfrontation zwischen Blöcken rezipiert. Mit Blick auf die eigentlich aus einer anders akzentuierten Werkkonstellation herrührende Ermittlung hat Christoph Weiß eindringlich gezeigt, wie Weiss, sein Drama und dessen thematische höchst brisante Inhalte „zwischen die Fronten des kalten Kriegs“ gerieten.494 Inwieweit die ständige Befragung und Infragestellung, die Weiss’ Oeuvre in ästhetischer und politischer Hinsicht kennzeichnet, die Forderung nach klaren ‚Fronten‘ missachtete, zeigte bereits das Trotzki-Stück und seine Wirkung, dann auch der in vielerlei Hinsicht als „Selbstverständigungstext“ zu betrachtende Hölderlin.495 Im

|| 493 Vgl. Weiss (1971) 22. Der im Erstdruck Tio arbetspunkter i en delad värld betitelte Text erschien im selben Jahr auf Deutsch in der Zeitschrift konkret (1965); hier wird er aus der in Rapporte 2 gedruckten Fassung zitiert. 494 Vgl. Weiß (2000) 9. Auf diese und weitere Arbeiten von Christoph Weiß (1995, 1998, 1999) sei für eine detailreiche Diskussion sowohl der Entstehung der Ermittlung aus dem Divina Commedia-Projekt und der im Laufe der Arbeit erfolgten politischen Zuspitzung als auch der unmittelbaren Rezeption des Stücks „in der geteilten Welt“. 495 Beise (2002) 104; vgl. auch Packalén (1991), wo anhand einer Presseschau die Aufnahme des Hölderlin-Stücks in der BRD und DDR kontrastierend analysiert wird. Zum Trotzki-Stück vgl. auch Rohrwasser (1999).

410 | Ein Theaterjahrhundert Jahrzehnt, das mit beiden Stücken zu herausragenden intellektuellen Persönlichkeiten eröffnet wurde, setzte der danteske, vom Zweifel geplagte „Wahrheitssucher“496 seine Selbstverständigungsarbeit im Spannungsfeld von Subjektivität, Engagement und Künstlertum in Die Ästhetik des Widerstands fort. Der als Meisterwerk geltende, am eifrigsten in der Forschung untersuchte Roman erschien ab 1975, der dritte und letzte Band ein Jahr vor dem Tod des Autors am 10. Mai 1982 in Stockholm.497 Es kann lediglich auf den ersten Blick verwundern, dass gerade die Figur und das Oeuvre Friedrich Hölderlins um 1970 so eine zentrale Rolle in einer derart kritischen Phase von Peter Weiss’ lebens- und werkgeschichtlichen Entwicklung spielte. Nicht nur die damalige Rezeptionssituation des schwäbischen Dichters war ausschlaggebend für eine Auseinandersetzung mit ihm vom Standpunkt des gesellschaftlich-politisch engagierten Schriftstellers Weiss. Wie der Autor selber bekennt, hat unter den für die Erarbeitung des Stücks herangezogenen Quellen ihm „kaum ein anderes Werk so viele Anregungen vermittelt wie ‚Hölderlin und die Französische Revolution‘ (Frankfurt 1969) von Pierre Bertaux“ (Weiss 2006, 12733). Dieses und andere Zeichen eines in den späten 1960er Jahren erwachten kritischen Interesses für Hölderlins ‚politische‘ Bildung und ihre mögliche Einwirkungen auf sein Werk – eine, wie in 3.2.2 erörtert wurde und in 3.2.5 wiederaufzunehmen ist, über akademische Kreise hinaus die ganze Dichterrezeption prägende und anhaltend lenkende Erscheinung – gehören erwiesenermaßen zu Weiss’ Referenzen.498 Der Auslöser für die Erhöhung Hölderlins zur Figur gegenwärtiger Spannungen zwischen Kunst und Engagement, Beteiligung und Solipsismus waren sie aber nicht; vielmehr gebührt hier Weiss’ HölderlinStück die Rolle einer die spätere produktive Rezeption prägenden, bereits fiktionalisierten musterhaften Bearbeitung der genannten Spannungen. In der oben erwähnten Passage aus den Notizbüchern, in denen Weiss auf die Bertaux-Lektüre zurückblickte, fügte er unmissverständlich hinzu, dass die Behauptungen des französischen Germanisten sein bereits vielfältiges und bereits politisches Bild des Dichters höchstens ergänzten: „Es wurde mir dort meine Hauptthese bestätigt: die revolutionäre Haltung, das Jakobinertum Hölderlins“. Die Bertaux-Note ist kein alleiniger Auftakt

|| 496 So wird Dante im Drama Inferno genannt (Weiss 2008, 56, 58). Die Bezeichnung stammt zwar in der Dramenfiktion von einem ‚Gegner‘ der Dante-Figur (Minos), kann allerdings als eine durchaus autobiographisch gefärbte Eigenschaft betrachtet werden, dazu vgl. Weiß (2003) und Castellari (2008a). Eine aus dem Vergleich von Weiss’ Dramen zu Dante und zu Hölderlin ausgehende Untersuchung legte ich in Castellari (2010c) vor; einige Überlegungen daraus werden in dieses Kapitel eingearbeitet und mit für diese Arbeit spezifischen Fragestellungen ergänzt: Weiss’ produktiver Umgang mit Hölderlins Empedokles und dessen rezeptionsgeschichtliche Bedeutung. 497 Zur Präsenz Hölderlins in der Ästhetik des Widerstands vgl. Packalén (1986) 81–90. 498 In der Schlussbibliographie der Hölderlin-Edition sind Bertaux’ Buch sowie weitere Sekundärliteratur zu Hölderlin mit Bezug auf politische Konstellationen aufgelistet (Minder 1966, Kirchner 1949); Lukács (1935) gehört auch dazu. Das Hölderlin-Stück wird aus der Neufassung (Weiss 1977) mit einfacher Seitenangabe zitiert, hier 213.

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sondern Teil des Grundakkords in der Auseinandersetzung von Peter Weiss mit Hölderlin um 1970.499 Zu behaupten, dass „one would even call it a dramatic adaption of the French critic’s book“, ist eine vorschnelle Vereinfachung, die weder dem Buch von Bertaux noch dem Stück von Weiss Gerechtigkeit widerfahren lässt.500 Aus einer viel früheren Zeit stammen andere Hölderlin-Töne bei Weiss, die 1970 wieder erklangen und die ‚widerstandsästhetische‘ Herangehensweise an Hölderlin im gerade entstehenden Stück über die politische Dimension hinaus bereicherten. Eine Art Hölderlin-Ur-Erlebnis spielte da mit. In den Notizbüchern aus dem September 1970, die in die postum veröffentlichte Prosa mit dem Titel Rekonvaleszenz einflossen (Weiss 1991), grub Weiss Erinnerungen an die Kindheit aus. Die ersten Kontakte mit dem Dichter fielen in einen ebenfalls durch Krankheit gekennzeichneten Lebensabschnitt. „Damals beklopften und behorchten mich bärtige Professoren, und ihrer eigentümlich schwebenden Diagnose war zu entnehmen, daß ich nicht nur von Malaria, sondern auch von einer Gehirnkrankheit angegriffen sei, unter deren Folgen ich der Umnachtung anheimfallen würde“. Zur Genesung von diesem unbestimmten Morbus, der zu einer an Hölderlin erinnernde Umnachtung hätte führen können, und von sonstigen „Absonderlichkeiten“, rieten die Ärzte „zu einer sogenannten Luftveränderung“, die den Zwölfjährigen geradewegs nach Tübingen zur Tante mütterlicherseits führte: In ein „Haus, das am Neckarufer unmittelbar neben dem Turm lag, in dem Hölderlin beim Schreinermeister Zimmer vier Jahrzehnte lang bis an sein Lebensende dahindämmerte“. Erst viel später sollte Weiss erfahren, dass sein Onkel, der Gerichtsrat Autenrieth, „der gleichen Familie entstammte, die auch in Hölderlins Leben eine Rolle gespielt hatte“, also Nachfahre von jenem Professor Autenrieth war, der „das Klinikum geleitet hatte, in das Hölderlin eingeliefert und in Zwangsjacke und eine vom Professor konstruierte lederne Gesichtsmaske gesteckt worden war“.501

|| 499 Das Jubiläumsjahr 1970 gehört zu den Anlässen, die Weiss zur Niederschrift eines Stücks zu Hölderlin bewegten; einige der bei Gelegenheit veröffentlichten essayistischen oder künstlerischen Rückbesinnungen auf den Dichter können als weitere Inspiration für Weiss betrachtet werden. Belegt ist der enge Austausch mit Martin Walser, der eine viel beachtete Rede gehalten hatte (Lee 2004, 185– 206 nennt sie zusammen mit Bertaux’ Buch als Anlass der Arbeit Weiss’); möglich ist auch die Lektüre von Stephan Hermlins Hörspiel Scardanelli (Greiner 1978, 103). 500 So Fehervary (1977) 206. Die ebd. betonte Sensationsqualität des Hölderlin-Stoffes und der damit verbundenen topics Revolution und Wahnsinn steht hingegen außer Frage, sie bedingte augenscheinlich die Aufnahme des Stücks; ob Weiss darauf gezielt hat, ist schwieriger auszumachen; allerdings müsste man dann nicht nur Bertaux, sondern das ganze Klima der Hölderlin-Rezeption um das Jubiläum 1970 als Folie berücksichtigen, etwa die offiziellen Ehrungen sowohl in der BRD als auch in der DDR und weitere essayistische bzw. literarische Hölderlin-Stellungnahmen (dazu 3.2.5). M.E. zeugen Weiss’ Notizen, seine Statements und sein Stück selbst von einer für diesen Autor typischen Spannung zwischen vielfacher Inspiration aus den verschiedensten Quellen und Materialien einerseits und der subjektiven Umformung andererseits, worauf er hartnäckig und programmatisch besteht. 501 Die ganze Konstellation erörtert Crăciun (2008) 101; die ‚Requisite‘ kommen dann im HölderlinStück wieder.

412 | Ein Theaterjahrhundert Der Phantasie des Adoleszenten, dem diese Koinzidenz unbekannt war, schwebte allerdings der Dichter bereits als „Geisteskranker“ vor. Diese Eigenschaft, die einzige, von der er damals wusste, übte auf ihn eine „gewisse Anziehungskraft“. Im Rückblick war ihm der Moment noch gegenwärtig, als ich […] hoch oben in einem Baum des Gartens sitzend, zum halbrunden Vorbau des Zimmerschen Hauses hinüberspähte, und mir vorstellte, der Irre würde ans Fenster treten und uns, unter schrecklichen Grimassen, entdecken“ (Weiss 2006, 11743–46).502

Aufschlussreich ist in diesen Erinnerungen mindestens zweierlei. Zum einen wird die „Anziehungskraft“, die von dem geisteskranken Dichter ausgeht, aus der Perspektive von 1970 ausdrücklich im Zeichen der Identifikation gedeutet.503 Weiss selber habe „die ‚strenge Observanz‘, die der Medizin-Professor über den erkrankten Dichter verhängte, [...] unter dem Regiment seines Nachfahren“ erlitten, daraus rührten die eigenen „Schwäche“, „Benommenheit und periodische Verwirrung“ her sowie als äußeres Anzeichen auch die „Magenkrämpf[e]“, in denen er sich zusammenkrümmte. Wichtiger als der Wahrheitsgehalt des Rückblickes selbst ist dabei die Tatsache, dass die Parallelisierung beider Biographien, des von ‚Gesünderen‘ Malträtierten, des durch vermeintliche Behandlung erst recht Erkrankten, des letzten Endes wegen seiner Verschiedenheit/Unangepasstheit Verkannten, Abgestempelten, Diskriminierten, bei Weiss zum Fluchtpunkt der Aneignung der Hölderlin-Figur wurde: Erst als ich mich, Ende März dieses Jahres, mit den Vorarbeiten zu einem neuen Stück, einem Stück über Hölderlin, beschäftigte, kam mir diese Zeit in den Sinn, und es wurde mir bewußt, daß ich seit jener Periode, um 1928, als ich unter der Obhut des Gerichtsrats Autenrieth merkwürdigen Zwängen und Überwachungen ausgesetzt und auf undurchsichtige Weise beschuldigt worden war, Diebstähle begangen zu haben, in einer Beziehung zu Hölderlin stand, den seine Übermänner zum Wahnsinnigen erklärten. (Ebd.)

Zum anderen bleibt diese „Beziehung“ zu Hölderlin bereits in den Erinnerungsfetzen an die Tübinger Erstbegegnung keineswegs bei einer simplen Rückbesinnung auf Vergangenes stehen. Die Dichterfigur bricht in die unmittelbare Gegenwart ein, geradezu plastisch in der phantasierten Erscheinung am Turmfenster „unter schrecklichen Grimassen“, einer geradezu theatralischen Gebärde zwischen Schmerzausbruch, Erschrecken und Warnung. Die durch Bertaux’ Buch ‚bestätigte‘ Einsicht in || 502 Der so genannte Hölderlin-Turm sollte dann zum Schauplatz des achten und letzten Bildes des Hölderlin-Stücks werden; die in der Kindheit phantasierte Szene ist dort nicht aufgenommen, in gewisser Hinsicht jedoch in die Fiktion integriert: Als Reaktion auf die Deutschtümelei Hegels, der in einer der vielen ebenso phantasierten Episoden Hölderlin im Turm besucht, „eilt“ dieser „zum Fenster, reißt es auf, lehnt sich hinaus, wild lachend“ (185). 503 Die Beschäftigung mit Hölderlin „kam erst später, und intensiv wurde sie eigentlich erst, als ich das Stück plante. Viel Identifikation natürlich, vieles was meiner damaligen Situation als ‚Verbannter‘ entsprach“ (Weiss in Roos 1978, 20).

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Hölderlins jakobinische Gesinnung und die Deutung seines Wahnsinns als eine von außen, durch gewalttätige „Übermänner“ applizierte Etikette, die durch die Kindheitserinnerungen intensiviert wurden, gehörten um 1970 zusammen, wurden für persönliche und politische Zwecke reaktiviert und bildeten die Grundachse von Weiss’ Stück. Trotz einiger Oszillationen – vornehmlich bei der Behandlung der Wahnsinn-Thematik504 – und der Neuakzentuierung einiger dramatischer Elemente in der Neufassung505 blieben in Hölderlin Revolution und Repression konstant im Mittelpunkt, und zwar in explizitem Bezug zueinander. Wie in einigen anderen Dramen von Weiss, die keine Dokumentarstücke in engerem Sinne sind, kann man auch in Hölderlin eine autobiographische Strategie der Vergegenwärtigung beobachten. Der

|| 504 Die Frage wäre selbstverständlich zentral für eine Interpretation des Hölderlin-Stücks an sich und für eine Verortung desselben in der Tradition biographisch-psychographischer Fiktion zu Hölderlin; sie muss hier am Rande bleiben, denn der Schwerpunkt liegt auf der produktiven Rezeption von Hölderlins Texten in der Gegenwartsdramatik. Weiss’ Aussagen zur Frage nach dem Wahnsinn sind recht eindeutig: Hölderlins Rückzug im Turm bezeichnet er etwa als „den letzten genialen Schritt in die freiwillige Einkerkerung“ (Weiss 1972, 132). Romantische Lesarten des Wahnsinns im Zeichen von Genie-Vorstellungen lehnt er ab, genauso die euphemistische Rede der Umnachtung, denn: „Nicht er ist umnachtet – die Welt, in der er lebt, ist umnachtet“ (Canaris 1972, 143). Hölderlins Isolation ist für Weiss durch eine „gesellschaftlich bedingte Zwangslage“ zu erklären; diese ungewollte Unmöglichkeit, durch die eigene Dichtung in der Öffentlich wirksam, auch politisch wirksam zu sein, und die damit verbundene Entfremdung von der Außenwelt, etwa von den ehemaligen Gleichgesinnten, die sich der herrschenden Ordnung angepasst haben, führen ihn zur freiwilligen Isolierung (Weiss 1977, 201; in der Nachbemerkung). Im Drama selbst dann sind das 7. und das 8. Bild der szenische Ort, wo der von den meisten anderen für wahnsinnig gehaltene Hölderlin auftritt. Hier ist keine eindeutige Simulation-These mehr auszumachen, was die Forschung m.E. oft übersehen hat, sondern es werden verschiedene Positionen präsentiert, die für eine tatsächliche Störung mit Luziditätsmomenten oder für eine durch und durch „aus wohlbedachten Gründen / angenommne Äusserungsarth“ (168) sprechen, wie ein Zitat aus Sinclairs Briefen im Mund der entsprechenden fiktionalen Figur heißt. Kurz darauf befragt der Sänger Hölderlin „über dein grosses Schweigen / mit dem du dich von der Welt abtrennst / so als ob du sie nicht mehr erkennst“; eine Antwort schiebt allerdings der Dichter auf „wenig[e] Jahren / oder Decaden“ hinaus (170). Somit wird m.E. die Frage unbeantwortet an die Nachwelt weitergegeben. Zu behaupten, dass „an Hölderlins Wahnsinn Peter Weiss genauso wenig wie der historische Isaak von Sinclair“ glaubt, scheint mir für beide eine vereinfachte Darstellung zu sein (Crăciun 2008, 92); vielmehr inszeniert das Stück unterschiedliche Standpunkte. 505 Auch infolge der scharfen Kritik an der Erstfassung, insbesondere an den ‚anderen‘ Dichtern und Denkern, die um Hölderlin herum auftreten und von vielen als Verzerrungen betrachtet wurden, machte Weiss sich im Herbst 1971 an die Neufassung. Zu geradezu grellen Karikaturen waren die genannten Figuren in den ersten wichtigen Inszenierungen geworden. Die Neufassung war im April 1972 abgeschlossen; zu den Änderungen gehört die stärkere Einbeziehung von Landarbeitern als klassenbewussten gesellschaftlichen Akteuren (vgl. Beise 2002, 104–110). Als „Ein Plädoyer für die Erstfassung des ‚Hölderlin‘“ versteht Neumann (2004) seinen Beitrag, wo vor allem aus der Perspektive der politischen Lesart der Hölderlin-Figur die ursprüngliche Stückversion als den Intentionen des Autors näher und in ihrer Provokationskraft wirksamer betrachtet wird. Seit 1972 wird m.W. nur die Neufassung abgedruckt; eine danach erfolgte Inszenierung der Erstfassung ist mir nicht bekannt.

414 | Ein Theaterjahrhundert Autor bezieht die jeweilige historische Persönlichkeit und ihren Kontext auf die eigene seelische, materielle, ästhetische, politische Situation. Darin steckt durchaus der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und damit die Eignung des Dramas dafür, dass die Zuschauer es für ihre Selbstverständigung einsetzen können. In diesem Sinn wurde Hölderlin von der Forschung mit früheren Stücken des deutsch-schwedischen Dramatikers verglichen. In seinem Aufsatz Die zweifache Praxis der Veränderung, der bereits 1972 im Materialienband zu Peter Weiss’ HölderlinStück erschien,506 erblickte Hans Mayer richtungsweisend in den Dramen Marat/Sade, Trotzki im Exil und Hölderlin denselben „Konflikt zwischen der Permanenz einer Schriftstellerei, die umzuwälzen gedachte und die umwälzungsbereit geblieben ist, mit Vorgängen einer Erstarrung, die sich in den Zielen als Restauration verstehen läßt, in den Mitteln als Repression“ (208). Noch Arnd Beise nahm in seiner Monographie von 2002 eine solche Gemeinsamkeit mit ausdrücklichem Bezug auf Mayer wieder auf, indem er die drei genannten Dramen unter dem Stichwort „Schriftstellerstücke“ behandelte und sie vom „Welttheater“ der Ermittlung, des Lusitanischen Popanzes und des Viet Nam Diskurses, aber auch von den Stückfragmenten aus dem Divina-Commedia-Projekts unterschied (84f.). Dass diese „Schriftstellerstücke“ auch als Reflexion des Autors über die eigene Schreibsituation zu verstehen sind, hängt mit der Stoffwahl selbst zusammen. Weiss hat mehrmals darauf hingewiesen, ganz explizit etwa in den Notizen zum HölderlinStück, wo es heißt, dass er sich „beim Schreiben dieses Stücks Hölderlin“ in seine Gegenwart hole und das benutze, was ihn „anregt dazu, eine Gestalt entstehen zu lassen, die eine Problematik ausdrückt“, die für ihn „aktuell ist“ (Weiss 1972, 127). Gerade dadurch unterscheidet es sich, der Autor selbst betont dies, von seiner ‚anderen‘ Dramatik: „Es ist weder ein dokumentarisches, noch ein historisches Stück. Es ist ein Stück aus dem Gegenwärtigen, verfremdet nur durch die Hineinversetzung in eine vergangene Epoche“. Schon hier wird deutlich, dass sich die persönliche, autobiographisch-poetologische und die allgemeine, gesellschaftlich-politische Ebene überlappen, wie auch der darauffolgende Wechsel zur ersten Person Plural zeigt („Hölderlins psychologische Reaktionen sprechen von den gleichen Gefahren, die auch uns bedrohen“) sowie der spätere verallgemeinernde Vergleich mit „vielen heutigen Revolutionären“. Abschließend gewinnt der Selbstbezug wieder die Oberhand: Ich bewerte dieses Stück, mehr als irgendeine andre meiner bisherigen Arbeiten, als Unterlage für meinen eigenen Versuch, die Widerstände, Widersprüche und Verbautheiten ringsum in mein Blickfeld zu rücken und mit ihnen fertig zu werden. (Ebd., 129)

Die „Praxis der Veränderung, betrieben von Schriftstellern“, die aus den drei oben genannten ‚Schriftstellerstücken‘ eine „gesellschaftliche Triade“ formt (Mayer 1972, 208; 213), wird in dem achten und letzten Bild des Hölderlin-Stücks in den Worten des || 506 Der Band enthält Quellen und kritische Materialien, allerdings auf die Erstfassung bezogen.

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Karl Marx resümiert, der in seinem szenischen Gespräch mit dem alten Hölderlin „zwei Wege […] zur Vorbereitung grundlegender Veränderung“ als gangbar nennt. „Der andre Weg “, derjenige Hölderlins, „die visionäre Formung tiefster persönlicher Erfahrung“, die „mythologische Ahnung“ steht als „gleichwertig“ neben dem ersten, dem von Marx: die „Analyse der konkreten historischen Situation“ (191f.).507 Eine solche „Synthese von Schreibkonzepten, die in den vorigen Stücken gegeneinander diskutiert wurden“ (Beise 2002, 85), weist allerdings m.E. über die genannte Triade der „Schriftstellerstücke“ hinaus, vor allem wenn man den Begriff des Visionären stärker in den Vordergrund rückt („visionäre Formung“). Dies kann als Ausgangspunkt für einen anderen Blick auf die „Dramaturgie des Einzelhelden“ bei Weiss betrachtet werden (Gerlach 2005, 212). Denn anders als Marat und Trotzki ist Hölderlin ein Dichter und nicht ‚nur‘ ein schreibender Intellektueller/Revolutionär. Dadurch steht er anderen Dichter-Figuren viel näher, ‚visionären‘ Dichtern, die in der dramatischen Werkstatt der 1960er Jahre auftreten. Die dichterische Leistung, die Marx dem im Turm zurückgezogenen Hölderlin zuschreibt, ist der „innere Zusammenhang“, die Gemeinsamkeit, die die Dramen bzw. dramatischen Entwürfe über Dante, Rimbaud und Hölderlin verbindet (1964–1971);508 auch andere Dichter- und Künstlerfigurationen im sonstigen Werk des Peter Weiss, auf die hier nicht eingegangen werden kann, reihen sich hier ein.509 In den Dramen(entwürfen) und in den Vermerken, die Weiss über diese Dichterfiguren sowie über seine Lektüren und Vorbereitungen dazu notierte, spielt die Kategorie des Visionären eine verbindende Rolle. Diese muss m.E. für eine genauere Verortung des HölderlinStücks in Weiss’ Werk stärker, als bisher in der Forschung der Fall war, berücksichtigt werden.510 Das ermöglicht es auch, die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung dieser Dramatisierung von Hölderlins Leben und Werk zu ermitteln, was für den Schwerpunkt dieser Arbeit, die produktive Rezeption und Transformation seiner Texte für

|| 507 Ein Besuch des 1818 geborenen Karl Marx im Turm, der nie stattgefunden hat, ist zwar chronologisch möglich (die Szene spielt im Todesjahr Hölderlins, Marx wäre also 25 Jahre alt gewesen). Weiss geht es hier allerdings nicht um historische Wahrscheinlichkeit, sondern um die allegorische Bedeutung der Begegnung; im zweiten Akt geht die Lebenschronik insgesamt ins Gleichnishafte über. Weiss mag in einer seiner Quellen davon gelesen haben, dass Marx im März 1843 auf einen Brief von Arnold Ruge, in dem dieser von der ‚Scheltrede‘ aus Hölderlins Hyperion inspiriert über die politischen Verhältnisse klagte, ziemlich brüsk reagierte: „Ihr Brief, mein treuer Freund, ist eine gute Elegie, ein atemversetzender Grabgesang, aber politisch ist er ganz und gar nicht“ (Lukács 1935, 43). 508 Die Arbeit am Divina Commedia-Projekt erstreckt sich vom Frühling 1963 über die Niederschrift u.a. von Inferno und das Herausschneiden der Ermittlung aus dem Paradiso-Projekt bis zum Sommer 1969 (vgl. Müllender 2007, Weiß 2003, Castellari 2008a). Die Entwürfe zu Rimbaud (1969) wurden postum ediert (Weiss 1982a und 1982b). 509 Vgl. etwa zu Strindberg und Kafka Crăciun (2008), z.B. 109 zur Inspiration bei Fröken Julie. 510 Lediglich Ansätze dazu findet man in den Beiträgen, die Hölderlin als Dichterdrama behandelt (zuletzt Crăciun 2008).

416 | Ein Theaterjahrhundert die bzw. auf der Bühne, von Bedeutung ist. Im Unterschied zu früheren Dichterdramen zu Hölderlin hatte Weiss’ Hölderlin-Drama – bei aller Fragwürdigkeit seiner Operation aus der Perspektive dessen, der auf Entsprechung der ‚Fiktion‘ mit der ‚Wirklichkeit‘ aus ist – Folgen für die spätere Rezeption, denn es wurde zur Folie einer auf den Nexus Leben-Kunst-Politik gerichteten Arbeit an Hölderlin in Dramen und in Inszenierungen der 1970–80er Jahre (3.2.5). Dies rührt nicht zuletzt daher, dass Weiss für sein Dichterdrama zu Hölderlin nicht nur ‚typisch‘ biographische Materialien wie den Briefwechsel oder als Ausdruck der Dichtersubjektivität gelesene Passagen aus der Lyrik und aus dem Briefroman Hyperion als sprachliches und inhaltliches Material (zusammen mit vielen anderen Quellen) be- und in die eigene Dramaturgie einarbeitete – und damit schärfste Kritik erntete. Über diese intertextuell kühne Vermischung und Umstellung disparater Quellen hinaus übernahm Weiss auch Hölderlins fragmentarische Empedokles-Texte,511 wobei er sie in ihrer Theatralität herausstellte und durch eine metatheatralische Struktur zum Angelpunkt der ganzen Dramensemantik machte, der subjektiven Aktualisierung Hölderlins.512 Die „visionäre Formung“, die im Hölderlin-Stück als besondere Fähigkeit des Dichters gleichrangig mit der wissenschaftlichen Einsicht gewürdigt wird, kennzeichnete spätestens seit Mitte der 1960er Jahre die Arbeit von Weiss an Dichter-Vorbildern, bei denen er Hilfe bei der Versprachlichung der ihn beschäftigenden Fragen an der Grenze des Formulierbaren sucht, an dem Ort, wo dem Wortkünstler Schweigen droht. So ist 1964 in den Vorbereitungen zum dreiteiligen Drama divina commedia von den „Gesichten […] in den Träumen seiner Zeitgenossen“ die Rede, denen Dante noch Form zu geben wusste, da „Kunst […] ein Mittel“ war, „Gesichte zur Sprache kommen zu lassen“ (Weiss 1968b, 135), und zwar in krassem Gegensatz zu Weiss’ eigener Situation, des vor dem Unbegreiflichen der Shoah vorerst Verstummten. Wie es dort kontrastierend heißt: „Ich aber / hatte keine Gesichte, nur Fakten gab es, trübe, zerronnen, und Gestalten / die gelebt hatten, in äußerster Erniedrigung, die pulvrisiert / worden waren und zerstoben in Rauchwolken. Keine Gesichte / nur stockende Aussagen von einigen wenigen Überlebenden“ (136). Ein „gegen den Strich gelesener“ Dante (1968a, 148) sollte Weiss dabei helfen, selber auch „Worte zu finden für

|| 511 Dass Weiss gerade den Empedokles-Bruchstücken besondere Bedeutung zumaß, sowohl inhaltlich als auch strukturell, hat verschiedene Gründe. Sicher spielte dabei auch eine Rolle, dass Bertaux ihnen attestierte, sie seien „in der Perspektive der erwarteten Schwäbischen Republik [...], als Festspiel etwa“ geschrieben (zit. bei Crăciun 2008, 104); bereits Greiner (1978) 101 hat aufzeigen können, wie Weiss dem mittleren, ‚politischeren‘ Werk insgesamt mehr Beachtung schenkt und sein Blick auf das Oeuvre mit der „Empedokles-Phase“ kulminiert und beinahe endet. Tatsächlich ist das Spätwerk bei Weiss kaum präsent, was sich auch daraus erklären lässt, dass sich Werke wie Hyperion, Empedokles, die mittlere Lyrik und die Briefe sprachlich leichter in ein Dichterdrama einarbeiten lassen. 512 Bereits die ansonsten veraltete Studie Kehn (1975), eine der ersten tiefgründigen Auseinandersetzungen mit Hölderlin als Dichterdrama, stellte die „subjektivistische Aktualisierung“ als Grundstrategie heraus (9ff.)

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einen Stoff, der allen gehörte, doch ungreifbar schien“ (1968b, 135) und aus den Materialien des Frankfurter Prozesses das dramatische Oratorium Die Ermittlung herauszudestillieren. Dante kehrt als visionärer, prophetischer Dichter in den Skizzen zu einem Stück über Rimbaud wieder, zwei Entwürfe, die Weiss im Herbst 1969 wenige Tage nach der so genannten Dante-Prosa, dem letzten Anlauf zum versandeten Divina-CommediaProjekt, ausarbeitete, und denen im Frühling 1970 die Niederschrift des HölderlinDramas folgen sollte. „Dante neuschreiben / Der Seher / Die andere Welt“ heißen dort die Stichworte zu einem geplanten Dramenteil, während in der ausformulierten dritten Szene des fragmentarischen Rimbaud-Stücks (BEIM LEHRER IZAMBARD) der französische Dichter wieder Dante an erster Stelle unter den wenigen „Ausnahmen“ erwähnt, die keine „schreibtüchtigen Beamten“ und „Poesiefunktionäre“ sind, obwohl „die Zeit der Seher […] seit zweitausend Jahren vorbei“ ist. Rimbaud, der in Peter Weiss’ Notizbüchern als Seher und visionärer Dichter auftaucht, wird wiederholt in einem Atemzug mit Hölderlin genannt, auch im ausdrücklichen Nachfolgerverhältnis, da Rimbaud sich, „wie übrigens Hölderlin auch, weit über seine Epoche hinaus[strecke]“, während Hölderlin bereits das „vorweg[nehme], was Rimbaud auslebte“ (Weiss 2006, 7882). Auffällig ist über die entstehungsgeschichtliche Verbindung der (Bruch)Stücke hinaus ihre gemeinsame Konzentration auf einen poetisch-politisch visionären Typus, der dank seiner intellektuellen Biographie zum Protagonisten einer allegorisch aktualisierenden Dramenhandlung wird und in einer „Praxis der Reihenbildung“513 mit anderen engagierten Sprachkünstlern verglichen wird. Im Mittelpunkt der Aktualisierung stehen die Fragen der jüngsten (deutschen) Geschichte und der Gegenwart, am Ende der Dichterreihe Peter Weiss selbst. Im 1964 entstandenen und vor wenigen Jahren erstmals veröffentlichten Inferno wie auch in den von Yannick Müllender edierten zusätzlichen Zeugnissen der Arbeit am Inferno-Teil des DivinaCommedia-Projekts kommt mit einer einzigen Ausnahme Dante als Hauptfigur vor. Alle Texte thematisieren sein höchst politisches, mitunter stark auf die deutschen Verhältnisse des 20. Jahrhunderts aktualisiertes Dichterleben.514 Beide vorliegenden Rimbaud-Entwürfe sind trotz ihres noch skizzenhaften Stadiums als Versuche zu erkennen, den homme aux semelles de vent als zentrale Gestalt einer chronikhaften Handlung zu nehmen, die seiner Poesie und seiner Utopie zugleich gerecht werden möchte; sie bilden auch das Scharnier zwischen dem Dante- und dem Hölderlin-Pro-

|| 513 Den Begriff der Reihenbildung entnehme ich Martin (2015), wo er im Rahmen der Büchner-Wedekind-Konstellation und mit kritischem Blick auf die solchen Reihenbildungen innewohnende Pauschalisierung erarbeitet wurde. 514 Vgl. Müllender (2007), Castellari (2008a); im Vergleich zu den Hölderlin und Rimbaud-Folien Castellari (2010c).

418 | Ein Theaterjahrhundert jekt. Das Hölderlin-Stück stellt in dieser Reihe das dritte und einzige zeitlebens veröffentlichte und aufgeführte Dichterdrama von Weiss dar. Als Beispiel dieses besonderen Genres ‚Dichterdrama‘, dessen ästhetisch-politische Aktualität im deutschsprachigen Drama und Theater der 1960–70er Jahre nicht betont zu werden braucht,515 wurde es in den Arbeiten von Manfred Kux (1980) und von Uwe Japp (2004) sowie zuletzt eingehend von Joana Crăciun (2008) untersucht.516 Mit ihrem ausführlichen Hölderlin-Kapitel hat Crăciun teilweise Arnd Beises Desideratum erfüllt, der 2002 schrieb, „eine gründliche literaturwissenschaftliche Untersuchung des ‚Hölderlin‘ [stehe] noch aus“ (107). Der Leser findet bei Crăciun neben der Behandlung von Prämissen und Entstehung des Dramas eine sorgfältige Analyse aller Szenen bzw. Bilder, aus denen das Stück besteht. Von einem Prolog (11–13) und einem Epilog (197–199) umrahmt, folgen acht Stationen der Dichtervita aufeinander.517 In der ersten Szene ein ganz besonderer Tag aus den Tübinger Studienjahren (14. Juli 1793, 13–36),518 in der zweiten die Zeit als Hofmeister in Waltershausen bei den von Kalbs (1794, 36–58). Dann zwei Stationen in Jena im Herbst desselben Jahres: In der dritten Szene steht das Treffen mit Goethe bei Schiller im Mittelpunkt (3. November, 59–72), in der vierten die Universität, mit Fichte und den Ordensstudenten (72–87). In der letzten Szene des ersten Aktes kommt es zur fünften Episode bei den Gontards in Frankfurt (September 1798, 87–118). Der zweite Akt schließt zwar zeitlich noch daran an – mit der sechsten Szene, die in Homburg spielt (November 1799, 121– 154) –, dann lockert sich jedoch die dichte Aufeinanderfolge. Bereits in dieser Homburger Szene wird durch die Sprengung der Fiktion eine Wende von der Lebenschronik zur Lebensallegorie vollzogen. Die siebte (154–170) und achte Szene (171–197) spielen dann in späteren Jahren in Tübingen: Zuerst in der Autenriethschen Klinik, also zwischen Ende 1806 und Mitte 1807, dann im Turm. In dieser letzten Szene werden Begegnungen und Gespräche aus der mehr als dreißigjährigen „freiwillige[n]

|| 515 Um nur zwei resonanzreiche Beispiele zu nennen: Peter Palitzsch inszenierte am 9. November 1968 Tankred Dorsts Toller in Stuttgart, am 30. März 1969 spielte Bruno Ganz die Titelrolle in Goethes Tasso (Regie Peter Stein, Bremen). 516 Japp (2004) nimmt Künstlerdramen unter die Lupe (Einzelanalysen von Christian Felix Weiße bis zu Thomas Bernhard; zu Weiss 235–242, sehr kritisch). Auf die Nachkriegsdramatik konzentriert sind Kux (1980) und Crăciun (2008). 517 Die Forschung hat auf die strukturelle und punktuelle Anlehnung an das epische Theater Brechts aufmerksam gemacht. Weiss hat spätestens seit dem Marat/Sade gezeigt, mit diesen Techniken souverän umgehen zu können. 518 Anlässlich des Besuchs des Herzogs Karl Eugen, am vierten Jahrestag des Bastille-Sturms, kommt es zu nicht nur verbalen Auseinandersetzungen mit und zwischen den Stiftlern. Am Ende der Szene wird der Tod Marats verkündet. „‚Hölderlin‘ börjar med Marats död“ (Hölderlin beginnt mit Marats Tod): So behauptete Weiss selber in einem Interview mit Disa Håstad 1972; dies wurde mehrfach in der Forschung für die Interpretation aufgegriffen.

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Einkerkerung“ bis zum Tod 1843 dargestellt bzw. phantasiert.519 Die beiden letzten Szenen sind durch die Überlappung mehrerer Zeitebenen gekennzeichnet, denn sowohl Erinnerung an das frühere Leben des Dichters als auch Antizipationen von dessen postumer Rezeption bestimmen die Klinik- bzw. Turmgegenwart. Auch der historisch unauthentische Besuch von Schelling und Hegel beim alten Studienfreund sowie der bereits erwähnte, phantasierte Auftritt von Karl Marx kennzeichnen den endgültigen Übergang aus dem Chronikhaften ins Allegorische – es sei denn, man liest sie ‚realistisch‘ als Visionen/Halluzinationen des Dichters.

Abb. 9: Hölderlin (Stuttgart 1971). Regie: P. Palitzsch. Inszenierungsplakat

|| 519 Hölderlin redet zuerst mit der ihn pflegenden Christiane Zimmer, dann wird er mit Studenten konfrontiert, in deren Parolen die dunklen Seiten der Hölderlin-Rezeption im Nationalismus antizipiert werden. Zehn Jahre verstreichen dann bis zum Gespräch mit Hegel und Schelling, wohl ideell in den 1820er Jahren zu verorten (Hegel verstarb 1831). Das abschließende Gespräch mit Marx findet ausdrücklich im Todesjahr statt.

420 | Ein Theaterjahrhundert Diese acht Stationen von Hölderlins Leben werden bei Crăciun mit großer Sorgfalt im Spannungsfeld von „historische[r] Wirklichkeit“ und „dramatische[r] Fiktion“ beleuchtet, wie der Titel ihrer Untersuchung besagt. Dadurch gelingt ihr tatsächlich die Herausarbeitung des ständigen Wechselverhältnisses von „Poesie“ und „Revolution“, die einem Weiss-Zitat zufolge zusammengehören und die semantische Struktur des Stücks sowie das Programm der ‚Einholung‘ Hölderlins in Weiss’ Gegenwart bedingen.520 Dabei kommt – durch Quellenarbeit ausgezeichnet untermauert – das zum Vorschein, was bereits in vielen zeitgenössischen Pressereaktionen und in späteren kritischen Bemerkungen dem Autor vorgeworfen wurde, mitunter lautstark und empört.521 Weiss habe, vornehmlich aus Gründen der politischen Überzeichnung, die Hölderlin-Figur in einem Maße zugespitzt, dass sie mit dem historischen Dichter kaum mehr was zu tun habe; gleichzeitig habe er aus seinen Mitstreitern, etwa Schiller und Goethe, Fichte und Hegel, stockreaktionäre bis angepasste Bürger gemacht, wobei das Plakative vielleicht der dramatischen Spannung, aber sicher nicht der historischen Treue diene.522 Crăciun zeigt deutlich, wie Weiss all dies durch Bearbeitung

|| 520 „Poesie und Revolution gehören zusammen“ (Spiegel-Interview vom 13. September 1971, vgl. Crăciun 2008, 106). 521 Zur zeitgenössischen Rezeption in der Presse vgl. Packalén (1991). Kritische Stimmen wurden bereits im oben angeführten Materialienband laut. Unter den neueren Untersuchungen ist Oellers (1992) nüchtern kritisch, Japp (2004) polemisiert stärker gegen den Dogmatismus des Autors. Die Weiss-Forschung hat in manchem versucht, etwa mit Neumann (1994 und 1999), andere Akzente zu setzen; Hölderlin bleibt allerdings eines der am wenigsten erforschten Stücke. Die Hölderlin-Forschung hat Weiss’ Stück meist aus großer Distanz betrachtet. 522 Weiss war sich dessen vollauf bewusst, dass es sich um eine Strategie handelte, die seiner subjektiven Aktualisierung des Dichters und dessen Kontextes diente. Noch während der Entstehung der ersten Stückfassung nannte er unter den „Einzelheiten [...], die verändert werden müssen“, auch die „Verschärfung in der Zeichnung der Kontrahenten“. Weiss fragte sich, ob es „überzeugend, [...] statthaft [ist], Hegel, Schelling, Schiller, Goethe und Fichte in dem Sinn gegen Hölderlin auszuspielen, wie es das Drama verlangte“, und bleibt trotz dieser Zweifel bei der Priorität der Hölderlin-Figur, die allein in ihren Facetten aufgezeigt werden kann. „Trotz der Bedeutung, die diese Klassiker in der Geschichte besitzen,“ heißt es weiter, „habe ich darauf verzichtet, ihren Entwicklungsgang ausführlich zu beleuchten, ich habe von ihnen nur einen Aspekt gezeigt, und zwar denjenigen, in dem ihre negative Auswirkung auf Hölderlin zutage tritt.“ Die Zuspitzung der „Kontrahenten“-Figuren, die im Laufe der Arbeit nur teilweise zurückgenommen werden sollte, hängt also von Hölderlin ab, auch in dem Sinne, dass die Welt um den Dichter aus der Hölderlin-Perspektive erscheint: Aus jener, die Weiss als die subjektive Perspektive des Dichters betrachtet und als solche ihn, den subjektiv aufnehmenden, interessiert. Hegel, Goethe Schiller usw. sind für ihn fiktive Figuren, die mit den Augen einer ebenso fiktiven Figur gesehen werden. Eine ganz andere Problematik ergäbe sich, wenn man die jeweiligen Personen in ihrer Historizität betrachten würde. Zu Hegel heißt es etwa: „Sein philosophisches Werk steht hier nicht zur Diskussion“; zu den beiden anderen, es gehe „nicht darum, dem Werk Schillers und Goethes gerecht zu werden, sondern sie nur in den Situationen zu zeigen, da sie dem jungen Poeten gegenüberstanden“ (Weiss 2006, 11766).

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und Umstellung von ‚dokumentarischen‘ Materialien bzw. literarischen und philosophischen Texten der jeweiligen historischen Figuren sowie durch Einfügung gänzlich neuer Passagen erzielt hat. Diese neuen Passagen werden durch orthographische, lexikalische und teilweise stilistische Kontrafaktur als Texte aus der Zeit um 1800 maskiert – eine Strategie der Verfremdung,523 die eine Interpretation des Hölderlin-Stücks lediglich anhand von dessen Entsprechung mit der „Wirklichkeit“ oder den „Quellen“ unangemessen erscheinen lässt; auch Autorenaussagen zur ‚subjektiven Aktualisierung‘ als Grundtendenz des Dichterdramas sowie sein Verfahren bei dessen Konstruktion stehen dem entgegen.524 Hinter dem von Crăciun brillant erforschten „üppige[n] Formenpluralismus“, anhand dessen das „dicht[e] Geflecht an Zitaten und Anspielungen“ aus disparaten Quellen zu typologisch recht unterschiedlichen szenischen Episoden montiert wird (2008, 31), steckt nämlich ein Verhältnis zum historischen und literarischen Material, das mit dem von Weiss selbst theoretisch begründeten dokumentarischen Theater nichts zu tun hat,525 geschweige denn mit Ansprüchen philologischer, historischer oder geistesgeschichtlicher Art. Keine wissenschaftliche Rekonstruktion ist angestrebt, sondern Überlegungen zum Dichter und zur goethezeitlichen Konstellation, die aus der Perspektive der Gegenwart von Belang sind. Auch darin ist das Hölderlin-Stück mit den weiteren Dichterdramen von Peter Weiss verwandt. Nicht nur ist ihnen also die Konzentration auf die Figur eines Visionärs gemeinsam, die die aktualisierende Geste seitens des modernen Dramatikers ermöglicht. Dass diese Dichter von der Realität ausgehend Bilder des Möglichen/Künftigen entwarfen, macht ihre Visionen aus der Gegenwartsperspektive noch fruchtbar. Weiss verfährt mit ihren Werken und dem historischen Wissen um sie herum auf die-

|| 523 Neumann (1994) legt dar, wie die „Verwendung historisierender Sprachformen [...] keineswegs zur Vortäuschung geschichtlicher Wahrheit“ dient, und führt bekräftigend Aussagen des Autors an (78). Dies schließt nicht aus, dass das Ergebnis nicht immer überzeugend ist: Bei Oellers (1992) ist von der „Banalität einiger Verse“ die Rede, ebenso problematisch in ihrer Wirkung ist auch die ebd. angemerkte „von Weiss beabsichtigte Reizwirkung, der er sich wohl vom häufigen Wechsel des Sprachniveaus und des Sprachklangs erhofft hat“ (86). 524 Crăciun (2008) 110 beteuert zwar, es gehe in ihrer Analyse „weniger darum, Peter Weiss in seiner Eigenschaft als Hölderlinkenner unter die Lupe zu nehmen und ihn gegebenenfalls als Nichtkenner zu entlarven“. Die Analysen der einzelnen Szenen folgen jedoch dem oben erörterten Dualismus Fiktion-Wirklichkeit (vgl. etwa zu Schiller, 144–46). 525 Vgl. die Notizen zum dokumentarischen Theater (1968). „Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder“. Auch diese Art der Materialbenutzung habe allerdings subjektive Aspekte (die „kritische Auswahl“, die Montage-Technik), die gerade „die Qualität der dokumentarischen Dramatik“ ergäben und die letzten Endes qua ästhetischer Fiktion unverzichtbar sind: „[Das dokumentarische Theater wird] doch zu einem Kunstprodukt und es muß zum Kunstprodukt werden, wenn es Berechtigung haben will“ (Weiss 1971, 92–96).

422 | Ein Theaterjahrhundert selbe Art und Weise. Im Dante-Drama Inferno etwa, dem am weitesten ausformulierten neben Hölderlin, ist zwar die Präsenz des Dichters auf der Bühne durch die Struktur seines Hauptwerkes quasi vorgegeben, da in der Divina Commedia Dante bekanntlich sowohl als historische Dichterpersönlichkeit als auch als fiktive Figur der Jenseitsreise auftritt. In Weiss’ Inferno ist dann eigentlich keine Bearbeitung dieser Vorlage zu finden; vielmehr lässt der moderne Dramatiker Dantes Gesichte in einem grotesk-bedrohlichen, aktuellen Handlungskontext erscheinen, einer Gegenwart der 1960er Jahre, wo ihre evokative Kraft von der uniformierenden Sprache der Machtdiskurse ständig gefährdet ist. Weiss’ ‚Gespräch‘ mit Dante ist in diesem Sinn eine Reflexion über Dichtung als utopische Wahrheitssuche in undichterischen, weil uniformierenden, gegen Andersdenkende gewaltsamen Zeiten: eher ein Drama über die Möglichkeit eines ‚gegen den Strich gelesenen‘ Dante als eine Dante-Bearbeitung oder gar -Biographie im dramatischen Gewand.526 Hölderlin ist nicht minder eine Reflexion über den Dichter aus der Gegenwartsperspektive, keine Rekonstruktion seiner historischen Figur. „Mein Stück“, so Weiss selber in den Notizen zum Hölderlin-Stück, „ist zu verstehen als ein persönlicher Kommentar zu Hölderlins Gedichten, zu den Dokumenten über sein Leben“. Der Kommentargestus, der hier exponiert wird, sei durch Quellenkenntnis berechtigt: „Ein großer Teil der Literatur über Hölderlin“ sei ihm bekannt, er habe „die wissenschaftlichen Erläuterungen, die Lesarten der Gedichte studiert“. Dies hat allerdings nichts mit der distanzierten Praxis philologischer, editorischer und erläuternder Arbeit zu tun – etwa der Stuttgarter Ausgabe, Weiss’ Hauptquelle, auf die er mit den Stichworten „Erläuterungen“ und „Lesarten“ anspielt.527 Bereits hier ist von einer „persönliche[n]“ Auseinandersetzung die Rede; weiter unten weist Weiss noch expliziter daraufhin, dass er Hölderlins Texte „subjektiv aufgenommen“, die „eigenen Erfahrungen in sie hineingelesen“ habe (Weiss 1972, 127). Kommentar meint hier also eine produktive Transformationsstrategie der Quellen im Zeichen der Aktualisierung, die dem bereits besprochenen Verhältnis zwischen Material und Kommentar bei Brecht bzw. Heiner Müller vergleichbar ist: für alle gilt das bereits zitierte Motto Brechts: „Philologische Interessen konnten nicht bedient werden“. Gegenüber der Praxis der beiden anderen Dramatiker allerdings, die ihre Hölderlin-Bearbeitungen aus einem Zusammenspiel von zitierender, variierender und imitierender Aneignung der Vorlage in ihrer sprachlichen und gedanklichen Dichte konstruiert und darin auch den für die eigenen dramatischen und theatralischen Zwecke

|| 526 Vgl. das Gespräch über Dante (Weiss 1968a, 148) sowie dazu Weiß (2003) und Castellari (2008a). 527 In der dem Stück angehängten Bibliographie ist die Große Stuttgarter Ausgabe verzeichnet. Diese bekam Weiss auf seinen Wunsch vom Verlag zugeschickt, wie man im Briefwechsel mit Siegfried Unseld lesen kann: Weiss wollte ausdrücklich eine Vorlage haben, welche die „authentische Schreibweise“ Hölderlins festhalte (vgl. Gerlach 2007).

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fruchtbaren Ertrag erblickt hatten, ist Weiss’ Verhältnis zum Textmaterial „Hölderlin“ ein ganz anderer. Nicht nur in dem offensichtlichen Sinn, dass er keinen bereits existenten Theatertext in der Übersetzung Hölderlins bearbeitet, sondern ein Hölderlin-Stück schreibt. Auch in der konkreten Handhabung textueller Materialien für die Konstruktion des Dichterdramas und in der Funktion, die diese Materialien dort erhalten, sind die Unterschiede markant. Weiss behauptet etwa, dass „Hölderlin selbst kaum zitiert wird“ – was je nach Abwägung des Wörtchens „kaum“ mehr oder weniger stimmt –, nennt aber dessen „Schriften [...] den Vordergrund des Stückes“; sie seien es, „die zunächst gelesen werden müssen, will man ein Bild von seiner Bedeutung besitzen“. Nicht nur erhebt Weiss „keinerlei Anspruch darauf, ein Hölderlinkenner zu sein“, er könne „dieses Werk immer nur teilweise aufschlüsseln“, überhaupt „nicht sagen, daß ich es im Ganzen verstehe. Einige Zeilen genügen mir, selten nur habe ich ein Gedicht, mit all seinen Wortbildern, all seinen Ausblicken und Vertiefungen, all seinen Schwankungen in der zeitlichen und räumlichen Dimension, vom Anklang bis zum Abtönen, fassen können“ (ebd.).528 Denn Weiss arbeitet an Hölderlins Texten keine eigene erhöhte (Bühnen-)Sprache heraus, dieser stilistische Anschluss ist bei ihm kaum angestrebt. Eine andere Form der produktiven Transformation bahnt sich hier an, die mutatis mutandis mit den ‚postdramatischen‘ Strategien vergleichbar ist, die seit Ende der 1980er Jahre auch in der dramatischen Hölderlin-Rezeption zu beobachten sind.529 Weiss lässt diesen anderen ‚Klassiker‘530 inmitten angepasster Zeitgenossen bruchstückhaft wirken, seine vereinzelten visionären Blitze entwerfen utopische Gebilde in einer Landschaft konformistischer Sprach- und Verhaltensweisen. Sein Material gewinnt Weiss aus einer Konfrontation mit dem Oeuvre Hölderlins, die auf eine allgemeine, letzten Endes

|| 528 Auch darin zeigt sich eine Ähnlichkeit mit dem früheren Dichterdrama zu Dante und der Arbeit an dessen Meisterwerk: 1965 berichtete im Gespräch über Dante die fiktive Maske des Autors, ihm sei es „noch nicht geglückt“, „die ganze Komödie zu lesen“, er kenne „nur den Inferno-Teil“, „so wie ein heutiger Leser ein solches Werk eben kennt“, denn „einzelne Episoden stehen deutlich da, andere bleiben unverständlich“, um von Purgatorio und Paradiso ganz zu schweigen, denn dort verliere „sich die Dichtung immer mehr ins Ungreifbare“ (Weiss 1968a, 142f.). 529 Crăciun (2008) 109 kommt auf ähnlichen Wegen zur Definition „postmodernes Drama“. Die Strindberg-Folie, die sie in Hölderlin erkennt (Bezug sei Fröken Julie), weitet sie daraufhin aus, dass Weiss die bereits beim schwedischen Dramatiker nachweisbare intertextuelle Konstruktion der Gestalten aus verschiedenen dokumentarischen und literarischen Quellen und aus der Inspiration aus dem wirklichen Leben fortsetze. Dies scheint mir jedoch unterschiedliche Strategien pauschal zu parallelisieren. Es handelt sich bei Weiss’ Verwendung des Hölderlin-Materials um eine zwar sehr freie und subjektive Aneignung; die Funktion dieser Aneignung bleibt jedoch vollauf im Rahmen einer traditionellen Figurencharakterisierung und eines dramatischen Handlungsaufbaus. 530 Weiss hat nicht nur seine Hölderlin-Figur anders als seine kolportierten Kontrahenten nuancenreich und dynamisch gestaltet, sondern auch unterschiedliche Modi bei der Bearbeitung der Hölderlin-Texte erprobt. Diese werden nicht als ‚historische‘ Quellen‘, sondern als aktuelle Visionen betrachtet, die die dramatische Gestaltung prägen.

424 | Ein Theaterjahrhundert aktuelle Bedeutung zielt: „Ich greife aus dem Werk [...] immer nur Visionen heraus, auf die mein Blick gerade stößt. Diese Visionen sprechen immer von der Gesamtheit“ (ebd.). Ähnlich wie in der Dante-Aktualisierung wird gleichzeitig mit der dichterischen Fähigkeit, sich das Andere/Mögliche vorzustellen, auch die Gefahr thematisiert, der sie gerade kraft ihres visionären Wesens ausgesetzt ist. Auf diese Weise erklären sich die kontinuierliche Frustration Hölderlins, die im Stück durch die Verhältnisse und durch viele den Dichter umgebende Figuren innerhalb der biographischen Fiktion ausgelöst wird, und die zusätzliche, die Fiktion sprengende Thematisierung der postumen entstellenden Rezeption Hölderlins (4. und 8. Szene). Als Beispiel dafür mag die sechste und längste Szene des Stücks gelten, die durch ihren Empedokles-Bezug hier besondere Beachtung verdient. Hier kommen die erörterten Grundaspekte von Weiss’ Arbeit am Hölderlin-Material klar zum Vorschein; dabei stellt sie auch ein Beispiel für die produktive Rezeption von Hölderlins Dramatik dar und nicht nur, wie hingegen die restlichen Stückszenen, die mehr oder weniger überzeugende Etappe eines Dichterlebens, in der auch dessen Wort-‚Visionen‘ zur Sprache kommen. Interessanterweise wird hier Der Tod des Empedokles auf eine Art und Weise für die Gegenwart reaktiviert, die man nicht mit der ‚herkömmlichen‘ Kategorie der Bühnenbearbeitung fassen kann und die dementsprechend mit keiner früheren Empedokles-Kompilation für das Theater zu vergleichen ist. Hölderlins Trauerspielfragment dient Weiss als Modell subjektiver Aktualisierung einer Dichter(Denker)-Figur, in der dank der visionären Kraft des Wortes die Bedeutung des jeweiligen Vorbildes für die Gegenwart in Szene gesetzt wird. Weiss lernt sozusagen diese Aktualisierungsgeste bei seinem fiktiven Hölderlin. Die Hölderlin-Figur tritt in dieser sechsten Szene ausgeprägter als in den anderen als Dichter, genauer als Dramatiker auf. Den 1799 nach Bad Homburg „herbeigereisten Freunden“, wie der epische Sänger am Szenenanfang ankündigt, legt Hölderlin „den Grund des Empedókles dar“ (125).531 Dies geschieht zuerst dadurch, dass der Dichter auf gezielte Fragen eines Chors über ‚seine‘ Figur Empedokles antwortet.532 Diese elementare, auf den ersten Blick in die Ursprünge des abendländischen Theaters zurückreichende dramatische Technik, in der ein Einzelner und ein Chor ins Gespräch kommen, bekommt in der Spiel-im-Spiel-Struktur der Szene besondere Akzente, wobei eine komplexe Durchdringung der Fiktionsebenen entsteht;533 sie wirkt

|| 531 Die Benutzung von Akzentzeichen soll der Wiedergabe der von Hölderlin benutzten Betonung dienen. Die Anspielung auf den Grund zum Empedokles ist m.E. kein Beweis dafür, dass sich Peter Weiss damit beschäftigt hat. 532 Weiss selbst sagt in der Nachbemerkung zum Stück, dass die Einfügung des Chors in ‚seiner‘ Empedokles-Szene direkt von Hölderlins „Skizzen zum Trauerspiel“ abhängt (210); vgl. auch die nächste Anmerkung. 533 Vgl. Crăciun (2008) 177–188, wo dieses „Maximum an Fiktionalität“ mit der Beispielhaftigkeit der Szene als „politisches Gleichnis“ verbunden wird: Die Metatheater-Struktur fasse „die ganze Problematik“ des Stücks zusammen.

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sogar noch komplexer, wenn man die Inszenierungssituation dazu nimmt.534 Rede und Gegenrede werden innerhalb der Fiktion von den Freunden Hölderlins als ein imaginäres Gespräch wahrgenommen: Die Regieanweisungen betonen ausdrücklich, dass es „die Aufgabe des Chors ist, […] Hölderlins eigene Vision und Stimme zu erweitern. Für die Zuhörer ist der Chor nicht anwesend. Sie nehmen dessen Aussagen als Äußerungen Hölderlins auf“ (122). Entsprechend reagieren im Laufe des Empedokles-Zwischenspiels die Anwesenden, darunter Hegel und Schelling, indem sie sich an Hölderlin wenden und das Gehörte, die „Vision“, kommentieren. Hinzu kommt verkomplizierend der Umstand, dass einige fiktive Figuren von Hölderlins fragmentarischer Tragödie Der Tod des Empedokles in dem an sich schon fiktionalen Raum des Dichterdramas auftreten, meistens eingeführt durch Reden Hölderlins oder des Chors.535 So werden von Hermokrates, Pausanias, einem Bauer und schließlich Panthea Redepartien vorgetragen, die teilweise aus variierenden Zitaten aus der Vorlage Hölderlins bestehen. Nicht so Empedokles: Hölderlin ist hier Träger seines Parts, indem er wie ein Darsteller à la Brecht die eigene Rolle spielt und zugleich in der dritten Person kommentiert. Die anderen Sprecher treten aus dem Chor vor, werden also streng genommen auf der fiktionsinternen Ebene von den Anwesenden immer noch als Stimmen/Visionen Hölderlins wahrgenommen – eine Art Empedokles-Hörspiel im Spiel, wobei alles in Präsenz ausgetragen wird. Die Kommentare der Freunde, von Neuffer etwa oder von Schmid, von Schelling oder von Hegel, stellen dementsprechend Eingriffe in eine Debatte mit Hölderlin über Empedokles und den Empedokles dar, über die Figur und die literarische Behandlung derselben.536 || 534 Gerade das Auftreten des Chors, das in der Inszenierung von „Arbeitern und Arbeiterinnen besetzt“ wird, „um anzuzeigen, an wen Hölderlin sich nun mit seinem zentralen Thema wendet“, erzeugt unterschiedliche Schichtungen. Ist auf der Dramenebene Hölderlins Selbstgespräch von dem „Argument der Angepaßten“ (seiner Freunde) versetzt, wird in der szenischen Realisierung durch die Präsenz von Chorfiguren das Selbstgespräch zu einem theatralischen Gespräch, die die Anwesenden wie Zuschauer kommentieren. Die Spiel-im-Spiel-Situation, die daraus entsteht und sich weiter zu einer Empedokles-Darbietung entwickelt, ist auf der Inszenierungsebene im metatheatralischen Dialog Hölderlins mit dem außerhalb der biographischen Fiktion stehenden Chor vorbereitet. Die politische Dimension, die Weiss’ in der hier zitierten Nachbemerkung betont, ist durch die mehrfache Zeitschichtung geprägt (210f.). 535 Allerdings werden sie in der szenischen Realisation teilweise von Darstellern gespielt – den Regieanweisungen nach wird Panthea von derselben Schauspielerin verkörpert, die in der 2. Szene Wilhelmine Kirms spielt; Hermokrates von demselben Darsteller, der in der 1. Szene als Herzog Karl Eugen auftritt. 536 Zentral für die Gegenüberstellung zu Hölderlins subjektiver Aktualisierung sind die Stellungnahmen Schellings und Hegels. Dem ersten gilt „die That des Empedókles“ lediglich und unverbindlich „als / poetische Handlung“, „Dichtung“ als Ort, wo man „erlöst / vom unseelgen Zwang / zum gemeinsamen Handeln“ ist. Der zweite gibt sich kalt („Mich kann ein solcher / Opfergang / nicht rühren“) und lehnt die Empedokles-Figur gerade wegen ihres Opfers als ungeeignetes Vorbild ab: „Wer sich zu Zeiten / der TyrannenStürtze und / des Untergangs von Staaten / das eigne Leben mit Gewalth

426 | Ein Theaterjahrhundert In Abwandlung von Strategien des epischen Theaters werden somit in dieser sechsten Szene des Stücks durch die metadramatische Struktur mehrere Fiktionsebenen und mehrere Typologien des intertextuellen Bezugs zu Hölderlins Tod des Empedokles kombiniert. Anfangs erzählt im Frage-Antwort-Teil (also bereits in dialogischer Form) Hölderlin von Empedokles; anschließend greifen die Anwesenden ein – Hegel als erster – und kommentieren das Gehörte. Beides aus der Perspektive ihrer Gegenwart um 1800. Durch das Auftreten von Figuren aus der Fiktionsebene des Antikendramas werden Handlungsbrocken performativ realisiert, auf der Fiktionsebene des Hölderlin-Stücks lediglich akustisch, in einer Inszenierung auch theatralisch; diese dramatischen Teile werden ihrerseits auch von allen Anwesenden kommentiert. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht lediglich um Mikrobearbeitungen der Vorlage Hölderlins, so, als ob arrangierte Szenen aus dem Tod des Empedokles auf der Hörbühne von 1799 in Homburg dargeboten würden und – nach allen Regeln dramatischer Wahrscheinlichkeit – Hölderlin die eigenen Fragmente sozusagen im Gespräch mit den Freunden auf die Probe stellen würde. Dabei bleibt es nicht. Auch wenn variierte Zitate aus der Vorlage Hölderlins durchaus präsent, die Personen die gleichen und Handlungselemente wiedererkennbar sind,537 wird die dramatische Geschichte des Empedokles in der „dreifache[n] Zeitschichtung“ (Berghahn 1972, 180)538 zu einem allegorischen Exempel. Dementsprechend hat sie keine auf die eigene Zeit oder auch auf die Zeit, in der Hölderlin ihn zur Dramenfigur machte, beschränkte Bedeutung, sondern gilt auch, sogar prioritär, für die dritte Zeitschicht, die Gegenwart um 1970. Auffallend ist insbesondere die Assoziation von Empedokles und seinen Anhängern mit Che Guevara539 und den guerrilleros, die durch einige lexikalische Einschübe in die Reden Hölderlins und des Chors angeregt wird und gleichwertig mit der || / entstellt / der kommt als Führer / des Volks nicht / in Betracht“; die poetische Vision ist ihm suspekt: „Kunst / ist nur eine Stufe / im Verlauf der SelbstErkenntniss“ (140–142). 537 Auszumachen sind: Direkte Zitate (Hölderlin ‚als‘ Empedokles: „Dies ist die Zeit / der Könige nicht mehr“, 129), lexikalische und motivische Inspirationen (die Rede des Hermokrates „Ein Ketzer ist er / Lästert [...] Solln Fluthen und Brände / Winde und Staub ihn verschlingen“, 131f., erinnert an seine Rede in I,5 bei Hölderlin, erster Fassung), Szenenstrukturen (Gespräch zwischen Pausanias und dem Bauern, vgl. bei Hölderlin II,2, erste Fassung). 538 Auch in dieser Hinsicht ist eine Verwandtschaft mit dem Marat/Sade auszumachen, wo die Spiel-im-Spiel-Struktur das ganze Stück prägt; für beide Dramen gilt, dass Weiss eine Theatersprache entwickelt, die Techniken des epischen Theaters Brechts in neuen Kontexten verwendet. Neben der Brechung der Fiktion durch metatheatralische bzw. fiktionsinterne Kommentare seien für Hölderlin die Präsenz von Sängern und die Passagen erwähnt, wo Figuren von sich selbst in dritter Person sprechen (etwa die Hauptfigur in Prolog, 11f., und Epilog, 198f.). 539 Der Name fällt im Stück nicht, vgl. die nächste Anmerkung für Andeutungen. In einem Interview betont Weiss allerdings die Konstellation mit Nachdruck: Die Aktualität vom „phantastische[n] Empedokles-Fragment“ liege für ihn gerade in seiner visionären Kraft, in seiner allegorischen Offenheit für die jeweilige Gegenwart: „Empedokles, in Hölderlins Welt verschlungen, für mich heute zudem in die Welt des Che Guevara verschlungen, behält seine zentrale Aussage“ (Canaris 1972, 190). Vgl. 3.2.5 für ähnliche Assoziationen im Theater der 1970er Jahre.

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um 1800 plausiblen Aktualisierungen im Zeichen der Französischen Revolution und der Befreiungskriege in die dramatische Textur eingearbeitet wird.540 Hölderlin selber begründet fiktionsintern diese Aktualisierungsgesten, wenn er auf die Fragen des Chors, „zu welcher Zeit“ sich der von ihm gewählte Stoff zutrug, antwortet: „Fünfhundert Jahr eh / unsre ZeitRechnung begann / und heut“. Nach den Gründen gefragt, „Warum so weit entfernt“ behauptet er weiter: Weil eine mythische Figur erscheinen muss jetzt da das Feuer der Grossen Revoluzion erloschen und in Vereinzelten nur noch weiterglimmt. (127)

Der goethezeitliche Dramatiker Hölderlin behandelt in der Stück-Fiktion die Empedokles-Figur genauso, wie der moderne Dramatiker Weiss die Hölderlin-Figur behandelt: Er holt in ihn seine Gegenwart, indem er ihn subjektiv aktualisiert. Bevor die Spiel-im-Spiel Episode um Empedokles zu einem Ende kommt – Hölderlin steht nach seinen letzten Worten „in völliger Erschöpfung“ da, kurz darauf geht er ab, die Übrigen kommentieren noch beunruhigt seinen Zustand, ein Schlusstableau mit Chor, Panthea und Pausanias schließt die Szene ab541 – bekräftigt der Dichter die exemplarische Bedeutung seiner Empedokles-Figur ein letztes Mal: Denn er der nie sich selber zum Verräther wurde der keinen Tag von seinen Tagen abgab

|| 540 Eine Stimme im Chor evoziert etwa so die Vorbildfunktion des Empedokles für die Revolutionshoffnungen im Volk: „Allein die Hoffnung / dass einer unterwegs war / von dem geflüstert wurde / dass er die Laage für uns / bessern wollte / genügte uns / dass wir die Lehmhütten verliessen / und uns mit Machetas / zu ihm schlugen“ (140). Diese und andere angedeuteten Annäherungen an gegenwärtige mittel- und südamerikanische Kontexte stehen Passagen über neuzeitliche „Leibgardisten“ gegenüber, die gegen die Anhänger des Empedokles entsandt seien. Die Vagheit der Referenzen dient der Verallgemeinerung der mit Empedokles verknüpften Revolutionsmetapher. Neben Verweisen auf antike Kontexte fehlen allerdings selbst Anspielungen auf messianische Elemente nicht. 541 „Es steht schlimm mit ihm“, kommentiert etwa Wagner, und antizipiert die Wahnsinn-Szenen: „hör ihn die Nacht lang hin und her / in seiner Stube rennen / und ob doch keiner da ist / redet er / fragt antwortet / hadert und schreyt“. Bezeichnenderweise reden zuerst Schmid und Schelling (und zwar mit Worten, die sich in erster Linie auf Empedokles beziehen), dann geht es zu Hölderlin über. Im Schlusstableau kulminiert die Apotheose des Empedokles als Revolutions-Messias in seinem „Aufruf / der aus der Stille/ von den Bergen kommt“ (152–154). Strukturell entspricht dieses Gespräch ex-post (Panthea, Pausanias, der Chor) den letzten Szenen in Hölderlins 1. und 2. Fassung.

428 | Ein Theaterjahrhundert an die Feigen er wird den nach ihm Kommenden zum VorBild. (151)

Hölderlin als der trotz allem „am wenigsten Gebrochene“542 ist dem Nachkommen Peter Weiss auch Vorbild. Autobiographische Brechungen, die bereits in den Kindheitserinnerungen um die Stichworte Anderssein, Krankheitszuschreibung und Gefährdung des Subjekts durch die ‚Gesunden kreisen und zur Identifikation führen; aktualisierende Lesarten der Zeit um 1800 im Zeichen von Revolution, Reaktion und Frustration; poetische und politische Visionen über die zeitlichen und räumlichen Kontexte hinaus kommen in der Figur des Dichters zur Synthese. Die EmpedoklesFolie dient zur Fiktionalisierung des subjektiven Modus produktiver Transformation für die Gegenwart und führt zur Apotheose der „visionären Formung“ im Spannungsfeld von Utopie und Wirklichkeit. Die dramatischen Fragmente einer gescheiterten Tragödie wie die Bruchstücke eines verunglückten Lebens erweisen sich als aussagekräftiger für die Zeit um 1970 als die vollendeten Biographien und Oeuvres der anderen ‚Klassiker‘. In den beiden durch Weiss’ Stück eröffneten Jahrzehnten werden weitere Fragmente poetischer und politischer Biographien entworfen und an der Gegenwartsfolie konturiert.

3.2.5 Fragmente politischer Biographien. Hölderlin im Theater der 1970–80er Jahre 3.2.5.1 Internationale Vorspiele und gesamtdeutsche Kontexte. DDR-Rezeption zwischen Drama, Hörspiel und Theater (Hermlin, Braun, Müller, Saeger) Als am 18. Februar 1967 das Living Theatre mit der Weltpremiere seiner Antigone im Krefelder Stadttheater gastierte, wurde Hölderlin – indirekt über Brechts Vermittlung – Teil der internationalen Neoavantgarde. Julian Beck und Judith Malina, die ihre Theatergruppe zwanzig Jahre davor in New York als „Living Theatre Productions“ gegründet hatten und in Krefeld wie in den darauffolgenden unzähligen europäischen Wiederaufnahmen die Rolle des Kreon und der Antigone spielten, hatten ihre Antigone-Inszenierung von Brechts Antigonemodell ausgehend gestaltet, das fast zufällig 1961 in Athen in ihre Hände gekommen war und sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte: Sicherlich wegen Brecht und wegen Antigone, sowie, wie man rückblickend sagen darf, wegen der eigentümlichen Aufmachung des Modellbuchs selbst,

|| 542 So bezeichnet Weiss selber ‚seine‘ Dichterfigur im Zeit-Interview mit Volker Canaris (17. September 1971).

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an dessen hybrider und offener Form beide amerikanische Künstler offenbar anknüpfen konnten.543 Malina, die 1926 in Kiel geboren und noch als Kleinkind mit der Familie in die USA emigriert war, übersetzte bzw. bearbeitete den Stücktext ins Englische, auch mithilfe von gräzistischen und germanistischen Beratern. Die Inszenierung, die daraus entstand, kann mit Eva Marinai als „produzione artaudiana di un testo brechtiano“ verstanden werden (2014, 79): Die das Living Theatre allgemein kennzeichnende Filiation aus Artauds ‚Theater der Grausamkeit‘ im Zeichen eines radikalen, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer wie zwischen Fiktion und Leben verwischenden Theaterrituals wird auf Brechts Bearbeitung der antiken Tragödie appliziert. Sie ist gewiss ein Meilenstein in der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts544 und bildet zusammen mit der Antigone-Verfilmung von Straub/Huillet den Höhepunkt produktiver Transformation von Brechts Antigone und Antigonemodell. Was darin von Hölderlin blieb, ist erwartungsgemäß wenig. Soweit sich das beurteilen lässt, spielte dessen Vermittlung zwischen Antike und Moderne, die für Brecht (wie für seine Arbeit kritisch fortführende Dramatiker, etwa gerade in jenen Jahren Heiner Müller) zu einer zentralen Frage wurde, keine wichtige Rolle für die Antigone des Living Theatre, weder in der Konzeption der Inszenierung selbst und deren Realisierung auf der Bühne, noch für die Rezeption seitens der Zuschauer, der Kritiker wie der Laien.545 Dies hing nicht zuletzt mit der Inszenierungssprache zusammen (sie lief überall auf Englisch); übrigens entfernte sich Malinas Vorlage in manchen Aspekten stark von der Vorlage,546 lediglich die Verse von Brechts Antigone-Legende, die in die Aufführung eingearbeitet wurden und nicht, wie noch bei Brecht, nur Teil der Probenarbeit waren, wurden in der jeweiligen Sprache des Aufführungsortes rezitiert, in || 543 Auch dank des Kontakts mit dem in den USA lebenden Sohn Brechts Stefan hatten Beck und Malina in den 1960er Jahren einige Stücke Brechts inszeniert, der also bereits Teil ihrer frühen Theaterarbeit war. Im Folgenden basiert die Rekonstruktion auf Eva Marinais Studie (2014); für Einblicke in Vorbereitung, Realisierung und Wirkung der Inszenierung sei darauf verwiesen (insb. 13–91). 544 Entsprechend wurde sie in der einschlägigen internationalen Literatur behandelt, sowohl in analytischen Studien als auch in Überblicksdarstellungen; vgl. Rückhaberle (1997) und Brauneck (1993–2007) 5, 247f. Flashar erwähnt sie, ohne detailliert darauf einzugehen, was für die Wirkung von Brechts Antigone(modell) überhaupt gilt (1991, 192). 545 Im Hölderlin-Archiv sind Rezensionen über die Krefelder und andere europäische Inszenierungen aufbewahrt; Inszenierungsmaterialien fehlen. Dass in dem „Inferno der Brutalität [...] von Hölderlin [...] praktisch nichts“ geblieben war, vermerkte Hans Daiber in seiner Rezension (Handelsblatt 21. Februar 1967). Die Produktionen des Living Theatre wurden zwiespältig aufgenommen, wozu ihre ästhetische und politische Radikalität wie überhaupt das Klima der 1960er Jahre beitrug. Bei Marianne Kesting war gar von „Dilettantismus“ wie auch davon die Rede, dass von Brechts Bearbeitung in der Krefelder Antigone keine Spur mehr zu finden gewesen sei (Die Zeit 24. Februar 1967). 546 Auffällig etwa im Verhältnis zu Brecht die anarchistischen und feministischen Akzente, die Malina setzte, vgl. dazu Marinai (2014) 57–79, insb. 65. Es waren vor allem lexikalische Elemente von Malinas Übersetzung/Bearbeitung, die eine solche Radikalisierung bzw. Verschiebung von Brechts bereits aktualisierender Arbeit erzeugten; die Konstellation Krieg-Gewalt-Rebellion erhielt somit politische Brisanz mit Bezug auf Diskurse der Zeit um 1968.

430 | Ein Theaterjahrhundert Krefeld also im Original. Von Versuchen, über die sprachliche Ebene hinaus Ruckbezüge auf Hölderlins Antigone-Übersetzung und -Anmerkungen herzustellen bzw. einige der selbst in dieser zwischensprachlichen, intertextuellen und transmedialen Transformation beibehaltenen Elemente besonders herauszustellen, kann kaum die Rede sein. Es wäre zwar faszinierend, die extensive und radikale Arbeit des Living Theatre an der Choreographie von Stimme und Körper („corpo sonoro“, Marinai 2014, 182) mit Hölderlins ansatzweise performativen Überlegungen zum Rhythmus der Tragödie und zur körperlichen Wirksamkeit des tragischen Worts oder mit seinen Vergleichen der Tragödien mit athletischen Wettkämpfen in den Sophokles-Anmerkungen zu verbinden. Belege für eine Inspiration aus Hölderlins Texten gibt es jedoch nicht, vielmehr sind die Wurzeln der Theaterarbeit in der Ästhetik des Living Theatre selbst und in ihren Bezugspunkten, etwa dem erwähnten Artaud, zu suchen. Die Krefelder Antigone ist hier eher rezeptionsgeschichtlich zu würdigen, d.h. in ihrer Funktion, Brechts Antigone-Bearbeitung weitere Resonanz verschafft zu haben;547 sie war eine wichtige Etappe im radikalen Umbruch in den Inszenierungsmodi sowohl der antiken Tragödie als auch der kanonischen Autoren des europäischen Dramatik; es sollte noch bis Mitte des neuen Jahrzehnts dauern, ehe auch Hölderlin mit seinem Tod des Empedokles mit der Partie sein würde (dazu 3.2.5.2).548

|| 547 Nach der sofortigen Auswirkung der so rege diskutierten Antigone des Living-Theatre auf die Inszenierung von Brechts Bearbeitung und selbst von Hölderlins Übersetzung in den späten Sechzigern (vgl. die bereits erörterten Fälle 3.2.1), scheint in den sechzehn Inszenierungen, die Brechts Antigone in den 1970ern zwischen Europa und Lateinamerika erlebte, die Version von Beck und Malina allerdings weniger wirksam gewesen zu sein. Die spärliche Präsenz von Brechts Antigone im DDRTheater wurde durch eine rege internationale Aufführungspraxis (darunter 1971–72 durch Jean-Pierre Miquel in Amiens und an der Pariser Comédie Française) und einige Inszenierungen in Österreich und der BRD ausgeglichen: Esslingen 1971 (Regie von Werner Casper), Paderborn 1971 (Regie von Siegfried Bühr), Düsseldorf 1971 (Regie von Wolf Seesemann), Wien 1972 (Regie von Conny Hannes Meyer), Dortmund 1974 (Regie von Hartmut H. Forches), Kiel 1975 (Regie von Rainer Beck), Nürnberg 1975 (Regie von Wolfgang Lichtenstein), Münster 1976 (Regie von Otto Schnelling), Köln 1976 (Regie von Valentin Jeker). In den späten 1970ern und in den 1980ern wird Brechts Antigone seltener inszeniert – in Zeiten einer Konjunktur der Antigone Hölderlins –, dafür aber tendenziell mit größerer Wirkung und freierer Behandlung des Modells im Sinne der Fortsetzung brechtscher Tendenzen. Es seien neben der erfrischend innovativen Inszenierung in Göttingen (Junges Theater, November 1980, wieder Otto Schnelling) und der kaum dokumentierten in Wien 1986 (Regie von Fritz Holy) vor allem die stark aktualisierenden Inszenierungen in Castrop Rauxel (Westfälisches Landestheater, 3. März 1984, Regie von Rainer Iwersen) und in Baden-Baden erwähnt (Theater am Goetheplatz, Februar 1986, Regie von Frieder Lorenz), in deren Zentrum deutsche wie globale politische Verhältnisse der Gegenwart und umfassende Reflexionen über Diktatur und Widerstand standen. Vgl. auch 3.2.5.4. 548 Nichts konnte über eine Empedokles-Inszenierung ermittelt werden, die 1970 in Stuttgart gespielt worden sein soll. Seit 1967 war im Württembergischen Staatstheater mit Peter Palitzsch ein Schauspieldirektor tätig, der 1971 in der Bühnenrezeption Hölderlins mit der Uraufführung des Stücks von Peter Weiss eine wichtige Rolle spielte.

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In den ‚heißesten Jahren‘ der Erneuerung und Politisierung des deutschen Theaters um und nach 1968 trat Hölderlin nicht so sehr mit seinem Werk, sei es sein Trauerspiel oder seine Sophokles-Übersetzungen, auf die Bühne, sondern vornehmlich, wie überhaupt im literarischen Feld und in der kulturellen Diskussion, als Figur eines deutschen Dichters, Intellektuellen, Revolutionärs, dessen Leben und Werk insgesamt für vergangene und aktuelle Verhältnisse im Land standen. Mag auch die Philologie mit vollem Recht für eine saubere Trennung von Fiktion und Biographie und für die historische Kontextualisierung ästhetischer wie politischer Vorstellungen plädiert haben (auch wo sie Hölderlin neu, etwa politisch radikaler zu lesen versuchte), so verlief die produktive Aneignung des Dichters um das zweihundertste Jubiläum 1970 hauptsächlich über seine poetische und politische Biographie, die zur Identifikation mit aktuellen Befindlichkeiten hin geöffnet wurde. Herausragendes Beispiel dafür – und in vieler Hinsicht Grundlage für die weitere Theaterrezeption der 1970– 80er Jahre, auch nachdem seine Bühnenpräsenz rasch zu schwinden begann – ist Weiss’ Stück Hölderlin; es wurde im vorausgegangenen Kapitel gesondert erörtert. Die Anhäufung von produktiven Rezeptionsfällen um und nach 1970, in denen insbesondere Hölderlins Leben und sein biographisch-politisch gelesenes Werk im Mittelpunkt standen und zur Basis für eine Reflexion über die gegenwärtige Befindlichkeit des Dichters/Intellektuellen/Künstlers wurden, hat verschiedene Gründe. Es hat schon Gelegenheit gegeben, zu erörtern, inwieweit einige Vertreter der HölderlinForschung in den späten 1960er Jahren neue, politisch und ästhetisch radikalere Hölderlin-Bilder auch einer breiteren Öffentlichkeit nahe zu bringen versuchten, nicht ohne eine polemische Frontstellung gegenüber früheren konservativen Dichterbildern (vgl. 3.2.2, 3.2.4). Auf die mehr als jahrhundertlange Tradition, in epischen oder dramatischen Hölderlin-Porträts Biographie und Fiktion oft kühn zu vermischen, wäre auch hinzuweisen, wobei explizite Rückbezuge auf diese Tradition um 1970 eher selten waren und, wie man feststellen muss, die literarische bzw. künstlerische Qualität, die typologische Breite wie auch die öffentliche Wirkung der ‚neuen‘ Produktion insgesamt als beträchtlich höher bzw. breiter einzuschätzen sind, als es bei den Vorgängern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Fall war. Neben diesen internen Aspekten der Hölderlin-Rezeption muss schließlich auf größere Konstellationen hingewiesen werden, die den Rekurs auf den Dichter und die daraus entstehenden „Doppelporträts“, in denen Hölderlin und ein jeweiliger zeitgenössischer Dichter bzw. Intellektueller oder Künstler als Projektionsfiguren thematisiert wurden, besser erklären kann. So überschnitten sich etwa in der DDR, aus der die folgenden Beispiele stammen, die Veranstaltungen zum 200. Geburtstag des Dichters im Jahr 1970, in denen man sich offiziell von der als fast gänzlich rückschrittlich bezeichneten Hölderlin-Forschung jenseits der Elbe zu differenzieren versuchte (ohne allerdings auf ‚interne‘ Errungenschaften in der produktiven Hölderlin-Rezeption bei Brecht oder Müller zu pochen), mit der Resonanz wissenschaftlicher und künstlerischer Werke aus dem

432 | Ein Theaterjahrhundert Westen, allen voran das Buch von Pierre Bertaux Hölderlin und die Französische Revolution und das Stück Hölderlin von Peter Weiss. Ebenfalls Berücksichtigung fand die allgemeinere, für die frühen 1970er Jahre und insbesondere für die Prosa typische „kräftige Gegenbewegung zum dominanten Trend, sich auf Alltagsgegenwart und Zeitgeschichte zu konzentrieren“. Diese Gegenbewegung widmete sich „verstärkt Stoffen und Konflikten älterer historischer Epochen sowie (so scheint es zunächst) der vor- und außerhistorischen Welt des Mythos“, insbesondere arbeitete man durch den „radikal veränderten Blick auf die deutsche Kunstperiode [...] gegen ein harmonisierendes Bild der Klassik“, indem man sich mit „den Außenseitern, den Abweichlern von der klassischen Norm“ beschäftigte. Das Interesse, fährt Wolfgang Emmerich fort, „wandte sich Künstlern zu, die gerade nicht den ‚gesunden Fortschritt‘ verkörperten: Hölderlin (der wahnsinnig wurde), Kleist und die Günderrode (die Selbstmord begingen), Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, die einzelgängerisch-kauzig lebten und schrieben“.549 Unter anderen Vorzeichen erwiesen sich dieselben Jahre auch im Westen, im Spannungsfeld von ‚Engagement‘ und ‚Neuer Subjektivität‘, als günstig für den aktualisierenden Rückgriff auf die fragmentarischen politisch-poetischen Biographien solcher Ahnenfiguren, wie mit Bezug auf Hölderlin besonders an Theaterinszenierungen Klaus Michael Grübers Mitte der 1970er Jahre zu sehen ist. Es sei hier bei Gelegenheit der rezeptionsgeschichtlichen Phase, in dem Hölderlins Leben – und die damit verbundenen Diskurse: Dichtertum, Revolution, Wahnsinn – am häufigsten zum Stoff für moderne Schriftsteller und Künstler wurde, auf das besondere Verhältnis zwischen derartiger produktiver Rezeption und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk eingegangen. Die reziproke Beeinflussung dieser Erscheinungen steht außer Frage wie auch der Umstand, dass die plakative Gegenüberstellung Forschung vs. Rezeption zwar auf Kosten der Präzision geht, aber hier in der Absicht geschieht, wirkungsgeschichtliche wie auch methodologische Aspekte zu klären. So kann man für die hier zur Diskussion stehende Zeit eindeutig einen Einfluss der öffentlich geführten Debatten der Hölderlin-Forschung in den späten 1960–70er Jahren auf das generelle Interesse an Hölderlins Leben und Wirken neben bzw. innerhalb ‚jakobinischer‘ Kreise ausmachen; im Zusammenhang damit bzw. mit seiner gesamten ästhetisch-politischen Außenseiterposition erkannte man die Gründe für den mehr oder weniger als ‚fingiert‘ verstandenen Wahnsinn. Dieser Befund muss allerdings in methodologischer Hinsicht mit dem Unterschied ausbalanciert werden, der die künstlerischen von den wissenschaftlichen Rezeptionsformen trennt. Mit anderen Worten, man muss sich davor hüten, ein biographisches Hölderlindrama danach zu beurteilen, inwieweit das Dargestellte dem aktuellen Forschungsstand über Hölderlins Leben entspricht. Und dies gilt m.E. auch dann, wenn das literarische Werk (oder || 549 Emmerich (1996) 336.

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die Theaterinszenierung oder der Film) durch implizite oder gar explizite Signale den Anspruch erhebt, der ‚historischen Wahrheit‘ zu entsprechen. Bereits bei der Erörterung von Peter Weiss’ Hölderlin-Stück wurde aufgezeigt, inwieweit dann ein Kurzschluss entsteht. Selbstverständlich stellen Grund, Zweck, Art und Weise und das Ziel, zu dem der jeweilige Künstler ihm verfügbare ‚historisch-wissenschaftliche‘ Daten und Quellen in das eigene Werk einarbeitet und mit seiner Erfindung vermischt, aufschlussreiche Aspekte für die jeweilige Analyse und rezeptionsgeschichtliche Anordnung dar. Das bei aller dokumentarischen Treue immer Fiktion bleibende Kunstwerk muss aber mit Blick auf seine „poetische Logik“, so bei Hölderlin, und auf seine Eignung, ein Hölderlin-Bild zur Diskussion zu stellen, beurteilt werden; ob der jeweilige Forscher darin ein ihm fundiert erscheinendes Hölderlin-Bild wiederfindet oder nicht, muss sekundär bleiben. Unverkennbar ist der Einfluss, den die Konjunktur einer politisch interpretierten Biografie auf die Rezeption von Hölderlins Werk ausübte, etwa die Inszenierungen von Der Tod des Empedokles und den Sophokles-Übersetzungen, wie an gebotener Stelle zu erörtern ist. Wenn man zuerst die literarischen Beispiele biographischer Hölderlin-Aneignungen unter die Lupe nimmt, fällt sofort auf, dass man es in den ersten hier zur Diskussion stehenden Jahren eher mit dramatischen oder dem Drama affinen, auf performative Realisierung hin geschriebenen Texten zu tun hat, in denen Hölderlin im wahrsten Sinne das Wort ergreift, als sprechende Figur auf der Bühne. Die literarische Hölderlin-Konjunktur um 1970 war also stark dramatisch geprägt und sollte schnell die regelrechte Bühnenrezeption beeinflussen. Neben Weiss’ Stück wären rein typologisch gesehen Fritz Stübers „HölderlinSchauspiel in 5 Aufzügen“ Zu wem so laut das Schicksal spricht (1970)550 und Robert Friedrich Steigers „dichterische Tragödie in 5 Akten“ Diotima oder Die Heimsuchung (1971, als Teil der Tetralogie Dichter und Richter) zu nennen, beides allerdings epigonale Werke, die weder in ihrer ästhetischen Qualität noch durch die Wirksamkeit ihrer Hölderlin-Aktualisierungen überzeugen konnten und nur mäßige Resonanz erzielten; zu vergleichen sind diese fünfaktigen Versuche mit früheren Versuchen der Dramatisierung von Hölderlins Leben oder Lebensabschnitten, die über die Publikation hinaus keine Verbreitung fanden.551

|| 550 Stuber war lange vor dem Erscheinen seines kaum wahrgenommenen Hölderlin-Stücks zu zweifelhafter Berühmtheit gekommen. Seit 1932 NSDAP-Mitglied, war der Autor ein begeisterter Verfasser von Hitler-Gedichten. Nach dem Krieg wirkte er in rechtsextremen Kreisen Österreichs, in dessen Nationalrat er 1949–56 Abgeordneter war. Packalén (1986) 118f. nennt ein Hölderlin-Gedicht Stubers „eine in panegyrischem Stil [...] gehaltene Apotheose“. 551 Etwas anders verhält es sich mit Hansjörg Schneiders „Schauspiel in zwei Bildern“ Brod und Wein (1973). Das Stück des Basler Schriftstellers, sonst eher als Krimi-Autor bekannt, stellt weder eine Dramatisierung von Hölderlins Leben noch eine umfassende Werkbearbeitung dar; einige HölderlinVerse kommen in den Gesprächen der vier Personen aus der Gegenwart vor, die hier agieren.

434 | Ein Theaterjahrhundert Ganz anders verhält es sich mit dem raffinierten Hörspiel des großen, in der DDR tätigen Lyrikers Stephan Hermlin, das am 9. September 1970 erstmals ausgestrahlt wurde und dessen Titel Scardanelli bereits viel über Anlage und Schwerpunkt desselben sagt.552 Das nicht direkt der Theaterliteratur zuzuschreibende Werk für den Rundfunk, das genremäßig auf die Wirkung von Stimmen, Geräuschen bzw. Klängen und Schweigen setzt, ist eine Zitatencollage in fünfzehn Bildern. Den Rahmen bilden am Anfang und Ende Szenen aus den letzten Lebenstagen des Dichters – Hölderlin als sein Double Scardanelli also; im Binnenspiel werden zwischen Bild 2 und 14 Etappen der Biographie kurz evoziert, von 1792 bis zur chronologischen Wiederanknüpfung an den Rahmen. Die Montage – Ausschnitte aus Werken (meist Gedichten) und Briefen des Dichters und seiner Weggefährten wie auch aus den Berichten von Wilhelm Waiblinger oder den fiktionalisierten Erinnerungen Bettina Brentanos553 – evoziert poetisch Leben, Werk und Frührezeption und wird durch „Stimme 1“ und „Stimme 2“, die oft Aussagen von historischen Personen kommentieren oder gezielt Fragen stellen, aus der Gegenwart ergänzt und für die Gegenwart aktualisiert. Aus dieser Stimmensymphonie entstand ein glanzvolles Werk, im Vergleich zum Stück von Peter Weiss stilistisch homogener und dichterisch feinfühliger, wenngleich insgesamt dramaturgisch lockerer und weniger eindrucksvoll.554 Denn Hermlins Hörspiel, in dem ähnlich wie bei Weiss Hölderlin von einer ihn verkennenden Welt in die ästhetische, existentielle und politische Isolation und letzten Endes in den Wahnsinn getrieben wird, verweilt eher bei der einzelnen Stimmung oder bei dem einzelnen Bild. Freilich mag sich aus der DDR-Perspektive Hermlins die Künstler-Problematik, speziell das Verhältnis des Dichters zum herrschenden Diskurs, in manchem anders lesen lassen als bei Weiss oder bei BRD-Autoren. Auffällig ist jedoch die Konstanz der Projektionen, die um 1970 mit Hölderlin assoziiert wurden. Wenn etwa in einem fast

|| 552 Erstmals 1970 gedruckt (zuerst in der DDR-Zeitschrift Sinn und Form, dann als Buch im Westen bei Wagenbach). 553 Zitiert wird dort gerade die Passage, in der Bettina Brentano Hölderlins Gedichte und ÖdipusÜbersetzung als Sprachkunstwerke würdigt („St. Clair gab mir den Oedipus [...]“ bis „[...] Herrliches hat“, vgl. StA 7/4, 190); anschließend spricht Hölderlin einige Zeilen aus dem letzten Akt der Tragödie – nicht jedoch in seiner Übersetzung, sondern in Bettinas Überarbeitung derselben (vgl. die ersten acht Verse ebd., 191 mit Hermlin 1993, 13). Dadurch wird Bettinas Pionierleistung exakt 130 Jahre nach ihrem Erstdruck performativ in der Hörspielform verwirklicht. 554 Die Forschung hat zuerst die Interpretation der Geisteskrankheit als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse festgestellt und einen möglichen Einfluss auf Weiss abgewogen (Greiner 1978, 103–105) und die Distanz Hermlins zum offiziellen Hölderlin-Bild der DDR gewürdigt (Fehervary 1977, 132– 138). Packalén (1986) 153–166 hat diese Positionen vertieft und differenziert, zentral ist in seiner heute noch gültigen Lektüre die Übereinstimmung der formalen Struktur mit der inhaltlichen Aussage. Das fast wie ein antiker Chor erscheinende „Netz der Stimmen“ um Hölderlin herum werde zum Sinnbild der Gefangenschaft des Dichters in einer ihn zum Außenseiter machenden Gesellschaft, wobei Hermlin weniger die politischen als die persönlichen Enttäuschungen hervorhebe, wie Packalén an den als entscheidend betrachteten Hörspielpassagen zu Schiller und zu Susette Gontard erörtert (156f.).

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zeitgleich mit dem Hörspiel erschienenen Essay Hermlins von der Nation die Rede ist, „die ihren größten Dichter in den Wahnsinn trieb“ (Hermlin 1973, 96),555 oder Jahre später im Rückblick auf 1970 Hölderlin als „ein gewissermaßen ständig im Exil befindlicher Schriftsteller“ bezeichnet wird – dabei ist überdeutlich ein geistiges Exil gemeint: „ein Schriftsteller, der sich in einem beinahe ständigen Widerspruch zu der Gesellschaft, die ihn umgibt, befindet“556 –, können zugleich die Situation des schreibenden Intellektuellen in der DDR oder allgemeiner das grundlegende Problem des Künstlertums, der „Dichter in dürftiger Zeit“ angesprochen sein. Ähnlich wie bei Weiss spielten in Hermlins Hölderlin-Aktualisierung gleichermaßen gesellschaftspolitische Diskurse, persönliche Identifikation und ein pathetisch hochgehaltenes Stigma des Visionärs eine Rolle, der seiner Zeit voraus ist und damit notgedrungen unter seinen Zeitgenossen leidet. Denn „bei Hölderlin“, so Hermlin „ist es der totale Widerspruch, die totale Einsamkeit. Da gibt es eigentlich niemanden, der sein Werk und seinen Untergang begleitet, mit Ausnahme einiger sekundärer Gestalten“.557 Mit der Ausstrahlung von Hermlins Hörspiel und den Inszenierungen von Weiss‘ Hölderlin-Stück war kurz nach 1970 der Höhepunkt dramatisch-performativer Aktualisierung der Hölderlin-Figur erreicht. In den darauffolgenden Jahren sollten neben der anhaltenden Rezeption bei Lyrikern558 eher Prosaautoren Leben und Werk des Dichters in epischen und episch-essayistischen Werken fiktionalisieren.559 Gerhard Wolfs Der arme Hölderlin (1972) und vor allem Peter Härtlings Hölderlin. Ein Roman (1976) – unter allen hier genannten Hölderlin-Fiktionalisierungen bestimmt die

|| 555 Der „Dichter über Hölderlin“ betitelte Text besteht aus einer essayistischen Besprechung der gleichnamigen Sammlung, die 1969 in der BRD erschienen war. Vgl. dazu Mach (2001) 36–39. 556 Aus einem Gespräch Hermlins mit Peter Gugisch (1995), zitiert bei Mach (2001) 39 aus einem Mitschnitt. 557 Aus demselben Gespräch wie vorige Anm. Vgl. Mach (2001) 40f. zu Hermlins Vision-Begriff, der im Rückblick aus der Nachwendezeit demjenigen der Utopie gegenübergestellt und mit Hölderlin in Verbindung gebracht wird. Es sei angemerkt, dass Hermlins Auseinandersetzung mit Hölderlin bereits auf die 1940er Jahre zurückging (vgl. etwa den Essay Hölderlin 1944) und sein beachtliches lyrisches Werk befruchtete, was hier nicht gewürdigt werden kann. 558 Dazu vgl. die einführenden Überblicke und die exemplarischen Analysen bei Packalén (1986) (zur BRD-Lyrik 105–152, zur DDR-Lyrik 174–228) sowie für die Textvorlagen die Sammlung Gnüg (1993); wertvolle Überlegungen zu Tendenzen und Schwerpunkten bei Breuer (1988) 354–393, Behre (1999) 107–124, Ammon (2014). Einiges zur Hölderlin-Lyrik des 20. Jahrhunderts findet man bei Schuhmann (2010) 173–272, wo das Fehlen bibliographischer Anmerkungen jedoch die Vertiefung der angebotenen reichhaltigen Darstellung unmöglich macht. 559 Neben den bereits mehrmals zitierten Studien Fehervarys und Packaléns, wo Wolf bzw. Wolf und Härtling eingehend behandelt werden (Fehervary 1977, 142–153; Packalén 1986, 92–104; 166– 174), siehe auch Schwarze (1987) zu beiden, Onderdelinden (2003) nur zu Härtling. Mehrere Beispiele unter die Lupe nehmen Reschke (1990), Schuhmann (2010) 173–272. Lernout (1994) erörtert „the creative work of poets and novelists“, die vom erstaunlich großen Interesse für die Biographie des Dichters in Frankreich zeugt.

436 | Ein Theaterjahrhundert meistgelesene, die seit ihrem Erschienen bis heute auch außerhalb Deutschland rezipiert wurde – seien hier repräsentativ für beide deutschen Länder als herausragende Beispiele genannt.560 Im Drama und auf der Bühne blieb nach der Hochkonjunktur um 1970 das aktualisierende Interesse für Hölderlins Leben als ‚Poetikum‘ und ‚Politikum‘ nur mittelbar präsent. Dabei war insbesondere die Vermittlung über Den Tod des Empedokles und speziell über die Empedokles-Figur von zentraler Bedeutung: Der antike Dichter und Denker (in diesen Jahren meist auch: Revolutionär) und Hölderlins tragische Fragmente über ihn wurden zum Ausgangspunkt für literarische und theatralische Aneignungen, in denen die Aktualität Hölderlins als Empedokles-Aktualität dargeboten wurde, wobei ein deutliches Überwiegen literarischer Rezeption im Osten einerseits und Bühnenwirkung im Westen andererseits zu beobachten ist. Bereits bei der Erörterung von Weiss’ Stück wurde darauf hingewiesen, dass die Empedokles-Episode in der Mitte des biographischen Dramas mit ihrer metatheatralischen Struktur und metahistorischer Verbindung zur Gegenwart der guerrilla als Schlüsselepisode des ganzen Werks gedeutet werden kann. In Volker Brauns Guevara oder der Sonnenstaat, das 1975 geschrieben, 1977 gedruckt (erstmals nur in der BRD)561 und 1978 im Mannheimer Nationaltheater von Jürgen Bosse uraufgeführt wurde,562 begegnet man wieder einer Konstellation, die Empedokles und Che Guevara über fast zweieinhalb Jahrtausende hinweg zusammen führt, allerdings mit umgekehrter dramatischer Struktur als bei Weiss. Bei Braun steht dem Dramenstoff gemäß die Lebensgeschichte des argentinischen Revolutionärs und somit die Gegenwart im Mittelpunkt, die durch punktuelle Bezüge zu Empedokles bzw. Hölderlin auf die Vergangenheit hin geöffnet wird. Braun entschied sich hier letzten Endes wie Weiss für ein Stück über eine herausragende Figur. Er hätte ihn auch im Stile Hölderlins

|| 560 Ergänzend zu nennen sind zwei ebenso exakt zwischen östlichem und westlichem literarischem Leben geteilte Beispiele. Helmut T. Heinrichs Hölderlin auf dem Wege von Bordeaux ist ein 1971 in einer gleichnamigen Sammlung erschienener Prosamonolog, der auch das literarische Debüt des 1933 geborenen Schriftstellers und Übersetzers war. Ein gutes Jahrzehnt später wurden die „Erdachten Szenen aus Hölderlins Biographie“ des Hamburger Peter Schünemann (1930) veröffentlicht, der für weitere literarisierte Biografien zu Dichtern zwischen Romantik und Expressionismus bekannt ist. 1982 unter dem Titel Der Magister erschienen, wurden sie 2007 in einer Neufassung als Scardanellis Gedächtnis zusammen mit zwei Hölderlin-Essays veröffentlicht. 561 In der Suhrkamp-Reihe Spectaculum; zitiert wird hier aus der späteren Edition mit Materialien (Braun 1990). 562 Volker Brauns Guevara wurde in der DDR erst mal nicht aufgeführt. „Die wichtigsten neuen Stücke“, resümiert Jürgen Schröder zur DDR-Dramatik der 1970er mit Blick auch auf Heiner Müller, „wurden [...] zensiert und totgeschwiegen. Ja, je ernsthafter die sozialistische Position eines Dramatikers war, desto größer seine Schwierigkeiten, desto mächtiger die Tabus“ (Schröder 2006, 764). Letztere Bemerkung passt perfekt auf Braun, der als unerbittlicher und zugleich konstruktiver kritischer Beobachter der DDR-Verhältnisse und Widersprüche seine sozialistische Position nie aufgab. Zu seinem dramatischen Schaffen sei orientierungshalber auch auf Emmerich (1996) 221–224 verwiesen.

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‚Der Tod des Guevara‘ betiteln können, da dessen Hinscheiden thematisch im Zentrum steht, und er hat ebenso wie Weiss eine Art dramatischer Chronik verfasst. Dabei hat Braun im Unterschied zu beiden Dichterkollegen eine rückläufige Chronologie bevorzugt:563 Guevara beginnt mit dem Tod und verfolgt dann, sozusagen nach hinten, einige Lebensetappen des lateinamerikanischen Revolutionärs. Christine Cosentino hat als erste aufgezeigt, dass Brauns Guevara „auf der Folie des Hölderlinschen Torsos Der Tod des Empedokles aufgebaut ist“ (1979, 41), wobei die Anlehnung vor allem die Personencharakterisierung betreffe: die Hauptfigur des Guerrillero wird als Nachfahre des Philosophen aus Akragas charakterisiert. In der Spielfassung der Mannheimer Uraufführung erklärte noch Guevara selbst seine Verwandtschaft mit Empedokles und begründete sie im Gestus des durch den Tod für die Lebenden Richtungsweisenden: „Ich / Empedokles der das Signal gibt“.564 Diese Selbstbezeichnung erfolgte, kurz bevor Guevara erschossen wurde.565 Den Anfang des Stücks, also das Ende der Geschichte, bildete bereits ein Sturz, der dem legendären Vulkansturz des Empedokles vergleichbar sein dürfte: „Durch ein Loch in der Decke, das der Öffnung einer Grube gleicht“, heißt es in der Regieanweisung zu der wortlosen, aus diesem einzigen Ereignis bestehenden ersten Szene, „fällt der blutige, halbverbrannte Leichnam Guevaras herab“ (Braun 1990, 115).566 Diese Parallele aus der umgekippten Perspektive wird dann in der zweiten bzw. dritten Szene bekräftigt: Auch wenn in der Buchfassung die explizite Rückbesinnung auf Empedokles fehlt, verweisen der Szenentitel „Der Krater“ und noch ausdrücklicher einige Worte der Hauptfigur auf den Sizilianer: „Ich seh nur eine Welt, die blutig ist. / Die ein Vulkan ist vor er ausbricht, ich / Seh in den Krater. Kämpfen nicht mehr, kann ich / Doch sterben, fallend in das Loch“ (126). Gerade hier stand in der Spielfassung die ausdrückliche Selbstbezeichnung als neuer Empedokles; in der darauffolgenden Erklärung des eigenen Todes als Zeichen für diejenigen, „die das Äußerste / Brauchen, eh sie das erste wagen: leben“ (ebd.), wiederholt Guevara mit anderen Worten den Gedanken des Signalgebens: sein letzter Schritt muss von anderen gesehen werden, um Wirkung zu zeigen.567

|| 563 Und zwar als „Häufung der Beweise für die ‚Notwendigkeit der berühmten und berüchtigten Aktion Guevaras, aber dergestalt, daß alle Szenen zunehmend die Unmöglichkeit, den Irrsinn seines Kampfes zeigen und sich gerade daraus der Umschlag ergibt: es ist so schwierig zu kämpfen, daß er am Schluß nur noch kämpfen kann“ (Braun 1990, 175). 564 Vgl. Cosentino (1979) 43; sie zitiert aus dem Abdruck der Spielfassung in Theater heute. 565 Die Szenen sind nicht durchnummeriert. Anhand der Struktur des Stücks bildet die oben genannte die dritte Szene (bzw. die zweite, wenn man die den Sturz von Guevaras Leichnam in die Grube als einen szenischen Prolog zählt). 566 Zitiert wird im Folgenden aus der endgültigen Fassung. 567 Möglich ist hier beim Brecht-Kenner und -Schätzer Braun eine Anspielung auf das Erzählgedicht Der Schuh des Empedokles (1935), in dem Brecht über die Nachwirkung von Empedokles’ Geste bei seinen Schülern spekulierte.

438 | Ein Theaterjahrhundert Dass diese Präsenz des Empedokles als Folie von Che Guevara bei Braun auf Hölderlins Stück zurückgeht, und nicht direkt auf die antike Figur, wird im Stück selbst sowie an paratextuellen Orten durch intertextuelle Verweise belegt und durch thematische wie kontextuelle Aspekte bekräftigt. In der vorletzten Szene568 („Der Funktionär“, einem Gespräch zwischen Guevara und Monje, dem „Führer der Partei“ in Bolivien) gipfelt die Konfrontation über die Führung des Guerillakriegs in Guevaras Worten: „Genosse / Dies ist die Zeit des Apparats nicht mehr“ (161). Dem variierenden Hölderlin-Zitat (StA 4, 62), mit dem Braun wohl eher Verhältnisse in seinem Land als in Lateinamerika charakterisierten wollte, wird überhaupt große Bedeutung als Schlüsselwort des Stücks beigemessen: In einer Selbstinterview betitelten Notiz Brauns dazu, 1975 hingeschrieben und erst 1990 abgedruckt,569 stachelt ein Unbenannter (ein Kritiker? ein Zensor?) einen Zweiten an (wohl den Autor): „Das Stück wurde vermutlich eines Satzes wegen geschrieben [...] Der Satz lautet: Dies ist die Zeit des Apparats nicht mehr“. „Ja natürlich“, ist die Antwort; nach der Dankesformel bekommt der Unbenannte die Quittung serviert: „Dummkopf“ (175). Bereits Brauns Gedicht Material IV: Guevara, das mit Zitaten aus Guevaras Briefen und weiteren politischen Texten gespickt war, trug als Motto die Anfangsverse von Hölderlins Entwurf Die Völker schwiegen, schlummerten mit dem berühmten Bild vom „alte[n] Geist der Unruh“, der sich „wie Feuer“ regt:570 Dadurch wurde der Guevara-Stoff bei Braun schon während der Dramenentstehung571 ausdrücklich mit Hölderlin in Verbindung gebracht, mit dessen Revolutions- und Vulkan-Metaphorik und, wenn man das mit dem ausgeführten Stück vergleicht, mit Der Tod des Empedokles. In Guevara oder der Sonnenstaat war neben einigen möglichen stilistisch-lexikalischen Anleihen572 vor allem die Hauptfigur in seiner Konfrontation mit der religiösen bzw. politischen Orthodoxie (bei Hölderlin erste Fassung, Szene II,4; bei Braun Szene „Der Funktionär“) und in seiner Selbstdeutung des eigenen Todes als Zeichen für die Bleibenden (bei Hölderlin dritte Fassung, Manes-Szene; bei Braun „Der Krater“) aus der Aktualisierung hölderlinschen Materials hervorgegangen. Die Forschung hat zwar die Empedokles-Filiation herausgearbeitet und kontextualisierend auf die Hölderlin-Rezeption jener Jahre hingewiesen, konnte aber die

|| 568 Bzw. drittletzten, wenn man auch das Zwischenspiel vor der letzten Szene zählt. 569 Vgl. die Herausgebernachweise in Braun (1990) 311. 570 Vgl. StA 1, 238. Braun zitiert die ersten fünf Zeilen in modernisierter Orthographie, indem er allerdings den fünften Vers nach den Anfangsworten „der regte sich, wie Feuer“ abbricht (vgl. Braun 1990, 97). 571 Das Gedicht wurde in Training des aufrechten Gangs (1979) zum ersten Mal veröffentlicht; die in Ost und West gleichzeitig erschienene Sammlung enthielt Gedichte der Jahre 1974–77; auch weitere Texte um das Material-Gedicht herum lassen sich mit der Entstehung des Guevara-Stücks verbinden (vgl. Braun 1990, 110–112). 572 Vgl. Holmes (1995) für Anknüpfungen Brauns an Hölderlin mit Bezug auf die Licht- und SonneMetaphorik.

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spezifische „Könige“-„Apparat“-Variation bisher nicht würdigen. Und doch kann man darin den Kern der Hölderlin-Arbeit Brauns erkennen – die ironische, erst später gedruckte Notiz bürgt für eine diesbezügliche Autorintention. Guevara wurde Braun „zum roten Empedokles“, wie bereits Cosentino richtig feststellen konnte; ob dies tatsächlich „in Anlehnung an die in der DDR verbreitete Ausdeutung des Holderlinbildes“ geschah, erscheint heute fraglich, wie auch die Bezeichnung des GuevaraStücks als durchweg optimistisch (1979, 47). Man kann Holmes zwar zustimmen, wenn er in Brauns Stück ein „comment not only on Che Guevara himself, but also on the disastrous transposition of his ideas from the Sierra Maestra to the asphalt battlefields of West Germany“ sieht und damit die verschiedenen Bedeutungen und die Überhöhung des Guevara-Mythos in jenen 1970er Jahren herausstellt (1995, 71). Braun jedoch – damals wie später ein scharfer konstruktiver Kritiker der DDR von innen und aus einer grundsätzlichen marxistischen Überzeugung heraus – scheint mir gerade durch die Hölderlin-Folie, die nicht mit ‚offiziellen‘ Dichterbildern als vielmehr mit der produktiven Rezeption eines Peter Weiss vergleichbar ist, verhindert zu haben, dass sein Stück zu einer ideologisch plakativer Revolutionshymne wurde, weil ihm auch an einer Reflexion über den politischen status quo in der DDR gelegen war (und nicht nur, wie Holmes behauptet, über den Revolte-Terrorismus-Diskurs im Westen). Sowohl die Starre des Apparats, gegen den Guevara sich auflehnt, als auch sein visionäres Reden im Angesichts des Todes tragen jenseits affirmativer Harmonisierungen die hölderlinschen Züge einer Utopie, die gegen Widerspruch und Frustration nicht immun ist. Brauns Guevara war auch in Hölderlins Sinn ein Kämpfer „gegen die ‚symmetrische Welt“.573 In der gewiss nicht minder kritischen und dabei viel düsteren Dramatik des Heiner Müller, dessen frühe Hölderlin-Transformation in Sachen Ödipus und Sophokles bereits erörtert wurde (3.2.3), spielten Empedokles als Figur und – bei ihm stärker als bei Braun – Der Tod des Empedokles als fragmentarischer Text eine nicht zu unterschätzende Rolle, die neben seiner dramatischen Produktion der 1960er–90er Jahre auch seine späten Regiearbeiten kennzeichnete. Theresia Birkenhauer hat in einer einschlägigen Studie gezeigt, dass einige im Heiner-Müller-Archiv aufbewahrte Notizen eine Auseinandersetzung Müllers mit dem Dichter und seinen Trauerspielbruchstücken belegen, die etwa bereits in die Niederschrift der Sophokles-Umarbeitung

|| 573 Die gleichnamige Gedichtsammlung Brauns erschien 1974. Der Titel benutzt eine Metapher Hölderlins (Brief an den Bruder vom 1. Januar 1799), wo er von den „Besten unter den Deutschen“ schrieb, die „meist noch immer [meinen], wenn nur erst die Welt hübsch symmetrisch wäre, so wäre alles geschehen“ (StA 6, 307). Vgl. auch das intertextuell vielschichtige Gedicht An Hölderlin, wo die Parallele bekräftigt wird (Packalén 1986, 208–212, Hähnel 1987).

440 | Ein Theaterjahrhundert Philoktet (Entstehung 1958–1964) eingegangen war574. Diese Auseinandersetzung bestimmte dann auch Aspekte des Traktor-Stücks (Entstehung 1955–74)575 wie auch von Germania 3 Gespenster am Toten Mann576 und prägte bei den Regiearbeiten hauptsächlich die Inszenierung des eigenen frühen Produktionsstücks Der Lohndrücker,577 ein erster ‚Versuch zum Tragischen‘ in jener Übergangszeit (1988, Deutsches Theater Berlin).578 An diesen unterschiedlichen Müller-Orten wird Der Tod des Empedokles meist auch wirkungshistorisch bewusst reaktiviert, als ein in der deutschen Kulturgeschichte bereits rezipiertes Werk: Für den Dramatiker und seine Deutschland-Obsession ein zentrales Anliegen. Dieser müllersche „Empedokles-Komplex“ (Birkenhauer 2006, 161) ist also ein differenziertes Phänomen: Ein Hölderlin-Arsenal an Bildern in Worten, das in Müllers dramatischem Laboratorium kontinuierlich präsent, in dem die Öffentlichkeit erreichenden Werk hingegen meist wie ein untergründiger Fluss in der Karstlandschaft lediglich zu ahnen war; thematisch kann man es

|| 574 Birkenhauer (2008) 136–144 zeigt, dass Der Tod des Empedokles als Text und als Projekt in der Entstehung des Philoktet eine immer stärkere Rolle spielte, etwa für die Motivik des Todeswunsches und geradezu poetologisch als „Versuch der Übersetzung der antiken Tragödie in eine Erkenntnisform modernen Bewusstseins“ (140). Auch Hölderlins Sophokles-Projekt ist in der Philoktet-Werkstatt Müllers zumindest indirekt präsent, dazu vgl. Barner (2002) 262–264. Zum Verhältnis von Müllers Hölderlin-Rezeption zum Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von PHILOKTET am Dramatischen Theater Sofia (27. März 1983) vgl. Birkenhauer (2008) 143. 575 Entstehung seit 1955 (!), Erstdruck 1974. Bereits in den erwogenen Stücktiteln zeigt sich die Hölderlin-Spur (Der Tod des Traktorfahrers bzw. Der Tod des Traktoristen); motivische Elemente und direkte Zitate verbinden Traktor mit Empedokles und dem Empedokles (Birkenhauer 2008, 145–147). 576 Veröffentlicht wurde das späte Stück Müllers erst 1996, also postum (und unvollendet). Birkenhauer (2008) (156–160) weist insb. auf die Szene „Siegfried eine Jüdin aus Deutschland“ hin, die eine Passage aus der dritten Fassung von Hölderlins Empedokles enthält (Manes-Szene, StA 4, 137, Z. 423– 437). Bereits in den Notizen zum Stück taucht mehrmals das Paar „Kleist Hölderlin“ auf, ihre beiden Stücke Der Prinz von Homburg und Der Tod des Empedokles werden dann in der besagten Szene zitiert. Müller hat auch erwogen, die beiden „Außenseiter“ der Goethezeit als Figuren auf die Bühne zu bringen; im Stück wird auch die Rezeption der NS-Zeit reflektiert, mit der Inszenierung der propagandistischen Lektüre der Ode Der Tod fürs Vaterland im Zitat aus dem Film Stukas. 577 Den Empedokles-Bezug erarbeiten eingehend Birkenhauer (2008) 150–55, wo auch auf die in den Arbeitsnotizen wiederkehrende „Trias“ „Ätna, Empedokles, Hölderlin“ verwiesen wird, und Weigel (2011), der eine analytische Beschreibung der oben erörterten filmischen Episode vorlegt. Vgl. darüber hinaus Schnabel (1989) und Schmidts Überlegungen in Castellari/Hippe/Schmidt (2011) 195– 197. Einführend zur Inszenierung des Stücks über den „Helden der Arbeit“, zur zugrundeliegenden Überlagerung von mythischer Überhöhung und Groteske und zu den szenischen Oppositionen von Feuer und Kälte, Produktion und Destruktion, innerhalb derer die filmische Vulkan-Episode als „Glutkern von Hölderlins Ätna“ zu verstehen ist, vgl. bereits Birkenhauer (2003) 330f. 578 Heiner Müller selbst bezeichnete im Rückblick jene Inszenierung, deren Vorarbeiten auf 1986 zurückgehen, und seine darauffolgenden Regiearbeiten am Deutschen Theater Hamlet/Maschine (1990) und Mauser (1991) als ‚Versuche zum Tragischen‘, wobei selbstverständlich die erste noch vor der ‚Wende‘ entstandene und realisierte Aufführung vor dem Hintergrund der fühlbaren Krise der DDR und noch nicht von deren konkreter Auflösung zu lesen ist.

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vorwiegend mit einer pessimistischen Tragik-Konzeption in Verbindung bringen, wo das Scheitern der Figuren an der Grausamkeit der Geschichte im Mittelpunkt steht. So wurde in Müllers Lohndrücker-Inszenierung ein Schwarz-Weiß-Film (Ätna) nach der Pause gezeigt, den Peter Voigt extra dafür realisiert hatte und der in dokumentarischen Aufnahmen einen Ätna-Ausbruch zeigte, während zuerst Chorpassagen aus Brahms Deutschem Requiem und dann eine lange, bittere Stelle aus Hölderlins Tod des Empedokles zu hören waren.579 Die zweite Filmsequenz verband daraufhin auch optisch das Feuer-Motiv mit den tragischen Fragmenten Hölderlins, indem das gefilmte Verbrennen eines Blatts mit den letzten Empedokles-Versen580 wiederholt in die Lavastrom-Bilder eingeblendet wurde. In den Schlusssequenzen dann, neben Autozitaten aus Der Horatier (von Heiner Müller selbst gesprochen), erschienen während der Schilderung der Naturkatastrophe wieder kurz verbrannte hölderlinsche Worte,581 dann als letztes akustisches Kurzzitat aus Der Tod des Empedokles, minimal wie eindringlich, die Aufforderung: „Vergeßt es kühn“.582 Um diese filmische Episode herum verlief so gut wie unverändert die ‚alte‘ Lohndrücker-Handlung,583 die jedweder Hölderlin-Anspielung entbehrte. Die nicht nur strukturell zentrale Einfügung des Hölderlin-Bezugs erhöhte die Inszenierung der ‚Geschichte aus der Produktion‘ – ein an Brecht geschultes Drama über den DDR-‚Helden der Arbeit‘ Balke und seinen Aktivismus – in einen mythischen Raum, in dem Destruktion und möglicher Neunanfang der Geschichte im Mittelpunkt standen. Neben ihrer sozusagen müller- und DDR-internen Bedeutung, bei der laut eigener Aussage „die Diagnose

|| 579 Es handelt sich um die längere Rede des Empedokles am Schluss des 5. Auftritts des 1. Aktes der ‚ersten‘ Fassung (von „So! – und möchtet ihr an mich / Die Hände legen? was?“ bis „Ihr findet mich / In einer Stunde nimmer“, StA 4, 30f.): Ein Fluch gegen Hermokrates, der „des Pöbels Zähne [ihm] aufs Herz“ hetzt, und gegen die Agrigentiner, die dem Priester zuerst folgen, die „Nahmenlosen“, denen er wünscht: „Sterbt langsamen Tods, und euch geleite / Des Priesters Rabengesang“. Sowohl die erbitterte Heftigkeit dieser Verwünschungen als auch die Schlusspassage über das Land, das danach vom Blut der Toten gereinigt „dürr“ stehen wird, und den Fremden, der, „wenn er auf den Schutt / von euern Tempeln tritt,“ sich fragen wird, „ob da die Stadt / Gestanden“ hat, verbinden sich mit dem im Film gezeigten Vulkanausbruch zu einem apokalyptischen Bild, in dem die Naturkatastrophe, wie für Müller typisch, die Geschichtskatastrophe der gestrandeten deutschen Utopien meint. 580 Und zwar die entwurfsartige Passage, die dem nicht ausgeführten „Schlusschor des ersten Aktes“ der ‚dritten‘ Fassung zugewiesen wird. Auf dem Blatt zu sehen sind, maschinengeschrieben, die 15 teils gebrochene Verse, von „Neue Welt / Und es hängt, eine ehern Gewölbe“ bis „Daß er beschwöre den lebendigen Geist“ (vgl. StA 4, 141). 581 „O wann wann“: wieder eine abgebrochene Stelle aus dem „Schlusschor“ der ‚dritten‘ Fassung. 582 Beschreibung nach Weigel (2011) 204. Müller und Voigt evozierten mit dem letzten Zitat, ohne sie jedoch ausführlich zu zitieren, die berühmte Rede des Empedokles an die Agrigentiner, in der er sie zur Überwindung traditioneller Lebensformen auffordert (StA 4, 65). Das utopische, wenn man will: revolutionäre Moment von Hölderlins Empedokles wurde somit in Heiner Müllers Inszenierung zugleich angedeutet und im Keim erstickt. 583 Die ihrerseits auch durch einen Film von Peter Voigt eingeleitet wurde: Atlantik zeigte dort eine Prügelszene, die eine entsprechende Szene vom Lohndrücker antizipierte (Weigel 2011, 205).

442 | Ein Theaterjahrhundert eines Krankheitsbildes“, die das Stück im Hinblick auf DDR-Verhältnisse bereits in den 1950ern leistete, bei der späten Inszenierung der Einsicht wich, „daß die Krankheit ein Geburtsfehler war, eine Erbkrankheit vielleicht“,584 zeugt diese Regiearbeit von einem Modus der Hölderlin-Transformation, der an der jüngsten Empedokles-Rezeption in Theater und Film zwar bewusst anknüpfte,585 jedoch beispielhaft für Müllers mittlere bis späte Arbeit ist, sei es in der traditionelleren literarischen Form intertextueller Transformation, sei es, wie bei der Lohndrücker-Inszenierung, in der intermedialen Überblendung von Text, Klang und Bild. Nach der Ödipus-Bearbeitung von 1967, die noch als kritische Brecht-Filiation, als ein episches Theater tragischer Grausamkeit zu interpretieren war und in dem ansonsten Handlung, Personal, dramatische Redestruktur usw. voll beibehalten waren, nahm Müllers Hölderlin-Rezeption andere Konturen an.586 Die von Anfang an präsente Faszination von einer nicht auf Mitteilung beschränkten Sprache587 und der produktiven Erarbeitung eines auch an Hölderlin geschulten Duktus und dessen Einverleibung in die eigene Dramatik, beim Ödipus, Tyrann noch eng an die Vorlage gebunden, erweiterte sich in den späteren Theaterarbeiten Müllers zu einer produktiven Aneignung über die noch für einen Brecht bindenden dramatischen Strukturen und Theaterformen hinaus. Der punktuelle Einsatz von Hölderlin-Zitaten in disparaten Text- und szenischen Landschaften lässt wie im Scheinwerferlicht ihre Fragmentarität und Bildhaftigkeit aufscheinen, die Performativität dieser Sprache. Somit kann von einem ‚postdramatischen‘ Gebrauch Hölderlins im Drama und Theater Müllers gesprochen werden, der mit zeitgenössischen, mit Hölderlin gespickten „Sprechflächen“ vergleichbar ist (Jelinek) und in diesen und den folgenden Jahren in szenischen Experimenten wiederkehrt, die von Müllers Ästhetik massiv inspiriert.

|| 584 Müller (1992) 352, zitiert bei Birkenhauer (2003) 330f. 585 Zur Vorbereitung der Inszenierung gehörte die Auseinandersetzung mit Klaus Michael Grübers Empedokles-Inszenierung (1975) und mit Straub/Huillets Tod des Empedokles-Film (1988). 586 Dies wird auch in der Einarbeitung von Versen bzw. Fragmenten aus Hölderlins Lyrik in (post)dramatische Texte Müllers spürbar. Primavesi (2003, 132f.) weist auf solche Einsprengsel in Hamletmaschine (1977) und in Verkommenes Ufer Medeamaterialien Landschaft mit Argonauten (1983) sowie in weiteren essayistischen und lyrischen Fragmenten hin. Dass die von Müller eindeutig betriebene Fragmentarisierung „Hölderlins Texten selbst schon immanent“ sei, gilt allerdings nur bedingt. Sind etwa gerade die Empedokles-Bruchstücke fragmentarisch geblieben, so heißt das nicht, dass bei Hölderlin eine intendierte Fragmentarität oder gar Fragmentarisierung in Müllers postdramatischer Manier vorliegt. Vielmehr unterliegt hier Müller der Faszination, die von Hölderlins unvollendet gebliebenem Texten ausgeht. 587 Laut Primavesi (2003a) 131 ist Müller durch die Lektüre von Walter Benjamins Hölderlin-Texten zu dieser Auffassung gelangt. Die Linie erarbeiten auch Nägele (2003) und Nägele (2005).

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Nicht ‚post-dramatisch‘ bzw. ‚nicht-mehr-dramatisch‘588, sondern ‚noch-dramatisch‘ im traditionellen Sinn hingegen ist das letzte Bespiel der Empedokles-Rezeption im literarischen Leben der DDR, das aus derselben Endphase der ‚Theaterrepublik‘ stammt, in der Müller seinen Lohndrücker mit Empedokles-Bezügen inszenierte. Die Rede ist von Uwe Saegers Schauspiel Empedokles, das (nach der wohl bis auf 1985 zurückgehenden Entstehung und der 1988 als Bühnenmanuskript bei Henschel, also im Osten, erfolgten Veröffentlichung) am 26. Mai 1989 an den Städtischen Bühnen Osnabrück, also im Westen, aufgeführt wurde, zum ersten und m.W. auch zum letzten Mal.589 Beim Autor Uwe Saeger590 handelte es sich um einen damals vierzigjährigen, frisch mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten Erzähler und Dramatiker, der seit Ende der 1970er Jahre mit Romanen und Erzählungen, die meist in seiner pommerschen Heimat spielten und den desolaten Alltag seiner größeren Heimat DDR thematisierten, eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte. Den renommierten Preis bekam er etwa für die in der DDR nie erschienene Novelle Aus einem Herbst jagdbaren Wildes (1987). Von seinen Stücken hatte insbesondere die „Ost-West-verstrickte Liebesgeschichte“ Flugversuch auf DDR-Bühnen Erfolg. Anders als die der nach-brechtschen Generation angehörenden Müller und Braun gehörte Saeger damals zu den „jungen Dramatiker[n] der DDR“ (Emmerich 1996, 349); mit dem Rekurs auf den antiken Stoff und der Anknüpfung an die deutschsprachige Literatur der Goethezeit im Empedokles wollte er anscheinend in die Fußstapfen der Älteren treten. Wenn man sein durchaus als politisches Schlüsseldrama zur DDR intendiertes Schauspiel nüchtern betrachtet, kann man das Epigonale der Operation kaum übersehen. Erstens stilistisch: Die „artifizielle, oftmals nur geschraubt wirkende Sprache“ und der „fatale[e] Hang zu Merksätzen“,591 die den Rezensenten in Osnabrück nicht entgangen war, beeinträchtigen nicht nur die Aufnahme beim Publikum, sondern auch die bloße Lektüre des Stücks. Zweitens dramaturgisch: Ist der Verriss „ermüdend verplapperte Konfusionsgeschichte“592 vielleicht exzessiv, so mutet die Handlung tatsächlich etwas unschlüssig an. Im Folgenden soll trotz seiner offenkundigen Schwächen und

|| 588 Zum Begriff des Postdramatischen im theaterwissenschaftlichen Sinne vgl. Lehmann (1999). Die Bezeichnung ‚nicht mehr dramatisch‘,in literaturwissenschaftlicher Perspektive als Eigenschaft eines Teils der Dramatik um 1989 erarbeitet, stammt von Poschmann (1997); vgl. 3.2.5. 589 Regie führte Goswin Moniac, die Dramaturgie stammte von Rolf Wilken und das Bühnenbild von Raimond Schoop. Die Inszenierung eröffnete die 15. Norddeutschen Theatertage in der niedersächsischen Stadt. Eine Fernsehausstrahlung im Dritten Programm erfolgte am 23. Oktober 1989. 590 Vgl. einführend Hanenberg (2007). 591 So in Werner Schulze-Reimpells Gipserne Klassik betitelter Besprechung (Nürnberger Nachrichten 8. Juni 1989). 592 Vgl. Michael Skasas Besprechung unter dem Titel Geballte Ladung leeres Stroh (Süddeutsche Zeitung 7. Juni 1989).

444 | Ein Theaterjahrhundert mäßigen Wirkung auf Saegers Stück wegen seiner rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung kurz eingegangen werden.593 Das aus 15 Szenen bestehende Stück594 ist in vier Abschnitte unterteilt, die chronologisch disparaten Handlungsmomenten entsprechen. Drei so genannte „Traumszenen“ bilden respektive als 3., 7. und 12. Auftritt jeweils ein Zwischenspiel innerhalb der Haupthandlung; zu dieser gehört streng genommen auch die letzte Szene nicht, die eher als Nachspiel zu verstehen ist. Die Haupthandlung, die hier knapp wiedergegeben werden soll,595 spielt im Akragas des 5. Jahrhunderts vor Christus. Empedokles wird in eine 30 Jahre währende politische Staatsaktion verwickelt, die er als triumphierender Revolutionsführer gegen die Tyrannei beginnt und als ein in die Emigration Vertriebener beendet. Verwendungen antiker historischer oder literarischer Quellen wie Bezüge auf Hölderlins Trauerspiel fehlen beinahe gänzlich, die von Saeger phantasierte Geschichte soll wohl als Metapher der DDR-Geschichte gelesen werden, wie ihre zentralen Motive nahelegen: Ausartung der nach dem Tod des Tyrannen errungenen Freiheit in eine neue Tyrannis, Entfremdung zwischen den Intellektuellen und den früheren Kampfgenossen, die zu Diktatoren werden.596 Wo bleiben Hölderlin und sein Trauerspiel? In den „Traumszenen“, also in der Nebenhandlung. Dort tritt der Dichter gar als dramatische Figur auf; seine dramatischen Fragmente über Empedokles werden dort eingebaut, beinahe als Kommentar des Geschehens. In der Haupthandlung taucht hingegen nur ein einziges variierendes Zitat auf, und zwar in Empedokles’ Mund. „Wer es auch sein wird“, heißt es vom neuen Machthaber nach dem Sturz des Tyrannen in der ersten Szene des Stücks, er müsse „ein Mann der Tat sein, denn nur an seinen Taten mißt man den König, auch,

|| 593 Eine Untersuchung von Saegers Stück vor dem Hintergrund des Antike-Diskurses in der DDR habe ich in Castellari (2009b) versucht; einige Gedanken und Ergebnisse dieser Untersuchung werden oben eingearbeitet mit dem Ziel, das „Schauspiel“ in die Hölderlin- und Empedokles-Rezeption der 1970–80er Jahre einzuordnen. 594 Das Stück wird aus dem Wiederabdruck in Verkleidungen zitiert, einer Sammlung von Texten mit Antike-Bezug, wo auch ein Vorwort des Autors unter dem Titel Verkleiden und Offenbaren. Verstecken um zu zeigen zu lesen ist (Saeger 1998, 5–7). Laut eigener Aussage steckte hinter den dort literarisch heraufbeschworenen Figuren „die Behauptung des Ich“. „Empedokles, der, als das Volk mit dem Schrei ‚Frei! Frei!’ auf die Bühne stürzt, in seinem Haus abseits sitzt und über seine Moralität als Künstler sinniert“, sei „der ungebrochene Gestus des Autors selbst“ (6). 595 Vgl. dazu ausführlicher Castellari (2009b) 415f. 596 Die ersten Worte des Endmonologs bringen das Verhältnis zwischen der antiken Staatsaktion und der Krise der Republik im Jahr 1989 auf den Punkt: „Also: Das Stück ist beendet. Obwohl, es ist noch nicht zuende gespielt. [...] Die Zeitform des Stückes war eindeutig zwischen Futur (die Zukunft) und Präsens (die Gegenwart) gewählt, das Präteritum (die Vergangenheit) also“ (108). Der Schlusskommentar geht dann zu einer Auseinandersetzung mit dem Schicksal des Empedokles über: Mit dem Ende seines Lebens und auch mit seinem literarischen Nachleben.

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wenn dies die Zeit der Könige nicht mehr sei“ (Saeger 1998, 28).597 Trotz des Konjunktivs stellt diese Variation keine Relativierung oder gar Korrektur Hölderlins dar; sie dient vielmehr – neben dem handlungsexternen Herausstellen der intertextuellen Relation, mit dem Beigeschmack der Epigonalität – der handlungsinternen Charakterisierung der Hauptfigur als politisch naiv. Die Zuversicht von Saegers Empedokles, dass nach dem Tod des Tyrannen „nicht nur das Gesicht der Macht“ wechsle, und dass der neue Machtbefugte „mit seinem Leben, mit seiner Ehre dafür“ einstehe, „daß die Zeit der Tyrannis niemals mehr wiederkehre und auch nach ihm niemals wiederkehren“ könne, denn „er hat ein Beispiel zu sein auch für den gemeinsten Mann“ (ebd.), solcher Optimismus verfremdet Hölderlins utopisch-revolutionäre Vorlage in die Aufbauhoffnungen der späten 1940er Jahre; der weitere Verlauf der Geschichte verbietet der Hauptfigur in den darauf folgenden Szenen ähnliche hoffnungsvolle Zukunftsblicke mit Zitaten Hölderlins zu begründen. Hölderlins Worte bleiben wie erwähnt in der anderen, ‚zweiten‘ Dimension aufbewahrt: im Traum. Unter den drei Traumszenen ist die letzte einer Begegnung zwischen Empedokles und Hölderlin gewidmet. Diese längste Szene des Stücks ist dramaturgisch heikel positioniert, nachdem Empedokles in der Haupthandlung von den früheren Kampfgenossen isoliert und diskreditiert wurde. Die Zusammenkunft der beiden Dichter/Denker kann als Mittelpunkt des ganzen Stücks betrachtet werden, mit starkem poetologischen Anspruch. Wie in den anderen onirischen Zwischenspielen tritt auch hier ein ‚Traumkoordinator‘ auf, der wie ein Zirkusdirektor sechs Dichter auf die Bühne ruft: Als „harmlos allesamt“ bezeichnet, erscheinen sie „vermummt, maskiert und aneinandergekettet“ (87).598 Empedokles bleibt zuerst stumm, während sich drei Dichter durch Selbstzitate als Majakovskij, Rimbaud und Trakl offenbaren; die übrigen drei bleiben unerkennbar. Erst auf Empedokles’ Nachfrage, ob es einen Griechen unter ihnen gebe, zaubert der Traumkoordinator Hölderlin herbei, der „kein Grieche, aber griechischer als jeder Grieche“ sei, „ein schwieriger Typ, ein sonderbarer Fall, imponierender Simulant, tragisches Schicksal, beispielloses Beispiel – aber, wie gehabt, harmlos“, wie der Traumkoordinator hinzufügt (88f.). Nicht der ‚aktive‘ Hölderlin tritt hier auf – etwa derjenige, der um 1799 die EmpedoklesFragmente verfasst hat –, sondern der Dichter im Tübinger Turm, der auf die ausdrückliche Frage des Empedokles mit dem Namen „Scardanelli!“ genannt werden will (89). Wie den Rezensionen zu entnehmen ist, trug Hölderlin in der Osnabrücker

|| 597 Vgl. bei Hölderlin „Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr“, StA 4, 62. 598 Eine ähnliche Revue kennzeichnet auch die erste Traumszene, die zusammen mit der oben erörterten als gelungenste Szene des ganzen Dramas bezeichnet werden kann. Dort sind es sechs Tyrannen bzw. Diktatoren, die eine groteske Diskussion über den Übergang von Revolutionen in Diktaturen eröffnen und so den Bogen zwischen Antike und Gegenwart spannen. Als Fazit könnten die Worte gelten, die Nero mehrmals wiederholt, während seine Kumpel Cromwell, Peter I., Robespierre, Napoleon und Stalin geistreich plaudern: „Variationen. Nichts als Variationen“ (46).

446 | Ein Theaterjahrhundert Inszenierung auch eine Zwangsjacke. Damit griff Saeger einerseits auf hier bereits erörterte Linien der produktiven Hölderlin-Rezeption zurück und verlieh andererseits der Begegnung zwischen Empedokles und Hölderlin eine besondere Bedeutung. Diese Begegnung erinnert in erster Linie an Weiss’ Stück,599 an dessen sechste Szene etwa mit der ins Phantastische ausgreifenden Heraufbeschwörung von Empedokles mitten im ‚realistischen‘ Kontext um 1800 als Präfiguration von Hölderlin und gleichzeitig von Che Guevara. Und sie erinnert auch an den ebenfalls phantastischen Dramenschluss bei Weiss, als in der achten Szene ein junger Karl Marx Hölderlin im Turm besucht und der angeblich Wahnsinnige in ihm den eigenen wirklichen Erben erkennt, eine Art Investitur. Als Anspielungen auf beide erwähnten Szenen bei Weiss kann man die Passagen bei Saeger lesen, wo erstens Hölderlin mit Worten aus den eigenen Texten spricht und dadurch langsam auch Empedokles dazu bringt, die ‚vergessenen‘ Verse wieder in den Mund zu nehmen,600 und zweitens beim Abschiednehmen, wenn die chronologische Logik wiederhergestellt wird und Empedokles Hölderlin „Sohn meiner Seele“ nennt (96). Allerdings wird durch diese Anspielungen auf Weiss auch eine andere Nuancierung deutlich, denn bei Saeger nimmt keine poetische Vision die politische Tat vorweg bzw. hält keine dichterische Utopie die Erwartung lebendig. Bei Saeger ist Poesie als Ort des Rückzugs aus bzw. der Isolation von der Welt charakterisiert (darin eher mit Hermlin vergleichbar), wie auch die recht irreale Atmosphäre der Begegnung zwischen Empedokles und Hölderlin suggeriert. Das flüchtige Erscheinen des Dichters – kaum zufällig im Rahmen eines Traums – in einer Tragödie, die vom Zerschellen aller politischen Illusionen und von der Entfremdung zwischen Intellektuellen und Machthabern erzählt und dabei so gut wie ohne Hölderlinzitate auskommt, ist ein Zeichen des Scheiterns. Waren bei Weiss der Entwurf von poetisch-revolutionären Zukunftsaussichten und der fremdbedingte (Selbst-)Rückzug in den Turm gleichzeitig präsent, kommt bei Saeger eher der zyklische unausweichliche Prozess zum Vorschein, bei dem das Wort des Dichters vor der Übermacht von Politik und Gewalt weichen muss. Dieses Bewusstsein war auch bei Weiss, wie oben erörtert, durchaus zu spüren, wog den visionären Schwung auf und verwies auf einen wunden Punkt des ganzen Oeuvres; bei Saeger ist die Konstellation viel eindeutiger (und banaler dargestellt). Auch gegen die noch zu erörternden Empedokles- und Hölderlin-Bilder im BRD-Theater der 1970er–80er hebt sich Saegers Drama durch seine bittere Desillusion ab.

|| 599 Die Zwangsjacke der Inszenierung ist auch als Reminiszenz an Weiss zu lesen. 600 Die bereits am Stückanfang variierte Passage: „So wagts! Was ihr geerbt, was ihr erworben, / Was euch der Väter Mund erzählt, gelehrt, / Gesetz und Brauch, der alten Götter Namen, / Vergeßt es kühn [...]“ (95; vgl. StA 4, 65).

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Dementsprechend endet die dritte Traumszene von Saegers Empedokles rasch nach Hölderlins Abgang.601 Der Traum ist ausgeträumt, Empedokles wird zum Erwachen gezwungen und seine Geschichte geht ihrem unrühmlichen Ende entgegen. Die Worte, die ihn Hölderlin gelehrt hatte, scheint er im weiteren Verlauf der Handlung vergessen zu haben oder nicht mehr gebrauchen zu können. Auf eine plakative Weise kommt es in den letzten drei Stückszenen und vor allem im Dramenschluss, als dem in die Emigration getriebenen Empedokles ein Tod aus dem Hinterhalt voraus- bzw. nachgesagt wird,602 zu einer harschen Korrektur aller Empedokles-Faszinationen. Kein Empedokles mit dem vergnügten rationalistischen Lächeln von Brechts Lehrgedicht Der Schuh des Empedokles, im Sinne einer materialistischen (und durchaus lächelnd dargebotenen) Entmythisierung neuinterpretiert; auch nicht wie beim späten Müller, in dessen gestrandeten Geschichtslandschaften die Figur des Scheiterns, des Fragments, der Zeitenwende schillernd aufleuchtet. In Saegers gleichnamigem Stück ist Empedokles, und mit ihm sein Dichter bzw. Nachfahre Hölderlin, schlicht ein Versager: Beider dichterisch-denkerisch-politische Biographien sind in tausend Scherben zersprungen. 3.2.5.2 „Alles ist offen. Das ist Hölderlin. Nichts Geschlossenes“.603 Klaus Michael Grübers Hölderlin-Lektüren und das Theater der 1970er Jahre 3.2.5.2.1 Vorspiele in und außerhalb Deutschland Als am 5. September 1973 Der Tod des Empedokles am Frankfurter Theater am Turm in der Regie von Wolfgang Wiens604 seine Premiere erlebte, konnte sich die Kritik einen mehr oder weniger polemischen Verweis auf Peter Weiss’ Stück Hölderlin nicht verkneifen. Das höchst umstrittene Hölderlin-Bild, das in dem zwei Jahre davor uraufgeführten Dichterdrama lanciert wurde (mit starker szenischer Präsenz des Empedokles und vom Empedokles), war offensichtlich noch präsent; die starke Politisierung der Hölderlin-Debatte – auch über Weiss hinaus – stiftete kein günstiges Klima für eine Differenzierung von Leben und Werk, bei den Befürwortern genauso wenig

|| 601 Ist Empedokles noch von der Wortmagie ‚seines‘ Dichters gepackt und redet er mit Zitaten weiter, die neue Horizonte entwerfen, so schlägt der Traumkoordinator sie mit Worten nieder, hinter deren Vulgarität DDR-typische Vorwürfe des Subjektivismus durchscheinen: „Wortscheiße“, „Gedankenpisse“, „Kunstkotze“ (Saeger 1998, 96f.). 602 „Vielleicht ist der später heimgekehrte Empedokles auch endgültig beseitigt worden – durch einen nicht ganz freiwilligen Sturz in den Ätna“ (Saeger 1998, 112). 603 Die Worte Klaus Michael Grübers während der Proben der Empedokles-Inszenierung 1975 gab Rolf Michaelis in seinem Zeitgenosse Hölderlin betitelten Bericht wieder (Die Zeit 19. Dezember 1975). 604 Wiens ist m.W. der einzige Regisseur, der in den 1970er–80er Jahren sowohl Der Tod des Empedokles als auch eine Sophokles-Übersetzung Hölderlins inszenierte (Ödipus, 1985 in Hamburg zusammen mit Jürgen Gosch).

448 | Ein Theaterjahrhundert wie bei den Gegnern jakobinischer Dichterporträts. Wiens gehörte dem leitenden Kollektiv des TAT an – für die frühen 1970er und insbesondere für die Bühnen am Main ein höchst brisantes Modell, das mit der politischen Akzentuierung der Spielplangestaltung im Zusammenhang stand605 – und hatte sich seinerseits in Weiss’ Nachfolge gestellt, indem er den Tod des Empedokles als Revolutionsstück inszenierte, genauer: Als Stück über die bzw. aus der Zeit der Französischen Revolution und nicht mehr als antike Tragödie. Zum m.W. allerersten Mal in der Bühnengeschichte von Hölderlins Trauerspielfragmenten kamen in Frankfurt Schauspieler auf die Bühne, deren Kostüme weder die antike Zeit des Empedokles evozierten noch in ahistorische Abstraktheit gerückt wurden, sondern auf das Frankreich des späten 18. Jahrhundert verwiesen, somit auch grob auf Hölderlins Epoche und auf die Entstehungszeit seines Empedokles; entsprechend lautete das Motto der Inszenierung égalité, liberté, fraternité, und entsprechend waren das Bühnenbild und die Choreographie gestaltet. Bezeichnenderweise werden in den vorliegenden Quellen zur Inszenierung lediglich vage Angaben zur Textvorlage gemacht: Brisanter als die bis in die 1960er Jahre hinein zentrale Frage der Fassung bzw. Bearbeitung erschien offensichtlich eine ‚revolutionäre‘ Lektüre der Fragmente.606 Etwas ähnliches geschah im fernen Neapel, wo im selben Jahr die italienische Uraufführung vom Tod des Empedokles stattfand; bis Ende 1974 war diese Version des Collettivo Libera Scena – auch hier von einem Kollektiv also, das von Gennaro Vitiello als Regisseur geleitet wurde – auf verschiedenen Bühnen der Golfstadt zu sehen.607 Ein Seitenblick auf den italienischen Kontext dieser Empedokles-Landespremiere ist auch für die parallele Entwicklung im deutschsprachigen Theater lehrreich: Auch über den italienischen Weg gelangt man auf Klaus Michael Grüber, jene Hauptfigur der Theaterpräsenz Hölderlins Mitte der 1970er Jahre überhaupt, dem dieses Kapitel schwerpunktmäßig gewidmet ist.608 Die Hölderlin-Rezeption auf italienischen Bühnen hatte schon in den 1960ern begonnen, aber zunächst indirekt; dabei war der politische Akzent von Anfang an bestimmend. Vermittelt über zwei aktualisierende || 605 Vgl. Brauneck (1993–2007) 5, 329f., wo es mit Bezug auf das Schauspiel Frankfurt, das damals von einem Dreier-Direktorium geleitet wurde, zusammenfassend heißt: „Theater und Politik: dies bedeutete also [...] nicht nur, daß auf der Bühne, auf der Ebene der Inszenierung politisch Stellung genommen, aufgeklärt wurde, sondern daß auch das Theater als Produktionsstätte ‚demokratisiert‘ war“. Das Mitbestimmungsmodell, inoffiziell auch im TAT in der Form eines Leitungskollektivs verwirklicht, war damals auch für die Berliner Schaubühne prägend: Insbesondere von jenem Berliner Modell mit der Leitung Peter Steins gingen bundesweit Impulse für Reformen des Theaterwesens aus. 606 Vgl. dazu die im Hölderlin-Archiv aufbewahrten Rezensionen zum Stück. 607 Die Uraufführung fand im Vorort Torre del Greco statt (7. Dezember 1973, Teatro Orione), weitere Inszenierungen in Neapel (Teatro Mediterraneo, Teatro delle Arti, vd. Universitätsbühnen). 608 Zur italienischen Bühnenrezeption Hölderlins vgl. Castellari (2006a), zu den Empedokles-Inszenierungen in den 1970er Jahren insb. 309–311. Auf diese Studie, wo erstmals die neapolitanische Inszenierung als italienische Uraufführung eines Hölderlin-Textes ausgemacht wurde, sei für weitere Daten verwiesen.

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Transformationen, d.h. über Brechts Antigone-Bearbeitung (Erstaufführung in Triest, März 1964, vgl. 3.2.2) und noch intensiver über Bruno Madernas Oper Hyperion, wurde Hölderlin mittelbar Teil des italienischen Bühnenlebens. Madernas „lirica in forma di spettacolo“, in einer ersten Version 1964 im Rahmen der Venedig-Biennale uraufgeführt, ist ein typisches work in progress:609 Die grundsätzlich ständiger Variation offene Werkform nimmt je nach Version auf Hölderlins Roman unterschiedlichen Bezug: Einige Passagen kann man als Textvertonungen verstehen, andere sind eher als Orchesterkompositionen aufzufassen, die ohne Textzitate auskommen aber im Paratext, etwa in ihren Titeln, auf die hölderlinsche Quelle verweisen.610 Zentral ist in Madernas Hölderlin-Arbeit, die darin internationale Tendenzen der dramatischen Rezeption der 1970er Jahre vorwegnahm, das Pochen auf eine Geistesverwandtschaft mit dem schwäbischen Dichter und ‚seiner‘ fiktiven Hyperion-Figur als Paradigma des modernen (engagierten) Intellektuellen bzw. Künstlers. In der Hyperion-Oper verschmelzen demgemäß der Neugrieche, der Deutsche und der italienische Musiker zur Hauptfigur des Dichter-Flötisten, der vergeblich gegen die Figur „Maschine“ kämpft, um schließlich zu verstummen. Der Versuch, das gestörte Verhältnis zwischen Subjekt und Welt wieder zu einem Gleichgewicht zu bringen, scheitert.611 Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass dann der erste italienische Empedokles eine eindeutige politische Lektüre des Trauerspiels unternahm, in dem laut damaliger Kritik die Figur des Philosophen gar zu einem „Symbol eines modernen Kampfbewusstseins“ wurde, dessen Auseinandersetzung mit dem Priester Hermokrates als „Zwist zwischen zwei verfeindeten Klassen“ gedeutet wurde.612 Diese soziologische Behandlung des Stoffes wäre aus der politischen Atmosphäre der italienischen (Theater)-Kultur jener Jahre heraus genauer zu erörtern; in der hier wichtigen rezeptionsgeschichtlichen Perspektive ist sie am ehesten mit Peter Weiss’ Hölderlin-Stück zu vergleichen. Das Stück des deutsch-schwedischen Dramatikers, der im damaligen italienischen Theater und überhaupt in der öffentlichen Diskussion

|| 609 Zu Madernas Lebzeiten folgten der Uraufführung zwei weitere Theaterproduktionen und drei konzertante Inszenierungen, bei denen in ständig neuer Kombination, auch durch Zitate aus disparaten Werken, die durch Hyperion inspirierten Stücke zusammengesetzt wurden. Zu Madernas Hyperion-Oper im Rahmen der musikalischen Hölderlin-Rezeption vgl. neben Lawitschka (2002) 505 vor allem Wetters (2012). Die Rückbesinnung auf Hölderlin im Zeichen des Fragment-Begriffs und der Vorstellung vom Kunstwerk als work in progress lässt Madernas Hyperion als musikalisches Pendant und Vorwegnahme von Grübers Hölderlin-Inszenierungen der 1970er Jahre erscheinen. 610 Ähnliches geschieht im anderen großen Beispiel italienischer Hölderlin-Rezeption in der Musik, d.h. Luigi Nonos Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979): Dort stehen Hölderlin-Zitate wie Vortragsbezeichnungen in der Partitur und begleiten die traditionellen Spielanweisungen. 611 Die stark aktualisierenden und zugleich verallgemeinernden Züge von Madernas Oper, zusammen mit der großen Freiheit, die gemäß den Grundsätzen der Aleatorik ihren späteren Interpreten gewährt wird, haben ihr eine kontinuierliche Präsenz auf den Bühnen der ganzen Welt gesichert. 612 Vgl. die mit der Sigle G.B. versehene Rezension (L’Unità 27. April 1974).

450 | Ein Theaterjahrhundert sehr präsent war, lag genau seit 1973 in Übersetzung vor, auch wenn es überraschenderweise, anders als Weiss’ frühere Dramen in Italien, weder damals noch später inszeniert wurde.613 3.2.5.2.2 Grüber I: Empedokles. Hölderlin Lesen (1975) Mit der Frankfurter Inszenierung Wiens’ hatte Vitiellos Neapolitanischer Empedokles neben der Entstehung aus einer Kollektivarbeit, der politischen Akzentuierung und der relativen Unbekümmertheit hinsichtlich der Textfrage auch die verhältnismäßig schwache Resonanz über den jeweiligen Kontext hinaus gemeinsam. In beiden Ländern sollten wenige Jahre darauf Empedokles-Inszenierung auf die Bühne kommen, die eher Zeichen setzen konnten. Nun ist jedoch mit der italienisch-deutschen Parallelaktion Schluss, denn die beiden neuen Inszenierungen sind nicht als zwei unabhängige, Ähnlichkeiten aufweisende Erscheinungen zu vergleichen, sondern die italienischen Inszenierungen wurde von der deutschen stark inspiriert. Diese wurde schnell zum anerkannten Vorbild aller Empedokles-Inszenierung innerhalb und außerhalb Deutschlands, und zwar in vielerlei Hinsicht bis heute. Die Rede ist von Klaus Michael Grübers Inszenierung Empedokles. Hölderlin lesen, die am 14. Dezember 1975 an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer uraufgeführt wurde. Nach einhelliger Meinung bildete diese Inszenierung eine Wende in der Bühnengeschichte vom Tod des Empedokles: Grübers „gänzlich neue[r] Zugang zu Hölderlins Trauerspiel“, so Jörg Ennen (2008, 103), stellt in Theresia Birkenhauers Worten „eine Zäsur“ dar (2002, 223); auch außerhalb der auf Hölderlins Theater fokussierten Forschung, etwa in der theatergeschichtlichen und theaterwissenschaftlichen Literatur,614 wird sie als Meilenstein sowohl in Grübers glänzender Laufbahn, insbesondere in seiner fast dreißigjährigen Mitarbeit an der Berliner Schaubühne,615

|| 613 Bereits bei Banchelli (2000) 84 lag der gleiche Befund vor (mit der gleichen Verwunderung). 614 Vgl. zu Grüber einführend den frühen Sammelband Carstensen (1988), dessen Vorzug u.a. die aufgenommenen Selbstäußerungen des Regisseurs sind, und eingehend die exzellente Monographie Kreuder (2002), auf dessen Einzelanalysen von Grübers Hölderlin-Inszenierungen zurückzukommen sein wird. Der Sammelband Dermutz (2008) setzt seinen Schwerpunkt auf spätere Regiearbeiten Grübers, insbesondere im Musiktheater; nichtsdestotrotz bestätigen sowohl die Charakterisierung von Grübers Theaterästhetik aus der „Perspektive der Wanderschaft“ (1), als auch die abgedruckten Aussagen von Weggefährten wie Bruno Ganz (113–125) und Peter Stein (133–151) die zentrale Rolle der Berliner Empedokles- und Hyperion-Arbeiten aus den 1970er Jahren. 615 Ans Hallesche Ufer wurde Grüber von Peter Stein gerufen, nachdem er sich durch die frühe Arbeit in Mailand bei Giorgio Strehler und vor allem durch die Bremer Erfolge bei Kurt Hübner als bedeutender junger Regisseur profiliert hatte. Grübers Debüt in Berlin bildeten 1972 Ődőn von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald. Es folgten unter anderem die Backchen-Inszenierung im Rahmen des Antikenprojekts I (1974) und Arbeiten an Shakespeare, Kleist, Tschechow, Pirandello, Beckett und Nabokov. Die letzte Schaubühne-Inszenierung Grübers war 1988 Goethes Iphigenie auf Tauris.

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als auch im von ihm als Querdenker mitgeprägten „Jahrzehnt der Regisseure“ entsprechend gewürdigt (Brauneck 1993–2007, 5, 302). Dabei wird oft die zweite Hölderlin-Inszenierung Grübers ergänzend bzw. vergleichend hinzugenommen,616 d.h. die Winterreise betitelte, rasch legendär gewordene Freilichtperformance im Olympiastadion, die in eisigen Dezembernächten des ‚deutschen Herbstes‘ 1977 Hölderlins Hyperion-Roman zum Fragment historischer, politischer, intellektueller Erinnerungsund Besinnungsarbeit machte. Es gilt nun, diese beiden Inszenierungen gesondert zu erörtern; insbesondere wird erstens der Versuch unternommen, den „Zäsur“-Charakter der Empedokles-Inszenierung zu präzisieren, wie auch deren Vorbildfunktion für die darauffolgenden Bühnenrezeption darzulegen; zweitens soll Winterreise im Olympiastadion in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive als eine textuelle und szenische Grenzen sprengende Aufführung diskutiert werden, die sich als ebenso prägend für den weiteren Verlauf der Theaterrezeption Hölderlins erweist. Einen Einblick in die künstlerische Figur Grübers und in die in manchem aparte Stelle, die seine poetisch-visionäre Ästhetik in der Theaterlandschaft seiner Zeit einnahm, geben nachträglich die Nachrufe, die im deutschen Feuilleton 2008 erschienen, als der 67-jährige Regisseur in der Wahlheimat Frankreich verstarb.617 Im Licht der Begriffe, auf die dort rekurriert wurde (Traum, Wanderschaft, Surrealismus, Symbolismus, poetischer Realismus usw.), wurde der „szenische Poet“, gar „Poet und Philosoph“618 einerseits zum „Antipoden“ Peter Steins,619 andererseits zum „Geistesbruder“620 Hölderlins. Anders als der textnahe, rationale und luzide Stein habe Grüber, so etwa Peter Kümmel, „assoziative Sprünge“ bevorzugt, er „bewegte seine Schauspieler und Figuren als ‚Zeichen‘ einer unlesbaren Schrift oder einer ausgestorbenen Sprache – eher dem Verstummen als der Aufklärung verpflichtete Nomaden, Rätselwesen“.621 Gerade die beiden Hölderlin-Inszenierungen, an die nach dreißig Jahren in diesen Nachrufen noch erinnert wurde, hätten diesen Inszenierungsstil zu

|| 616 Beispielsweise in der frühen eindringlichen Formulierung von Peter Iden: „die beiden HölderlinAbende“ Grübers seien „Einschnitte“ gewesen, denn sie hätten Publikum und Kritik vorgeführt, „daß die Bühne [...] der Ort ist, an dem wir, auf nachdrücklichste, härteste, schmerzlichste Weise, auf uns selbst zurückgeworfen sind“ (Iden 1979, 187). Auch historische Rekonstruktionen, die Grübers Hölderlin-Arbeiten kritischer gegenüberstehen, in ihrem Abschied von den Konventionen des Theaters vor allem die Gefahr der „Selbstauslösung“ erblicken und nicht versäumen, Grübers Gang „an die Grenzen theatraler Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit“ zu monieren, würdigen den erstmaligen „Versuch, sich der Fremdheit dieser Sprache und der Hermetik dieser Gedankenwelt auszusetzen“ (Brauneck 1993–2007, 5, 320), also die Hölderlin-spezifische Tragweite beider Inszenierungen. 617 Vgl. dazu auch Castellari (2010a) 185–189, zur Empedokles-Inszenierung 192–197. 618 So Peter von Becker (Der Tagesspiegel 24. Juni 2008). 619 So Peter Kümmel (Die Zeit 26. Juni 2008). 620 So Gerhard Stadelmaier (Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. Juni 2008). 621 Kümmel, Die Zeit 26. Juni 2008.

452 | Ein Theaterjahrhundert voller Reife geführt: Wie sein ‚Landsmann‘ Hölderlin und eigentlich auch wie Empedokles von Akragas habe Grüber Dichten und Denken zusammengehalten und, dies sein Geniestreich, in szenische Sprache umgesetzt, vor allem auf visueller Ebene. Gerade der Antipode Stein, der die Begegnung mit Grüber als „das Wichtigste in meiner Theaterlaufbahn“ bezeichnete,622 hat vom bewunderten Kollegen behauptet, wie Kümmel berichtet: „Der habe nie lesen müssen. Der habe – gesehen“.623 Nun ist jedoch gerade ‚Lesen‘ das Stichwort, das Grüber selber seiner szenischen Arbeit zu Hölderlins Tod des Empedokles gab und von dem es auch bei einer Erörterung anzufangen gilt. Denn die Berliner Inszenierung hieß: Empedokles. Hölderlin lesen. Was für ein Lesen wurde gefordert, und von wem? Wie ist der für eine Theaterinszenierung recht demonstrative Titel zu verstehen? Es lohnt sich, zuerst Missverständnisse auszuräumen. Selbstverständlich ist bereits bei Peter Stein mit intendiert, dass Grüber zwar vielleicht nicht lesen musste, lesen tat er aber natürlich viel, und zwar intensiv. In der langen Vorarbeit zur Empedokles-Inszenierungen wurden sechs Monate Auseinandersetzung mit Hölderlins Fragmenten einkalkuliert. Zweitens hat Grüber mit dem Verweis auf ‚Lesen‘ keine philologische Arbeit in Aussicht gestellt; umso weniger wurde eine Lesung oder Vorlesung als Darbietungsform präfiguriert oder präferiert,624 geschweige denn der abgedroschene Begriff des Lesedramas für Hölderlins Trauerspiel wieder aktiviert. Grüber schuf eine Theaterinszenierung, die gerade das Gegenteil voraussetzte: Dass Der Tod des Empedokles als performativer Text im multimedialen Theater der Gegenwart seine eigentliche Bestimmung hat. ‚Lesen‘ sollte in erster Linie einen Prozess der Lektüre als Interpretation/Aktualisierung bezeichnen, der jedes Mal von vorne anfangen muss – in den Proben, in der Inszenierung selbst und in der bei jeder Aufführung stattfindenden ästhetischen Kommunikation mit dem Publikum, der sein zu Lesendes ‚nach Hause‘ mitnimmt.625 Der Prozess selbst, die Suche nach der geeigneten Form, der Versuch, sich die Spielbarkeit zu erarbeiten, stand bei Grüber im Mittelpunkt.626 Möglicherweise klingt im Ausdruck ‚Lesen‘ auch die etymologische Bedeutung des Wortes mit, die etwa in ‚(aus-)erlesen‘ bzw. (Aus-)Lese‘ bewahrt ist: Empedokles inszenieren

|| 622 Vgl. Steins so betitelte Aussagen in Dermutz (2008) 133–151. 623 Ebd. 624 Aus diesem Grund ist Ennen mit seiner Bezeichnung von Grübers Inszenierung als „textkritische szenische Lesung“ auf dem Holzweg, dasselbe gilt für die Rede von einer „unter der Prämisse einer eigentlichen Unspielbarkeit des Textes“ von Grüber entwickelten „These des Lesedramas“ (Ennen 2008, 103). 625 Bereits Peter Iden vermerkte in seiner Besprechung, es sei „dem Ensemble im Umgang mit den Texten Hölderlins die Notwendigkeit immer bewußter geworden, nicht ein Produkt der Annäherung, sondern diese selbst, im weitesten Sinne also den Prozeß des Lesens, zur Darstellung zu bringen“ (Frankfurter Rundschau 17. Dezember 1975). 626 Vgl. Birkenhauer (2002) 223.

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hieße demnach Hölderlin lesen auch in dem Sinne, dass man die dramatischen Fragmente für die Theaterarbeit auswählt und in dieser fragmentarischen poetischen Landschaft einiges ausliest, das dann szenisch umgesetzt wird. Wie die Anordnung der drei Worte im Inszenierungstitel nahelegt, galt das Lesen in dem erörterten vielfachen Sinne zumindest tendenziell dem ganzen Hölderlin: Grübers Theaterarbeit erhob den unbescheidenen Anspruch, eine andere (neue, zeitgemäße) Empedoklesund Hölderlin-Lektüre anzubieten. Ein Blick in das Programmheft der Schaubühne-Inszenierung bringt das soeben dargelegte – Prozessualität und Fragmentarität des Hölderlin-Lesens – klar zum Vorschein wie auch die Verbindung von Grübers Programm mit parallelen Tendenzen der Hölderlin-Rezeption jener Jahre. Es wurden dort nämlich heterogene Texte versammelt, zum einen einige, die die Wirkung Hölderlins bei späteren Dichtern dokumentieren (also bei anderen Hölderlin-Lesern, vgl. etwa die abgedruckten Gedichte von René Char und Johannes R. Becher),627 zum anderen zwei anspruchsvolle Hölderlin-„Lektüren“, die den Nexus Fragment-Prozess bzw. Schreiben-Lesen verdeutlichen. Von Prämisse und Methode der Frankfurter Hölderlin Ausgabe ausgehend, die gerade im Jahr 1975 mit politisch und ästhetisch provokativem Gestus die HölderlinPhilologie zu stürzen und die bis dahin verkannten, wie weiland den Dichter/Revolutionär im Turm „im Asyl des Apparates“ versteckten fragmentarisch-prozessualen Texte auszugraben versprach (Metzger 2002, 7),628 wurden im Programmheft der Inszenierung Grübers die Mnemosyne-Entwürfe und anschließend Der Tod des Empedokles. Ein Trauerspiel in fünf Akten abgedruckt. Die Gesangsfragmente wurden direkt aus der Werkstatt der FHA antizipiert, dementsprechend präsentierte das Heft konstituierten Text, Faksimile, Umschrift, Phasenanalyse samt editorischer Notiz und Erklärung von Schriftarten und Zeichen. Der Dramentext wurde hingegen mit dem Untertitel Fragment versehen und bestand eigentlich – in Ermangelung eines Besseren629 – aus dem von Friedrich Beißner konstituierten Text der ‚Dritten Fassung‘: Diese lag fast ausschließlich der Berliner Inszenierung zugrunde. Mag dies auf den ersten Blick philologisch-textkritische Interessen bedienen und wurden tatsächlich die im Programmheft abgedruckten Texte in Form einer Lektüre

|| 627 Chars Gedicht wird in deutscher Übersetzung abgedruckt (Prometheus und Steinbrech zugleich. Für Denise Naville), darauf folgt Bechers Auswahl. Das Programmheft, das im Hölderlin-Archiv aufbewahrt ist, enthielt beide oben beschriebenen Hölderlin-„Lektüren“ sowie die Abbildung einer Empedokles-Handschrift mit Transkription (drei Seiten), die Bleistiftzeichnung von Louise Keller, Hölderlin mit 72 Jahren darstellend, eine dem Einleitungsband der FHA entnommene biographische Übersicht, den angeblichen Hymnenentwurf In lieblicher Bläue, verstreute Bemerkungen zur Inszenierung und zu Rahmenveranstaltungen, eine Bibliographie. Die Aufmachung des Heftes vermittelt die gründliche Auseinandersetzung mit Hölderlin, die dem ganzen Inszenierungsprojekt zugrunde lag. 628 Im Programmheft war auch das Prospekt der FHA als Beilage dazugelegt. 629 Der Empedokles-Band der FHA sollte erst 1985 erscheinen.

454 | Ein Theaterjahrhundert dargeboten,630 so darf nicht vergessen werden, dass all diese Vorarbeit auf die Theaterinszenierung hinzielte. Grüber und sein Dramaturg Dieter Sturm waren auf der Suche nach einer angemessenen szenischen Realisation. Sie konnte nach dem Gesagten nur von dem Grundsatz ausgehen, dass Der Tod des Empedokles ein im prozessualen Akt des Schreibens Bruchstück gebliebener Text ist und dementsprechend szenisch ‚gelesen‘ werden musste, also: Wie ein Fragment inszeniert. Damit machte die Schaubühne-Produktion Konstanten der Bühnenrezeption des Empedokles obsolet, indem sie sie hinterfragte. Ein Lesedrama? Lesen ist genauso wie Schreiben als ein prozessualer Akt zu verstehen und kann in seiner Zeitlichkeit und Vieldeutigkeit inszenatorisch verwirklicht werden. Fragment? Auf diese Texteigenschaft wurde nicht dadurch reagiert, dass man eine kompilierende bzw. ergänzende Bearbeitung herstellte, sondern dadurch, dass der Text in seiner Unabgeschlossenheit inszeniert wurde, wobei die Unvollständigkeit selbst ernst genommen und existentiell-politisch gelesen wurde. Empedokles als work in progress, so dass Künstler und Zuschauer die Möglichkeit hatten, Hölderlin zu lesen, sprich: dem Dichter, den Widersprüchen seines Lebens und Werks unverfälscht, unharmonisiert zu begegnen. Denn, so im Programmheft: „Vom Prozeß des Hölderlinschen Schreibens, das, insbesondere in seiner Spätphase, ‚Endergebnisse‘, ‚Vollendetes‘ kaum mehr kennt, vermittelt sich so eine Ahnung, die unverzichtbar ist für jeden Versuch, Hölderlin zu lesen“.631 Für die so ‚gelesene‘ ‚dritte Fassung‘ des Empedokles schufen Grüber und seine Mitarbeiter dann plurale Theaterräume, Theaterzeiten, Theatersprachen. Den wenigen Ätna-Szenen jenes letzten Trauerspiel-Entwurfs wurden, wie auch im Programmheft vermerkt, Passagen aus dem Anfang der ‚Ersten Fassung‘ angehängt – ein weiterer distanzierender Gestus, weg von der üblichen Praxis der vereinheitlichenden Bearbeitung hin zur Betonung des Bruchstückhaften. Hinzu kam der Verzicht auf eine mehr oder weniger rekonstruierte Handlung, der gegenüber eine Verdoppelung des Bühnenraums und des Bühnengeschehens stand: Die L-förmige Bühne wurde eingeteilt, rechts und links schufen die Bühnenbilder von Antonio Recalcati zwei verschiedene Bühnenräume. Dort agierten zwei verschiedene Personenkonstellationen, auf

|| 630 Beide „Lektüren“ wurden im Rahmen von die Inszenierung begleitenden Veranstaltungen realisiert. 631 So im Programmheft.

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den ersten Blick in nicht kommunizierenden Chronotopoi:632 Auf der erhöhten Hauptbühne rechts, die von einer an Caspar David Friedrichs Gemälde Das Eismeer633 inspirierten Ätna-Landschaft dominiert war, spielten Bruno Ganz (Titelrolle) und weitere Schauspieler Hölderlins Empedokles-Bruchstücke „langsam und silbengenau“.634 Einige szenische Elemente irritierten die Erwartungen des Publikums: Die Inszenierung evozierte kein antikes Setting, die Kostüme von Manes (Willem Menne) und Pausanias (Hans Dehl) stimmten mit dem frühen 19. Jahrhundert überein, das im FriedrichBildzitat evoziert wurde, während Bruno Ganz „wie ein moderner Polarforscher, als aktualisierte Version des antiken Philosophen und Naturforschers Empedokles“ auftrat (Kreuder 2002, 113); noch andere Assoziationen weckten wiederum dessen Wanderstab – Empedokles, Christus, das goethezeitliche Wanderer-Motiv – wie das kleine, auf die Französische Revolution verweisende Trikolore-Fähnchen.635

|| 632 Vgl. Kreuder (2002) 115, der allerdings nur die rechte Bühnenhälfte als Chronotopos, als „ZeitRaum, in dem sich die verschiedensten Zeiten verdichten“, versteht. Mir scheint hingegen die Inszenierung zwei zeitlich-räumlich multidimensionale Bühnenwelten gegenüberzustellen, die vielschichtig sind und, vermittelt durch den am Schluss inszenierten Übergang des Helden von der einen in die andere, am jeweilig anderen Chronotopos partizipieren. 633 Oft wird Friedrichs Gemälde mit dem Unter- oder alternativen Titel Die gescheiterte Hoffnung bezeichnet; das Bild zeigt tatsächlich zwischen den Eisschollen schiffbrüchige Wrackteile. Diese an sich ungenaue Bezeichnung (Kreuder 2002, 115) ist rezeptionsgeschichtlich zu berücksichtigen, denn sie ging in nicht wenige damalige Kritiken ein, in denen die politische Symbolik auf der Basis dieses Kurzschlusses gedeutet wurde; man kann auch davon ausgehen, dass vonseiten der Produktion solch eine Assoziation intendiert war. Rein bildlich reicht das Eismeer aus, um Assoziationen mit politisch zu deutenden Begriffen wie Eiszeit, Erstarrung usw. zu aktivieren. Die durch das Bild-Zitat evozierte vereiste Ätna-Landschaft ist auch Gegenpol zur Empedokles-Metaphorik des Feuers und des Vulkans. 634 So Georg Hensel in seiner Rezension (Frankfurter Allgemeine Zeitung 16. Dezember 1975). Uneinig waren sich damals die Kritiker in der Beurteilung dieser Sprechweise (vgl. etwa sehr kritisch Joachim Kaiser am selben Tag in der Süddeutschen Zeitung). Kreuders Einschätzung aus der heutigen Perspektive fällt positiv aus und betont vor allem die evokative und performative Kraft des langsamen Versesprechens (Kreuder 2002, 123). 635 Vgl. Kreuder (2002) 113. Dort werden die Kostüme von Manes und Pausanias als Zitate eines weiteren berühmten Bildes Friedrichs, Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, interpretiert. Die Aufmachung des Empedokles auf dem Ätna („Pelzmantel, dicke Pelzhandschuhe, eine Pelzkappe über einer Kopf und Nacken schützenden Wollhaube und eine schwarze Schneebrille“) wich bei der Abschiedsrede einem farblosen Gewand, das ihn eher zurück in die Antike rückte (die griechische, aber auch die christliche). Unter den Rezensenten betonte insb. Peter Hans Göpfert die Annäherung des Empedokles an einen Polarforscher (Amundsen; vgl. Basler Nachrichten 23. Januar 1976). Das TrikoloreFähnchen sollte wohl der Explorator Empedokles an seinem Ziel in den Boden treiben; allerdings war in vielen Rezensionen von dem heruntergekommenen Zustand des Fähnchens die Rede. Neben dieser politischen Lektüre erinnert Kreuder an die christologische: Das Fähnchen trägt Empedokles in seiner einen Hand, in der anderen einen Apfel, dies sei als eine Variation der ikonographischen Attribute des Weltenherrschers Szepter und Reichsapfel zu lesen. Auch die Haltung des Empedokles erinnere daran (Kreuder 2002, 115). Die szenisch eröffneten Assoziationsräume sind, wie man sieht, zahlreich.

456 | Ein Theaterjahrhundert

Abb. 10: Empedokles. Hölderlin lesen (Berlin/West 1975). Regie: K.M. Grüber. B. Ganz als Empedokles, H. Diehl als Pausanias

Auf der Nebenbühne links, dem Wartesaal eines heruntergekommenen Bahnhofs, lungerten sechs so gut wie stumme Menschen der 1970er-Jahre-Gegenwart herum – hier waren Raum und Zeit eindeutig, ja überdeutlich konnotiert. Das Personal bewegte sich sehr langsam zwischen Bänken, Schaltern, Abfallkörben, Koffern; es waren „gewöhnliche Gestalten aus dem Volk, einsam, einander fremd, in dunklen Anzügen bzw. Kleidern“ (Kreuder 2002, 113). Das Warten auf eine wohl nicht zu realisierende Reise – die Tür des Saals war zugemauert, Gleise oder Züge waren nicht zu sehen – wie auch das Ausbleiben jeglicher Kommunikation, Solidarität, Handlung verlieh dem Ganzen beckettsche Züge;636 die Figuren waren wie gelähmt in ihrer Einsamkeit, Ernüchterung und Verzweiflung. Zur Engführung der mit beiden Bühnenteilen und -Geschehen verbundenen Motive kam es am Ende der Inszenierung durch einen genialen Streich Grübers; das Assoziationsnetz beider ‚Handlungen‘ wurde somit additiv weiter verzweigt, der Schluss der Empedokles-Inszenierung war, mit der ganzen ‚Hölderlin-Lesen‘-Operation kohärent, multidimensional, fragmentarisch, prozessual – in einem Wort: offen. Der „Sturz in den Tod, der als Sturz in den Aetna gedacht war“ (allerdings bei Hölderlin nicht gestaltet!), bemerkte ein Rezensent, wurde durch einen „Sturz in die Wirklichkeit“ ersetzt bzw. als solchen dargestellt – in die Wirklichkeit des gegenwärtigen Alltags, könnte man präzisieren.637 Tatsächlich erstieg nach dem Gespräch mit Manes

|| 636 Darauf verwiesen die aufmerksamsten Rezensenten. Vgl. die bereits oben angeführten Besprechungen Hensels und Idens, wo es heißt: „Grüber führt den Empedokles fast in die Nähe der späten Stücke Samuel Becketts“. Vgl. auch Iden (1979) 187–199. 637 So Dieter Beisel in der National-Zeitung (Basel) 17. Januar 1976.

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der Wanderer Empedokles seinen Vulkan nicht weiter, sondern begab sich in den Bahnhofssaal, die räumlichen und zeitlichen Grenzen zwischen rechtem und linkem Bühnenraum überschreitend. Nun wurden Hölderlins Bruchstücke, die bisher im rechten Chronotopos gesprochen worden waren, auch den links Wartenden zuteil: Zwei Frauen wurden zu Panthea und Delia und spielten den ersten Auftritt der ‚ersten‘ Fassung,638 männlichen Figuren wurden einzelne Passagen des fragmentarischen Schlusschors der ‚dritten Fassung‘ anvertraut. Dadurch brauchte Empedokles nichts mehr zu sagen, es waren die Anderen, die über ihn sprachen, aus der Erinnerung bzw. in der Erwartung seiner Präsenz. Keiner schien zu bemerken, dass er leibhaftig unter sie gekommen war. Vor diesem symbolischen Schlussbild, vor der gesamten assoziativ und poetischvisionär gebauten Inszenierung mussten Urteile und Interpretationen unterschiedlich ausfallen. Grübers Empedokles wurde in der Kritik massiv und rege diskutiert; eine überaus breite Resonanz in heterogenen Kreisen erlangte die Inszenierung durch die Einladung zum Berliner Theatertreffen, durch die Pariser Tournée und durch die Gastinszenierung in Bad Homburg vor der Höhe anlässlich der Tagung der HölderlinGesellschaft (10.–12. Juni 1976).639 Umstritten waren sowohl stilistische als auch inhaltliche Aspekte. Zentral war 1975 insbesondere die politische Dimension: Das war zum einen durch das allgemeine intellektuelle Klima (und den als elitär-engagiert betrachteten Aufführungsort640), zum anderen durch spezifische Aspekte der Bühnenrezeption Hölderlins jener Jahre bedingt. Spätere theatergeschichtliche oder -wissenschaftliche Würdigungen von Grübers Inszenierung haben neben dieser unbestreitbar wesentlichen Konstellation auch andere Aspekte hervorgehoben; besonders unter Theaterleuten wird Grübers Empedokles. Hölderlin lesen weit über die

|| 638 Das Einsprengsel diente dramaturgisch (ähnlich wie bei Hölderlin) der erinnernden/erzählenden Vergegenwärtigung von Empedokles aus der Perspektive von Nebenfiguren, mit dem verfremdenden Zusatz, dass hier Empedokles auf der Bühne präsent ist, aber nicht wahrgenommen wird. 639 Im Hölderlin-Jahrbuch 1975–77, in dem diese Tagung wie auch die in Winterthur im Jahr 1974 dokumentiert ist, wird die Inszenierung lediglich erwähnt (Pfizer 1977); bemerkenswert ist der Umstand, dass in diesem Band des wichtigsten Forums der Hölderlin-Forschung sowohl Bertaux als auch der FHA-Herausgeber D. E. Sattler zu Wort kommen. Die Untersuchungen des französischen Germanisten sowie die Editionsprinzipien und der alternative Textbegriff der eben gegründeten Ausgabe werden auch in weiteren Beiträgen (oft kritisch) besprochen. Die Aktualität von Grübers HölderlinArbeit zeigt sich dadurch plastisch. Anlässlich derselben Tagung gastierte in Bad Homburg auch Die Ulmer Ödipus-Inszenierung von Peter Borchardt. 640 In vielen Rezensionen, nicht nur in den Verlautbarungen in provinziellen Blättern, wurde darauf Bezug genommen, manchmal wurden Buhrufe mit Genugtuung registriert. Hensel und Kaiser wären unter denjenigen zu nennen, die den Schaubühne-Kontext mit Grübers eigenwilliger Inszenierung kontrastierten; andere sahen keinen Kontrast und lasen Grübers Empedokles als elitäres Politdrama, Friedrich Luft wetterte etwa in „Die Welt“: „Zwei Stunden der Ereignislosigkeit […] sinnlos hochgestochene Übung. Zurück zum Publikum, zurück zum Theater! Die Schaubühne darf sich so trübselig, so hochmütig, so eitel versnobt, bitte, nicht weiter verrennen“ (16. Dezember 1977).

458 | Ein Theaterjahrhundert politische Aktualität hinaus als stilbildende Hölderlin-Arbeit immer noch angeführt.641 Nicht zufällig wurde in den Besprechungen mancher führender Kritiker Peter Weiss’ Hölderlin-Stück als theatralische Version eines ‚jakobinischen‘ Hölderlin-Bildes zum Vergleich mit demjenigen Grübers herangezogen. Letzterer habe das Revolutionsthema zwar auch in seine Theaterarbeit integriert – „das blau-weiß-rote Fähnchen der Französischen Revolution“ sei bei ihm allerdings „klein geworden, wie ein Stück Erinnerung trägt es dieser Empedokles so sorgfältig wie verlegen in der Hand und steckt es wie eine Miniatur in die großen schroffen Felsen“, vermerkte Günther Rühle in Theater heute, anders als Weiss, der „meinte, Empedokles in seinem Hölderlin-Drama noch einmal für die Idee der Revolution zitieren zu können“.642 Joachim Kaiser wollte in der Süddeutschen Zeitung bereits Grübers Entscheidung für die ‚dritte Fassung‘ als Beweis einer anderen Lektüre interpretieren: „Einige intensiv republikanische, antiklerikale, freiheitsbegeisterte Passagen aus der ersten Fassung, die etwa den Peter Weiss des Hölderlin-Dramas so besonders faszinierten, wurden verschmäht“.643 Georg Hensel freute sich seinerseits genauso wie viele andere Rezensenten darüber, dass am Halleschen Ufer unterschiedliche Positionen vertreten waren: „Das letzte Wort hat in der Schaubühne“, stellte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erleichtert fest, „nicht der Jakobiner, der Politiker Hölderlin“, sondern eine an Beckett erinnernde „agnostizistische Einsicht“, die malerisch (Friedrich) und musikalisch (Schubert) im Zeichen der ‚gescheiterten Hoffnung‘ untermalt worden sei.644 Tatsächlich brachte Grüber einen Empedokles auf die Bühne, der als vielschichtige Figur auch Züge eines ‚gestrandeten‘ früheren Revolutionärs hatte; ob da so ein großer Unterschied zu Weiss’ Empedokles- und Hölderlin-Lektüre zu erkennen ist, die revolutionären Elan und Scheitern, Begeisterung und Ernüchterung durchaus zusammenzuhalten scheint, sei dahingestellt;645 sicherlich traf Grübers Inszenierung

|| 641 Beim Podiumsgespräch der Berliner Tagung der Hölderlin-Gesellschaft 2010, die dem Thema Hölderlin und das Theater gewidmet war, wurde bezeichnenderweise Grüber mehrmals heraufbeschworen. Carl Hegemann hat etwa auf beide Hölderlin-Inszenierungen Grübers als „die originellsten Versuche, mit Hölderlin adäquat umzugehen“, hingewiesen; Cesare Lievi ist mit seinen eigenen Empedokles-Inszenierungen unüberhörbar Grübers Spuren gefolgt, auch Laurent Chétouanes DoppelInszenierung Empedokles/Fatzer wurde vom Regisseur mit Worten beschrieben, hinter denen die Vorbildrolle Grübers durchschien: Selbst da, wo er nicht erwähnt wurde, bis in die Aufforderung Lievis, den Tod des Empedokles wieder auf die deutsche Bühne zu bringen, klang Grübers Name nach (vgl. Vöhler 2011, 118f., passim). 642 In Theater heute (Februar 1976), unter dem Titel: Was aber sind wir und wer ist Empedokles? 643 Kaisers Besprechung (16. Dezember 1975) trug den kritisch gemeinten Titel: Nah ist und schwer zu fassen – Hölderlin. 644 Hensels Besprechung erschien am 16. Dezember 1975. 645 Selbstverständlich sind der typologische Unterschied (Drama / Inszenierung) und dadurch auch der andersartige Rezeptionshorizont zu berücksichtigen, die beide Kunstwerke kennzeichnen. Grundsätzlich suspekter erschien den Rezensenten ein Drama wie dasjenige von Weiss, das Hölderlin

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insgesamt den Nerv seiner Zeit, jene „unter Intellektuellen und Künstlern der Neuen Linke um sich greifend[e] Depression wegen der in der Realität weit hinter ihre Ziele zurückfallenden 68er Bewegung“, wie Kreuder aus dem historischen Rückblick resümieren kann (2002, 115).646 Die Aktualität ‚gescheiterter Hoffnungen‘ hat m.E. aber den Blick für die Komplexität von Grübers Arbeit am Tod des Empedokles und der damit verbundenen Intervention in die Hölderlin-Rezeption auf der Bühne verstellt, da sie sich kaum auf die Beschreibung revolutionärer Illusionen und restaurativer Befindlichkeiten beschränken lässt. Aktuell war Grübers Empedokles. Hölderlin Lesen in einem breiteren Sinn. Erstens sei angemerkt, dass Grüber das Thema politischer Revolte und Umwälzung mehrfach und variiert anklingen ließ. Die Hölderlin nächstliegende Revolution, die in der Trikolore und in anderen szenischen Elementen aufschien,647 wurde durch Anspielungen auf Bürgerkriege und Guerilla-Bewegungen ergänzt;648 auf einer höheren Ebene wurde Empedokles bei Grüber symbolisch wie durch die Brille späterer Andersdenkender bzw. Außenseiter, allesamt Figuren der erhofften Wende und des erlebten Scheiterns gesehen. In diese Reihe stellte er Hölderlin und vielleicht auch sich selbst.649 Rezeptionsgeschichtlich erweist sich dabei insbesondere der Umstand von Bedeutung, dass genauso wie bei Weiss die Aktualisierung vom Tod des Empedokles

|| als historische Persönlichkeit in den Mittelpunkt rückte und Werke einarbeitete, als eine Inszenierung wie diejenige Grübers, die ein fiktionales Werk, hier die Empedokles-Bruchstücke, inszenierte und dabei Bezüge auf den historischen Kontext herstellte. 646 Dazu aus nächster chronologischen Nähe vgl. bereits Hobson (1977). 647 Neben dem exponierten blau-weiss-roten Fähnchen als Verweis auf die Französische Revolution sei mit Kreuder auf die „Demagogentracht“, welche die Pausanias- und Manes-Darsteller tragen, und die dadurch evozierte Landschaft politischer Opposition im Deutschland der Restauration hingewiesen (2002, 115): szenisch assoziierte politische Konstellationen, die mit Momenten der Biographien Hölderlins und seiner Zeitgenossen zu verbinden sind. 648 Auf der linken Bühnenhälfte, wo zwar laut Kreuder „politische Utopien [...] zur vagen Ahnung verblichen, oppositionelle Gesten lediglich noch Rudiment“ waren (2002, 119), zielten die Verweise jedoch explizit auf politisch brisante Konstellation des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. So hielt eine alte Frau ein Foto ihres gefallenen Sohnes in den Händen, ein alter Mann sangt ein spanisches Revolutionslied; dies verbanden Rezensenten mit damaligen Ereignissen im Spanien Francos, etwa Hansjoachim Bleyl (Neue Rundschau Januar 1976). Auch Anspielungen auf Che Guevara, den wohl in den 1970ern am häufigsten mit Empedokles und Hölderlin in Verbindung gebrachten Revolutionär, wurden in den Rezensionen laut, etwa mit Bezug auf das Aussehen der Empedokles-Figur; der sehr gut informierte Rolf Michaelis, der den Proben beiwohnte, nennt die Assoziation und warnt aber gleichzeitig davor, sie überzubewerten (Die Zeit 19. Dezember 1975). 649 Mehrere Kritiker erwähnen Grüber als Vorbild für Ganz’ Empedokles-Charakterisierung, in der der antike Philosoph, der schwäbische Dichter und der zeitgenössische Regisseur zu erkennen seien. So würde die Empedokles-Figur „dem aus Bordeaux ‚leichenblaß, abgemagert, von hohlem wilden Auge, langem Haar und Bart, gekleidet wie ein Bettler‘ heimgekehrten Hölderlin ähnlich scheinen. Allerdings nicht nur ihm, sondern auch [...] Klaus Michael Grüber selbst“ (Kreuder 2002, 115).

460 | Ein Theaterjahrhundert durch eine Identifikationsreihe erfolgte, der Empedokles, Hölderlin und der jeweilige Intellektuelle/Künstler der Gegenwart angehörten. Weiss holte die dramatische Fiktion über Empedokles in die Lebensgeschichte Hölderlins hinein; Grüber arbeitete die Biographie des Dichters in die Trauerspielinszenierung ein. In beiden grundlegenden Beispielen der Hölderlin-Rezeption der 1970er Jahre stand ein Fragment-Begriff im Mittelpunkt, der als Grundeigenschaft der Empedokles-Texte (und von Hölderlins Schreibweise überhaupt) auf umfassende stilistische und inhaltliche Aspekte des Dramas/der Aufführung erweitert wurde. Fragmentarisch (unvollendet, noch im Werden) blieben die Revolutionen und die politischen Biographien ihrer Protagonisten; Fragmentarisch (offen, prozessual) war auch das Kunstwerk selbst, wie bereits sich bei Weiss teilweise zeigte und in vollem Umfang Grübers Inszenierung bewies. ‚Hölderlin lesen‘ hieß also bei Grüber, wie man zusammenfassend sagen kann, dessen dramatische Bruchstücke wie ein Wanderer zu durchmessen und sie als in ihrer Fragmentarität produktive Theatertexte zu erleben, ihren hölderlinschen „lebendigen Geist“ zu erfassen, sich ihre umfassende (d.h. auch politische) Bedeutsamkeit in Bezug auf Antike, Goethezeit und Gegenwart zu vergegenwärtigen. Ein Prozess des Lesens, der in der Theaterarbeit erprobt, in der Inszenierung vollzogen und dem Publikum weitergegeben wurde. Dadurch gewann die Zentralität des Textes bei Grüber eine ganz andere Bedeutung als in früheren Inszenierungs- und Rezeptionsformen, denen eher sakral-museale und ‚rekonstruierende‘ Auseinandersetzungen mit den Empedokles-Fragmenten vorausgingen. Hier wurden Hölderlins tragische Bruchstücke zum Ausgangspunkt für einen dynamischen ‚Lese‘-Akt, der sie aus ihrem theatralischen Dornröschenschlaf herausriss und in ihrer vielfältigen Aktualität auf der Bühne wirken ließ. 3.2.5.2.3 Grüber II: Winterreise. Hyperion und Hölderlin im Olympiastadion (1977) Zwei Jahre später verband Grüber mit seiner zweiten Hölderlin-Arbeit erneut die historisch-politische Aktualität mit der Arbeit an der poetischen Kraft des Fragments und potenzierte beides durch die Entscheidung für einen alle Theaterkonventionen sprengenden szenischen Raum als Aufführungsrahmen.650 Am 1. Dezember 1977

|| 650 Grübers Regiearbeit zeichnete sich insgesamt durch eine Vorliebe für unkonventionelle Spielorte aus. Zu erinnern ist an Die Bakchen (1974 in den Berliner Messehallen) und an den Pariser Faust Salpêtrière, 1975 in einer Kirche inszeniert.

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wurde seine Inszenierung mit dem nicht nur Schubert evozierenden Titel Winterreise651 im Olympiastadion uraufgeführt; es folgten bis zum 13. Dezember sieben Vorstellungen.652 Das Plakat zeigte hinter einem Athleten die fünf olympischen Ringe auf dunklem Hintergrund, der letzte Ring rechts blutend; im bis auf die verhältnismäßig kleine Schar der Zuschauer fast leeren Stadion tauchten wenige, semantisch intensiv aufgeladene ‚Bühnenobjekte‘ auf, darunter die Ruine des Anhalter Bahnhofs.653 Die Wunden der jüngsten deutschen Geschichte waren somit evoziert im Stadion der Olympischen Spiele 1936 und vieler NS-Paraden; mit evoziert wurde dadurch die damalige ideologische Instrumentalisierung des Sportes und des Antikenerbes als Selbstinszenierung deutscher körperlicher und geistiger Leistung. Aus der eisigen Gegenwart des deutschen Herbstes schauten die Zuschauer mit Unruhe und Angst auf diese Usurpationsgeschichte. Hölderlin wurde von Grüber bestimmt auch wegen der Rezeptionsgeschichte seiner Figur und seiner Texte im Nationalsozialismus in diesen Rahmen ge- und entführt, als weiteres Opfer dieser Usurpation. Diesmal bestand die Textvorlage hauptsächlich aus Passagen aus dem Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Obwohl hier der Ursprungstext in vollständiger Form vorgelegen hätte, wurde er genauso wie Empedokles als Fragmentenkomplex behandelt; sogar noch radikaler als bei den dramatischen Bruchstücken wurden hier Briefstücke und -Fetzen neuarrangiert. Keine Dramatisierung des Romans im herkömmlichen Sinne wurde also von der Dramaturgie hergestellt (Bernard Pautrat, Ellen Hammer), sondern eine Zitatenschleife, in der Handlungsmomente, Personen, Reden zwar noch präsent waren, jedoch nicht im Mittelpunkt standen. Die Textfetzen waren in typologische Kategorien eingeteilt und nur teilweise Personen zugeordnet; sie folgten dann in einer nur bedingt durchschaubaren Sequenz aufeinander: „Postkarte“, „Hyperion“, „Dialog“‘,

|| 651 Schubert war bereits in der Empedokles-Inszenierung mit seiner letzten Klaviersonate (B-Dur) präsent. Im Olympiastadion stand allerdings der Titel Winterreise vor allem für eine wörtlich zu nehmende Reise durch eiskalte Landschaften: Darsteller und Publikum ließen sich in einer Berliner Dezembernacht auf eine Aufführung im Freien ein; die Inszenierung lud zu einer Zeitreise in die deutsche (Geistes-)Geschichte und Gegenwart ein, in der Eiszeit auf Eiszeit folgte. Titel der Inszenierung hätte die Hyperion-Stelle sein können „Wie ein heulender Nordwind, fährt die Gegenwart über die Blüthen unsers Geistes und versengt sie im Entstehen“ (StA 3, 15), die im Stadion projiziert wurde. Noch die jüngste experimentelle Theaterarbeit an Hölderlins Hyperion, Romeo Castelluccis Hyperion. Briefe eines Terroristen (17. März 2013, Berliner Schaubühne), nimmt auf diese szenischen Konstellationen Grübers Bezug. Kreuder erweitert die Anspielungen des Titels Winterreise auch auf politischexistentielle Konstellationen des literarischen Vormärz (Heine, Deutschland ein Wintermärchen; Büchner, Lenz, vgl. Kreuder 2002, 71–109). 652 Grübers Winterreise-Inszenierung wurde aufgezeichnet und sowohl auf Festivals als auch im Fernsehen gezeigt. 653 Die szenographische Kulisse entwarf auch diesmal Antonio Recalcati: Neben der Fassadenruine stand verfremdend eine Würstchenbude; als weiteren Schreckensort der deutschen Geschichte gab es einen Soldatenfriedhof.

462 | Ein Theaterjahrhundert „Bote“, „Berichte“, „Diotima“ (jeweils „Sie“ oder ihre „Stimme“) hießen die Textgruppen, denen als Schluss die erste Strophe aus Brod und Wein folgte.654 Dem Programmheft kann man entnehmen, dass in der Inszenierung dann auch das im Regiebuch noch erwähnte Romanpersonal verschwand, die achtundzwanzig spielenden Personen waren Sportler, Migrantinnen, Leute aus dem Theaterbetrieb u.v.a.m. Vier Schauspieler übernahmen die zentrale Rolle des ‚Wanderers durch die Nacht‘. Letztgenannte Figur, deren Name Assoziationen zum Empedokles in der ersten Hölderlin-Inszenierung Grübers weckt, lief während der Vorstellung auf die Aschenbahn, durchmaß die im Stadion verstreuten Trümmer aus der Geschichte und der Gegenwart Deutschlands, fand Worte „der Klage und der Trauer um die Deutschen im ‚deutschen Herbst nach Schleyer-Mord und Stammheim-Toten‘“.655 Mehr als den Romanprotagonisten Hyperion kann man in diesem Wanderer den Dichter Hölderlin selbst erkennen, konfrontiert mit Wegen und Umwegen seiner Lebens- und Rezeptionsgeschichte.656 Die vom Wanderer selbst gesprochenen Briefpassagen, die auf der Anzeigetafel leuchtenden Roman- und Versfetzen und die in anderen szenischen Formen textueller Performanz auf der Bühne präsentierten Worte Hölderlins bildeten ein einziges, großes Fragment, in dem Künstler, Regisseur und Zuschauer die eigene, im weiten Sinne politische Biographie im Spannungsfeld der im Stadion gezeigten Bilder ‚lesen‘ konnten.657 Noch einmal konstruierte Grüber einen Identifikationsraum, in dessen Mittelpunkt die Sprache Hölderlins in ihrer performativen Kraft, prozessualen Entstehung und fragmentarischen Offenheit stand und in dem durch visuelle und akustische Assoziationen persönliche und gemeinsame Rezeptionsvorgänge ermöglicht wurden. Bemerkenswert ist in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive hier vor allem der Umstand, dass eine an den Empedokles-Fragmenten geschulte Theaterarbeit auf Texte erweitert wurde, die weder dramatisch noch fragmentarisch sind. Zwei für die

|| 654 Von der Elegiestrophe wurde der unemendierte Text der FHA abgedruckt. 655 So Henning Rischbieter, zit. bei Brauneck (1993–2007) 5, 320. 656 So ist auch das Brod und Wein-Zitat zu verstehen. Vgl. als Beleg für die These einer Überblendung von Hyperion und Hölderlin Kreuders Interpretation der Inszenierungstopographie, die neben der Romanhandlung auch „an Bilder aus dem Leben Friedrich Hölderlins erinnern“ könne (2002, 82). 657 Die Irritation vieler damaliger Kritiker ist m.E. auch dadurch zu erklären, dass, wie oben erörtert, Grüber keine eindeutige Hyperion-Lektüre anbot, sondern die Zuschauer mit einer Inszenierung konfrontierte, die assoziative Verbindungen zwischen Texten, Bildern und eigenen Kenntnissen/Erlebnissen ermöglichte, ohne sich auf eine bestimmte Interpretation festzulegen. Dies erkannte Peter von Becker: „Keine theatralische Arbeit in jüngster Zeit war so anstifterisch beim Weiterdenken und Selberlesen (nicht nur Hölderlin), keine hat so viele Assoziationsräume eröffnet über die Mauern des Stadions und die Grenzen der Nacht und das Ende der Kälte hinaus“ (Theater heute Januar 1978, vgl. weitere Überlegungen zur Inszenierung im darauffolgenden Heft vom Februar 1978). Andere Kritiker hingegen verwechselten Assoziationen mit Aussagen und meinten, die szenische Vergegenwärtigung des ‚deutschen Herbstes‘ so lesen zu müssen, dass bei Grüber „Hölderlin [...] ein Zeuge für den Sympathisanten- und Denunzianten-Winter in Deutschland“ sei (Helmut Karasek in Der Spiegel).

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jüngere Bühnengeschichte Hölderlins entscheidende Erscheinungen wurden hier vorweggenommen, besser noch, sie kamen bei Grüber bereits zu einem ersten stilbildenden Kulminationspunkt: Zum einen die zunehmende Tendenz, Bühnenadaptionen oder performative Transformationen lyrischer und narrativer Texte zu realisieren;658 zum anderen (und damit verbunden) die Neigung, die Theaterarbeit auf Hölderlins Sprache zu konzentrieren und zwar so, dass nicht so sehr ‚Werke‘, sondern Textpassagen, Partien und Fragmente als Material szenischer Verwandlung benutzt werden – ein offensichtlicher Übergang in ‚postdramatische‘ Text- und Theaterformen, auf den zurückzukommen sein wird. Mit Grübers Theaterarbeiten im Zeichen eines anderen ‚Hölderlin-Lesens‘ erreichten somit Mitte der 1970 Jahre grundlegende ästhetische Entwicklungen des (Sprech-)Theaters auch die Hölderlin-Rezeption. Es sei am Schluss dieser Überlegungen zu Klaus Michael Grübers fundamentalem Beitrag zur Bühnenrezeption Hölderlins, dessen Resonanz in den darauffolgenden Jahrzehnten nun zu erörtern ist, kurz auf die für seine beiden Inszenierungen zentrale Frage der Anspielung auf zeitgenössische (politische) Diskurse durch die assoziative Aktualisierung einiger Elemente der Vorlage eingegangen. Man neigt in theatergeschichtlichen Rekonstruktion und manchmal auch in theaterwissenschaftlichen Analysen dazu, derartige Gegenwartsbezüge als ‚historisch‘ bedingte und deshalb schnell an Relevanz verlierende Aspekte zu unterschätzen und stattdessen andere inszenierungsästhetische Elemente als folgenreicher zu würdigen. Dadurch wird aber das Assoziationsnetz eines szenischen Kunstwerkes wie dasjenige Grübers zerstört, seine interne Kohäsion wie seine Produktivität für weitere Bemühungen kastriert. Denn die komplexe Dynamik der Aktualisierung, der auch politische Akzente angehörten, war der Motor der gesamten ästhetischen Konstruktion. Mögen die direkten Anspielungen auch historisch geworden sein, so bleibt der Gestus des Regisseurs, der Hölderlins Vorlage in ihrer bereits performativen Fragmentarität und Prozessualität für seine Theaterarbeit im zeitgenössischen Kontext aktivierte, stilbildend. Mit anderen Worten, ‚politische‘ oder andersgeartete Hölderlin-Aktualisierungen im Drama und Theater scheinen an Wirkungskraft schnell zu verlieren, wenn sie keine produktive Arbeit an Text und Kontext leisten, wodurch sie hingegen zum Ausgangspunkt für neue, dem jeweiligen Zeitgeist entsprechende Transformationen werden. Grübers szenische Hölderlin-Kunstwerke waren zwar, wie Theater überhaupt, ephemere Erscheinungen im hic et nunc ihres zeitlichen und räumlichen Inszenierungskontextes; Dauer konnten sie jedoch erlangen, weil sie die seltene Fähigkeit hatten, zum Vorbild für weitere Theaterarbeit an Hölderlin zu werden, auch in ihrem politischen Aktuali-

|| 658 Vorliegende Arbeit verzichtet auf eine Berücksichtigung aller Theateradaptionen von Gedichtenoder Textgruppen bzw. des Briefromans Hölderlins; wie ein Blick in die sie verzeichnende IHB vermittelt, handelt es sich dabei um zahlreiche und disparate Inszenierungen. Gewürdigt werden lediglich herausragende Erscheinungen, die die gesamte Bühnenwirkung Hölderlins beeinflusst haben.

464 | Ein Theaterjahrhundert sierungsangebot. Darin sind sie bei aller typologischen Verschiedenheit mit dramatischen Bearbeitungen Hölderlins für die Bühne zu vergleichen, die ebenfalls ihren produktiven Gestus textuell-szenischer Transformationsarbeit der Zukunft weitervererben. Ändert sich der aktuelle Kontext, auf den die jeweilige Arbeit Bezug nimmt, so doch bleibt der Modus konstant, auf Hölderlin aktualisierend zurückzugreifen. 3.2.5.3 Auf Grübers Spuren, international und intermedial. Der Tod des Empedokles bis Ende der 1980er Jahre in Theater und Film zwischen Italien, Frankreich und Deutschland Noch bevor Klaus Michael Grüber seine zweite Hölderlin-Inszenierung als Environmental-Theater im Olympiastadion realisierte, hatte sein Erstling Empedokles. Hölderlin lesen bereits internationale Aufmerksamkeit gewonnen. Anders als im deutschsprachigen Theater, in dem jene schnell legendär gewordene Inszenierung auf andere Regisseure zuerst einschüchternd wirkte, wurde sie in Italien und Frankreich zum Ausgangspunkt für Empedokles- und Hölderlin-Entdeckungen. Nach der bereits erwähnten Landeserstaufführung des Stücks kam es am 14. Juli 1977 wieder auf eine italienische Bühne: Bruno Mazzali orientierte sich bei seiner Inszenierung mit dem Avantgarde-Ensemble Il Patagruppo, die zuerst in Rom und in der darauffolgenden Spielzeit in Mailand große Resonanz erlangte, weitgehend an Grüber. Mazzali, der für sein Debüt demonstrativ den Jahrestag der Französischen Revolution wählte und durch die Konstruktion einer Identifikationsreihe Empedokles-HölderlinGegenwart politische Brisanz herstellte, zitierte auch makrostrukturell die Schaubühne-Inszenierung, indem er seine Bühne ebenfalls in zwei Räume einteilte, denen er jeweils antike und gegenwärtige Handlungsfragmente zuwies. Den produktiven Charakter dieses Grüber-Bezugs, der keineswegs als epigonale Imitation aufzufassen ist, zeigen Regieentscheidungen, die assoziative Zusammenhänge mit dem stark politisierten italienischen Kontext jener Jahre herstellten und auch vor Experimenten nicht haltmachten. Von der damaligen Kritik positiv betont wurde etwa die Besetzung der Empedokles-Rolle mit einer Schauspielerin, der umjubelten Rosa de Lucia.659 Auch die französische Empedokles-Erstaufführung am 27. Mai 1981 im Théâtre Jean Vilar (Vitry sur Seine) scheint den vorliegenden Quellen zufolge einige Grundaspekte von Grübers Inszenierung übernommen und variiert zu haben: Regisseur Alain Ollivier rekurrierte dort vornehmlich auf die ‚dritte Fassung‘ – eine neue Übersetzung wurde dazu von Jean-Claude Schneider angefertigt – und ließ die Schauspieler in Kostümen spielen, die auf das 18./19. Jahrhundert des Dichters und der Textentstehung und nicht auf die fiktionale antike Zeit des Trauerspiels verweisen. || 659 Die Inszenierung debütierte am Teatro Alberico in Rom. Dazu und zu Wiederaufnahmen in Mailand 1977/78 vgl. die Rezensionen von Giorgio Polacco (Momento Sera 16. Juli 1977), Claudio Scorretti (Vita 18. Juli 1977), Franco Quadri (Panorama 18. Oktober 1977), Maria Grazia Gregori (L’Unità 7. Mai 1978).

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Nicht von ungefähr spielten Frankreich als Heimat der Revolution – und als Land, aus dem seit einem Jahrzehnt Impulse für eine ‚Wiederentdeckung‘ des Verhältnisses Hölderlins zur französischen Revolution kamen – und Italien mit seiner Insel Sizilien als Heimat des Empedokles die führende Rolle in der internationalen Ausstrahlung, die das Stück Tod des Empedokles auf den Spuren Grübers ausübte. In beiden seit Jahrzehnten sorgfältig bestellten Kulturräumen der Hölderlin-Rezeption war das allgemeine intellektuelle Klima der 1970er und 1980er Jahre für eine Auseinandersetzung mit Hölderlin als Dichter, Denker und politischer Zeitgenosse günstig.660 Übrigens waren beide Länder auch wichtige Wirkungsorte Grübers, der etwa Mitte der 1970er in Paris mit seiner Faust-Inszenierung für Furore sorgte und ein Jahrzehnt darauf als erster deutscher Regisseur an der Comédie Française den Nationalklassiker Racine (Bérénice, 1984) inszenierte;661 im italienischen Theater, etwa am Piccolo Teatro in der Bühnenhauptstadt Mailand, hat Grüber ebenfalls mehrmals gearbeitet.662 Nach Italien, dessen Hölderlin-Rezeption er unter anderem mit der Inszenierung von Bruno Madernas Hyperion-Oper mit Bruno Ganz bereichern sollte,663 kam Grüber 1981, um auf Sizilien seinen ersten Film zu drehen: Mit Fermata Etna (Haltestelle Ätna, Italien 1981, 59 min), vom staatlichen Fernsehen RAI produziert, kehrte er auch zum Empedokles-Stoff zurück.664 Wie eine Radikalisierung der Assoziationen zwischen Antike, Goethezeit und Gegenwart mutet diese mit lang anhaltendem Schweigen und intensiven Bildern arbeitende filmische Evokation an: Ganz, der

|| 660 Vgl. zur weitverzweigten Hölderlin-Rezeption im Frankreich der Nachkriegszeit Lernout (1994), dessen Schwerpunkt auf Philosophie und Literatur liegt. Die italienische Hölderlin-Präsenz im Italien des mittleren und späten 20. Jahrhunderts, die ebenso typologisch facettenreich ist, wurde vornehmlich mit Blick auf die literarische Rezeption bei italienischen Lyrikern (Cordibella 2009) und auf die Forschung (Castellari 2014a) erörtert. Weniger systematisch erforscht ist die produktive Transformation in anderen Kunstformen; einzelne Studien wurden eminenten Vertretern der musikalischen Rezeption gewidmet; neben dem bereits zitierten Castellari (2006a) vgl. zur intermedialen Performance zwischen Theater und Film Buglioni (2016). 661 Vgl. dazu und allgemein für ein Verzeichnis der Inszenierungen Grübers Kreuder (2002) 161–176. 662 Nach dem Debüt als Regisseur (1968, Il processo di Giovanna d’Arco a Rouen von Bertolt Brecht und Anna Seghers) kam Grüber 1988 zum Piccolo Teatro Mailand zurück, um La medesima strada zu inszenieren, eine von ihm, Gilles Aillaud und Jean-Christophe Bailly erarbeitete Montage aus Texten des Sophokles, Heraklit, Parmenides und Empedokles (!). Dazwischen lagen Gastinszenierungen: Off Limits (Arthur Adamov, 1969) und Nostalgia (Franz Jung, 1984); ein letztes Mal war Grüber 1994 am Piccolo mit Splendid’s von Jean Genet. 663 Zusammen mit Gilles Aillaud an der Pariser Opéra Comique im November 1991, mit der musikalischen Leitung von Peter Eötvos. Die Inszenierung erlebte dann mehrere Gastspiele. 664 Der Film, dessen Drehbuch Grüber mit Bernard Pautrat erarbeitete, wurde im Auftrag des sizilianischen Landesstudios vom Staatlichen Fernsehen RAI produziert. Verse aus Hölderlins Trauerspiel werden im Film vom deutschen Protagonisten gesprochen, bevor er den Aufstieg beginnt. Vor diesem ersten Film, der 1982 bei den 32. Internationalen Filmfestspielen Berlin gezeigt wurde, hatte Grüber bei der Verfilmung einiger seiner Theaterinszenierungen mitgearbeitet, darunter auch die beiden Hölderlin-Arbeiten.

466 | Ein Theaterjahrhundert auch hier eine Rolle hat, spielt den deutschen Intellektuellen, der auf den Spuren der großen Suchenden wandelt, beim Besteigen des Vulkan jedoch an der Übermacht der Natur scheitert und dies als Zeichen deutet, zurück in die Heimat zu fahren. Diese filmisch inszenierte Wanderschaft der Deutschen auf der Ätnainsel forderte beinahe zu einer Theateraufführung von Hölderlins Tod des Empedokles auf sizilianischem Boden auf. Verwirklicht wurde dies dann zweimal innerhalb weniger Jahre: zuerst 1987 im Teatro dei Ruderi von Gibellina, dann 1993 im Teatro Antico von Segesta665, in zwei aus verschiedenen Gründen stark symbolischen ‚Ruinenorten‘ Siziliens, die allerdings der Empedokles-Stadt Akragas ziemlich fern, dem Ätna-Vulkan noch entfernter liegen. Die erstgenannte Inszenierung verdient insbesondere in diesem rezeptionsgeschichtlichen Überblick Beachtung. Sie wurde im Rahmen der „Orestiadi di Gibellina“, dem Sommerfestival auf den Trümmern der gleichnamigen, 1968 von einem verheerenden Erdbeben zerstörten kleinen Stadt, realisiert und ist das Ergebnis einer Theaterarbeit an Hölderlin, die bereits auf die frühen 1980er zurückgeht. Die Brüder Cesare und Daniele Lievi, respektive Regisseur und Bühnenbildner, hatten den Tod des Empedokles bereits 1982 aufgeführt, in der Übersetzung Cesares am 1979 von beiden gegründeten Teatro dell’Acqua in ihrer Geburtsstadt Gargnano.666 Nach den frühen Inszenierungen in dem idyllischen lombardischen Städtchen kam es schnell zu vielbeachteten gemeinsamen Produktionen an größeren italienischen Bühnen und seit 1985 auch im deutschsprachigen Theater, wo die beiden „Zauberer vom Gardasee“ rasch zu Publikums- und Kritikerlieblingen wurden. Cesare Lievi, der nach dem verfrühten Tod des Bruders im Jahr 1990 die Zusammenarbeit mit anderen Bühnenbildnern suchen musste, spricht noch heute von der grundlegenden Bedeutung, die die übersetzerische und inszenatorische Auseinandersetzung mit Hölderlin und seinem Projekt einer antik-modernen Tragödie für die eigene Arbeit hatte; dabei hat er sowohl in persönlichen Gesprächen als auch bei Gelegenheit öffentlicher Diskussionen wiederholt auf die Vorbildrolle hingewiesen, die Grübers Berliner Inszenierung für seine übersetzerische und szenische Vermittlung von Hölderlins Empedokles an italienische Leser und Zuschauer spielt. Am 18. Juli 1987 ging in Gibellina eine verschiedene Empedokles-Fassungen berücksichtigende, insgesamt aus 9 Bildern beste-

|| 665 Diese Inszenierung wurde von Roberto Guicciardini realisiert, die Uraufführung muss, wie den Pressereaktionen zu entnehmen ist, auf die letzten Tage vom Juli 1993 datiert werden. Guicciardini hatte 1972 Brechts Antigone-Bearbeitung inszeniert und arbeitete insgesamt oft mit klassischen Tragödien und deren modernen Transformationen. Für die Empedokles-Inszenierung in Segesta erarbeitete er auf der Basis von Lievis Übersetzung eine eigene Dramaturgie, die alle Fassungen berücksichtigte. Darin mit Steckels Inszenierung von 1984 zu vergleichen (und möglicherweise durch sie inspiriert), ging Guicciardinis Empedokles szenisch andere Wege und kann insgesamt als eine klassizistisch anmutende Inszenierung bezeichnet werden (vgl. Castellari 2006a, 312f.). 666 Auf diese Inszenierung habe ich lediglich Verweise finden können.

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hende Adaption von Cesare Lievi auf die Bühne. Vom besonderen Aufführungsort inspiriert rückte sie die Übermacht natürlicher Kräfte und das Versagen menschlicher Mühen in den Mittelpunkt. Dadurch wurde nicht so sehr die politische Dimension von Grübers Empedokles. Hölderlin lesen produktiv weitergeführt, wie es in den 1970er Jahren in Italien noch der Fall gewesen war, als das in Grübers Inszenierung und Film zur Diskussion gestellte Verhältnis des Menschen zu Natur und Geschichte.667 Das ‚Hölderlin Lesen‘ beider Lievi ging wie bei Grüber von einem bewussten Anknüpfen an das Unvollendete der Tragödie aus, an ihren fragmentarischen und prozessualen Charakter als Ergebnis eines zum Scheitern verurteilten Plans einer Tragödie in der Moderne; in der Überzeugung, mit Lievis späteren Worten, dass im Laufe der Entstehungsmonate „Hölderlin langsam versteht, dass es unmöglich ist, eine Tragödie zu schreiben“, und dass ein gleicher Prozess beim Inszenieren der Tragödie durchzumachen sei.668 Dementsprechend waren die behutsame Übersetzung und Adaption auf der textuellen, die Aufführung auf der szenischen Ebene stets darauf bedacht, möglichst viel der sprachlichen Dichte zum Ausdruck zu bringen. Am Ende der Inszenierung haben dann die Schauspieler nur noch aus dem Text gelesen, als eindrucksvolles Zeichen des Versandens der Inszenierung selbst: „Keine Kostüme, kein Spiel, keine Aktion, nur das poetische Wort im Feuer der Natur“.669 Noch ein Vierteljahrhundert später, wieder auf Grübers Vorbild verweisend, blickt Lievi auf jene erste sizilianische Inszenierung vom Tod des Empedokles als einen Versuch zurück, Hölderlins Tragödienexperiment theatralische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und fordert die deutschen Theaterschaffenden nachdrücklich auf, das im Theater des 21. Jahrhundert weniger gespielte Empedokles-Trauerspiel wieder in die Hand zu nehmen.670 Ein weiteres Mal wurde Sizilien Ende der 1980er Jahre zum Spielort der dramatischen Empedokles-Fragmente Hölderlins, im Zeichen der internationalen und intermedialen Rezeption. Das französische Filmerpaar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, seit Jahren in der BRD und dann in Italien tätig, drehte auf der Insel zuerst die ‚erste Fassung‘ des Trauerspiels, Der Tod des Empedokles Oder Wenn dann der Erde grün von Neuem euch erglänzt (BRD/F 1986, 132 min), dann Schwarze Sünde (BRD

|| 667 Zur Inszenierung vgl. Daniele Lievis Aussagen (1987, 51–59) und die Besprechungen von Ugo Volli (La Repubblica 22. Juli 1987) und Oliviero Ponte di Pino (Panorama 9. August 1987). 668 So Cesare Lievi im Rückblick auf die Inszenierung in Gibellina (Vöhler 2011, 121f.). 669 Vgl. ebd. Ähnlich wie bei Grüber also endete die Inszenierung mit einem Wechsel von der Darstellungsebene zum gegenwärtigen Kontext; bei den Brüdern Lievi allerdings, auch durch die andere typologische und geographische Beschaffenheit des Aufführungsrahmens bedingt (Freilicht, Ruinen, Sizilien), blieb ‚nach der Inszenierung‘, also nach dem Wechsel zur Gegenwart und zur Lesung, die mythisch-poetische Atmosphäre durchaus erhalten. 670 Vgl. ebd. und 126.

468 | Ein Theaterjahrhundert 1989, 42 min), mit der ‚dritten Fassung‘ als Textgrundlage.671 Ihre Produktionen bedienen sich einer unkonventionellen, mit dem kommerziellen Kino inkompatiblen Filmästhetik, die der anti-illusionären Verfremdungsästhetik und dem materialistischem Standpunkt Brechts viel verdankt, daraus jedoch eine rigide und rigorose Sprache entwickelt hat, die auf die von Brecht geforderten Elemente der Belehrung und Unterhaltung zugunsten eines radikalen Purismus verzichtet. Hölderlin bildet darin einen wichtigen Bezugspunkt, seine dramatische Sprache lieferte das geeignete Material, vor allem für ihr Schaffen der 1980er–90er Jahre.672 Der Weg, den Straub/Huillet für eine filmisch adäquate Form des ‚Hölderlin-Lesens‘ fanden, kann nur partiell mit der auf Grüber fußenden Tradition in Verbindung gebracht werden. Die filmisch starren Bilder von Darstellern, die ihren Text mehr sprechen als spielen, erinnern auf den ersten Blick zwar an theatralische Darstellungsformen (auch des Empedokles), aber eher an frühere oratoriumartige Darbietungen; bei Straub/Huillet allerdings sind sie alles Pathetischen entblößt und dienen keiner bildungsbürgerlichen Kulturpflege. Nicht so sehr durch szenische Assoziationen wird in ihren Filmen die performative Kraft des Textes aktiviert, als durch das Zusammenspiel des langsamen Textvortrages mit der die Darsteller umgebenden Natur und ihrer optischen und akustischen Präsenz, welches das Drehen en plein air und vor Ort erzeugt. Die experimentelle Arbeitsweise und die ästhetisch und politisch begründete systemkritische Haltung von Straub/Huillet, die auch in einer späteren Inszenierung von Brechts Antigone nach Sophokles und Hölderlin und einem daraus resultierenden Film zum Tragen kommen sollten,673 reihen sich ein in die nach 1945 immer stärkere Einbeziehung Hölderlins in die zeitgenössische Dramen- und Theaterästhetik. Die Filmemacher übersetzten sie jedoch zum ersten Mal in avantgardistische Kinoformen, wie die zwei || 671 In beiden Filmen spielten Andreas von Rauch den Empedokles und Vladimir Baratta den Pausanias; Howard Vernon, der im ersten Film Hermokrates war, spielte im zweiten Manes. Von Der Tod des Empedokles, der zwischen Frühling und Sommer 1986 gedreht wurde, existieren 4 Versionen. Dasselbe gilt für Schwarze Sünde, der im Sommer 1988 gedreht und am 17. Mai 1989 auf dem Festival de Cannes vorgestellt wurde. An die Arbeit am Empedokles wird darüber hinaus in Straub/Huillets Film Cézanne mit Selbstzitaten erinnert (F 1989, 51 min). 672 Zu Straub/Huillets Filmästhetik und insbesondere zu ihren „deutschen Filmen“ vgl. Byg (1995), zu Hölderlin und den beiden Empedokles-Arbeiten insb. 178–198. „All four of Straub/Huillet’s films made after Class Relations [Klassenverhältnisse, 1983; M.C.] are connected to Hölderlin“, wird dort betont; was den Rekurs auf Hölderlin angeht, werden Straubs Selbstaussagen zu seinen HölderlinLektüren seit den 1950ern und zur fast zufälligen Wiederentdeckung der Empedokles-Fragmente in einer Zeit zitiert, in der vor allem ökologische Fragen und das Verhältnis des Menschen zur Natur beide Filmer beschäftigten. Die Verbindung zur „long tradition of Hölderlin reception on the Left“ und zu einzelnen filmischen Zitaten werden dort auch erwogen; gewichtiger erscheint mir allerdings der Kontakt zu der FHA-Werkstatt (Sattler wurde als Berater für den Tod des Empedokles herangezogen). Für eine filmwissenschaftliche Parallelisierung der Fragmentarität der Vorlage mit den ästhetischen Mitteln Straub/Huillets vgl. Byg (1995) 191–198; zu ihrer Arbeit an der Sprache, die hölderlinsche Begriffe wie Rhythmus, Zäsur und brechtsche wie Verfremdung einbezieht, ebd. 199–214. 673 Dazu vgl. Byg (1995) 215–232 und Primavesi (2011b) 103–109.

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Empedokles-Filme zeigen; dabei stand weniger das Moment existentiell-politischer Aktualisierung im Zeichen der Identifikation im Vordergrund, wie es in der HölderlinRezeption der 1970er–80er Jahre vorherrschend war, als vielmehr das Interesse an einer dramatischen Sprache, die in ihrer Materialität den künstlerischen Intentionen der Regisseure entsprach. Mit Hölderlins Diktion konstruierten Straub/Huillet, darin einigen Rezeptionsweisen Heiner Müllers ähnlich, ein Kino der ‚harten Fügung‘. In den Jahren, in denen die Rezeption vom Tod des Empedokles zwischen Frankreich und Italien, zwischen Theater und Film vonstattenging, verhielt sich das deutschsprachige Theater eher zurückhaltend. Nach Grübers Schaubühne-Inszenierung fanden bis zur Wiedervereinigung lediglich zwei Empedokles-Aufführungen auf deutschem Boden statt, eine Wiener Einstudierung mit geringem Presseecho kam 1988 hinzu674. Es soll noch gezeigt werden, wie demgegenüber Hölderlins SophoklesÜbersetzungen, vornehmlich die Antigone, und darauf basierende moderne Bearbeitungen die deutschsprachige Theaterlandschaft der 1970–80er Jahre belebten. Die quantitativ ernüchternde Empedokles-Statistik darf jedoch nicht über die qualitative Intensität und rezeptionsgeschichtliche Bedeutung der Auseinandersetzung mit Hölderlins Trauerspielfragmenten hinwegtäuschen. Die beiden hier zu besprechenden Inszenierungen von Frank Patrick Steckel in Hamburg (1984) und von Hansgünther Heyme in Düsseldorf (1990) zeugen erstens von der kontinuierlichen Wirkung von Grübers Hölderlin-Arbeit, an der offenkundig alle Maß nehmen mussten, sowohl die Theaterleute, für die sie Grundlage der textuellen Vorarbeit und der szenischen Realisation darstellte, als auch das Publikum und vor allem die Kritik, die sie als Vergleich heranzog. Zweitens beschritten sie andere Wege, die – in manchem von der Kritik scharf abgelehnt – die andauernde Aktualität und Attraktivität von Hölderlins textuell und theatralisch anspruchsvollen Tragödienfragmenten für Dramaturgen und Spielleiter des engagierten und experimentierfreudigen Regietheaters bezeugen. Darin zeigt sich nicht nur eine auffällige Verwandtschaft mit der parallelen Bühnenrezeption des Empedokles im Ausland und der Sophokles-Übersetzungen, sondern auch die gärende Präsenz Hölderlins in der Werkstatt von führenden Dramatikern wie Müller und Jelinek, und von avantgardistischen Film-, Musik- und Bildkünstlern. Mitte und Ende der 1980er Jahre war Hölderlin in textuellen und szenischen Kunstformen wieder höchst aktuell. Als erster versuchte also Frank-Patrick Steckel im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, zu einer originalen Inszenierung zu finden, wobei er einige Ansätze Grübers radikalisierte und andersartige dramaturgische und szenische Lösungen suchte. Der Hamburger Steckel, zwei Jahre jünger als Grüber, war Gründungsmitglied und

|| 674 Im Hölderlin-Archiv ist nur das Programmheft aufbewahrt. Die Dramaturgie stammte von Paul Schütz, der aus den Fragmenten eine „Dramatische Ode in sieben Bildern“ herstellte. Anscheinend handelte es sich um eine Inszenierung im Rahmen der Aktivitäten der Wiener anthroposophischen Gesellschaft, der Paul Schütz angehörte.

470 | Ein Theaterjahrhundert Regisseur der Schaubühne; dort wie an seinen weiteren Wirkungsorten Frankfurt, Bremen, Bochum und Hamburg ging ihm der Ruf voraus, politische und gesellschaftskritische Dramen wie auch Klassiker intellektuell anspruchsvoll, mit politischem Engagement und ohne falsche Harmonisierungstendenzen, wider den Zeitgeist zu inszenieren; dabei zeigte er eine Vorliebe für sprachlich ‚schwierige‘ Stücke bzw. einen „Hang zum philosophischen Theater“.675 Dementsprechend war seine Hölderlin-Arbeit von 1984 ebenso radikal in der Betonung des Bruchstückhaften-Prozessualen wie die ihm sehr gut bekannte Arbeit Grübers, aber weniger visionär und evokativ; Schauspieler und Publikum waren textuell und szenisch stärker gefordert. Bei Steckel wurde die Fragmentarität der Empedokles-Texte neben der geplanten/misslungenen Vollständigkeit der Tragödie gleich im Inszenierungstitel zitiert, wo es hieß: Der Tod des Empedokles. Ein Trauerspiel in 5 Akten. 1., 2. und 3. Entwurf. Zum m.W. ersten Mal in der gesamten Aufführungsgeschichte wurden hier sämtliche Fragmente nacheinander inszeniert. War bei Grüber die textuelle Reduktion das Mittel, um das Bruchstückhafte des Trauerspiels, seinen blitzhaften Wahrheitsgestus wie sein Misslingen hervorzuheben, verfolgte nun Steckel dasselbe Ziel über den umgekehrten Weg der vollständigen Darbietung aller überlieferten Fragmente in ihrer rekonstruierten Chronologie. Eine bewusst paradoxe Entscheidung (Vollständigkeit des Unvollständigen), hinter der wie bei Grüber die im Zusammenhang mit der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe rege diskutierte Frage einer ‚unverfälschten‘ Wiedergabe der Dichtertexte steckte. Die fünfstündige Inszenierung wurde so organisiert, dass der erste und der dritte Entwurf auf der Bühne inszeniert wurden, während in der dazwischenliegenden Pause die Schauspieler den zweiten Entwurf vorlasen. Dadurch wurde auch die in dieser Arbeit bereits erörterte Forderung Friedrich Beißners, die ganze überlieferte Textlandschaft des Empedokles für eine Repräsentation zu berücksichtigen, statt fragwürdig erscheinende Bearbeitungen zu bieten, in Steckels Inszenierung verwirklicht. In einem ganz anderen Geist jedoch als beim Tübinger Philologen und mit einer tüchtigen Portion Ironie der Geschichte: Hatte Beißner eine oratoriumartige sakrale Darbietung gewünscht, die fast nur aus der sprachlichen Realisation bestehen und dadurch auch als Bollwerk gegen ihm höchst suspekte Aktualisierungen zu verstehen sein sollte, verriet die Texttreue keineswegs eine konservative Haltung des Regisseurs, denn er bezog sich gerade auf die Textre-

|| 675 Vgl. das Interview in Gronius/Kässens (1990) 140. Dort wurden auch Hölderlins Trauerspielfragmente diskutiert, wozu Steckel sagte: „Empedokles halte ich wirklich für einen zentralen Text, weil die Katastrophe des Bürgertums darin notiert ist“. Die Arbeit daran sei „Ursachenforschung [...] wenn man herausbekommen will, warum unser Naturverhältnis zerstört ist. [...] Die Substanz des Empedokles-Textes ist im Zentrum all unserer gegenwärtigen Bemühungen und Überlegungen anzusiedeln“ (141). Steckels Auseinandersetzung mit dem Empedokles zeigt sowohl in der politischen Brechung als auch in der Übersetzung des antiken und des goethezeitlichen Mensch-Natur-Verhältnisses in aktuelle ökologische Fragen Ähnlichkeiten mit den Positionen von Straub/Huillet.

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konstruktionen und das Textverständnis der in harschem Widerspruch gegen Beißners Editionsprinzipien ins Leben gerufenen Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. Steckel entwickelte an Hölderlins dramatischen Fragmenten eine offensichtlich an Grüber geschulte Inszenierung, die verschiedene Zeitebenen (Antike – Goethezeit – Gegenwart) zusammenhielt und auch die politische Aktualität des Trauerspiels herausarbeitete, nicht, wie Beißner noch fürchtete, indem er die literarische Vorlage änderte, sondern durch szenische Mittel. So verwiesen die Kostüme (Dirk von Bodisco) teils auf die Zeit der Französischen Revolution, teils auf den bundesdeutschen Alltag der 1980er Jahre; sowohl der unkonventionelle Aufführungsort – eine leere Fabrikhalle – als auch die nüchterne Raumgestaltung (von Susanne Raschig, die für Grübers Hölderlin-Inszenierungen als Kostümbildnerin gearbeitet hatte) evozierten einerseits eine graue Gegenwart, andererseits wurde durch wenige Anspielungen eine offenkundig künstliche Antike (Zementsäulen, Feuerschalen) angedeutet. Aufgrund der Entscheidung, alle Fassungen zu berücksichtigen, gelang es Steckel schließlich, die Entwicklung innerhalb der Empedokles-Fassungen szenisch darzustellen. Bereits die Entscheidung, den zweiten Entwurf ‚nur‘ vortragen zu lassen und außerhalb des eigentlichen Bühnengeschehens performativ zu realisieren, erhöhte den bereits im Text vorliegenden Kontrast zwischen dem ersten und dem dritten Entwurf. Durch Anweisungen an den Schauspieler Peter Römisch, der den Empedokles spielte, wurde der Gegensatz zudem dadurch herausgestellt, dass der Figur zuerst aktivistische revolutionäre Züge verliehen werden, um sie dann als gebrechlichen und verwahrlosten, dem Tode nahen alten Mann in Anspielung an die scheiternden Figuren bei Beckett zu charakterisieren. Kostüme, Spiel- und Sprechweise wurden also eingesetzt, um eine Art Doppeltableau aufzubauen, das Grübers räumliche Doppelung (paralleles Geschehen auf der rechten und linken Bühne) durch eine zeitliche Doppelung ersetzte (erster und zweiter Spielabschnitt). Von der Kritik wurde Steckels gewagtes Experiment harsch traktiert. Vor allem die Entscheidung, in einer mehr als fünfstündigen Inszenierung die gesamte Textüberlieferung des Empedokles auf die Bühne zu bringen, brachte ihm den Vorwurf des Akademismus ein; Hölderlins Unspielbarkeit wurde hier dem Regisseur statt dem Dichter angelastet, denn Grüber habe ja gezeigt, so der Unterton vieler Besprechungen, dass Der Tod des Empedokles wie überhaupt Hölderlins Texte durchaus spielbar seien. Die offenkundige Kontinuität, die beide Versuche des ‚Hölderlin-Lesens‘ verband, fand kaum Beachtung; auch Steckels Intention, gerade durch Textvollständigkeit die Fragmentarität und performative Kraft der Vorlage zur Geltung zu bringen, wurde nicht erkannt. Mechthild Lange verstand unter dem Titel ihrer Rezension Hölderlin lieber lesen (Frankfurter Rundschau 4. Juni 1984) etwas Anderes. Sie vermerkte missbilligend, dass manche Zuschauer während der Aufführung den Dramentext verfolgten; schlimmer als ein Lesedrama war in ihren Augen eine Inszenierung, die man nur mitlesend verfolgen konnte. Rolf Michaelis, dessen ausführlicher Besprechung die hier gebotene Inszenierungsbeschreibung viel verdankt, fand zu scharfen Worten und bissiger Ironie, als er angesichts von Steckels Inszenierungen

472 | Ein Theaterjahrhundert den „Bühnen-Tod“ des Tod des Empedokles verkündete (Die Zeit 1. Juni 1984). Michaelis, der bei Beißner über Hölderlin promoviert hatte,676 leitete seine Ablehnung auch aus einem Vergleich Steckels mit Grüber ab, wobei er zwar auf Friedrich Beißners Würdigung von Hölderlins „Sinn für Drama“ verwies, allerdings auch an der Bezeichnung des „Dramatikers ohne Drama“ festhielt, die er bereits für die Tübinger Inszenierung 1962 geprägt hatte. Die Schaubühne-Inszenierung Grübers kannte der Theaterkritiker aus der Innenperspektive, denn er hatte einige Proben begleitet und natürlich die Premiere gesehen, um dann beides in einer einflussreichen Besprechung zu erörtern. Ein „Mißverständnis“ sei Steckels Versuch, der ungewollt Grübers „neuen Zugang“ rückgängig mache und wieder „einen unkritischen Andachts-Raum für Hölderlin“ schaffe: „Das Fest- und Weihe-Spiel wird, gleichsam durch die Hintertür des Theaters, wieder auf der Bühne etabliert“. Es fehlte zwar nicht laut Michaelis am Vorkommen gelegentlicher „schöner Einfälle, [...] kräftiger Bilder“ und Raschigs Raumgestaltung würdigte er ausdrücklich, insgesamt nahm er jedoch den guten Willen für die Tat. Die „sich so demütig werkgetreu gebende Inszenierung“ wurde in ihrer Kernentscheidung hinsichtlich der Textauswahl abgelehnt und zwar mit dem schlimmsten Tadel, die eine Theaterarbeit treffen kann: Kein Theater zu sein. Von „trocken akademischem Reiz“ war die Rede, dann: „Das Hölderlin-Oberseminar tagt im Theater“, und noch bissiger: „Dr. phil. Empedokles, Professor emeritus der Hölderlin-Forschung, stolpert mit dem Spazierstock durch’s Gebirg und sabbert Lebensweisheiten“. Abgesehen von den üblichen Spannungen zwischen den Intentionen der Produktion, dem effektiven Gelingen auf der Bühne und der Aufnahme bei den Kritikern, scheint sich Steckels rezeptionsgeschichtlich hochinteressantes Experiment im Widerspruch zwischen Anspruch auf Vollständigkeit und dem fragmentarisch offenen Assoziationennetz verfangen zu haben. Sicherlich erfolgreicher war Hansgünther Heymes Tod des Empedokles. Fragmente von Friedrich Hölderlin betitelte, 1990 in Düsseldorf, Essen und Duisburg zu sehende Gemeinschaftsproduktion, für die HannsDietrich Schmidt die dramaturgische Arbeit übernahm (Uraufführung im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses am 1. Februar 1990).677 Das philologisch ge-

|| 676 Zur Struktur von Hölderlins Oden (1958). Michaelis, der 2013 mit knapp achtzig Jahren gestorben ist, gehörte zu den einflussreichsten Feuilletonisten der BRD, zuerst in der Süddeutschen Zeitung, dann für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und schließlich für Die Zeit, deren Literaturteil er leitete. 677 Das Programmheft der Duisburger Aufführung und einige Rezensionen, die im Hölderlin-Archiv liegen, ermöglichen die Rekonstruktion der Inszenierung, die binnen weniger Monate in den drei Städten die jeweilige Erstaufführung erlebte: Nach Düsseldorf kam sie im Rathaus Theater Essen (4. März 1990) und schließlich in Duisburg im Rahmen der 15. „Duisburger Akzente: Unser Haus Europa“ auf die Bühne (6. Mai 1990).

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sicherte Programmheft bot neben verschiedenen Hölderlin-Quellen und Materialien678 eine Fassung in 15 Szenen, die aus allen Entwürfen komponiert war, wobei akribisch, Vers für Vers, auf die entsprechende Stelle der Stuttgarter Ausgabe verwiesen wurde. Die Fassung war jedoch nicht als traditionelle rekonstruierende ‚Bearbeitung‘ intendiert, die tendenziell eine Einheit wiederherstellen sollte, sondern als ein Bruchstück aus Bruchstücken in der Nachfolge Grübers. Auch hier war die Bühne in zwei Ebenen geteilt, jedoch vertikal und nicht horizontal, damit die Empedokles-Figur in ihrer isolierten Sonderstellung besser zur Geltung kam. Heyme selber spielte die Titelrolle in einem über der Bühne hängenden Plexiglaskäfig, von wo aus er die Verse am Mikrophon vorlas; unter ihm spielten die weiteren Figuren zwischen Betonstühlen, betonierten bzw. zugefrorenen Kühlschränken und Fernsehern,679 die nach und nach aus dem Eis auftauchten.

Abb. 11: Der Tod des Empedokles (Düsseldorf 1990). Regie: H. Heyme. K. H. Russius als Hermokrates

Diese zentrale Regieentscheidung, durch Wolf Vostells Bühnenbild wirkungsvoll in Szene gesetzt, verdient eine nähere Betrachtung. Die Anspielungen auf beide Hölderlin-Inszenierungen Grübers und auf die intensive biographisch-politische Hölderlin-

|| 678 Das Programmheft bietet neben der Spielfassung (Hanns-Dietrich Schmidt und Karin Henkel) die Ode Dichterberuf und eine biographische Tafel zum Dichter sowie Passagen aus Empedokles-Aufsätzen von Bertaux und Schadewaldt. 679 Vgl. dazu Ennens Nacherzählung der Inszenierung (2007, 103–106).

474 | Ein Theaterjahrhundert Rezeption der 1970er Jahre waren nicht zu übersehen und wurden wirkungsvoll szenisch kommentiert. Der oben isolierte, seinen Text aus der Distanz vortragende Empedokles verweist auf drameninterne Motive (Rückzug auf den Ätna, Zwist mit den Machthabern, Kommunikationsschwierigkeiten mit den Mitbürgern), ist aber zugleich als perspektivisch gebrochen Figur zu lesen, die auf Hölderlin (im Turm), auf das Spannungsfeld Dichtertum/Revolution/Wahnsinn anspielte. Die Dialektik von Engagement und Enttäuschung in der jüngsten BRD-Vergangenheit spielte ebenfalls mit hinein. Nicht zuletzt wurde Empedokles durch seine Position außerhalb des Bühnengeschehens und durch seine Besetzung mit Heyme der Figur eines Regisseurs angenähert.680 Die Identifikation, durch die bei Weiss Empedokles zur Symbolfigur ständiger visionärer Revolution überhöht und bei Grüber die Dialektik von Elan und Scheitern zwischen dem antiken Akragas, dem goethezeitlichen Tübingen und dem bundesdeutschen Berlin reflektiert wurde, führte bei Heyme zu einem Schluss ohne Ende: Philosoph und Dichter, Künstler und Intellektueller sind zum Leerlauf im Käfig verurteilt. Die Eis-Metapher, effektvoll gegen die Feuer-Symbolik der Dramenfragmente ausgespielt, wurde wohl direkt aus Grübers ‚rechter‘ Bühnenhälfte mit dem zur ÄtnaSpitze stilisierten Eisberg C. D. Friedrichs entlehnt. Bei Heyme war sie jedoch anders gesetzt und besetzt: Es war nun die Gegenwarts-Ebene, die als zugefroren dargestellt wurde; bei ihrer Enteisung wurden Monitore frei, in deren Flimmern das Nichts der Medienbanalität leuchtete als Fortführung frostiger Leblosigkeit. Anders als bei Grüber wurde hier keine Kommunikation, kein Kontakt zwischen Gestern und Heute, zwischen Dichtung und Realität inszeniert; nicht einmal ein Bettler trat hier auf, um Hölderlins Beschwörung des „lebendigen Geist[s]“ wenigstens stammelnd zu wiederholen. Der Dichter/Denker/Intellektuelle blieb in seiner Oberwelt, seine mehr oder weniger absichtliche Isolation wurde nicht aufgehoben. Auch seine dahinfließenden Verse erstarrten wirkungslos in der Eiseskälte der ‚Unterwelt‘. Ein letztes Mal vor der Wiedervereinigung wurden also die in ihrer ganzen Bruchstückhaftigkeit gezeigten tragischen Szenen Hölderlins als Fragmente vergangener und gegenwärtiger intellektueller Biographien zwischen Poesie und Politik auf die Bühne gebracht. Heyme bereitete m.E. bewusst dieser mit Peter Weiss’ Dichterdrama initiierten zwanzigjährigen Tradition ein Ende, indem er sie zitierte und in der orientierungslosen Gegenwart jeder Wirkungsmöglichkeit beraubte. Der erfahrene Regisseur, seit den 1950er Jahren im deutschen Theaterbetrieb – vor allem zwischen Köln, Stuttgart, Essen und dann als Festspielleiter in Recklinghausen – als Vertreter einer ideologie- und gesellschaftskritischen Tendenz tätig, in der Klassiker mitunter aggressiv aktualisiert wurden, plädierte in seiner m.W. einzigen Hölderlin-Inszenierung gleichzeitig für eine technische und dramaturgische Modernisierung, die mit einigen

|| 680 Unter den Rezensionen, die dieser Identifikation nachgehen, sei auf Andreas Faschinas Besprechung Empedokles stirbt, Hansgünther Heyme philosophiert verwiesen (Tageszeitung 7. Februar 1990).

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alten Gewohnheiten vieler Empedokles-Inszenierungen Schluss machte; manche nach ihm werden daraus lernen. Mikrophone und Lautsprecher etwa, welche die bei Grüber und auch bei Steckel noch so gepflegte Sprechweise des Hölderlin-Duktus gnadenlos verzerrten – um von den Fernsehmonitoren zu schweigen, die den Tod des Empedokles zum ersten Mal in die Mediengesellschaft katapultierten. Mit der eingefrorenen Gegenwart, in der antike Vulkanlandschaften bzw. schwäbische Weinhügel nicht einmal evoziert wurden und über der griechische Naturphilosophen und goethezeitliche Dichter zusammen mit den Revolutionären aller Zeiten wie im Entfliehen begriffene Götter abgekapselt in der Luft schwebten, übergab Heyme Hölderlins dramatische Fragmente einer neuen Zeit. Prognosen über die Zukunft machte er nicht, die Diagnose des aktuellen Stands der Dinge war finster. Nicht von ungefähr endete seine Inszenierung – recht originell – mit dem Monolog des Empedokles aus der ‚zweiten Fassung‘ (2. Auftritt, hier von Pausanias gesprochen), in dem es heißt: Weh! einsam! einsam! einsam! Und nimmer find ich Euch, meine Götter, Und nimmer kehr ich Zu deinem Leben, Natur! (StA 4, 103).

3.2.5.4 Nach Hölderlin, nach Brecht, nach Müller. Sophokles-Aktualisierungen im Regietheater Ein rein quantitativer Blick auf die Inszenierungszahlen vermittelt einen eindeutigen Eindruck: In den 1970–80er Jahren setzten sich Hölderlins Sophokles-Übersetzungen auf die deutschen Bühnen definitiv als die meistgespielten Versionen von Sophokles’ König Ödipus und (noch stärker) Antigone durch; in dieser führenden Position bewährten sie sich unangefochten in den darauffolgenden Dekaden bis heute. Selbst die Übersetzungen eines Schadewaldts, die von führenden Gräzistenkollegen (Hellmuth Flashar in erster Linie) wie von erfolgreichen Theaterregisseuren (etwa Hansgünther Heyme, der „wie kein Zweiter antikes Drama [...] auf die deutsche Bühne gebracht hat“681) hochgeschätzt waren, und zwar speziell in ihrer Eignung für die Bühne, mussten auf die Dauer den Kürzeren ziehen. Die 1804 veröffentlichten, erst ein Jahrhundert später zum ersten Mal wiederabgedruckten und 1919 resp. 1921 uraufgeführten Sophokles-Übersetzungen des schwäbischen Dichters, der 1970 zum 200. Geburtstag als Zeitgenosse gefeiert wurde, galten offensichtlich von da an als aktuelle und kongeniale deutsche Versionen der antiken Tragödien. Hier seien also diese recht eindrucksvollen Zahlen genannt: Nach vorliegenden Quellen wurde Hölderlins Antigone zwischen 1977 und 1990 achtundzwanzigmal in

|| 681 So Flashar (1991) 226, vgl. ebd. zu Heymes Antikenprojekten. Heyme hat keine Sophokles-Übersetzung Hölderlins inszeniert; zu seiner Empedokles-Inszenierung vgl. 3.2.5.3.

476 | Ein Theaterjahrhundert deutschsprachigen Theatern neuinszeniert, sein König Ödipus zwischen 1973 und 1990 achtmal – das heißt insgesamt fast genauso viel wie in den vorangegangenen sechs Jahrzehnten Aufführungsgeschichte. Und dabei blieb es nicht: Die Antigone wirkte weiter über Brechts Bearbeitung, der Ödipus über die Bearbeitung Heiner Müllers nach; letztere erwies sich sowohl textuell als auch in ihrer szenischen Berliner Realisierung durch Besson stilbildend auch für ‚reine‘ Hölderlin-Inszenierungen des Ödipus in den 1970er Jahren. Orffs Vertonungen beider Übersetzungen werden allerdings nur noch selten gespielt; eine Oedipus-Oper von Wolfgang Rihm, deren Libretto ein hochinteressantes Beispiel verflochtener Hölderlin, Nietzsche- und Müller-Rezeptionen darstellt, wurde am 4. Oktober 1987 erfolgreich von Götz Friedrich in Berlin (Deutsche Oper) inszeniert; nun interessierte sich auch das Musiktheater erneut für Hölderlins Sophokles-Übersetzungen.682 Die ‚siebte Kunst‘ wird später nachkommen; mit Straub/Huillets formstrenger Verfilmung von Brechts Antigone-Bearbeitung im antiken Theater von Segesta (1991) wurde allerdings in den unmittelbaren Nachwende-Jahren auch dort die intermediale Produktivität sichtbar, welche diese Texte in den verschiedensten Kunst- und Performanceformen der Gegenwart zu entfalten vermögen.683 Schließlich ereignete sich 1978 zum ersten Mal eine Form der dramatischen und theatralischen Rezeption, die für Übersetzungen von Dramentexten als fast einmalig gelten kann: Hölderlins Antigone wurde von Philippe Lacoue-Labarthe ins Französische übertragen – und zwar ohne Rücksicht auf Sophokles, mit allen Übersetzungs- und Überlieferungsfehler – und im Juni 1978 in Straßburg uraufgeführt. Durch diese fremdsprachliche Übersetzung und Inszenierung, der ähnliche Erscheinungen in Italien und England folgen sollten,684 wurde im Bereich der internationalen Theaterrezeption die Eigenständigkeit, die Hölderlins Ödipus und Antigone

|| 682 Die Textgrundlage von Wolfgang Rihms Oedipus-Oper besteht, so Flashar, aus „kurzen, abgehackten Segmenten, vielfach in brachylogischer Zersplitterung, aber mit Wiederholungen einzelner Wörter“, denen „die entsprechend veränderte Übersetzung Hölderlins“ zugrundeliegt, „in die aber Textsplitter aus Nietzsches nachgelassenem Fragment Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst und aus dem Ödipuskommentar von Heiner Müller eingestreut sind“ (1991, 281). Die HölderlinTeile ermöglichen das Vorangehen der Handlung, während die Einsprengsel aus beiden späteren Texten monologische Fragmente der Hauptfigur bilden. Zur Oper Rihms, der auch Heiner Müllers Hamletmaschine wie auch Hölderlin-Fragmente vertonte, vgl. auch Hofer (2003) und Zenck (2004). 683 Dem Film ging eine 1991 Inszenierung voraus, in der Straub/Huillet Brechts Antigone in freier Abwandlung des Modells zwischen gemalten Prospekten, die bereits auf Segesta verwiesen, auf die Berliner Schaubühne brachten. Dazu vgl. Byg (1995) 215–232 und Primavesi (2011b) 103–109. 684 Ins Italienische wurden sowohl die Ödipus- als auch die Antigone-Übersetzung Hölderlins in den 1990er Jahren übersetzt, wobei der Edipo Tiranno von Tommaso Cavallo auch in Buchform vorliegt, während Barbara Bacchis Auftragsarbeiten für Theaterinszenierungen bisher nicht erschienen sind (Castellari 2006a, 314–317). David Constantine veröffentlichte 2001 seine Übersetzung von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen ins Englische, über Inszenierungen in englischer Sprache konnte nichts ermittelt werden. Weitere Beispiele könnten angeführt werden; auch Übersetzungen der Bearbeitungen

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als originelle Tragödien beanspruchen können, endgültig besiegelt. In der Forschung, in der literarischen Rezeption sowie im deutschen Theaterbetrieb fanden sie bereits seit geraumer Zeit und in verschiedener Form Anerkennung. Der Durchbruch von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als die Vorlage für Ödipus- und Antigone-Inszenierungen überhaupt war offenkundig mit dem Einsetzen und der Etablierung des modernen ‚Regietheaters‘ im deutschen Sprachbereich aufs engste verknüpft. Hellmut Flashar, dem dies in manchem auch befremdlich erscheint, hat in seiner Rekonstruktion überzeugend gezeigt, inwieweit das antike Drama insgesamt seit den späten 1960er Jahren „in die modernsten Ausprägungen des Regietheaters ebenso einbezogen“ wurde „wie Shakespeare, die deutschen Klassiker und jede Art moderner Dramatik“. Als „Signal für das Einsetzen des modernen Regietheaters im eigentlichen Sinne“ nennt Flashar Benno Bessons Inszenierung von Heiner Müllers auf Sophokles/Hölderlin aufbauender Bearbeitung Ödipus, Tyrann (Januar 1967), als „Vorklang“ die Bremer Antigone-Inszenierung Kurt Hübners des vorangegangenen Sommers: Zwei Theaterarbeiten also, die von Hölderlins Übersetzungen ausgingen (Flashar 1991, 229). In dem Ritual und Alltag prägnant betitelten Kapitel erörtert Flashar dann die 1970er Jahre als die Zeit, in der die stilistischen und inhaltlichen Eigenschaften der ‚neuen‘ Herangehensweise an die attische Tragödie – Sprengung der Form, starke Eingriffe in den Text über die traditionellen Streichungen hinaus, Übersetzung in eine neue Bildsymbolik, Aktualisierungsgesten meist mit der Herausarbeitung psychologischer, politischen und gesellschaftkritischen Dimensionen – dazu führte, dass Sophokles und die anderen attischen Tragiker vermehrt auf deutschen Bühnen gespielt wurden. Dies wird mit unverhüllter Überraschung festgestellt: Dem humanistischen Verständnis sei doch „mit den einschneidenden, der Rückbesinnung auf die Antike nicht gerade förderlichen Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Bewußtsein der Jahre um 1968“ der Boden unter den Füßen weggezogen worden (226). Im Rahmen dieser wie auch immer zu bewertenden Veränderungen, welche die Aufnahme antiker Dramen in den Spielplan eines Theaters im Umbruch zweifellos vorantrieben, ist auch die Karriere Hölderlins zum meistgespielten Übersetzer und Vermittler von Sophokles zu situieren und zu verstehen. Flashars grundlegende Untersuchungen, die neben Archivmaterialien und wenigen weiteren Forschungsbeiträgen die Basis folgender Ausführungen bilden, haben unter ihren vielen Verdiensten auch denjenigen, auf Hölderlins Vorreiterrolle hingewiesen und sie an den wichtigsten Inszenierungen erörtert zu haben; sie vermögen m.E. jedoch nur ansatzweise über die etwas überraschte Feststellung dieser Beliebtheit hinauszugehen, die etwa in folgender Wendung aus einer neueren Studie erneut getroffen wird: „Auffallend häufig erscheinen die Übersetzungen Hölderlins erst seit dem

|| von Bertolt Brecht und Heiner Müller wurden in Buchform veröffentlicht, etwa die katalanische Version Edip Tirà (Maurici Farré, 1995); meist entstanden Unternehmungen dieser Art aus inszenierungsbedingten Aufträgen, die wenigsten Übersetzungen wurden dann auch in Buchform veröffentlicht.

478 | Ein Theaterjahrhundert Einsetzen des so genannten modernen Regietheaters“ (Flashar 2007, 25). Warum gerade Hölderlins Übersetzungen eine so auffällige Konjunktur erlebten und ob und wie diese Textvorlagen dann in die gesamte Semantik der Inszenierung eingearbeitet wurden, wird nicht eingehend diskutiert, meist verbleibt Flashar bei seinem Erstaunen, da „sie von allen Übersetzungen die Unverständlichste[n]“ seien. Und doch sind bereits in Flashars Diagnose über die Geschicke des antiken Dramas im Regietheater seit ca. 1970 jene Tendenzen genannt, die den Rückgriff auf Hölderlin und den Bearbeitungsmodus seiner Übersetzungen in einigen Inszenierungen erklären können. Das zeigt sich darin, dass die griechische Tragödie tendenziell ihrer Aura beraubt und genauso wie europäische und deutsche Klassiker der Neuzeit, in manchem sogar wie Gegenwartsstücke, als Textmaterial für die Regiearbeit diente, wobei ‚klassische‘ dramaturgische Aspekte wie Schlüssigkeit der Handlung, sprachliche Geschmeidigkeit bzw. Klarheit, Schwerpunktsetzung auf eine eindeutige, für das antike Drama meist allgemeinmenschliche-moralische ‚Botschaft‘ immer nebensächlicher wurden. Dadurch gewannen szenisch offene Texte wie diejenigen Hölderlins, der wie kein anderer in die antike Vorlage eingegriffen hatte und dem nun ohne sakrale Achtung begegnet wird, an Brisanz. Er wurde zum geeigneten Ausgangspunkt für recht unterschiedliche Formen der Theaterarbeit und der Umarbeitung fürs Theater überhaupt. So konnte Hölderlins harter Duktus als ein verfremdendes Mittel eingesetzt werden, die Zuschauer ließen sich so irritieren, eine allzu leichte Rezeption sogar behindern. Die ‚Wörtlichkeit‘ der Übersetzung erlaubte es, einzelne Worte, Bilder und sprachliche Gesten zu isolieren und in visuelle, auditive und körperliche Ausdrucksformen umzusetzen, so dass sie jene spezifische Lektüre des Ödipus oder der Antigone unterstützten, die die jeweilige Inszenierung verfolgte. Die bereits bei Hölderlin – im Übersetzungstext bzw. in anderen Texten von ihm, die das Regietheater in die Tragödie hybridisierend einarbeitete – präsente oder implizit erkennbare Annäherung an die moderne Vorstellungswelt, die im weiten Sinne politische Lektüre, der Kommentar aus der Gegenwartsperspektive wurden potenziert und in die neue Gegenwart projiziert. Hölderlin avancierte in diesem Sinne zum Vermittler der griechischen Tragödie schlechthin, seinem dynamisch-prozessualen Verständnis des Verhältnisses zwischen Antike und Moderne entsprechend. Seine literatur- und theatergeschichtlich ‚sonderbare‘ Position als ‚unklassischer‘ Klassiker wie auch teilweise seine Lebensgeschichte wurden – oft durch bewusste Anknüpfung an eine nunmehr weitverzweigte Rezeptionsgeschichte – in die jeweilige Aufführung der griechischen Tragödie produktiv eingearbeitet, die dadurch mehr zu einer Hölderlinals einer Sophokles-Inszenierung wurde. An den hier kurz angesprochenen Aspekten wird der Leser unschwer Eigenschaften wiedererkennen, welche die Sophokles-Hölderlin-Arbeiten von Bertolt Brecht, in der textuellen und szenischen Perspektive seines Antigonemodells, und von Heiner Müller prägten, der die brechtsche Linie kritisch fortgeführt hatte, zuerst noch punktuell in Ödipus, Tyrann, um dann in eigenständigerer Weise in weiteren nicht-hölder-

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linschen Antike-Aneignungen sowie in der eigenen Empedokles-Rezeption die Erneuerung der dramatischen und szenischen Sprache weiterzuentwickeln. Tatsächlich erwiesen sich beide Dramatiker als Anreger der Hölderlin-Konjunktur im Regietheater – Brecht als Wegbereiter, Müller als Weggefährte –, was in Flashar Rekonstruktion stark unterschätzt wird (1991, 192). Nicht nur durch die Aufnahme ihrer SophoklesHölderlin-Bearbeitung in die Spielpläne – sie wurden öfter gespielt, als Flashar annimmt – sondern auch als Modelle einer aktualisierenden Transformation von Hölderlins tragischer Sprache und seinem Tragödienverständnis übten sie ununterbrochen Einfluss aus. Bleibt Brecht in den hier zur Diskussion stehenden Jahrzehnten als Referenzfigur des modernen Dramas und Theaters unangetastet, wobei er allerdings an ideologischer Verbindlichkeit verlor und ästhetisch von innen heraus erneuert wurde, so wurde Müller mit wachsender Intensität zum Bezugspunkt für eine Dramen- und Theaterästhetik, in der Sprache und Text über die reine Mitteilungsebene hinaus zum ‚Material‘ für ‚Theaterarbeit‘ wurden (was uns wiederum auf die BrechtLinie zurückführt). Diese markanten Entwicklungen, welche für die große Welt des deutschsprachigen Regietheaters bis heute bestimmend waren, prägten die kleine Landschaft der Sophokles-Hölderlin-Inszenierungen auf besonders intensive Weise. Dies u.a. zeigt der nun folgende Überblick über die Aufführungsgeschichte von Hölderlins Ödipus- und Antigone-Übersetzungen; er zielt darauf, einige in der Forschungsliteratur, hauptsächlich bei Flashar, bereits benannte Tendenzen durch die Würdigung bisher unberücksichtigt gebliebener Erscheinungen zu ergänzen sowie mit der parallel laufenden Empedokles-Rezeption und mit weiteren Formen der Transformation von Hölderlins Texten fürs Theater zu verknüpfen. Der Gefahr der Unübersichtlichkeit, die eine sukzessive Besprechung aller Inszenierungen mit sich bringen würde, wird dadurch abgeholfen, dass hier trotz korrekter Chronologie schwerpunktmäßig einige Tendenzen erkennbar sind; dabei werden besonders signifikante Inszenierungen eingehend erörtert, die vollständige Erwähnung aller verfügbaren Aufführungsdaten erfolgt zwischen Haupttext und Anmerkungen.685 Zuerst einige Eckdaten zur Orientierung. Von dem zahlenmäßig überwältigenden Vorrang der Antigone- gegenüber den Ödipus-Inszenierungen war bereits die Rede; allerdings muss angemerkt werden, dass dieser Vorrang – der bis heute unbestritten gilt – auch durch eine auffällige Anhäufung von Antigone-Aufführungen in bestimmten Phasen der betrachteten zwei Jahrzehnte bedingt ist. So kam es zwischen dem Sommer 1977 und dem Sommer 1981 zu zehn, dann wieder zwischen Anfang 1985 und || 685 Eine zweite methodologische Gefahr besteht darin, dass die Auswahl der signifikanten Inszenierungen vorgefassten Thesen folgt und dazu führt, nur diejenigen Erscheinungen eingehend zu besprechen, die die Gesamtinterpretation des Rezeptionsverlaufs stützen. So werden möglicherweise nur die Tendenzen wiedererkannt, nach denen man von vornherein gesucht hat. Dem wird hier dadurch abgeholfen, dass der archivalische Befund zu Produktion und zeitgenössischer Wirkung, Referenzwerke zur Theatergeschichte und Sekundärliteratur zur Hölderlin-Rezeption (im Theater und allgemein) miteinander verglichen und liebgewordene Ansichten hinterfragt werden.

480 | Ein Theaterjahrhundert Ende 1990 zu vierzehn Antigone-Inszenierungen. Ödipus Tyrann (wie auch die Bearbeitungen von Brecht und Müller) wurde dagegen zwar insgesamt weniger häufig, aber dafür regelmäßiger gespielt. Dazu kommt, dass die Rezeption der aktualisierten Dichterbiographie und der Empedokles-Fragmente die frühen und mittleren 1970er Jahre dominierte, was sich dann mit der Hinwendung zu den Sophokles-Übersetzungen änderte, und dass die späten 1980er Jahre eine typologisch äußerst facettenreiche Wirkung von Hölderlins Texten in Drama, Schauspiel, Musiktheater und Film aufweisen: Neben wichtigen Ödipus- und Antigone-Aufführungen stehen literarische Versuche im DDR-Drama, die Leben und Werk vermischen, Empedokles-Inszenierungen in und außerhalb Deutschland sowie Rihms Oper, Straub/Huillets Verfilmungen und Elfriede Jelineks Stück Wolken.Heim. (1988/89), mit dem parallel zu experimentellen Entwicklungen in Müllers Dramatik und zu Ansätzen des Regietheaters die Weichen für Formen der postdramatischen Hölderlin-Rezeption endgültig gestellt werden sollten (dazu 3.2.6). 3.2.5.4.1 Ödipus-Inszenierungen 1973–1988 Am 1. Februar 1973 brachte Niels-Peter Rudolph im von ihm geleiteten Stadttheater Basel Ödipus der Tyrann in Hölderlins Übersetzung zur Premiere. Das Programmheft dokumentierte eingehend, beinahe in Tagebuchform, die Probezeit und die damaligen Diskussionen mit den Schauspielern über die Vorlage: Auf ihre Befürchtungen, die Sprache könne „für den Zuschauer nicht verständlich“ sein, antwortete der mit 31 Jahren noch junge Regisseur, gerade Hölderlins Duktus bilde den Anknüpfungspunkt für die ästhetische Konstruktion seiner Inszenierung, denn „die Form dieser Sprache zwing[t] dazu, radikale Lösungen zu finden“.686 Diese Einsicht, verbunden mit den im Programmheft angeführten Passagen aus Heiner Müllers Hölderlin-Bearbeitung und mit den Beobachtungen der aufmerksamsten unter den Kritikern, die eine Abhängigkeit der Basler Inszenierung von Bessons Berliner Ödipus, Tyrann (1967) sowohl in lexikalischen Elementen („Schwellfuß“)687 als auch in interpretatorischen Gesamtaspekten erkannten (die Figur des Ödipus als scheiternder Rationalist),688 belegen, wie bewusst Rudolph an die sechs Jahre zurückliegende Arbeit von Müller und Besson || 686 Datiert ist der Eintrag im Programmheft auf den 5. Dezember 1972, also knapp zwei Monate vor der Premiere. Im weiteren Probenverlauf wurde jedes Sprachdetail eingehend diskutiert, wie man in derselben Quelle nachlesen kann; Hölderlins Übersetzungssprache habe sich im Laufe der Arbeit als immer weniger sperrig erwiesen. 687 Vgl. Günther Rühles Besprechung (Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. März 1973), wo die Verbindung mit Bessons Vorbild explizit hergestellt wird. 688 Gerd Jäger (Theater heute März 1973) nannte die Berliner Inszenierung nicht. Seine Ausführungen über die Hauptfigur als „starre[n] Nur-Rationalist[en]“ und die Paraphrase von Rudolphs Interpretation („Es gibt keine großen Machtmenschen; ihre Größe ist bis ins ‚tragische Scheitern‘ Anspruch, Vorspiegelung, Pose“) sind allerdings überdeutlich mit der Interpretation von Besson bzw. Müller zu verbinden.

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anknüpfte. Der Rekurs auf Hölderlins Übersetzung stellte weder eine Hommage an den Dichter noch die Entscheidung für eine die Tragödie ins Abstrakte und Sakrale rückende Fassung dar. Rudolph nahm sich in solcher Dezidiertheit Hölderlins Sophokles-Übersetzungen vor, weil deren ursprüngliche Radikalität und Aktualität sich für die Gegenwart der 1970er Jahre besonders eignete. Selbst Günther Rühle, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. März 1973 einiges auszusetzen hatte,689 bezeichnete nichtsdestotrotz mit bemerkenswertem Spürsinn Rudolphs Ödipus als einen „Ausgangspunkt“ gerade in dem Sinne, dass dort ein Perspektivenwechsel gegenüber dem Darmstädter „Nachexpressionismus“ Sellners eingeleitet worden sei, dessen Monumentalität und Abstraktheit Rudolph durch „Verkleinerung des Volumens“ und durch „Konkretisierung des Geschehens“ aufgehoben habe. Hinter der vom Theaterkritiker diagnostizierten Wende steckte auch eine andere Herangehensweise an Hölderlins Übersetzung, die an Bearbeitungen und Inszenierungen eines Brecht, Müller, Besson genau beobachtet und in das BRD-Theater eingeführt wurde: Dies ist das Verdienst Niels-Peter Rudolphs. Und doch wurde der Berliner Ödipus von Müller und Besson in jenen Jahren in vielen Inszenierungen im Westen auffällig oft zum Vorbild. Die deutsche Erstaufführung der Bearbeitung Müllers, die Hans-Joachim Heyse 1967 in Bochum à la Besson realisiert hatte,690 war zuerst folgenlos geblieben. Nach Rudolphs Basler HölderlinInszenierung kam es hingegen zu mehreren Aufführungen von Müllers Ödipus, Tyrann, 1973 in Kiel,691 1975 in Bern692 und dann mit größerer Resonanz 1977 in München (Ernst Wendt)693 und 1980 in Wien (Götz Friedrich).694 Wendt, der in dieser Rekonstruktion bereits als Kritiker von Noeltes Ödipus (1962) begegnete und dessen Bremer Antigone-Inszenierung 1979 politische Brisanz erlan-

|| 689 „Der gestische Bewegungsraum, den Hölderlins Sprache enthält, [wird] von dem Regisseur den Figuren verweigert“. 690 19. November 1967, Schauspielhaus Bochum. Die Inszenierung trug den Titel Ödipus, Tyrann. Tragödie von Sophokles. Deutsch nach Hölderlin von Heiner Müller. Die Aufführungsfotos und das Programmheft, die im Hölderlin Archiv liegen, bezeugen die Nähe zu Bessons Kostümen, Masken und Bühnenbild, auf die auch einige Rezensionen hinweisen. „Auch Heyse siedelte die Tragödie des ‚Erkenn dich selbst‘ in archaischer Frühzeit an“, vermerkt etwa Gerd Vielhaber (Frankfurter Allgemeine Zeitung 14. Dezember 1967); vgl. auch Leo Nyssen in Theater heute (Februar 1968). Heyse, in der DDR ausgebildet, siedelte dann in die BRD über, wo er in den 1960er–80er Jahren eine bemerkenswerte Karriere als Oberspielleiter und später als Intendant (Bochum, Bonn) und Professor der Regie machte. 691 16. September 1973, Schauspielhaus Kiel. Der Regisseur Dieter Reible wurde für diese Arbeit 1974 beim vierten Norddeutschen Theatertreffen ausgezeichnet; die im Archiv aufbewahrten Besprechungen – alle in der lokalen Presse – sind eher negativ und zeigen kaum Verständnis für die Stückwahl und für die Bühnenrealisation. 692 6. Dezember 1975, Stadttheater Bern. Regie führte hier Frederick Ribell. 693 Die Premiere erfolgte am 11. Dezember 1977 in den Kammerspielen. 694 Uraufgeführt am 7. Juni 1980 im Burgtheater.

482 | Ein Theaterjahrhundert gen soll, bot mit seinem Ödipus, Tyrann an den Münchner Kammerspielen ein Paradebeispiel regietheatralischer Arbeit. Nach Erfahrungen u.a. in Hamburg und WestBerlin war er dort als Chefdramaturg angestellt und hatte mit Müllers Herakles 5/Die Befreiung des Prometheus bereits Theater im Spannungsfeld zwischen Antike und Moderne auf der Bühne erprobt; sowohl Klassiker-Inszenierungen als auch Arbeiten an Müllers Dramatik gehörten zu den wichtigsten Produktionen des umstrittenen, 1986 früh verstorbenen Wendt. Im Programmheft seiner Münchner Ödipus-Inszenierung wurde nach einem exemplarischen Vergleich von vier Übersetzungen/Bearbeitungen des Sophokles (Hölderlin, Schadewaldt, Bremer, Müller)695 ausdrücklich erklärt, warum die Wahl auf die letzte gefallen war: Weil Müller Hölderlin gefolgt sei, denn er „banalisiert ihn nicht, löst Dunkelstellen nicht ins Triviale auf, läßt sie stehen. Wo er ändert, tut er es, um eine Situation oder Figur zu konkretisieren, um ihnen eine entscheidende Kontur zu geben“.696 Möglichst viel von Hölderlins ‚harter Fügung‘ also und einige wenige, dafür aber genau gezielte Eingriffe: Wendt folgte bei seiner Inszenierung Müllers Rezept, indem er sehr wenig von der Vorlage strich und sie durch die Einarbeitung von knappen Textpassagen mit Ödipus-Bezug aus Müller (Ödipuskommentar) und Hölderlin (In lieblicher Bläue)697 in Richtung auf eine Isolierung der Hauptfigur potenzierte, deren Schuld nach Hölderlin darin bestehe, dass sie „ein Auge zuviel vielleicht“ habe.698 Über die Hölderlin-Müller-Konstellation hinaus ordnete sich Wendt bewusst in eine übergreifende Aufführungsgeschichte des sophokleischen König Ödipus ein – das Programmheft zitierte anhand von Bühnenfotos

|| 695 Das Programmheft führt auch den griechischen Text an; es handelt sich um das dritte Chorlied, bei Hölderlin Z. 881–926 („Hätt’ ich mit mir das Theil [...]“ bis „[...] Unglüklich aber gehet das Göttliche“, vgl. StA 5, 162f.). 696 Joachim Kaiser verfehlte in seiner Rezension den Hintergrund von Wendts Inszenierung gänzlich. Er nannte Heiner Müllers Bearbeitung eine „Übersetzung“ und glaubte beurteilen zu können, „daß Hölderlins Wörtlichkeit [...] diese Hölderlinsche Genauigkeit sowohl schöner wie auch verständlicher ist als Müllers Pseudo-Röntgenbild“ (Süddeutsche Zeitung 13. Dezember 1977). Erstaunlicherweise sind in der damaligen und späteren Theaterkritik derartige mangelnde Kenntnisse über Müllers Bearbeitung sehr verbreitet; Müllers Arbeit wird dann für eine angeblich originelle Übertragung oder zumindest stark eingreifende Transformation genommen und dafür gepriesen bzw. kritisiert. Dies zeugt von einer sowohl ästhetischen als auch ideologischen Polarisierung der Kritik, die mehr auf den sonstigen Arbeiten Müllers als auf seiner offensichtlich kaum im Detail bekannten Hölderlin-Bearbeitung beruht. 697 Bei Wendt spielte die Frage der unsicheren Zuschreibung jenes Textes keine Rolle; in die Inszenierung integriert wird auch eine weitere Passage Hölderlins, eine Strophe aus Hyperions Schiksaalslied. 698 „Der König Oedipus hat ein Auge zuviel vielleicht“ – so im Text In lieblicher Bläue... Lediglich in Wilhelm Waiblingers Roman Phaeton überliefert, wird der Text meist als eine auf Hölderlins Aufzeichnungen zurückgehende Pastiche Waiblingers betrachtet (vgl. DKA 1, 1095). Bei Müller wurde die bei Hölderlin angedeutete Schuld des exzessiven Wissens bzw. Wissenwollens zum Verhängnis des nur sich selbst Wissenden fortgeschrieben.

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heterogene Vorgänger bis zurück zu Max Reinhardt699 –, um dann auch inszenierungsästhetisch die auf textueller Ebene erprobte Strategie zu verwirklichen. Hier entschied sich nämlich Wendt nach Durchsicht der historischen Vorbilder für eine radikale Aktualisierung („moderne[s] Ambiente“, „tiefenpsychologische Deutungen“),700 zwar im Gegensatz zu Bessons Vorbild,701 aber – so kann man m.E. seine Entscheidung mit der Art und Weise der Konfrontation mit Hölderlin/Müller verbinden – im Interesse einer szenischen Umsetzung des oben zitierten Prinzips, Figuren und Situationen „eine entscheidende Kontur zu geben“. Der gegenüber der Ost-Berliner Inszenierung von 1967 soziohistorisch stark veränderte Kontext mag Wendt in München dazu geführt haben, keine befremdende Archaisierung a là Besson anzustreben, sondern durch die Überführung der Tragödie in die banale Gegenwart die harte unharmonisierende sprachliche Vorlage gegen das Triviale und Alltägliche des Kontextes verfremdend auszuspielen. Götz Friedrich entwickelte für die eigene Ödipus-Inszenierung drei Jahre später in Wien, noch einmal auf Heiner Müllers Version unter dem variierenden Titel König Tyrann zurückgreifend, eine andere Bühnensprache, die auch bei dem gleichzeitig aufgeführten Koloneus zum Einsatz kam.702 Dies bezeugt zum Einen die Vielfalt an Dimensionen, die Müllers punktuelle Aktualisierung von Hölderlins Übersetzung in der szenischen Umsetzung eröffnen konnte, und ist zum Anderen durch die andersartige künstlerische Herkunft und Arbeitsweise des Regisseurs selber zu erklären. Der vornehmlich als Opernregisseur tätige Friedrich behandelte seine textuelle Vorlage mit viel Sinn fürs Rhythmische und Musikalische. Die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Siegfried Matthus,703 der die Chorlieder unisono vertonte, verhalf der Wiener Doppelinszenierung des Sophokles zu einer Betonung des Sprachlichen und Körperlichen (überdeutliche Gesten und Bewegungen, Ödipus als gekrümmte Gestalt), nicht

|| 699 Darunter sind auch drei Ödipus-Inszenierungen der 1960er–70er angeführt, die auf Hölderlins Übersetzung bzw. Müllers Bearbeitung zurückgriffen: Die Regien von Noelte in München (1962), von Besson in Berlin (1967) und von Rudolph in Basel (1973) wurden zu Meilensteinen im noch jungen Regietheater deklariert. 700 Die Zitate stammen aus Flashar (1991) 247. Die damaligen Besprechungen von Wendts Inszenierung waren meist sehr kritisch und warfen dem Regisseur „Banalisierung der Klassiker“ (Peter Iden, Frankfurter Rundschau 13. Mai 1978) bzw. „Doppelsnobismus“ vor (Joachim Kaiser, Süddeutsche Zeitung 13. Dezember 1977). Die freudsche psychoanalytische Dimension erörterte insb. Henning Rischbieter (Theater heute Februar 1978). 701 Wendt sei von Besson „denkbar weit entfernt“: Durch die Reduktion auf den „Alltag von gestern und heute“ habe er anders als Heyme „der griechischen Tragödie [...] die ihr eigene Aura entnommen“ (Flashar 1991, 247). 702 Flashar (1991) 282. Keine Angaben konnten zur dort benutzten Übersetzung des Ödipus auf Kolonos ermittelt werden. Bereits Hans Neuenfels hatte ein Jahr davor beide Ödipus-Dramen inszeniert, auf die Übersetzung Hölderlins für den König Ödipus und auf diejenige von Ernst Buschor für den Koloneus zurückgreifend (Frankfurt, 22. April 1979). 703 Matthus war an der Komischen Oper Berlin tätig. Zur Inszenierung vgl. Flashar (1991) 282.

484 | Ein Theaterjahrhundert zuletzt durch das beide Dimensionen verknüpfende Mittel des Klangs. Von Müllers Hölderlin-Bearbeitung wurde dadurch vor allem das Verstörende und Irritierende der Ödipus-Figur verstärkt. Auch die bühnenbildnerische Dominanz metallener Flächen, die Flashar im Sinne einer pathetischen Überhöhung des Geschehens liest (1991, 282), zielten wohl eher auf die Reflektion der obsessiv im Teufelskreis fließenden Gedanken des Protagonisten. Nicht von ungefähr sollte Götz Friedrich wenige Jahre später viele Elemente dieser Heiner Müller-Inszenierung in die von ihm geleitete Uraufführung von Wolfgang Rihms Hölderlin-Oper Oedipus wiederaufnehmen und weiterentwickeln (4. Oktober 1987, Deutsche Oper Berlin). Parallel zu beiden bedeutenden Inszenierungen von Heiner Müllers Ödipus, Tyrann sind ‚reine‘ Sophokles-Hölderlin-Inszenierungen zu verzeichnen, die sich maßgeblich von Müllers Arbeit, oft als ‚Material‘, inspirieren ließen. Zu erklären ist dies auch mit der wachsenden Wirkung von Heiner Müllers Dramatik und Ästhetik im westlichen Theater überhaupt – vor allem die Inszenierungen von Philoktet (UA 1968 in München), Germania Tod in Berlin (UA 1978 in München) und Hamletmaschine (deutsche UA 1979 in Essen), für die ‚Post-Dramatik‘ der sprachexperimentelle Text Bildbeschreibung (1984). So zeigen einige BRD-Inszenierungen der 1980er Jahre indirekt über Hölderlin eine wachsende Mitberücksichtigung von Müllers Position, bevor Ende des Jahrzehnts wieder direkt dessen Ödipus-Bearbeitung auf die Bühne kam. Neben der mäßig erfolgreichen Ulmer Inszenierung 1976704 und der eher andere Akzente setzenden von Hans Neuenfels 1979 in Frankfurt705 sind hier vor allem der Karlsruher Ödipus der Tyrann von Ulrich Greiff (Herbst 1976) zu erwähnen,706 dann erst 1984–85707 wieder die mehrmals wiederaufgenommene und ausgezeichnete Inszenierung von Jürgen Gosch (Köln, Hamburg),708 der ähnlich wie Heyse in der DDR || 704 Im Frühling 1976 am Ulmer Theater von Peter Borchardt zur Premiere gebracht, gastierte die Inszenierung anlässlich der 14. Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Bad Homburg, wo sie deren Mitglieder am 11. Juni 1976 miterleben konnten. Obwohl die Inszenierung auch zur Brüsseler Euroliga eingeladen wurde, ist in der Presse keine überregionale Resonanz zu verzeichnen. Nach der Intendanz in Ulm 1973–79 wurde Borchardt Schauspieldirektor in Bern, weitere Hölderlin-Texte hat er anscheinend nicht inszeniert. 705 Bei Neuenfels, einem der Hauptvertreter des deutschen Regietheaters, stand die sexualpsychologische Lektüre des Ödipus-Mythos im Vordergrund; eine eingehende Auseinandersetzung mit Hölderlin scheint nicht erfolgt zu sein. Zur Inszenierung vgl. Flashar (1991) 247f. 706 10. September 1976, Badisches Staatstheater Karslruhe. 707 Fürs Jahr 1984 ist auch ein Ödipus der Tyrann an der Studiobühne der Univ.-Gesamthochschule Paderborn zu verzeichnen. Die Studentenaufführung, in den wenigen Besprechungen wohlwollend aufgenommen, wird in einigen Quellen mit Goschs Kölner Inszenierung in Verbindung gebracht; weiteres konnte nicht ermittelt werden. 708 Die lediglich Ödipus betitelte Inszenierung, die 1984 (wohl im März) im Kölner Schauspiel uraufgeführt wurde, kam zwei Spielzeiten später in Hamburg mit möglicherweise einigen Variationen wieder auf die Bühne; diese zweite Premiere fand am 17. Oktober 1985 im Thalia Theater statt (hier werden Gosch und Wolfgang Wiens, der bereits in Köln die Dramaturgie besorgt hatte, als Regisseure aufgeführt). Es folgten mehrere Gastspiele und die Einladung zum Berliner Theatertreffen. In den

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ausgebildet wurde und erste Erfahrungen im Schauspiel bei Fritz Marquardt gemacht hatte, bevor er 1978 wegen mangelnder Arbeitsmöglichkeiten in die BRD übersiedelte. Goschs in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Wolfgang Wiens und dem Bühnenbildner Axel Manthey gestalteter Ödipus zeigte Mitte der 1980er Jahre die anhaltende Aktualität von Heiner Müllers Sophokles-Hölderlin-Interpretation auch außerhalb der Inszenierung von dessen Bearbeitung. So wird im Programmheft Müllers Ödipuskommentar, von Zeichnungen desselben Manthey begleitet, zur Grundlage der Arbeit an der Geschichte des Thebaner Königs deklariert, der auf der Bühne von einem Ulrich Wildgruber auf dem Gipfel seiner Laufbahn gespielt wird. Aus dieser Müller-Aszendenz erklärt sich auch die von den Rezensenten vermerkte politische Vergegenwärtigung. So schrieb etwa Ulrich Schreiber: „Gosch wirft Hölderlins Kritik am schlechten Herrscher auch in die Ebene der Nachfolger“ im Sinne einer „kritische[n] Fortschreibung der ‚vaterländischen Umkehr‘ Hölderlins“.709 Mit dem Berliner Ödipus, Tyrann kann man auch die archaisierende Szenerie und die Benutzung von Masken in Verbindung bringen.710 Der Regisseur griff für seine szenische Umsetzung immer neu in die Vorlage ein und arbeitete aktuelle Standpunkte durch Zitate früherer Inszenierungen heraus; bereits die damalige Kritik benutzte für diese Herangehensweise die Etikette „postmodern“.711 Gosch sollte im neuen Jahrtausend seine und Wiens Einrichtung, die in den späten 1980ern an vielen Bühnen des Landes gastiert hatte, noch einmal für eine Kasseler Inszenierung in der Dokumenta-Halle aufnehmen und noch einmal aus Hölderlins Übersetzung (immer noch, wie mir scheint, über die Vermittlung von Müllers Lektüre) Impulse für die aktuelle Theaterarbeit gewinnen, hier im Zeichen der Reflexion über die postindustrielle Gesellschaft.712 Zurück zu den 1980er Jahren. Nach einer Karlsruher Inszenierung der von Rüdiger Mangel eigens bearbeiteten hölderlinschen Übersetzung im Februar 1986, die zusammen mit der im Juni anschließenden Antigone Teil eines ästhetisch konservativen

|| meist positiven Besprechungen wurde die Hölderlin-Frage kaum berührt; inszenierungsästhetisch kann Goschs Arbeit als eine antiklassizistisch archaisierende bezeichnet werden, also in Bessons Spuren; die Benutzung von Masken und Kothurnen wurde in den Besprechungen oft hervorgehoben. 709 Frankfurter Rundschau 19. März 1984. Die Besprechung betrifft die Wiederaufnahme in Köln. 710 Den Grundtenor von Goschs Inszenierung in der „konservative[n] Feierlichkeit“ zu erblicken (Flashar 1991, 283), scheint mir abwegig. Vielmehr setzte Gosch die aktualisierende Lektüre des Ödipus fort, die vor allem auf Müllers Spuren seit den frühen 1970ern im Umlauf war. Auch die ‚konservative‘ Wiedereinführung einiger Götternamen in die Übersetzung Hölderlins, der sie bekanntlich durch Periphrasen ersetzt hatte, hat m.E. nichts mit sakraler Feierlichkeit zu tun, wie der Umstand zeigt, dass an anderen Stellen Gosch und Wiens auch in die umgekehrte Richtung einer weiteren Umschreibung von Hölderlins Periphrasen gingen. 711 So „cid“, Rezensent des Ludwigshafener Gastspiels des Thalia-Theaters (Darmstädter Echo 11. Mai 1988). 712 Uraufgeführt wurde diese Produktion des Kasseler Staatstheaters am 3. Dezember 2005 in der Documenta-Halle.

486 | Ein Theaterjahrhundert Sophokles-Hölderlin-Projekts des Regisseurs Walter Asmus und des genannten Dramaturgen war,713 kam 1988 Heiner Müllers Ödipus-Bearbeitung innerhalb weniger Monate zweimal außerhalb beider Deutschlands auf die deutschsprachige Bühne, und zwar unter der Regie von Künstlern, die in der DDR ihre Karriere angefangen und intensiv an Heiner Müllers Dramatik gearbeitet hatten. Der Bulgare Dimiter Gotscheff, seinerzeit Mitarbeiter Bessons in Ost-Berlin und dann durch eine von Müller selbst höchst kongenial befundene, durch Körpersprache bestechende Philoktet-Inszenierung in Sofia 1983 berühmt geworden, brachte Ödipus, Tyrann auf die Schweizer Bühne (Stadttheater Basel, 16. März 1988). Matthias Langhoff folgte ihm drei Monate später am Wiener Burgtheater (12. Juni 1988) und schloss mit dieser stark modernisierenden Einstudierung die Reihe der Ödipus-Inszenierungen bis zur Wiedervereinigung ab – für viele eine willkürliche Aktualisierung: Flashar kontrastiert sie mit derjenigen Goschs und berichtet nicht ohne Irritation, wie in Wien „Oedipus mit dem Fahrrad auf die Bühne kommt, eine langbeinige Kellnerin Espresso serviert, viel geraucht und zwischendurch geduscht wird“.714 Gotscheffs von der Kritik kühl aufgenommene Basler Inszenierung, die gegenüber seinen sonstigen Auseinandersetzungen mit der antiken Tragödie (meist in Müllers Bearbeitung, meist im Spannungsfeld zwischen epischer und postdramatischer Theaterästhetik) recht fade daherkam715 hat im Vergleich mit früheren SophoklesHölderlin-Müller-Inszenierungen wenig überzeugt. Dieses Schicksal teilte sie mit der Wiener Arbeit Langhoffs, dessen Eingriffe kaum vom Konventionellen abrückten und mit der sprachlichen Intensität und gedanklichen Komplexität der Vorlage nicht in Einklang zu bringen waren. Beide Regisseure sollten in den darauffolgenden Jahren sich wieder (und erfolgreicher) mit Ödipus, Tyrann beschäftigen. Auch darin zeigt sich, was diese Übersicht über die Ödipus-Inszenierungen der 1970er–80er insgesamt belegt: Dass „Heiner Müllers Bearbeitung der Übersetzung Hölderlins [...] bis heute auf unseren Bühnen, aber nicht so oft, wie der unbearbeitete Text Hölderlins selber“ inszeniert worden sei (Flashar 2011, 27), ist eine Fehleinschätzung, die aus einer ästhetischen und ideologischen Distanz des Forschers zur Bearbeitung und ihrer Tradition herzurühren scheint. Beide Versionen wurden gleich oft gespielt (was sich, wie hier vorwegzunehmen ist, in den darauffolgenden Jahren bestätigen wird); rezeptionsgeschichtlich noch wichtiger ist der Zusatz, dass nicht wenige ‚reine‘ Hölderlin-

|| 713 Die Premiere fand im Badischen Staatstheater am 15. Februar 1986 statt. Das Programmheft dokumentierte die dramaturgische Arbeit Mangels, indem es die ursprüngliche Fassung mit seinen Strichen wiedergab. Mangel nennt dort die „vorsichtige[n] Korrekturen“ einen Versuch, die Verständlichkeit des Textes zu erleichtern. Die Rezensionen kritisierten allerdings die mangelnde Fähigkeit der Produktion, Hölderlins Sprache adäquat in Szene zu setzen. 714 Vgl. Flashar (1991) 283. 715 Vgl. zu Gotscheffs Antike-Projekten Dreyer (2014) 279–292, wo insbesondere die Perser-Inszenierung 2006 (Deutsches Theater Berlin, Bearbeitung Heiner Müllers) erörtert wird.

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Inszenierungen durch den 1967 in Berlin aufgeführten Ödipus, Tyrann inspirieren ließen, von Bessons Regiestil und noch mehr und nachhaltiger von Heiner Müllers Bearbeitungsweise und Kommentar. 3.2.5.4.2 Antigone zwischen ‚deutschem Herbst‘ und ‚Wende‘ Trotz der Antigone des Living Theatre (1967) und ihrer überaus zeitgemäßen Re-Lektüre der antiken Figur, in der Hölderlin allerdings erst indirekt über Brecht und über weitere szenische Brechungen eine Rolle spielte, war in den frühen 1970er Jahren die direkte Bühnenaufnahme von Hölderlins Antigone-Übersetzung auf den deutschen Bühnen so gut wie zum Stillstand gekommen. Die den traditionellen Umgang mit Hölderlins Sophokles in Frage stellende Kasseler Inszenierung von (Ulrich) Brecht 1969 wie auch die wiederholten Wiederaufnahmen von (Bertolt) Brechts Bearbeitung in beiden deutschen Republiken und im internationalen Kontext waren zwar Zeichen eines anhaltenden Interesses – dementsprechend wurden sie in dieser Rekonstruktion früher gewürdigt –, spielten aber vorerst kaum die rezeptionssteuernde Rolle, die etwa für Heiner Müllers Bearbeitung bzw. Benno Bessons Inszenierung des Ödipus festgestellt worden ist. Als am 24. April 1970 – auf dem Höhepunkt des öffentlichen Hölderlin-Interesses – Hansgünther Heyme Sophokles’ Antigone in Köln inszenierte, diente ihm Schadewaldts Übersetzung zur Vorlage. Das mag auch aus dem Umstand herrühren, dass es sich um eine Doppelinszenierung handelte und das zweite gespielte Drama, Die Sieben gegen Thebe des Aischylos, ebenfalls in der Übersetzung des Tübinger Philologen vorlag. Heyme hatte sich allerdings bereits 1965 für Schadewaldts Antigone-Übertragung entschieden, seine für die „ritualisierende Phase“ der Antiken-Inszenierungen im modernen Regietheater typischen Produktionen kamen ohne Hölderlin aus.716 In einer Antigone von 1972 in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) wurde sogar auf die obsolete Übersetzung Donners zurückgegriffen; als dann (erst 1977) Hölderlins Antigone-Übersetzung einer DDR- Inszenierung zum m.W. allerersten Mal direkt zugrunde gelegt wurde,717 reagierte die Kritik mit großen Vorbehalten; es wurde ausdrücklich bezweifelt, dass solch eine Vorlage überhaupt spielbar sei.718 In beiden letzten zweitrangigen Beispielen und in Heymes prominentem Fall war also Hölderlins Übersetzung entweder keine Option oder erwies sich als eine schlechte Wahl.

|| 716 Vgl. Flashar (1991) 226–237 zur ersten ‚ritualisierenden‘ Phase mit ihrer Setzung politischer und ideologischer Akzente, zu Heymes Rolle darin, zu dessen Kölner Ödipus-Diptychon (1968) in Anknüpfung an Besson, schließlich zur Antigone. 717 Früher hatte es einige Inszenierungen von Brechts Antigone-Bearbeitung gegeben. Für den Ödipus ist der Befund noch karger: Er wurde auf keiner DDR-Bühne inszeniert; Müllers Bearbeitung ein einziges Mal (Uraufführung). 718 1977 im Landestheater Halle, wohl im August. Der die Inszenierung leitende Regisseur Peter Handke ist lediglich Namensvetter des österreichischen Schriftstellers.

488 | Ein Theaterjahrhundert Als eine durchdachte Entscheidung, die Hölderlin in seiner Eigenschaft als Übersetzer und Interpret explizit zum bestgeeigneten Vermittler zwischen Antike und Gegenwart machte, kann hingegen das Straßburger Unternehmen bezeichnet werden, die Antigone ins Französische zu übersetzen und im Juni 1978 auf einer recht unkonventionellen Bühne aufzuführen, einem „schmutzigen, heruntergekommenen Industriegelände“ bzw. einer „Militärruine am Stadtrand“ der Elsässer Stadt.719 Die Inszenierung wurde vom Duo Philippe Lacoue-Labarthe720 und Michel Deutsch721 für das Théâtre national de Strasbourg realisiert und hatte große Resonanz auch außerhalb Frankreich; sie besticht vor allem durch ihre vielschichtige Zusammenführung von ästhetischen und politischen Akzenten und steht auf einer Stufe mit den fast zeitgleichen Hölderlin-Arbeiten Klaus Michael Grübers. Der Autor der französischen Version Lacoue-Labarthe gab unumwunden an, nicht Sophokles, sondern Hölderlin übersetzt zu haben und den Abstand zum griechischen Original in der eigenen französischen Übertragung nicht nivelliert, sondern bestenfalls in dem Maße berücksichtigt zu haben, wie es mit Hölderlins Projekt eines modernen Theaters noch kompatibel war.722 Dasselbe gilt für den zwanzig Jahre später vom selben Philosophen besorgten Œdipe le tyran, der sogar das Festival d’Avignon eröffnen sollte.723 || 719 Der erste Spielort bei Flashar (1991) 252, der zweite bei Lehmann (2013) 487. Unklar ist, ob sich beide Forscher auf dieselbe oder auf zwei verschiedene Inszenierungen beziehen: Das TNS (Théâtre national de Strasbourg) hat nämlich 1979 die von Lacoue-Labarthe und Deutsch realisierten AntigoneInszenierung erneut ins Programm genommen. 720 Lacoue-Labarthes Hölderlin-Studien wurden bereits in Teil I dieser Arbeit als wichtige Beiträge gewürdigt. Eine besondere Position in der Hölderlin-Rezeption nimmt der französische Philosoph dadurch ein, dass er sowohl als Interpret als auch als Übersetzer, Vermittler und als Denker hervorgetreten ist, der Hölderlin in die eigenen Überlegungen einbezieht. Bruno Duarte erläutert LacoueLabarthes Arbeit an Hölderlin wie folgt: „point d’intersection de deux problèmes fondamentaux: d’un côté, le théâtre, la question de la représentation et de la mimésis; de l’autre, une position critique inépuisable face à la philosophie de Heidegger et au rapport général reliant l’art, la philosophie et la politique“; auf dieses Gespräch mit Labarthe sei als Einstieg in dessen Hölderlin-Rezeption verwiesen (Duarte 2005, 121). Der 2007 verstorbene Lacoue-Labarthe trat in weiteren intermedialen HölderlinProjekten auf, etwa durch seinen Film Andenken, je pense à vous (2004) und durch die Mitarbeit am Film The Ister (David Barison, Daniel Ross, Australien 2004). Zu Lacoue-Labarthe innerhalb der französischen Hölderlin-Rezeption vgl. Lernout (1994) 44–54, wo er (wie Maurice Blanchot, Jean Hyppolite und Jean-Luc Nancy) als Vertreter einer ‚linken‘ Strömung präsentiert wird. 721 Der 1948 in Straßburg geborene Dramatiker und Regisseur Michel Deutsch, der mit Lacoue-Labarthe intensiv zusammengearbeitet hat, zählte zu den Mitbegründern des Théâtre du Quotidien und war 1975–83 Dramaturg am TNS. Für sein Drama Thermidor (1990) dienten auch die Empedokles-Fragmente Hölderlins als Inspiration. 722 „Évidemment“, so Lacoue-Labarthe, „j’ai regardé le texte grec, parce que je voulais mesurer l’écart que Hölderlin, volontairement ou pas, avait pris avec lui, mais je traduisais l’allemand, pas le grec. Je ne traduisais pas Sophocle, mais plutôt un texte que j’attribuais à Hölderlin, comme si c’était un poème de Hölderlin“ (Duarte 2005, 122f.). 723 10. Juli 1998, Avignon, Cours d’honneur du Palais des Papes. Regie führte Jean-Louis Martinelli. Lacoue-Labarthe hatte bereits 1978 der Edition seiner Antigone-Übersetzung das Essay La cesure du

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In der Straßburger Inszenierung von 1978 galt die sprachliche Beschaffenheit von Hölderlins Antigone als unlösbar mit seiner Tragödieninterpretation und Auffassung des Tragischen verknüpft, außerdem war sie Ausdruck seines politischen Bewusstseins und existentiellen Leidens, was bei Lacoue-Labarthe und Deutsch Ende der 1970er Jahre weitgehend mit Bertauxs Brille gesehen wurde. Antigone bezeichneten sie als einen Gegenentwurf, der radikal gegen poetische, theoretische und gesellschaftlich-politische Konventionen gerichtet sei; Hölderlins Wirkungslosigkeit in seiner Zeit und sein ‚Wahnsinn‘ seien Folgen dieser Konstellation gewesen.724 Als Vergegenwärtigung dieses hohen ästhetischen und politischen Scheiterns kann man m.E. die bei Flashar geschilderte Präsenz der Hölderlin-Figur selbst in der Antigone-Inszenierung interpretieren. „Ein unverständlich brabbelnder Schauspieler mit einer roten Rose“, so Flashar, „stellte Hölderlin dar und irrte während der Vorstellung durchs Gelände [...] ein verwirrter und verstörter Mann mittleren Alters“. Die Zuschauer wurden beim Betreten des Geländes zuerst von dieser Figur empfangen, während die Antigone- und Ismene-Darstellerinnen auf der ‚richtigen‘ Bühne schon warteten. So, als ob Brechts Vorspiel, das das tragische Geschehen vorwegnahm und mit direktem Bezug auf den Zweiten Weltkrieg historisch-politisch aktualisierte, einer philosophischpoetisch aktualisierenden Einführung gewichen sei, in der nicht mehr die Weltgeschichte, sondern die Figur des scheiternden Dichters und Denkers zum Politikum wurde – mit einer erst äußerst indirekten Verbindung zur Handlung der Tragödie und zum Antigone-Mythos. Geradezu zum Politikum war in denselben Jahren die Figur der Antigone in der BRD geworden. Literarische, filmische und theatralische Reflexionen und Verarbeitungen des ‚deutschen Herbstes‘ kreisten um Antigone-Lektüren und -Korrekturen, die mehr oder weniger nuanciert die antike Figur und ihr Handeln mit der aktuellen politischen Situation verglichen, von sensiblen Gedanken- und Bildassoziationen

|| speculatif angehängt, 1998 verliefen übersetzerische und interpretatorische Arbeit wieder parallel: Neben der Ödipus-Version gab er in den Druck die Studien Métaphrasis et Le Théâtre de Hölderlin. Die Übersetzung für die Avignoner Inszenierung kam einer Bearbeitung gleich; insbesondere die Hauptfigur ist (ähnlich wie bei Müller) „nicht der schuldlos schuldige Held der Antike, sondern ein verantwortungsloser Verantwortlicher oder aber moderner Potentat, dem die Anmaßung, alles zu bestimmen, zum Verhängnis werde“ (Barbara Villiger Heilig, Neue Zürcher Zeitung 15 Juli 1998). 724 In diesem Sinne scheint mir die Straßburger Inszenierung eher den Haupttendenzen der Hölderlin-Rezeption im Theater der 1970er Jahre nahezukommen – politischer Biographismus, ästhetische und existentielle Isolation – als, wie Lehmann (2013) 487 behauptet, postdramatischen Tendenzen („Sie brachten damit Hölderlin in den Echoraum der neuen postdramatischen Theaterformen ein, die sich damals überall entwickelten“). Die antikathartische Tragödienauffassung Lacoue-Labarthes, die er selber theoretisch auf einer von Hölderlin inspirierten „Zäsur des Spekulativen“ begründet, liest Lehmann auf Sarah Kofmans Spuren daraufhin, dass hier mit Bezug auf Hölderlin eine Dekonstruktion der traditionellen Tragödie und Philosophie betrieben werde. Die Praxis der Inszenierung jedoch setzte m.E. andere Akzente, die eher in der Evokation Hölderlins als Figur politischen, ästhetischen und existentiellen Scheiterns, seiner Antigone-Version als Folie aktueller Verhältnisse zu sehen sind.

490 | Ein Theaterjahrhundert über rabiate Bestandsaufnahmen bis zu plakativen Gleichstellungen, in denen der gewaltlose Widerstand und der Selbstmord Antigones in der Gefangenschaft mit der jüngsten Geschichte und der letzten Eskalation des Terrorismus in der BRD parallelisiert wurde.725 Die auffällige Antigone-Konjunktur in der Spielzeit 1978/79, die den Höhepunkt einer zirka vier Spielzeiten währenden Antigone-Begeisterung darstellte, wird einhellig mit dieser allgemeinen politisch-kulturellen Aktualität in Verbindung gebracht; als beispielgebend wird in allen Rekonstruktionen die dreifache Einladung von Antigone-Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen 1979 angeführt. Bei diesen drei Antigone-Aufführungen, die zu den bundesweit bedeutendsten des Jahres gekürt wurden, handelte es sich ausnahmslos um Inszenierungen, denen Hölderlins Übersetzung zugrunde lag: Die Frankfurter von Christof Nel (Premiere am 4. November 1978 im Schauspielhaus) und die beiden fast gleichzeitigen Aufführungen von Ernst Wendt in Bremen (23. März 1979, Theater am Goetheplatz) und von Niels-Peter Rudolph in West-Berlin (24. März 1979, Schiller-Theater). Hinzu kam eine vierte Inszenierung, die oft zusammen mit diesen genannt wird, eigentlich jedoch bereits in der Saison davor debütiert hatte: Die Stuttgarter in der Regie von Valentin Jeker (16. April 1978, Kammertheater). Die Antigone-Konjunktur war dadurch auch eine Hölderlin-Konjunktur, die letzte eines Hölderlin besonders zugeneigten Theaterjahrzehnts. „Man fragt sich“, so Flashar, „warum in all diesen radikal untraditionellen Inszenierungen die feierliche, formstrenge Übersetzung von Hölderlin verwendet wird“ (1991, 251). Die Frage ist angesichts der flächendeckenden Benutzung Hölderlins in diesen Antigone-Inszenierungen 1978/9 mehr als begründet, auch wenn m.E. die Gegenüberstellung zwischen dem antikonventionellen Aufführungsstil und der Vorlage Hölderlins irreführend ist, da eine Aufführungstradition mit der Substanz der Vorlage verwechselt wird: Feierlich und formstreng wurden Hölderlins Übersetzungen von den 1920er Jahren an inszeniert, dabei wurden jedoch keineswegs die Kapazitäten des Textes ausgeschöpft. Auch Flashars Antwort auf die selbstgestellte Frage, die er aus den Aussagen des Regisseurs Christof Nel herleitet und zusammenfassend als eine Ideologisierung bezeichnet, die „Antigone, Hölderlin und die Frauenbrigade der Rote-Armee-Fraktion auf eine Linie bringen“ will, vermag kaum zufrieden zu stellen. Die Derivation einer derartig pauschalisierenden, ja absurden Gleichstellung – keine Inszenierung, mag sie politisch noch so radikal gewesen sein, betrieb diese Gleich-

|| 725 Hier kann auf die facettenreichen Antigone-Transformationen nicht eingegangen werden, die zwischen Literatur, Theater und Film den bundesdeutschen Diskurs Ende der späten 1970er Jahre prägten. Unter den prominenten Stimmen, die in die Debatte eingriffen, sei Heinrich Böll erwähnt, von dem das Drehbuch einer von Volker Schlöndorff verfilmten Episode des wirkungsreichen Films Deutschland im Herbst stammt (Die verschobene Antigone; BRD 1978). Als Einstieg in die Thematik sei auf Crăciun (2000), Longhi (2008) und Fornaro (2012) verwiesen.

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stellung auf solch eine platte Weise – aus dem Klima der Hölderlin-Rezeption in Bertaux’ Nachfolge, wie Flashar suggeriert, ist geradezu irritierend (1991, 251). Trotzdem wurde diese Darstellung in neueren Studien kritiklos übernommen (Ennen 2007, 112). Tatsächlich war der Rückgriff auf Hölderlins Übersetzung um 1978/79 herum meist mit einem von der Produktion offen ausgesprochenen, in der Rezeption offen diskutierten politischen Akzent verbunden – und selbstverständlich stand dies mit einem Bild des Dichters in Einklang, das in verschiedenen Nuancierungen von Weiss bis Grüber das Theater der 1970er Jahre geprägt hatte, wobei Brechts und Müllers Herangehensweisen, die zwar anders waren, jedoch das Politische nicht minder berücksichtigten, als entfernte Vorbilder galten. Allerdings sind die hier zur Diskussion stehenden Antigone-Inszenierungen kaum auf einen einzigen politischen Nenner zu bringen, sowie es auch kaum möglich ist, die Entscheidung für Hölderlins Vorlage auf rein ‚ideologische‘ Gründe zurückzuführen. Die kritische Argumentation, nach der eine unreflektierte Entscheidung für Hölderlins Übersetzung, die auf politischen Schablonen und mangelnder Kenntnis der Vorlage (oder überhaupt der Bewandtnis des antiken Dramas) gründet, den jeweiligen Regisseur sozusagen abstraft, weil er und sein Ensemble ihrer sprachlichen und gedanklichen Komplexität nicht gewachsen sind, kam in der damaligen Theaterkritik häufig zur Anwendung und braucht nicht für theater- und rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen reaktiviert zu werden. Vielmehr ist zu fragen, wie diese politisch geprägte Antigone-Inszenierungen um 1978/79 mit dem Text Hölderlins, mit dessen aktueller Bühnenwirksamkeit und vergangener Bühnengeschichte umgehen. Dies scheint u.a. deswegen von besonderer Bedeutung zu sein, weil nach dieser ersten intensiven Begegnung das zeitgenössische Regietheater Hölderlins Antigone nicht mehr aus den Augen verlieren wird.

Abb. 12: Antigone (Bremen 1979). Regie: E. Wendt. M. Krauel als Antigone

492 | Ein Theaterjahrhundert Wendt und Rudolph inszenierten ihre Bremer resp. Frankfurter Antigone, nachdem beide zwei (Wendt in München) bzw. vier Jahre früher (Rudolph in Basel) an Hölderlins Ödipus-Übersetzung neue Wege der Auseinandersetzung mit dem antiken Drama auf der Bühne erprobt hatten; der erste durch direkten Rückgriff auf Müllers Bearbeitung, der zweite nicht minder dessen Interpretation fortführend; beide zeichnete eine sensible Arbeit an der Sprache aus. Nel, der jüngere unter den Regisseuren, die 1978/79 Hölderlins Antigone inszenierten, hatte sich in seiner bisherigen fünfjährigen Karriere als Schauspielregisseur mit der antiken Tragödie nicht auseinandergesetzt, seine ersten Erfolge in Frankfurt spielte er mit deutscher Klassik und Gegenwartsdramatik ein. Jeker hatte vor seiner Stuttgarter Antigone 1978 u.a. in Ulm und Kassel bei Hübner und dann bei Ulrich Brecht assistiert, er hatte also Kontakt zu älteren Spielleitern, die beide Hölderlins Antigone in den 1950–60ern inszeniert hatten. Diesen recht unterschiedlichen ‚Vorgeschichten‘ entsprechend waren ihre oft pauschal gleichgestellten Antigone-Inszenierungen doch sehr unterschiedlich. Gemeinsam war ihnen neben dem Rückgriff auf Hölderlin beinahe nur die kühle Aufnahme in der Theaterkritik. Jeker ist anscheinend in Stuttgart den Weg gegangen, die Tragödie in einen provinziellen Alltag zu überführen: Auf der von Bernd Holzapfel gestalteten Bühne war „ein Dorfplatz mit einem Spielplatz und einer Fülle von Alltags- und Freizeitgegenständen“, in der Mitte gar eine „Boccia-Bahn“ zu sehen (Ennen 2007, 111). Nicht die Trivialisierung an sich (Peter Iden nannte sie in seiner Besprechung „Banalisierung der Klassiker“,726 neu ist sie in der Antigone-Rezeption wohl nicht, man denke an Anouilh), sondern eher der Kontrast des Banalen zur Sprache Hölderlins war wohl die Inszenierungsidee gewesen, die Jeker mit dem Dramaturgen Hermann Beil entwickelt hatte. In Stuttgart wurde nach vorliegenden Quellen frei mit dem Text umgegangen, indem lange Passagen wortlos gespielt und mehrere Textkürzungen vorgenommen wurden; die langsame Rezitation – fast Wort für Wort – mag zwar das Verständnis erleichtert haben, der Rhythmus wurde dadurch jedoch geglättet.727 Gerade an dieser etwas verlegenen Regieentscheidung, welche die ursprünglich verfremdende Distanz zwischen alltäglichem Rahmen und hölderlinscher Sprache tendenziell schmälerte, litt die Inszenierung. Von einer Aktualisierung im politischen Sinne kann, wie man sieht, kaum die Rede sein. Als das entgegengesetzte Extrem kann die Frankfurter Antigone betrachtet werden, die Nel zusammen mit dem Dramaturgen Urs Troller entwarf; das Verhältnis zum Text war jedoch genauso frei wie bei Jeker, sowohl was die Veränderungen, als auch

|| 726 Frankfurter Rundschau 13. Mai 1978. 727 Georg Hensel bemängelte in seiner Kritik auch die schauspielerische Leistung, insb. sei die Wiedergabe der Verssprache misslungen, Hölderlins Zeilen seien „Häppchen für Häppchen, so daß man sie schlucken kann“, gesprochen worden (Frankfurter Allgemeine Zeitung 19. April 1978).

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was die Realisation auf der Bühne betrifft. Hier wurde noch stärker nach den Prinzipien des Regietheaters agiert, indem fremde Zusätze massiv in Hölderlins Vorlage eingearbeitet wurden (sehr umstritten waren die Chor-Ersatzstücke);728 zwecks szenischer Herausstellung der Komplexität derselben lasen die Darsteller direkt aus dem Textbuch. Verschiedene Regieeinfälle kreierten eine absichtlich irritierende kontinuierliche Konfrontation des Textes „mit grellen Bildern aus der heutigen Realität“ vor einem Bühnenbild (Erich Wonder), das die Tragödie eindeutig zum Gegenwartsstück machte (Brauneck 1993–2007, 5, 334). Die ästhetischen Provokationen waren auch politisch begründet, obwohl sie nicht darin aufgingen und unter ‚politisch‘ nicht nur Bezüge zum Terrorismus-Diskurs zu verstehen sind. Diese jedoch waren deutlich genug und zugleich sinnbildlich: Ennen nennt konkret die „Fotoserie von diversen Festnahmen gegen Terroristen (Baader, Ensslin, Raspe)“ (2007, 112f.); der auf dem Plakat abgebildete, vielzitierte Stuhl in Flammen kann als Beispiel der regietheatralischen Arbeit an einer nicht mehr antiken Bildsymbolik betrachtet werden, die zwischen dem aufgeführten Geschehen und der Gegenwart der Aufführung vermittelte (Rückhaberle 1997); auch Hölderlins Kontext wurde durch gezielte Eingriffe in die gesamte politische Lektüre einbezogen.729 Nel übernahm das Bild Hölderlins als eines (in den Wahnsinn getriebenen) Jakobiners affirmierend von der jüngsten Rezeption und entwickelte daraus die Idee, auch diese politische Biographie in die gedankliche Welt seiner Inszenierung einzubauen – wie die ebenso als politische Biographie gelesene mythische Geschichte der Antigone und aktuelle Lebensgeschichten von sogenannten Sympathisanten und Terroristen. Dies bedeutete keine Gleichstellung der Tochter des Ödipus mit den RAF-Mitgliedern – um von Hölderlin zu schweigen, der in der Inszenierung als Figur auch keineswegs präsent war –, sondern vielmehr eine provokative Reflexion über mythische und historische Formen der Nicht-Anpassung, wie sie für die weiteren Antigone-Transformationen jener Jahre typisch war, von Heinrich Böll bis Grete Weil. Sicher stärker als bei Nel, dem Hölderlins Text und Figur m.E. vor allem in der inszenierungsvorbereitenden Arbeit als Verfremdungen und Aktualisierungen aktivierender Impuls wichtig war, während die Vorstellung andere Akzente im Spannungsfeld von Stil- und Gedankenprovokation setzte, waren Wendts und Rudolphs

|| 728 Gleich am Anfang der Vorstellung, die ursprüngliche Tragödienstruktur verändernd, trat eine als Chorersatz gemeinte „Karnevalgesellschaft“ auf die Bühne, Witze reißend und weitere Späßchen machend (vgl. Siegfried Diehl, Frankfurter Allgemeine Zeitung 6. November 1978 sowie Gerhard Stadelmaier, Stuttgarter Zeitung 7. November 1978). Andernorts wurden Chorpassagen beibehalten, aber von einer einzigen Person gesprochen. Kritiker und Forscher halten die Regieentscheidung für ungeschickt (Flashar 1991, 250, Ennen 2007, 111f.). 729 Darunter Hyperion-Passagen, die das gestörte Verhältnis des Individuums zum Staat, die Atheismus-Frage, biographisch-politische Irritationen (Scheltrede) thematisieren – Nel zitierte damit nicht nur einen weiteren Text des Dichters, sondern auch dessen Bühnenpräsenz in der Winterreise-Inszenierung von Klaus Michael Grüber (1977).

494 | Ein Theaterjahrhundert Antigone-Inszenierungen durch eine bewusste und gelungene Arbeit an der Übersetzungsvorlage geprägt. In manchem gingen sie weniger gewagt als Nel vor, wobei sie sich sicher auch die eigene Erfahrung mit dem Ödipus zunutze machten. Wendts Inszenierung wurde generell von der Kritik eher positiv besprochen, ebenso in späteren Rückblicken. Verfehlt, die Rezeptionsgeschichte von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen gar verkennend scheint es mir allerdings, wenn man dieses Urteil ausschließlich mit der konservativeren Haltung gegenüber dem Text begründet. Das an sich selbstverständliche Argument: „Hölderlins Übersetzung lebt vor allem von der Sprache“, ist letzten Endes doppelbödig, wenn es vor allen Eingriffen in den Text bei szenischen Umsetzungen warnen und als Handlungsanweisung verstanden werden soll, die Sprechdimension nicht durch andere, ‚störende‘ akustische, gestische, visuelle usw. Aspekte zu beeinträchtigen (Ennen 2007, 113). Steht nämlich außer Zweifel, dass die sprachliche Beschaffenheit von Hölderlins Übersetzungen der Motor ihrer Rezeption darstellt, so ist daraus keineswegs eine normative Vorschrift herzuleiten, nach der die ‚richtige‘ Inszenierung die ist, die die Vorlage möglichst unangetastet lasst und in der szenischen Realisierung eine Art Wiedergabe des Textes in seiner poetischen Schönheit sieht.730 Produktive Transformationen der Übersetzung werden dadurch aprioristisch mit einer negativen Wertung herabgewürdigt, sowohl intertextuelle Bearbeitungen der Textvorlage (wie bei Brecht und Müller) als auch intermediale Umsetzungen im Sprech-, Musik- oder Tanztheater. Und doch ging in einigen dieser Transformationen nach 1945 die ‚radikale poetische Schönheit‘ keineswegs verloren, sondern wurde für die Jetztzeit reaktiviert nach einem Prozess, der den Intentionen von Hölderlins antik-modernen Theaterprojekten ähnelt. Gerade dadurch bewirkten sie die anhaltende Aktualität Hölderlins im Theater der jeweiligen Gegenwart. Daran, an der Fähigkeit, Hölderlins übersetzerische Vorlagen ‚lebendig‘ im hic et nunc der Inszenierung wirken zu lassen, sind sie also zu beurteilen. In Wendts Inszenierung, die diese Fähigkeit unbezweifelbar besitzt, bildete die profunde, an Heiner Müller geschulte Arbeit an Hölderlins Übersetzungssprache die Basis für die eigene szenische Über-Setzung in die Aktualität der Zuschauer, ohne jedoch eine vollständige Modernisierung zu betreiben, wie es hingegen in seinem Münchner Ödipus der Fall gewesen war. Das Bühnenbild von Johannes Schütz dominierten in Bremen Zementblöcke und Spiegel; der Chor wurde auf eine Person reduziert, wodurch versuchsweise eine direktere Kommunikation mit dem Publikum entstand; die Geschichte der Antigone wurde trotz ihres antikisierenden Kostüms glaubwürdig in der Gegenwart verortet. Wendts Umgang mit der Vorlage, die er in einem damaligen Interview in dem effektvollen Titel resümierte: „Hölderlins Text ist

|| 730 In Ennens Argumentation dient dies dazu, Wendts Inszenierung als diejenige herauszustellen, die Hölderlins Sprache gebührend Tribut zollt; darum wird die Welt-Besprechung zitiert, in der es hieß: „Man hört Hölderlin wirklich. Seine dunkle, seine schöne, seine radikal poetische Übersetzung wird gesprochen“ (21. Mai 1979).

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sein eigener Regisseur“,731 kann man als den Versuch bezeichnen, in der Übersetzung nach einem Halt für eine durchdachte Aktualisierung zu suchen. Niels-Peter Rudolph ließ in Berlin auch die Chorpartien von einer einzigen Darstellerin sprechen – Rotraut de Reve, die bei Nel die Antigone spielte – und betrieb stärker als Wendt eine Überführung der antiken Tragödie in die Gegenwart der Bundesrepublik mit ihrer gesellschaftlich-politischen Krise. Ausgangspunkt blieb auch für ihn allerdings die Übersetzung. Die 1973 bei Rudolphs erster Hölderlin-Inszenierung gewonnene Einsicht, „die Form dieser Sprache zwinge dazu, radikale Lösungen zu finden“, galt für die Antigone nicht weniger als für den Ödipus. Die Figur des Kreon übernahm einige Züge des hölderlinsch-müllerschen Ödipus: Thomas Holtzmann spielte in Berlin den „kalt taktierenden intellektuellen Machtpolitiker“,732 ihm gegenüber war Antigone (Hildegard Schmahl) vor allem als antiautoritäre Figur gezeichnet. Eine semantisch zentrale Rolle übernahm bei Rudolph die bewusst paradoxe Darstellung des Chors als Einzelperson; in Kritiken und Rekonstruktion oft zitiert wurde etwa der Moment, in dem die Schauspielerin „an einem Balken mit dem Kopf nach unten hängend“ das Chorlied „Ungeheuer ist viel...“ sprach.733 Nicht als Beweis, dass Rudolph, Wendt und noch mehr Nel jener antiken Form nicht geneigt bzw. gewachsen gewesen seien,734 würde ich allerdings diese bildkräftige Lösung lesen; mir scheint vielmehr die Figur in ihrer zugleich artistisch/artifiziellen und leidenden, gefährdeten Position auf Hölderlin selbst hinzuweisen, auf den radikalen Übersetzer und Interpreten der Antigone, auf den „Dichter in dürftiger Zeit“ bzw. den Dichter der „bleiernen Zeit“.735 Dadurch evozierte Rudolph nicht unähnlich wie Labarthe und Deutsch in der Straßburger Antigone-Inszenierung 1978 jene höchst politische Projektionsfigur, die bereits Weiss und Grüber durch Empedokles- und Hyperion-Transformationen auf die Bühne der 1970er Jahre gebracht hatten. Die deutschsprachigen Inszenierungen von Hölderlins Antigone-Übersetzung in den 1980er Jahren, die lediglich punktuell auf eine ähnliche Resonanz wie die zum Berliner Theatertreffen 1979 eingeladenen Stücke stießen, bilden insgesamt keine homogene Erscheinung. Fünfzehn Inszenierungen in dem Jahrzehnt zwischen 1980 und der Wiedervereinigung nutzen sie als mehr oder weniger bearbeitete Vorlage. Hinzu kommen zwei interessante Versuche, in denen Hölderlins Text nur für einige Rollen bzw. Partien benutzt und neueren Übersetzungen verfremdend gegenübergestellt

|| 731 Vgl. den Artikel von Erich Emigholtz (Bremer Nachrichten 3. März 1979). 732 Ennen (2007) 113. Bereits Günther Rühle wies in seiner (ablehnenden) Kritik auf die Kontinuität mit Bessons Ödipus, Tyrann und mit Rudolphs Ödipus-Inszenierung 1973 hin (Theater heute Mai 1979). 733 Vgl. dazu Flashar (1991) 250, das entsprechende Bühnenfoto ist dort als Nr. 28 abgebildet (s.p.). 734 „Mit dem Chor wissen sie nichts anzufangen“, so Flashar (1991) 250. 735 Hölderlin war als Person und als Dichter im Programmheft der Inszenierung Rudolphs zentraler als die Figur der Antigone selbst. Neben Gedichten und Briefen Hölderlins waren dort Bilder, die das Thema des Todes anschnitten, abgedruckt. Hölderlin wurde schließlich als Autor der Antigone des Sophokles angeführt.

496 | Ein Theaterjahrhundert wurde; darüber hinaus sei an die fünf Wiederaufnahmen von Bertolt Brechts Bearbeitung erinnert. Inszenierungen, die gänzlich andere Übersetzungen heranzogen, waren in der BRD, der DDR, Österreich und der Schweiz eher die Ausnahme; Flashars Rekonstruktion, die sich notgedrungen auf die bedeutendsten Antigone-Aufführungen konzentriert, listet davon zwei auf.736 Im Regietheater wurde Hölderlins Antigone (noch stärker als sein Ödipus) nicht nur als eine für die Gegenwart kongeniale Sophokles-Übersetzung betrachtet, sondern konnte sich als antik-modernes Werk an sich etablieren. Überdies wurde in den jeweiligen Produktionen die Reflexion über die Bühnengeschichte von Hölderlins Antigone und die Rezeption des Dichters selbst zum selbstverständlichen Teil der dramaturgischen Vorarbeit, wie die Programmhefte oft zeigen. Andrea Koschwitz’ Bestandsaufnahme anno 2010 – „Die ‚Antigone‘Übersetzung [Hölderlins; M.C.] ist einfach wirklich mit Abstand die einzige, die man spielt“ (Vöhler 2011, 117) – hätte in den 1980er Jahren nicht anders gelautet. Hölderlins Antigone betrachteten dabei die Theaterleute als eine Tragödie, die auf der Bühne der Gegenwart durchaus ihre Wirkung entfalten konnte. Dahinter steckte meist die Vorstellung, es handle sich zwar um einen sprachlich komplexen, aber gerade in seinem radikalen Experimentierwillen machbaren Versuch, der auf ästhetisches Neuland in der heutigen Auseinandersetzung mit der Antike und mit dem Kanon führen könne. Dem Stoff wie dem Dichter/Übersetzer wurde weiterhin gesellschaftlich-politische Aktualität zugeschrieben, wobei diese Relevanz im Verhältnis zum vorausgegangenen Jahrzehnt auf verschiedene Diskurse und Kontexte bezogen und dadurch zwar bunter, aber zugleich auch vager wurde, weil die Aktualisierung der antiken Figur und/oder diejenige des Dichters manchmal ausblieb. In einzelnen Fällen wurde ihr explizit entgegengearbeitet, um dabei allerdings gegen die ausdrücklich vertretene Absicht andere Formen der Aktualisierung zu betreiben, wie am Beispiel Martin Walsers im Schlussteil dieses Kapitels zu zeigen ist.

|| 736 Beim König Ödipus ist der Befund so gut wie derselbe.

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Nach den nicht sonderlich erfolgreichen Inszenierungen in Tübingen (29. Januar 1980, Zimmertheater),737 Wien (29. Februar 1980, Schauspielhaus),738 Leipzig (8. November 1980, Schauspielhaus)739 und Paderborn (4. Juli 1981, Westfälische Kammerspiele),740 setzten Mitte des Jahrzehnts einige BRD-Antigone-Aufführungen wieder verstärkt auf der Inhaltsebene politische Akzente, die mit der Arbeit an der sprachlichen Dichte und dem tragischen Rhythmus der Vorlage einhergingen. Carsten Bodinus (15. Januar 1983, Wiesbaden) brachte etwa seine bewusst um den Diskurs Widerstand/Terrorismus zentrierte Regie auf die Bühne,741 in deren Vorarbeit auch eine parawissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hölderlins Text gehörte. Dieser, „der vom reinen Lesen her zwar faszinierend schön, aber oft schwer verständlich war, wirkte auf der Bühne ganz anders. Dort wurde er plötzlich plastisch, fing an zu leben“:742 eine ‚Entdeckung‘ Hölderlins durch die Arbeit an Antigone, die gar an Brecht erinnert und überhaupt für viele Experimente der Zeit bezeichnend ist. Brecht war dann selbstverständlich zentraler Bezugspunkt von zwei wichtigen Inszenierung seiner Antigone-Bearbeitung in Castrop-Rauxel (1984, Rainer Iwersen) und in Baden-Baden (1986, Frieder Lorenz). Beide veränderten das Modell und erweiterten Brechts Hitler-Kreon Parallelisierung auf andere Diktatoren der neueren Geschichte und auf deutsche und globale politische Kämpfe der Zeit.

|| 737 Dort leitete Siegfried Bühr eine in der Gegenwart angesiedelte Inszenierung. Das junge Ensemble wird in der Lokalpresse dafür gerügt, das Wagnis, Hölderlins Version aufzuführen, eingegangen zu sein. Mitgewirkt hat dort der Dramaturg Carl Hegemann, der darüber berichtet in Vöhler (2011) 114f. 738 Regisseur war Ralf Schaefer; in den wenigen Materialien zur Inszenierung, die im Hölderlin-Archiv aufbewahrt sind, wird auf die ‚Antigone-Mode‘ in der BRD Bezug genommen. 739 Karl Georg Kayser leitete die Inszenierung, als Dramaturg zeichnete Matthias Caffier, Karl Ottomar Treibmann steuerte die Musik bei. Der Komponist gab in einem im Programmheft abgedruckten Brief vom 23. Juli 1980 an den Hölderlin-Forscher Günter Mieth der Intention Ausdruck, in der Zukunft eine Oper auf der Basis von Hölderlins Antigone-Übersetzung zu verfassen (dazu kam es m.W. nicht; 1992 vertonte Treibmann allerdings Hölderlin. Briefe und Dichtungen). Die Leipziger Antigone-Inszenierung kann man anhand der verfügbaren Quellen stärker als die DDR-Erstaufführung in Halle in die Brecht-Müller-Tradition stellen: So wurde im Programmheft die „Widersprüchlichkeit des Materials“, auf die sich Hölderlin eingelassen habe, als Anknüpfungspunkt erwähnt, der die seinige als „überzeugendste Übersetzung“ erscheinen lasse; „der Text in seiner Zerrissenheit“ biete „sehr gestisches Material für klare Figurencharakteristiken“. Eine produktive Auseinandersetzung mit dem (unerwähnten) Modell Brechts erscheint bei dieser Insistenz auf die Begriffe Gestus und Material als höchstwahrscheinlich. 740 Dazu konnte nicht mehr als Uraufführungsdatum und -Ort ermittelt werden. 741 Das Programmheft bot den gesamten Text der „Nachdichtung“ sowie mehrere essayistisch-kritische Materialien zu Hölderlin, zu Antigone und zu breiteren Kontexten. Dadurch wurden thematische Konstellationen wie Wahnsinn, Revolution, Widerstand, Terrorismus um die mythische Figur wie um den historischen Dichter herum konstruiert. 742 Über das die Inszenierung vorbereitende Volkshochschule-Seminar berichtete Barbara Burkhardt im Wiesbadener Kurier (15. Januar 1983); ihrem Artikel ist das oben angeführte Zitat entnommen.

498 | Ein Theaterjahrhundert Eine derartige Erweiterung politischer Bezüge wiederum charakterisierte auch ‚rein-hölderlinsche‘ Antigone-Inszenierungen, vornehmlich jene von Peter Palitzsch in Bonn (16. März 1985, Bühnen der Stadt), mit der eine Hauptfigur des Regietheaters wieder ins Spiel kam. Palitzsch, der als Assistent bei Brecht angefangen hatte, hatte Inszenierungen von Stücken mit Hölderlin-Bezug bereits in den 1970er Jahren initiiert, sowohl als Regisseur als auch als Intendant.743 1985 widmete er nun seine späte allererste Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie dem gewagten Versuch, durch eine eigene Textbearbeitung und die Musik Bruno Liberdas an die Arbeiten von Nel, Wendt und Rudolph anzuknüpfen im Zeichen einer düsteren Aktualisierung von Antigones Todesgang. Palitzsch selber nannte die eigene „Inszenierung der Antigone [...] nicht gut. Man kann das nicht mit einem Mal erfassen. Ich muß mich weiter damit beschäftigen“ (Gronius/Kässens 1990, 110), wozu es m.W. nie kam. Die Kritik fand fast nur die Behandlung der hölderlinschen Vorlage gelungen.744 Die in diesem künstlerisch gewagten Versuch zu erkennende Rückbindung an frühere Politisierungsformen kennzeichnete punktuell auch andere Antigone-Inszenierungen der Zeit.745 Zu ihrer politischen Aktualität in der deutschen Gegenwart kam Antigone, gerade in der brechtschen Bearbeitung, plötzlich und unerwartet, in manchem von der Pro-

|| 743 Nach seiner bereits erwähnten Uraufführung von Peter Weiss’ Hölderlin (1971) sei an die unter seiner Obhut an den Städtischen Bühnen Frankfurt realisierten Antigone- (Nel) und Ödipus-Inszenierung (Neuenfels) erinnert. 744 Aufführungsort war eine ehemalige Fabrik. Bereits Ulrich Schreiber hob den Zusammenhang mit den Inszenierungen des ‚Antigone-Jahrs‘ hervor (Frankfurter Rundschau 21. März 1985); die schlichte, bedrückende Bühnenatmosphäre – im Mittelpunkt braune Erde mit einem dunklen Loch, rund herum ein Holzgehege mit Aufschriften in Altgriechisch – und die Verwendung von Todesmotiven, mit dem letzten Akt im Hades spielend, erinnern vor allem an Rudolphs Arbeit. Gelungen war die Inszenierung nach einhelliger Meinung nicht. Palitzsch strich in seiner Fassung viel, etwa die ganze Figur des Tiresias, dazu vgl. Flashar (1991) 283. 745 Neben einigen der oben erörterten sei hier auch die im Februar 1985 in Hannover als Diplomarbeit der dortigen Hochschule für Musik und Theater aufgeführte Antigone hingewiesen; dem Programmheft ist eine gewissenhafte Recherche über Hölderlin, seine Interpreten und produktive Rezipienten im progressiven bzw. linken Milieu zu entnehmen; möglich, aber nicht sicher ist, dass die Inszenierung daraus eine politische Lektüre herleitete – Erfolg konnte sie kaum erlangen. Gleichzeitig lief im Berner Atelier-Theater eine zweite Antigone, die auf der von Annette und Paul Bäcker besorgten Bearbeitung von Hölderlins Übersetzung beruhte; die beiden führten auch Regie, die wenigen Rezensionen nahmen an der Einfügung witziger Stücke in die Tragödienhandlung Anstoß, von politischer Zuspitzung ist nicht die Rede. Schließlich sei auf die Hallesche Antigone-Inszenierung hingewiesen, die am 28. Juni 1986 unter der Leitung des in der DDR berühmten Regisseurs Alexander Stillmark debütierte. Die Aufmachung des Programmheftes, mit vielen Quellen und kritischen Materialien und Verweisen auf die jüngste produktive Rezeption, lässt an eine politisch nicht naive Inszenierung denken. Mehr konnte nicht ermittelt werden, auch nicht, ob die Inszenierung zu den „acht [...] Wende-Antigone-Inszenierungen“ der letzten Jahre der DDR zählte, in denen gegen die Erstarrung des sozialistischen Systems Antigone als „Vertreterin des Anspruches auf individuelle Freiheit und der Verweigerung von staatlicher Autorität“ dargestellt wurde (Flashar 1991, 297).

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duktion selbst ungewollt und in einer ganz neuen Konstellation erst Ende des Jahrzehnts wieder. Hellmut Flashar hat in einem bezeichnenderweise „Antigone im Sozialismus“ betitelten Kapitel seiner umfassenden Monographie die Konstellation nicht ohne Sarkasmus geschildert (1991, 295–298). Fritz Bennewitz, als Regisseur in Weimar und mit verschiedenen Gastinszenierungen auch im Ausland tätig, wurde 1989 im schweizerischen Chur mit einer Antigone beauftragt, die ausdrücklich die brechtsche Uraufführung im Graubündner Städtchen in Erinnerung rufen sollte; in Bennewitz’ Ensemble waren neben Hans Gaugler, der 1948 als Kreon aufgetreten war und nun den Boten spielte, jüngere Schauspieler aus dem beiden deutschen Republiken – die Rolle der Antigone wurde etwa mit Carmen Maja-Antoni besetzt – und aus der Schweiz. Mehr als die erfolgreiche Premiere am 13. April 1989 erwiesen sich die beiden Gastspiele im Deutschen Theater Berlin, die am 9. und 10. Oktober 1989 stattfanden, als brisant. Die politische Lage, mit der offensichtlichen Krise des SED-Regimes (Demonstrationen im Land, Flüchtlingsströme über Umwege in die BRD) und dem nichtsdestotrotz mit großem Pomp gefeierten 40. Jahrestag der DDR, machte aus der Antigone-Inszenierung ein Politikum: „Ein hochsensibles Publikum“, schildert Flashar die Stimmung im Saal, belohnte „mit lautstarkem Beifall“ die Passagen, in denen Antigone oder Teiresias den antidemokratischen König für die krisenhafte Situation im Lande zur Verantwortung ziehen; begleitet wurde dementsprechend „de[r] Auftritt des Kreons mit unüberhörbaren Buhrufen“ (1991, 297). Nicht die „tragische Paradoxie“ allerdings, die Flashar hier zu erkennen meint – Brechts antifaschistische Bearbeitung sei gegen die Autorenintention zu einer antisozialistischen Aussage geworden746 –, wird hier m.E. ersichtlich, sondern die anhaltende Aktualität der Operation Brechts. Seine auf Hölderlin beruhende, stark eingreifende Bearbeitung des mythischen Stoffs hatte weniger als die politischen Lektüren der 1970er Antigone zur Widerstandsfigur erhoben, als vielmehr Kreons Machenschaften und Interessen sowie faschistoide Methoden hinter der offiziellen Propaganda entlarvt: Daran konnte man auch 1989 in Ost-Berlin tatsächlich unschwer anknüpfen.747 Eine ausdrückliche Distanzierung von politischen Aktualisierungen der Antigone-Figur mit Bezug auf die (bundesdeutsche) Gegenwart kennzeichnete manche BRD-Inszenierungen der mittleren und späten 1980er Jahre, dem nun abschließend nachgegangen werden soll. Die Nuancierungen waren unterschiedlich. Henning

|| 746 „Gerade die Version Brechts war es, die nun Anlaß gab, in Kreon den Betonkopf des Herrschers im realen Sozialismus zu sehen, während er ja bei Brecht Inkarnation nicht nur des Faschismus, sondern auch des Kapitalismus ist. Nun aber muß Antigone die individuellen Menschenrechte gegen den Sozialismus einklagen“ (Flashar 1991, 297). 747 Flashar zitiert die Worte des Schauspielers Felix Beschen, der damals im Chor auftrat: „Wir [...] begannen während der letzten Proben in den Räumen des Deutschen Theaters endlich zu spüren, daß wir brisante und hochaktuelle Texte sprechen“ (1991, 296, aus Bündner Zeitung 13. Oktober 1989). Dies bekräftigt aber gerade meine These, dass die ganze Textkonstellation der Bearbeitung Aktualität erlangte und nicht lediglich die antike Vorlage.

500 | Ein Theaterjahrhundert Rühle und Wilfried Schütz zum Beispiel, deren Bühnenfassung am 30. Mai 1985 im Theater der Stadt Heidelberg in der Regie Rühles ihre Premiere erlebte, ließen in ihrem ausgiebigen Programmheft, wo antike, goethezeitliche und zeitgenössische (Tragödien-)Diskurse berücksichtigt waren, auch die Ablehnung jedweder Annäherung der antiken Figur an Terroristinnen der Gegenwart abdrucken, wobei sie andere Formen der Aktualisierung allerdings nicht ausschlossen. Die Kritik begrüßte vor allem diese political correctness, die Zurechtstutzung des Tragödientextes – die beiden Dramaturgen hätten Schadewaldts Text eingefügt, wo ihnen Hölderlin zu dunkel war – wurde kaum berücksichtigt. Kein Wunder, dass weniger experimentierfreudige, zwischen bildungsbürgerlicher Antike- bzw. Dichter-Hommage und harmloser Mythenbeschwörung angesiedelte Inszenierungen ebenso politisch enthaltsam waren. Dazu gehören die Münchner Antigone von Gerd Udo Feller (August 1985, Theater der Veröffentlichung),748 die Karlsruher Einstudierung von Walter D. Asmus (15. Juni 1986, Badisches Staatstheater), die einem Ödipus folgte,749 und selbst die Freiburger Inszenierung von Lore Stefanek (23. April 1988), die zumindest durch kreative Überlagerungen der Sophoklesund Hölderlin-Kontexte die Antike und die Antike-Rezeption nebeneinanderstellte.750 Flashar zählt diese Freiburger Antigone zu den „ruhigen, am Text orientierten Aufführungen, die in den letzten Jahren doch wieder häufiger werden, auch auf den kleineren Bühnen, die sich dem antiken Drama in redlicher Arbeit zuwenden, auch wenn diese nicht immer durch Schlagzeilen begleitet wird“ (1991, 284). Ähnliches gelte für die Antigone-Inszenierung von Peter Mussbach, die 1988 am Bochumer Schauspielhaus präsentiert und von der Kritik keineswegs übersehen wurde. Der vor allem als Opern-Regisseur bekannte Mussbach hatte die Dramaturgie zusammen mit der später als Hölderlin-Forscherin und Theaterwissenschaftlerin tätigen Theresia Birkenhauer erstellt. Interessant erscheint für vorliegende Arbeit diese Bochumer Inszenierung, die „eindrucksvollste deutsche Antigone der letzten Jahre [...], ruhig und

|| 748 Wolfgang Höbel kritisierte an der sonst wenig dokumentierten Inszenierung den „musealen Charakter“, der aus der allzu starren und schnellen Deklamation resultierte (Süddeutsche Zeitung 17. August 1985). 749 Die Antigone wie auch der sechs Monate davor gespielte Ödipus wurden in der Strichfassung des Dramaturgen Mangel gespielt. Das Programmheft der Antigone-Inszenierung zeigt großes Interesse an der Textfrage – vier Übersetzungen/Bearbeitungen werden probeweise verglichen – und an der eher traditionellen Forschung (abgedruckt sind Studien von Schadewaldt und von Meta Corssen). 750 Dorothee Hammerstein berichtete in ihrer Besprechung (Badische Zeitung 25. April 1988), dass in der Dramaturgie Helmut Postels und in der Regie Stefaneks „Hölderlin [...] der Angelpunkt der Inszenierung“ war: die Antikenrezeption seiner Zeit wurde durch die „Griechenlandenthusiasten“ inszeniert, die auf die Bühne traten, die Rolle des Chors übernahmen und dadurch die Handlung wie aus der Perspektive von Hölderlins Gegenwart kommentierten. Ihre Wirkung hat diese originelle Lösung laut damaligen Reaktionen nicht verfehlt, das Konzept der Inszenierung, nicht so sehr den antiken Mythos als vielmehr Hölderlins Mythos-Lektüre darzubieten, kam dadurch klar zum Vorschein.

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nachdenklich ohne modische Aktualisierungen“,751 vor allem mit Blick auf die brillante dramaturgische Entscheidung, Hölderlins Text wie einen sprachlich-szenischen Effekt einzuarbeiten. Denn Mussbach und Birkenhauer benutzten Schadewaldts Übersetzung, ‚hölderlinsch‘ sprach bei ihnen nur Teiresias. „Der greise Seher erscheint so über die Welt der anderen in sakraler Feierlichkeit erhöht“, interpretiert Flashar diese Regieentscheidung (1991, 283), indem er die sprachliche Realisation von Hölderlins Duktus früherer Rezeptionsepochen evoziert. Sie sei demnach ein Zitat aus früheren Inszenierungen antiker-hölderlinscher Tragödien, etwa à la Sellner, der den Greis von den anderen als eine Figur aus einer religiös-metaphysischen Welt absonderte. Das ist eine mögliche Interpretation; ihr können auch andere gegenübergestellt werden, vor allem, wenn man bedenkt, dass 1988 Hölderlins Sprache auf der Bühne nicht mehr oder zumindest nicht nur die Wirkung der feierlichen Überhöhung hatte, die Flashar mit Rückbezug auf die in den 1920–50er Jahren vorherrschende Aufführungstradition vermutet. Dass gerade Teiresias mit Hölderlins Worten spricht, kann man etwa nicht mit dem hohen Alter oder der religiösen Rolle der Figur selbst verbinden, sondern eher mit der dramaturgischen Funktion, die Hölderlin seinem Auftritt beimaß, indem er die Reden des Sehers sowohl im Ödipus als auch in der Antigone als Zäsuren der Tragödie betrachtete.752 Dementsprechend kann die Entscheidung von Mussbach und Birkenhauer als Versuch gedeutet werden, mit dem plötzlichen Ertönen einer anderen Sprache im Mund des Sehers besagte Zäsur dramaturgisch und szenisch hervorzuheben, indem gleichzeitig Hölderlin als Interpret heraufbeschworen wird, der eine solche Tragödienlektüre geliefert hat. Wie ein abgewandelter brechtscher Verfremdungseffekt bewirkt der plötzliche Wandel des Duktus ein szenisches Innehalten der Tragödie. Eine weitere semantische Dimension eröffnete die Montage der hölderlinschen Versen in die Übersetzung Schadewaldts, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass dadurch eine Identifikation der fiktionalen Figur Teiresias mit der historischen Person Hölderlin nahegelegt oder zumindest eine Annäherung der beiden suggeriert wurde. Die Verknüpfung konnte vor dem Hintergrund des die 1970–80er Jahre prägenden Hölderlin-Bildes über Assoziationsangebote erfolgen wie etwa die Parallelisierung des blinden Sehers mit dem visionären Dichter, der mehr bzw. weiter sieht als die ihn umgebenden Personen, oder die Mythisierungen desjenigen, dessen Wahrheiten zunächst ungehört verhallten. Wie man sieht, knüpfte die Bochumer Inszenierung Peter Mussbachs deutlich an Formen der Antigone- und Hölderlin-Rezeption im Regietheater der Nachkriegszeit || 751 Flashar (1991) 283f. „Diese Inszenierung“, begründet Flashar dort seine Vorliebe, „folgt keinem ideologischen Konzept, sie will vielmehr die Fülle der Bedeutungsnuancen offenhalten“. 752 „In beiden Stüken machen die Cäsur die Reden des Tiresias aus. Er tritt ein in den Gang des Schiksaals, als Aufseher über die Naturmacht, die tragisch, den Menschen seiner Lebenssphäre, dem Mittelpunkte seines innern Lebens in eine andere Welt entrükt und in die exzentrische Sphäre der Todten reißt“ (Ödipus-Anmerkungen; StA 6, 197).

502 | Ein Theaterjahrhundert an, m.E. viel mehr als an die ‚sakral-feierliche‘ Tradition michelscher-sellnerschen Prägung. Der dramaturgischen Entscheidung von Mußbach und Birkenhauer typologisch auf den ersten Blick ähnlich ist die Behandlung der hölderlinschen Vorlage bei Ralf Milde, dessen Antigone-Inszenierung bereits am 26. September 1987 im Berner Stadttheater mit dem Bühnenbild von Frank Hess und der Bühnenmusik von Markus Plattner debütierte. Diese Antigone wurde zusammen mit Racines Phèdre und Becketts Les beaux jours/Happy Days zu einer „Trilogie des weiblichen Widerstandes“ zusammengefasst, alle Stücke hatten hintereinander am selben Abend Premiere. Milde inszenierte die eigene Übertragung der Antigone des Sophokles, verwendete allerdings auch Chorstellen aus Hölderlins Übersetzung; darüber hinaus wurden Passagen aus dem Hyperion-Roman eingearbeitet. Anders als bei Mußbach und Birkenhauer schien sich Milde in seiner weniger dokumentierten, weniger erfolgreichen Inszenierung von den Hölderlin-Einsprengseln und dem durch sie entstehende Kontrast mit den sprachlich andersartigen Passagen allerdings keine dramaturgische oder interpretatorische Funktion zu versprechen. Diese Hölderlin-Zitate dienten eher der oberflächlichen Dekoration mit dem in der zeitgenössischen Diskussion so präsenten Antigone-Übersetzer und Interpreten, ohne dass eine eingehende Auseinandersetzung als notwendig betrachtet worden wäre. Die anspruchsvolle Arbeit mit der ganzen hölderlinschen Vorlage, der eine Neuübersetzung vorgezogen wurde, wurde wohl vermieden, um sich auf den erwähnten inhaltlichen Schwerpunkt des ‚weiblichen Widerstands‘ zu konzentrieren. Ein ähnliches Umgehen der sprachlichen Schwierigkeiten des Originals zugunsten einer allgemeinen Hölderlin-Atmosphäre ohne allzu große Probleme für Schauspieler und Zuschauer kennzeichnete die letzte hier zu besprechende Antigone-Inszenierung, die am 20. Juni 1989 im Rahmen der 39. Bad Hersfelder Festspiele auf die Bühne ging. Gespielt wurde da die sogenannte ‚Bad Hersfelder Fassung‘ von Martin Walsers Bearbeitung der Hölderlin-Übersetzung, die der berühmte Schriftsteller (und Hölderlin-Kenner753) zusammen mit seinem Schwiegersohn Edgar Selge verfasste; ab-

|| 753 Hölderlin zu entsprechen redete der bei Beißner über Kafka promovierte Walser bereits am 21. März 1970 im Württembergischen Staatstheater Stuttgart auf Einladung der Hölderlin-Gesellschaft. Die Gedenkrede anlässlich des 200. Geburtstags Hölderlins war Walsers Doktorvater gewidmet. Sie erschien eine Woche später in Die Zeit. Im selben Jahr wurde sie um Anmerkungen erweitert als Buch veröffentlicht; sie zählt zu den wichtigen Äußerungen rund um die damals zwischen BRD und DDR brisante Frage von Hölderlins Aktualität. Ulrich Gaier kontrastiert sie mit Peter Weiss’ Hölderlin-Stück und bemerkt, dass sie „ungleich differenzierter argumentiert“ (2002, 486); die an sich schon fragwürdige Gegenüberstellung eines fiktionalen Dramas mit essayistischen Überlegungen zur Ermittlung ihrer Differenziertheit verschweigt obendrein, wie viel Weiss und Walser bei ihrem Rückbezug auf Hölderlin als Orientierungspunkt in der Gegenwart einte. Walser war ein wichtiger Berater Weiss’ bei der Fertigstellung seines Stücks, in Gesprächen und im Briefwechsel, wie dieser in seinen Notizbüchern aufzeichnete. In den eigenen Aufzeichnungen äußert Walser seinerseits Gedanken, die präzise die damalige Hölderlin-Konjunktur beschreiben: „Jeder möchte ihn haben, jeder ihm am nächsten

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gedruckt wurde sie im Programmheft zusammen mit einem Aufsatz Wolfgang Schadewaldts.754 In der von beiden Bearbeitern mitgestalteten Inszenierung spielte Franziska Walser, Tochter Walsers und Ehefrau Selges, die Hauptrolle. Die auf sprachliche Vereinfachung zielende Bearbeitung – Rezensenten und später Forscher sahen darin eine Glättung, Einebnung oder gar Zerstörung der poetischen Kraft des Originals755 – entstand auch aus einer von Walser laut verkündeten Ablehnung jedweder Aktualisierung: „Wir müssen Sophokles nicht mit unseren Motiven impfen, um ihn für uns brauchbar zu machen. Wir müssen auch Hölderlin nicht aktuell aufladen, um ihn zum Zeitgenossen zu machen“ (Walser 1989, 11). Die eigene

|| sein. […] Und jeder macht aus Hölderlin doch, was er will bzw. was er muß. Hölderlin ist ein öffentlicher Besitz. […] Mit freundlicher Genehmigung Hölderlins reden wir alle über Hölderlin. Er einigt links und rechts nicht in ihren Argumenten, sondern in der Begeisterung. [...] Hölderlin dient also dem Ausdruck unserer eigenen Erfahrung. Er hat alles so unübertrefflich gesagt“. 1996 wurde Walser der Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg vor der Höhe zugesprochen; die bei der Gelegenheit gehaltene Rede, Ein Asyl von Anfang an, erschien ein Jahr darauf zusammen mit derjenigen von 1970 unter dem Gesamttitel Umgang mit Hölderlin. 754 Nicht zuletzt dank des Erscheinens in der Taschenbuchreihe eines großen Verlags wie Insel fand Walsers und Selges Bearbeitung trotz des mäßigen Erfolgs der Uraufführung bemerkenswerte Verbreitung. Im Theater des wiedervereinigten Deutschlands, wie hier antizipiert werden darf, wurde sie bald neu inszeniert. Zuerst im Reutlinger Theater in der Tonne (11. Oktober 1990, Regie von Eva Teilmanns), dann im Magdeburger Theater am Jerichower Platz (26. März 1994, Regie von Henning Rühle; der Dramaturg Winfried Marquardt straffte dabei den Text weiter) und schließlich im Halberstädter Nordharzer Städtebundtheater (22. September 2001, Regie von Malte Kreuzfeldt, Dramaturgie von Peter Oppermann und Sven Gesse). In dieser Inszenierung, die durch die Besetzung der Antigone- und Ismene-Rollen mit männlichen Schauspielern auffällt, konnte die Produktion die eigene Arbeit in letzter Minute als eine „Antigone, nach dem 11. September 2001“ bezeichnen. Erfolgreicher waren spätere Wiederaufnahmen von Walser und Selges Antigone an größeren Häusern und im Rahmen anspruchsvollerer Projekte. Dem „thebanischen Zyklus“ MANIA THEBAIA des Düsseldorfer Schauspielhauses gehörte auch die Antigone-Inszenierung von Anna Badora, für die Rita Thiele die Dramaturgie besorgte. Auch hier wurde eine Verbindung zum New Yorker Attentat hergestellt und zum neu entfachten Terrorismusdiskurs: „Wie wäre es“, fragte die Regisseurin in einem Interview, „wenn Polyneikes ein Selbstmord-Attentäter wäre?“ (Die deutsche Bühne 2002). Zusammen mit zwei weiteren Wiederaufnahmen der 2000er Jahre – am 26. April 2008 wieder in Düsseldorf die niederländischedeutsche Doppelinszenierung Antigone vs. Antigone, für die Dariusch Yazdkhasti die deutsche Version leitete, im August desselben Jahres im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater, wo Albert Lang Regie führte – bezeugt Badoras um die Themenkonstellationen Wanderschaft und Vertreibung zentrierte Antigone ganz deutlich, wie sehr sich Walsers und Selges Bearbeitung für weitere Aktualisierung eignete, auch gegen die Beteuerungen der Bearbeiter. 755 Nur in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung las man von „Respekt und Bewunderung für die Vorlage“ (signiert von hd, 22. Juni 1989); unter den eindeutigeren Kritiken sei auf Britta Steiner-Rinneberg verwiesen (Frankfurter Rundschau 26. Juni 1989); die Reaktionen der Presse waren insgesamt und nicht nur mit Bezug auf die Frage der Textvorlage negativ. Flashar stellt seinerseits offen fest, dass durch die Bearbeitung von Walser und Selge „Rhythmus und poetische Kraft der Verse eingeebnet, ja teilweise zerstört werden“ (1991, 252).

504 | Ein Theaterjahrhundert Arbeit am Text grenzte Walser in dem der Buchedition vorausgeschickten Essay Antigone oder die Unvernunft des Gewissens, aus dem hier zitiert wurde,756 von Brechts Bearbeitung dementsprechend energisch ab. Walser erschien die vierzig Jahre zurückliegende Antigone des Augsburgers als ein Versuch, die griechische Tragödie in eine marxistische Gesellschafts- und Geschichtsauffassung hinüberzuretten; die Darstellung Kreons als Führerfigur und der Antigone als Widerstandsfigur [sic!] lehnte er ab; die psychologischen Dimensionen, die bei den Griechen vorhanden gewesen seien, hätte ein von der Theorie und der Ideologie geblendeter Dramatiker zugunsten vorgefasster moralischer Gewissensfragen geopfert. Brechts recht differenziertere Sicht auf die hier erwähnten Sachverhalte war Walser vermutlich unbekannt bzw. nicht wichtig.757 Walser hat sich allerdings bei seiner Bearbeitung – darauf legt er in seinen Ausführungen den Schwerpunkt – lediglich von der Absicht leiten lassen, „in der rücksichtslos lyrischen Ausdrucksweise Hölderlins, in seiner traumwandlerisch freien Sprachgebärde ein wenig den dramatischen Anlaß zu betonen“, ihm ging es um die „Bemühung, Hölderlins hohe Töne für den Antigonezweck dienlich zu machen“ (Walser 1989, 12). Wie der darauffolgende zusammenfassende Satz knapp besagt – „Das Lyrische soll dem Dramatischen dienen, ohne dadurch zugrunde zu gehen“ –, steckt hinter den geblümten Lobesworten für Hölderlins Sprache eine Diagnose, die letzten Endes dem alteingesessenen kritischen Urteil über den schönen lyrischen, auf der Bühne jedoch unwirksamen Stil von Hölderlins Theatertexten gleichkommt. Das erhabene Lesedrama soll großmütig für die Gegenwart bühnengeeignet gemacht werden. Auch im Ästhetischen ist ein Vergleich mit Brecht – den Walser hier nicht anstellt – lehrreich. Beide verhehlten ihre Vorliebe für den Sprachmeister nicht; Walser ist jedoch beredter und pathetischer als sein Vorgänger, wenn er sagt, „Hölderlins

|| 756 Der Text ging aus der Rede hervor, die Walser bei der Eröffnung der 39. Bad Hersfelder Festspiele hielt, dementsprechend hat er programmatische Wirkung auf die Antigone-Inszenierung, indem er als Äußerung seitens der Produktion auf den Rezeptionshorizont des Publikums zielt. 757 Vgl. vor allem Walser (1989) 10f. Bei Walser gleitet die Argumentation von der Inanspruchnahme individueller Gewissensfreiheit gegenüber „der gesellschaftlichen oder religiösen oder staatlichen Bestimmung“ – Antigone bringe heute noch in diesem Sinne eine „Gegenstimme“, jene „innere Stimme“, die bereits die Griechen „gegen die Übermacht der öffentlichen Stimme“ geltend gemacht hätten – in eine ganz unerwartete Richtung, wenn „vor diesem Antigonehorizont unsere neuesten Geschichtsstreite“ erwogen werden. Walser fragt sich, ob „der Umgang mit unserer Schuld reglementierbar, vorschreibbar“ sei und drückt sein Missfallen darüber aus, dass „das öffentliche Bekennen unserer Schuld [...] inzwischen zu einem Wettbewerb geführt“ habe, „in dem weniger von der Schuld die Rede ist als davon, daß immer einer einen anderen kritisiert, weil der unsere Schuld nicht richtig zum Ausdruck gebracht hat“ (13). In dieser Vorwegnahme von Gedanken der berüchtigten Frankfurter Rede über die ‚Auschwitz-Keule‘ (1998) ging Walser wohlgemerkt genau denselben Weg der Aktualisierung, den er bei anderen scharf kritisiert hatte, denn er las nach seiner Façon die mythische Vorlage – der Kern der Antigone-Tragödie als „Achtung vor der persönlichen Stimme“ (ebd.) – und parallelisierte sie mit Fragen, die in seiner Gegenwart zur Diskussion standen.

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Ton“ sei „der innigschönste, der in der deutschen Sprache bisher erreicht wurde“, und aus einem Vergleich mit allen (!) weiteren Übersetzungen den Schluss zieht, „daß Hölderlin für die Mädchenfrau und Gewissensvirtuosin eine Zärtlichkeitsschwingung erdichtete, die auch bei Sophokles so innig nicht erklingt“ (11). Der zuerst skeptische Brecht, dem „Inniges“ kaum etwas bedeutete, wurde von der gestischperformativen Stärke von Hölderlins Übersetzungssprache im Laufe der Arbeit derart überzeugt, dass er sich für eine von Zitat, Imitation und Variation geprägte Bearbeitungsweise entschied, die das Original als brauchbares und lehrreiches Material für gegenwärtige Theaterarbeit benutzte. Hölderlins Antigone war ihm kein durch Streichungen, Glättungen und Vereinfachungen bekömmlicher zu machender harter Brocken, sondern ein durch gezielte Eingriffe in ihrer Wirksamkeit zu potenzierendes fremdes großes Bühnensprachwerk. Aktualisierungsangebote, die unbezweifelbar auf der Handlungsebene eingearbeitet wurden, waren bei Brecht durch diese beibehaltene harte Fügung wie durch szenische Historisierungsgesten verfremdet. Walser hingegen zog aus der Begeisterung für die Schönheit der Sprache bei anhaltenden Zweifeln über ihre Wirksamkeit auf der Bühne das Fazit, dass Hölderlins Antigone dem Publikum von 1989 stark angenähert werden musste. Dies zeigt der Text seiner und Selges Bearbeitung. Die „traumwandlerisch freie Sprachgebärde“ wurde reglementiert, einige Übersetzungsfehler oder zu radikale Umwandlungen wurden entfernt. Der Tragödientext wurde massiv gestrichen und in 14 meist sehr knappe Bilder eingeteilt, vor allem die Chorlieder wurden verstümmelt; „hohe Töne“ teilweise gesenkt; ob dies dem „Antigonezweck“ dienlich gewesen ist, was immer auch das bedeutet, sei dahingestellt; die Pressereaktionen scheinen allerdings auf das Gegenteil hinzuweisen. Ein der Tragödie vorangestellter Prolog in Versen wetteifert mit dem Anfangsteil von Walsers Vorwort in der Banalisierung des mythischen Geschehens.758 Das Dramatische litt darunter noch mehr als das Lyrische. Insgesamt fragt man sich, wozu man Hölderlins Übersetzung als Vorlage nahm, um dann kurz nach den fast unveränderten Anfangszeilen der Antigone („Gemeinsamschwesterlisches! O Ismenes Haupt / Weiß du etwas...“) Ismene so sprechen zu lassen: „[...] Kann ich / mich überhaupt einmischen, so oder so?“ – und dies ist nur eines der vielen Beispiele.759

|| 758 Vgl. Walser/Selge (1989) 19–21 (Der Bote erzählt die Vorgeschichte bis zum Tod von Eteokles und Polyneikes). 759 Walser/Selge (1989) 22f. Vgl. Hölderlin: „Soll ich es lassen oder doch zu Grab gehn?“ (StA 6, 205f.). Vgl. Flashar (1991) 376, Anm. 50 für weitere Beispiele.

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Abb. 13: Antigone (Bad Hersfeld 1989). Regie: E. Selge; Bearb.: E. Selge/M. Walser. F. Walser als Antigone

Neben diesen stilistischen Bedenken hinsichtlich der Bearbeitung vermag Walsers und Selges Operation – sowohl als Text als auch als Inszenierung – vor allem darin nicht zu überzeugen, dass sie in der konkreten literarischen wie szenischen Ausarbeitung in Widerspruch zu den eigenen Beteuerungen gerät. Von der vehementen Ablehnung jeder politischen Aussagekraft der Antigone-Geschichte auszugehen – „nach Aktualisierung ist mir da nicht zumute“, schrieb Walser im Vorwort (11) –, um dann genau umgekehrt vorzugehen und die Sprache in den Alltag zu ziehen, den Mythos inhaltlich auf die Gegenwart zu beziehen, ist zumindest inkonsequent. Denn wenige Seiten später wurden im selben Vorwort „Kreon und Tiresias [als] der Staat und die Medien“ ausgegeben, die „auf uns ein[reden], immer im Namen der Vernunft“ (14), weiter unten erschien Antigone auf ähnliche Art und Weise als Figur der „Empfindlichkeit des Gewissens“ aus der Perspektive der Gegenwart. Die Bearbeitung vollzog eine Annäherung an eine oft platte Alltäglichkeit der Konversation und an eine ebenso triviale Vereinfachung der mythischen Konstellation und der tragischen Konstruktion, welche die im Vorwort herbeigeredete Abflachung unterstützte. Das ganze wird dann in der Inszenierung weitergetrieben,760 indem die Banalität des Alltags

|| 760 Die Regiearbeit trug offiziell nur die Unterschrift von Selge, der bis dahin als Schauspieler tätig gewesen war (Ennen 2007, 114); die Grundtendenzen der Inszenierung – Modernisierung und Psychologisierung – stimmten mit Walsers Einstellung überein; die gesamte Arbeit ist als eine Kollaboration aufzufassen. Ennens Rede vom „Schwerpunkt [der Regiearbeit] auf der sprachlichen Poesie

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durch heutige Ausstattung und Kostüme und entsprechende Spielweise zur Darstellung gebracht wurde. Fast alle Rezensionen erwähnten diesbezüglich Franziska Walser-Selges rotes Minikleid als Flagge moderner Biederkeit. Keiner will dem jeweiligen Bearbeiter bzw. Regisseur das Recht absprechen, derartige Überführungen in die Aktualität zu versuchen; ganz im Gegenteil. Das Theater lebt vom Experimentieren mit neuen textuellen und szenischen Lösungen. Von einem derartigen Mut zur produktiven Auseinandersetzung mit Hölderlin und seinen Theatertexten hatte es in den in diesem Kapitel erörterten 1970–80er Jahren viel gegeben; im Vergleich mit bereits erörterten avantgardistischen und/oder politischen Inszenierungen verblassen Walsers und Selges Aktualisierungen vor lauter Biederkeit. Noch irritierender wirkt aber demgegenüber die Widersprüchlichkeit ihrer Antigone gerade deswegen, weil solch eine Aktualisierung hinter vorgehaltener Hand erfolgte: Hinter der ausdrücklichen Beteuerung, keine vorzunehmen. Hier war nicht künstlerische Unzulänglichkeit das Problem, oder dass aus Gründen mangelnder Wirksamkeit bzw. Kommunikation mit dem Publikum o.ä. die Inszenierung die von der Produktion intendierte Lektüre nicht zu vermitteln vermochte. Hier wurde vielmehr die eigene durchaus aktualisierende und bei einem Stoff wie Antigone unumgänglich politische Interpretation als unpolitisch ausgegeben, um auf Distanz von Hölderlin angeblich ungebührend verzerrenden Bearbeitungen bzw. Inszenierung früherer Autoren und Regisseuren zu gehen, womit Brecht761 und nicht erwähnte jüngere Antigone-Bearbeiter und Regisseure im deutschen Theater gemeint waren. Mit andern Worten agierte hier der Dünkel eines Bearbeiters, der die eigene (eigentlich stark eingreifende) Operation als eine sich mit der ‚wahren‘ Intention des Dichters vollauf deckende Interpretation verstand. Nur die anderen aktualisieren, hier herrschte die Überzeugung vor, Hölderlin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Möglich ist solch eine Fehleinschätzung, die mit früheren in dieser Rekonstruktion erwähnten Beispielen der Selbst-Ernennung zum treuen Glaubensstreiter in einem religiös anmutenden Kampf um die ‚richtige‘ Hölderlin-Lesart zu vergleichen wäre, durch die Verwechslung des eigenen ästhetischen, philosophischen und politischen Horizonts mit einem neutra-

|| Hölderlins, die – zwecks einer praktikablen Spielvorlage – vereinfacht wurde, um die ‚dunklen, unklaren Stellen zu beseitigen‘“, verfängt sich im selben Widerspruch, der der Produktion zugrunde lag; vgl. auch: „Walser ging es primär um die ‚Empfindlichkeit des Gewissens‘, die sich aus der poetischen Sprache Hölderlins in einem neugefassten Text artikulieren sollte, wenngleich ihm an einer Aktualisierung Hölderlins im Sinne Brechts nicht gelegen sei. Vielmehr hatte er als Bearbeiter den Ehrgeiz, unauffällig zu sein“ (ebd.). 761 Die plakative Distanzierung von Brecht rührte wohl auch daher, dass dessen Antigone-Bearbeitung zwei Monate vor der Inszenierung der Fassung Walsers und Selges in Chur wiederaufgenommen worden war (13. April 1989); an den parallel dazu organisierten Brecht-Wochen nahm auch Walser zusammen mit den Brecht-Spezialisten Werner Hecht und Hans Mayer teil. Die Bad Hersfelder Produktion scheint also eine Differenzierungsstrategie verfolgt zu haben.

508 | Ein Theaterjahrhundert len bzw. mittigen Standpunkt, demgegenüber andere Positionen als verzerrende Extremismen verworfen werden. So wurde bei Walser/Selge augenfällig die eigene, durchaus aktualisierende Lektüre der Antigone-Geschichte als Parabel deutscher sozialpsychologischer Befindlichkeiten in der bürgerlichen westlichen Mediengesellschaft Ende der 1980er Jahre als apolitische Reflexion über allgemeinverbindliche ewige Fragen verkauft. Damit war dies ein verspätetes Beispiel der für die ersten Nachkriegsjahrzehnte typischen Antike- und Hölderlinrezeption im Zeichen humanistischen Bildungsgutes und im Rahmen einer grundsätzlich konservativ eingestellten Kultur, gegen die der junge gesellschaftskritische Walser in den 1950–60er Jahren mehr als heftig zu Felde gezogen war. Einmal abgesehen von der internen Widersprüchlichkeit von Walsers und Selges Bad Hersfelder Antigone, zeigen diese und andere beachtenswerte Hölderlin-Inszenierungen und -Transformationen um die Wendejahren herum – etwa Heymes Düsseldorfer Empedokles, Heiner Müllers Ostberliner Lohndrücker oder die Churer-Ostberliner Reprise von Brechts Antigone wie auch andere in diesem Kapitel erläuterte Aufführungen –, dass der Dichter, seine Texte und seine Übersetzungen im deutschsprachigen Theater vor allem als Schlüsselfigur für eine Reflexion über ästhetischpolitische Befindlichkeit des Intellektuellen, der Kunst, der Kultur und der Nation(en) rezipiert und transformiert wurde, was seine wachsende internationale Wirkung und seine intermediale Präsenz in weiteren künstlerischen performativen Formen bestätigen. Diese in den 1970er–80er Jahren auf den Spuren früherer Entwürfe massiv betriebene Integration Hölderlins mit seiner Krisenbiographie und seinem fragmentarisch-offenen Werk in eine künstlerisch, existentiell und politisch problematische Gegenwart, kulminierte in Elfriede Jelineks experimentellem Theatertext Wolken.Heim., dem im letzten Kapitel dieser Sektion 3.2 nachzugehen ist.

3.2.6 Postdramatische Fuge. Elfriede Jelineks Wolken.Heim. (1988) Als am 21. September 1988 ihr neues Stück Wolken.Heim. im Schauspiel Bonn von Hans Hoffer uraufgeführt wurde, war Elfriede Jelinek mit fast 42 Jahren eine bereits etablierte Theaterautorin; sie genoss auch als Erzählerin seit einigen Jahren Achtung und Erfolg im Feuilleton und bei Lesern und Leserinnen. Bereits ihre frühen lyrischen und Prosa-Texte waren durch die experimentellen sprachkritischen Tendenzen der Wiener Gruppe und gleichzeitig durch eine über die österreichische Literaturgrenzen hinausweisende „hemmungslose Mischung“ aus Elementen der hohen und der populären, der engagierten wie der Medien- und Trivialkultur geprägt. Es waren jedoch eher ihre Romane und Dramen, die seit Mitte der 1970er Jahre jenen Versuchen entwuchsen waren, die eine wachsende Bekanntschaft über Dichterkollegen und Leute des Fachs hinaus begründeten. Erstmals fand der Roman Die Liebhaberinnen (1975) eine breite Leserschaft und rückte in den Mittelpunkt mitunter heftig geführter Debatten im Spannungsfeld von Genderfragen, Marxismus und Diskurskritik; es folgten

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1983 mit Die Klavierspielerin, 1989 mit Lust noch erfolgreichere Prosawerke, die durch ihre Rezeption vor allem das „Bild von der provozierenden und tabubrechenden radikalen Feministin“ verbreiteten. „Seit den frühen 1980er Jahren“, resümiert die hier zitierte Ulrike Haß mit Blick insbesondere auf Die Klavierspielerin, ist Jelinek „zu einem ‚Medienereignis‘ gemacht worden. Zahllose Gespräche, Interviews, gepaart mit Elfriede-Jelinek-Bildern und Zitaten, Porträts, fotografisch oder filmisch, traten neben das Werk“. Was selbstverständlich in einem Spannungsverhältnis zu dem medienkritischen Blick der Autorin stand und was diese meisterhaft handzuhaben wusste und weiß.762 Seit dem post-Ibsen-Stück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, oder Stützen der Gesellschaften (1979) und durch die darauffolgenden Theatertexte Clara S. Musikalische Tragödie (1982), Burgtheater (1985) und Krankheit oder Moderne Frauen (1987) konnte sich Jelineks Dramatik in sowohl thematischer als auch stilistischer Kontinuität mit ihrer Prosa auf der deutschsprachigen und rasch auch auf der internationalen Bühne durchsetzen. Montage unterschiedlicher Sprachebenen und -Verhalten, unkonventionelle Figurencharakterisierung, Absage an einer ‚naiven‘ Darstellungsästhetik, hochreflexive Behandlung von sprachlichem und körperlichem Ausdruck dienen in ihrem Theater wie in ihrer Prosa der Entlarvung der „gängigen kulturellen Stereotypen, Ideologien, Mythen und Images des Weiblichen und der Frau“, wie Marlies Janz es bereits 1989 festhielt. Ein Anliegen dieser Theatertexte sind „satirische Mythendestruktionen“, die im Grunde politisch sind weil „stets bezogen auf ihre materialistischen Gesellschaftsanalysen“, und „sich als aufklärerische Ideologiekritik“ verstehen – so dieselbe versierte Jelinek-Forscherin in ihrer für die erste Werkphase noch gültige Gesamtdarstellung von 1995. Wolken.Heim. kann vor diesem Hintergrund als eine extreme Radikalisierung besagter sprach- und ideologiekritischer Arbeit, die nun hauptsächlich der deutschen Philosophie und dem deutschen Nationalismus gilt, betrachtet werden. Aufgrund einiger makrostruktureller Elemente stellt das Stück gleichzeitig einen Wendepunkt in Jelineks Schaffen und im deutschsprachigen Panorama überhaupt dar und ist ein herausragendes Beispiel post- bzw. nicht mehr dramatischer Theaterliteratur.763 In

|| 762 Haß (2006) s.p. Einführend zu Jelinek vgl. darüber hinaus Janz (1995) und Lücke (2008); ein Jelinek-Handbuch liegt seit 2013, ein bibliographisches Referenzwerk zu Oeuvre und Rezeption seit 2014 vor, beides von Pia Janke herausgegeben. Speziell zum Theater siehe Pflüger (1996), Caduff (2000), Annuß (2005). 763 Bekanntlich setzte sich mit Lehmann (1999) der Begriff des ‚postdramatischen Theaters‘ zur Beschreibung von inszenierungsästhetischen Tendenzen seit den 1970er Jahren durch, nachdem Andrzej Wirth ihn als erster eingeführt hatte. Auch mittels Übersetzungen in mehrere Sprachen breitete sich der Begriff international aus, um szenische bzw. im breiten Sinne performative Darbietungen, Installationen usw. zu bezeichnen, die sich von dem Vorrang des Literarischen bzw. Dramatischen absetzen und insbesondere die Zentralität der Handlung als Repräsentation von Lebenswelt aufgeben. Lehmann selbst verweist auch auf postdramatische Theatertexte, insb. des mittleren und

510 | Ein Theaterjahrhundert der Theaterpraxis, in der Forschung und selbst in der Didaktik gilt das Stück als ‚Klassiker‘ dieser Tendenz, und zwar lange vor der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Jelinek (2004).764 In explizitem Anschluss an Heiner Müller, insbesondere an dessen Bildbeschreibung,765 sagte Jelinek Ende 1987 in einem Statement, lediglich „prosaähnliche Texte“ seien nunmehr für die Bühne denkbar (Jelinek 1988, 88). Die damit intendierte Absage an das „dialogisch[e] Modell neuzeitlicher Dramatik“766 findet im während desselben Jahres entstandenen Wolken.Heim. formvollendeten Ausdruck, mit allen damit einhergehenden Korollarien. Die Montage zitiert enigmatisch im Titel einen antiken Bühnentext767 und besteht aus teilweise deformierten und neuzusammengefügten Zitaten aus literarischen (Kleist, Hölderlin), philosophischen (Fichte,

|| späten Heiner Müller, also auf Vorlagen, die ebenso Handlung, Personen, Reden und sonstige traditionell ‚dramatische‘ Elemente zugunsten von montagehaften Text- bzw. Sprachblöcken oder -Flächen aufgeben. Postdramatisches Theater ist allerdings keineswegs auf Postdramatik angewiesen. Speziell für den literarischen Bereich sei auf Poschmann (1997) und auf ihre Definition „nicht mehr dramatischer Theatertext“ verwiesen (zu Jelinek 194–211 und 273–288) sowie auf Jaeger (2007), wo der nunmehr auch in der Literaturwissenschaft gängige Begriff postdramatisch auf Jelinek und Müllers Werk angewandt wird. Für eine auf den neusten Stand der Forschung gebrachte Diskussion mit Blick auf die deutschsprachige Postdramatik vgl. Klessinger (2015), zu Jelinek 215–234. 764 Damit erklärt sich etwa der Abdruck von Wolken.Heim. in der Universalbibliothek bei Reclam (2000, mit einem Nachwort von Evelyn Polt-Heinzl); auch die relativ schnelle Karriere des Stücks zum Thema akademischer Abschlussarbeiten spricht für eine frühe Inthronisierung zum Klassiker der Postmoderne. Der Erstdruck von Wolken.Heim. erfolgte im Programmheft der Uraufführung (1988; hier der vollständige Inszenierungstitel: Wolken.Heim. Eine Invention zu Heinrich von Kleist. Raumprojekt von Hans Hoffer mit einem Text von Elfriede Jelinek). Nach der ersten Buchausgabe bei Steidl (1990) kam 1993 ebendort eine zweite heraus, die durch eine „typographisch[e] Inszenierung“ und der beigefügten CD mit dem Vortrag der Schauspielerin Barbara Nüsse 1993 den Text in seiner Öffnung zum Performativen bot. Eine aus der akustischen Darbietung entwickelte Computerinstallation Jelineks zeigt dies ebenfalls (Trigger your text – Wolken. Heim., 1993). In diesem Kapitel wird der Text aus der Sammelausgabe in Jelinek (1997) 135–158 mit einfacher Seitenangabe zitiert. Daten zu all diesen Editionen bietet Janke (2014) I, 111f. an. 765 Heiner Müllers Bildbeschreibung (1984) wurde 1985 in Sinn und Form, anschließend in Theater heute veröffentlicht. Laut Villan (2007) 16 hat Jelinek bereits 1986 mit Begierde oder Fahrerlaubnis (Eine Pornographie) einen Theatertext vorgelegt, der auf Handlung und sonstige dramatischen Elemente verzichtet; eine Wende hin zum Postdramatischen sei dementsprechend bereits dort auszumachen. 766 So im Wolken.Heim.-Lemma vom Jelinek-Handbuch (Annuß 2013, 147–150, hier 147). 767 Der Titel weist auf Aristophanes’ Komödie Die Vögel hin, in deren drittem Akt die in Federvieh verwandelten Protagonisten Peithetairos und Euelpides eine in der Luft gegründete Stadt Nephelokokkygia, deutsch Wolkenkuckucksheim taufen. Im Deutschen wie in anderen Sprachen hat das Appellativ die Bedeutung von „Fantasiewelt von völliger Realitätsferne, in die sich jmd. eingesponnen hat“, übernommen (DUDEN 20035). Jelinek hat den Verweis auf die Vögel durch einen Punkt ersetzt; ein zweiter Punkt am Ende scheint auf einen vierten Bestandteil hinzuweisen; vgl. Stanitzek (1991), Janz (1995) 126 und Klein (2004) 64 für Erwägungen dazu. Naheliegend ist die Verbindung zur Philosophie als realitätsferne Spekulation, auch weil im Stück verschiedene Texte deutscher Philosophen

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Hegel, Heidegger) und weiteren historischen Quellen sowie aus Kassibern der gefangenen RAF-Terroristen, wie auch in einem Nachsatz erwähnt wird;768 davon stammen lediglich einige Kleist-Zitate aus szenischen Texten, ihnen wird allerdings das dramatische Gepräge genommen.769 Das Stimmengewirr wird durch Jelineks Eingriffe zu einer Art monologischen Redens oder besser: zum deutschtümelnden Raunen eines unbestimmten „Wir“-Subjekts. In ständiger Wiederholung und Variation vermischt die Stimme die Zitate, teilweise eignet sie sie sich an. Durch Sätze wie: „Wir sind zuhaus“, „Jetzt sind wir zuhaus“; „Wir sind bei uns zuhaus“, „Wir sind hier zuhaus“ oder ähnliche Wendungen, die grundlegende semantische Oppositionen zwischen ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘, zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ aufbauen, verknüpft die wiederkehrende Stimme die Zitate wie in einer Tonschleife. Bis auf diese „eine Gemeinschaft der Deutschen“ beschwörende „anonyme Rede“ (Annuß 2013, 147) verzichtet Wolken.Heim. auf die Grundelemente dramatischer Texte: keine Personen, nicht einmal die bereits antikonventionellen Figuren ihrer früheren Dramen, nicht einmal als „Zombies [...] oder als Vertreter einer Ideologie oder als Typenträger oder als Bedeutungsträger“, die Jelinek in einem Gespräch von 1985 gegen die „runde[n] Menschen mit Freud und Leid“ noch aufmarschieren ließ („vorbei, ein für allemal“, 1987, 41). Keine Handlung bzw. Darstellung; keine Raumoder Zeitstruktur; keine Personen; keine Szenen-, Akte- oder Bilderenteilung, da keine Auftritte oder Abtritte vorkommen; keine Unterscheidung zwischen einem Haupt- und einem Nebentext und somit weder explizite Figurenrede noch explizite Regieanweisungen. Als einzige graphische Anordnung wird der Text durch Leerzei-

|| montiert werden. Jelineks Werk-Intertextualität kann dies bestätigen und präzisieren, wenn man bedenkt, dass im darauffolgenden Theatertext Totenauberg (1991) der Figur der Hannah Arendt die Worte zugeschrieben sind: „vielleicht hat [Plato] gewußt, daß der Wohnsitz des Denkers von außen gesehen leicht dem aristophanischen Wolkenkuckucksheim gleicht“ (vgl. Geier 2006, s.p.). Arendts Gegenspieler im Stück Heidegger, dessen Texte in Wolken.Heim. zentral zum Sinn der Montage beitragen, wäre also nicht nur Adressat von Arendts Bemerkung in Totenauberg, sondern auch von Jelineks Anspielung im Titel des vorigen Stücks. 768 „Die verwendeten Texte sind unter anderem von: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973–1977“ (158). Deutlicher wird die Quellenlage, wenn man auch den „Dank an Leonhard Schmeiser (‚Das Gedächtnis des Bodens‘) und Daniel Eckert“ berücksichtigt, der vor dem Stücktext abgedruckt ist (136). In Schmeisers Essay hat Jelinek mehrere Zitate dieser und anderer Autoren gefunden, die in ihre Montage eingeflossen sind (Herder, Körner, Arnim, Görres, Rückert, Kluge). Von Eckert hat Jelinek Literaturhinweise bekommen, evtl. auch seine Wiener Dissertation zur Sprachphilosophie angelesen (dazu vgl. Kaplan 2006, 8f.). 769 Laut Kaplan (2006) 25–32 wird aus vier Dramen Kleists zitiert: Die Familie Schroffenstein, Penthesilea, Die Hermannsschlacht, Prinz Friedrich von Homburg, sowie aus der Erzählung Das Erdbeben in Chili. Bei Klessinger (2015) 215–234 werden als weitere Quellen Paul Celan und Walter Benjamin erwähnt.

512 | Ein Theaterjahrhundert len in Blöcke eingeteilt. Wolken.Heim. besteht aus Sprache (langue, wie Reitani bemerkt hat770) und bietet sich als solche einer Inszenierung an. Die von Jelinek und der Jelinek-Forschung als „Textfläche“, anderswo „Sprachfläche“ bezeichneten Bestandteile (Haß 2013) ihrer ‚nicht mehr dramatischen‘ Bühnenvorlagen sind dann häufig als Sprechen in chorischer Form realisiert worden, der grundlegenden Wir-Struktur des Textes entsprechend. Nichts verbietet allerdings, sie szenisch anders zu gestalten, z.B. indem man ihre intertextuelle Dichte wiederauflöst und auf verschiedene Stimmen verteilt – und somit den Text ‚rückdramatisiert‘ –, oder Sprechen mit (Vor)Lesen aus Quellen, off-Sprechen, Aufzeichnungen, Textprojektionen, Denkvorgängen usw. alterniert. Das Stück ist in seiner offenen Disposition einem postdramatischen Theater wie auf den Leib geschrieben; fast wäre man geneigt zu sagen: So ein Theatertext lässt eine postdramatische Inszenierung erst möglich werden.771 Jelinek selbst hat zur wandelnden Inszenierungspraxis von Wolken.Heim. durch Äußerungen, Nachspiele, Weiterarbeit am Text maßgeblich beigetragen; dabei hat sie keineswegs die im Stück absichtlich fehlenden Anweisungen oder überhaupt klärende Aussagen nachgeliefert (Annuß 2013, 147), geschweige denn eine Verbindlichkeit bezüglich des Inszenierungsmodus angestrebt, sondern im Gegenteil die Offenheit des Stücks potenziert und mit neuen Kontexten in Verbindung gebracht.772 Die Konzeption des Stücks für die Bonner Uraufführung war von einer bereits performativen, insbesondere akustischen Vorstellung geprägt, der Jelinek in einem oft zitierten Interview Ausdruck gab; ihre Aussagen geben Hinweise auf Entstehungskontext, textuelle Strategien und, wie für diese Überlegungen zentral ist, die Funktion des Hölderlin-Materials im Text. „Wolken.Heim. ist ein deutscher Gesang für eine Norne“, charakterisierte Jelinek dort die akustisch-musikalische Dimension ihres Stücks und dessen thematische Insistenz auf nationale Mythen und Schicksale. „Ich habe es so konzipiert, dass eine alte Frau eine lange Leichenbinde strickt und in jeder Vorstel-

|| 770 Die von Janz (1995) 123 ausgemachte Romanpoetik Jelineks, in der „die Sprache selbst“ zu Wort kommt, entspricht der postdramatischen Strategie ihrer Theatertexte: „a esibirsi è il linguaggio, o meglio la langue nel senso di Saussure“ (Reitani 2005, 9). Vgl. auch die sich stark auf dekonstruktivistische Ansätze berufende Analyse bei Lücke (2008). Dabei muss allerdings hervorgehoben werden, dass in Wolken.Heim. die unbezweifelbare Absage an Figurenrede keineswegs dazu führt, dass die Redner nicht mehr erkennbar wären: Das ‚Wir‘-Subjekt ist zwar nicht genau definiert aber ideologisch und historisch klar zu verorten. Eine Verabsolutierung des Sprachlichen jenseits aller Zuschreibung würde der politischen Prägnanz von Jelinek Sprach- und Diskurskritik den Boden entziehen. 771 Eine Aufführungsliste findet sich bei Janke (2014) I, 112f. 772 So verfasste Jelinek für die österreichische Erstaufführung (Wien 1993, Regie von Michael Wallner) einen Nachtrag, An den, den’s angeht, der die Nationalismus-Frage als auch für ihre ‚Heimat‘ geltend machte; zu weiteren Inszenierungen in Österreich vgl. die Perspektive aus der Produktionsebene bei Brenner (2008). Für die Inszenierung von Claus Peymann am Berliner Ensemble von 2005 erarbeitete Jelinek einen Epilog, Und dann nach Hause, wo Streiks im Bochumer Opel-Werk thematisiert wurden. Dazu vgl. Castellari (2008c) 23–28.

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lung weiterstrickt, bis sie 100m lang ist. Dazu wird der Text aus einem kleinen Volksempfänger gesendet, wie von einer Maschine gesprochen“ (Roeder 1989, 32). Nicht nur „die Trennung der Rede von der szenischen Figur“, die ja der Text selbst vorgibt, wird hier betont, oder „das Moment der Soundinstallation“ (Annuß 2013, 147), sondern auch der doppelt fiktive Charakter der Zitatenmontage bzw. der vielfachen Intertextualität. Diese erweist sich als Konstruktion aus Quellen, die bereits transformiert worden sind. Der Deutschland-Diskurs von Wolken.Heim. lässt das „hypertrophe Nationalgefühl“ an seinen „Wurzeln“ erscheinen.773 Anhand essayistisch-philosophischer Zitate werden die Implikationen dieser Texte sichtbar gemacht, zudem wird die (entstellende) Rezeption der literarischen Vorlagen, besonders durch spätere Philosophen, gezeigt, wie an Hölderlin deutlich gemacht werden kann. Jelineks Anteil daran ist ihre Arbeit mit dem „Material“, das sie „im Hinblick auf eine politische Aussage“ geordnet habe.774 Indem sie den rezeptionsgeschichtlich belasteten Gestus des Zitierens, Variierens und Montierens wiederholt, entlarvt sie ihn zugleich. Die literarischen Zitate sind, wie Evelyne Polt-Heinzl als erste eindringlich gezeigt hat, „nicht primär der Gegenstand, sondern das Medium der Kritik“ (2001, 47). Montage als Zeigen also, was nahelegt, dass Jelineks Strategien ihre Wurzeln im epischen Theater Brechts haben.775 Die Auftragsarbeit entstand aus einem Anlass, dem bereits Aspekte dieser historisch, kulturell und politisch gefärbten Reflexion Jelineks innewohnten. Der Zyklus „Wir Deutschen“ des Bonner Schauspiels, für den Wolken.Heim. 1987 verfasst wurde, war Teil der Veranstaltungen zu Kleists 110. Geburtstags. Als Eine Invention zu Heinrich von Kleist hat Jelinek entsprechend das Stück ursprünglich untertitelt (Annuß 2013, 147), die Angabe wurde dann m.W. in allen Buchausgaben und auch in Inszenierungen fallengelassen. Tatsächlich ist der intertextuelle Bezug zu Kleist letzten Endes sekundär gegenüber der entscheidenden Rolle, die „einige wuchtige Deutsche“ und (auf recht andere Weise) „das mächtige Metronom“ Hölderlin in der Polyphonie des Textes spielen, um die Worte der Autorin respektive zu den Philosophen einerseits und zum Dichter andererseits aufzugreifen.776 In den Zusammenhang mit

|| 773 So im Interview zur oben erwähnten österreichischen Erstaufführung des Stücks (Seegers 1993). 774 Das Interview (1995) ist publiziert in Kaplan (2006) 8, die ihrerseits aus anonymen Materialien des Jelinek-Forschungszentrums zitiert; vgl. unten für eine Kontextualisierung der Aussage. 775 Reitani (2005) beschreibt die progressive Entfernung Jelineks von Brechts Ästhetik, indem er Aussagen der Autorin zu frühen Dramen und ihre Brecht-Nähe mit späteren Entwicklungen vergleicht, die auf bei Brecht noch geltende stilistische und strukturelle Formen des Dramas verzichten. Darin ist selbstverständlich keine Absage an alle Bezüge zu Brecht zu sehen. Vgl. dazu auch Jelineks Brecht-Essays aus dem Jubiläum-Jahr 1998, heute auf ihrer Homepage abrufbar. 776 Vgl. Vogl (1990). Was die ‚wuchtigen Deutschen‘ angeht, werden in Wolken.Heim. neben dem noch zu erörternden Heidegger Fichte (Reden an die Deutsche Nation) und Hegel (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte) mit aus dem Kontext gerissenen Zitaten in die Rede des ‚Wir‘-Subjekts eingearbeitet.

514 | Ein Theaterjahrhundert dem Jahr 1987 gehört die Einfügung von Auszügen aus RAF-Briefen in den Text, denn das Jahr fiel mit dem zehnten Todestag der Terroristen in Stammheim zusammen.777 Weit über den Bonner Kontext hinaus weisen die beiden zentralen Fragen von Wolken.Heim., die neben der ‚postdramatischen‘ Machart die damaligen Reaktionen von Publikum und Kritik sowie anschließend die weitere Resonanz im Theater und das Interesse der Forschung prägten: Der Deutschland-Diskurs und der HölderlinDiskurs oder, wie es Stanitzek geglückt mit Blick auf die musikalische Struktur des Stücks ausdrückt: die „Hölderlin-“ und die „Wir daheim-Schleife“.778 Beinahe als prophetischer Vorgriff auf die um 1989/90 erneute brisante Frage der deutschen Identität und gar eines wiedererlangten (pseudo)nationalen ‚Wir‘-Gefühls wurde Jelineks Montage von Wohlgesinnten gelesen. Dies wurde u.a. durch die Buchausgabe bei Steidl, 1990 und dann wieder 1993, sowie durch die gegenüber der Uraufführung erfolgreichere Hamburger Inszenierung Jossi Wielers begünstigt, die zum Theatertreffen in die neue Bundeshauptstadt Berlin eingeladen wurde (1993, 1994).779 Wolken.Heim. kam trotz seiner Verwurzelung in den späten 1980er Jahren als befremdliches-verfremdendes Post-Wende-Stück zur Geltung. Von Anfang an gesellte sich parallel zum Lob auf Jelinek auch (scharfe) Kritik.780 Auch die massive Verwendung von abgewandelten Zitaten aus Hölderlins Lyrik in der Komposition von Wolken.Heim. wurde beanstandet. Die luzideren Kritiker und Forscher haben allerdings erkannt, dass Jelinek damit nicht den Dichter selbst, sondern die Hölderlin-Begeisterung als Teil nationaler bis chauvinistischer Diskurse denunzierte. Genauer: Sie zeigte gerade in ihrer produktiven Aneignung, wie leicht anhand gezielter Verdrehungen und Neukontextualisierung das lyrische Sprechen in den Dienst einer anderen Aussage gestellt werden kann. Dadurch ist die Hölderlin-

|| 777 Wie Kaplan (2006) 16 darlegt, werden im Schlussteil von Wolken.Heim. Briefe von Holger Meins, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Helmuth Pohl eingefügt. Die Forschung hat dies zwar registriert, aber kaum eingehend erörtert; tatsächlich erscheinen die wenigen Zitate sekundär. Jelinek gab in einem Interview andeutungsweise den Grund an, warum auch der Terrorismus-Diskurs in ihre Arbeit einfloss: „Diese beispiellose Hysterie, mit der im Deutschen Herbst die Jagd auf die Terroristen veranstaltet wurde, wurde ja nicht annähernd an den Tag gelegt, wenn es darum ging, die Nazi-Verbrecher dingfest zu machen“ (Tiedemann 1994, 37). 778 Stanitzek (1991) 17. Andere haben Wolken.Heim. als eintönigen Text gelesen, vgl. Janz (1995) 123: „Ein gleichsam monolithischer Text, der durch keine erzählerische Intervention und durch keinen dialogischen Widerspruch gebrochen ist“. Hinter dem monologischen Sprechen der Wir-Stimme kann man aber eine durch das intertextuelle Montageverfahren bedingte Polyphonie erkennen. Vgl. dazu Pflüger (1996), die ihre Untersuchung auf den Begriff der Dialogizität (Bachtin) gründet, sowie Reitani (2005) und seine einprägsame Definition des „teatro delle voci“. 779 „Eine der schönsten Inszenierungen des Schauspielhaus Hamburg“ (Michaelis zu Wieler, zitiert in Haß 2006, s.p.). 780 Vgl. Polt-Heinzl (2001) zu den Reaktionen um 1989/90. Zu Jelinek und Österreich vgl. Janke (2002).

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Transformation in Wolken.Heim. gleichsam eine kritische Reflexion über die Rezeption des Dichters. Einprägsam geschieht dies etwa durch die Nebeneinanderstellung mit Passagen aus Heideggers Rektoratsrede und durch die Parodie auf den HölderlinDeutungsmodus Heideggers, der einzelne Passagen aus ihrem literarischen Kontext herausriss und in seine andersgeartete philosophische Rede überführte; dabei wird neben dem Philosophen die ganze Schar von Interpreten an den Pranger gestellt, die Hölderlin oder überhaupt Dichtung auf eine pseudo-heideggersche Weise lesen. Die Hölderlin-Heidegger-Konstellation wurde als Zentrum von Wolken.Heim. betrachtet; im darauffolgenden Theatertext Totenauberg (1992), der wieder durch collagehaft eingesprengte Zitate/Variationen aus Hölderlin und geistesgeschichtlichen Größen gekennzeichnet ist, tritt Heidegger als Figur auf und wird szenisch mit Faschismus und Antisemitismus verstrickt. Andrea Geier, die Wolken.Heim zusammen mit Totenauberg als „Doppelprojekt Heidegger“ bezeichnet, kommt nach einer Durchsicht der in Wolken.Heim. zitierten Gedichte Hölderlins auf das Ergebnis, dass „vielfach auf dieselben Gedichte zurück[gegriffen wird], die auch Heidegger interpretiert“;781 auch die das ganze Stück strukturierende Wir-Rede ist beim Hölderlin erläuternden Heidegger vorgegeben.782 Fazit ist: „Die Antwort auf die Frage, warum die Hölderlin-Gedichte in ‚Wolken.Heim.‘ so dominant sind, lautet also: Heidegger. Das Stück führt eine gewaltsame Lektüre der Hölderlin-Gedichte vor, stellt dieses Verfahren im Text selbst aus und knüpft dabei an Heideggers entstellende Lektüren von Hölderlins Gedichten an“ (Geier 2006, s.p.). Nicht nur diese spezifische Rezeptionsepisode reflektiert m.E. Jelinek in Wolken.Heim. mit. Selbst die Entscheidung für einen Theatertext legt nahe, dass nicht nur die philosophische Deutungsweise Heideggers, die sie offensichtlich als Entstellung betrachtete, sondern auch weitere und insbesondere performative Formen der Transformation Hölderlins für die Hör-, Sprech- und Musikbühne in ihrer Operation mitgedacht waren. Zwar arbeitete die Autorin nicht mit Hölderlins Theatertexten, sondern ausschließlich mit dessen Lyrik; gerade dies macht allerdings aus Wolken.Heim. das repräsentativste Beispiel einer im Nachkriegstheater zunächst punktuellen, dann seit der so genannten Postmoderne verbreiteten Tendenz, über den Tod des Empedokles und die Sophokles-Übersetzungen hinaus das ganze Oeuvre des Dichters als geeignete Vorlage für Theatertexte, Inszenierungen, Vertonungen, Darbietungen, Performance, Verfilmung usw. zu betrachten. Diese Entwicklung betrifft selbstverständlich auf allgemeiner Ebene das Text-Inszenierung-Verhältnis und kann erst im Rahmen der übergreifenden Emanzipation des Theaters vom Drama begriffen werden, die das || 781 Vgl. zur Heidegger-Folie bereits Pflüger (1996) 136–253, dann zu den einzelnen Gedichten Kaplan (2006). 782 Vgl. Geier (2006) s.p.: „Darüber hinaus spricht Heidegger, Hölderlin zitierend, von einem Kollektiv der Dichter – ‚wir Dichter‘ –, und imaginiert dabei mehrere Einzelne, Künftige, denen Hölderlin als erster vor-spreche. Vor diesem Hintergrund hat auch der ‚Wir‘-Diskurs in ‚Wolken.Heim.‘ ein Vorbild in den Heidegger’schen Lektüren“.

516 | Ein Theaterjahrhundert traditionelle, letzten Endes auch in dieser Arbeit vorausgesetzte Interpretationsverfahren from page to stage in Frage stellt (Transformationanalyse, vgl. Balme 1999ff. 82–95). Jelineks Arbeit an Hölderlin kann uns helfen, diese Entwicklung im spezifischen Bereich der dramatischen Aneignung und der Bühnenrezeption Hölderlins aufzuspüren sowie ihr Wurzeln in früheren noch-dramatischen Rezeptionen. Jelinek selbst verortet das eigene Gesamtwerk und das ihr zugrundeliegende Zitat- und Montageverfahren in der „Postmoderne“, so in einem Interview von 1994, seit der „so etwas wie Originalität [...] nicht mehr möglich“ sei. Angesichts des „gigantische[n] Samplers an Geschriebenem“, das zur Verfügung steht, greife sie „immer wieder auf Montage zurück und auf Zitate“. Diese „ständige Beschäftigung mit schon Geschriebenem“, die Jelinek mit der sprachkritischen Tradition der Wiener Gruppe verbindet (Tiedemann 1994, 37), legte sie bereits 1990 der Arbeit an Wolken.Heim. zugrunde, also auch an Hölderlin. In einem Interview mit Luigi Reitani verknüpfte sie ihren Aneignungsmodus durch Zitat, Variation und Montage von Texten anderer mit dem unwiederbringlichen Verlust der Möglichkeit, originell zu sein, denn alles sei schon gesagt worden (60).783 Dort und dann wieder 1995 schilderte Jelinek dabei genauer, wie und wozu Variation und Montage der Zitate in Wolken.Heim. durchgeführt werden. Bezeichnenderweise wird dort die Arbeit nicht so beschrieben, dass sie die Zitate in den Text „nicht einfließen“ lasse und „wie Flügelaltäre aus[stelle]“: Bei der Beschreibung der eigenen Arbeit in Wolken.Heim. ist nicht von einer statischen, an eine malerische Nebeneinanderstellung von Bildern erinnernden Zitate-Ausstellung die Rede, sondern von einem eher mit dramatischen und musikalischen Kompositionsprinzipien vergleichbaren Verfahren. „Die Zitate“ seien nicht einfach exponiert, sondern „verfremdet und [...] auf eine Aussage hin zugespitzt worden. Es gibt ja kaum ein Zitat, das im Wortlaut von mir verwendet worden wäre“. Variation und Montage führen zu einer Verflechtung der abgewandelten Quellen, zu einem regelrechten Zitate-Strom: „Ich wollte das Material amalgieren. Insofern ist es ein postmodernes Stück, weil ich das Material zu einem ganz neuen Textkörper werden lassen wollte, der dann wieder ein neues ewiges Leben hat“.784 Hier wird eine Strategie intertextueller Transformation beschrieben, die mutatis mutandis mit Brechts, noch stärker mit Müllers Bearbeitungsmodus zu vergleichen ist; nicht nur lexikalische Spuren wie „verfremden“ und „Material“ belegen diese Rückbindung.785

|| 783 So die von Reitani ins Italienische übersetzten Aussagen Jelineks: „Sono intervenuta nelle citazioni in un modo molto netto, trasformandole in un nuovo linguaggio che senza essere il mio non è più quello originale. Ho fatto miei questi testi, servendomene. In questo senso non c’è originalità – tutto è stato già detto da tempo“ (Reitani 1991). 784 Zitiert bei Kaplan (2006) 4. 785 Neulich hat Klessinger (2015) 225–27 die Verbindung aufgezeigt: „Diese stilistische Verfremdung“, d.h. die Behandlung der Hölderlin-Zitate in Wolken.Heim., „erinnert an Brechts Antigonemodell 1948, das sich ebenfalls des hohen Tons aus Hölderlins Übersetzung bediente“. Den epischen

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Bei Jelinek führt diese Strategie, wie auch beim sich von Brecht emanzipierenden mittleren und späten Müller, zu ‚postdramatischen‘ Ergebnissen, die von Brechts Theater mit seinem Figuren-, Reden- und Handlungsgerüst entfernt sind; Jelineks Bild vom ein Eigenleben führenden Textkörper deutet auch daraufhin. Wie überhaupt in Brechts epischer Dramatik Tendenzen zur Loslösung vom Darstellungsparadigma auszumachen sind, deren Radikalisierung zur Antriebskraft für Entwicklungen neuer ästhetischen Positionen wurde – Brecht gehört somit ausdrücklich zu den „Väter[n] der Postdramatik“ –,786 so lässt sich auch mit speziellem Blick auf die intertextuelle Arbeitsweise von Wolken.Heim. eine Tradition erkennen, die auf Brechts Modell zurückgeht. Auch der Zweck dieses Bearbeitungsmodus schließlich, die Zuspitzung der Zitate „auf eine Aussage hin“, von der Jelinek sprach, ist mit der Tradition von Brechts politischem Lehrtheater zu verbinden. „Das Verfahren“, legt die Autorin ihre Arbeit am nationalistischen Diskurs in Wolken.Heim. dar, „ist einem sehr leidenschaftlichen, engagierten politischen Ziel untergeordnet und hat auch eine aufklärerische Intention“. Diesen „sehr starken aufklärerisch-didaktischen Impetus“ finde gerade beim Montageverfahren ihren Ausdruck darin, dass „das Material nicht unverbindlich nebeneinander“ gestellt, sondern „im Hinblick auf eine politische Aussage“ geordnet ist (Kaplan 2006, 8). Jelineks Wolken.Heim. ist durch diese Weiterentwicklung von formalen und inhaltlichen Aspekten des episch-didaktischen Theaters Brechts in neue ästhetische und politische Praktiken, die Tendenzen des kritischen DDR- und BRD-Theaters nach Brecht (Müller, Weiss u.a.) radikalisieren, von großer literatur- und theatergeschichtlichen Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist auch die das Stück strukturierende Hölderlin-Intertextualität anders als nur im Dienste des „Doppelprojekts Heidegger“ zu lesen; auch mit Blick auf den Bearbeitungsmodus der Texte des schwäbischen Dichters spielt die produktive Fortschreibung dieser Tradition eine Rolle. Neben dem wichtigen und sicher intendierten kritischen Blick auf die philosophische und politische Hölderlin-Rezeption sind andere Aspekte in Betracht zu ziehen, die Wol-

|| Gestus von „Brechts und Müllers Kommentartheater“ sieht Klessinger bei Jelinek „virtuos fortgeschrieben“. 786 Vgl. dazu neulich und überzeugend Klessinger (2015) 37–60, hier 37. These ihrer Arbeit ist, dass das so genannte Postdrama bei Peter Handke, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz als Transformation des epischen Theaters zu lesen sei. Bereits in ihrer Durchsicht vom Stand der Forschung zur Postdramatik betont Klessinger, wie die für neue Tendenzen typischen Merkmale „Performativität“ und „Metatheatralität“ in vielerlei Hinsicht auf Brecht zurückgehen und insbesondere dessen „Material“-Begriff insofern erweitern, dass jeder Text zur Grundlage theatertextuellen Schreibens und postdramatischen Inszenierens werden kann. Die Reflexion über diesen Materialstatus verbinde ebenfalls die postdramatischen Autoren mit dem Erfinder des epischen Theaters (7). Hier ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, wie sie sich in dieser Arbeit gezeigt hat, die die Herangehensweise an Hölderlins Texte für Bühnenzwecke bei Müller, Weiss und Jelinek auf Brecht zurückführt.

518 | Ein Theaterjahrhundert ken.Heim. auch in der Hölderlin-Nachwirkung im Drama und auf der Bühne eine historische Stellung zuweisen. Um ein in Kritik und Forschung oft zitiertes Beispiel zu nennen: Wenn in Jelineks Stück der 20. Vers aus Wie wenn am Feiertage „Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort“ (StA 2, 118) in die monologische Prosa-Rede eingearbeitet und variiert wird zu: „Und was wir sahn, das Heilige, ist unser Wort“ (138), ist nicht nur eine rezeptionsgeschichtliche Entstellung nachgeahmt und schon gar nicht wird eine erneute Profanation des Dichterwortes betrieben. Anhand der zwei häufigsten Variationsverfahren Jelineks – Überführung in die erste Person Plural und in indikativisch platte Faktizität787 – wird Hölderlins Sprache zu einem „neuen Textkörper“: Dieser zeigt, zumal in seiner szenischen Realisierung, die Fragilität des lyrischen Sprechens vor der ideologischen Gewalt herrschender Diskurse und zugleich seine untilgbare evokative Kraft, das irreduzible Dichterische, wie nun abschließend zu zeigen ist. Dieter Burdorf, der bereits 1990 der „Funktion von Hölderlin-Zitaten in Texten Elfriede Jelineks“ nachging, hat als erster einige Grundaspekte beleuchtet, wobei er vor allem einen Unterschied zwischen Jelineks Zitatmontagen und der „poetische[n] Hölderlin-Rezeption“ ausmachte (29), in der der Dichter zur „Chiffre […], sei es für den modernen Autor schlechthin, sei es für ein bestimmtes, sich den bürgerlichen, klassizistischen Normen entziehendes literarisches Programm“ geworden ist. Der für diese „poetische“ Rezeption typischen Lyrik eines Paul Celan stehe „das Werk der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek“ gegenüber, das sich durch „kryptische Zitate“ – so etwa im Roman Lust – oder aber, in Wolken.Heim., durch die „Demontierung der lyrischen Subjektivität“ auszeichne (36). Dadurch – die bereits erwähnte Passage kann dafür als Beispiel gelten – wird Hölderlins Diktion in ein „dumpfes Pathos des ‚wir‘“ überführt und somit auch entstellt. Die „verfremdende Gestalt“ der Zitate allerdings lasse sozusagen ex negativo das Original wieder zur Geltung kommen: „Dessen utopisches und emanzipatorisches Potential […] wird in Jelineks Prosatexten nicht etwa denunziert oder destruiert, sondern in der Negation gerade festgehalten“ (ebd.). Dies bestätigt in manchem die Selbstaussagen Jelineks, die die verfremdende Wirkung der Zitatenbehandlung als intendiert bezeichnete, und kann auch auf den Spuren späterer Forscher, etwa Polt-Heinzl, Kaplan und Geier, als Verfahren betrachtet werden, das parallel zur parodistischen Darstellung rezeptionsgeschichtlicher Entstellungsarten arbeitet. Denn dieses ‚Festhalten‘ des Utopischen und Emanzipatorischen selbst angesichts gewaltsamer chauvinistischer Verzerrung ist eine subversive, diskursresistente Kraft von Hölderlins Sprache; dies ist durchaus intendiert bei Jelinek, die eingestandenermaßen wie ihre Vorgänger der Faszination

|| 787 Für die erste, quantitativ vorherrschende Bearbeitungsweise wurde in der Forschung das Partizip „einge-wir-t“ geprägt (Caduff 2000, 772ff.). Eingehend zu den Verfahrensweisen nach Burdorf (1990) vgl. Kaplan (2006), insb. 28–72. Stefa (2011) 249–308 erweitert und kommentiert Kaplans Vergleichsanalyse durch synoptische Tabellen.

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seines dichterischen Sprechens verfallen ist.788 Außerdem kann man Burdorfs etwas einseitigen Befund, bei dem die theatralische Bestimmung von Jelineks Texten wenig beachtet wird, mit Blick auf andere, dramaturgische Funktionen erweitern und ergänzen, die Hölderlins Zitate in Wolken.Heim haben. Darin zeigt sich eine produktive Arbeit an Hölderlin bei Jelinek, die man durchaus mit der „poetischen Rezeption“ im 20. Jahrhundert oder zumindest mit derjenigen bei anderen deutschsprachigen Dramatikern vergleichen kann. Wolken.Heim. ist in seiner performativen, beinahe musikalischen Beschaffenheit ein polyphoner Text, auch wenn die uniforme chorische Stimme des ‚Wir‘ alles Andersgeartete zu tilgen scheint. Mit Georg Stanitzek kann man, wie erwähnt, zumindest eine „Hölderlin-“ und eine „Wir daheim-Schleife“ erkennen (1991, 17), bei einer ins Detail gehenden Untersuchung könnte man die vielen weiteren Stimmen und die Nuancen ihrer Komposition ermitteln, die dem Stück zugrunde liegen. In dieser Textpartitur, die Jelinek für die szenische Umsetzung verfasst hat, ist Hölderlin, wie sie selber sagt, der „Rhythmusgeber [...] derjenige, der den Sprachrhythmus, den Takt liefert, also das mächtige Metronom, das das Ganze immer wieder antreibt“. Dies vermag neben der unterschiedlichen Behandlung der Zitate aus Hölderlins Lyrik gegenüber den Passagen aus philosophischen Werken und den weiteren Quellen auch die Tatsache zu erklären, dass die Zitate aus Hölderlins Lyrik den Großteil der Theaterprosa ausmachen.789 Ihre strukturelle Funktion gleicht derjenigen rhythmisch-musikalischer Motive, die erst dem Text zu einem lebendigen Vortrag verhelfen. Dies vermögen sie kraft ihrer Poetizität – als allumfassende Sphäre der Dichtung in Hölderlins Sinne. Gegenüber den philosophischen Reden besitzt Hölderlins Sprechen diese Poetizität aufgrund des Rhythmisch-Lebendigen, das seine Dichtung im Unterschied zum philosophischen Reden auszeichnet, wie Jelinek 1990 in jenem Interview ausführt: „Der deutsche Idealismus wäre ohne Hölderlin nicht möglich gewesen, gleichzeitig hat er ihn auch überwunden – also sozusagen der Triumph der Dichtung über die Philosophie – und deswegen ist er derjenige, der den Pulsschlag für diesen Text angibt“ (Vogl 1990). Hölderlins Rhythmus, um Worte aus einem anderen Statement Jelineks zu übernehmen, gibt also dem Text performatives, szenisches Leben: er ist dessen „Herzschrittmacher“; er verwandelt Klang in Musik (Fend/Huber-Lang 1994, 4). Kein ursprünglicher Rhythmus wohlgemerkt: Erst durch die dissonante Entstellung der

|| 788 Als „die höchste Ausformung deutscher Sprache“ nennt Jelinek Hölderlins Lyrik (Winter 1991). 789 Nach Christian Klein machen Hölderlin Zitate mehr als einen Drittel des Textes aus; neben Zitat und Variation erblickt er auch imitative Passagen: „La prose de Jelinek reproduit mimétiquement la diction hölderlinienne, de sort que les vers de Hölderlin, qui sont fondus dans le récit en prose, contaminent l’ensemble du texte“ (2004, 71). Dies kann mit Brechts und Müllers Arbeit an Hölderlins Sprache verglichen werden. Vgl. Kaplan für den Hinweis, dass Jelinek in der ‚kleinen‘ StA exzerpiert hat, und den Nachweis der 48 Gedichte, die verarbeitet wurden (2006, 10, 20).

520 | Ein Theaterjahrhundert Hölderlin-Verse, etwa durch das ‚Ein-ge-wir-t‘-Sein, entsteht eine Störung des Rhythmus; gleiches geschieht durch den unvermittelten Übergang von einem HölderlinTakt zu einem Zitat anderer Herkunft. Man lese als Beispiel, möglichst laut, den neunzehnten Textblock von Wolken.Heim. Eröffnet ist er durch ein abgewandeltes Zitat aus Hölderlins Elegie Der Wanderer, das zweimal durch die ‚Wir-Schleife‘ unterbrochen wird: Alt sind sie geworden indes, sie bleichte der Eispol, und im Feuer des Süds fielen die Locken ihnen aus. Wir waren zuhaus. Von fernher kommen sie und müd bis in die Seele, um wiederzusehen das Land. Noch einmal müßte die Wang ihnen glühen, und erloschen fast glänzt ihr Auge noch auf. Sind sie zuhaus bei uns. (153)790

Die zweifache Stockung und die kleinen Veränderungen lassen die Distichen aus dem Gleichschritt kommen, ihr Rhythmus ist jedoch gleichzeitig noch herauszuhören, das Original durchaus zu erkennen; auch dadurch führt auf lexikalischer und bildlicher Ebene die Verfremdung zu keiner Verwischung des Tonunterschieds. Kurz darauf, nach weiteren variierten Hölderlin-Stellen, vor allem aus Germanien, kulminiert der Block in einem Patmos-Zitat (aus der ersten Strophe). Hier ist die Variation minimal, keine Wir-Rede stört das berühmte luftige Bild des Hinübergehens zum Fremden und des Wiederkehrens zum Eigenen als Akt des Erkennens und Liebens – genau das Gegenteil der Rhetorik der fremdenfeindlichen Abschottung, die in der „Wir daheimSchleife“ mobilisiert wird: Und furchtlos gehen die Söhne der Alpen über den Abgrund weg auf leichtgebaueten Brücken. Drum, da gehäuft sind rings, um Klarheit, die Gipfel der Zeit, und die Liebsten nah wohnen, ermattend auf getrenntesten Bergen, so gib unschuldig Wasser, o Fittiche gib uns, treuesten Sinns hinüberzugehn und wiederzukehren. (154)791

Der Bruch kommt dennoch, nur diesmal unmittelbar danach, statt innerhalb des Zitats. Eine lediglich graphische Pause trennt diese Worte von den darauffolgenden: „Wissenschaft als Wille zum geschichtlichen Auftrag des deutschen Volkes als eines in seinem Staat sich selbst wissenden Volkes, Wissenschaft und deutsches Schicksal müssen zumal im Wesenswillen zur Macht kommen“ (ebd., vgl. Heidegger 1983, 10). Heideggers Rektoratsrede zur Selbstbehauptung der deutschen Universität, die hier || 790 So Hölderlins Wanderer (Flora-Fassung), Z. 43–48: „Alt bin ich geworden indes, mich bleichte der Eispol, / Und im Feuer des Süds fielen die Locken mir aus. / Aber wenn einer auch am letzten der sterblichen Tage, / Fernher kommend und müd bis in die Seele noch jetzt / Wiedersähe dies Land, noch Einmal müßte die Wang’ ihm / Blüh’n, und erloschen fast glänzte sein Auge noch auf“ (StA 2, 81). 791 So Hölderlin (Z. 6–15): „[...] und furchtlos gehn / Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg / Auf leichtgebaueten Brücken. / Drum, da gehäuft sind rings / Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten / Nah wohnen, ermattend auf / Getrenntesten Bergen, / So gib unschuldig Wasser, / O Fittige gib uns, treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren“ (StA 2, 165).

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buchstabengenau zitiert wird, wird zwar im chorischen Monolog von der gleichen Stimme gesprochen, was die oben erörterte, drastische Thematisierung von Wegen und Umwegen der Hölderlin-Rezeption ermöglicht. Hinter der Rede dieses einzelnen kollektiven Sprechers bleiben allerdings die unterschiedlichen Schichtungen mehr als deutlich erhalten; der Theatertext ist mehrstimmig und stellt diese Polyphonie kritisch aus, indem er die unterschiedlichen Text-Materialien zugleich zitiert und deren Uniformierung durch einen herrschenden Diskurs vorführt.

Abb. 14: Wolken.Heim. (Bonn 1988). Regie: H. Hoffer

In Wolken.Heim. schreibt Jelinek in Sachen ‚Hölderlin und Theater‘ die Arbeit Brechts und Müllers, teilweise auch Weiss’ und Grübers fort und weitet sie aus, indem sie das Zitat-, Variations- und Montageverfahren radikalisiert und ohne direkten Bezug auf Hölderlins Theaterprojekte Fragmente seiner lyrischen Texte in ihrer performativen Kraft und gleichzeitig rezeptionsgeschichtlichen Zerbrechlichkeit ausstellt. Im Mittelpunkt steht eine Sprache, die (fast) schon selbst spricht; allerdings wird sie aus einer diskurskritischen, explizit politischen Perspektive zum Ausgangspunkt für eine Textpartitur, in der das Hölderlin-Material zum strukturbildenden Motiv wird, somit zum Ersatz des nunmehr aufgegebenen traditionellen dramatischen Aufbaus durch Handlung, Personen usw. Dadurch überführt Jelinek die Bühnenrezeption Hölderlins in die postdramatische Ästhetik und zeigt wirksam Wege auf, das gesamte Oeuvre des Dichters in szenischer Form auf die Gegenwartsbühne und in gegenwärtige Diskurse zu bringen. Gleichzeitig stellt Jelineks Operation einen Wendepunkt dar, nach dem eine konventionelle Herangehensweise an Hölderlins Theatertexte auf der heutigen

522 | Ein Theaterjahrhundert Bühne immer fragwürdiger erscheinen wird – selbst die episch und politisch bewusste der deutschsprachigen Dramatik und des Regietheaters der Nachkriegszeit. In diesem Sinne schließt Jelinek in Wolken.Heim. mit aus jener Tradition stammenden Strategien die Epoche, die rund vierzig Jahre früher durch Brechts Antigone des Sophokles eröffnet worden war.

3.3 Hölderlin im zeitgenössischen Theater. Ausblick und Schluss Eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung über ein Forschungsobjekt wie ‚Hölderlin im Theater‘, das sich fortwährend in verschiedenen Formen, Sparten und Kontexten entwickelte und immer noch entwickelt, muss auf Vollständigkeit verzichten. Nicht nur ist die dramatische Rezeption und Bühnenwirkung der Texte und der Figur Hölderlins insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts enorm angewachsen und sperrt sich gegen eine integrale Darstellung oder eine bis ins letzte Detail gehende Analyse aller Bearbeitungen und Inszenierungen. Beim Ausblick auf die letzten Jahrzehnte lässt sich auch feststellen, dass man es mit einem ‚lebendigen‘ Phänomen zu tun hat, das Teil von in Entwicklung begriffenen größeren literarischen, künstlerischen und kulturellen Erscheinungen ist. Weder ist hier ein Ende der Entwicklung abzusehen, noch ist die wissenschaftliche Distanz groß genug, um eventuelle Kursänderungen erkennen zu können. Während diese letzten Überlegungen geschrieben werden, entfaltet sich innerhalb und außerhalb der deutschsprachigen Länder die dramatische und theatralische Rezeption Hölderlins weiter; der Gegenstand entgeht selbst während der Sammlung und Bewertung von neuen Daten einer Fixierung. Jede Grenzlinie mag dementsprechend für eine derartige Untersuchung arbiträr erscheinen. Möglicherweise auf den ersten Blick auch diejenige, die hier gezogen wurde und dazu geführt hat, in den vorausgegangenen Kapiteln mit relativer Ausführlichkeit Publikationen und Inszenierungen bis um 1989/90 zu verfolgen. Auf diesen letzten Seiten sollen lediglich überblicksweise die letzten Rezeptionsjahrzehnte behandelt werden. Dafür sprechen einige Aspekte, die bereits in den in 3.2.4–6 angestellten Überlegungen berührt worden sind. Weitere Gründe ergeben sich aus der folgenden knappen Übersicht über Tendenzen der Jahre 1990–2015. Wie sich zeitgenössische Bühnen formal und inhaltlich mit Hölderlin auseinandergesetzt haben, das wurde in der überaus mannigfaltigen Epoche experimentell ermittelt und gefestigt, die sich literarisch zwischen Brechts epischer und Jelineks postdramatischer Ästhetik, theatralisch zwischen dem Einsetzen des Intendantentheaters nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zenit des Regietheaters vor der Wende aufspannt. In vielerlei Hinsicht sind in den nach-Wende-Jahrzehnten zumindest tendenziell Rezeptionsmodi zu erkennen, die in diesen maßgeblichen Hölderlin-Arbeiten ihren Grund haben – was auch kaum verwundert, wenn man das Prestige der beteiligten Dramatiker und Regisseure bedenkt. Der Durchbruch postdramatischer Theatertexte und Inszenierungsstile als Radikalisierung von auch an Hölderlin erprobten Strategien kann als

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letzter bemerkenswerter historischer Wandel in den späten 1980er Jahren bezeichnet werden. Auffällig ist, dass seitdem keine führenden Dramatiker mehr sich produktiv mit Hölderlins (Theater-)Texten auseinandergesetzt haben. Lediglich ein paar interessante Texte zu Hölderlin, also in der Dichterdrama-Tradition, wären zu erwähnen: Das Hörspiel Friedrich Hölderlin empfängt niemanden mehr des deutsch-iranischen Schriftstellers SAID (2001) und das Lenz-Hölderlin-Stück Kopnaad (1992) von Stefan Hertmans, in dessen flämischer Dichtung Hölderlin überhaupt eine zentrale Rolle spielt. Den fürs Regietheater charakteristischen Inszenierungsmodi entsprechend, bzw. ästhetischen Entwicklungen im Rahmen des postdramatischen Theaters gemäß, werden jedoch Hölderlins Vorlagen oder Bearbeitungen durch ‚klassisch-modernen‘ Autoren des 20. Jahrhunderts ununterbrochen aufgeführt. Dazu kommen, typisch für das heutige Panorama performativer Künste, intermediale Transformationen zwischen Tanz-, Sprech-, Musiktheater, filmischen Ausdrucksformen usw. Seit Anfang der 1970er Jahre wurden im dramatischen Bereich zuerst am Empedokles, dann auch an nichtdramatischen Texten Hölderlins Formen der produktiven Rezeption erprobt, die im Zeichen der Aktualisierung der Vorlagen in die Reflexionen über ästhetische, existentielle und politische Fragen der Gegenwart eingingen. Dabei stand etwa bei Weiss die Figur des Dichters und das visionär-utopische Moment seines fragmentarischen, aber zukunftsweisenden Oeuvres im Vordergrund, was sich dann stark in unterschiedlichen Hölderlin-Inszenierungen beider Jahrzehnte auswirkte (Grüber u.a.). Beim mittleren und späten Müller und ausgeprägter Ende der 1980er Jahre bei Jelinek diente die Auseinandersetzung mit Hölderlins Diktion eher der experimentellen Arbeit an einer neuen Theatersprache, die in postdramatische Formen mündete. Zitat und Variation, Imitation und Kommentar und zuletzt verstärkt Montage waren bei den genannten Autoren die Strategien der Anknüpfung an die Sprache des Dichters, die sich insbesondere bei einer derartig unkonventionellen, produktiven Arbeit als szenisch ergiebig erwies. Darin war ein Fortschreiben der Bearbeitungs- und Aktualisierungsmodi zu erkennen, anhand derer zuerst Brecht mit seiner Antigone-Bearbeitung, dann der junge Heiner Müller mit Ödipus, Tyrann Hölderlins Sophokles-Übersetzungen für die Bühne der Gegenwart erschlossen, indem sie sie ‚entgipsend‘ als Grundlage für die Erarbeitung gegenwärtiger Bühnensprache und die Beschäftigung mit ästhetischen und politischen Fragen der Gegenwart nahmen. Diese aus den 1940–60er Jahren stammenden Transformationen und der ihnen zugrundeliegende Gestus (3.2.1–3) trugen maßgeblich zur Etablierung von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen im internationalen Theater bei; spätestens seit Ende der 1970er Jahre sind sie die meistgespielten deutschen Vorlagen, entweder in der Bearbeitung der beiden großen Dramatiker, anderer Autoren und Dramaturgen oder in Strich-Fassungen. Sowohl die mehr oder weniger politisch aktualisierten Inszenierungen von Antigone und Ödipus an deutschsprachigen Bühnen, als auch einzelne am Rande erörterte Beispiele der internationalen und intermedialen Rezeption dieser Werke, in geringerem Maße auch des Empedokles, bekunden die auffällige Zentralität, die der angebliche ‚Dramatiker ohne Drama‘ Hölderlin im Nachkriegstheater und

524 | Ein Theaterjahrhundert in weiteren künstlerischen Darstellungsformen innegehabt hat. Seine führende Rolle als moderner Vermittler zur Antike etwa scheint im heutigen Theater unangefochten zu sein, nicht nur mit Blick auf Sophokles; ähnliche Beobachtungen ließen sich in kleinerem Maß etwa für die thematische Konstellation Künstlertum-Utopie-Entfremdung oder für theaterästhetische Fragen rund um Sprache, Präsenz und Körper auf der Bühne anstellen. Metatheatralische bzw. ironische Reflexionen über diese Rolle bzw. über die Rezeption des Dichters bei früheren Sprach- und Theaterkünstlern und über die durch gezielte Verfremdungen hervorgerufenen Irritationen, wie sie für die Postmoderne typisch sind, werden zum wesentlichen Teil der Inszenierungen, etwa durch textuelle, akustische, bildliche oder räumliche Kontaminationen und weitere genuinste Mittel der Darstellungskünste der Gegenwart. Es seien hier im Überblick einige konkrete Beispiele für die soeben angestellten allgemeinen Beobachtungen angeführt, ohne Anspruch auf eine vollständige Erfassung der letzten 25 Jahre Hölderlin-Rezeption. Ein Blick auf die Zahlen genügt, um eine ältere Tendenz zu bestätigen: Hölderlins Ödipus und Antigone beherrschen als Übersetzungen des Sophokles, verstärkt durch das Prestige ihrer Bearbeiter Brecht und Müller, die Spielpläne der letzten Jahrzehnte auf eine Weise, die im Vergleich die Bühnenwirkung des Empedokles noch geringer erscheinen lässt, als sie es tatsächlich ist. Ende der 1980er Jahre war eine ähnliche Situation zu beobachten, allerdings konnte gezeigt werden, dass es unter den wenigen Empedokles-Inszenierungen recht markante künstlerische Experimente im Spannungsfeld von Engagement und Enttäuschung wie diejenigen Steckels und Heymes gab. Grübers Berliner Aufführung Empedokles, Hölderlin lesen von 1975 wirkte dort nach. Um 2000 kam es zu einigen Wiederaufnahmen des Trauerspiels; insbesondere die Problematik der „Lesedrama“Frage bei einer aktualisierenden und zugleich die ursprüngliche Bruchstückhaftigkeit ernstnehmenden Inszenierung wird in unserer Gegenwart heterogen fortgeschrieben. Zunächst war es ein italienisches Projekt, das das Trauerspiel Hölderlins auf Grübers Spuren spielte, also sich an einer fragmentarischen Schrift zu schaffen machte, deren performative Kraft es auf der Bühne freizumachen gilt, ohne auf harmonisierende bis verfälschende Überführungen in definitive Formen zurückzugreifen. Die Rede ist von der Empedokles-Inszenierungsreihe des Teatro Lenz aus Parma, die an verschiedenen Spielorten in und um die Stadt der Emilia zwischen 1991 und 1992 stattfand. Sie war Teil des anspruchsvollen Hölderlin-Zyklus Rifrazioni (in etwa: Brechungen), bei dem innerhalb von drei Jahren das experimentelle Ensemble alle Theatertexte Hölderlins im Rahmen eines einheitlichen Konzepts aufgeführt hat: Ein Hölderlin-Erlebnis, das bis heute auch in deutschen Landen seinesgleichen sucht. Unter der Regie von Maria Federica Maestri und Francesco Pititto wurde eine sequenzielle Annäherung an Hölderlins tragische Sprache inszeniert, indem an verschiedenen Abenden vorbereitende szenische Lesungen den Inszenierungen der jeweiligen Empedokles-Fassung vorausgingen; die Wände des Bühnenhintergrundes waren mit dem zu lesenden und spielenden Text beschriftet; dabei wurde die Übersetzung

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Cesare Lievis benutzt (Castellari 2006a). Auch bei der in Bern von Gerd Heinz geleiteten Empedokles-Inszenierung (26. Februar 1995, Stadttheater) wurde der Text als zu lesende Vorlage auffällig thematisiert – gegen Ende der Aufführung tauchte hier das Reclam-Bändchen Der Tod des Empedokles, die populärste Lesemöglichkeit des Dramas, in den Händen der Darsteller auf – und als drittes Beispiel kann Christian Schlüters Tübinger Empedokles angeführt werden (3. März 2007, Landestheater). Selbst eine stark anti-, besser: post-literarische Einstudierung wie diese, in der die dramatische Vorlage nur eine der vielen Inspirationen der Dramaturgie darstellt, weist der Schrift und damit auch dem Lektüreprozess eine zentrale Stellung zu: auf der durch action-painting live auf der Bühne entstehenden Kulisse werden unter anderem auch Hölderlins Fragmente aufgemalt. Grübers vorbildhafte Inszenierungen des ‚Lesens‘ finden in diesen szenischen Umsetzungen eine Fortsetzung, neben dem postdramatischen Modell Müllers, etwa der Empedokles-Intertextualität in seinem letzten fragmentarischen Drama Germania 3 Gespenster am toten Mann (1995, vgl. 3.2.5.1). In der Tradition Müllers, der literarisch und theatralisch die Referenz der performativen Kultur um die Jahrtausendwende darstellt, steht auch die wichtigste neuere Inszenierung von Hölderlins Trauerspiel, Laurent Chétouanes Empedokles//Fatzer (22. Februar 2008, Schauspielhaus Köln). Der französische Regisseur legte wieder einen starken Akzent auf die Bruchstückhaftigkeit der Textgrundlage, diesmal verdoppelt durch die Kontamination mit Brechts ebenso fragmentarischem Deserteurstück, von Müller bekanntlich als „Jahrhunderttext“ bezeichnet und seit 1978 mehrfach bearbeitet (HMW 9, 242). Daraus entstand eine ebenso bruchstückhafte Inszenierung, die vor allem als szenische Arbeit an der Sprache daherkam. Chétouane, der nach eigener Aussage mit Heiner Müller Deutsch gelernt und nach dem Besuch einer Bochumer Heiner-Müller-Inszenierung den Entschluss gefasst hatte, im Theater zu arbeiten, stellte Hölderlins Bruchstücke ins Herz der Aufführung, Brechts Fragmente darum herum: er inszenierte somit zugleich auch einen Teil der Bühnenrezeption Hölderlins im Nachkriegstheater (Doppler 2008; vgl. auch Ennen 2008, 106). Chétouanes Empedokles//Fatzer ist auch darin repräsentativ für die typologisch bunte Präsenz Hölderlins auf der Bühne der Gegenwart, weil es mit einigen Inszenierungen der letzten Jahre die szenische Kontamination mit anderen Theatertexten gemeinsam hat. War bei Chétouane das Fragmentarische die auffälligste Verbindungslinie zwischen Hölderlin und Brecht, so stellte Werner Schroeter mit seiner Antigone /Elektra ein Antike-Projekt zu „Formen der Einsamkeit“, so der Untertitel, auf die Berliner Volksbühne (Premiere am 17. Juni 2009; vgl. Castellari 2016b). Hölderlin und Hofmannsthal standen sich darin als Vermittler zu Sophokles’ weiblichen Mythenfiguren gegenüber; dabei kamen die sprachlichen Unterschiede zwischen beiden Übersetzungen/Bearbeitungen des Sophokles stark zur Geltung. Jan Bosse inszenierte 2008 am Berliner Gorki Theater auch ein Doppelprojekt zum modernen Rückblick auf Griechenland; seine Inszenierung Antigonae/Hyperion blieb allerdings ganz Hölderlin-intern und erarbeitete durch die Dramaturgie von Andrea Koschwitz eine seltsame, sicher gedankenanregende Neukonstellation: Antigones Bruder Polyneikes

526 | Ein Theaterjahrhundert trug dort die Züge des Neugriechen Hyperion, den der eigene Befreiungskrieg beschäftigt. Weitere Beispiele würden das Panorama erweitern auf szenische Experimente, in denen Hölderlins Bühnentexte, sein Roman oder aber eine Auswahl aus seinen Gedichten mit anderen Quellen vermischt und zu Dramaturgien bzw. Postdramaturgien kompiliert werden, die in der szenischen Umsetzung oft nur ein entferntes Verhältnis zur literarischen Vorlage pflegen. In den geglückten Versuchen entstehen daraus bildlich und körperlich betonte Darbietungen von starker evokativer Kraft. Ein jüngeres Beispiel dafür ist Romeo Castelluccis Inszenierung Hyperion Briefe eines Terroristen, die im März 2013 an der Berliner Schaubühne uraufgeführt wurde und – in einem gänzlich neuen Kontext und mit anderen ästhetischen Mitteln – an Grübers Olympiastadion-Hyperion von 1977 und an die dort aufgeworfenen Fragen zu Gewalt, Engagement und Utopie anknüpfte. Castellucci gehört übrigens mit den bereits erwähnten Schlüter und Chétouane zu den Künstlern, die in den letzten Jahren an Hölderlin ihre Theatersprache entwickelt haben. Haben die beiden neben dem Empedokles auch Hölderlins Antigone inszeniert (Schlüter 1996 in Solothurn, Chétouane 2003 in Oldenburg), entwickelt der italienische Avantgardist und Gründungsmitglied der Societas Raffaello Sanzio zurzeit offensichtlich seine Regiesprache an Hölderlin. 2012 standen Passagen aus dem Tod des Empedokles im Mittelpunkt seiner Performance Four Seasons Restaurant; nach dem Hyperion-Schauspiel ist wieder die Schaubühne der Ort, wo seit März 2015 seine Inszenierung Ödipus der Tyrann aufgeführt wird. Castelluccis Ödipus im Nonnenkloster, bei dem Angela Winkler ein Buch unter einem Bett findet, darin Hölderlins Übersetzung liest und damit die szenische Evokation der alten Geschichte ermöglicht, verknüpft in fürs postdramatische Theater typischer Manier eine vor allem akustisch-musikalisch realisierte literarische Vorlage mit anderen szenischen Ausdrucksformen, die auch disparate Sinnkonstellationen evozieren. Die alte Frage der Sperrigkeit von Hölderlins Übersetzungssprache ist hier letzten Endes dadurch aufgehoben, dass die Wortebene nicht mehr die dominante sinntragende Dimension ist. Kontamination scheint überhaupt eine Schlüsselstrategie des gegenwärtigen Hölderlin-Theaters: Man kann etwa eine markante Verbreitung von Inszenierungen feststellen, in denen literarische Quellen und biographische Fiktion vermischt werden. Ist diese Tradition, die mit Weiss’ Dichterdrama Anfang der 1970er Jahre begründet wurde, typologisch etwa dort noch wirksam, wo Empedokles und Hölderlin in der Inszenierung als Figuren auftreten, so lassen sich eher an Jelinek erinnernde Strategien dort ausmachen, wo der Akzent auf die Montage und auf die sprachliche bzw. sprachkritische Dimension fällt. Überhaupt scheint gegenüber diesen nunmehr ‚klassischen‘ Vorbildern weniger die politische und mehr die persönliche Gefährdung des Dichters/Intellektuellen in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Als ein Sonderfall dieser dichterbiographischen Linie, die anhand literarischen Materials fragmentarische Hölderlin-Bilder evoziert, kann Peter Ruzickas Oper Hölderlin. Eine Expedition gelten. Das im Vorfeld der Berliner Uraufführung (Staatsoper, 16 November 2008; Inszenie-

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rung von Thorsten Fischer) aufgrund eines Zwistes mit dem Librettisten Peter Mussbach vieldiskutierte musiktheatralische Werk blieb jedoch mehr ein medienwirksamer Event als ein künstlerisch überzeugendes Gebilde; selbst die Partitur des namhaften Komponisten, der auch als Vertoner von Hölderlin-Texten einen großen Namen hat, fiel bei Publikum und Kritik durch. Dessen ungeachtet zeugt allerdings die kühne Vermischung von Dichter-Zitaten mit gänzlich neuen, mitunter recht undichterischen Passagen im Libretto sowie die gesamte intermediale Operation von dem typischen zeitgenössischen Anspruch, die Reflexion über die Bedeutung des Dichterischen in der Gegenwart durch einen doppelten Hölderlin-Bezug (zum Dichter als Figur und zu seiner Dichtung) anzustoßen. Die multiple performative Ebene einer Oper-Inszenierung zwischen Ton, Wort, Bild und Körpersprache bildet hier die Bestimmung der ganzen Arbeit. Als viel gelungener kann man das typologisch ähnliche filmische Projekt Harald Bergmanns betrachten, der mit seinen vier Filmen (die Hölderlin-Trilogie Lyrische Suite/Das untergehende Vaterland, 1992, Hölderlin Comics, 1994, Scardanelli, 2000 plus der Dokumentarfilm Passion Hölderlin von 2003) unterschiedliche Verfahren der intermedialen Umsetzung dichterischer Texte, interpretatorischer Perspektiven und biographischer Aspekte im Spannungsfeld von Genie und Wahnsinn erprobt. Nach den eher traditionellen Produktionen der 1980–90er Jahre (Hälfte des Lebens, DDR 1984, hinzu kam der recht schnulzige Film Der Feuerreiter, BRD/F/PL, 1998), kann man in diesem letzten Beispiel von Hölderlin-Kino heute eher als im Sprech- und Musiktheater die fruchtbarste Entwicklung der Darstellungs- und Aktualisierungsmuster erblicken, die im Theater der Nachkriegszeit an Hölderlins Werk, Leben und Rezeption produktiv herausgearbeitet wurden. Mehr als mit dem Empedokles, auch mehr als mit zu Dramaturgien kompilierten nichtdramatischen Texten oder biographisch-dichterischen Mischformen ist Hölderlin im Theater der Gegenwart als Übersetzer des Sophokles präsent (Ennen 2008, 114– 117; Flashar 2009, 281–354). Einige Beispiele aus den weit mehr als 50 Inszenierungen von Hölderlins Antigone, Ödipus bzw. der Bearbeitungen Brechts, Müllers oder anderer zwischen 1990 und 2015 wurden hier bereits erwähnt oder in vorigen Kapiteln antizipiert. Konstant ist in den letzten Jahrzehnten die Antigone das meistgespielte Stück, wobei zirka einem Drittel aller Inszenierungen dieser Tragödie Brechts Bearbeitung zugrunde liegt; was den Ödipus betrifft ist, wird Heiner Müllers Bearbeitung ungefähr in der Hälfte der Fälle benutzt. Über diese Zahlen hinaus haben Müllers und Brechts Antike-Moderne-Projekte immer noch die Funktion von Modellen, die die jeweiligen Dramaturgen und Regisseure mit der gebührenden Freiheit berücksichtigen. Oft kann man die Tendenz neuerer Produktionen beobachten, die jeweilige Vorlage, ob nun Hölderlin oder eine Bearbeitung, als eigenständiges modernes Werk zu betrachten, mit dem man sich aus der Perspektive der Gegenwart auseinandersetzt. Diese bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten beobachtete Verselbständigung gegenüber der antiken Tragödie spricht für eine wachsende Bedeutung des Aktualisierungsgestus, der auf unterschiedliche Weise bei Hölderlin oder bei Brecht und Müller auszumachen ist: Die jeweilige Vorlage wird als Grundlage für eine szenische

528 | Ein Theaterjahrhundert Reflexion über das produktive Verhältnis der Moderne zur Antike benutzt, mehr jedenfalls als über die Antike selbst. Als herausragendes Beispiel für diese Entwicklung kann George Taboris Inszenierung von Brechts Antigone-Bearbeitung angeführt werden. 2006 im Berliner Ensemble uraufgeführt, stellte sie ganz deutlich Brechts Autorschaft in den Mittelpunkt. Sie war aus der Auseinandersetzung mit vielen Elementen des Modells – etwa die Antigone-Legende und der Greizer Prolog – entstanden und fühlte sich Brechts altem Rezept der ‚Unterhaltung und Belehrung‘ letzten Endes verpflichtet. Tabori re-aktualisierte die historischen Bezüge durch Verweise auf Kriege und Krisen des neuen Jahrtausends, modulierte die Reflexion über Macht, Propaganda und individuelle bzw. kollektive Rebellion für seine medienbesessene Gegenwart neu und legte selbst in diesem überaus tragischen Kontext großen Wert auf Ironie und schwarzen Humor, wie es für sein Theater typisch war. So wurde z.B. die sprachliche Hürde von Brechts geschichteter Intertextualität auf der Bühne selbst als Problem thematisiert und durch plötzliche Niveausenkung ‚gelöst‘, indem die strenge Diktion in Alltagssprache umschlug (Castellari 2013). In dieser Regiearbeit des letzten großen Theatermachers des 20. Jahrhunderts sind die beiden wichtigsten Stränge zu erkennen, die die gegenwärtige Bühnenpräsenz von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen kennzeichnen, und zwar auf internationaler Ebene. Im offenkundigen Anschluss an die Nachkriegsrezeption werden, insbesondere bei Antigone-Inszenierungen, politische und existentielle Fragen rund um Krieg/Gewalt, Rebellion/Widerstand, Verhältnis zwischen Individuum und Gesetz/Macht aktualisiert, zuletzt verstärkt auch genderspezifische Aspekte. Die Palette reicht von Straub/Huillets formstrenger Antigone-Inszenierung, nicht zufällig in Brechts Bearbeitung, die 1991 an die Berliner Schaubühne gebracht wurde und dort durch Verweise auf den Irakkrieg das Publikum provozierte, über die Berner Inszenierung von Eberhard Köhler (2001), in der Hölderlins Übersetzung zu einer Dramaturgie von Angelika Salvisberg verarbeitet wurde, wobei der aus den Antigone-Anmerkungen stammende Begriff des ‚Republikanischen‘ eine große Rolle spielte, bis zum Würzburger Ödipus, Tyrann von 2005, für den Regisseur Stephan Suschke ausdrücklich die politische Dimension von Müllers Bearbeitung reaktivierte. Als Versuche der Annäherung an heutige psychische und soziale Verhältnisse sind schließlich auch Ödipus, Tyrann (2009) und Antigone des Sophokles (2011) von Dimiter Gotscheff zu sehen, der ausdrücklich in den Spuren von Müllers Ästhetik beide Hölderlin-Bearbeitungen ins Thalia-Theater brachte. Taboris Antigone von 2006 ist zudem auch für den zweiten Strang repräsentativ, der auf den großen literarischen und theatralischen Auseinandersetzungen mit Hölderlin in den 1940–80er Jahren fußend die heutige Bühnenrezeption charakterisiert: die dramaturgische und szenische Arbeit mit der sprachlichen Beschaffenheit der Vorlagen. Herrscht bei Tabori ironische Brechung vor, so sind in bereits erwähnten Inszenierungen und in anderen markanten Beispielen recht unterschiedliche Herangehensweise auszumachen. Bei Straub/Huillet und bei jüngeren Regisseuren und Regisseurinnen – etwa Wanda Golomka, die 2003 eine vielbeachtete Antigone am

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Schauspiel Frankfurt inszenierte – begegnet man einer grundsätzlichen Entscheidung für den Einsatz der Sprache in ihrer Radikalität. Bei anderen überwiegt der Versuch, anhand Körper- und Raumregie die evokative Kraft von Hölderlins Diktion über die Wortebene hinaus szenisch umzusetzen: So etwa in Chétouanes Oldenburger Antigone (2003). Neben den eher für ein traditionelles bzw. provinzielles Theater typischen Versuchen der Harmonisierung bzw. Verharmlosung der ‚harten Fügung‘ und der Radikalität (so etwa in den nicht wenigen Wiederaufnahmen der sogenannten Bad Hersfelder Fassung von Walser/Selge), leiden Inszenierungen, die der Tradition des Regietheaters zuzuschreiben sind, an dem uns bereits bekannten Dilemma zwischen der sorgfältigen Vorbereitung seitens der Produktion, die auf die sprachliche Dimension als Sinnträger der Aufführung setzt, und der ambivalenten Wirkung auf Publikum und Kritik, die zwischen Bewunderung und Irritation schwanken. So etwa in der Antigone, die Jürgen Flimm 1996 am Thalia Theater Hamburg mit Will Quadflieg als Tiresias inszenierte: von den einen wurde sie als Beweis der szenischen Wirksamkeit von Hölderlins Diktion, von den anderen gerade in der sprachlichen Realisierung als misslungen betrachtet. Ähnliche Beobachtungen wären für die Tübinger (Axel Vornam, 1997) und die Stuttgarter (Elias Perrig, 2000) Antigone sowie für Jan Bosses Ödipus am Hamburger Schauspielhaus (2001) anzustellen. Noch zwei letzte Beispiele mögen die im Regietheater unverändert zentrale Frage der wirksamen Überführung von Hölderlins Übersetzungssprache in eine szenische Form beweisen. Frank Patrick Steckels Wuppertaler Inszenierung (1997, Schauspiel) stellt eines dar. Für seine Antigone erarbeitete er mit der Dramaturgin Theresia Birkenhauer eine Darstellungsweise, in der Verständnisschwierigkeiten direkt auf der Spielebene thematisiert wurden. Die Darsteller lasen dort auf der Bühne alternativ aus Sekundärliteratur zur Tragödie und aus Hölderlins Übersetzung. Diese letzten Endes an Inszenierungsmittel der 1970er–80er Jahre erinnernde Strategie, die im Regietheater sowohl an Hölderlins Texten als auch an seinen Übersetzungen bereits erprobt worden waren, ist zwar bewusst irritierend – in der Kritik wurde die Inszenierung zerrissen, nicht anders als Steckels ebenso ‚intellektueller‘ Empedokles von 1984 –, gleicht allerdings in manchem einer Bankrotterklärung gegenüber der Vorlage. Dieter Hacker, der derselben Generation wie Steckel angehört und vor allem als Maler bekannt ist, hatte 1992 Hölderlins Ödipus am Bochumer Schauspielhaus, noch unter der Intendanz Steckels, inszeniert und für dasselbe Problem ähnliche, jedoch überzeugendere Lösungen gefunden. Seine insgesamt geglückte Inszenierung, die zum 30. Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurde, verzichtete fast vollständig auf das übliche Personal zugunsten einer einzigen Figur, ein Maler in seinem Atelier, der die Brücke aus der Gegenwart zur Tragödie schlägt. Armin Rohde, der in Bochum die Figur verkörperte, las auf der Bühne aus Hölderlins Übersetzung, so, als ob er die Rolle einstudieren müsste, und enthüllte dabei Bilder, die peu à peu zur Szenographie wurden. Auch hier war die Schwierigkeit, Hölderlin zu inszenieren, unmittelbar thematisiert, und zugleich die Suche nach visueller Inszenierung der im dichten Text präsenten Bilderwelt.

530 | Ein Theaterjahrhundert Eigenschaften wie Prozessualität der Annäherung an Hölderlins Theatersprache, Reflexion über die diffizile Angelegenheit, Wechsel von Vorstellung und Darstellung lassen diese Versuche von erfahrenen (Bühnen-)Künstlern als Vorwegnahmen von neueren, ‚postdramatisch‘ geschulten Inszenierungen erscheinen, in denen der Übergang von der Repräsentation zur Performation entschlossen vollzogen wird. Castellucci steht zusammen mit Chétouane und einigen anderen dafür; sie sind Repräsentanten einer in den letzten Jahren erneut intensiv an Hölderlin experimentierenden Generation von Theaterschaffenden. Am 4 Dezember 2016 hat sich zum hundertsten Mal der Tag der allerersten Inszenierung eines dramatischen Textes Hölderlins gejährt. Seine im Empedokles- und im Sophokles-Projekt anvisierte kulturelle Dynamik einer produktiven Transformation antiker und zeitgenössischer Dramatik in der Absicht, ein ‚lebendiges‘ Theater für die Moderne zu entwerfen, befruchtet noch immer die Arbeit junger Künstler.

Verzeichnis der verwendeten Literatur Hölderlin-Ausgaben Schwab/Uhland — Gedichte von Friedrich Hölderlin, [hg. v. G. Schwab u. L. Uhland,] Stuttgart/Tübingen 1826. Schwab — Friedrich Hölderlin’s sämmtliche Werke, hg. v. C. Th. Schwab, Stuttgart/Tübingen 1846. Köstlin — Dichtungen von Friedrich Hölderlin, mit biographischer Einleitung hg. v. K. Köstlin, Tübingen 1884. Litzmann senior — Friedrich Hölderlins Leben, in Briefen von und an Hölderlin, bearb. u. hg. v. C. C. T. Litzmann, Berlin 1890. Litzmann junior — Hölderlins gesammelte Dichtungen, neu durchgesehene u. vermehrte Ausgabe in zwei Bänden, mit biographischer Einleitung hg. v. B. Litzmann, Stuttgart/Berlin 1895–1897. Böhm — F. Hölderlin, Gesammelte Werke, hg. v. W. Böhm u. P. Ernst, Jena/Leipzig 1905 [zweite, vermehrte Auflage 1909–11]. Joachimi-Dege — Friedrich Hölderlins Werke in vier Teilen, hg., mit Einl. u. Anmerkungen versehen v. M. Joachimi-Dege, Berlin u.a. 1908. Zinkernagel — Friedrich Hölderlins Sämtliche Werke und Briefe in fünf Bänden. Kritisch-historische Ausgabe, hg. v. F. Zinkernagel, Leipzig 1914–1921. Hell. — [F.] Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, begonnen durch N. v. Hellingrath, fortgef. durch F. Seebaß u. L. v. Pigenot, Berlin/München 1913–1923. StA — [F.] Hölderlin, Sämtliche Werke, hg. v. F. Beißner u. A. Beck, Stuttgart 1943–1985. FHA — F. Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. D. E. Sattler u.a., Basel/Frankfurt a.M. 1975–2008. DKA — F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. J. Schmidt, Frankfurt a.M. 1992–94.

Andere Werkausgaben und Referenzwerke AAW — L. A. v. Arnim, Werke in sechs Bänden, hg. v. R. Burwick, J. Knaack, P. M. Lützeler, R. Moering, U. Ricklefs u. H. F. Weiss, Frankfurt a.M. 1989–1994. BB — W. Benjamin, Gesammelte Briefe, hg. vom Th. W. Adorno Archiv, Frankfurt a.M. 1995–2000. BW — W. Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung v. Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974–1989. BWB — B. v. Arnim, Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. W. Schmitz u. S. v. Steinsdorf, Frankfurt a.M. 1986–2004 [dann: in vier Bänden]. DLL — Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Biographisch-bibliographisches Handbuch, begr. v. W. Kosch, hg. v. L. Hagestedt, Berlin u.a. 2000–. DUDEN — Deutsches Universalwörterbuch, fünfte überarb. Auflage, Mannheim 2003. GBA — B. Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. W. Hecht, J. Knopf, W. Mittenzwei, K.-D. Müller, Berlin/Frankfurt a.M. 1988–2000. KGB — F. Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin u.a. 1975–. KGW — F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, fortgef. v. W. Müller-Lauter u. K. Pestalozzi, Berlin u.a. 1967–. Grimm — J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1961, 1971. GW — J. W. Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. H. Birus u.a., Frankfurt a.M. 1986–1999. https://doi.org/10.1515/9783110584714-005

532 | Verzeichnis der verwendeten Literatur

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Weitere Quellen und Sekundärliteratur [Rezensionen und Zeitungsartikel aus der Inszenierungsdokumentation des Hölderlin-Archivs, die in den einzelnen Kapiteln bibliographisch bereits erschlossen sind, werden hier nicht aufgelistet.]

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Verzeichnis der verwendeten Literatur | 533

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536 | Verzeichnis der verwendeten Literatur

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Verzeichnis der verwendeten Literatur | 541

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542 | Verzeichnis der verwendeten Literatur

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Verzeichnis der verwendeten Literatur | 543

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544 | Verzeichnis der verwendeten Literatur

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Verzeichnis der verwendeten Literatur | 545

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546 | Verzeichnis der verwendeten Literatur

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556 | Verzeichnis der verwendeten Literatur

Vischer 1919 — F. Th. Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879), für die Deutsche Bibliothek hg. v. G. Manz, Berlin 1919. Vivarelli 1989 — V. Vivarelli, „Empedokles und Zarathustra: Verschwendeter Reichtum und Wollust am Untergang“, Nietzsche-Studien 18, 1989, 509–536. Vivarelli 2011 — V. Vivarelli, „Hölderlin“, in Ch. Niemeyer (Hg.), Nietzsche-Lexikon, zweite, durchgesehene und erw. Auflage, Darmstadt 2011, 171–172. Vöhler 2011 — M. Vöhler, „Hölderlin auf dem Theater. Podiumsgespräch mit Dörte Lyssewski, Andrea Koschwitz, Laurent Chétouane, Ralf Fiedler, Carl Hegemann, Cesare Lievi und Patrick Primavesi (29. Mai 2010, Freie Universität Berlin)“, Hölderlin-Jahrbuch 37, 2010–11, 110–130. Vöhler/Seidensticker 2005 — M. Vöhler/B. Seidensticker (Hgg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, Berlin u.a. 2005. Volke 1993 — W. Volke, „‚Wie viele oder wie wenigen kennen ihn?‘. Die Holderlin-Ausgaben im 19. Jahrhundert als Anreger und Spiegel des Leserinteresses“, in: B. Pieger/W. V./N. Kahlefendt/D. Burdorf, Hölderlin entdecken. Lesarten 1826–1993. Beiträge zu der Ausstellung „Hölderlin entdecken. Zur Rezeption seiner Dichtungen 1826–1993“, gezeigt in der Universitätsbibliothek Tübingen vom 7. Juni bis zur 2. Juli 1993 anläßlich der Jahrestagung der Hölderlin-Gesellschaft, hg. v. der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen in Verbindung mit der deutschen Schillergesellschaft Marbach a.N. und dem Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Tübingen 1993, 7–56. Völker 1990 — K. Völker, Elisabeth Bergner. Das Leben einer Schauspielerin. Ganz und doch immer unvollendet, Berlin 1990. Vollhardt 2014 — F. Vollhardt, „Biographisches Verfahren und kulturwissenschaftliche Erkenntnis. Das Hölderlin-Porträt Wilhelm Diltheys“, in: F. V. (Hg.), Hölderlin in der Moderne. Kolloquium für Dieter Henrich zum 85. Geburtstag, Berlin 2014, 42–59. Von der Leyen 1960 — F. von der Leyen, „Norbert von Hellingrath und Hölderlins Wiederkehr“, Hölderlin-Jahrbuch 11, 1958–60, 1–16. Wackwitz 1997 — S. Wackwitz, Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1997. Wägenbaur 2014 — B. Wägenbaur, „Norbert von Hellingrath und Karl Wolfskehl. Eine biographische Skizze“, in: J. Brokoff/J. Jacob/M. Lepper (Hgg.), Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014, 161–189. Wagenknecht 1997 — Ch. Wagenknecht, „Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin“, in: E. Osterkamp (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, Berlin u.a. 1997, 132–142. Wagner 2000 — F. D. Wagner, „Der Tod im Ätna: Hölderlins und Brechts Empedokles-Legende“, Zeitschrift für deutsche Philologie 119, 2000, 589–600. Wagner 2001 — F. D. Wagner, „Der Schuh des Empedokles“, in: J. Knopf (Hg.), Brecht-Handbuch in fünf Bänden. 2. Band, Stuttgart u.a. 2001, 284–286. Walser 1970 — M. Walser, Hölderlin zu entsprechen, Biberach a.d.R. 1970. Dann in: M. W., Umgang mit Hölderlin. Zwei Reden, Franfurt a.M./Leipzig 1997, 27–55. Walser 1989 — M. Walser, „Antigone oder Die Unvernunft des Gewissens“, in: Sophokles, Antigone, übers. v. F. Hölderlin, bearb. v. M. W. u. E. Selge, Frankfurt a.M. 1989, 9–16. Walser 1996 — M. Walser, „Ein Asyl von Anfang an“, Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. August 1996. Dann mit dem Titel „Umgang mit Hölderlin und darüber reden“ in: M. W., Umgang mit Hölderlin. Zwei Reden, Franfurt a.M./Leipzig 1997, 7–23. Walser/Selge 1989 — Sophokles, Antigone, übers. v. [F.] Hölderlin, bearb. v. M. Walser u. E. Selge, Frankfurt a.M. 1989. Wannamaker 2006 — A. Wannamaker, „‚Marking Time‘, Bertolt Brecht’s ‚Antigone‘ as Tragedy of Revolution and Exile“, The Brecht Yearbook 31, 2006, 336–349.

Verzeichnis der verwendeten Literatur | 557

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558 | Verzeichnis der verwendeten Literatur

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Verzeichnis der verwendeten Literatur | 559

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Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen Inszenierungen von Hölderlin-Texten und von Stücken mit Hölderlin-Bezug 1850 — [F. Wehls Stück Liebe] — Dresden — Leitung: E. Devrient? 1904 —[E. Hardts Stück Der Kampf ums Rosenrote] — Hannover — Regie: H. Reusch 1916 — [Empedokles-Fragmente] — Stuttgart — Regie u. Bearb.: W. v. Scholz 1918 — [Empedokles-Fragmente] — Dresden — Regie u. Bearb.: R. Glaser 1919 — [Antigone-Übersetzung] — Zürich — Regie: J. Danegger 1919 — [Empedokles-Fragmente] — Halle — Regie: unbekannt 1919 — [W. Eidlitz’ Hölderlin-Stück] — Berlin — Regie: R. Bruck 1920 — [Empedokles-Fragmente] — Stuttgart — Regie u. Bearb.: W. v. Scholz 1920 — [Empedokles-Fragmente] — München — Regie: O. Liebscher; Bearb.: W. v. Scholz 1920 — [Empedokles-Fragmente] — Frankfurt a.M. — Regie: R. Weichert; Bearb.: W. v. Scholz 1920 — [Empedokles-Fragmente] — Weimar — Regie: E. Hardt; Bearb.: W. v. Scholz 1921 — [Empedokles-Fragmente] — Danzig — Regie: H. Merz; Bearb.: W. v. Scholz 1921 — [Ödipus-Übersetzung] — Köln — Regie: O. Liebscher 1922 — [Ödipus-Übersetzung] — Darmstadt — Regie: E. Keller; Bearb.: W. Michel 1922 — [Empedokles-Fragmente] — Bochum — Regie: S. Schmitt; Bearb.: W. v. Scholz 1923 — [Empedokles-Fragmente] — Wien — Regie: F. Rosenthal; Bearb.: W. v. Scholz 1923 — [Empedokles-Fragmente] — Berlin — Regie: E. Legal; Bearb.: W. v. Scholz 1923 — [Antigone-Übersetzung] — Darmstadt — Regie: E. Keller; Bearb.: W. Michel 1924 — [Empedokles-Fragmente] — Heidelberg — Regie: W. Meyer 1924 — [Ödipus-Übersetzung] — Stuttgart — Regie: W. Hoffmann Harnisch; Bearb.: W. Michel 1926 — [Empedokles-Fragmente] — Darmstadt — Regie: E. Legal; Bearb.: W. Michel 1938 — [Empedokles-Fragmente] — Leipzig — Regie u. Bearb.: P. Smolny 1939 — [Empedokles-Fragmente] — Göttingen — Regie: G. Seidler; Bearb.: G. Seidler 1940 —[Empedokles-Fragmente] — Nürnberg — Regie: W. Hanke; Bearb.: W. v. Scholz 1940 —[Antigone-Übersetzung] — Wien — Regie: L. Müthel; Bearb.: W. Michel 1940 —[Empedokles-Fragmente] — Kassel — Regie: H. C. Müller; Bearb.: P. Smolny 1941 — [Ödipus-Übersetzung] — Leipzig — Regie: P. Smolny; Bearb.: H. Schwarz 1941 — [Antigone-Übersetzung] — Frankfurt a.M. — Regie: B. Hattesen 1941 — [Ödipus-Übersetzung] — Chemnitz — Regie: H. Schaffner 1942 — [Empedokles-Fragmente] — Berlin — Regie u. Bearb.: G. Hadank 1942 — [Antigone-Übersetzung] — Leipzig — Regie: P. Smolny; Bearb.: W. Michel 1943 — [Antigone-Übersetzung] — Memel (Klaipėda) — Regie: O. Liebscher 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Weimar — Regie: P. Smolny; Bearb.: P. Smolny 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Stuttgart — Regie: P. Riedy; Bearb.: G. Seidler 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Wien — Regie u. Bearb.: H. Hilpert 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Chemnitz — Regie: H. Schaffner; Bearb.: P. Smolny 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Karlsruhe — Regie u. Bearb.: P. Smolny 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Regensburg — Regie: F. Herterich; Bearb.: P. Smolny 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Dresden — Regie: P. Hoffmann; Bearb.: W. Michel 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Münster — Regie: W. Kordt; Bearb.: W. Kordt 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Bielefeld — Regie: R. Hoffmann; Bearb.: P. Smolny 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Bonn — Regie: C. Herwig; Bearb.: W. v. Scholz https://doi.org/10.1515/9783110584714-006

562 | Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen

1943 — [Empedokles-Fragmente] — Gießen — Regie: W. Michel Mund; Bearb.: W. v. Scholz 1943 — [Empedokles-Fragmente] — Düsseldorf — Regie: P. Esser; Bearb.: W. v. Scholz 1944 — [Antigone-Übersetzung] — Göttingen — Regie: unbekannt 1944 — [Antigone-Übersetzung] — Stuttgart — Regie: H. Henrichs 1944 — [Empedokles-Fragmente] — Heilbronn — Regie u. Bearb.: E. Gieseler 1944 — [Antigone-Übersetzung] — Bern — Regie: K. G. Kachler 1946 — [Antigone-Übersetzung] — Hamburg — Regie: H. Koch 1946 — [Ödipus-Übersetzung] — Weimar — Regie: P. Smolny 1947 — [Antigone-Übersetzung] — Basel — Regie: E. Ginsberg 1947 — [Empedokles-Fragmente] — Zürich — Regie u. Bearb.: E. Ginsberg 1947 — [Antigone-Übersetzung] — Bielefeld — Regie: B. Hattesen 1947 — [Empedokles-Fragmente] — Tübingen — Regie u. Bearb.: G. Stark 1948 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Chur — Regie: B. Brecht u. C. Neher 1949 — [Antigone-Übersetzung] — Frankfurt a.M. — Regie: H. u. M. Friedrich (Sprechaufführung) 1949 — [C. Orffs Antigone-Vertonung] — Salzburg — Regie: O. F. Schuh 1950 — [C. Orffs Antigone-Vertonung] — Dresden — Regie: K. Arnold 1950 — [Antigone-Übersetzung] — Ulm — Regie: G. Deharde; Bearb.: W. Michel 1950 — [Antigone-Übersetzung] — Essen — Regie: G. R. Sellner 1951 — [C. Orffs Antigone-Vertonung] — München — Regie: K. Arnold 1951 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Greiz — Regie: O.-E. Tickardt 1951 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Ulm — Regie: P. Wackernagel (Lesung) 1952 — [Antigone-Übersetzung] — Freiburg i.Br. — K. Hübner 1953 — [Ödipus-Übersetzung] — St. Gallen — Regie: K. G. Kachler 1953 — [Empedokles-Fragmente] — Wiesbaden — Regie: W. Grüntzig; Bearb.: P. Smolny 1953 — [Ödipus-Übersetzung] — Dornach — Regie: unbekannt 1954 — [Antigone-Übersetzung] — Wuppertal — Regie: H. Bauer; Bearb.: W. Michel 1955 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Frankfurt a.M. — Regie: unbekannt 1955 — [Antigone-Übersetzung] — Zürich — Regie: W. Kraut 1955 — [Empedokles-Fragmente] — Bremen — Regie: G. Briese; Bearb.: W. v. Scholz 1956 — [C. Orffs Antigone-Vertonung] — Stuttgart — Regie: W. Wagner 1956 — [Empedokles-Fragmente] — Basel — Regie: C. Caspari; Bearb.: P. Smolny 1956 — [Empedokles-Fragmente] — Stuttgart — Regie: G. Westphal; Bearb.: W. Westphal 1957 — [Antigone-Übersetzung] — Darmstadt — Regie: G. R. Sellner 1957 — [Antigone-Übersetzung] — Recklinghausen — Regie: K. H. Stroux; Bearb.: W. Michel 1957 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Greifswald — Regie: H.-J. Meyer 1958 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Gera — Regie: E. O. Tickardt 1958 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Frankfurt a.M. — Regie: K. Braun 1958 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Schleswig — Regie: H. Gnedow 1959 — [Antigone-Übersetzung] — München — Regie: H. Henrichs; Bearb.: W. Michel 1959 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Münster — Regie: B. Konrad 1959 — [Antigone-Übersetzung] — Köln — Regie: C. Caspari 1960 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Bamberg — Regie: K. Löser 1961 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Greifswald — Regie: K. Veth 1961 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Potsdam — Regie: G. Meyer 1961 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Oberhausen — Regie: J. Fontheim 1961 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Halle — Regie: G. Müller 1961 — [Ödipus-Übersetzung] — Basel — Regie: E. Holliger 1962 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Reinbek — Regie: J. Höppner 1962 — [Empedokles-Fragmente] — Tübingen — Regie: F. Herterich; Bearb.: W. Schadewaldt

Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen | 563

1962 — [Antigone-Übersetzung] — Reutlingen — Regie: H. Treusch 1962 — [Ödipus-Übersetzung] — Stuttgart — Regie: H. Gaese 1962 — [Ödipus-Übersetzung] — München — Regie: R. Noelte 1962 — [Antigone-Übersetzung] — Bad Hersfeld — Regie: P. Katselis 1963 — [Empedokles-Fragmente] — Bad Gandersheim — Regie u. Bearb.: E. Gieseler 1963 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Hamburg — Regie: C. Peymann 1963 — [Empedokles-Fragmente] — Berlin/West — Regie: W. Kühne 1964 — [B. Madernas Hyperion-Oper] — Venedig — Regie: V. Puecher 1964 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Trieste — Regie: F. Tolusso 1964 — [Antigone-Übersetzung] — Marburg — Regie: H. Buchmann 1964 — [Ödipus-Übersetzung] — Reutlingen — Regie: A. André 1965 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Berlin/West — Regie: C. Peymann 1966 —[Empedokles-Fragmente] — Wuppertal — Regie: H. Wildhagen 1966 —[Empedokles-Fragmente] — Göttingen — Regie: E. Müller-Elmau; Bearb.: W. Schadewaldt 1966 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Frankfurt a.M. — Regie: C. Peymann 1966 —[Antigone-Übersetzung] — Bremen — Regie: K. Hübner 1967 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Krefeld — Regie: J. Beck u. J. Malina 1967 — [H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Berlin/Ost — Regie: B. Besson 1967 — [H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Bochum — Regie: H.-J. Heyse 1967 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Münster — Regie: E. Otto 1968 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Darmstadt — Regie: G. F. Hering 1968 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Augsburg — Regie: H. Kleinselbeck 1969 — [Antigone-Übersetzung] — Kassel — Regie: U. Brecht, K. Braak 1969 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Wilhelmshaven — Regie: B. Rüde 1969 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Bochum — Regie: S. Orlacs 1969 — [Empedokles-Fragmente] — Dornach — Regie: W. Greiner 1971 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Amiens — Regie: J.-P. Miquel 1971 — [P. Weiss’ Hölderlin-Stück] — Stuttgart — Regie: P. Palitzsch 1971 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Esslingen — Regie: W. Casper 1971 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Paderborn — Regie: S. Bühr 1971 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Düsseldorf — Regie: W. Seesemann 1972 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Wien — Regie: C. H. Meyer 1973 — [Ödipus-Übersetzung] — Basel — Regie: N.-P. Rudolph 1973 — [Empedokles-Fragmente] — Frankfurt a.M. — Regie: W. Wiens 1973 — [H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Kiel — Regie: D. Reible 1973 — [Empedokles-Fragmente] — Torre del Greco — Regie: G. Vitiello 1974 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Dortmund — Regie: H. H. Forches 1975 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Kiel — Regie: R. Beck 1975 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Nürnberg — Regie: W. Lichtenstein 1975 — [Empedokles-Fragmente] — Berlin/West — Regie: K. M. Grüber 1975 — [H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Bern — Regie: F. Ribell 1976 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Münster — Regie: O. Schnelling 1976 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Köln — Regie: V. Jeker 1976 — [Ödipus-Übersetzung] — Ulm — Regie: P. Borchardt 1976 — [Ödipus-Übersetzung] — Karlsruhe — Regie: U. Greiff 1977 — [Empedokles-Fragmente] — Roma — Regie: B. Mazzali 1977 — [Hyperion] — Berlin/West — Regie: K. M. Grüber 1977 — [H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — München — Regie: E. Wendt 1977 — [Antigone-Übersetzung] — Halle — Regie: P. Handke

564 | Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen

1978 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Radebeul — Regie: K. Kunick 1978 — [Antigone-Übersetzung] — Stuttgart — Regie: V. Jeker 1978 — [Antigone-Übersetzung] — Strasbourg — Regie: Ph. Lacoue-Labarthe u. M. Deutsch 1978 — [Antigone-Übersetzung] — Frankfurt a.M. — Regie: Ch. Nel 1978 — [V. Brauns Guevara-Stück] — Mannheim — Regie: J. Bosse 1979 — [Antigone-Übersetzung] — Bremen — Regie: E. Wendt 1979 — [Antigone-Übersetzung] — Berlin/West — Regie: N.-P. Rudolph 1979 — [Ödipus-Übersetzung] — Frankfurt a.M. — Regie: H. Neuenfels 1980 —[Antigone-Übersetzung] — Tübingen — Regie: S. Bühr 1980 —[Antigone-Übersetzung] — Wien — Regie: R. Schaefer 1980 —[H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Wien — Regie: G. Friedrich 1980 —[Antigone-Übersetzung] — Leipzig — Regie: K. G. Kayser 1980 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Göttingen — Regie: O. Schnelling 1981 — [Empedokles-Fragmente] — Vitry sur Seine — Regie: A. Ollivier 1981 — [Antigone-Übersetzung] — Paderborn — Regie: unbekannt 1982 — [Empedokles-Fragmente] — Gargnano — Regie: C. u. D. Lievi 1983 — [Antigone-Übersetzung] — Wiesbaden — Regie: C. Bodinus 1984 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Castrop-Rauxel — Regie: R. Iwersen 1984 —[Empedokles-Fragmente] — Hamburg — Regie: F. P. Steckel 1984 —[Ödipus-Übersetzung] — Paderborn — Regie: unbekannt 1984 —[Ödipus-Übersetzung] — Köln — Regie: J. Gosch 1985 — [Antigone-Übersetzung] — Hannover — Regie: unbekannt 1985 — [Antigone-Übersetzung] — Bern — Regie: A. u. P. Bäcker 1985 — [Antigone-Übersetzung] — Bonn — Regie: P. Palitzsch 1985 — [Antigone-Übersetzung] — Heidelberg — Regie: H. Rühle 1985 — [Antigone-Übersetzung] — München — Regie: G. U. Feller 1985 — [Ödipus-Übersetzung] — Hamburg — Regie: J. Gosch u. W. Wiens 1986 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Baden-Baden — Regie: F. Lorenz 1986 —[Ödipus-Übersetzung] — Karlsruhe — Regie: W. D. Asmus 1986 —[Antigone-Übersetzung] — Karlsruhe — Regie: W. D. Asmus 1986 —[Antigone-Übersetzung] — Halle — Regie: A. Stillmark 1986 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Wien — Regie: Fritz Holy 1987 — [Empedokles-Fragmente] — Gibellina — Regie: C. u. D. Lievi 1987 — [Antigone-Übersetzung] — Bern — Regie: R. Milde 1987 — [W. Rihms Ödipus-Oper] — Berlin/West — Regie: G. Friedrich 1988 —[H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Basel — Regie: D. Gotscheff 1988 —[Antigone-Übersetzung] — Freiburg i.Br. — Regie: L. Stefanek 1988 —[H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Wien — Regie: M. Langhoff 1988 —[E. Jelineks Stück Wolken.Heim.] — Bonn — Regie: H. Hoffer 1988 —[Aus der Antigone-Übersetzung] — Bochum — Regie: P. Mussbach 1988 —[Empedokles-Fragmente] — Wien — Regie: P. Schütz 1988 —[H. Müller, Der Lohndrücker] — Berlin/Ost — Regie: H. Müller 1989 —[B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Chur — Regie: F. Bennewitz 1989 —[U. Saegers Empedokles-Stück] — Osnabrück — Regie: G. Moniac 1989 —[Antigone-Übersetzung] — Bad Hersfeld — Regie: Edgar Selge; Bearb.: M. Walser u. E. Selge 1990 —[Empedokles-Fragmente] — Düsseldorf — Regie: H. Heyme 1990 —[Antigone-Übersetzung] — Reutlingen — Regie: E. Teilmanns; Bearb.: M. Walser u. E. Selge 1991 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Berlin — Regie: J.-M. Straub u. D. Huillet 1991 — [B. Madernas Hyperion-Oper] — Paris — Regie: K. M. Grüber u. G. Aillaud

Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen | 565

1992 — [alle Theatertexte F. Hölderlins] — Parma u.a. — Regie: M. F. Maestri u. F. Pittitto 1992 — [Ödipus-Übersetzung] — Bochum — Regie: D. Hacker 1993 — [E. Jelineks Wolken.Heim.] — Wien — Regie: M. Wallner 1993 — [E. Jelineks Wolken.Heim.] — Hamburg — Regie: J. Wieler 1993 — [Empedokles-Fragmente] — Segesta — Regie: R. Guicciardini 1994 — [Antigone-Übersetzung] — Magdeburg — Regie: H. Rühle; Bearb.: M. Walser u. E. Selge 1995 — [Empedokles-Fragmente] — Bern — Regie: G. Heinz 1996 — [Antigone-Übersetzung] — Hamburg — Regie: J. Flimm 1996 — [Antigone-Übersetzung] — Solothurn — Regie: Ch. Schlüter 1997 — [Antigone-Übersetzung] — Tübingen — Regie: A. Vornam 1997 — [Antigone-Übersetzung] — Wuppertal — Regie: F.-P. Steckel 1998 —[Ödipus-Übersetzung] — Avignon — Regie: J.-L. Martinelli 2000 — [Antigone-Übersetzung] — Stuttgart — Regie: E. Perrig 2001 —[Antigone-Übersetzung] — Halberstadt — Regie: M. Kreuzfeldt; Bearb.: M. Walser u. E. Selge 2001 —[Antigone-Übersetzung] — Bern — Regie: E. Köhler 2001 —[Ödipus-Übersetzung] — Hamburg — Regie: J. Bosse 2002 — [Antigone-Übersetzung] — Düsseldorf — Regie: A. Badora; Bearb.: M. Walser u. E. Selge 2003 — [Antigone-Übersetzung] — Oldenburg — Regie: L. Chétouane 2003 — [Antigone-Übersetzung] — Frankfurt a.M. — Regie: W. Golomka 2004 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Prato — Regie: F. Tiezzi 2005 — [Ödipus-Übersetzung] — Kassel — Regie: J. Gosch 2005 — [E. Jelineks Wolken.Heim.] — Berlin — Regie: C. Peymann 2005 — [H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Würzburg — Regie: S. Suschke 2006 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Berlin — Regie: G. Tabori 2007 — [Empedokles-Fragmente] — Tübingen — Regie: Ch. Schlüter — 2008 — [Empedokles-Fragmente u. B. Brechts Fatzer] — Köln — Regie: L. Chétouane 2008 — [Antigone-Übersetzung] — Hamburg — Regie: Albert Lang; Bearb.: M. Walser u. E. Selge 2008 — [Antigone-Übersetzung] — Düsseldorf — Regie: D. Yazdkhasti; Bearb.: M. Walser u. E. Selge 2008 — [P. Ruzickas u. P. Mussbachs Hölderlin-Oper] — Berlin — Regie: Th. Fischer 2008 — [Hyperion u. Antigone-Übersetzung] — Berlin — Regie: J. Bosse 2009 — [Antigone-Übersetzung u. H. v. Hofmannsthals Elektra] — Berlin — Regie: W. Schroeter 2009 — [H. Müllers Ödipus-Bearbeitung] — Hamburg — Regie: D. Gotscheff 2011 — [B. Brechts Antigone-Bearbeitung] — Hamburg — Regie: D. Gotscheff 2012 — [Empedokles-Fragmente] — Avignon — Regie: R. Castellucci 2013 — [Hyperion] — Berlin — Regie: R. Castellucci 2015 — [Ödipus-Übersetzung] — Berlin — Regie: R. Castellucci

Inszenierungen ohne Hölderlin-Bezug 1782 — F. Schiller, Die Räuber — Mannheim — Regie W. H. v. Dalberg 1799 — F. Schiller, Wallenstein (Wallensteins Tod) — Weimar — Leitung: J. W. Goethe 1802 — Euripides, Ion — Weimar — Leitung: J. W. Goethe; Bearb.: A. W. Schlegel 1802 — J. W. Goethe, Iphigenie auf Tauris — Weimar — Leitung: J. W. Goethe; Bearb.: F. Schiller 1802 — F. Schlegel, Alarcos — Weimar — Leitung: J. W. Goethe 1803 — F. Schiller, Die Braut von Messina — Weimar — Leitung: J. W. Goethe 1809 — Sophokles, Antigone — Weimar — Leitung: J. W. Goethe; Übers.: J. F. Rochlitz 1841 — Sophokles, Antigone — Potsdam — Regie: L. Tieck; Übers.: J. J. Ch. Donner 1875 — Sophokles, Antigone — Wien — Regie: H. Laube; Übers.: J. J. Ch. Donner u. A. Wilbrandt 1881 — Sophokles, Antigone — Wien — Regie: F. v. Dingelstedt; Übers.: J. J. Ch. Donner

566 | Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen

1886 — Sophokles, König Ödipus — Wien — Regie: A. Wilbrandt; Übers.: A. Wilbrandt 1910 — Sophokles, König Ödipus — München — Regie: M. Reinhardt; Übers.: H. v. Hofmannsthal 1913 — Sophokles, Antigone — Köln — Regie: H. Werckmeister; Übers.: J. J. Ch. Donner 1918 — W. Hasenclever, Der Sohn — Mannheim — Regie: R. Weichert 1919 — W. Hasenclever, Antigone — Frankfurt a.M. — Regie: R. Weichert 1920 — W. Hasenclever, Antigone — Berlin — Regie: K. Martin 1922 — J. Cocteau, Antigone — Paris — Regie: Ch. Dullin 1926 — B. Brecht, Mann ist Mann — Darmstadt — Regie: J. Geis 1931 — B. Brecht, Mann ist Mann — Berlin — Regie: B. Brecht u. E. Engel 1936 — Aischylos, Orestie — Berlin — Regie: L. Müthel; Übers.: U. v. Wilamowitz-Moelledorff 1940 — Sophokles, Antigone — Berlin — Regie: K. H. Stroux; Übers.: R. Woerner 1943 — W. Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig — Wien — Regie: L. Müthel 1944 — J. Anouilh, Antigone — Paris — Regie: A. Barsacq 1945 — F. Grillparzer, Sappho — Wien — Regie A. Rott 1945 — F. u. P. Schöntan, Der Raub der Sabinerinnen — Berlin/West — Regie E. Legal 1945 — Sophokles, Antigone — Köln — Regie: K. Pempelfort 1946 — Sophokles, König Ödipus — Berlin — Regie: K. H. Stroux; Übers.: H. Weinstock 1947 — W. Borchert, Draußen vor der Tür — Hamburg — Regie: W. Liebeneiner 1949 — B. Brecht, Mutter Courage und ihre Kinder — Berlin/Ost — Regie: B. Brecht u. E. Engel 1949 — B. Brecht, Herr Puntila und sein Knecht Matti — Berlin/Ost — Regie: B. Brecht u. E. Engel 1952 — Sophokles, König Ödipus — Darmstadt — Regie: G. R. Sellner; Übers.: W. Schadewaldt 1952 — J. Anouilh, Antigone — Freiburg i.Br. — Regie: K. Hübner 1952 — J. Becher, Winterschlacht — Praha — Regie: E. F. Burian 1955 — J. Becher, Winterschlacht — Berlin/Ost — Regie: B. Brecht u. M. Wekwerth 1964 — H. Kipphardt, In der Sache J. R. Oppenheimer — Berlin/West — Regie: E. Piscator 1965 — Sophokles, Antigone — Wiesbaden — Regie: H. Heyme; Übers.: W. Schadewaldt 1965 — P. Wess, Die Ermittlung — Berlin/West — Regie: E. Piscator 1966 — F. Schiller, Die Räuber — Bremen — Regie: P. Zadek 1968 — B. Brecht u. A. Seghers, Il processo di Giovanna d’Arco — Milano — Regie: K. M. Grüber 1968 — H. Müller, Philoktet — München — Regie: H. Lietzau 1968 — Sophokles, König Ödipus — Köln — Regie: H. Heyme; Übers.: W. Schadewaldt 1968 — T. Dorst, Toller — Stuttgart — Regie: P. Palitzsch 1968 — C. Orff, Prometheus — Berlin/West — Regie: G. R. Sellner 1969 — A. Adamov, Off Limits — Milano — Regie: K. M. Grüber 1969 — J. W. Goethe, Torquato Tasso — Bremen — Regie: P. Stein 1970 — Sophokles, Antigone — Köln — Regie: H. Heyme; Übers.: W. Schadewaldt 1970 — P. Weiss, Trotzki im Exil — Düsseldorf — Regie: H. Buckwitz 1972 — Ő. v. Horváth, Geschichten aus dem Wiener Wald — Berlin/West — Regie: K. M. Grüber 1972 — Sophokles, Antigone — Karl-Marx-Stadt — Regie: unbekannt; Übers.: J. J. Ch. Donner 1974 — Euripides, Backchen — Berlin/West — Regie: K. M. Grüber 1975 — J. W. Goethe, Faust — Paris — Regie: K. M. Grüber 1978 — H. Müller, Germania Tod in Berlin — München — Regie: E. Wendt u. J. Schütz 1979 — H. Müller, Die Hamletmaschine — Essen — Regie: C. Bodinus 1979 — Sophokles, Ödipus auf Kolonos — Frankfurt a.M. — Regie: H. Neuenfels; Übers.: E. Buschor 1980 — Sophokles, Ödipus auf Kolonos — Wien — Regie: G. Friedrich 1983 — H. Müller, Philoktet — Sofia — Regie: D. Gotscheff 1984 — F. Jung, Nostalgia — Milano — Regie: K. M. Grüber 1984 — J. Racine, Bérénice — Paris — Regie: K. M. Grüber 1988 — Sophokles, Empedokles u.a., La medesima strada — Milano — Regie: K. M. Grüber

Verzeichnis der erwähnten Inszenierungen | 567

1988 — J. W. Goethe, Iphigenie auf Tauris — Berlin/West — Regie: K. M. Grüber 1990 — H. Müller, Die Hamletmaschine — Berlin — Regie: H. Müller 1991 — H. Müller, Mauser — Berlin — Regie: H. Müller 1991 — Aischylos, Die Perser — Berlin — Regie: Ch. Nel; Bearb.: H. Müller 1994 — J. Genet, Splendid’s — Milano — Regie: K. M. Grüber 2006 — Aischylos, Die Perser — Berlin — Regie: D. Gotscheff; Bearb.: H. Müller

Namensregister Abeken, Bernhard Rudolf 70–72, 74, 76 Abendroth, Walter 358 Ackermann, Ernst Wilhelm 150–152 Adamov, Arthur 465 Adorno, Theodor Wiesengrund 213, 303, 317, 345, 347 Adt, Wilhelm 188, 282–286 Agis IV., König von Sparta 23f. Aillaud, Gilles 465 Aischylos 7, 17f., 62f., 188, 295, 365, 390, 487 Albert, Claudia 217f., 257f., 260, 262f., 265, 267, 269f., 279, 291, 307f., 344f., 381 Alighieri, Dante VII, 188, 410, 415–417, 422– 424 Alkaios 19 Alt, Karin 365 Alt, Peter-André 15, 213, 220 Ammann, Josef 186 Ammon, Frieder von 354, 435 Amundsen, Roald Engelbregt Gravning 455 André, Alf 362 Angres, Dora 259 Annuß, Evelyn 509–513 Anouilh, Jean 312, 339, 371, 492 Anschütz, Ludwig 379 Appia, Adolphe 253 Arendt, Hannah 511 Aristophanes 510 Aristoteles 16, 45, 54, 153, 173, 313 Arnim, Bettina von siehe Brentano, Bettina Arnim, Joachim (Achim) Erdmann von 2, 18, 84–92, 95–97, 100f., 103–106, 115f., 135, 137f., 144–150, 152, 155, 166, 196, 205, 511 Arnold, Karl 365 Arnold, Matthew 153–155, 166f. Artaud, Antonin 35, 60, 429f. Asmus, Walter D. 486, 500 Asse, Eugène 154 Auberleben, Karl 75 Autenrieth, Johann Heinrich Ferdinand 411f. Baader, Andreas 493, 514 Babelon, André 259 Babich, Babette E. 156 Bacchi, Barbara 476 https://doi.org/10.1515/9783110584714-007

Bachtin, Michail Michailowitsch (Michail Michajlovič Bachtin) 514 Bäcker, Annette 498 Bäcker, Paul 498 Badora, Anna 503 Baillot, Anne 70f., 78 Bailly, Jean-Christophe 465 Baldo, Dieter 297 Balme, Christopher 3f., 516 Banchelli, Eva 450 Bandelow, Wiebke 81 Baratta, Vladimir 468 Barison, David 488 Barkhoff, Hermann 239 Barlog, Boleslaw 383 Barner, Wilfried 300–302, 321, 440 Barnett, David 299 Bartsch, Kurt 224 Bartscher, Werner 126, 260, 265 Batz, Michael 115 Bauer, Hans 356 Baur, Detlev 313 Beaufret, Jean 262 Becher, Johannes 224, 308–310, 345f., 453 Beck, Adolf 7, 24, 43, 45, 67, 71, 75, 79–81, 83, 86–88, 90f., 95, 106f., 135, 138, 144–152, 265, 344 Beck, Julian 334, 373, 428–430 Beck, Rainer 430 Becker, Peter von 451, 462 Beckett, Samuel 450, 456, 458, 471, 502 Beethoven, Ludwig van 163, 239 Behre, Maria 435 Beise, Arnd 408f., 413–415, 418 Beisel, Dieter 456 Beißner, Friedrich 8, 20, 24, 40, 73, 75, 133, 135–138, 143, 200, 205, 218, 260, 264– 267, 274, 276, 343f., 348f., 354, 364, 377f., 380–382, 453, 470–472, 502 Belli-Gontard, Maria 81 Benjamin, Walter 27, 188, 213, 217, 220– 223, 230, 307, 363, 391, 400, 407, 442, 511 Benn, Gottfried 213 Bennewitz, Fritz 360, 499

570 | Namensregister

Bennholdt-Thomsen, Anke IX, 11, 25, 27, 38, 45, 54, 306 Benninghoff, Ludwig 302, 351–355 Benoist, Alain de 262 Berg, Günter 306 Berghahn, Klaus L. 426 Bergmann, Harald 527 Bergner, Elisabeth 243–245 Berlau, Ruth 297, 302, 313–315, 318 Berman, Antoine 54 Bernhard, Thomas 418 Bertallot, Hans-Werner 211 Bertaux, Pierre 33, 331, 347f., 381, 410–412, 416, 432, 457, 473, 489, 491 Bertram, Ernst 216 Beschen, Felix 499 Besson, Benno 299, 341, 357, 361, 370, 373, 384f., 388–390, 392, 396, 399, 403, 476f., 480f., 483, 485–487, 495 Bettina siehe Brentano, Bettina Betzen, Klaus 383 Beyer, Uwe 162f. Bianchi, Bruna VII Bianco, Franco 115 Bianquis, Geneviève 347 Binder, Wolfgang 39, 274 Birkenhauer, Theresia 17, 19f., 23, 28f., 36, 387, 391, 439f., 442, 450, 452, 500– 502, 529 Blackie, John Stuart 154 Blanchot, Maurice 262, 488 Bleyl, Hansjoachim 459 Blumenthal, Herbert 220 Böckh, August 70 Böckmann, Paul 276 Bodenhausen, Dora von 197 Bodenhausen, Eberhard von 197 Bodinus, Carsten 497 Bodisco, Dirk von 471 Boehringer, Robert 211f. Boetius, Susanne 68, 70, 72, 78 Böhlendorff, Casimir Ulrich 9, 20, 37, 39, 41, 43f., 53, 56, 59–61, 184, 222 Böhm, Karl 277 Böhm, Wilhelm 49, 69, 117, 125–128, 130, 144, 181, 189f., 207, 228, 266 Bohnenkamp, Klaus E. 214, 217 Boileau, Nicolas 57 Böll, Heinrich 490, 493

Bonnerot, Louis 155 Borchardt, Peter 457, 484 Borchardt, Rudolf 129–131 Borchert, Wilhelm 383 Borchert, Wolfgang 279, 339 Borkenstein, Susette (Susette Gontard) 65, 81, 156f., 259, 418 Bosch, Manfred 204 Böschenstein, Bernhard 19, 46, 49f., 55, 184 Bosse, Jan 525, 529 Bosse, Jürgen 436 Bothe, Henning 69, 95, 103f., 107, 109f., 112, 140, 143, 156, 159, 162, 216, 219, 257, 266, 344 Braak, Kai 373–375 Brahm, Otto 122 Brahms, Johannes 92, 441 Braun, Hanns 358 Braun, Karlheinz 359 Braun, Oskar 270 Braun, Volker 428, 436–439, 443 Brauneck, Manfred 236, 239, 243f., 254, 256, 278f., 339–342, 344, 346, 356, 429, 448, 451, 462, 493 Braungart, Georg 385 Brecht, Bertolt VII, 3, 12, 35, 52, 73f., 153, 200, 206, 220, 222f., 248, 279, 290, 292, 296–340, 342, 346, 349–355, 357–364, 366–371, 373, 375, 378, 384– 403, 405–408, 418, 422, 425f., 428– 431, 437, 441–443, 447, 449, 465f., 468, 475–481, 487, 489, 491, 494, 496–499, 504f., 507f., 513, 516f., 519, 521–525, 527f. Brecht, Stefan 297f., 311f., 314, 316, 318, 321, 326, 337, 429 Brecht, Ulrich 372–375, 487, 492 Bremer, Claus 342, 373–375, 482 Brentano, Clemens 84, 86, 89, 92, 95f. Brentano, Bettina eig. Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano 2, 63, 76, 79, 88–107, 113, 115–117, 121, 125, 128, 148, 150, 161, 201, 211f., 261, 363, 434 Breuer, Dieter 435 Breunlin, Karl Heinrich Friedrich (Hölderlins Neffe) 83 Breunlin, Maria Eleonora Heinrica (Rike; Hölderlins Schwester) 65

Namensregister | 571

Briese, Gerd 379 Brittnacher, Hans Richard IX Brobjer, Thomas H. 159, 162 Brock, Erich 376 Bruckmann, Else 212 Bruckner, Joseph Anton 233 Brück, Max von 287 Brügger, Andreas 328 Buber, Martin 219 Buchheim, Iris 261f., 264 Buchmann, Heinrich 370 Buck, Theo 301, 303, 307, 326, 385, 387, 403 Buckwitz, Harry 342, 408 Buglioni, Chiara Maria 465 Bühr, Siegfried 430, 497 Buhre, Traugott 372 Bultmann, Rudolf 293 Bunge, Hans (auch: Hans-Joachim) 301f., 307, 319, 324, 326, 359 Burdorf, Dieter 348, 518f. Burkhardt, Barbara 497 Burwick, Frederick (auch: Fred L.) 80, 149, 155 Buschor, Ernst 483 Buxtehude, Dietrich 377 Byg, Barton 468, 476 Caduff, Corina 509, 518 Caffier, Matthias 497 Campe, Rüdiger 17, 35f. Canaris, Volker 413, 426, 428 Carl, Hans 193 Carriere, Moriz 91, 96, 100 Carstensen, Margit 372 Carstensen, Uwe B. 450 Caspari, Carlheinz 274, 370, 379 Casper, Werner 430 Castellari, Giorgio X Castellari, Marco 43, 68f., 75, 82, 84, 102, 104, 110, 112, 126f., 134, 139f., 142f., 154, 158, 161, 187, 222, 246, 257, 299, 301f., 306, 310f., 318, 335, 345, 347f., 360, 385f., 389–391, 394, 397f., 402, 410, 415, 417, 422, 440, 444, 448, 451, 465f., 476, 512, 525, 528 Castellucci, Romeo 461, 526, 530 Cavallo, Tommaso 476 Celan, Paul 511, 518 Cercignani, Fausto VIII

Challemel-Lacour, Paul Armand 142 Chancellor, Gary 312 Char, René 453 Che Guevara siehe Guevara de la Serna, Ernesto Rafael Chétouane, Laurent 458, 525f., 529f. Chiarini, Paolo 15 Chiarloni, Anna 303 Christiansen, Rolf 371 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch (Nikita Sergeevič Chruščëv) 398 Clever, Edith 372 Cocteau, Jean 249 Colli, Giorgio 164 Constantine, David 476 Conz, Carl Philipp 16, 24, 30, 134 Cordibella, Giovanna 259, 465 Corngold, Stanley 33, 157, 163 Corssen, Meta 500 Cosentino, Christine 437, 439 Crăciun, Joana 411, 413, 415, 416, 418, 420f., 423f., 490 Cromwell, Oliver 445 Curjel, Hans 298, 312, 316, 327, 336 Curti, Theodor 186 Czinner, Elisabeth siehe Bergner, Elisabeth Czinner, Paul 244 Daiber, Hans 429 Danegger, Josef (eig. Josef Deutsch) 243 Dante siehe Alighieri, Dante Dastur, Françoise 39 de Flavigny, Cosima 171 Degenfeld, Ottonie von 197 Deharde, Gustav 356 Dehl, Hans 455 Delorme, Maurice 347 Delpy, Egbert 291 Demokrit 172 Dermutz, Klaus 450, 452 Deutsch, Michel 488f., 495 Devrient, Emil 81 Diebold, Bernhard 237 Diederichs, Eugen 126, 128 Diehl, Hans 456 Diehl, Siegfried 493 Diels, Hermann 153, 185f., 190 Diest, Heinrich von 79, 83 Dieterle, Wilhelm 243f.

572 | Namensregister

Dilthey, Wilhelm 2, 69, 108, 110–117, 126, 144, 153, 156, 178, 180–183, 189, 193, 195, 207, 211, 213, 216, 218, 220, 273 Diogenes Laertius (auch: Laërtius) 32, 167, 173f. Distelmann, Dietrich 252 Doering, Sabine 299, 301f., 317, 319, 321, 323, 331 Donner, Johann Jakob Christoph 63, 28, 93f., 107, 215, 244, 246, 487 Doppler, Bernhard 525 Dorst, Tankred 418 Dreier, Jürgen 356 Drewniak, Bogusław 256f. Drews, Arthur 156, 176 Drews, Wolfgang 369 Dreyer, Matthias 297, 300, 303f., 306, 329– 331, 390, 486 Duarte, Bruno 488 Düren, Fred 396 Dürrenmatt, Friedrich 339 Düssel, Karl Konrad 135, 231 Dwars, Jens-Fietje 345, 408 Ebel, Johann Gottfried 31 Ebert, Carl 237, 239 Eckert, Daniel 511 Edmenger, Elisabeth 207 Ehrenstein, Albert 217, 224f., 228–230, 243–245 Eich, Günther 354 Eidlitz, Walther 224 Eisler, Hanns 257, 260, 301, 307, 310, 401 Elwood, William R. 313 Emden, Christian J. 115 Emigholtz, Erich 495 Emmerich, Wolfgang 387, 389, 400, 403, 432, 436, 443 Empedokles 1, 16, 17, 20, 25, 31f., 36, 123, 132–134, 137, 140, 144f., 148–155, 158, 163–177, 179–181, 183–186, 191–197, 208–210, 235, 237, 239–241, 247, 270, 272–274, 277–280, 282, 284f., 306, 375, 377, 379f., 424–427, 436–441, 444–448, 452f., 455–460, 462, 464– 466, 468, 471–475, 526 Engel, Erich 351, 368 Engels, Friedrich 328

Ennen, Jörg 200, 242, 253, 273, 276–278, 280, 287, 366, 379f., 383, 450, 452, 473, 491–495, 506, 525, 527 Ensslin, Gudrun 493, 514 Eötvos, Peter 465 Ermatinger, Emil 378 Ernst, Paul 99, 110, 126–128, 131, 204f. Esser, Peter 276 Euripides 7, 16, 18f., 46f., 63, 172, 358 Ewert, Max 118 Faggin, Giuseppe 259 Farré, Maurici 477 Faschina, Andreas 474 Fassbinder, Rainer Werner 371 Fédier, François 262 Fehervary, Helen 307, 309, 345, 377, 387, 401f., 411, 434f. Fehling, Jürgen 253, 368 Feller, Gerd Udo 500 Felsenstein, Walter 368 Fend, Franz 519 Fenves, Peter 221 Fetscher, Justus 221 Feuchtwanger, Lion 312, 315 Fichte, Johann Gottlieb 418, 420, 510f., 513 Fioretos, Aris 54 Fischer, Johann Georg 65, 75 Fischer, Thorsten 527 Fischer, Walter Boris 280 Fischer-Lichte, Erika 4 Flashar, Hellmut 39, 63f., 68, 200, 223, 226–228, 244–246, 249–253, 287f., 291–294, 299, 301f., 312, 318f., 321, 323, 329, 344, 351–354, 356f., 360, 362–369, 371–374, 387, 389, 403, 429, 475–479, 483–491, 493, 495f., 498– 501, 503, 505, 527 Flimm, Jürgen 529 Flörchinger, Martin 360 Fontane, Theodor 69, 82, 102, 110 Fontheim, Joachim 360 Forches, Hartmut H. 430 Fornaro, Sotera 225–228, 313, 350, 490 Forster, Friedrich (Pseudonym von Waldfried Burggraf) 260f., 383 Förster-Nietzsche, Elisabeth 159, 165, 179 Forte, Luigi 311 Fouqué, Friedrich, Baron de la Motte 189

Namensregister | 573

Franco, Francisco eig. Francisco Paulino Hermenegildo Teodúlo Franco y Bahamonde Salgado Pardo 459 Frankenberg, Alex von 251 Franz, Michael 12, 37, 42 Freud, Sigmund 263, 483 Frick, Wilhelm 294 Frick, Werner 2, 63, 187f., 193, 248, 299– 301, 303, 318–324, 329, 331 Friedrich Wilhelm VI., König von Preußen 93 Friedrich, Caspar David 455, 458, 474 Friedrich, Götz 476, 481, 483f. Friedrich, Hans-Edwin 255 Friedrich, Heinz 371 Friedrich, Maria 371 Frisch, Max 339 Fritsch, Gerolf 303, 321 Fritzsche, Max 276 Furness, Raymond 187 Fynsk, Christopher 45 Gaède, Edouard 167, 169, 171, 175 Gaese, Heinrich 362 Gaier, Ulrich 11, 13f., 24, 29, 33, 42, 69, 81, 84, 103, 126, 150, 188f., 502 Gaismaier, Josef 81 Gans zu Putzlitz, Joachim 230 Ganz, Bruno 372, 418, 450, 455f., 459, 465 Gaskill, P. Howard 225 Gaugler, Hans 499 Gaul-Ferenschild, Hartmut 265 Geibel, Emanuel 99 Geier, Andrea 511, 515, 518 Genet, Jean 465 Genette, Gérard 2, 165, 187, 248, 317, 320, 322 George, Stefan 126f., 156, 189, 195s., 212f., 215–217, 219, 224,257, 259, 261, 266f., 295, 308, 310 Gerlach, Amadeus 369 Gerlach, Rainer 415, 422 Gerlach, Vorname unbekannt 379 Gerz, Raimund 310 Gesse, Sven 503 Ghiglione, Alessandra 313 Gieseler, Eberhard 282, 383 Gilardoni-Büch, Karin Birge X Ginsberg, Ernst 355, 377–379 Giraudoux, Jean 339 Glaser Wagner siehe Wagner, Johann Georg

Glaser, Rudolf 233 Gliese, Rochus 239, 292 Gluck, Christoph Willibald 233, 277 Gnekow, Horst 359 Gnosa, Ralf 204 Gnüg, Hiltrud 435 Gock, Johanna (auch: Gok) siehe Heyn, Johanna Christiana Gock, Karl (Hölderlins Stiefbruder), auch: Carl, auch: Gok 8f., 11, 18,31, 33, 64, 83, 163, 174, 439 Goebbels, Joseph 255, 257, 284, 278, 294 Goethe, Johann Wolfgang von (auch: Göthe) VII, 8, 15, 23, 29, 33–35, 37, 61–64, 68, 70f., 74, 78, 87, 89, 92, 95, 111, 112, 119, 122, 125, 138, 143, 147, 151, 163, 173, 180, 181, 201, 223, 298, 308–310, 320, 322, 339, 418, 420, 450 Goetz, Rainald 517 Göhler, Antje 225–228 Gold, Käthe 356 Golomka, Wanda 528 Golosowker, Jakow Emanuilowitsch (Jakov Ėmmanuilovič Golosovker) 259 Göltzsche, Dieter 384 Gontard, Jakob Friedrich 81, 418 Gontard, Susette siehe Borkenstein, Susette Göpfert, Peter Hans 455 Gorella, Arwid 384 Gorgias 186 Göring, Herrmann 278, 294 Görner, Rüdiger 153, 213 Görres, Joseph 84, 86, 511 Gosch, Jürgen 447, 484–486 Gotscheff, Dimiter 486, 528 Gottsched, Johann Christoph 24 Götze, Will 287 Gracchus, Gaius Sempronius 24 Gracchus, Tiberius Sempronius 24 Graef, Botho 118, 123, 125, 129, 131, 189 Graef, Sabine 125f., 129, 189 Grätz, Katharina 137, 143 Gregori, Maria Grazia 464 Greiffenhagen, Gottfried 372 Greiner, Bernhard 411, 416, 434 Greiner, Wolfgang 383 Greisenegger-Georgila, Vana 279 Grillparzer, Franz 338 Grimm, Reinhold 299, 302

574 | Namensregister

Gronius, Jörg W. 470, 498 Grub, Willy 371 Grüber, Klaus Michael 3, 344, 346, 349, 368, 432, 442, 447–475, 488, 491, 493, 495, 521, 523–526 Gründgens, Gustav 255, 278, 341f., 357 Grüntzig, Walter 274, 379 Grüsser, Otto-Joachim 80f. Guardini, Romano 156 Günderrode, Caroline von 88–91, 96, 432 Günther, Friederike Felicitas 115 Günther, Timo 184 Guevara de la Serna, Ernesto Rafael (Che Guevara) 426, 436, 437–439, 446, 459 Gugisch, Peter 435 Guicciardini, Roberto 466 Gundolf, Friedrich 216 Gurlitt, Gottfried 74 Gutzkow, Karl 81 Haag, Ingrid 321 Haase, Marie-Luise 177 Hacker, Dieter 529 Hacks, Peter 392f. Hadank, Günther 277f., 280 Hähnel, Ingrid 439 Hamberger, Georg Christoph 16 Hamburger, Mike 391 Hamlin, Cyrus 29, 33, 46 Hammer, Ellen 461 Hammerstein, Dorothee 500 Händel, Georg Friedrich 377 Handke, Peter (Regisseur) 487 Handke, Peter (Schriftsteller) 517 Händler, Rolf 384 Hanenberg, Peter 443 Hanke, Willi 277 Hardenberg, Friedrich von siehe Novalis Hardt, Friedrich Wilhelm Ernst 2, 117–132, 234–236 Harrison, Antony H. 155 Härtling, Peter 435 Hartmann, Moritz 81 Hartmann, Petra 105 Hartung, Gustav 250 Hasenclever, Walter 217, 223–230, 236, 238, 282,292, 313 Haß, Ulrike 509, 512, 514 Håstad, Disa 418 Hattesen, Benno 287, 290, 356

Haug, Friedrich 61 Hauptmann, Gerhart 256, 299 Haym, Rudolf 109f., 142f., 179–181 Hebbel, Friedrich 256 Hecht, Werner 296–299, 301f., 305, 312, 315f., 318, 320, 322f., 327f., 331, 335, 340, 359, 507 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 8, 25f., 42, 61, 70, 75–77, 79, 83, 100, 115, 153, 180f., 315, 412, 419f., 425f., 511, 513 Hegemann, Carl 458, 497 Heidegger, Martin 163, 257, 261–265, 317, 342f., 345, 365f., 488, 511, 513, 515, 517, 520 Heidler, Irmgard 126 Heine, Heinrich 461 Heinle, Christoph Friedrich 220 Heinold, Wilhelm 275 Heinrich, Helmut T. 436 Heinse, Wilhelm (auch: Heinze) 98, 61 Heinz, Gerd 525 Helbig, Karl Gustav 139 Hellingrath, Norbert von 2, 27, 49, 51f., 55, 81, 83, 99, 111, 117, 125–127, 129, 131f., 156, 184, 195f., 201f., 211–223, 225, 228, 230, 240, 242, 246, 248, 253, 257f., 260f., 264, 268, 271, 290, 301f., 323, 326, 362, 367 Hellmer, Artur 351 Helmdach, Heinz 270, 288 Hemsterhuis, Franz 98 Henkel, Karin 473 Henneguy, Félix 154, 171 Henrichs, Helmut 249, 287, 356, 358 Hensel, Georg 366f., 455–458, 492 Hensel, Paul 191 Heraklit 153, 172, 190, 369, 465 Herder, Johann Gottfried 70, 78, 511 Hering, Gerhard F. 360 Hermlin, Stephan 411, 428, 434f., 446 Herrmann, Max 4 Herterich, Fritz 274, 380, 382 Hertmans, Stefan 523 Herwegh, Georg 107f., 151f. Herwig, Curt 276 Hess, Frank 502 Hettner, Hermann 143 Heuschele, Otto 218f., 265

Namensregister | 575

Heyme, Hansgünther 469, 472–475, 487, 508, 524 Heyn, Johanna Christiana, Hölderlins Mutter 9, 23, 31, 33, 65, 80, 83 Heyse, Hans-Joachim 373, 481, 484 Hieß, Carl 239 Hildebrandt, Kurt 131, 156, 211f., 214 Hiller, Marion 26 Hilpert, Heinz 255, 278–280, 342, 351f., 382 Hindemith, Paul 260 Hinderer, Walter 15 Hinz, Werner 356 Hippe, Christian 385f., 389–391, 393f, 397, 402f., 440 Hirschfeld, Kurt 338 Hitler, Adolf 254, 279, 294f., 309, 321, 403, 433, 497 Höbel, Wolfgang 500 Hobson, Irmgard 459 Hochhuth, Rolf 346 Hofer, Wolfgang 476 Hoffer, Hans 508, 521 Hoffmann, Dierk Ο. 260, 271 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 432 Hoffmann, Heinrich 279 Hoffmann, Paul (Philologe) 216 Hoffmann, Paul (Schauspieler und Regisseur) 276 Hoffmann, Rudi 274 Hoffmann, Wilhelm 274 Hoffmann-Harnisch, Wolfgang 253 Hoffner, Wilhelm (Pseudonym von Wilhelm Dilthey) 111 Hofmannsthal, Hugo von 183–185, 189, 195, 197f., 217, 227, 245f., 525 Hölderlin, Johanna Christiana siehe Heyn, Johanna Christiana Hölderlin, Maria Eleonora Heinrica (Rike) siehe Breunlin, Maria Eleonora Heinrica (Rike) Holliger, Erich 362 Holmes, Terence M. 438f. Holtzmann, Thomas 369, 495 Holy, Fritz 430 Hölzer, Ernst 164f. Homer 12, 19, 24, 30, 43f., 211 Honegger, Artur 249 Honold, Alexander 220 Hoppe, Marianne 357, 369

Höppner, Joachim 360 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 19 Horn, Christian 299, 303, 321 Horn, Fritz 38 Hörnigk, Frank 384f. Horváth, Ődőn von 450 Hötzer, Ulrich 139 Huber-Lang, Wolfgang 519 Hübner, Kurt 346, 371–373, 450, 477, 492 Hühn, Helmut 42, 153, 397 Huillet, Danièle 429, 442, 467–470, 476, 480, 528 Huller, Eva C. 384, 387, 398, 400, 403 Hulshöfer, Robert 266 Humboldt, Wilhelm von 62 Hutcheon, Linda 3 Hyppolite, Jean 262, 488 Ibsen, Henrik 123, 125, 369, 509 Iden, Peter 408, 451, 456f., 483, 492 Ihering, Herbert 237, 360 Ilgenstein, Heinrich 224 Iwersen, Rainer 430, 497 Jacob, Joachim 217 Jacobi, Johannes 357, 373 Jaeckle, Erwin 191, 193 Jaeger, Dagmar 510 Jäger, Gerd 480 Jamme, Christoph 54, 217 Janke, Pia 509f., 512, 514 Jannings, Emil 341 Jans, Hans Jörg 279, 352 Janz, Marlies 213, 220, 509f., 512, 514 Japp, Uwe 418, 420 Jean Paul (Pseudonym von Johann Paul Friedrich Richter) 432 Jeker, Valentin 430, 490, 492 Jelinek, Elfriede 3, 200, 263, 315, 442, 469, 480, 508–523, 526 Jeske, Wolfgang 306 Jeßner, Leopold 239, 278 Joachimi-Dege, Marie 49, 144, 207 Johac, Helmuth 112, 115 John, Joachim 384 Joost, Jörg Wilhelm 297, 299, 312, 320 Jünger, Ernst 376 Jürgens, Helmut 356 Jung, Alexander 99, 101–104, 115–117, 137, 140–142, 150, 159, 161 Jung, Franz 465

576 | Namensregister

Jungbauer, Hans 270, 278 Kachler, Karl Gottlieb 294, 316, 362 Kafka, Franz 415, 502 Kahlefendt, Nils 267f. Kaiser, Gerhard 219, 257, 267–269 Kaiser, Joachim 455, 457f., 482f. Kalb, Charlotte von 79, 418 Kalb, Edda von 79 Kalb, Heinrich von 418 Kantorowicz, Gertrud 189 Kaplan, Stefanie 511, 513–519 Karl Eugen, Herzog von Württemberg 418, 425 Karsten, Simon 186 Kasack, Hermann 224 Kasassoglu, Georg 370 Kaspers, Katharina 80, 150 Kässens, Wend 470, 498 Katselis, Pelos 370 Kaulen, Heinrich 77, 109f., 158, 216, 218, 220, 230 Kayser, Karl Georg 497 Kayßler, Friedrich 233 Kehn, Wolfgang 416 Keilberth, Joseph 365 Keller, Eugen 240, 250f., 253, 291 Keller, Louise 453 Kellermann, Karlheinz 380 Kelletat, Alfred 79, 99, 102126, 128, 205 Kerner, Justinus 79–81, 83, 100 Kerr, Alfred 119, 123 Kertbeny, Karl Maria eig. Karl Maria Benkert 93 Kessler, Harry Graf 93 Kesting, Marianne 429 Killmayer, Wilhelm 364 Kindermann, Heinz 200, 219, 233f., 239, 242, 244, 250–253, 265f., 272f., 276, 278, 280, 296, 341 Kindt, Tom 112 Kipphardt, Heinar 346, 398 Kirchner, Ernst Ludwig 125 Kirchner, Werner 410 Kirms, Wilhelmine 425 Kirsch, Mechthild 266 Klein, Alfred 345 Klein, Christian 510, 519 Klein, Gideon 260 Kleinselbeck, Hermann 360

Kleist, Heinrich von 34f., 63, 163, 256, 260, 269, 298, 432, 440, 450, 510f., 513 Kleomenes III., König von Sparta 24 Klessinger, Hanna 510f., 516f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 7, 12 Kluckhohn, Paul 69, 137, 205s., 262, 274, 276 Kluge, Alexander 511 Knigge, Meinhard 49 Knödler, Stefan 129 Knopf, Jan 296f., 305, 307 Koberstein, Karl August 158 Koch, Heinrich 351 Koch, Manfred 80f., 262 Kofman, Sarah 489 Kögel, Fritz 164f. Köhler, Eberhard 528 Köhler, Gerald 366 Kommerell, Max 216, 219, 222 Konrad, Bertram 359 Kopitzki, Siegmund 204 Kordt, Walter 205, 277 Körner, Theodor 15, 511 Koschwitz, Andrea 496, 525 Köstlin, Karl 108f., 143f. Kotsiaros, Konstantinos 225, 313 Kotzebue, August von 74 Kracauer, Siegfried 252 Kranz, Dieter 389 Kranz, Walther 152 Krauel, Martina 491 Krauß, R. 232 Krauß, Werner 295, 341 Kraut, Werner 370 Krell, David Farrel 39, 45, 64, 69, 163 Kreuder, Friedemann 450, 455f., 459, 461f., 465 Kreuzer, Johann 25f., 28, 32, 42, 200 Kreuzfeldt, Malte 503 Krieger, Rudolf 211 Krug, Gustav 160 Kühne, Wolfgang 382f. Kühnemann, Eugen 190 Kümmel, Peter 451f. Kugli, Ana 297 Kunick, Klaus 360 Kurz, Gerhard 57, 143, 217, 221, 234, 257, 261f., 264, 267f., 285 Kux, Manfred 418

Namensregister | 577

Lacoue-Labarthe, Philippe 7, 39, 53f., 142, 262, 476, 488f. Lampe, Jutta 372 Landauer, Christian 23, 61, 65 Landauer, Gustav 225 Lang, Albert 503 Lange, Mechthild 471 Lange, Wilhelm 215 Langhoff, Matthias 486 Laube, Heinrich 68, 87 Lausberg, Marion 305 Lawitschka, Valérie 12, 43, 93, 260, 307, 449 Leber, Wolfgang 384 Lee, Mun-Ki 411 Lefèvre, Eckard 187 Legal, Ernst 238–243, 250, 273, 305 Lehmann, Hans-Thies 384f., 387, 398, 402f., 443, 488f., 509 Lemke, Anja 54 Lenz, Jakob Michael Reinhold 80, 298, 523 Leopardi, Giacomo VII, 177 Lepsius, Reinhold 125f., 129, 189 Lepsius, Sabine siehe Graef, Sabine Lernout, Geert 259, 262f., 435, 465, 488 Lesky, Albin 367 Lessing, Gotthold Ephraim 8, 111, 168, 182, 256, 339 Levin, Rahel 79f. Lewis, Charles 57 Liberda, Bruno 498 Lichtenberger, Henri 190 Lichtenstein, Wolfgang 430 Liebscher, Otto 233, 235f., 250f., 287, 305 Lievi, Cesare 458, 466f., 525 Lievi, Daniele 466f. Ligeti, György 364 Lindner, Burckhardt 221 Lindner, P. 356 Link, Jürgen 14 Liszt, Franz 92f. Litzmann, Berthold 108, 126, 129f., 143f., 181, 190, 207, 277 Litzmann, Carl Conrad Theodor 108f. Lohse, Gerhard 291, 295f. Longhi, Claudio 490 Lorenz, Frieder 430, 497 Löser, Karl 360 Lotringer, Sylvère 388

Louth, Charlie 54 Lubinski, Samuel 204 Lucan, (Marcus Annaeus Lucanus) 19 Lucia, Rosa de 464 Lücke, Bärbel 509 Lücken, Iwar von 225 Luft, Friedrich 457 Lukács, György (auch: Georg) 243, 307, 310, 330, 345, 410, 415 Lukrez, (Titus Lucretius Carus) 306, 328 Lunatscharski, Anatoli Wassiljewitsch (Anatolij Vasil’evič Lunačarskij) 259 Mach, Wolfram 435 Maderna, Bruno 364, 449, 465 Maestri, Maria Federica 524 Mahlmann, August 134 Maja-Antoni, Carmen 499 Malina, Judith 334, 373, 428–430 Mangel, Rüdiger 485f., 500 Manthey, Axel 485 Manuwald, Bernd 393, 404, 406 Marat, Jean-Paul 415, 418 Marbach, Oswald 131, 215 Marinai, Eva 429f. Marion, Jean-Luc 262 Marlowe, Christopher 315 Marquardt, Fritz 485 Marquardt, Winfried 503 Martens, Gunter 112, 155, 133, 178, 214, 218 Martin, Ariane 80, 417 Martin, Karlheinz 226 Martinelli, Jean-Louis 488 Marx, Karl 263, 328, 366, 415, 419, 446 Massa, Pietro 256, 263, 350f., 362f., 365 Matthison, Friedrich von 61 Matthus, Siegfried 483 Maurer, Karl 349 Mayer, Hans 304, 414, 507 Mayer-Pfalz, Kurt 277 Mazzali, Bruno 464 Mehmel, Gottlieb Ernst August 62 Meier, Lars 13 Meins, Holger 514 Menascé, Esther VII Mendelssohn-Bartholdy, Felix 63, 68, 93, 107, 256 Menne, Willem 455 Menzel, Wolfgang 82, 104, 135 Merkel, Garlieb 74

578 | Namensregister

Mertz, Franz 366 Merz, Hermann 239 Metzger, Stefan 348, 453 Meyer, Conny Hannes 430 Meyer, Eduard 190 Meyer, Gerhard 360 Meyer, Hans Georg 189 Meyer, Hans-Joachim 359 Meyer, Jochen 122, 127 Meyer, Katrin 165 Meyerbeer, Giacomo eig. Jakob Liebmann Meyer Beer 92 Michaelis, Paul 282 Michaelis, Rolf 380f., 447, 459, 471f. Michel Mund, Wilhelm 276 Michel, Wilhelm 217–220, 224, 230, 239– 242, 245, 247–253, 271, 273f., 276f., 281f., 286f., 290–292, 295f., 350, 356– 358, 362f., 368, 372, 380, 382, 488, 502 Mieth, Günter 497 Milde, Ralf 502 Minckwitz, Johannes 96, 139, 215 Minder, Robert 347, 410 Minetti, Bernhard 372 Minks, Wilfried 372 Miquel, Jean-Pierre 430 Missenharter, Hermann 135 Mittenzwei, Werner 301f., 307 Moeller van den Bruck, Arthur 288 Moissi, Alexander 237 Molinari, Cesare 313, 351 Moniac, Goswin 443 Mönnich, W.B. 104 Montinari, Mazzino 164 Mörike, Eduard 81, 261 Mottel, Helmut 187 Müllender, Yannick 415, 417 Müller, Adam 35 Müller, André 407 Müller, Christoph 391 Müller, David 111 Müller, Gotthard 360 Müller, Hans-Carl 274 Müller, Hans-Harald 112 Müller, Heiner 3, 12, 52, 73, 200, 220, 290, 292, 299, 301, 307, 315, 333, 341, 346, 357, 361, 368, 370, 373, 375f., 384– 407, 422, 428f., 430, 436, 439–442,

447, 469, 475–487, 489, 491f., 494f., 497, 508, 510, 516f., 519, 521, 523–525, 527f. Müller, Karl-Heinz 384 Müller, Klaus-Detlef 297, 305, 311 Müller, Traugott 292, 357 Müller-Elmau, Eberhard 382 Müller-Rastatt, Karl 119, 126 Müller-Scholl, Nikolaus 222f. Müller-Seidel, Walter 109, 112, 223–225, 227 Müthel, Lothar 253, 256, 263, 279, 289, 291–296, 350f., 362f. Mundt, Theodor 86, 104–108, 117, 137f. Mussbach, Peter 500f., 527 Nabokov, Vladimir 450 Nägele, Rainer 60, 217, 220, 387, 392, 400, 407, 442 Nancy, Jean-Luc 262 Napoleon (Napoléon Bonaparte; Napoléon 1er), Kaiser der Franzosen 31, 445 Nast, Immanuel Gottlieb 12f. Nast, Luise Philippine (auch: Louise) 8 Nathusius, Philipp 89 Neher, Caspar 279f., 297, 302, 312–314, 316, 327, 329, 337, 350–352, 354f., 370, 386, 396 Neher, Erika 313f. Nel, Christof 390, 490, 492–495, 498 Nellhaus, Gerhard 306 Neuberger, Eugen 224 Neuenfels, Hans 483f., 498 Neuert, Ferdinand 239 Neuffer, Christian Ludwig 8, 9, 20–24, 29, 32f., 48, 56, 142, 425 Neumann, Michael 413, 420f. Neumann, Wilhelm 79 Neumann, William 140, 159, 161 Nieberle, Sigrid 93 Niendorf, Emma von 92 Niethammer, Friedrich Immanuel 42 Nietzsche, Franziska 159 Nietzsche, Friedrich 2, 12, 25, 51,69, 110– 112, 115–117, 123, 125, 133, 140, 144, 150, 153–183, 185, 187f., 190f., 193– 196, 205, 207, 211–214, 216, 218, 221, 224, 227, 262, 273, 277, 285, 341, 364, 476 Noelte, Rudolf 362, 368–371, 375, 481, 483 Nolde, Emil 125

Namensregister | 579

Nono, Luigi 364, 449 Novalis, (Pseudonym von Friedrich von Hardenberg) 111, 153 Nüsse, Barbara 510 Nuvoli, Giuliana VII Nyssen, Leo 481 Oellers, Norbert 267, 420f. Oelmann, Ute 147, 149, 217 Ollivier, Alain 464 Onderdelinden, Sjaak 435 Opitz, Michael 297 Opitz, Theodor 99, 104, 151 Oppenheimer, J. Robert 397f., 402 Oppermann, Peter 503 Orff, Carl 256, 263, 289, 292, 350–352, 357f., 361–367, 369, 389, 476 Orlacs, Stefan 360 Ortolani, Olivier 386, 390, 393 Ostheimer, Michael 387f., 397f., 403 Otto, Berthold 191 Otto, Enrico 360 Otto, Theo 249, 358 Ovid (Publius Ovidius Naso) 19 Packalén, Sture 345, 377, 409f., 420, 433– 435, 439 Paefgen, Elisabeth IX Palitzsch, Hansheinrich 383 Palitzsch, Peter 297, 346, 408, 418, 419, 430, 498 Pancheri, Isabella VII Pannwitz, Rudolf 110, 125f., 133, 144, 156, 179, 182, 185, 186–198, 273, 281f., 376 Paris, Ronald 384 Parmenides 465 Paulin, Roger 147 Paulsen, Rudolf 189 Pautrat, Bernard 461, 465 Pellegrini, Alessandro 69, 103, 126, 140, 156, 218 Pempelfort, Karl 352 Perrig, Elias 529 Peschken, Bernd 113 Peter I. (Peter der Große), Zar von Russland 445 Peters, Sibylle 28 Petersen, Julius 265 Petrarca, Francesco VII Petroff, Wilhelm 282 Peymann, Claus 346, 360, 368, 396, 512

Pfau, Ludwig 152 Pfizer, Theodor 383, 457 Pflüger, Maja Sybille 509, 514f. Philipsen, Bart 303, 312 Picasso, Pablo 249 Pieger, Bruno 127, 216f. Piens, Gerhard 394 Pietsch, Yvonne 147 Pigenot, Ludwig von 184, 202, 212, 239f., 260, 271, 276f., 380 Pilartz, Theodor 250, 252 Pindar 12, 19, 73, 143, 211, 214, 221, 264, 323, 324, 326 Pinder, Wilhelm 159f., 163 Pirandello, Luigi 450 Pirro, Maurizio 126 Piscator, Erwin 346 Pistorius, Hedwig 293 Pititto, Francesco 524 Platen, August Graf von 160, 177 Platon (auch: Plato) 129, 131, 153 Plattner, Markus 502 Plutarch 24 Pöggeler, Otto 100 Pohl, Helmuth 514 Pohl, Rainer 301–303, 318f., 322–324 Polacco, Giorgio 464 Politycki, Matthias 163 Polledri, Elena 41, 54 Polonius, Jean (Pseudonym von Xavier Łabensky) 154 Polt-Heinzl, Evelyn 510, 513f., 518 Ponelle, Jean Pierre 356 Pongs, Hermann 260, 265 Ponte di Pino, Oliviero 467 Port, Ulrich 45 Portera, Mariagrazia 23, 29 Poschmann, Gerda 443, 510 Postel, Helmut 500 Previšić, Boris 57 Prignitz, Christoph 7 Primavesi, Patrick 10, 17, 22, 27–29, 35f., 41, 45, 53, 55, 57, 60, 64, 220f., 223, 368– 370, 385, 387, 390f., 398–400, 403, 407, 442, 468, 476 Primavesi, Oliver, 305 Püttmann, Hermann 150–152 Puvis de Chavennes, Pierre 184 Pythagoras 172, 191, 194

580 | Namensregister

Quadflieg, Will 529 Quadri, Franco 464 Rabe, Martin 355 Racine, Jean Baptiste 465, 502 Raddatz, Frank 388 Rapp, Christof 153, 185 Raschig, Susanne 471f. Raspe, Jan-Carl 493 Rath, Norbert 267 Rathaus, Grejnem 259 Rau, Heribert 81 Rauch, Andreas von 468 Recalcati, Antonio 454, 461 Redlich, Richard 186 Reger, Max 230 Reible, Dieter 481 Reichard, Hans 359 Reinhardt, Karl 50f., 246, 292, 365, 367, 370 Reinhardt, Max 227, 237, 243–246, 253, 271, 278f., 339, 352, 368, 483 Reitani, Luigi 512–514, 516 Rennert, Günther 362 Requadt, Paul 152 Reschke, Renate 435 Reucker, Alfred 244 Reusch, Hubert 118 Reutter, Hermann 376 Reve, Rotraut de 495 Reyher, Ferdinand 337 Ribell, Frederick 481 Richter, Gert 379 Richter, Johann Paul Friedrich siehe Jean Paul Richter, Raoul 183 Ricklefs, Ulfert 147 Riedel, Volker 299, 312 Riedy, Paul 276 Rihm, Wolfgang 364, 476, 480, 484 Rilke, Rainer Maria 123, 126, 195, 212f. Rilla, Paul 301f. Rischbieter, Henning 341, 462, 483 Ritter, Heinrich 153 Robespierre, Maximilien 445 Rochlitz, Johann Friedrich 63f., 68, 71 Rodi, Frithjof 115 Rodmanns, Harri 366 Roeder, Anke 513 Roggisch, Peter 408 Rohde, Armin 529

Rohde, Erwin 163 Rohrwasser, Michael 409 Rolland, Romain 153, 228 Rölleke, Heinz 88, 145–148 Römisch, Peter 471 Roos, Carl 159, 167, 171, 173, 175 Roos, Peter 412 Rosenfield, Kathrin H. 45 Rosenkranz, Karl 100, 102, 104, 138, 151 Rosenthal, Friedrich 239 Ross, Daniel 488 Rossi, Francesco 213 Rovagnati, Gabriella IX, 188, 196–198 Rubiner, Ludwig 224 Ruch, Klaus Otto X Rudolph, Niels-Peter 480f., 483, 490, 492f., 495, 498 Rückert, Friedrich 511 Rückhaberle, Hans Joachim 429, 493 Rüde, Bernd 360 Rühle, Günther 254f., 292, 295, 458, 480f., 495 Rühle, Henning 500, 503 Rühle, Volker 23 Rüppel, Rudolf 200, 205–207, 209, 231, 233, 237, 241f., 271, 273, 276–279, 282 Russius, Klaus Henner 473 Rüter, Christoph 388, 390, 397 Runge, Anita IX Ruzicka, Peter 526 Saalfeld, Katharina von 205 Saeger, Uwe 428, 443–447 SAID 523 Salin, Edgar 127 Salmhofer, Franz 292 Salvisberg, Angelika 528 Sammartini, Giovanni Battista 377 Sartre, Jean-Paul 339 Sattler, Dietrich E. 348, 457, 468 Saussure, Ferdinand de 512 Savage, Robert 299, 302f., 317, 331 Savigny, Friedrich Carl von 87 Schadewaldt, Wolfgang 19, 50f., 55, 136, 144, 246, 292, 342f., 358, 363, 365– 367, 379–382, 473, 475, 482, 487, 500f., 503 Schaefer, Ralf 497 Schäfer, Armin 305 Schäfer, Martin Jörg 26, 28

Namensregister | 581

Schaffner, Hermann 274, 287 Scharfschwerdt, Jürgen 345 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 42, 61, 75, 76, 78, 100, 419, 420, 425, 427 Scherer, Wilhelm 109f., 112, 143 Schiller, Friedrich 8f., 13–15, 18, 20, 23f., 29, 33, 37, 40, 61, 63, 71, 87, 143, 153, 162, 182, 256, 269, 309–311, 317, 339, 372, 418, 420f., 434 Schirach, Baldur von 256, 260, 263, 279, 294, 363 Schlegel, August Wilhelm 63, 75 Schlegel, Friedrich 63, 104, 147 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 153 Schlesier, Gustav 100 Schlöndorff, Volker 490 Schlüsser, Susanne 118f., 125 Schlüters, Christian 525 Schmahl, Hildegard 495 Schmeiser, Leonhard 511 Schmid, Holger 20, 30 Schmid, Martin E. 183, 197 Schmid, Philipp Siegfried (auch: Schmidt) 7, 9, 40–43, 425 Schmidt, Elaine 385f., 389–391, 394, 397, 402, 440 Schmidt, Erich 126, 181 Schmidt, Hannes 366 Schmidt, Hanns-Dietrich 473 Schmidt, Jochen 7f., 18, 24, 42, 47, 50, 52f., 55, 109, 345, 405 Schmidt, Julian 109f., 143 Schmidt, K. 231f. Schmidt, Werner 408 Schmidt, Willy 368 Schmitt, Saladin 239 Schmitz, Walter 88 Schmoll-May, Gabriele 68 Schnabel, Heinrich 131, 215 Schnabel, Stefan 440 Schneider, Hansjörg 433 Schneider, Jean-Claude 464 Schnelling, Otto 430 Schoen, Ernst 221 Scholem, Gershom 221 Scholz, Bernhard 112 Scholz, Luise 112 Scholz, Wilhelm von 132, 135, 137, 144, 185, 203–211, 218f., 230–237, 239–241,

247, 271, 273f., 276f., 281f., 376, 378– 380, 382 Schöntan, Franz von 338 Schöntan, Paul von 338 Schoop, Raimond 443 Schopenhauer, Arthur 163, 169, 173 Schreiber, Ulrich 485, 498 Schröder, Jürgen 436 Schröder, Rudolf Alexander 183, 185f. Schroeter, Werner 246, 525 Schubart, Christian Friedrich Daniel 12 Schubert, Franz 458, 461 Schüddekopf, Carl 71 Schünemann, Peter 436 Schütz, Christian Gottfried 62 Schütz, Johannes 494 Schütz, Paul 469 Schütz, Wilfried 500 Schuh, Oscar Fritz 350 Schuhmann, Klaus 207, 435 Schultz, Franz 128 Schulz, Georg-Michael 15, 63 Schulze Vellingshausen, Albert 357 Schulze, Johannes 79, 82f. Schulze-Reimpell, Werner 118, 443 Schumann, Gerhard 256, 274, 276 Schumann, Robert 92 Schwab, Christoph Theodor 69, 75, 84, 99– 104, 116, 131, 138–140, 142f., 150, 155, 159, 170, 176, 181, 183, 187, 189f., 212, 380f. Schwab, Gustav 24, 49, 49, 76, 84, 86, 94, 103, 133f., 138f., 146, 148 Schwarz, Hans 253, 288–291 Schwarze, Axel 435 Schweitzer, Albert 178 Schwerbrock, Wolfgang 367 Scorretti, Claudio 464 Secci, Lia 225–227 Seckel, Dietrich 211 Seckendorf, Franz Karl Leopold von (auch: Sekendorff) 61 Seebaß, Friedrich 67f., 86, 205, 224, 260, 271 Seesemann, Wolf 430 Seghers, Anna 465 Seidensticker, Bernd 306 Seidler, Georg 275f. Selge, Edgar 502f., 505–508, 529

582 | Namensregister

Sellner, Rudolf Gustav 342, 357f., 362f., 365–371, 373–375, 379, 481, 501f. Servais, Roger 384 Servais, Waltraud 384 Shakespeare, William 8f., 20, 29, 37, 71, 173, 182, 309, 335, 342, 391, 394, 450, 477 Shelley, Percy Bisshe 138, 151, 177, 189 Siebert, Stefan 68 Sievert, Ludwig 235–237 Silberman, Marc 392 Simmel, Georg 126, 190f., 195 Simon, Jürgen 30 Sinclair, Isaak (auch: Sinklair; St. Clair) 22– 24, 32, 38, 65f., 79f., 82, 84, 86, 88– 91, 95–98, 100, 148, 413, 434 Skasa, Michael 443 Skrodzki, Karl Jürgen 187 Smolny, Paul 205, 253, 267–275, 278, 280– 282, 287f., 291, 356f., 361, 379 Snell, Bruno 328 Sokrates 17, 20, 191f. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 70f., 74, 77– 80, 82, 215 Solti, Georg 365 Song, Jaewon 118f., 123f. Sophokles 4, 7, 9, 16–19, 23, 28, 30, 36, 39, 46, 47–56, 63, 65, 68, 71, 74, 75–77, 79–81, 87, 91f., 96, 105f., 114f., 118– 120, 131, 139, 143, 162, 170, 181, 197, 211, 214, 218, 225f., 228f., 244–246, 248–252, 290, 292, 296, 309, 312, 317f., 320, 327–329, 332, 334, 337, 351f., 358, 362–366, 369f., 372f., 385, 387, 389–391, 393, 397, 399–401, 403, 405–407, 439, 447, 465, 468, 475–479, 482–488, 496, 500, 502f., 505, 524f., 527 Söring, Jürgen 166f., 169, 171, 175 Spontini, Gaspare Luigi Pacifico 92 Sprengel, Peter 118f., 125, 204 Sproll, Monika 24 Stadelmaier, Gerhard 451, 493 Staiger, Emil 156f., 265, 343f., 370, 377f. Stalin eig. Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili (Iosif Vissarionovič Džugašvili) 402, 445 Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch (Konstantin Sergeevič Stanislavskij)

eig. Konstantin Sergejewitsch Alexejew (Konstantin Sergeevič Alekseev) 339 Stanitzek, Georg 510, 514, 519 Stark, Günther 377–379 Steckel, Frank Patrick 466, 469–472, 475, 524, 529 Stefa, Niketa 518 Stefanek, Lore 500 Steffen, Albert 383 Steiger, Robert Friedrich 433 Steimer, Hans Gerhard 100 Stein, Peter 346, 368, 418, 448, 450–452 Steinbeck, Dietrich 4 Steiner, George 313, 351 Steiner, Rudolf 383 Steiner-Rinneberg, Britta 503 Steinhart, Karl Heinrich August 186 Stern, Martin 197f. Stieber, Hans 270 Stiening, Gideon 80, 155–157, 163, 166, 176 Stillmark, Alexander 498 Stockinger, Claudia 147 Stolzenberg, Jürgen 364 Strack, Friedrich 8 Straub, Jean-Marie 429, 442, 467–470, 476, 480, 528 Strauss, Emil 265 Strauss, Richard 246 Strehler, Giorgio 360, 450 Strindberg, August 415, 423 Stroux, Karl Heinz 292, 342, 351, 356f., 368 Stüber, Fritz 433 Stürmer-Alex, Erika 384 Sturm, Dieter 454 Suschke, Stephan 528 Szabó, László 187 Szondi, Peter 11, 20f., 175 Tabori, George 299, 333, 528 Takahasi, Teruaki 259 Tasso, Torquato VII, 113, 119, 121f. Taxidou, Olga 297, 303, 336 Teilmanns, Eva 503 Tempelhof, Lissy 396 Terenz (Publius Terentius Afer) 7, 41 Teschke, Holger 388 Teuffel, Wilhelm Sigmund 139 Tgarth, Reinhard 267 Théraios, Démètre 262 Thesing, Paul 240

Namensregister | 583

Thiele, Rita 503 Thomasberger, Andreas 149f. Thudichum, Georg 215 Tickardt, Ernst Otto 359 Tieck, Ludwig 63, 68, 78, 93, 107 Tiedemann, Kathrin 514, 516 Tiezzi, Federico 360 Toller, Ernst 27 Tolusso, Fulvio 360 Tragelehn, Bernhard Klaus 391 Trakl, Georg VIII, 224 Tralow, Johannes 253 Treibmann, Karl Ottomar 497 Tretow, Christine 350f. Treusch, Hermann 370f. Trilse, Christoph 301f. Troller, Urs 492 Trotzki, Lew oder Leo (Lev Trockij; eig. Lew Dawidowitsch Bronstein; Lev Davidovič Bronštejn) 409, 415 Tschechow, Anton Pawlowitsch (Anton Pavlovič Čechov) 369, 450 Ugolini, Gherardo 167 Uhland, Ludwig 49, 83, 86, 94, 103, 133f., 146, 148 Uhlich, Ted 356 Ullmann, Viktor 260 Umbrecht, Bernhard 389, 394 Unseld, Siegfried 422 Valk, Fritz 252 Varnhagen von Ense, Karl August 79–81 Varnhagen von Ense, Rahel siehe Levin, Rahel Veit, Moritz 94 Vergil (Publius Vergilius Maro) 19 Vernon, Howard 468 Veth, Kurt 360 Vielhaber, Gerd 481 Viëtor, Karl 251 Villan, Caterina 510 Villiger Heilig, Barbara 489 Villon, François 306 Vischer, Friedrich Theodor 81f., 143, 163 Vitiello, Gennaro 448, 450 Vivarelli, Vivetta 176f. Vöhler, Martin VIII, 306, 385, 458, 467, 496f. Voigt, Peter 441 Volke, Werner 69, 110, 142, 266 Völker, Klaus 244f.

Vollhardt, Friedrich 112 Volli, Ugo 467 von der Leyen, Friedrich 214, 216 von der Osten, Gerd 356 Vornam, Axel 529 Voß, Heinrich (der Jüngere) 70–78, 82, 371 Voß, Hartfrid 275 Vostell, Wolf 473 Wackernagel, Peter 359 Wackwitz, Stephan 348 Wägenbaur, Birgit 217 Wagenknecht, Christian 129 Wagner, Cosima siehe de Flavigny, Cosima Wagner, Frank Dietrich 305 Wagner, Johann Georg genannt Glaser Wagner 23, 427 Wagner, Richard 163, 167, 169, 171 Wagner, Wieland 362, 365 Waiblinger, Wilhelm 78, 81, 87, 89f., 96, 100f., 103f., 135, 434, 482 Waite, Geoffrey 157, 163 Wallner, Michael 512 Walser, Franziska 503, 506f. Walser, Martin 411, 496, 502–508, 529 Wälterlin, Oskar 253, 338 Waltz, Johannes 368 Wannamaker, Annette 303 Warschawski, Paul 234 Wehl, Feodor eig. Feodor von Wehlen 81, 119 Weichelt, Matthias 219 Weichert, Richard 226, 234–238, 243, 278 Weigel, Alexander 389, 440f. Weigel, Helene 297f., 312, 316, 326, 339 Weil, Grete 493 Weinheber, Josef 260, 265 Weinstock, Heinrich 357 Weiß, Christoph 409f., 415, 422 Weiss, Peter 3, 27, 41, 153, 200, 346, 408– 428, 430–437, 439, 446–450, 458– 460, 474, 491, 495, 498, 502, 517, 521, 523, 526 Weiße, Christian Felix 7, 418 Weisstein, Ulrich 302f., 307, 318f., 324 Weitz, Hans-Joachim 218f., 295 Welch, Sabine 218, 240 Wendt, Ernst 369, 481–483, 490–495, 498 Wendt-Krämer, Barbara 237f. Werckmeister, Hans 244 Werner, Bruno E. 355

584 | Namensregister

Werner, Oskar 18 Westphal, Gert 379 Wetters, Brent 449 Weyrauch, Wolfgang 354 Wiedemann, Barbara 184 Wieghaus, Georg 389, 401, 403 Wieler, Jossi 514 Wiens, Wolfgang 447f., 450, 484f. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 131, 190, 212, 215, 246, 252, 289, 294 Wilbrandt, Adolf 68, 252 Wilder, Thornton 339 Wildgruber, Ulrich 485 Wildhagen, Heinz 383 Wilken, Rolf 443 Wilmans, Friedrich 47, 49, 55f., 61, 65, 67, 70, 75, 83–86, 309 Winckelmann, Johann Joachim 16, 181 Winkler, Angela 526 Winter, Riki 519 Wirth, Andrzej 509 Witzmann, Peter 390, 394 Wizisla, Erdmut 223 Wocke, Helmut 69, 126, 128, 131, 260, 265 Woerner, Roman 292, 357, 371 Wögerbauer, Werner 378 Wolbert, Klaus 218, 240 Wolf, Friedrich August 78, 82

Wolf, Gerhard 435 Wölfflin, Heinrich 190, 221 Wolfrum, Philipp 230 Wolfskehl, Karl 99, 122, 126–129, 131, 183f., 189, 195, 212, 217 Woltmann, Karoline von 79, 102f. Wonder, Erich 493 Wübben, Yvonne IX Wüllner, Ludwig 233, 239 Wüthrich, Werner 297 Wuthenow, Ralph-Rainer 88 Yazdkhasti, Dariusch 503 Young, Julian 163 Zadek, Peter 346, 368, 372 Zeller, Eduard 153, 186 Zenck, Martin 476 Zenk, Ludwig 279 Ziegler, Theobald 156, 178–180 Ziller, Karl 83 Zils, Harald 260, 271 Zimmer, Christian 411f. Zimmer, Ernst 411f. Zinkernagel, Frank 40, 196, 215f., 260, 266, 271, 362, 380f. Zittel, Claus 163, 176f. Zuberbühler, Rolf 69, 82, 102 Zumsteg, Rudolf 13