Das Buch Ezechiel: Komposition, Redaktion Und Rezeption 3110618192, 9783110618198

Das Buch Ezechiel nimmt aufgrund seiner komplizierten Text- und Überlieferungsgeschichte sowie seiner Mischung aus pries

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Das Buch Ezechiel: Komposition, Redaktion Und Rezeption
 3110618192, 9783110618198

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Das Buch Ezechiel

Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft

Herausgegeben von John Barton, Reinhard G. Kratz, Nathan MacDonald, Sara Milstein, Carol A. Newsom und Markus Witte

Band 516

Das Buch Ezechiel Komposition, Redaktion und Rezeption Herausgegeben von Jan Christian Gertz, Corinna Körting und Markus Witte

ISBN 978-3-11-061819-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062425-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062342-0 ISSN 0934-2575 Library of Congress Control Number 2019947077 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Das Ezechielbuch erfreut sich seit einiger Zeit wieder einer zunehmenden Beachtung in der Forschungsdiskussion. Das hat unterschiedliche, gleichwohl miteinander zusammenhängende Gründe. Mit seiner charakteristischen Textgeschichte ist das Ezechielbuch nicht zuletzt für die Verhältnisbestimmung von protomasoretischer Tradition und der hebräischen Vorlage der LXX von Bedeutung. Dabei zeigt sich immer deutlicher, wie sehr die Rekonstruktion der Textgeschichte sowohl redaktionsgeschichtliche als auch rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen anregt, aufgreift und weiterführt. Für die Literaturgeschichte des Alten Testaments kommt dem Ezechielbuch schon wegen seiner wechselseitigen Beziehungen zur Priesterschrift und zu solchen Texten, die in jüngerer Zeit vornehmlich der Holiness School zugerechnet werden, sowie seiner theologischen Konzeption eine herausgehobene Stellung zu. Darüber hinaus haben jüngere Arbeiten zur Kosmologie des Alten Testaments die enge Verbindung des Ezechielbuches zu kosmologischen Entwürfen Mesopotamiens erneut ins Zentrum gestellt. Daneben tritt die Verbindung in den griechischen Raum stärker ins Bewusstsein. Beide Einsichten sind wiederum für das Bild der israelitisch-jüdischen Religionsund Theologiegeschichte von Bedeutung. In methodischer Hinsicht ist das Ezechielbuch deswegen von besonderem Interesse, weil in der Forschung einerseits stilistische Phänomene häufig ohne eine adäquate literarhistorische Rückbindung in den Blick genommen werden und sich andererseits in redaktionsgeschichtlich orientierten Untersuchungen einer im Wesentlichen an anderen Textkorpora entwickelten literarkritischen Methodik gefolgt wird, ohne dass die stilistischen Spezifika des Ezechielbuches hinreichend berücksichtigt werden. Auch bietet die vielfältige Auslegungs- und Wirkungsgeschichte des Ezechielbuches einen willkommenen Anlass, über die Frage nachzudenken, ob und wie sich die in jüngster Zeit verstärkt in den Blick genommene Rezeptionsgeschichte der biblischen Bücher sinnvoll mit einer Fragestellung verbinden lässt, die vornehmlich an der Entstehungsgeschichte des Buches und der zeitgeschichtlichen Betrachtung seiner ursprünglichen theologischen Vorstellungsgehalte orientiert ist. Diese vielfältigen Aspekte der Forschung zum Ezechielbuch zu bündeln und zugleich paradigmatisch voranzubringen war das Ziel der Tagung „Das Buch Ezechiel – Komposition, Redaktion und Rezeption“ der Fachgruppe Altes Testament in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e.V., die im Mai 2018 in ­Eisenach stattfand. Für die vorliegende Publikation wurden die Referate mit Blick auf die offene und intensive Diskussion während der Tagung überarbeitet. Heinz-Josef Fabry präsentiert die Überlieferung des Ezechielbuchs in den Texten aus der judäischen Wüste: Die vergleichsweise wenigen Textzeugen bezeugen überwiegend den protomasoretischen Text und dokumentieren, dass https://doi.org/10.1515/9783110624250-201

VI 

 Vorwort

der Ezechieltext zur Zeitenwende bereits recht stabil war. Wegen des Alters der Handschriften kommt dem protomasoretischen Text die Priorität gegenüber der hebräischen Vorlage der LXX zu. 4QEza und 11QEz belegen, dass der Langtext bereits in vorchristlicher Zeit existierte, was für eine Priorität von EzMT gegenüber der hebräischen Vorlage der LXX spricht. EzMT beruht damit weniger auf einer fortlaufenden Glossierung des Kurztextes als auf einer konservativen Beibehaltung eines alten Textes gegenüber einem zwischenzeitlich hasmonäisch ‚verunstalteten‘ Kurztext, wie er dann dem Übersetzer der LXX vorlag. Dass der Kurztext auch in Qumran bekannt war, lässt die Nähe der Ezechielzitate im Midrasch zur Eschatologie (4Q174+177) zur LXX vermuten. Michael Konkel kommt zu einem teilweise anderen Ergebnis als Fabry. Konkel widmet sich dem für die Textgeschichte des Ezechielbuches hochbedeutsamen Papyrus 967. Wurde das Fehlen von Ez  36,23bβ–38 in Pap 967 und die gegenüber MT abweichende Kapitelfolge in der Forschung zunächst als Kopistenfehler gewertet, so tendiert die jüngere Forschung dazu, Pap 967 auf eine ältere, von MT abweichende Vorlage zurückzuführen und darin auch einen Beleg für die Priorität der LXX-Vorlage gegenüber dem MT zu sehen. Die Analyse von Ez 34 in Pap 967 fügt sich in diese Tendenz der neueren Forschung ein: Sie bestätigt die Priorität der LXX und verschärft das Problem noch dadurch, dass Pap 967 eine frühere (und kürzere) Version im Vergleich zu den gängigen Ausgaben der Septuaginta darstellt. Anja Klein stellt mit der Ankündigung des Endes in Ez  7,1–12a ein Beispiel innerbiblischer Exegese vor, deren beiden letzten Auslegungsstufen sich auch textgeschichtlich aufzeigen lassen. Ausgangspunkt des Auslegungs- und Fortschreibungsprozesses ist ein kurzes Prophetenwort in Ez 7,6ab.7–9, das die Vision des kommenden Endes für das Nordreich aus Am 8,2 zu einem umfassenden Gerichtswort für Israel ausgestaltet. Spätere tragen das Motiv vom Tag Jhwhs und die Vorstellung eines umfassenden Weltgerichts ein. Die Ankündigung des Endes hat im Buchaufriss eine programmatische Funktion. Sie beschließt die einleitende Gerichtsverkündigung in Ez 4–6 und formuliert mit dem drohenden Ende das Leitmotiv des ersten Buchteils in Ez 1–24(33). Gegenüber dieser älteren und durch die LXX belegten Textfassung bietet der protomasoretische Text durch Textumstellungen und Anspielungen auf Dan 8 und 9 eine weitere produktive Auslegung vor hellenistischem Hintergrund, insbesondere der Herrschaft von Antiochus IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.). Christophe Nihan untersucht mit Ez 8 einen zentralen Text des Ezechiel­buches in dreifacher Perspektive: die Entstehung des Kapitels, die in ihm beschriebenen Rituale und seine Stellung in der Buchkomposition. Die text- und literarkritische Analyse führt zur Rekonstruktion einer Grundschicht in Ez 8,1.3b.5–6*. 7a.9.10–13*.14–15*.16–17*.18. Die Beschreibung der Rituale in V. 5–18 wurde zwar

Vorwort 

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in der Textüberlieferung stark bearbeitet und fortgeschrieben, doch beinhaltet sie von Anfang vier Rituale (V. 3–6.7–13.14–15.16–17). Diese Rituale sind miteinander verzahnt. Das erste und zweite Ritual befassen sich mit Kultbildern und das zweite und das dritte mit der Abwehr böser Kräfte; das dritte und vierte Ritual sind durch die mythologische und rituelle Beziehung zwischen Tammuz und Šamaš verbunden. In der Kompositionsgeschichte des Buches steht Ez 8 auf einer Stufe mit einer älteren Version von Ez 43. Das Kapitel bietet somit keine Beschreibung von Kultpraktiken aus der ausgehenden Königszeit, sondern Reflexionen über jüngere Praktiken, die als Negativfolie zum Jhwh-Kult dienen. Franz Sedlmeier behandelt Ez 20 und damit einen weiteren für die Entstehungsgeschichte der Ezechielbuches wichtigen Textbereich. Im Zentrum des Beitrags, der eine erneute Analyse des in mehreren Stufen gewachsenen Kapitels vorlegt, stehen die Schlussverse des Kapitels. Sie setzten gegenüber dem Grundbestand des Kapitels (20,1–39*) und weiteren Texten, die zur Umkehr aufrufen (Ez 14,1–11; 18), einen auffälligen gnadentheologischen Akzent. Vergleichbar sind Ez 16,59–63; 36,16–38 und 43,27 und ähnlichen Aussagen in Lev 26: Gottes gnädige Annahme markiert nicht nur den Zielpunkt der Wege Gottes, sondern zugleich den Ausgangspunkt für eine neue Einsicht Israels in das eigene Fehlverhalten, die ihrerseits eine grundstürzende Reue und eine radikale Umkehr auslöst. Markus Saur legt eine neue Analyse der Ägyptenworte in Ez 29,1–16; 30,20– 32,32 vor, wobei er sich vor allem auf die mehrfach fortgeschriebenen Kapitel Ez 29 und Ez 31 konzentriert. Von Walter Zimmerli einst als ein ursprünglich wohl „selbständiges Büchlein“ identifiziert, erweisen sich die Kapitel Ez 29–32 aufgrund ihrer zahlreichen Verbindungen als integraler, über mindestens drei Jahrhunderte gewachsener Bestandteil des Ezechielbuches. Ihr Grundbestand gehört zu den ältesten Texten des Ezechielbuches. Wie bei den Worten gegen Tyros, mit denen die Kapitel insbesondere durch Ez 29,17–20 verwoben sind, lässt sich zeigen, wie Gerichtsworte gegen die Völker zunehmend in eine universale Perspektive gestellt wurden, die auch auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern und Israel zielte und die in Ez 31 mit dem breit ausgeführten Topos von Hochmut und Fall weisheitlich akzentuiert wurde. Walter Bührer nimmt das vielgestaltige und wechselseitige Beziehungsgeflecht zwischen dem Ezechielbuch und der Priesterschrift bzw. der priester(schrift)­ lichen Literatur des Pentateuchs in den Blick. Die älteren priesterlichen Texte sind mit der golaorientierten Gestalt des Ezechielbuches eng verwandt. Dies belegen die gemeinsamen Bezugnahmen auf unheilsprophetische und auf naturkundlichkosmologische Traditionen. Die golaorientierte Gestalt des Ezechielbuches bietet im Hinblick auf Gen 1,1–2,3 und Ez 1,1–28 sowie auf die Sintfluterzählung und Ez 7–8 die in traditionsgeschichtlicher Hinsicht älteren Vorstellungen. Literarische Bezüge zwischen beiden Textbereichen lassen sich indes nicht nachweisen. Das

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 Vorwort

ändert sich mit der diasporatheologischen Gestalt des Ezechielbuches, insofern diese Ex 6,2–8 und Ez 20 aufgreift. Christoph Koch rekonstruiert die Vorstellung von Gottes Wohnort im Ezechielbuch anhand der mutmaßlich auf eine golaorientierte Redaktion zurückgehenden Visionen in Ez 1–3; 8–11; 40–48. Die Idee eines himmlischen Wohnorts steht im Zusammenhang mit der Solarisierung Jhwhs und ist tief in babylonischen Traditionen und Vorgaben verwurzelt. Die solaren Züge der Himmelsvision haben auch auf die großen Tempelvisionen ausgestrahlt, die zeigen, wie Jhwh in der Gestalt des Sonnengottes in seine Stadt und seinen Tempel zurückkehrt (Ez 43,1– 9*). Die in der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie bezeugte Vorstellung vom Tempel als Jhwhs Wohnort wird somit nicht getilgt, sondern mit Hilfe babylonischer Vorstellungen in der Weise verändert, dass nun neben Jhwhs irdischkultischer Wohnstatt seine himmlische Wohnstatt expliziert wird. Casey A. Strine bietet eine Zusammenschau von drei in der Diskussion um die anthropologischen Aussagen des Ezechielbuches besonders prominenter Vorstellungen: die traumatische Erfahrung der erzwungenen Migration nach Babylonien, die Fähigkeit oder Unfähigkeit des Menschen, aus eigenem Antrieb richtig zu handeln, und die Vorstellung von der imago Dei in Ezechiels Verständnis des Menschen. In der Zusammenschau vertritt das Ezechielbuch, das die Gestalt des Propheten als paradigmatischen Menschen zeichnet, eine optimistische Position hinsichtlich des menschlichen Vermögens, verantwortlich zu handeln. Die anthropologischen Kernaussagen werden in die Gotteskonzeption integriert. Insofern bietet das Buch eine theologische Anthropologie und eine anthropologische Theologie. Martin Karrer zeichnet die Rezeption der Gestalt des Propheten und des Ezechielbuches im ersten Christentum nach: Ezechiel wird bis zur Mitte des 2. Jh. n. Chr. allein in 1Clem 17,1 namentlich erwähnt. Auch Zitate sind selten. Als Ganzes wird das Ezechielbuch in der Johannesapokalypse rezipiert. Die Schriftreferenzen beziehen sich auf die griechische Überlieferung und spiegeln deren komplizierte Entwicklung. Die hebräische Überlieferung ist eventuell bekannt. Wichtiger ist indes die griechische Überlieferung und ihr Bild von Ezechiel als dem unter den Völkern wirkenden Zeugen Gottes. Dieses Bild ist auch prägend für die Legendenbildung. Die christologische Rezeption setzt im späten 1. Jh. n. Chr. ein und greift das Bild des guten Hirten auf. Karin Schöpflin spürt der neuzeitlichen und modernen Rezeptionsgeschichte des Ezechielbuches an Beispielen im Film, in der Literatur, in der Malerei und in der Architektur nach: Quentin Tarantinos Film „Pulp Fiction“ (1994); William Blake „The Marriage of Heaven and Hell“ (ca. 1790–1794); Thomas Mann „Joseph und seine Brüder II – Der junge Joseph“ (1934); E.T.A. Hoffmann „Das steinerne Herz“ (1816); Wilhelm Hauff „Das kalte Herz“ (1827); Wilfred Owens Kriegssonnet

Vorwort 

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„The End“ (zwischen 1916 und 1918), das von Benjamin Britten in seinem „War Requiem“ Op. 66 aufgenommen wurde; Francisco Collantes „Die Vision von der Auferstehung der Gebeine“ (1630); Luca Signorelli „Die Auferstehung der Toten zum Jüngsten Gericht“ (um 1500); John Roddam Spencer Stanhope „Die Vision des Ezechiel“ (1902); die Menora vor der Kenesset in Jerusalem von Benno Elkan (1956) sowie die architektonische Reminiszenz an das lebenspendende Wasser (Ez 47) in der 1987 geweihten Kirche St. Michael im fränkischen Schwanberg. Wir danken den Autorinnen und Autoren sehr herzlich, dass sie ihre Vorträge für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e.V. und der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind wir sehr dankbar für die finanzielle Förderung der Tagung. Unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin, Hamburg und Heidelberg, Herrn Burkhardt, Frau Einmahl, Herrn Krusche, Frau Kupski, Herrn Müller und Herrn Wind, danken wir herzlich für das sorgfältige Lektorat sowie Herrn Puvaneswaran für die Vorbereitung der Druckvorlage. Marcel Krusche hat dankenswerter Weise die Register erstellt. Den Herausgebern der BZAW danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Reihe und dem Haus de Gruyter für die verlegerische Betreuung. Heidelberg, Hamburg und Berlin im Juni 2019 Jan Christian Gertz Corinna Körting Markus Witte

Inhaltsverzeichnis Vorwort 

 V

Heinz-Josef Fabry Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

 1

Michael Konkel Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 und die Redaktionsgeschichte des Ezechielbuches – Probleme und Perspektiven am Beispiel von Ez 34   43 Anja Klein „Das Ende kommt“ – Textgeschichte, Redaktion und literarische Horizonte in Ez 7,1–12a   63 Christophe Nihan Ezechiel 8 im Rahmen des Buches – Kompositions- und religionsgeschichtliche Aspekte   89 Franz Sedlmeier „Ich will euch gnädig annehmen …“ (Ez 20,41) – Ez 20,39.40–44 im Horizont des Ezechielbuches   125 Markus Saur Vom Untergang Ägyptens – Ez 29–32 im Kontext des Ezechielbuches  Walter Bührer Ezechiel und die Priesterschrift 

 175

Christoph Koch Vorstellungen von Gottes Wohnort im Ezechielbuch 

 207

Casey A. Strine Theological Anthropology and Anthropological Theology in the Book of Ezekiel   233 Martin Karrer Ezechiel im ersten Christentum 

 255

 151

XII 

 Inhaltsverzeichnis

Karin Schöpflin Prophet, Gottesthron, steinernes Menschenherz, Totenfeld und Quelle des Lebens – Aspekte der Rezeption des Ezechielbuches   297 Verzeichnis der am Band beteiligten Autorinnen und Autoren  Stellenregister  Sachregister  Autorenregister 

 331  334  336

 329

Heinz-Josef Fabry

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption Norbert Lohfink S.J. zum 90. Geburtstag gewidmet Abstract: The main issue of this contribution is the presentation of the existing Ezekiel-manuscripts in Qumran and Masada, of the quotations and allusions and of their reception in epexegetical texts. The question is, whether we can derive text-critical and redaction-critical arguments about the relation between MT, LXX, and Pap 967. The analysis of these texts justifies the following hypotheses: (1) The Ez-Mss in Qumran are mostly identical with the protoMT in text and sequence. (2) The Masada-text exactly testifies the protoMT in text and sequence, esp. in Ez 36–39. (3) The epexegetical text Pseudo-Ezekiel has its special idioms, but imitates the textual sequence of MT in spite of several textpluses. (4) Finally the Ez-Reception in Revelation of St. John follows mainly the masoretical textline.1 The conclusion is: there is no proof of the textual sequence of Pap 967 in BCEtimes and in the 1st century CE.

Kurze Forschungsgeschichte und die Problemstellung Das Buch des großen Exilspropheten Ezechiel hat nach Karl Friedrich Pohlmann2 u.  a. einen langen Redaktionsprozess durchlaufen, der bis weit in die hellenistische Zeit hineinreicht. Um diesen Prozess zu erhellen, sind möglichst alle Textzeugen zu befragen, die ihm zeitlich nahestehen. Das sind in historischer Abfolge die Septuaginta, dann die Texte aus Qumran und aus Masada, die uns in die protomasoretische Textphase hineinversetzen. Diese Texte sollen mit Ausnahme der LXX im Folgenden vollständig – soweit gegenwärtig möglich – vorgestellt werden.

1 Vgl. den Beitrag von Martin Karrer in diesem Band 2 Karl-Friedrich Pohlmann, Der Prophet Ezechiel, ATD 22/1+2 (Göttingen: Vandenhoeck & ­Ruprecht, 1996–2001). https://doi.org/10.1515/9783110624250-001

2 

 Heinz-Josef Fabry

Die Forschungsgeschichte zu den Mss aus Qumran und Masada ist kurz zu umreißen: Der Ezechieltext aus 1Q wurde schon 1955 von Dominik Barthélemy in DJD 1, der Text 3Q1 von Maurice Baillet in DJD 3 publiziert. Die Ez-Texte aus 4Q wurden in sogenannten „preliminary editions“ herausgegeben von Johan Lust und von Judith E. Sanderson in DJD 15 ediert. Die von der Rolle abgesplitterten Fragmente von 11QEz wurden vorgestellt von William H. Brownlee und von Edward Herbert in DJD 23 ediert. Diese Rolle ist noch weitgehend ungeöffnet und wird uns in naher Zukunft voraussichtlich noch wichtige Details offenbaren. Der Masadatext wurde von Shemarjahu Talmon publiziert.3 Diese Publikation wurde von Eibert Tigchelaar4 kritisch durchgesehen und mit einigen graphischen Korrekturen versehen, die für unsere heutigen Belange jedoch unwichtig sind. Bedeutsam ist die zusammenfassende Darstellung von Peter Schwagmeier5, die wesentlich zur Diskussion beigetragen hat. Die weiteren Arbeiten von v.  a. Johan Lust6 und seinen Gesprächspartnern konzentrierten sich primär auf die Frage nach der Bedeutung dieser Texte für die Klärung des Verhältnisses der EzLXX zum EzMT, also zum Problem der Textgeschichte mit dem Gegenüber von Langtexten und Kurztexten. Diese Texte wurden neu interessant, als der bereits 1931 gefundene Papyrus 967 (Pap 967, aus Aphroditopolis, um 200 n. Chr., also prähexaplarisch) allgemein bekannt wurde. Der Papyrus selbst wird ausführlich beschrieben von Siegfried Kreuzer7, Ashley S. Crane8 und Michael Konkel9. Die Blätter 10–61 des Pap 967 enthalten den Ez-Text ab Ez  11,25, sind aber auf mehrere Bibliotheken verteilt: Die Princetonblätter 20.22–28.30–32.34–37.40–45 wurden bereits 1938 von Allan

3 Shemarjahu Talmon, „Fragments of an Ezekiel Scroll from Masada,“ Orientalia Lovaniensia Periodica 27 (1996): 29–49; ders., Masada VI. The Yigael Yadin Excavations 1963–1965. Final Reports. Hebrew Fragments from Masada. (Jerusalem: Israel Exploration Society, The Hebrew University of Jerusalem, 1999), 59–75. 4 Eibert Tigchelaar, „Notes on the Ezekiel Scroll from Masada (MasEzek),“ RQu 22 (2005): 269– 275. 5 Peter Schwagmeier, Untersuchungen zu Textgeschichte und Entstehung des Ezechielbuches in masoretischer und griechischer Überlieferung (Zürich: Dissertation, 2004). 6 Johan Lust, Ezekiel and his Book: Textual and Literary Criticism and their Interpretation, BEThL 74 (Leuven: Peeters, 1986). 7 Siegfried Kreuzer, „Papyrus 967. Bemerkungen zu seiner buchtechnischen, textgeschichtlichen und kanongeschichtlichen Bedeutung,“ in Die Septuaginta  – Texte, Kontexte, Lebenswelten,WUNT 219, hg. Martin Karrer und Wolfgang Kraus (Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 64–82. 8 Ashley S. Crane, Israel’s Restoration. A Textual-Comparative Exploration of Ezekiel 36–39, VT.S 122 (Leiden-Boston: Brill, 2008). 9 Michael Konkel, Das Ezechielbuch zwischen Hasmonäern und Zadokiden, BBB 159 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010), 59–78.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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C. Johnson e.a.10, die Madrider Blätter 33.38–39.40–52 (P. Matr.bibl. 1) 1968 von M. Fernandez Galliano11 und die Kölner Blätter 10–22.29.53–77.79–89 im Jahre 1972 von Leopold Günther Jahn12 publiziert. Pap 967 ist für die Textgeschichte des Ezechiel-Buches höchst interessant, weil er eine zu MT und LXX unterschiedliche Textreihung vornimmt: Ez  36,1– 23abα ; 38; 39; 37. Da die Textabfolge Ez  37,28; 40,1 auch im Vetus-Latina Codex Wirceburgensis13 bezeugt ist, ergeben sich hieraus textgeschichtliche Fragen.14 Zwei Probleme ergeben sich also aus einer Berücksichtigung des Pap 967 für die Textkritik und die Theologie des Abschnittes: (1) Auf den ersten Blick ordnet Pap 967 die Wiederbelebung der Totengebeine nach dem eschatologischen Kampf gegen Gog und Magog und vor der Heiligtumsvision ein und dokumentiert damit nach Siegfried Kreuzer15 ein „neues Verständnis der Vision von der Auferweckung der Totengebeine …, nämlich im Sinn der am Ende der Zeit erfolgenden (individuellen) Auferstehung … am Übergang zu Gottes ewigem Heil“. (2) Das Fehlen der Verse Ez 36,23bβ–38 in Pap 967 wird kontrovers erklärt: Bereits 1943 betonte Floyd V. Filson, dass sich der Ausfall dieser Verse durch ein Homoioteleuton erklären lasse.16 Mit Lust, Kreuzer, Crane und Konkel müsse man aber eher davon ausgehen, dass der Text in der hebräischen Vorlage des Pap 967 bereits fehlte, später ergänzt und dann Bestandteil des MT wurde. Nach Kreuzer17 bezeuge der Pap 967 also ein ursprüngliches vormasoretisches Textstadium. „Diese Zufügung sei angelehnt an die jeremianische Sprache und diene als Verbindung zwischen Ez 36 und 37, nachdem die Reihenfolge der Kapitel im Hebräischen umgestellt worden sei.“18 10 Allan Ch. Johnson, Henry S. Gehman und Edmund H. Case, The John H. Scheide Biblical Papyri: Ezekiel, Princeton Studies in Papyrology 3 (Princeton: Princeton University Press, 1938). 11 M. Fernandez Galliano, „Notes on the Madrid Ezekiel Papyrus,“ BASOR 5 (1968), 349–356. 12 Leopold Günther Jahn, Der griechische Text des Buches Ezechiel nach dem Kölner Teil des Papyrus 967, Papyrologische Texte und Abhandlungen 15 (Bonn: Habelt, 1972). 13 Diese Handschrift wurde publiziert von Ernst Ranke, Par palimpsestorum Wirceburgensium. Antiquissimae Veteris Testamenti Versionis Latinae Fragmenta (Wien: Braumüller 1871). 14 Es ist bemerkenswert, dass der Pap 967 in der m.W. neuesten (US-amerikanischen) Arbeit von Timothy P. Mackie, Expanding Ezekiel. The Hermeneutics of Scribal Addition in the Ancient Text Witnesses of the Book of Ezekiel, FRLANT 257 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015) lediglich in einer Fußnote genannt und die durch ihn v.  a. im deutschsprachigen Raum ausgelöste Debatte nicht zur Kenntnis genommen wurde. 15 Kreuzer, Papyrus, 73. 16 Floyd V. Filson, „The Omission of Ezek 12:26–28 and 36:23b–38 in Codex 967,“ JBL 62 (1943): 27–32, bes. 31. 17 Kreuzer, Papyrus, 74  f. 18 Johan Lust, „Ezekiel 36—40 in the Oldest Greek Manuscript,“ CBQ 43 (1981): 527  f. nach Volker Stolle u.  a. in LXX.D, E II, 2961.

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 Heinz-Josef Fabry

Damit sind die Positionen der gegenwärtigen Debatte randscharf aufgezeigt: Entweder bietet der MT die älteste Textfassung, die sich dann so auch in unseren gängigen Bibelübersetzungen findet, oder Pap 967 repräsentiert den Old Greek und damit eine vormasoretische – vielleicht die ursprüngliche, in jedem Fall die ältere – Textfassung. Beide Positionen sind dahin zu befragen, wie sie sich in eine Gesamttheologie des Ezechielbuches einfügen. Gute Einblicke in den Vergleich der Versionen mit den daraus folgenden theologischen Konsequenzen finden sich bei Bernd Biberger19 und v.  a. bei Michael Konkel. Es ist nun nicht Aufgabe des hier vorgelegten Beitrages, diese Positionen weiter zu kommentieren. Vielmehr soll im Folgenden nach der Valenz der Textquellen gefragt werden, denn bei textkritischen Differenzen zwischen MT und LXX haben die Zeugnisse der Texte vom Toten Meer, das heißt primär aus Qumran und Masada, ein großes Gewicht. Darüber hinaus muss die durch die Textumstellung des Pap 967 vorgelegte neue Sicht der individuellen Auferstehung im AT für die mehrheitlich zadokidisch bestimmten Qumrantexte – in denen bisher noch kein sicheres Zeugnis für eine Auferstehungserwartung nachgewiesen werden konnte – wichtig gewesen sein. Was also ist den Texten vom Toten Meer zu entnehmen?

1 Die Ez-Texte in Qumran und Masada Für unsere Fragestellung wichtig sind (1) die sechs Qumran-Handschriften aus 1Q, 3Q, 4Q und 11Q, deren jeweiliger Textstatus und Ort in der Geschichte des Ezechieltextes zu erheben sind. (2) Der Masada-Text ist zwar besonders umfangreich, zugleich aber auch sehr fragmentarisch. Er deckt die Kapitel Ez 35–38 ab und ist damit für die textgeschichtliche Einordnung des Pap 967 sowie für die Frage nach den Lang- und Kurztexten in der Ezechiel-Tradition von entscheidender Bedeutung. Schließlich ist (3) ein Textkonvolut zu berücksichtigen, in dem anfänglich noch Ez-, Jer- und Mosestexte in einem recht undurchsichtigen Knäuel verhakt waren, bis es Devorah Dimant gelang, sie zu isolieren und als PseudoEzechiel-Texte zu edieren.

19 Bernd Biberger, Endgültiges Heil innerhalb von Geschichte und Gegenwart. Zukunftskonzeptionen in Ez 38–39, Joel 1–4 und Sach 12–14, BBB 161 (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2010), 120–132.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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1.1 Belege aus Qumran Im Unterschied etwa zu den Psalmen, zu Jesaja und zum Deuteronomium ist das Ezechielbuch mit insgesamt nur sechs Manuskripten das am schwächsten bezeugte Prophetenbuch in Qumran. Möglicherweise war dieses Buch für Qumran nicht so bedeutend,20 was allerdings eigens zu begründen wäre. Von diesen sechs Manuskripten seien nach Armin Lange vier Kopien des ganzen Buches.21 Das ist jedoch ganz unwahrscheinlich. Nur lediglich 4QEza zeigt in seinen Fragmenten eine solche Streuung, dass es eine vollständige Ez-Rolle gewesen sein könnte. Dies kann auch für 11QEz angenommen werden, aber diese Rolle ist noch unpub­ liziert (siehe weiter unten). Da alle Ez-Handschriften stark fragmentiert sind, kann man ihnen nur mit Vorsicht substantiell Neues abgewinnen.22

1.1.1 1QEz (1Q9) Fragment 1 (herodianisch mit MT) enthält Reste von 9 Wörtern (zum Teil nur einzelne Buchstaben)23, die orthographisch mit MT übereinstimmen. Die Reste von 15 Buchstaben verteilen sich auf drei Zeilen und enthalten den Text Ez 4,16–5,1, wobei es allerdings schwierig ist, den vollständigen Text der Verse in diesem Fragment unterzubringen: (Z. 2) Da sprach er zu mir: Menschensohn, siehe ich zerbreche den Brotstab in Jerusalem. Sie werden essen ihr Br]ot mit ↔ Sor[gen. Das Wasser werden sie genau abmessen und mit Schaudern trinken. damit sie Mangel haben an Brot und an Wasser und sich entsetzen, (Z. 3) einer] wie der andere, und dahin siechen in ihrer Schuld. ↔ Und du [ Menschensohn, nimm ein scharfes Schwert, als Schermesser nimm es her und führe es über dein (Z. 4)] Haupt und über [deinen Bart und] dann ni[mm] dir [eine Waage …24

20 Florentino García Martínez, Qumranica Minora II: Thematic Studies on the Dead Sea Scrolls. Kap.  1: The Interpretation of the Torah of Ezekiel in the Texts from Qumran, STDJ 64 (Leiden/ Boston: Brill, 2007), 1–12. 21 Armin Lange, Handbuch der Texte vom Toten Meer. Bd. I: Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und den anderen Fundorten (Tübingen: Mohr Siebeck, 2009), 328; vgl. Schwagmeier, Untersuchungen, 51. 22 Patrick W. Skehan, Littérature de Qumran. A. Textes Bibliques, SDB 9 (Paris: du Cerf, 1978), 805–822, bes. 813. 23 Dominique Barthélemy, „9. Ézéchiel,“ DJD I (Oxford: Clarendon Press, 1955), 68–69. 24 Hier und im Folgenden ist der im jeweiligen Fragment lesbare Text fett gedruckt.

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Es könnte sich um verkürztes Zitat handeln, es sei denn, man nimmt eine außergewöhnliche Zeilenlänge des Manuskripts an. Sollte es wirklich der MT-Text sein, dann stellt das große Spatium (↔) zwischen ‫ ֶל ֶחם‬und ‫ ְּב ִמ ְׁש ָקל‬vor Probleme, da sich in MT hier lediglich ein normales Spatium befindet. Das Spatium in Z. 3 hinter ‫ ַּב ֲעֹונַ ם‬dagegen entspricht einer Petucha im MT. 1.1.2 3QEz (3Q1) Das Einzelfragment aus herodianischer Zeit enthielt ursprünglich noch 11 Buchstaben, von denen jetzt nur noch sechs erkennbar sind25, unter denen das seltene ‫( ְל ַק ֵלּס‬Inf. pi. ‫„ קלס‬verschmähen“; Ges18, S. 1171) begegnet.26 Der Text könnte so mit MT übereinstimmen, so dass sich auch der Korrekturvorschlag von BHS (l. ‫ְל ַל ֵקּט‬ „[die ihren Lohn] zusammenbringt“; vgl. LXX: συνάγουσα) erübrigt. Ez 16,31(.32–33) Du hast dir an jeder Straßenecke deinen Sockel ge]baut[ und auf jedem freien Platz deine Kulthöhe errichtet. Du warst keine gewöhnliche Hu]re; denn du hast es verschmäht[, dich bezahlen zu lassen. Die Ehebrecherin nimmt sich statt ihres Mannes fremde Männer. J]eder[ Hure gibt man Lohn …

1.1.3 4QEza (4Q73)27 Der Text der fünf Fragmente in früh-herodianischer Semikursive (um 50 v. Chr.) ist protoMT. Die breite Streuung über das ganze Ez-Buch hinweg lässt vermuten, dass wir hier die Reste einer Ez-Rolle vor uns haben. Emanuel Tov spricht sogar von einer „de luxe edition“, ähnlich Mladen Popović. Gleich unsicher ist der Vorschlag von George A. Brooke,28 an eine Ez-Anthologie zu denken. Nun lassen sich

25 Maurice Baillet, „II. Textes des Grottes 2Q, 3Q, 6Q, 7Q à 10Q. II, Grotte 3. I. Textes bibliques. I. Èzéchiel (Pl. XVIII).“ in Les ‘Petites Grottes’ de Qumran. DJD III (Oxford: Clarendon Press, 1962), 94. 26 Sonst noch Sir 11,4; 1QpHab 4,1.3; im hitp. 2 Kön 2,23; Ez 22,5; Hab 1,10. 27 Judith Sanderson, „Ezekiel.“ in Qumran Cave 4, X. The Prophets. DJD XV (Oxford: Clarendon Press, 1997), 209–214; Eugene Ulrich, The Biblical Qumran Scrolls. Transcriptions and Textual Variants, VT.S 134 (Leiden/Boston: Brill, 2010), 584–589; Johan Lust, „Ezekiel Manuscripts in Qumran: Preliminary Edition of 4QEza and b,“ in Ezekiel and his Book: Textual and Literary Criticism and Their Interpretation, BEThL 74, hg. v. Johan Lust (Leuven: Peeters, 1986), 90–100. 28 George A. Brooke, „Ezekiel in Some Qumran and New Testament Texts,“ in The Madrid Qumran Congress: Proceeding s of the International Congress on the Dead Sea Scrolls, Madrid 18–21

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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in Qumran außerordentlich wenige Zitate aus dem Ezechielbuch verifizieren, so dass die Annahme einer Anthologie nicht ernsthaft begründet werden kann. 1: Ez 10,6–16 2: Ez 10,17–11,1129 3 i: Ez 23,14–15.17–18 3 ii: Ez 23,44–47 4–5: Ez 41,3–6.

(V. 8 liest mit LXX ‫ ידי אדם‬statt ‫)יד־אדם‬ (wörtl. MT)

Gleich sieben Abweichungen finden sich, von denen vier als matres lectionis einzustufen sind. Die Schrift bezeugt in Ez 10,7.14.18.21; 11,5 und 23,46 die aus EzMT bekannten Langformen. Der gesamte Text liest dreimal gegen MT, davon sind 2 Varianten eigenständig und eine liest mit LXX. In Fragment 1 findet sich ein Großteil von Ez 10,6–16, wobei der Text dem MT entspricht. In Z. 6 (Ez 10,8) entspricht die Form ‫„ יְ ֵדי ָא ָדם‬Hände des Menschen“ jedoch dem χειρῶν ἀνθρώπων der LXX gegen MT „Hand des Menschen“. Vielleicht liegt hier eine textinterne Angleichung an V. 21 vor. BHS möchte den Text ändern, obwohl MT hier eine lectio difficilior hat. In Fragment 2 findet sich der Großteil von Ez 10,17–11,11. Der Text stimmt völlig mit MT überein, allerdings findet sich in Z. 6 am Ende von Ez 10,21 die feminine Form ‫ וארבעה‬für MT ‫„ וארבע‬vier“, korrekte morphologische Angleichung an die gleiche Form in V. 21aα. Beachtlich ist die Stützung des MT gegen die LXX, die hier statt „vier Flügelpaare“ rechnerisch korrekt „acht Flügel“ liest. Lawrence A. Sinclair hat darauf hingewiesen, dass der an manchen Stellen längere LXX-Text nicht mit der Zeilenlänge des Q-Textes kompatibel ist. Wo Übereinstimmung mit der LXX besteht (Z. 2 [Ez 10,18]; Z. 21 [Ez 11,11]), wird die Lesung von LXXA der von LXXB vorgezogen.30 In Fragment 3 i (Ez 23,14–15.17–18) liegt eine Variante vor, die vielleicht von einer anderen Vorlage herrührt. Der Editor erklärt das so: Das letzte Wort in Z. 3 ‫(„ מולדותם‬das Land) ihrer Herkunft“ ist zugleich das letzte Wort von V. 15. Das letzte Wort von Z. 4 ist nun ‫„ ותקע‬da wandte sie sich (von ihnen) ab“ und gehört zu V. 17 Ende. Da es unmöglich ist, die gesamten V. 16+17 in dieser einen Zeile unterzubringen, muss hier ein Kurztext vorliegen: der Editor meint, V. 16 habe bereits in der Vorlage gefehlt oder sei beim Abschreiber durch Parablepsis aus-

March 1991, hg. v. Julio Trebolle Barrera und Luis Vegas Montaner (Leiden/Boston: Brill, 1992), I 317–337, bes. 319. 29 Vgl. dazu Lawrence A. Sinclair, „A Qumran Biblical Fragment 4QEzeka (Ezek 10:17–11:11),“ RQu 14/1 (1989): 99–105. 30 Sinclair, Qumran, ebd.

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gefallen. Schauen wir auf den Text: V. 16 beginnt mit ‫„ ותעגב עליהם‬und sie verlangte sehnlich nach ihnen“ und V. 17 beginnt mit ‫„ ויבאו אליה‬Und sie (die Söhne Babels) kamen zu ihr“. Eine Parablepsis ist kaum anzunehmen, es sei denn, der Abschreiber sei übermüdet gewesen und sei allein schon durch das einleitende waw abgelenkt worden. Nun ist V. 16 vom Erzählduktus her durchaus nicht notwendig und von der Aussage her auch etwas schlüpfrig, so dass man vielleicht dem Abschreiber eine gewisse Absicht unterstellen möchte. So oder so: V. 16 ist hier nicht vorhanden, die LXX hat ihn jedoch. In Fragment 3 ii findet sich in Z. 1 (Ez 23,44) die 3.m.pl. ‫„ ויבאו‬sie kommen“ gegen MT ‫„ וַ יָּבֹוא‬er kommt“. Die Lesung könnte eine einfache Metathese sein, hat aber auch in der antiken Texttradition (LXX, Pesh, Vg, u.  a.) eine Stütze. Die Pluralform ist vom Kontext her stimmiger: „Und sie gingen zu ihr, wie man zu einer Hure geht“. Vorschlag: MT sollte verbessert werden. Dann findet sich in Z. 2 (Ez 23,45) die seltsame Form ‫ יׁשפטתו‬anstatt MT ‫יִ ְש ְפטּו‬ „sie richten“, die als phonetische Variante gedeutet werden kann. In Fragm. 4+5 liest Z. 5 (Ez 41,5) gegen MT einfaches ‫סבי[ב ל]בית‬, gegen MT ‫ס ִביב ַל ַבּיִת ָס ִביב‬. ָ Dann maß er die Mauer ]des Tempelgebäudes – 6 Ell[en dick – und die Breite des Anbaus vier Ellen ringsum, ring]sum das Tempelgebäude [ringsum. ]Und die Neb[enräume …

Hier steht Qumran der LXX näher als dem MT, denn LXX liest in V. 5: καὶ τὸ εὖρος τῆς πλευρᾶς πηχῶν τεσσάρων κυκλόθεν „und die Breite des Seitenanbaus 4 Ellen ringsum“, lässt also ein ‫ ָס ִביב‬aus. Zwar hat die LXX diese Doppelung in Ez 37,2 übersetzt,31 nicht jedoch in Ez 41, wo im MT die Doppelung 9mal begegnet, aber grundsätzlich durch einfaches κύκλῳ oder κυκλόθεν übersetzt wird. Das Gleiche gilt für die 11 Doppelungen in Ez 40. Wir haben hier also kein textkritisches Problem vor uns, sondern treffen auf eine bestimmte Übersetzungstechnik der LXX.

31 Unverständlich erscheint mir der Satz von Schwagmeier 2004, 61: „Das Fehlen in 4Q73 und der Befund, dass Ez 41,5, ein Vers, in dem die ‫ס ִביב‬-Doppelung ָ ebenfalls belegt ist, in G vollständig fehlt, könnte dafür sprechen, dass mit dieser eigentümlichen Doppelung ein auf masoretische Nacharbeit zurückgehender Eintrag vorliegt, dass das Wort somit gar nicht in der Vorlage von G stand.“

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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1.1.4 4QEzb (4Q74) Der Text der sechs Fragmente (herodianische Buchschrift, Zeitenwende bis 1. Jh. n. Chr.) ist als semiMT zu charakterisieren. Die anfänglich geäußerte Idee, in 4Q74 liege eine Ez-Rolle vor, ist inzwischen aufgegeben. Die relativ schmale Rolle (nur 11 Zeilen) kann niemals das ganze Ez-Buch enthalten haben, sie hätte dann 32 m(!) lang sein müssen. Möglicherweise enthielt der Text nur die erste Vision (1,1–3,15) oder eine Zusammenstellung mehrerer Visionen (?). In der neuesten Datenbank32 werden die Fragmente neu gezählt. 1–4 (neu: 6): Ez 1,10–13 5–6 i: Ez 1,16.17.19 6 ii (neu: 1): Ez 1,20–24

Kol. III33 Kol. IV Kol. V

Der Text liest 3mal gegen MT, davon sind zwei Varianten eigenständig. In Ez 1,22  f. ist der Langtext von MT gegen LXX erhalten. Von Fragm. 1 sind nur noch 7 Buchstaben mit Mühe zu lesen, die als Teil von Ez 1,10aβ gelten können: Die Gestalt ihrer Gesichter aber war: ein Menschengesicht, ein Löwengesicht bei allen vier nach rechts, ]ein Stiergesicht[nach links ]bei ihren [ vier] und ein Ad[lerge]sicht bei [ihren] vier.

Von Fragm. 2 sind noch 10 Buchstaben enthalten, die sich als Teil von Ez 1,10b zu erkennen geben. In beiden Fällen bietet Qumran das Suff. 3.m.pl. ‫ לארבעתם‬gegen MT 3.f.pl. ‫ לארבעתן‬und gleicht damit die Suffixe dem mask. Suffix in V. 10aα an. Die Angleichung ist also korrekt, allerdings hat MT die lectio difficilior. In Fragm. 3 sind noch Reste von 4 Zeilen zu erkennen, die sich als Ez 1,11.12 bestimmen lassen. In Z. 6 (V. 11bα) hat Qumran hinter ‫(„ חברות‬Flügel), die sich berühren“ ein ‫ ִאיׁש‬ausgelassen, was den Text sachlich vereinfacht. Mit zwei Flügeln] berührten sie und mit zwei [bedeckten sie ihre Leiber. 12 Jedes lebende Wesen ging [in Richtung eines seiner Gesichter. Sie gingen, ]wo es dort[hin war der G]eist geh[end, gehen sie. Nicht drehen sie sich bei ihrem Gehen um.

32 www.deadseascrolls.org. 33 Die von Sanderson, Ezekiel, 209–214, vorgenommene Kolumnenzählung geht von einer eigen­ständigen Titelei in Kol. I, dann Ez 1,1–9 als Kol. 2, dann weiter wie oben aus.

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Fragm. 4 enthält Reste von drei Zeilen, die sich klar lesen lassen und als Ez 1,13 zu identifizieren sind. Der Text stimmt völlig mit MT überein und stellt sich gegen die Korrekturvorschläge in BHS: Was die Gestalt der lebenden Wesen angeht: Ihr Aus[sehen war wie glühende Feuerkohlen.] Wie das Aussehen von Fackeln war das, was sich beweg[te inmitten der ]lebenden Wesen. Und einen hellen Schein hatte das Feuer und vom Feuer ging aus [ein Blitzen.

ֹFragm. 5–6 i bieten nur spärliche Buchstabenreste, die der Editor den Versen Ez 1,16–20 zuordnet. Aus dem erhaltenen Text ist nichts zu schließen. Fragm. 6 ii bietet gut lesbare Reste von 9 Zeilen, die einwandfrei den Text von Ez 1,20–24 enthalten. Der Text ist nahezu mit MT identisch. In Z. 2 (V. 21) hat der Schreiber den Schreibfehler ‫ יעמו‬nachträglich zu ‫ =( יעמדו‬MT) korrigiert. In Z. 4 (erstes Wort von V. 22) liest Qumran ‫„ ודמותם‬und ihre (m.Pl.) Gestalt“ statt MT ‫„ ְוּדמוּת‬und die Gestalt“. Mit dieser Lesung steht Qumran allein, denn auch LXX liest wie MT. Sanderson34 vermutet einen Abschreibefehler, Schwagmeier denkt eher an eine Epexegese, die die Gestalt der Engel mit zum Himmelsgewölbe rechnet: MT: Und die Gestalt über den Häuptern der lebenden Wesen war ein Gewölbe, gleich dem furchterregenden Eiskristall, ausgebreitet [oben über ihren Häuptern … Qumran: Und ihre (m.Pl.) Gestalt über den Häuptern [der lebenden Wesen war ein Gewölbe, … 22

1.1.5 4QEzc (4Q75) Das eine erhaltene Fragm. (hasmonäisch; Beginn bis Mitte des 1. Jh. v. Chr.) ent­ hält in drei Zeilen 9 Wörter aus Ez 24,2–4 Menschensohn, schreib dir den Namen dieses Tages auf,] genau den heutigen Tag! [Am heutigen Tag hat sich der König von Babel auf Jerusalem gestürzt.] 3 Und ein Gleichnis auf das Ha]us der Widerspenstigkeit, ein Gleich[nis und sag zu ihnen, so spricht Gott, der Herr: Stell den Kessel auf, stell ihn auf und] gieß auch Wasser hinein. 2

Der Text bestätigt in Ez 24,2 mit MT und LXX das in Syr und Vg fehlende ‫„ את עצם ]היום הזה‬genau [den heutigen Tag“.

34 Sanderson, Ezekiel, 216.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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1.1.6 11QEz (11Q4)35 Von den äußeren Umrollungen sind 9 Fragmente abgesplittert. Sie bezeugen paläographisch in mittelherodianischer Schrift (10 v. – 30 n. Chr.) den Langtext von MT, wobei der Text weder mit MT noch mit LXX identisch ist.36 Armin Lange37 nennt den Text semiMT. Die Rolle selbst konnte bisher noch nicht geöffnet werden. Die Anordnung der Fragmente lässt aber die Vermutung zu, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine vollständige (?) Ezechiel-Rolle handelt, deren Text als solcher für die hier vorliegende Untersuchung von unschätzbarem Wert wäre.38 1: Ez 1,8–10 (ganz unsicher!) 2: Ez 4,3–5 3a: Ez 4,6 4–5: Ez 4,9–10 3b+6: Ez 5,11–17 7: Ez 7,9.11.12 8: Ez 4,9 (?) 9: ]‫[ג‬

Fragment 1 enthält 12 Buchstaben in 3 Zeilen, die Ez 1,8–10 wiedergeben sollen. Fragm. 1 wurde von William H. Brownlee39 als Fragment E als Ez 10,11–12 gedeutet, was aber aus technischen Gründen (Wickelung der Rolle) unmöglich ist. Aus den kläglichen Resten ist nicht viel zu schließen. Fragment 2 zeigt ebenfalls noch Reste von 3 Zeilen, die aus Ez 4,3–5 stammen. Herbert weist darauf hin, dass das Fragment den genannten Text spiegelt, wenn man eine Kolumnenbreite von ca. 11 cm voraussetzt. Wenn Qumran hier in V. 4 den Langtext der LXX enthalten würde, also statt ‫ הימים‬entsprechend LXX τῶν ἡμέρων πεντήκοντα καὶ ἑκάτου dann ‫ חמׁשים ומאה יום‬gelesen hätte, würde sich

35 Edward Herbert, „Qumran Cave 11 II. 4. 11QEzekiel.“ in Qumran Cave 11. DJD XXIII (Oxford: Clarendon Press, 1998), 15–28; William H. Brownlee, „The Scroll of Ezekiel from the Eleventh Qumran Cave,“ RQu 4/13 (1963): 11–28. 36 Schwagmeier, Untersuchungen, 59. 37 Lange, Handbuch, 326. 38 Ein Briefwechsel mit Emanuel Tov hat ergeben, dass die noch ungeöffnete Ezechiel-Rolle erst nach der Levitikus-Rolle aus Ein Gedi zur Öffnung ansteht. Ein Vorschlag unsererseits, die nötigen Mittel zu besorgen, um die komplizierte Entzifferung mit neuesten technischen Mitteln vorziehen zu können, wurde von der Kustodin Pnina Shor abschlägig beschieden, da die Israelische Altertümerverwaltung (IAA) auf eine eigene Publikation des Textes besteht. Es sei jedoch in naher Zukunft mit der Öffnung der Rolle zu rechnen. 39 Brownlee, Scroll, 17.

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die Kolumnenbreite um nahezu 2 cm vergrößern. Deshalb sei anzunehmen, dass Qumran hier den Kurztext hat, eine sehr vage Argumentation! Du, leg dich auf deine ]linke Seite und leg [die Schuld des Hauses Israel darauf! Die Zahl der Tage, [LXX +: 150  Tage]die du darauf liegst, trägst du ihre Schuld. 5 ]Ich aber setze hiermit für dich [die Jahre ihrer Schuld …

Fragment 3a enthält mit 10 Buchstaben die Abfolge von Ez 4,6: Wenn du diese beendet hast, lege dich auf die andere, deine rechte Seite und trage 40 Tage lang die Schuld des Hauses Juda, einen Tag für jedes Jahr. Einen Tag] für jedes Jahr setze ich für dich fest.

Die Fragmente 4–5 enthalten Ez 4,9–10. Du, nimm dir Weizen, Gerste und Bohnen, Linsen, Hirse und Dinkel. Gib sie zusammen in ein einziges Gefäß und mach] dir das zu Brot. [ Die Zahl der Tage, die du auf deiner Seite liegst, 390 (LXX: 190) Tage lang, sollst davon essen. 10 ]Und dein Essen, das du isst, soll genau abgewogen sein [ 20 Schekel am Tag.

Die Fragmente 3b+6 enthalten Ez 5,11–17. An Fragment 3b+6 haftet am rechten Rand ein winziges Fragment um 90° verdreht, von dem noch ‫ פניך אל ב‬gelesen werden kann. Brownlee hielt diesen Textsplitter für Ez 13,17, was aber ebenfalls aus technischen Gründen unwahrscheinlich ist. Fragm. 3b+6 dürfte für die Interpretation von 11QEz besonders wichtig sein, weil der Text Auskunft geben soll über die Verwendung der Kurz- oder Langformen. Die Unterschiede zwischen der preliminary edition von Brownlee und der Edition von Herbert sind auffällig und vielleicht sogar interessengeleitet. Dabei spielen jedoch äußerst windige Berechnungen der Zeilenlängen eine entscheidende Rolle, weshalb ich hier zur Vorsicht mahnen möchte. In Z. 2 (Ez 5,12) ist in ‫ יכ]לו בתוכך‬die Pleneschreibung des MT bestätigt. In Z. 5 (Ez 5,15) liest Qumran ‫„ והית‬du (2.f.sg.) wirst sein“, MT liest ‫וְ ָהיְ ָתה‬ (3.f.sg.); BHS macht aber mit den Versionen (z.  B. LXX: καὶ ἔσῃ) den Vorschlag, ‫יִתה‬ ָ ‫( וְ ָה‬2.f.sg.) zu lesen. Mit Qumran sollte diesem Vorschlag gefolgt werden. In Z. 5 (Ez 5,15aα) streiten sich Brownlee und Herbert: Während Brownlee die Buchstabenfolge ‫ [ מסר ומ[ׁשמה‬als ‫דוּפ[ה‬ ָ ְ‫ וִ נ‬entzifferte, was aber nicht in den Kontext passt, hält Herbert sie für gegeben und errechnet mit Hilfe der Zeilenlänge (Zeile würde von ca. 11 auf ca. 9 cm verkürzt) ihre tatsächliche Position. Ohne dieses Wortpaar wäre die Zeile zu kurz. Da dieses Wortpaar in der LXX nicht vorhanden war, bezeugt Qumran hier den Langtext. Dem Hinweis in der BHS sollte man also nicht folgen.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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MT: So wirst du zum Gespött und zum Hohn, zur Warnung und zum Schreckbild [für die Nationen, rings um dich her, wenn ich in dir Gericht halte] mit Zorn und Gr]imm [fehlt in Q] mit grimmigen Züchtigungen. Ich, der Herr, habe gesprochen. LXX: und du wirst bejammert und zur Schau gestellt sein < > unter den Völkern rings um dich, wenn ich über dich Urteile vollstrecke < > in der Rache meines Grimms. Ich, der Herr, habe gesprochen.

In Z. 6 (Ez 5,15bα) liest Q (mit MT teilrekonstruiert) ‫„ באף ובח]מה‬mit Zorn und Grimm“. LXX hat diesen Überschuss offensichtlich nicht. Qumran bezeugt also wieder einen Langtext. In derselben Zeile liest Qumran ‫ בתכֹחות חמה‬mit LXX gegen MT ohne Syndese. Das griech. ἐν ἐκδικήσει θυμοῦ μου mag dem in etwa entsprechen. Herbert schlägt vor, das Fehlen der Kopula in der LXX mit dem Fehlen des vorangehenden Wortpaares zusammen zu sehen. In Qumran ist nun das in der LXX fehlende Wortpaar ‫באף ובחמה‬ – wenn auch teilrekonstruiert – vorhanden und trotzdem fehlt hier die Kopula. Man kann dies damit erklären, dass Qumran das ‫ ְבת ְֹכֹחות ֵח ָמה‬als Apposition zum vorgehenden ‫וּב ֵח ָמה‬ ְ ‫ ְּב ַאף‬verstanden hat. Dazu eröffnet Schwagmeier eine interessante Perspektive: Nun handelt es sich bei ‫וּב ֵח ָמה‬ ְ ‫ ְּב ַאף‬um einen MT-Überschuss, der mittels Zufügung von waw an das folgende Wort in seinem Kontext verankert wird. … Es ist nicht ausgeschlossen, dass hier (sc. in Qumran) ein Textstadium greifbar wird, in dem zwar ‫וּב ֵח ָמה‬ ְ ‫ ְּב ַאף‬schon in den Text eingefügt, aber noch nicht mittels Konjunktion verankert wurde. Trifft das zu, würde man hier einer interessanten Wachstumsstufe des Textes ansichtig.40

Weitere Berechnungen der Zeilenlänge durch Brownlee und Herbert will ich nur unkommentiert nennen: So sei Ez 5,13Q kürzer als MT und nähere sich deshalb der LXX. Ez 5,14Q sei im Blick auf die Länge weder mit MT noch mit LXX identisch, habe deshalb möglicherweise die etwas kürzere lukianische Variante. Und schließlich könne vom verfügbaren Platz her auch in Ez 5,16Q der MT nicht vollständig vertreten gewesen sein. In Fragment 7 sind noch spärliche Reste von 4 Zeilen erhalten, die den Text Ez  7,9–12 widerspiegeln. Herbert41 weist darauf hin, dass die LXX im Bereich der V. 3–11 eine differente Versabfolge42 bietet, wobei die erheblichen Textüberschüsse im MT gegenüber LXX Indizien einer komplexen Textgeschichte sind. Nun gehören die Langtexte in Ez 7,5b.6b–7a.10b.11cMT nicht zum ursprünglichen

40 Schwagmeier, Untersuchungen, 58. 41 Herbert, Qumran, 27. 42 LXX hat die V. 3–5MT zwischen V. 9 und 10MT gesetzt.

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 Heinz-Josef Fabry

Textbestand.43 Fragment 7 zeigt nun, dass zwischen V. 9 und V. 10 nicht genug Platz ist, um die LXX-Umstellung aufzunehmen, Qumran also offensichtlich beim Langtext des MT bleibt. Aus den 7 abgesprengten Fragmenten lässt sich mit Vorsicht folgendes erschließen: Die Rolle bezeugt in Ez 5,13.15  f. und 7,3–12 gegen LXX den Langtext und die Textfolge von MT.

1.2 MasEz(1043–2220-Mas1d) Die 50 Fragmente einer Ez-Rolle wurden unter dem Fußboden der Synagoge in Kasematte 1043 gefunden. Die Rolle dürfte aus dem Besitz der Zeloten stammen. Die Fragmente gehören zu einem einzigen großen Leder-Sheet und bilden einen Text mit 4 Kolumnen ab. Der rechte Rand der I. und der linke Rand der IV. Kolumne sind abgebrochen. Deshalb kann nichts darüber gesagt werden, ob es sich um den Rest einer ganzen Ez-Rolle handelt. Wenn doch, dann hätte sie analog zur vorfindlichen Höhe und Breite der Kolumnen ca. 60 Kolumnen umfasst und eine Gesamtlänge von 6,15 m (ca. 15 Sheet) gehabt. Der in einer sorgfältigen herodianischen Buchschrift geschriebene (so Shemarjahu Talmon; Eibert Tigchelaar hält sie für spätherodianisch)44 Text steht dem MT nahe und die Abschrift datiert zwischen 50 v. und 50 n. Chr. Kol. Ι: Kol. ΙΙ: Kol. ΙΙΙ: Kol. IV:

Ez 35,11–15 Ez 36,1–10.13–14.17–35 Ez 37,1–14.23.28 Ez 38,1–4.7–14.

Der Text enthält nach Talmon 25 nichtorthographische Varianten und liest dabei 23mal mit MT, nur zweimal mit LXX. Manchmal schreibt der Text plene für MT defektiv oder umgekehrt. Tigchelaar hat einige Rekonstruktionen schwer sichtbarer Zeichen mir Recht (?) bezweifelt und Änderungen vorgeschlagen, die aber inhaltlich unwesentlich sind. Es zeigt sich folgende Tendenz: Mas mit MT gegen LXX: (21 Fälle)

43 Nach Walter Zimmerli, Ezechiel  I. Ezechiel 1–24 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1969), 172 sind die Verse 3–6LXX (= 6.8.9MT) sekundär; vgl. auch LXX.D-E II 2872. 44 Tigchelaar, Notes, 269–275.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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I 1 (Ez 35,11): Mas liest wie MT ‫„ ִמ ִּשׂנְ ָא ֶתיָך ָּבם‬aus deinem Hass heraus gegen sie“ gegen LXX κατὰ τὴν ἔχθραν σου „entsprechend deiner Feindschaft“ (LXX hat den Vers verkürzt). I 2 (Ez 35,12): Mas liest ‫צֹותיָך‬ ֶ ‫ת־ּכל־נָ ָא‬ ָ ‫„ ָׁש ַמ ְע ִּתי ֶא‬ich habe all dein Schmähen gehört“. Mas bestätigt MT gegen LXX ἤκουσα τῆς φωνῆς (= ‫)קֹול‬. I 3 (Ez 35,12): Mas + MT: „als du gegen (‫ )על‬die Berge Israels gesprochen hast: sie sind verödet“ gegen LXX: „dass du gesagt hast: Die Berge Israels sind wüst“. I 3 (Ez 35,12): Mas liest ‫„ ָלנוּ נִ ְתּנוּ ְל ָא ְכ ָלה‬sie sind uns zum Fraß gegeben“ und bestätigt den MT gegen LXXΑ ἡμῖν δέδοται εἰς κατάσχεσιν „uns ist er zum Erbe gegeben“ (= ‫)נחלה‬. LXXS hat richtig κατάβρωμα. I 4 (Ez 35,13): Mas liest wie MT ‫„ וַ ַתּגְ ִדּילוּ ָע ַלי‬und ihr habt gegen mich großgetan mit euren Mündern“ (Pl.) gegen LXX καὶ ἐμεγαλορημόνησας „du hast groß gemacht …“ (Sg.). Ι 4 (Ez 35,13): Mas mit MT: „und ihr habt gegen mich eure Worte gebetet“ (wird als zu emendierender Textfehler verstanden; vgl. KAHAL 437); fehlt in LXX. I 8 (Ez 35,15): Mas liest mit MT ‫„ וְ יָ ְדעּו‬dann werden sie erkennen“ (Pl.) gegen LXX καὶ γνώσῃ „und du wirst erkennen“ (Sg.). I 10  f. (Ez 36,1): Mas liest mit LXX ‫„ וְ ָא ַמ ְר ָתּ ָה ֵרי יִ ְׂש ָר ֵאל‬und sage: ihr Berge Israel“ gegen LXX: καὶ εἰπὸν τοῖς ὄρεσιν „und sprich zu den Bergen Israels“. I 27 (Ez 36,7): Mas + MT: „So hat der Herr JHWH gesprochen“, fehlt in LXX. In I 28 (Ez 36,7) und III 15  f. (Ez 37,9) hat Mas dieselbe Textfolge wie MT gegen eine invertierte Textfolge in LXX. I 29  f. (Ez 36,8): Mas nach MT rekonstruiert: „Ihr sollt eure Zweige treiben und eure Früchte geben für mein Volk Israel“, gegen LXX: „aber eure Weintraube, Berge Israels, und eure Frucht wird mein Volk verzehren“. II 3  f. (Ez 36,18): Mas nach MT teilrekonstruiert: „weil sie das Blut vergossen haben über das Land und es mit ihren Götzen verunreinigt haben“ gegen LXX V. 17: „Das Haus Israel ließ sich in seinem Land nieder, befleckte es aber durch seinen Wandel und durch seine Götzen und durch seine Unreinheiten“. II 8 (Ez 36,21): Mas + MT „da tat mir mein heiliger Name leid“ gegen LXX: „und ich verschonte sie wegen (διά) meines heiligen Namens“ II 9 (Ez 36,21): Mas hat eine halbe Leerzeile hinter ‫ׁשם‬: MT liest ‫ ָׁש ָמּה‬und setzt an dieser Stelle eine Setuma. III 2 (Ez 37,1): Mas + MT: „Gebeine“ gegen LXX: „menschliche Gebeine“. III 9 (Ez 37,5): Mas liest mit MT ‫יתם‬ ֶ ִ‫רוּח וִ ְחי‬ ַ „Ich selbst bringe in euch den Geist und ihr werdet leben“ gegen LXX φέρω εἰς ὑμᾶς πνεῦμα ζωῆς „Ich bringe in euch den Geist des Lebens“. III 11 (Ez 37,7): Mas liest mit MT ‫יתי‬ ִ ֵ‫„ ַכּ ֲא ֶׁשר ֻצוּ‬wie mir befohlen worden war“ gegen LXX καθὼς ἐνετείλατό μοι „wie er mir aufgetragen hatte“. III 12 (Ez 37,7): Mas nach MT teilrekonstruiert: „und da war ein Geräusch wie (ke; BHS prp. be „bei“) mein(em) Prophezeien“ gegen LXX: „und als ich verkündete, siehe …“ (om. ‫)קֹול‬. III 16  f. (Ez 37,9): Mas + MT: „von den vier Winden soll kommen der Geist und hauche die Erschlagenen an“ gegen LXX: „Komm aus den vier Windrichtungen und hauche in diese Toten hinein“ (om. ‫)הרוח‬. III 20 (Ez 37,11): Mas mit MT: „Das ganze Haus Israel sind sie. Siehe, sie sagen“ gegen LXX: „Diese Knochen sind das ganze Haus Israel und sie sagen“ (om. ‫)הנה‬. III 24 (Ez 37,12): Mas mit MT: „und hole euch, mein Volk, aus den Gräbern“ gegen LXX: „und werde euch aus euren Grabmälern hervorholen“ (om. ‫)עמי‬. III 29 (Ez 37,16): Mas mit MT: „Und nun Menschensohn“ gegen LXX: „Menschensohn“ (om. ‫)ואתה‬.

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Mas mit LXX gegen MT: (1 Fall) –

III 12 (Ez 37,7): Mas liest ‫ תקרבו [ה]עצמות‬statt MT ‫„ וַ ִתּ ְק ְרבוּ ֲע ָצֹמות‬und die Gebeine rückten zusammen“. Die fehlende Syndese in Mas ist nicht weiter wichtig, jedoch bietet Mas zwischen beiden Wörtern ein auffällig großes Spatium. Das Leder hat ein Loch und es ist wohl zu vermuten, dass hier in Übereinstimmung mit der LXX (τὰ ὄστα) ein Artikel gestanden hat. In Z. 7.19 ist ‫ ֲע ָצֹמות‬ebenfalls determiniert.

Mas ≠ MT ≠ LXX (4 Fälle) –

– – –

I 5 (Ez 35,14): Mas liest ‫„ כשמחת כל הארץ‬wie die Freude der ganzen Erde“; MT liest ‫ל־ה ָא ֶרץ‬ ָ ‫„ ִכּ ְׂשמ ַֹח ָכּל ָּכ‬wie doch das ganze Land sich freut“. LXX: ἐν τῇ εὐφροσύνῃ πάσης τῆς γῆς „unter dem Jubel der ganzen Erde“. Talmon nimmt an, dass Mas hier einen „mediating link between MT and G“ behalten hat, der etwas über die Entstehung der griech. Variante aussagen könnte.45 II 8: Defektivschreibung ‫ הללהו‬statt MT: ‫הללוהו‬. II 12 (Ez 36,22): supralineare Einfügung von ‫בית‬: wahrscheinlich Augensprung aus V. 21 ‫בית ישראל‬. II 12; III 20: die Schreibung des mem (medial oder final) ist noch nicht stabil.

Beachtlich ist, dass diese Rolle bereits für das ausgehende 1. Jh. v. Chr. einen Text enthält, der die Kapitelfolge Ez 35.36.37.38 wie MT bezeugt und zugleich auch die Verse Ez 36,23bβ–38 (Kol. II 15–42; ab Z. 32 sehr fragmentarisch) enthält, also auch den Text, der in Pap 967 fehlt.

1.3 Zwischenfazit Der Überblick über die Handschriften von Qumran und Masada weist aus, dass von diesen sieben Manuskripten nur 4QEza, 11QEz und MasEz einmal das gesamte Ezechielbuch umfasst haben könnten.46 Für die anderen Manuskripte wären solche Behauptungen reine Phantasie. Als Hauptthese mag gelten, dass sowohl Qumran wie auch Masada einen Ezechieltext bieten, der weitestgehend mit dem MT identisch war, der Ezechieltext bei der Zeitenwende bereits recht stabil fixiert war. Dies darf nicht zu dem Schluss führen, dass es im 1. Jh. v. Chr. nur diesen einen Text gegeben habe. Sicher aber bot er den mainstream mit einem hohen Autoritätsanspruch. Erkennbar ist auch die deutliche Opposition gegenüber dem

45 Talmon, Fragments, 70; Schwagmeier, Untersuchungen, 103. 46 Vgl. Mladen Popović, „Prophetes. Books and Texts: Ezekiel, Pseudo-Ezekiel and the Authoritativeness of Ezekiel Traditions in Early Judaism,“ in Authoritative Scriptures in Ancient Judaism, JSJ.S 141 (Leiden/Boston: Brill, 2010), 227–251.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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LXX-Text mit seiner unterschiedlichen hebr. Vorlage. Das aber ist für konservative palästinisch-jüdische Kreise – wie man sie für Qumran und Masada voraussetzen muss – nicht verwunderlich.

1.4 Die Bedeutung der Q-Texte für das Problem von Kurz- und Langtexten in Ez Schon seit Ende des 19. Jh. stehen die Differenzen zwischen Langtext (MT) und Kurztext (LXX) im Ezechielbuch unter Beobachtung47 und nach wie vor wird die Debatte darüber geführt, ob hier ein textkritisches oder ein redaktionskritisches Problem vorliegt. Dabei verläuft der Trend eindeutig in Richtung Textkritik, denn es lässt sich vielfach nachweisen, dass die von Georg Fohrer so genannten „Glossen“ weder in der LXX noch im prähexaplarischen Text (Codex B; Pap 967) vorhanden sind. Johan Lust hat dies an Ez 7,3–6LXX; 12,26–28; 13,7 und 36,23c–38 nachgewiesen.48 Mit Pap 967 und dem altlateinischen Codex Wirceburgensis (LaW) sei eine hebräische Vorlage zu erschließen, die älter als der MT sei und der Vorlage des Old Greek nahekomme. Der MT dagegen sei ein späteres Produkt einer anti-apokalyptischen pharisäischen Redaktion zur Zeit des frühen Christentums und es sei der Codex A gewesen, der den LXX-Text wieder an den MT angeglichen habe. Vorsichtiger urteilte damals Emanuel Tov und blieb eher bei Vermutungen.49 Es ist erstaunlich, wie mutig Johan Lust50 bei seiner Theoriebildung war, obwohl in seiner Zeit mehrere Qumrantexte zur Veröffentlichung anstanden, die erforderlich machten, die Sachlage neu zu bedenken. 1.4.1 Obwohl nun der qumranische Befund überaus mager ist und eine gewisse Flexibilität des hebräischen Textes zur Zeit Qumrans bezeugt, geben 4QEza und MasEz nun doch eine hinreichende Klarheit dafür, dass MT inklusive Ez  36,23bβ–38 bereits um 100 v. Chr. bestand. Auch zeigt der Befund, dass die Langtexte des MT bereits in vorchristlicher Zeit vorhanden waren.

47 Carl Heinrich Cornill, Das Buch des Propheten Ezechiel (Leipzig: Hinrichs, 1886); Johan Lust, „The Use of Textual Witnesses for the Establishment of the Text. The Shorter and Longer Texts of Ezekiel. An Example: Ez 7,“ in Ezekiel and his Book, BEThL 74 (Leuven: Peeters, 1986), 7–20. 48 Lust, Use, ebd. 49 Emanuel Tov, „Recensional Differences Between the MT and LXX of Ezekiel,“ EThL 62 (1986): 89–101, bes. 101: „We are confronted here with different stages in the literary development of the book“. 50 Johan Lust, „Major Differences Between LXX and MT in Ezekiel,“ in The Earliest Text of the Hebrew Bible. The Relationship Between the Masoretic Text and the Hebrew Base of the Septuagint Reconsidered, SBLSCS 52 (Atlanta: Society of Biblical Literature, 2003), 83–92.

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1.4.2 Das Fehlen dieser Verse und die Umstellung der Kapitel Ez 12–36,23bα; 38–39; 37; 40–48 im griechischen Pap 967 sowie im Codex Wirceburgensis weisen nicht auf eine isolierte Tradition, sondern es wird vermutet, dass hier der sogenannte „Old Greek“ über eine von MT verschiedene und vermutlich ältere Vorlage greifbar wird. Das bedeutet nach Michael Konkel: Es existierte somit zum Zeitpunkt der Entstehung der Ezechielseptuaginta eine hebräische Buchfassung, in der das theologische Herzstück Ez 36,23–38 noch fehlte, und in der Ez 37 mit der Vision von der Erweckung der Gebeine direkt vor der zweiten Tempelvision (Ez 40–48) positioniert war51.

Diese Hypothese scheint gut begründet zu sein, scheitert aber an der simplen Tatsache, dass diese hebräische Buchfassung Ergebnis einer spekulativen Hochrechnung ist. Es mag sie gegeben haben, aber wir haben sie nicht. Das Dilemma dieser Hypothese liegt in dem Problem, dass Pap 967 genau wegen MasEz nicht der älteste Text sein kann. Wie aber lassen sich die Unterschiede nun erklären? Michael Konkel als ein rezenter Vertreter dieser Hypothese sieht hinter den Varianten eine Absicht; so konnte er anhand der Übersetzung von Ez 21,25–28 [30–33] und 45,17 nachweisen, dass bereits die Übersetzung der LXX der Legitimation hasmonäischer Machtansprüche dienen sollte. MT zeige nun eine zadokidische Reaktion auf diese hasmonäische Inanspruchnahme des Ezechielbuches aus der Zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.: „Durch die Positionierung von Ez 37 vor der Gog-Magog-Perikope wird der Überblendung der in der Old Greek bezeugten Ereignisfolge mit den Geschehnissen unter Makkabäern und Hasmonäern ein Riegel vorgeschoben. Die Restitution Israels unter dem neuen David stellt nur ein Zwischenstadium dar. Der endgültige Sieg über die Völker mit der nachfolgenden Errichtung der neuen Kultordnung unter Vorherrschaft der Zadokiden steht erst noch aus.“52

Anders beantwortet Hector M. Patmore53 die Fragen und bietet als Lösung an: Es müssen im 1. Jh. v. Chr. zwei unterschiedliche Versionen – die längere protoMTFassung und die kürzere LXX-Fassung – mit je ihrer eigenen hebräischen Vorlage

51 Michael Konkel, „Das Ezechielbuch zwischen Hasmonäern und Zadokiden,“ in Juda und Jerusalem in der Seleukidenzeit. Herrschaft – Widerstand – Identität. Festschrift für Heinz-Josef Fabry, BBB 159 (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht – Bonn University Press, 2010), 59–78, bes. 60. 52 Michael Konkel, Jezekiel, LXXD E II (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011), 2849–2854, bes. 2853  f. 53 Hector M. Patmore, „The Shorter and Longer Texts of Ezekiel: The Implications of the Manuscript Finds from Masada and Qumran,“ JSOT 32/2 (2007): 231–242.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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im Umlauf gewesen sein. Sie hätten nebeneinander und nicht nacheinander bestanden, so dass sich weder eine Chronologie aufstellen, noch die Frage nach der Originalität klären lasse. Aber auch das ist letztlich eine Spekulation. Das deutliche Zeugnis aus Masada schließt beide Hypothesen nicht zwingend aus, lässt es aber ratsam erscheinen, die frühe Fixierung des protoMT ernst zu nehmen und eine umgekehrte textgeschichtliche Entwicklung anzunehmen. Pap 967 bietet zwar hier den kürzeren Text, zugleich aber auch redaktionelle Erweiterungen gegenüber der LXX und ist damit möglicherweise Ergebnis einer nachträglichen Angleichung des griechischen Textes an den MT. Damit ist die Gleichsetzung Pap 967 = Old Greek nicht mehr zu halten.

1.4.3 Zwischenfazit Der in 4QEza und 11QEz bezeugte Langtext ist für die Textgeschichte interessant und stimmt mit der These (siehe oben) überein, dass der Langtext kein spätes Produkt ist, sondern bereits in vorchristlicher Zeit existierte. Das spricht für eine Priorität von EzMT gegenüber der hebr. Vorlage der LXX54. MT ist also weniger Ergebnis einer fortlaufenden Glossierung des Kurztextes (LXX)55, sondern eher Ergebnis einer konservativen Beibehaltung eines alten Textes gegen einen zwischenzeitlich hasmonäisch verunstalteten Kurztext, wie er dann dem Übersetzer der LXX vorlag.

2 Die Ezechiel-Rezeption in Qumran 2.1 Zitate Zeigt sich in den Ez-Handschriften eine durchgehende Nähe zum MT, so ist die Ezechiel-Rezeption in den „non(pre)-sectarian“ und „sectarian“ Handschriften durchaus nicht so eindeutig. Schaut man auf die echten Zitate, so zeigt sich folgendes Bild: Ez 9,4 wird in CD 19,11–12 (mit EzLXX), Ez 25,8 in 4QMidrEschatb 9,13  f. (eher EzLXX), Ez 37,23 in 4QMidrEschata 3,16  f. (eher EzLXX) und Ez 44,15 in CD

54 Ka Leung Wong, „The Prince of Tyre in the Masoretic and Septuagint Texts of Ezekiel 28,1–10,“ in Interpreting Translation. Studies in the LXX and Ezekiel in Honour of Johan Lust, BEThL 192 (Leuven: Peeters, 2005), 447–461; dagegen Armin Lange. 55 Johannes Herrmann, Georg Fohrer, Leonhard Rost u.  a.

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3,21–4,4 (eher EzMT) zitiert. Besonders die Zitate in CD zeigen einen eigenständigen Ez-Text, der sich in keiner der Versionen findet. Da CD die Zitate mit expliziten Zitatformeln einleitet, lag ihm möglicherweise eine eigene hebräische Ez-Version vor. Dem entspricht auch ein Zitat von Ez 37,23 in 4QMidrEschata 3,16  f.

2.1.1 Ez 9,4MT ‫אמר יְ הוָ ה ֵא ֔ ָלו‬ ֶ ֹ ‫‏וַ יּ‬ ‎ ‫עבֹר ְבּתֹוְך ָה ֔ ִעיר‬‎ֲ ‎ ִ‫וּשׁ ָל֑ם‬ ָ ‫‏בּתֹוְך יְ ֽר‬ ְ ‫ל־מ ְצחֹות ָה ֲאנָ ִשׁים ַה   ֶ נּ ֱֽאנָ ִחים וְ ַה   ֶ נּ ֱ֣אנָ ִ֔קים‬ ִ ‫ית ָתּו ַע‬ ָ ִ‫וְ ִה ְתו‬ :‫תֹוכהּ‬ ֽ ָ ‫תֹּוע ֔בֹות ַ ֽהנַּ ֲעשֹׂות ְבּ‬ ֵ ‫ל־ה‬ ַ ‫ַעל ָכּ‬ Da sprach JHWH zu ihm: „Gehe hinein in die Mitte der Stadt, in die Mitte Jerusalems und markiere ein Taw auf die Stirne der Menschen , die seufzen und stöhnen über all die Gräuel , die in ihr begangen werden.

CD 19,11–12 ‫ אלה ימלטו בקץ הפקדה והנשארים ימסרו לחרב בבוא משיח‬10 ‫ כאשר היה בקץ פקדת הראשון אשר אמר‬.‫ אהרן וישראל‬‎11 .‫ ביד יחזקאל ⟦ ⟧ להתות התיו על מצחות נאנחים ונאנקים‬‎12 .‫ והנשארים הסגרו לחרב נוקמת נקם ברית‬13 Diese werden gerettet werden zur Zeit der Heimsuchung und die Übriggebliebenen werden dem Schwert ausgeliefert, wenn der Gesalbte kommt aus Aaron und Israel, wie es war zur Zeit der ersten Heimsuchung, von der er durch Ezechiel gesagt hat: um zu markieren ein Tajw auf die Stirne < > der Seufzenden und Stöhnenden < >. Und die Übriggebliebenen werden dem Schwert verfallen, rächend die Rache des Bundes.

Das Zitat ist ausdrücklich als solches eingeführt und stark verkürzt. Es beginnt mit einem Inf.cstr.hiph. ‫„ להתות‬um zu markieren“; ein regierendes Verb ist nicht auszumachen, zumal die Handschrift keine Lücke hat. Hier hat sich der Schreiber korrigiert, denn ursprünglich hatte er ein ‫„ והתוי‬und dann markierte er“ vorgesehen. CD liest statt Taw ein Tajw, LXX unspezifisch ein σημεῖον. Und schließlich übergeht er das ‫(„ ָה ֲאנָ ִשׁים‬auf die Stirn) der Menschen“. Die neue Kontextualisierung des Zitates als indirekte Rede hat natürlich syntaktische Veränderungen zur Folge. Dabei ist nicht mehr zu entscheiden, ob im Zuge der Kontextualisierung das Zitat verkürzt wurde, oder ob dem Schreiber eine andere Vorlage als MT zur Hand war.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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Das Zitat ist zwar auf das Wesentliche der Markierung reduziert, aber der Kontext ist als Rahmung um den Text gezogen und bestimmt dessen Ausdeutung: Das Ezechiel-Orakel war für eine erste Zeit der Heimsuchung bestimmt, aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, für den es wirklich bestimmt ist: die Endzeit mit der Herabkunft des Messias. Die mit dem Taw Markierten sind die Mitglieder der Gemeinde, die den Bund halten.

2.1.2 Ez 25,8MT

So spricht der Herr JHWH: Weil Moab und Seir sagen: Siehe, wie allen Völkern geht es dem Haus Juda!

‫הו֑ה ַ֗י ַען ֲאמֹר מֹואָב וְ ֵשׂ ֔ ִעיר‬ ִ ְ‫י‬‎ ‫אָמר ֲאד ֹנָ י‬ ַ ‫‏כֹּה‬ : ‫הוּדה‬ ָ ְ‫ל־הגֹּויִם ֵבּית י‬ ַ ‫הנֵּ ה ְכּ ָכ‬‎ִ

4QMidrEschatb 9,13  f. ] -- ‫כאש]ר ֯כ ׄתוב בספר יחזקאל הנ[ביא‬ ֯ -- [ ‫ ]ויהודה ככל ׄהעמים‬--‫ [ בית ישראל‬14 … wie es geschrieben steht im Buch des Propheten Ezechiel: [das Haus Israel] und Juda wie alle Nationen.

Nach der Rekonstruktion durch Annette Steudel56 stimmt der Text nicht mit MT überein. Wenn die Füllung der Lakune zutrifft, las der Midrasch auch „Haus Israel“, was der längeren LXX-Lesung entspricht. Beachtlich ist auch die Umstellung „Haus Israel und Juda wie alle Nationen“ (‫ )העמים‬gegenüber MT „wie allen Völkern (‫)הגֹּויִ ם‬ ַ geht es dem Haus Juda“. Solche Variationen sind typisch für eine Zitation aus dem Gedächtnis und lassen keinerlei Schlüsse auf eine Variation in der Vorlage zu.

2.1.3 Ez 37,23MT ‫יהם‬ ֑ ֶ ‫וּבכֹל ִפּ ְשׁ ֵע‬ ְ ‫יהם‬ ֶ֔ ‫קּוּצ‬ ֵ ‫וּב ִשׁ‬ ְ ‫יהם‬ ֶ ‫לּוּל‬ ֵ ִ‫וְ   לֹא יִ ַֽט ְמּאוּ עֹוד ְבּג‬ ‫א ֶשׁר ָח ְטאוּ ָב ֶ֔הם‬‎ ֲ ‫יהם‬ ֶ ‫מֹושׁב ֵֹת‬ ְ ‫הֹושׁ ְע ִתּי א ָֹתם ִמכֹּל‬ ַ ְ‫ו‬ Und nicht mehr werden sie sich verunreinigen an ihren Götzen und an ihren Scheusalen und an allen ihren Sünden. Und ich werde sie retten von allen ihren Abkehrungen (l. ‫יהם‬ ֶ ‫)מ ֻשׁב ֵֹת‬, ְ mit denen sie gesündigt haben. 56 Annette Steudel, Der Midrasch zur Eschatologie aus der Qumrangemeinde (4QMidrEschata.b), STDJ 13 (Leiden/Boston: Brill, 1994), 72.98.

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4QMidrEschata (4Q174) 3,16  f. (olim: 4QFlor 1,16)57 ‫עליהמה בספר יחזקאל הנביא‬ ׄ ‫והמה אשר כתוב‬ ]‫אשר לו[א יטמאו עוד בכול‬ ‫עצ ֯ת[מ]ה‬ ׄ ‫ המה בני צדוק ו֯ ֯א[נ]שי‬.‫ גלוליהמה‬17 .‫ריהמ ֯ה ֯ל ֯ע ֯צ ֯ת ֯היחד‬ ֯ ‫רו◦[ ]י◦ ֯א ֯ח‬ Und sie, über die geschrieben steht im Buch des Propheten Ezechiel, die sich nic[ht mehr verunreinigen] an [allen] ihren Götzen. Sie sind die Söhne Zadoks und die Männer ihres Rates, die sich er[barmen] nach ihnen in den Rat der Gemeinschaft.

Dem Ez-Zitat geht voraus ein Zitat aus Jes 8,11 und es folgt ein Zitat aus Ps 2,1–2. Der Kontext spricht wieder über die Situation in der Endzeit, in der die Gerechten von den Frevlern getrennt werden. Die den Gerechten bei Ez verheißene Rettung wird ihnen nun gewährt. Der Midrasch nennt aber auch die Gerechten mit Namen: Es sind die Söhne Zadoks und die mit ihnen verbundene Gemeinde. Bedeutsam ist, dass Qumran hier nur den ersten Teil des Prophetenzitates übernommen hat, den zweiten Teil „und an ihren Scheusalen und an allen ihren Sünden“ aber nicht. Interessanterweise fehlt dieser Versteil auch in der LXX. Das Fehlen könnte aber dadurch verursacht sein, dass das Nomen ‫ ִשׁקּוּץ‬in Qumran recht ungebräuchlich und nur ganz selten belegt ist.58 So muss es unsicher bleiben, ob der Midrasch hier nicht den Langtext, sondern den Kurztext der LXX vor sich hatte.

2.1.4 Ez 44,15MT Ez 44,15 wird in CD 3,21–4,4 in typisch qumranischer Weise exegisiert. CD bleibt nahe am MT, aber fügt in den Text ein umfangreiches Textplus ein, um den Text auf die eschatologische Jetztzeit der Gemeinde zu transponieren. Ez 44,15MT ‫ת־מ ְשׁ ֶמ ֶרת ִמ ְק ָדּ ִשׁי‬ ִ ‫וְ ַהכּ ֲֹהנִ ים ַה ְלוִ יִּ ם ְבּנֵ י ָצ ֗דֹוק ֲא ֶשׁר ָשׁ ְמרוּ ֶא‬ ‫‏־יִ ְשׂ ָר ֵאל ֵ ֽמ ָע ֔ ַלי ֵה ָמּה יִ ְק ְרבוּ ֵא ַלי ְל ָ ֽשׁ ְר ֵ ֑תנִ י‬‎‫ִבּ ְתעֹות ְבּנֵ י‬ ‫וְ ָע ְמדוּ ְל ָפנַ י ְל ַה ְק ִריב ִלי ֵח ֶלב וָ ָ ֔דם‬ :‫ יְ הוִ ה‬‎‫נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י‬ die levitischen Priester, die Nachkommen Zadoks, die den Dienst an meinem Heiligtum verrichteten, als die Israeliten von mir wegliefen, sie sollen sich mir nähern, um mir zu dienen,

57 Steudel, Midrasch, 25.47. 58 1QS 10,22 par. 4QSf 5,4; 4QpNah 3–4 iii 1.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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und sie sollen vor mir stehen, um mir nahezubringen Fett und Blut . .

CD 3,21–4,4 ‫ הקים אל להם ביד יחזקאל הנביא לאמר הכהנים והלוים ו בני‬3,21 ‫משמרת מקדשיׄ בתעוׄ ת בני ישראל‬ ׄ ‫ צדוק אשר שמרו את‬4,1 ‫הכ ׄהנים הם שבי ישראל‬ ׄ [[ ]] .‫ מעלי הם יגישו לי חלב ודם‬2 ‫ ]] [[ ובני צדוק הם בחירי‬.‫ היוצאים מארץ יהודה והנלוים עמהם‬3 .‫ ישראל קריאי השם העמדים באחרית הימים‬4 Da hub Gott an zu ihnen durch den Propheten Ezechiel: Die Priester und die Leviten und die Söhne des Zadok, die treu den Dienst an meinem Heiligtum verrichteten, als die Israeliten vor mir wegliefen. Sie sollen mir bringen Fett und Blut … Die Priester sind die Umkehrenden Israels, die ausgezogen sind aus dem Haus Juda und die Leviten mit ihnen … Und die Söhne Zadoks sind die Auserwählten Israels, die mit Namen Gerufenen, die stehen am Ende der Tage.

CD referiert nur den ersten Teil des Zitates. Da selbiges nun direkt auf die Zitatformel folgt, fehlt folgerichtig die Eingangssyndese. Dann ersetzt CD das Verb ‫הקריב‬ durch das Synonym ‫הגיׁש‬. Die eingefügte Polysyndese im ersten Teil des Zitates weist faktisch Priester, Leviten und Zadokiden als drei unterschiedliche Gruppen aus, wohingegen Ez selbst nur von einer Gruppe, den zadokidischen levitischen Priestern sprach. Otto Betz59 sieht in dieser Polysyndese einen Hinweis auf die drei Stände der Gemeinde: Priester, Leviten, Laien – was allerdings nicht funktioniert, da die Zadokiden Priester waren. Florentino García Martínez60 sieht hier einen Hinweis auf die Gründer der Gemeinde, auf die, die sich ihnen angeschlossen haben und auf die Mitglieder der eschatologischen Gemeinde. Dieses Splitting sei Folge der Eschatologisierung. Für diese Identifikationen spricht aber im Text nichts! Diese Gruppen bleiben durch ihre Bezeichnungen identifiziert und sind nicht als Codes zu verstehen. Vielmehr ist hier mit einer klaren Aufwertung bestimmter Gruppen zu rechnen, allen voran der Leviten, was durchaus seit dem ChrGW ein ständiges Postulat der Leviten war, und der Zadokiden, die besonders in CD die dominante Priestergruppe darstellten. Wir haben also in den Differenzen zwischen Zitat und MT eine Gemeindetheologie zu sehen, weniger ein textgeschichtliches Phänomen.

59 Otto Betz, Offenbarung und Schriftforschung in der Qumrangemeinde, WUNT 6 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1960), 180  f. 60 So auch André Dupont-Sommer, Michael Knibb u.  a.

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2.1.5 Zwischenfazit Die CD-Zitate unterscheiden sich deutlich von den Zitaten im MidrEschat. Zeigten letztere eine gewisse Nähe zum LXX-Text, so sind die ersteren vollständig in den Kontext eingepasst. Die geringe Anzahl der Zitate mag nicht für eine exorbitante Wertung des Ez-Buches in Qumran sprechen. Diesem Befund entspricht auch die geringe Anzahl an Ez-Manuskripten. Möglicherweise fand die Belle Epoche der Ezechielrezeption bereits in vorqumranischer Zeit statt, als inspiriert vom ezechielischen Verfassungsentwurf Texte wie „Neues Jerusalem“ und Tempelrolle entstanden sind.

2.2 Anspielungen Nach der Auflistung von Armin Lange finden sich in den Qumrantexten ca. 50 Anspielungen auf Ezechieltexte.61 Nun ist das Identifizieren von und der Umgang mit Anspielungen methodisch unklar und in einem hohen Maße subjektiv. Die von Armin Lange aufgelisteten Anspielungen zeigen zwar gemeinsame Vokabeln, Wendungen und Motive, aber in keinem Fall ist ein Bezug zur entsprechenden Ez-Stelle zwingend. Da aber nach Michael Fishbane62 Anspielungen nur dann als rezeptive Auslegungen verstanden werden sollen, wenn sich starke lexikalische Verbindungen und ein teilweise übereinstimmender Text („topical rethematization“) mit dem Ausgangstext nachweisen lassen, wird man nicht von Anspielungen in diesem Sinne sprechen können.

61 Armin Lange, Biblical Quotations and Allusions in Second Temple Jewish Literature, JAJ Suppl. 5 (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2011), 147–152 nennt Ez 1,3 (4QShirShabbd 1 ii 6–7); 1,26 (4QShirShabbf 20 ii+21+22, 8); 1,28 (4QDibHama 8 recto 4); 4,5 (CD 1,5–6 par. 4QDa 2, i 10–11 par. 4QDc 1,12–13); 4,11 (4QMysta 6 i 5); 5,13–14 (4QDibHama 1–2 v recto 4–5); 7,17 (1QH 12,34  f.); 11,15 (CD 3,18); 11,19 (1QH 21,12); 12,13 (1QH 12,13); 13,10  f. (CD 4,19; 8,18 par. 19,31); 14,4 (1QS 2,11  f.); 14,5 (1QH 12,20); 14,7–8 (1QS 2,16–17); 16,49 (CD 6,21; 14,14); 17,8 (4QpapHodayot-like Text B – Fehler bei Lange!); 17,20 (1QH 12,13); 18,8 (1QM 11,14); 18,31 (4QDibHama 19,3.11 (1QSb 5,27  f ); 20,11.13.21 (CD 3,15–16); 20,11 (4QDa 11,12); 20,32 (1QpHab  13,1–2); 20,40 (4QpPsa 3,11); 21,3 (1QH 11,30–31 [3,29–30]); 21,12 (1QH 12,34–35 [4,33  f.]); 1QH 16,35 [8,34]); 22,21–22 (CD 20,3); 22,26 (CD 6,17–18); 24,8 (1QS 5,12); 24,13 (TR 50,18–19); 26,7 (TR 58,7); 27,18 (1QapGen 22,10); 31,6.12.13 (1QH 16,9–10 [8,8–9]); 31,14 (1QH 16,7.10 [8,6.9]); 34,8 (TR 59,7–8); 34,25.26 (4QSefer haMilhamah 8,5–6.10); 35,8 (4QBera 5a-c 2); 36,19–20.30–31 (4QAdmonFlood 1,1–3); 36,23 (4QDibHama 1–2 iv recto 9–10); 36,26 (1QH 21,12 [18,11]); 38,7 (1QM 11,16); Ez 38,9.16 (1QM 12,9); 38,22 (4QapJer Cb 4 i 4); 38,23 (1QM 11,15); 44,23 (CD 6,17–18; 12,19–20); 45,11 (4QDf 2,1–2; 4QOrda 1 ii+9,13); 45,12 (4QOrda 1 ii+9,9). 62 Michael Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel (Oxford: Clarendon Press, 1985, reprint 1989), 285.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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2.3 Die Rezeption von Ez 40–48 Nach den eben in der Anmerkung 60 genannten völlig unspezifischen Belegen sind die Anspielungen in der Tempelrolle auf die Heiligtumsvision in Ez 40–48 etwas differenzierter zu sehen, denn zwischen beiden Texten gibt es ganz offensichtlich grundsätzliche Gemeinsamkeiten. Aber auch diese sind keineswegs exklusiv, sondern geschahen in einem kulturellen Umfeld, in dem in reger Weise Vorstellungen vom irdischen und himmlischen Heiligtum entwickelt worden waren. Solche Konzepte wurden in nachexilischer Zeit entwickelt und finden sich noch in Jes 6, in einigen Psalmen, besonders dicht in vorchristlicher Zeit in Henoch, Tempelrolle, Jubiläenbuch, „Neues Jerusalem“ und in den Sabbatopferliedern, in früher christlicher Zeit in 2 Baruch und 4 Esra63 und schließlich bei den Rabbinen.

2.3.1 Tempelrolle (TR) Als erstes sind die Übereinstimmungen mit der vorqumranischen Tempelrolle (11Q19/20)64 zu nennen, die darauf zurückzuführen sind, dass Ez 40–48 ganz sicher zum Traditionsfundus gehörte, aus dem der Verfasser der TR geschöpft hat: So bieten Ez 40,11 und TR 41,14 gemeinsame Maßangaben für die Tempeltore. Ez 43,7 und TR 45,14 sprechen vom Wohnen JHWHs im Heiligtum. Ez 43,20 und TR 16,16–17; 23,12–14; TRb 1,25  f. sprechen vom Entsündigen und Entsühnen. Ez 44,31 und TR 48,5–6 legen fest, dass Priester kein Aas essen dürfen. Ez 45,19 und TR 16,16–17; 23,12–14 und TRb 1,25  f. sprechen vom Ritus der Blut-Applikation an den Ecken des Altares“. Ez 45,23–25 und TR 27,10–29,2 thematisieren die Feier des Passahfestes mit seinen Opfern und Ez 46,21–22 und TR 37,13 sprechen von den vier Ecken des Vorhofes.

63 Dazu vgl. Devorah Dimant, „4 Ezra and 2 Baruch in Light of Qumran Literature,“ in Fourth Ezra and Second Baruch: Reconstruction After the Fall, JSJ.S 164 (Leiden/Boston: Brill, 2013), 31–61. 64 Die „Tempelrolle“ wurde erstpubliziert von Yigael Yadin, Megillat ham-miqdasch – The Temple Scroll (Jerusalem: Israel Exploration Society; The Institute of Archaeology of the Hebrew University; The Shrine of the Book, 1977; Revised English Edition 1983); dazu vgl. Elisha Qimron, The Temple Scroll. A Critical Edition with Extensive Reconstructions, Judaean Desert Studies (Beer Sheva/Jerusalem: Ben Gurion University of the Negev Press, 1996) und Johann Maier, Die Tempelrolle und das „Neue Jerusalem,“ UTB 829 (Basel-München: Reinhard, 31997).

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2.3.2 „Neues Jerusalem“ (NJ) Ebenfalls aus vorqumranischer Zeit stammen die aramäischen Texte 1Q32, 2Q24, 4Q554/554a/555, 5Q15 und 11Q18, die unter dem Sammelbegriff „Neues Jerusalem“ zusammengefasst worden sind.65 In diesen Texten ist die Re-Thematisierung weniger offensichtlich. Die Tempelstruktur des Ezechiel wird rezipiert und in einen Stadtplan des ganzen Jerusalem integriert, das nun offensichtlich kosmische Ausdehnung erhält. Nach Ezechiel ist die zukünftige Stadt ein Quadrat mit 9 km Seitenlänge. Für NJ ist die Stadt rechteckig und hat einen Umfang von 110 km, nach 5QNJ jedoch nur 61 bzw. 31 km. Florentino García Martínez kommt auf eine Gesamtfläche von 736 km2. Dem Verf. von NJ geht es darum, die neue Stadt als Werk Gottes herauszustellen, als eschatologische Vollendung von Tempel und Jerusalem. Dieser Schrift wie auch der Tempelrolle geht es darum, den gegenwärtigen realen Tempel als temporär abzuqualifizieren und auf den neuen Tempel zu warten (TR 29,9–19; vgl. 4QMidrEschata 1–2 i 2–5).

2.3.3 Sabbatopferlieder (4QShirShabb) Die von Carol Newsom66 edierten Sabbatopferlieder liegen in 9 sich zum Teil überschneidenden Exemplaren (4Q400–407 und Mas 1k) vor. Die Gesänge für den 9.–13. Sabbat beschäftigen sich mit der Struktur des Tempels in Form eines Durchganges von den äußeren Gebäuden bis hin zum Allerheiligsten mit dem Thronwagen und den Anbetungsengeln.67 Sprach Ez 40–48 von einem Grundmuster des himmlischen Tempels als Modell für einen irdischen Tempel, um den exakten Plan für einen zukünftigen Wiederaufbau zu garantieren, so geht es in ShirShabb um den himmlischen Tempel selbst, in der die Bauteile nun als lebende

65 Maier, Tempelrolle; dazu vgl. Michael Chiutin, The New Jerusalem Scroll from Qumran. A Comprehensive Reconstruction, Journal for the Study of the Pseudepigrapha Suppl. Ser. 25 (Sheffield: Academic Press, 1997); dazu ist unbedingt die sehr kritische Rezension von Eibert Tigchelaar in RQu 18 (1998): 453–457 zu Rate zu ziehen. 66 Carol A. Newsom, „4QShirot Olat HaShabbat, Qumran Cave 4/VI. Poetical and Liturgical Texts. Part I.“ in Qumran Cave 4. DJD XI (Oxford: Clarendon Press, 1998), 173–401; — und Yigael Yadin, „The Masada Fragment of the Qumran Songs of the Sabbath Sacrifice,“ IEJ 34 (1984): 77–88. 67 Vgl. dazu Annette H.M. Evans, „Aspects of Ezekiel 1:14 in Angelological Texts Found at Qumran,“ Journal for Semitics 17/2, 2008, 443–464; —, „Angelic Aspects of Ezekiel’s ‘Living Beings’ in 4Q403 Shirot ‘Olat Hashabbat. Part  I: The Seventh Song,“ Journal for Semitics 26/2 (2017): 647–662.

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Wesen animiert beschrieben werden, die Gott preisen. Diese Beschreibung ist transparent auf die Gemeinde hin, die jetzt mit dem heiligen Tempel identifiziert wird, in dem die Mitglieder den heiligen Dienst verrichten. Das Anstimmen der Sabbatopferlieder verbindet die Gemeinde mit dem himmlischen Gottesdienst. „In this way, the promise of restoration in Ezekiel has been transformed into a possibility of participation“.68

3 4QPseudo-Ezechiel (4Q385–391) 3.1 „Second Ezekiel“ oder „Pseudo-Ezechiel“? Dass es im Umkreis der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier zwei Bücher gab, die auf den Propheten Ezechiel zurückzuführen sind, wusste bereits Flavius Josephus (Ant. 10,79): „Doch Jeremia war nicht der Einzige, der dies (dieses Unglück) dem Volk vorhersagte, vielmehr hat auch der Prophet Jesekiel zwei Bücher darüber geschrieben und uns hinterlassen.“ Die Frage bleibt, auf welche Bücher Josephus sich bezog. Die eine Möglichkeit ist, dass das Ezechielbuch zu seiner Zeit noch sichtbar aus den beiden Teilen Ez 1–24 und Ez 25–48 bestand. Die zweite Möglichkeit ist, dass es in der Tat ein zweites Buch gab, das aber keine biblische Autorität erlangte und deshalb in Vergessenheit geriet. Nun aber existiert in Qumran ein Buch, das anfänglich „Second Ezekiel“69, dann aber „PseudoEzekiel“ genannt wurde und damit zu dem Literaturgenre zugerechnet wurde, das bereits vorliegende biblische Literatur nachahmt und dessen Autorität für sich nutzbar machen will. Von diesem Buch existieren 6 Kopien: 4QPsEza (4Q385 1–4.6); 4QPsEzb (4Q386 i-iii); 4QPsEzc (4Q385b.c); 4QPsEzd (4Q388); 4QPsEze (4Q391),70 die paläographisch zwischen 50 v. Chr. und der Zeitenwende zu datie-

68 García Martínez, Qumranica, 8. 69 John Strugnell/Devorah Dimant, „4Q Second Ezekiel,“ RQu 13, 1988, 45–58. 70 Devorah Dimant, „Qumran Cave 4/XXI. Parabiblical Texts. Part 4: Pseudo-Prophetic Texts.“ in Qumran Cave 4. DJD XXX (Oxford: Clarendon Press, 2001), 7–84. Die Zählweise ist verwirrend, was mit der Ausgrenzung der Moses- und Jeremia-Texte zusammenhängt: Diese Verwirrung ist Folge der unübersichtlichen Publikation dieser Texte, denn das Konvolut 4Q384–391, das von J. Strugnell ursprünglich ganzumfänglich als Deutero-Ezechiel angesehen wurde, erwies sich als differenzierbar in ein Jeremia-Apokryphon (4Q383; 384; 387b; 388a; 389 und 389a), in einen Pseudo-Moses-Text (4Q385a; 387a; 388a; 389 und 390) und in einen Deutero-Ezechiel, zu dem dann einige der Mose-Textes hinübergezogen wurden. Obwohl Ben Zion Wacholder, „DeuteroEzekiel and Jeremiah (4Q384–4Q391): Identifying the Dry Bones of Ezekiel 37 as the Essenes,“ in

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ren sind. Da 4Q391 ein Jahrhundert älter zu sein scheint, dürfte der Text in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. abgefasst worden sein, ist demnach als „pre-sectarian“ einzuordnen. 3.1.1 4QpsEza = 4Q385 1–4.6 (= 4Q386 1 i = 4Q388 7): Die Fragmente 1 und 6 zeigen Wörter, die auf die mærkābāh-Vision des Ezechiel verweisen. Fragment 2 ist eine „reworked version“ der Vision von den Gebeinen (Ez 37,4–10). Über den biblischen Text hinaus äußert der Autor seine Ungeduld, wenn er danach fragt, wann endlich das Leben der Gerechten belohnt wird und die Gebeine wiederbelebt werden. Das folgende enigmatische Orakel vom abgeknickten Baum, der sich aufrecht erhebt, wird von Wacholder auf das Aufblühen der Gemeinde, von anderen auf die Auferstehung der Gerechten gedeutet. Fragment 3 scheint den Text von den Totengebeinen, hier Ez 37,12–14 fortzusetzen und ihn abzuschließen: „das ganze Volk stand aufrecht“. Diese drei Fragmente repräsentieren also einen Text, der die Auferstehung als Lohn für die Gerechten herausstellen will. Dies ist nach Dimant die älteste jüdische Deutung von Ez 37 in Richtung individueller Auferstehung. Fragment 4 (olim Fragment 3) scheint einen eigenständigen Text zu beinhalten, der von der „schnell dahineilenden Endzeit“71 spricht und damit in einem gewissen Gegensatz zu Ez 12,21–28 steht, wo vom „Sich Dahinziehen der Tage“ gesprochen wird. Mit diesem Fragment wird wahrscheinlich die mit der Vision von den Totengebeinen erwartete individuelle Auferstehung abgeschlossen und in der Endzeit positioniert. Fragment 5 enthält nur 2 Wörter. Fragment 6 (olim Fragment 4) bietet eine verkürzte Form der mærkābāh-Vision nach Ez 1 ohne erkennbare Einträge von Ez 10. 3.1.2 4QpsEzb = 4Q386 besteht aus 3 Fragmenten, von denen nur das größte Fragment 1 substantiellen Text in 3 Kolumnen enthält. In Kolumne i finden sich noch Reste von der Vision von den Gebeinen (Ez 37,1–14), die sich überlappen mit 4Q385 2,2–8 und 4Q388 7 mit kleineren Abweichungen. Kolumne ii beginnt mit der Erkenntnisformel. Diese begegnet oft bei Ez und lässt eine genaue Lokalisie-

The Dead Sea Scrolls Fifty Years After Their Discovery, hg. v. Lawrence H. Schiffman und Emanuel Tov und James C. VanderKam (Jerusalem: Israel Exploration Society, 2000), 445–461 eifrig die Zusammengehörigkeit dieses Konvolutes verteidigt hat, hat sich durch die Arbeiten von Devorah Dimant, „New Light from Qumran on the Jewish Pseudepigrapha: 4Q390,“ in The Madrid Congress (Leiden/Boston: Brill, 1992), 408. nun doch die Differenzierung (s.  o.) durchgesetzt. Dem hält Mladen Popović, Prophetes, 227–251 entgegen, dass der Zusatz Ez  36,23c–38MT vom bibl. Jeremiabuch aus inspiriert scheint, was zu einer Anlagerung der Ps-Jeremia-Texte geführt habe. 71 Vgl. Sir 33[36],10B; 1Hen 80,2; 2Bar 20,1–2; Mt 24,22; Mk 13,20; 1Clem 50,4 und Bib.Ant 19,30, die wie Ps-Ez die Verkürzung der Zeit mit der Auferstehung verbinden.

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rung nicht zu (vielleicht 30,8.19.26). Es folgt eine Anrede an den „Menschensohn“ mit einer nicht-biblischen Vision des Ezechiel, in der er die Zerstörung des Landes Israels sieht und über die Zukunft des Volkes Auskunft einfordert. Auf die Frage des Propheten an Gott, wann er Israel wieder zusammenführen werde, stellt Gott in Aussicht, dass ein „Sohn des Belial“ (Antiochus IV.?) auftreten werde, um die Macht an sich zu reißen. Gott wird ihn in Memphis schlagen, die Israeliten aus Memphis heimführen und dem Land Frieden wie in alter Zeit gewähren. Die doppelte Nennung von Memphis lässt an Ez 30,13 denken. Möglicherweise wird hier auf den „Tag von Eleusis“ angespielt, an dem Antiochus durch den römischen Gesandten Gaius Popilius Laenas im sechsten syrischen Krieg zum Rückzug aus Ägypten gezwungen wurde. Der weitere Text leitet zur Kol. iii über, wo es möglicherweise um die Zerstörung Babylons und seine Verwandlung in einen Wohnplatz für Dämonen geht. 3.1.3 4QpsEzc = 4Q385b (olim 4Q385 24) ist vielleicht eine „reworked“ und stark kondensierte Fassung von Ez 30,1–15. Es handelt sich um Drohworte des Ezechiel gegen Ägypten, Libyen, Äthiopien und Arabien. Hinter dem Text stehen wohl historische Reminiszenzen an das ptolemäische Ägypten, näherhin an Schlacht und Sieg des Antiochus IV. in Pelusium gegen die Ägypter (169 v. Chr.). 3.1.4 4QpsEzd = 4Q388 besteht aus 7 Fragmenten, wobei die Fragmente 2–5 keinen belastbaren Text enthalten. Fragment 6 scheint eine eschatologische Schlacht zu beschreiben und ist wohl zu verbinden mit dem Drohwort gegen Ägypten in 4Q385b. Fragment 7 ist nahezu deckungsgleich mit 4Q385 2,1–5 und 4Q386 1 i 1–5. Der Prophet äußert seine Ungeduld darüber, dass das Heilswerk Gottes nicht in Gang kommt. Gott verweist auf die nahe Zukunft und das Volk wird erkennen, dass er Gott ist. Dieser Text hat keine Entsprechung bei Ezechiel. 3.1.5 4QpsEz unid. = 4Q385c besteht aus 7 Fragmenten, die ursprünglich zu 4Q385 gezählt wurden, aber Beschaffenheit des Leders und unterschiedliche Handschriften lassen diese Zuordnung nicht zu. In den winzigen Fragmenten finden sich die Begriffe Babylon, Ägypten und Jerusalem, weshalb sie zu 4Q386 1 ii-iii gehören könnten. 3.1.6 4QpappsEze = 4Q391 ist die älteste Kopie aus der Zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. und wurde von Mark Smith publiziert.72 Wegen der Ersetzung

72 Mark Smith, „4QpapPseudo-Ezekiele, Qumran Cave 4/XIV, Parabiblical Texts Part 2.“ in Qumran Cave 4. DJD XIX (Oxford: Clarendon Press, 1995), 153–193.

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des JHWH-Namens durch 4 Punkte könnte es sich um einen „sectarian“ Text handeln.73 4Q391 hat keinerlei Überlappungen mit den anderen 5 Rollen, scheint also ein eigenständiges Werk zu sein. Erhalten sind 77 Fragmente, von denen die meisten nicht mehr belastbare Textreste enthalten. In Fragment 65 finden sich nun Anweisungen für den Bau des Tempels. Die Zuordnung zumindest dieses Fragments zu PsEz ist begründet durch die Nennung vom „Flus]s Kebar“ in Z. 4.74 Die in diesem Fragment genannten Maßangaben begegnen auch in Ez 40,11.13.21. Das seltene Wort ‫ המשפש‬in Z. 8 begegnet nur noch in 5Q15(NJ) 1 i 8 und meint eine Tür in einer Toranlage.

3.2 4QpsEz: „Combined version“ Obwohl für Mladen Popović75die Anordnung der Fragmente noch nicht ausdiskutiert ist, lässt sich bei sorgfältiger Beachtung der Text-Überlappungen eine recht sichere Version rekonstruieren. Dabei ist die Überlappung von 385 2 (Vision der Gebeine) mit 386 1 i besonders wichtig, weil dann die weitere Kolumnenabfolge in 386 1 ii-iii Auskunft darüber gibt, welche Texte auf die Gebeine-Vision folgten.76 Da die Fragmenten-Abfolge in 385 nichts über die Anordnung der Texte aussagt, hilft 386 weiter: Fragment 1 i enthält die Gebeine-Vision, Kolumne ii spricht vom zukünftigen Schicksal Israels, seine Erlösung und sein friedliches Wohnen im Land. Kolumne iii spricht von einem Krieg (von Ägypten) gegen Babylon. – Darauf folgt nun wohl 385 4 mit seinen Angaben von der eschatologischen Verkürzung der Zeit. 386 2 und 3 stehen dann entweder vor allem oder hinter allem. So lässt sich mit Devorah Dimant folgende „combined version“ mit einiger Sicherheit rekonstruieren:

73 Fragm. 36 1.4; 52 5; 55 2; 58 3; 65 5; vgl. 1QS 8,14 u. ö. 74 Die Bezeichnung begegnet sonst ausschließlich in Ez 1,1.3; 3,15.23; 10,15.20.22 und 43,3. 75 Popović, Prophetes, 236. 76 Mit dieser Textabfolge hat Albert L.A. Hogeterp, „Resurrection and Biblical Tradition: PseudoEzekiel Reconsidered,“ Bibl 89/1 (2008): 59–69, bes. 61, Anm. 10, Schwierigkeiten, da er den Hinweis auf den „Becher in Gottes Hand“ eher zu Ez 23,31–34 ziehen würde. Monica Brady, „Biblical Interpretation in the ‚Pseudo-Ezekiel‘ Fragments (4Q383–391) from Cave Four,“ in Biblical Interpretation at Qumran.Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature, hg. v. Matthias Henze (Grand Rapids: Eerdmans, 2005), 88–109, bes. 98 denkt bei 4Q386 i iii 1 gar an Jer 51,7 und 25,15–29.

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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3.2.1 Vision von den Totengebeinen (4Q385 2 // 4Q386 1 i 1–8 // 4Q388 7 2–7) 1 [denn ich bin JHWH], der Erlöser meines Volkes, um ihnen den Bund zu geben 2 [da sprach ich: JHWH], ich habe viele gesehen aus Israel, die deinen Namen lieben und die gehen 3 auf den Wegen [deines Herzens77 und die]se, wann werden sie sein und wie wird ihnen ihre Güte vergolten. Da sprach JHWH 4 zu mir: Ich habe gesehen [ ] die Söhne Israels und sie sollen erkennen, dass ich JHWH bin . 5 [Da sprach er]: Menschensohn, prophezeie über die Gebeine und sprich, und sie sollen sich einander nähern Knochen an seinen Knochen, Gelenk 6 [an sein Gelenk, und so ge]schah es. Da sprach er ein zweites Mal: Prophezeie und es sollen hinaufgehen Sehnen über sie und über sie soll kommen Haut 7 [von oben. {Da kam Haut über sie und Sehnen gingen hinauf über sie, aber es war kein Geist in ihnen} Und so geschah es]. Und wieder sagte er: Prophezeie {noch einmal} über die vier Winde des Himmels und sie sollen den Wind blasen 8 [in die Erschlagenen {/in sie}. Und es geschah so.] Und sie wurden be[lebt], ein großes Volk an Menschen und sie priesen JHWH Sebaot, der 9 [sie leben lässt und] ich sprach: JHWH, wann werden diese (Dinge) geschehen. Da sprach JHWH zu [mir: Bis ] 10 [welcher  – und vom Ende der] Tage wird ein Baum umgeknickt und er wird aufrecht stehen [--

4Q385 3 // 4Q386 1 i 9–10 1 [--] °°°°°°[ -2 [--] JHWH. Und das ganze Volk erhob sich und sta[nd] auf [ihren Füßen, um zu preisen --] 3 [und um zu lobsing]en JHWH Sebaot. Und auch ich re[det]e mit ihnen [ -4 [   Da sprach JHWH zu mir: Men[schensohn, sprich zu ihnen [ -5 [– am Ort ihrer Grä]ber werden sie liegen, bis dass [-6 [aus euren Grä]bern und von der Erde [ -7 [--] für, welches das [Jo]ch Ägypt[ens

3.2.2 Das zukünftige Schicksal Israels (4Q386 1 ii) 1 [Lan]d. Und sie werden erkennen, dass ich JHWH bin Da sprach er zu mir: Merke auf, 2 Menschensohn, auf das Land Israel. Und ich sprach: Ich habe hingesehen, JHWH, und siehe, verwüstet.

77 Puëch und Tigchelaar rekonstruieren „Wege der Gerechtigkeit“.

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3 Und wann willst du sie vereinen? Da sprach JHWH: Ein Sohn des Belial plant mein Volk zu erniedrigen. 4 aber nicht werde ich ihn ruhen lassen und seine Herrschaft wird nicht überleben. Und von ihm wird kein unreiner Same übrigbleiben. 5 Und von dem Kapernbusch wird kein Wein sein und eine Hornisse keinen Honig macht [ -- ] und den 6 Frevler will ich in Moph (Memphis) schlagen. Und meine Söhne werde ich aus Moph herausführen und ihrem Rest werde ich mich zuwenden. 7 Wenn sie sagen: Es ist Friede geworden und Ruhe, und sie sagen: Es ist geworden das Land 8 wie in den Tagen [ ] der Urzeit, dann werde ich aufkommen lassen ü[be]r sie Zo[rn] 9 von den vier Winden des Himme[ls -- ] den [ -- ] 10 [wie] brennendes Feuer wie [ --- ]

3.2.3 Ein eschatologischer Krieg (4Q386 1 iii) 1 Und (dem) Armen ist er nicht barmherzig und bringt (ihn) nach Babylon. Aber Babylon ist wie ein Becher in der Hand JHWHs. In ihrer/seiner Ze[it] 2 er wird sie werfen [ -- ] 3 in Babylon. Und sie wird werden [ -- ] 4 (zu einem) Wohnort der Dämonen [ -- ] 5 verwüstet [ und ] sie werden weiden [ -- ] 6 für Babyl[on -- ]

4Q385b // 4Q385c (?) // 4Q388 6 // 4Q391 25[?] 1 [Und dies sind die Wo]rte des Ezechiel: Und es geschah das Wort JHWHs zu mi[r: Menschen2 [sohn, prophezeie] und du sollst sagen: Siehe, gekommen ist der Tag der Zerstörung (Abaddon) der Völker [ – ] 3 [ -- Ä]gypten und es wird sein [ ] in Put und es wird sein das Schwert in Ägy[pten] 4 [ -- du ] wirst verfluchen und Kusch und [Phu]l [ ] und die Edlen der Arabia und auch von den Söh[nen] 5 [des Bundes und] die Arabia wird fallen in den Tor[en] Ägyptens. Sie wird zerstört werden [ -- ] 6 [ -- ]mit dem Schwert wird Ägyp[ten ] verwüstet werden [ -- ]

Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption 

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3.2.4 Die eschatologische Verkürzung der Zeit (4Q385 4) 1 [--]anstelle meines Kummers 2 erfreue meine Seele und eilen mögen die Tage hastig, bis dass sagen 3 die Menschheit: Eilen die Tage nicht dahin, damit in Besitz nehmen die Söhne Israels! 4 Da sprach JHWH zu mir: Ich werde nicht zurückweisen dein Angesicht, Ezechiel. Siehe ich bin abschneidend 5 die Tage und die Jah[re -- ] für [ -6 ein wenig, wie du gesagt hast für [ -7 [denn] der Mund JHWH hat dies gesagt [

3.2.5 Die Thronwagenvision (4Q385 6) 1 und es wird sein mein Volk [ -- ] 2 mit gutem Herzen und mit einer will[igen Seele --] 3 und verbirg dich ein wenig für eine kleine W[eile --] 4 Und von den Brüchen [ --] 5 Die Vision, die Ezechiel sah [ --] 6 Glanz des Thronwagens und vier Lebewesen lebend [ -- und bei ihrem Gehen drehten sie sich nicht] 7 rückwärts. Auf zwei (Füßen) ging jedes einzelne Lebewesen und auf seine beiden Fü[ße --] 8 [a]uf [ ] für [ ] °° in ei[nem] war Lebensatem und ihre Gesichter waren eines im ande[ren. Und das Bild] 9 der Ge[sichter, einmal ein Löw]e, einmal ein Adler und einmal ein Rind und einmal das eines Menschen. Und da wa[r eine Hand] 10 eines Menschen verbunden mit der Rückseite der Lebewesen und sie war angeheftet an [ihren Flügeln --. ] Und die R[ä]d[er] 11 Rad verbunden mit einem Rad bei ihrem Gehen und auf beiden Seiten der Rä[der Ströme von Feuer] 12 Und das Lebewesen inmitten der Feuerkohle, Lebewesen wie Feuerkohlen [ -- ] 13 Und die Räder und die Lebewesen und die Räder und es is[t – übe]r[ ihren Köpfen ein Firmament wie eine Quelle] 14 von fürchterlichem Ei[s und es w]ar ein Geräusch [von oberhalb des Firmamentes -- ].

3.3 Die Komposition und ihre Struktur Es lässt sich also folgende Kompositionsabfolge erkennen: 3.3.1 Der erste Abschnitt „Vision der Totengebeine“ sieht in der Auferstehung den zukünftigen Lohn für die Gerechten (Ez 37,1–14). Geschickt wird darin auf Jes 26,19 angespielt. Die Vision wird im Gegensatz zum MT hier nun als Antwort auf die drängenden Fragen des PsEz beigezogen, wozu er die Vision einer nationalen Res-

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tauration in die Erwartung einer individuellen Auferstehung umgestaltet.78 Dabei wird der ursprüngliche Ez-Text drastisch gekürzt und weitgehend seines dialogischen Charakters beraubt. Die Ergebnisse des gestaffelten Wiederbelebungsvorganges werden nicht genannt, sondern durch die Erfüllungsformel „und es war so“ ersetzt (rekonstr.), was an den P-Schöpfungsbericht erinnert. Die Auferstehung wird damit als Neuschöpfung interpretiert. Im Gegensatz zu Ez 37,10 steht aber nun nicht eine große Armee von den Toten auf (so auch Masada), sondern ein „Volk, zahlreich an Männern“, die den Herrn der Heere preisen, der sie ins Leben zurückgerufen hat. Die bei Ez nicht näher präzisierte Zukunft wird nun dezidiert ins Eschaton verlegt (siehe die drängende Fragestellung); bezeichnend ist der Übergang von der nationalen Restauration zur individuellen Auferstehung des Gerechten als Belohnung für sein gerechtes Handeln (vgl. 4Q521); sie wird begleitet von hymnischen Preisliedern (vgl. Jes  26,19; von der LXX weiter ausgestaltet).79 3.3.2 Der zweite Abschnitt (folgt als Kolumne II auf demselben Fragm.) behandelt das zukünftige Geschick Israels, seine Erlösung und die Schlacht gegen die Völker. Das Thema „Auferstehung“ begegnet nicht mehr. Der Abschnitt enthält eine nicht-biblische Vision und entspricht auch nicht der biblischen Textfolge, in der in Ez 38 der endzeitliche Kampf gegen Gog und Magog berichtet wird. Der Prophet wird als „Menschensohn“ angesprochen und erhält den Auftrag, das Land Israel zu betrachten. Das Land aber ist verwüstet und der Prophet fragt, wann das Land wieder hergestellt und das zerstreute Volk wieder vereint werden wird. Zu beachten sind in Z. 1–3 vokabularische Anleihen80 an Ez 37,12  f; 36,33–36; 36,24 und 37,21. Als Antwort wird der Prophet auf die Umtriebe eines „Sohnes des Belial“ und auf Ereignisse in Memphis/Ägypten verwiesen.

78 Annette H.M. Evans, „To what Extent is Ezekiel the Source of Resurrection of the Dead in 4Q385 Pseudo-Ezekiel and Targum Ezekiel?“ Old Testament Essays 28/2 (2015): 70–85. 79 Solche Berakot gab es im Judentum zu vielen Anlässen, im Zusammenhang mit der Auferstehung hier, in den jüd. Rezensionen von Jes 26,19, in Dan 12,1–2, in b.Sanh 92b; GenRab 19,11 und bei Justin Martyr (Erste Apologie 52,4–6). Weiter sind anzuführen 1 Hen 22,13 u. ö. Das zeigt, dass PsEz von einer wirklichen Auferstehung spricht und nicht nur von einer Metapher. Auferstehung v.  a. der Märtyrer war ein beherrschendes Thema zur Zeit der Schreckensherrschaft des Antiochus IV. und wurde von hierher allgemeines Glaubensgut (2 Makk 7). Hier wurde – wie in PsEz – die Auferstehung nur für die Gerechten erwartet. Und zusätzlich gilt hier wie dort die Auferstehung als Scenario der Endzeit. Wenn auch Qumran keine Belege für einen Auferstehungsglauben liefert, so ist doch die Existenz von sechs Exemplaren des PsEz ein deutlicher Hinweis darauf, dass dieses Buch hier mit Interesse studiert wurde. 80 Dazu ausführlich Hogeterp, Resurrection, 65  ff.

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In den Z. 3–6 sieht Albert Hogeterp ein Abstract aus der Gog-Magog-Perikope (Ez 38)81 mit Anleihen an Ez 30,13. Die Verwüstung des Landes kann in die Zeit des Ezechiel selbst verweisen im Kontext der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar. Aber PsEz schaut offensichtlich bereits auf eine lange Zeit der Verwüstung zurück und beklagt sich deshalb voller Ungeduld. Historischer Hintergrund ist ohne Zweifel die Religionspolitik des Antiochus  IV.82, dessen Tod und der Tod seines Sohnes offensichtlich bereits Vergangenheit sind. Auch in den Z. 7–9 lässt sich schemenhaft die Gog-Magog-Perikope Ez 38–39 im Hintergrund erahnen, die „vier Winde“ in Z. 9 rekurrieren wieder auf Ez 37,9. 3.3.3 Der dritte Abschnitt (durch Kolumne III direkt angeschlossen) scheint eine Prophezeiung zur Zerstörung Babylons enthalten zu haben, die ebenfalls nichtbiblisch ist. Bleibt man im angezeigten historischen Kontext, dann muss Babylon eine Chiffre sein, möglicherweise für die Seleukiden und hier wieder für Antiochus IV., der durch römische Intervention (Popilius Laenas) einen entscheidenden Rückschlag erlitten hatte. Vielleicht sind hier aber auch Vorstöße der Parther nach Mesopotamien im 2. Jahrhundert gemeint (Eroberung Babylons durch Mithridates I. im Jahre 141 v. Chr.). Auch hier ist – wie im Zweiten Abschnitt – eine eschatologische Deutung möglich. Der zweite Teil dieses Abschnitts (4Q385b) verlagert den Blick nach Ägypten und weitere südliche Länder. Für Dimant geht es hier um das ptolemäische Ägypten, das im ersten Feldzug des Antiochus IV. bei Pelusium geschlagen wurde (169 v. Chr.). 3.3.4 Der vierte Abschnitt handelt von der Beschleunigung der Zeit, um die Befreiung Israels schneller herbeizuführen mit einer Anspielung auf Jes 26,20. Wie bisher geht es wieder um eine Disputation des Autors mit Gott. Nach dem Abschnitt über die Völkerschlacht ist der Autor verstört über die Ungewissheit

81 Hogeterp, Resurrection, 67: „This description could provide a general parallel to lines 3 and 4 of our passage in Pseudo-Ezekielb.“ 82 In der negativen Beurteilung von Antiochus IV. stimmt PsEz völlig überein mit anderen zeitgenössischen Dokumenten (Dan 7  f.11; 1/2Makk; SibOr 3,610–615) sowie mit 4Q246 und 4Q248. Antiochus hat in seinen diversen Ägyptenfeldzügen auch Memphis erreicht und hier einen Gouverneur namens Cleon eingesetzt. Zudem galten die Bewohner von Memphis als besonders unfreundlich gegenüber Juden, was möglicherweise durch die Errichtung eines Tempels durch Onias im nahen Leontopolis noch gefördert wurde. War das Verhältnis Juden – Ptolemäer unter Ptolemäus IV. Philometor und Kleopatra II noch recht gut, so wurde es unter Ptolemäus VIII. Euergetes ruppig, weil die Juden seine Vorgänger unterstützt hatten. In allen diesen Epochen ist von einer Rückkehr der Israeliten aus Memphis nichts bekannt, so dass hier vielleicht doch eine bewusste Rezeption der Exodus-Thematik stattfindet. Dies könnte auf die Zeit des Simon Makkabäus und seines Sohnes Hyrkan verweisen (2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr.).

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einer Zukunft Israels in einem verwüsteten Land. Deshalb erbittet er von Gott eine Beschleunigung und Verkürzung der Zeit. Der hebräische Terminus ‫רעצמ‬ bedeutet „etwas Kleines“ (Ges18 725) und ist – auf die Zeit angewandt – lediglich in Sir 30,32, SirBmarg 33,10 belegt. Die häufigere Form ‫ רעזמ‬meint eine kleine Zeiteinheit83. Beschleunigung und Verkürzung der Zeit ist ein übliches Motiv in der apokalyptischen Literatur (1Hen 80,2; 2 Bar 20,1–2; Mt 24,22; Mk 13,20), mit der Auferstehung verbunden in PsEz, 1Clem 50,4; LAB 19,13. Auch 1QpHab  7,5–13 scheint Hab 2,3 in diesem Sinne zu verstehen. 3.3.5 Der fünfte Abschnitt „Thronwagenvision“ steht jetzt hinter den vorangehenden Texten – bedingt durch die Abfolge 4Q385 6 –, was der Großstruktur des Ez-Buches widerspricht, wo der Thronwagen ja in Ez 1 vorliegt. PsEz hat diese Reihung wohl im Blick auf seine Vorstellung vom Thronwagen im Tempel (Ez 43,3) vorgenommen. In Fragment 6,5 beginnt mit einer eigenen Einleitungsformel der Visionsbericht nach Ez 1. Nach der Einleitung folgt eine Beschreibung der vier Lebewesen, ihrer Bewegungen und Räder, ihres Anblickes wie Feuerkohlen und des Firmamentes über ihnen, wobei die Anordnung gegenüber Ez 1 leicht variiert. Kleine Textpluses weisen in Richtung Sabbatopferlieder. Es ist auffällig, dass PsEz keinerlei Anspielungen auf Ez 10 macht. Dimant weist darauf hin, dass bei der Beschreibung der Wesen PsEz offensichtlich auf die chronistische Darstellung des Allerheiligsten in Salomos Tempel geschaut hat (1 Chr 28,18). Daraus könnte man vorsichtig erschließen, dass für PsEz der Thronwagen als im Allerheiligsten befindlich gedacht wurde. Das könnte auch erklären, warum die Thronwagenvision am Schluss der Komposition steht, auf die jetzt eigentlich nur noch Ez 40–48 folgen kann. Es zeigt sich also trotz der Fragmente eine kohärente Abfolge der Texte, die sich in der Sphäre der Endzeit abspielt.

3.3.6 Fazit – Der Autor von PsEz bedient sich der formalen Merkmale des Ezechielbuches, um aus der prophetischen Autorität dieses Buches Nutzen für sein eigenes literarisches Werk zu ziehen. – Aus den Abweichungen, den Textpluses und späten Redeformen geht hervor, dass es sich um einen nachbiblischen exegetischen Text handelt, der bereits rabbinische Auslegungstechniken zu kennen scheint, wenn er Bibelstellen mit Hilfe anderer Bibelstellen deutet (Binjan Av).

83 „In PsEzek the term undoubtedly means ‘a little while’, as is indicated by the context of timeacceleration“, so Dimant, Qumran Cave, 40.

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– Dem Verfasser von PsEz kam es auf die eschatologische Einbettung der prophetischen Botschaft an (vgl. 4Esra; 2Baruch). Da sich viele Verheißungen Ezechiels noch nicht erfüllt hatten, galt es, besonders wichtige Verheißungen (z.  B. Ez 37) neu in Erinnerung zu rufen. – Sinn und Zweck solcher Pseudoliteratur werden in der rezenten Forschung unterschiedlich beurteilt. In jedem Fall handelt es sich um eine von mehreren Ausgaben des noch nicht völlig fixierten Ezechielbuches, die möglicherweise für eine bestimmte eschatologisch orientierte jüdische Gruppe bestimmt war.84 Die Bezeichnung „Sohn des Belial“ (4Q386 1 ii 3) begegnet nur hier und meint Antiochus IV. Epiphanes. Die in Pseudo-Ezechiel vorliegende Betonung der individuellen Auferstehung hat zwar große Ähnlichkeit mit Dan 7 und 12 und der LXX-Übersetzung von Jesaja, passt aber nicht in die Theologie Qumrans und ist deshalb wohl kurz vor 100 v. Chr. als „pre-sectarian“ zu datieren. PsEz und die ezechielische Vision von den Totengebeinen haben eine ausgesprochen eschatologische Naherwartung gemeinsam, die  – als Restauration des Volkes verstanden – wiederholt in den qumranischen Pesharim abgehandelt wurde (4QpappJesa; 1QM) und damit im Interessenbereich der Qumraner lag.

4 Ausblick (1) Die vergleichsweise wenigen Ezechieltexte in Qumran (marginale Wertung wegen des Tempelbezuges) wie auch Masada bezeugen weitestgehend den protoMT und dokumentieren, dass der Ezechieltext zur Zeitenwende bereits recht stabil fixiert war. Die Priorität von EzMT gegenüber der hebräischen Vorlage der LXX legt sich deswegen nahe, weil seine Bezeugungen die ältesten sind. (2) 4QEza und 11QEz bezeugen die Existenz des Langtextes bereits in vorchristlicher Zeit. EzMT ist deshalb Ergebnis einer konservativen Beibehaltung eines alten Textes gegen einen zwischenzeitlich hasmonäisch verunstalteten Kurztext (LXX). (3) Die wenigen Ezechiel-Zitate im MidrEschat zeigen dagegen eine gewisse Nähe zum LXX-Text. Qumran kannte also möglicherweise beide Texte. (4) Der in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. konstatierbare Übergang zur apokalyptischen Naherwartung sowie das beginnende Martyrertum zur Zeit des Antiochus IV. ließ die als protoMT umlaufende Ezechiel-Tradition plötzlich neu

84 Patmore, Texts.

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interessant werden. Deshalb wird bereits in vorchristlicher Zeit die Ezechiel-Tradition des ProtoMT apokalyptisierend literarisch verdichtet in einer Auswahlschrift Pseudo-Ezechiel mit Schwerpunkt auf Ez 37  ff. Die Textabfolge in PsEz stimmt weder mit MT noch mit Pap 967 überein, steht aber dem MT deutlich näher. PsEz gehört wegen der individuellen Auferstehungslehre mit Sicherheit nicht zum „sectarian“ Schriftkorpus. Der Prophet als Medium im Kontext der Auferstehung macht PsEz vergleichbar mit dem „pre-sectarian“ Text 4Q521 („Messianic Apocalypse“) 2 ii 12, wo die Auferstehung explizit mit dem Kommen des Messias verbunden wird. (5) Die Hypothese von Mladen Popović85, Ps-Ez sei die verlorene hebr. Vorlage für Pap 967, ist ausgeschlossen, denn die offensichtlichen Differenzen in Textabfolge und Textinhalt sind zu groß! Allerdings hat PsEz mit Pap 967 die apokalyptische Perspektive gemeinsam. (6) Schließlich ist auf die von Martin Karrer in diesem Band genannten Bezüge zwischen der Offenbarung des Johannes und dem Ezechielbuch zu verweisen. Auch die Offb-Referenzen könnten die MT-Textabfolge bestätigen; vgl. z.  B. Offb 11,11  f.13 ≈ Ez 37,5.10; 38,19; Offb 20,5  f.7  f. ≈ Ez 37; 38,2.6. Da anschließend in Offb 21,7 wieder eine Referenz auf Ez 37,27 folgt, war dem Verfasser der Offb am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. möglicherweise auch die Textform des Pap 967 in der Provinz Asia bekannt.

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85 Popović, Prophetes, 235.

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Michael Konkel

Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 und die Redaktionsgeschichte des Ezechielbuches – Probleme und Perspektiven am Beispiel von Ez 34 Abstract: In recent research a growing consensus can be observed that Pap 967 in his overall structure represents an older Hebrew version of the book of Ezekiel which was significantly shorter and had another textual sequence than MT (Ez 38–39; 37; 40–48). However, the various minor differences between Pap 967, the main Septuagint tradition and MT have not been classified in a satisfactory manner yet. By analysing Ezek 34 the paper shows that Pap 967 represents in many cases an earlier reading against the common editions of the Septuagint that affects the reconstruction of the redactional process behind MT.

1 Der Papyrus 967 und die beiden Fassungen des Ezechielbuches Die Forschung zur Ezechielseptuaginta1 ist in den vergangenen dreißig Jahren in erster Linie eine Forschung zur Bedeutung des vorhexaplarischen Pap 967. Dieser enthält die älteste griechische Handschrift des Ezechielbuches. Der christliche Kodex, der neben dem Ezechielbuch die Bücher Daniel, Susanna, Bel et Draco sowie Esther enthält, wird in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. datiert. Er stützt mehrfach die vorhexaplarischen Lesarten des Kodex B (Vaticanus). Zugleich belegt der Papyrus, dass bereits in vorhexaplarischer Zeit die Ez-LXX nach dem hebräischen Text rückkorrigiert wurde. Die einzelnen Blätter werden in Dublin,2

1 Zum Stand der Forschung s. jetzt den Überblick bei Johan Lust, „Jezekiel / Ezechiel / Hesekiel,“ in Einleitung in die Septuaginta, hg. v. Siegfried Kreuzer, Handbuch der Septuaginta 1 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2016), 613–632. Dort auch umfangreiche weitere Literatur. 2 Frederic George Kenyon, The Chester Beatty Biblical Papyri Descriptions and Texts of Twelve Manuscripts on Papyrus of the Greek Bible. Fasciculus VII. Ezekiel, Daniel, Esther. 2 Bde. (London 1937). https://doi.org/10.1515/9783110624250-002

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Princeton,3 Madrid und Barcelona4 sowie Köln5 aufbewahrt. Die Edition der Blätter an den drei letztgenannten Orten geschah erst Anfang der 1970er Jahre, so dass sie erst in der zweiten Auflage der Edition des Septuagintatextes durch Joseph Ziegler Berücksichtigung finden konnten.6 Der Papyrus enthielt wohl das gesamte Buch Ezechiel. Der Verbleib der ersten neun Blätter (Ez 1,1–11,24) ist allerdings bis heute unbekannt. Zwei Charakteristika dieser Handschrift seien genannt: (1) Die Abschnitte Ez 12,26–28; 32,25–26; 36,23bβ–38 fehlen. (2) Der Kodex bietet eine andere Kapitelfolge als MT: Ez 12–36,23bα; 38–39; 37; 40–48. Der Würzburger Kodex (6. Jahrhundert), die älteste Fassung der Vetus Latina, stimmt im Fehlen des theologischen Herzstücks 36,23bβ–38 und in der abweichenden Kapitelfolge mit Pap 967 überein. Da beide Texte nicht direkt voneinander abhängig sind,7 handelt es sich somit nicht um eine isolierte Einzeltradition. Das Fehlen von 36,23bβ–38 und die abweichende Kapitelfolge wurden in der Forschung zunächst als Kopistenfehler gewertet.8 Darin liegt auch die tiefere Ursache begründet, dass Joseph Ziegler in seiner Septuagintaausgabe die Lesarten dieses wichtigen Textzeugen in der zweiten Auflage zwar in einem separaten Anhang vollständig auflistete, er aber in seiner Rekonstruktion eines ursprüngli-

3 Henry Sneyder Gehman, Allen Chester Johnson und Edmund Harris Kase, Hg., The John H. Scheide Biblical Papyri. Ezekiel. Princeton University Studies in Papyrology 3 (Princeton: Princeton University Press, 1938). 4 Manuel Fernández-Galiano, „Nuevas Páginas del Códice 967 del A.T. Griego (Ez 28,19–43,9) (PMatr. bibl. 1),“ StPapy 10, 1971, 3–76. 5 Leopold Günther Jahn, Der griechische Text des Buches Ezechiel. nach dem Kölner Teil des Papyrus 967. PTA 15 (Bonn: Rudolf Habelt, 1972). 6 Joseph Ziegler, Ezechiel. Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum. Auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis  XVI (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21977). Die Lesarten von Papyrus 967 werden dort in einem von D. Fraenkel verfassten Nachtrag auf den S. 332–352 notiert. 7 Zum Nachweis s. Pierre-Maurice Bogaert, „Le témoignage de la Vetus Latina dans l’étude de la tradition des Septante. Ézéchiel et Daniel dans les Papyrus 967,“ Bib. 59 (1978): 384–395.387–392. 8 Exemplarisch Bernhard Lang, Ezechiel. Der Prophet und das Buch. EdF 153 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981), 31; Thomas Krüger, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch. BZAW 180 (Berlin: de Gruyter 1989), 446 Anm. 725; Maria Victoria Spottorno, „La omisión de Ez. 36,23b–38 y la transposition de capítulos en el papiro 967.“ EM 50 (1982): 93–98; Leslie C. Allen, Ezekiel 20–48. WBC 29 (Dallas: Thomas Nelson, 1990), 177; Stefan Ohnesorge, Jahwe gestaltet sein Volk neu. Zur Sicht der Zukunft Israels nach Ez 11, 14–21; 20, 1–44; 36, 16–38; 37, 1–14. 15–28. FzB 64 (Würzburg: Echter Verlag, 1991), 203–207 und Paul M. Joyce, Ezekiel. A Commentary. LHB 482 (New York/London: T&T Clark, 2007), 205–206.

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chen Septuagintatextes dem Papyrus insgesamt wenig Vertrauen schenkte.9 Auch der große Ezechielkommentar von Walther Zimmerli berücksichtigt das Zeugnis des Papyrus eher am Rande. 1981 stellte Johan Lust die These auf, dass die Auslassung von Ez 36,23bβ–38 nicht auf Homoioteleuton bzw. Parablepsis zurückzuführen sei.10 Johan Lust vermutete, dass Pap 967 auf einer von MT verschiedenen Vorlage beruhe. Der Papyrus bezeuge eine ältere Textgestalt der letzten Kapitel des Ezechielbuches. Ez 36,23bβ–38 sei als Überleitung zu Ez 37 geschaffen worden, die nötig wurde, als Kapitel 37 vor Ez 38  f zu stehen kam. Den Hintergrund für die Umgruppierung der letzten Kapitel sah Johan Lust in Auseinandersetzungen über den Ablauf der letzten Dinge im Rahmen der frühjüdischen Auseinandersetzung mit apokalyptischen Strömungen. MT sei einer antiapokalyptischen, pharisäischen Redaktion in christlicher Zeit zuzuschreiben. Emanuel Tov (1986) schloss sich zwar dieser extremen Spätdatierung des hebräischen Ezechielbuches nicht an, folgte aber der These dahingehend, dass Pap 967 eine ältere redaktionelle Stufe des Ezechielbuches bezeuge.11 Karl-Friedrich Pohlmann griff die These zwar bereits in seinen Ezechielstudien aus dem Jahr 1992 auf, aber flächendeckend konnte sie sich nicht durchsetzen.12 Bremsend wirkten die Fragmente einer Ezechiel-Rolle, die zwar bereits 1965 von Yigael Yadin bei seinen Grabungen auf Massada gefunden worden waren, die aber erst im Jahr 1996 durch Shemaryahu Talmon publiziert wurden.13 Die Fragmente umfassen Ez 35,11–38,8. Sie sind in herodianischer Schrift verfasst und werden von Shemaryahu Talmon in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. datiert.14 Der Text stimmt bis auf kleinere Abweichungen mit MT überein. Ins-

9 Vgl. hingegen die in weiten Teilen bis heute gültigen Leitlinien, die Joseph Ziegler selbst formuliert (Joseph Ziegler, „Die Bedeutung des Chester-Beatty-Scheide Papyrus 967 für die Textüberlieferung der Ezechiel-Septuaginta,“ ZAW 61 [1945–48]: 76–94). 10 Johan Lust, „Ezekiel 36–40 in the Oldest Greek Manuscript,“ CBQ 43 (1981): 517–533. 11 Emanuel Tov, „Recensional Differences between the MT and LXX of Ezekiel,“ ETL 62 (1986): 89–101. 12 Karl-Friedrich Pohlmann, Ezechielstudien. Zur Redaktionsgeschichte des Buches und zur Frage nach den ältesten Texten, BZAW 202 (Berlin: de Gruyter, 1992). 13 Shemaryahu Talmon, „Fragments of an Ezekiel Scroll from Masada,“ OLP 27 (1996): 29–49; ders., Hebrew Fragments from Masada. With Contributions by Carol Newsom and Yigael Yadin. Bd. 6, Masada VI. Yigael Yadin Excavations 1963–1965. Final Reports (Jerusalem: Israel Exploration Society, 1999). Siehe weiterhin den Beitrag von Heinz-Josef Fabry in diesem Band. 14 Eeibert Tigchelaar, „Notes on the Ezekiel Scroll From Masada (MasEzek),“ RdQ 22/2 (2005): 269–275, identifiziert die Schrift als spätherodianisch und kommt so zu einer Ansetzung in der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr.

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besondere die Passage 36,23bβ–38 ist in Kol. II,12–42 vollständig vorhanden. Auch der Übergang von Ez 37,28 zu 38,1 wird in Kol. IV, 16–17 sicher bezeugt. Damit schien das Pendel zunächst einmal wieder zugunsten von MT auszuschlagen, aber Peter Schwagmeier gelang in seiner Dissertation aus dem Jahr 2004 der Nachweis, dass die von Pap 967 bezeugte Textfolge mit dem Fehlen von 36,23bβ–38 kein Unfall der Textüberlieferung darstellt, sondern dass der Pap 967 auf eine ältere, von MT abweichende Vorlage zurückgeht.15 Leider wurde diese grundlegende Arbeit nie publiziert, so dass ihre Ergebnisse vor allem im angloamerikanischen Raum nicht rezipiert wurden. Allerdings kam Ashley S. Crane in seiner 2008 publizierten Arbeit unabhängig von Peter Schwagmeier zu einem ähnlichen Ergebnis.16 Der aktuelle Stand der Forschung wird durch zwei Arbeiten markiert.17 Zunächst zu nennen ist die Arbeit von Ingrid E. Lilly aus dem Jahr 2012.18 Bereits der Titel ihres Buches „Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the Masoretic Text as Variant Literary Editions“ verrät ihre Hauptthese: Sie geht davon aus, dass Pap 967 und MT zwei verschiedene Buchausgaben repräsentieren, wobei sie keine Entscheidung trifft, welche der beiden Buchfassungen die ältere ist. De facto fängt sie damit den bereits mit der Arbeit von Peter Schwagmeier erreichten Forschungsstand ein. Neu ist, dass ihr der Nachweis gelingt, dass auch das Fehlen von 12,26–28 in Pap 967 auf eine von MT verschiedene Vorlage zurückgeht und dass sie verschiedene inhaltliche ›Tendenzen‹ herausarbeiten kann, welche die durch Pap 967 repräsentierte Buchversion von MT unterscheiden.19 Die zweite Arbeit stammt von Christoph Rösel.20 Er vergleicht in seiner 2012 publizierten Habilitationsschrift zu Ez 38–39 minutiös MT mit dem Text der Septuaginta. Dabei kommt er zum Schluss, „dass LXX eine exakte und wortgetreue Übersetzung eines der Fassung des MT gegenüber ursprünglicheren hebräischen

15 Peter Schwagmeier, Untersuchungen zur Textgeschichte und Entstehung des Ezechielbuches in masoretischer und griechischer Überlieferung, Dissertationsschrift (Zürich 2004). 16 Ashley S. Crane, Israel’s Restoration. A Textual-Comparative Exploration of Ezekiel 36–39, VT.S 122 (Leiden/Boston: Brill, 2008). 17 Die Arbeit von Timothy. P. Mackie, Expanding Ezekiel. The Hermeneutics of Scribal Addition in the Ancient Text Witnesses of the Book of Ezekiel, FRLANT 257 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 215), identifiziert einfach den Text des Old Greek mit der Ausgabe von Joseph Ziegler und fällt damit hinter den aktuellen Forschungsstand zurück. 18 Ingrid E. Lilly, Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the Masoretic Text as Variant Literary Editions, VT.S 150 (Leiden/Boston: Brill, 2012). 19 Leider ist die von ihr im Anhang aufgeführte Liste von Abweichungen von Papyrus 967 gegenüber MT nicht vollständig (gleiches gilt für die Liste von Schwagmeier, Untersuchungen.) 20 Christoph Rösel, JHWHs Sieg über Gog aus Magog. Ez 38–39 im Masoretischen Text und in der Septuaginta, WMANT 132 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2012).

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Textes darstellt. Präziser gesagt gilt das von LXX in der vor allem durch p967 repräsentierten ältesten Textfassung des ›Old Greek‹, die der Einfachheit halber hier als LXX bezeichnet wird. Die Unterschiede im Textbestand entstanden meist nicht durch die Übersetzer, sondern durch nach der Übersetzung erfolgte Ergänzungen im hebräischen Text. […] Insgesamt kann man die verschiedenen Unterschiede zwischen MT und LXX in Ez 38–39 […] durchaus als eine übergreifende Bearbeitung der beiden Kapitel verstehen. Darin wird eine Form redaktioneller Tätigkeit erkennbar, die sich einer Rekonstruktion mit den sonst üblichen Methoden der Redaktions- oder Tendenzkritik entzieht.“21 Christoph Rösel zeigt also, dass die in MT greifbare Überarbeitung nicht einfach punktuell geschieht, sondern dass die durch MT repräsentierte Textform konzeptionell deutlich anders gelagert ist. Er arbeitet dies in Bezug auf die Völkerthematik einerseits und die Zeitthematik andererseits heraus. LXX und MT zeigen unterschiedliche inhaltliche Tendenzen in Bezug auf die Völker und erst mit MT wird ein dezidierter ‚Fahrplan für die Endzeit‘ etabliert, wohingegen LXX weniger verschiedene Heilsepochen zeichne, sondern „verschiedene Blickrichtungen“22. Das Interessante ist, dass diese beiden Tendenzen nahezu deckungsgleich auch von Ingrid E. Lilly herausgearbeitet werden.23 Eine weitere Frage betrifft die Datierung der Ezechiel-Septuaginta. Konsens besteht darin, dass aufgrund der wortgetreuen Übersetzung, die „teilweise bis an die Schmerzgrenze des griechischen Sprachempfindens“24 geht, die Ezechielseptuaginta der späteren Übersetzungstradition angehört. Die Übersetzung des Pentateuch wird in jedem Fall vorausgesetzt, vermutlich auch die des Dodekapropheton. Eine Ansetzung im 2. Jahrhundert v. Chr. ist damit plausibel.25 Arie van der Kooij hat 2005 nachgewiesen, dass die Übersetzung von Ez 21,25–28 der Legitimation hasmonäischer Machtansprüche dient.26 Ich selbst habe versucht,

21 Rösel, JHWHs Sieg, 405. 22 Rösel, JHWHs Sieg, 409. 23 Auch William A. Tooman, Gog of Magog. Reuse of Scripture and Compositional Technique in Ezekiel 38–39, FAT 2/52 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011) kommt nahezu zeitgleich zu sehr ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Priorität des Septuagintatextes. 24 Schwagmeier, Untersuchungen, 125. 25 Vgl. Folker Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta, MJSt 9 (Münster: Lit, 2001), 42–43; Michael Tilly, Einführung in die Septuaginta (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005), 52. 26 Arie van der Kooij, „The Septuagint of Ezekiel and Hasmonean Leadership,“ in Interpreting Translation, FS Johan Lust, hg. v. Florentino García Martínez und Marc Vervenne, BETL 192, (Leuven: Peeters, 2005), 437–446. Vgl. ders., „The Septuagint of Ezekiel and the Profane Leader,“ in The Book of Ezekiel and its Influence, hg. v. Henk Jan de Jonge und Johannes Tromp (Hampshire: Routledge 2007), 43–52.

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diesen Ansatz weiterzuführen.27 Die von Pap 967 bezeugte Textfolge (Ez 38–39 Ansturm und Vernichtung einer Völkerkoalition aus dem Norden, Ez 37 Restitution Israels unter einem neuen David, Ez 40–48 Einrichtung des neuen Kultes und Wiederherstellung der idealen Grenzen des Landes) lässt sich als Legitimation hasmonäischer Ansprüche lesen (vgl. 1Makk 14,4–15), so dass eine Übersetzung dieser Buchfassung in hasmonäischer Zeit Sinn macht. Als weiterer Mosaikstein für eine Datierung der Ezechielseptuaginta, der in der Forschung bisher nicht beachtet wurde, sei auf Ez 37,19 verwiesen. In V. 19bα ist MT in jedem Fall fehlerhaft. Die Septuaginta „scheint schon M vor Augen zu haben“28, und gibt dem gesamten Vers interpretativ eine andere Richtung: „Da sollst du ihnen sagen: ‚Dies sagt der Herr: Siehe, ich werde den Stamm Josefs in der Hand von Ephraim und die Stämme Israels, die ihm ergeben sind, nehmen und sie in den Stamm von Juda eingliedern, und sie werden in der Hand von Juda ein einziger Stock sein.‘“29 G zielt also auf eine Vereinigung von Nord und Süd unter der Vorherrschaft Judas – was eben unter den Hasmonäern der Fall war. Entsprechend dürfte das Ezechielbuch in der zweiten Hälfte des 2.  Jahrhunderts v. Chr. ins Griechische übersetzt worden sein. Das Problem liegt freilich im Detail: Es mag sich ein Konsens etabliert haben, dass Pap 967 hinsichtlich des Fehlens von Ez 36,16–38 und der von MT abweichenden Textfolge eine ältere Textgestalt des Ezechielbuches bewahrt hat, unklar ist jedoch die Bedeutung von Pap 967 abseits dieser markanten Abweichungen. Wie sind diese zu beurteilen?

2 Eine Beispielanalyse: Pap 967 in Ez 34 Am Beispiel der Analyse eines Kapitels sei nun die angerissene Problematik vor Augen geführt. Ich habe dabei bewusst ein Kapitel gewählt, das textkritisch als relativ unproblematisch gilt, bei dem jedoch zugleich ein weitgehender Konsens besteht, dass es eine – wie auch immer im Detail zu rekonstruierende – Redaktionsgeschichte durchlaufen hat. Es handelt sich hierbei um das sogenannte ›Hir-

27 Michael Konkel, „Das Ezechielbuch zwischen Hasmonäern und Zadokiden,“ in Juda und Jerusalem in der Seleukidenzeit. Herrschaft – Widerstand – Identität, FS Heinz-Josef Fabry, hg. v. Ulrich Dahmen und Johannes Schnocks, BBB 159 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010), 59–78. 28 Walther Zimmerli, Ezechiel, BK.AT 13/2 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 21979), 904. 29 Übersetzung nach Martin Karrer und Wolfgang Kraus, Hg., Septuaginta deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 22010), 1403.

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tenkapitel‹ Ez 34.30 Ich konzentriere mich daher auf einige Beispiele, die einen repräsentativen Überblick darüber geben, welche Herausforderungen sich für die Text-, Literar- und Redaktionskritik ergeben.

2.1 Ez 34,8 – Pap 967 gegen die Ausgabe Joseph Zieglers und MT Eine der m.  E. wichtigsten Erkenntnisse der Arbeiten von Christoph Rösel und Ingrid E. Lilly besteht im Nachweis, dass MT eine durchgehende Oberflächenpolitur erhalten hat, bei der versucht wurde, über das Buchganze hinweg Kohärenz in Sprache und Ausdruck herzustellen. Eine vergleichbare Kohärenz ist in der Septuaginta nicht vorhanden. Damit ist eine der zu Beginn erwähnten Untiefen diachroner Analyse benannt: Die Identifikation von Redaktionen geschieht zu weiten Teilen über formelhafte Wendungen, die an verschiedenen Stellen im Buch wiederkehren. Wenn nun lexematische Kohärenz in MT erst nachträglich hergestellt wurde, ist es umso wichtiger, diesen Prozess so weit als möglich sichtbar zu machen, um nicht vorschnell Verbindungen zwischen Texten herzustellen, die vor der Politur gar nicht in dieser Form bestanden haben. Ein Beispiel hierfür bietet V. 8: 8aα

8aβ 8bα 8bβ

Ziegler-Ausgabe Ζῶ ἐγώ, λέγει κύριος, εἶ μὴν ἀντὶ τοῦ γενέσθαι τὰ πρόβατά μου εἰς προνομὴν καὶ γενέσθαι τὰ πρόβατά μου εἰς κατάβρωμα πᾶσι τοῖς θηρίοις τοῦ πεδίου

Pap 967 ζω εγω λεγει κυριος ει μην αντι του γενεσθαι μου τα προβατα

παρὰ τὸ μὴ εἶναι ποιμένας, καὶ οὐκ ἐξεζήτησαν οἱ ποιμένες τὰ πρόβατά μου,

παρα το μη ειναι ποιμενας και ουκ εξηζητησαν οι ποιμενες τα προβατα μου

καὶ ἐβόσκησαν οἱ ποιμένες ἑαυτούς, τὰ δὲ πρόβατά μου οὐκ ἐβόσκησαν,

και εβοσκησαν οι ποιμενες εαυτους τα δε προβατα μου ουκ εβοσκησαν

εις καταβρωμα πασι τοις θηριοις του πεδιου

MT nach BHS

‫י־אנִ י נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה‬ ָ ‫ַח‬ ‫ִאם־לֹא יַ ַען ֱהיֹות־צֹאנִ י‬ ‫ָל ַבז‬ ‫וַ ִּת ְהיֶ ינָ ה צֹאנִ י‬ ‫ל־חּיַ ת‬ ַ ‫ְל ָא ְכ ָלה ְל ָכ‬ ‫ַה ָּׂש ֶדה‬ ‫ֵמ ֵאין ר ֔ ֶֹעה‬ ‫א־ד ְרׁשּו ר ַֹעי ֶאת־‬ ָ ֹ ‫וְ ֽל‬ ‫אנ֑י‬ ִ ֹ‫צ‬ ‫אֹותם‬ ָ֔ ‫וַ ּיִ ְרעּו ָהר ִֹעים‬ ‫ ס‬:‫וְ ֶאת־צֹאנִ י לֹא ָרעּו‬

30 Die jüngste Analyse des Kapitels bietet Ignatius M. C. Obinwa, „I Shall Feed Them with Good Pasture“ (Ezek 34:14). The Shepherd Motif in Ezekiel 34. Its Theological Import and Socio-political Implications, FzB 125 (Würzburg: Echter, 2012). Er diskutiert die textkritischen Probleme ausgiebig, gibt dabei aber durchgehend MT den Vorzug. Das Zeugnis von Papyrus 967 wird allerdings von ihm komplett übergangen.

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In V. 8aα werden die Worte ‫ לבז ותהיינה צאני‬von Pap 967 nicht bezeugt.31 Die Lesart wird von drei weiteren Septuagintahandschriften, dem Codex Constantiensis (Handschrift der Vetus Latina aus dem 5. Jahrhundert) und bei Augustinus bezeugt. Darüber hinaus ist die Passage in einem der Hauptzeugen der Hexapla (88, Rom 10. Jahrhundert) mit einem Asteriskos, also als in der Septuaginta fehlend, gekennzeichnet. Es handelt sich also nicht um eine isolierte Tradition. Joseph Ziegler wertet das Fehlen als Schreibfehler aufgrund von Homoioteleuton und verbannt die Lesart in den Apparat.32 Die Lesart wird in der mir bekannten Sekundärliteratur zu Ez 34 nicht diskutiert. Auffällig ist auch, dass in der „Septuaginta deutsch“ dieses Minus von Pap 967 in den Anmerkungen nicht vermerkt bzw. diskutiert wird. Joseph Zieglers Wertung als Schreibfehler schlägt hier voll durch. Schaut man sich jedoch den Kontext an, so ist in MT eine Kohärenzstörung erkennbar; denn dass die Herde zum „Raub“ werde, sprengt die ansonsten in dieser Passage streng durchgehaltene Metaphorik von Hirte und Herde. Die Herde wird zum „Fraß“, aber schwerlich zum „Raub“. Entsprechend ist auch im korrespondierenden V. 10 davon nicht die Rede. Dort heißt es: „und ich werde meine Herde ihrem [d.  h. der Hirten] Maul entreißen, und sie werden ihnen nicht mehr zum Fraß sein.“ Sogar Moshe Greenberg gesteht zu, dass mit der Rede vom „Raub“ in V. 8 die metaphorische Ebene verlassen werde, weshalb er das ‫ ו‬hinter ‫ לבז‬als waw-explicativum übersetzt.33 Nun ließe sich argumentieren, dass der kürzere, von Pap 967 bezeugte Text glättet, indem er eben das störende Element weglässt. Eine bewusste Auslassung wäre freilich für diesen Textzeugen wie für die Ezechielseptuaginta insgesamt sehr ungewöhnlich. Die Regel der lectio brevior hat im Fall der Ezechielseptuaginta starkes Gewicht. Dass Israel „zur Beute“ wird, begegnet allerdings noch an zwei weiteren Stellen in Ez 34: in V. 22a und in V. 28a. So umstritten die Genese von Ez 34 im Einzelnen sein mag, bei beiden Stellen ist sich die diachron argumentierende Forschung einig, dass diese beiden Verse nicht zum Grundbestand des Kapitels gehören.34 Ferner gilt, dass die Vorstellung, Israel oder seine Feinde würden „zur Beute“, zur festen Gerichtsterminologie des Ezechielbuches gehört.35 Vor diesem 31 In V. 8aβ wird das Possessivsuffix der 1. Pers. Sg. („meine Hirten“) von der Septuaginta inkl. Pap 967 nicht bezeugt. MT bietet hier die lectio difficilior und ist entsprechend vorzuziehen. 32 Die Ziegler-Ausgabe und Rahlfs sind in Ez 34,8 identisch. 33 Moshe Greenberg, Ezekiel 21–37, AB 22a (New York: Doubleday 1997), 699. 34 Siehe exemplarisch Zimmerli, Ezechiel, 847; Franz Sedlmeier, Das Buch Ezechiel. Kapitel 25– 48, NSK.AT 21/2 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2013), 163. 35 Von Israel: Ez 7,21; 23,46; 36,4  f; 38,12  f; von den Völkern: 26,5; 29,19; vgl. Num 14,3.31; Dtn 1,39; 2 Kön 21,14; (Jes 8,1.3); 10,6; 42,22; Jer 2,14; 15,13; 17,3; 30,16.

Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 

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Hintergrund ist der Schluss gerechtfertigt, dass Pap 967 – zusammen mit den weiteren oben genannten Textzeugen – in V. 8 eine ältere Lesart bewahrt hat. Die Worte ‫ לבז ותהיינה צאני‬wurden eingefügt, um in V. 8 das negative Pendant zu dem in V. 22 und V. 28 angesagten Heil herzustellen und gleichzeitig die Gerichtsansagen im ersten Teil des Kapitels auf die Gerichtsterminologie des Buches insgesamt abzustimmen – freilich auf Kosten einer kohärenten Bildsprache.

2.2 Ez 34,22 – Pap 967 gegen die Ziegler-Ausgabe und MT 22aα 22aβ 22bα 22bβ

Ziegler-Ausgabe καὶ σώσω τὰ πρόβατά μου, καὶ οὐ μὴ ὦσιν ἔτι εἰς προνομήν, καὶ κρινῶ ἀνὰ μέσον κριοῦ πρὸς κριόν.

Pap 967 και σωσω τα προβατα μου και ου μηκετι ωσιν εις προνομην ·

MT nach BHS

‫אני‬ ִ֔ ֹ ‫הֹוׁש ְע ִּתי ְלצ‬ ַ ְ‫ו‬ ‫א־ת ְהיֶ ינָ ה עֹוד ָל ַ ֑בז‬ ִ ֹ ‫וְ ֽל‬ ‫וְ ָׁש ַפ ְט ִּ֔תי‬ :‫ֵּבין ֶׂשה ָל ֶׂשה‬

Zunächst einmal zeigt V. 22aβ die Eigenständigkeit von Pap 967: anstelle von οὐ μὴ ὦσιν liest er bedeutungsgleich ου μηκετι ωσιν. Ins Auge fällt jedoch dann das Fehlen der gesamten zweiten Vershälfte. Joseph Ziegler weist auf das Fehlen im Apparat hin, ebenso „Septuaginta deutsch“.36 Die Kommentar- und Sekundärliteratur jedoch erwähnt bzw. diskutiert die Lesart nicht. Anders als in V. 8 ist Pap 967 der einzige Textzeuge für das Fehlen von V. 22b. Als Schreibfehler dürfte das Fehlen allerdings schwerlich zu erklären sein. Um die Lesart zu bewerten, ist es notwendig, auf den größeren Zusammenhang zu schauen. Ez 34 zeigt eine komplexe, aber recht klare Struktur: V. 1 Einleitung A V. 2–8 B V. 9–10 C V. 11–15

Anklage der Hirten Israels Gericht über die Hirten Israels Heil für Israel: JHWH als der Hirt Israels

V. 16 Scharniervers A’ V. 17–19 B’ V. 20–22 C’ V. 23–30

Anklage der Widder und Böcke Gericht innerhalb der Herde Heil für Israel: David als Hirt Israels und Friedensbund mit Israel

V. 31 Schluss

36 Die Ziegler-Ausgabe und Rahlfs sind in 34,22 identisch.

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So klar diese Abfolge ist – bei näherem Hinsehen zeigen sich Risse. Der auffälligste Bruch besteht darin, dass in V. 11–15 JHWH ankündigt, dass er nun fortan selbst das Hirtenamt ausüben wolle, dann aber in V.  23  ff David als Hirte eingesetzt wird. Weiterhin fällt die Wortbekräftigungsformel in V. 24 auf, die sonst ein sicheres Indiz für einen Textabschluss ist.37 Nur hier im Buch läuft der Text weiter, woran der Nachtragscharakter von V. 25–31 erkennbar ist. Schließlich fällt auf, dass die Heilsansagen in der ersten Texthälfte unkonditioniert ergehen, demgegenüber aber in V. 17–22 ein Gericht innerhalb der Herde angekündigt wird, so dass nur ein Teil der Herde das Heil erlangt. So sehr ein Grundkonsens hinsichtlich dieser Kohärenzstörungen in der Forschung besteht, so umstritten ist die Rekonstruktion der Genese von Ez 34 im Detail. Konsens besteht freilich, dass das Scheidungsgericht in V. 17–22 nicht zum Grundbestand des Textes gehört.38 In MT wird nun V. 17–22 durch die Wiederaufnahme von V. 17 in V. 22b als Einschub markiert. Das könnte dazu verleiten, V. 17–22 als isolierte Fortschreibung zu identifizieren. In der Tat ist dies auch bei Anja Klein der Fall, die in ihrer Analyse V. 17–22 als jüngstes Fortschreibungselement in Ez 34 einordnet.39 Es ist jedoch problematisch, literarkritisch V. 17–22 von V. 23–24 zu trennen. Der Grund liegt darin, dass das Scheidungsgericht innerhalb der Herde die Spannung zwischen JHWH als einzigem Hirten in der ersten Texthälfte und der Einsetzung Davids zum Hirten in der zweiten Texthälfte unterfängt. Im heute vorliegenden Text ergibt sich ein zeitlicher Ablauf: JHWH enthebt die alten Hirten ihres Amtes, übernimmt selbst das Hirtenamt, sammelt seine Herde und führt ein Scheidungsgericht innerhalb der Herde durch. Danach tritt er wieder als direkter Hirte ab und setzt David als Hirten über die nunmehr geläuterte Herde ein. Durch das Scheidungsgericht erst wird die Einsetzung Davids möglich, weil dadurch eine neue Situation geschaffen wird, die es JHWH ermöglicht, das Hirtenamt wieder abzugeben. Das aber bedeutet: V. 17–22 sind für das Verständnis von V. 23  f konstitutiv.  v. 17–22 und V. 23  f können literarkritisch nicht getrennt werden.40 Die Zusammengehörigkeit der V.  17–24 wird mit dem Fehlen von V.  22b in Pap 967 deutlicher, als dies in MT der Fall ist.

37 Zur Funktion der Wortbekräftigungsformel s. Frank-Lothar Hossfeld, Untersuchungen zu Komposition und Theologie des Ezechielbuches, FzB 20 (Würzburg: Echter, 21983), 46–53. 38 So bereits Gustav Hölscher, Hesekiel. Der Dichter und das Buch. Eine literarkritische Untersuchung, BZAW 39 (Gießen: Töpelmann, 1924), 170–171. 39 Anja Klein, Schriftauslegung im Ezechielbuch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39, BZAW 391 (Berlin: de Gruyter, 2008), 58–59. 40 Vgl. bereits Hossfeld, Komposition, 253.

Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 

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Das Fehlen von V. 22b ist nur in Pap 967 bezeugt. Es wäre daher gewagt, sicher zu schließen, dass diese lectio brevior eine ältere Textstufe bezeugt. Ich halte dies jedoch keineswegs für ausgeschlossen, da ein analoger Fall in Ez 37,10 vorliegt, wo es mir sehr wahrscheinlich scheint, dass Pap 967 als einziger Textzeuge eine ältere Textstufe erkennen lässt.41 In jedem Fall schiebt Pap 967 einer mechanischen Anwendung des „Kuhlschen Prinzips“ der Wiederaufnahme einen Riegel vor, welche ohnehin dem synchronen Duktus des Textes nicht gerecht würde.

2.3 Ez 34,15 – Ziegler-Ausgabe gegen Pap 967 und MT 15aα

15aβ

Ziegler-Ausgabe ἐγὼ βοσκήσω τὰ πρόβατά μου καὶ ἐγὼ ἀναπαύσω αὐτά, καὶ γνώσονται ὅτι ἐγώ εἰμι κύριος. τάδε λέγει κύριος

Pap 967 εγω βοσκησω τα προβατα μου και εγω αναπαυσω αυτα

ταδε λεγει κυριος

MT nach BHS ‫ֲאנִ י ֶא ְר ֶעה צֹאנִ י‬ ‫יצם‬ ֵ֔ ‫וַ ֲאנִ י ַא ְר ִּב‬

:‫נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה‬

V. 15 repräsentiert einen der wenigen Fälle, in denen die breite Septuagintatradition ein Plus bezeugt und zwar liest sie in V. 15aα zusätzlich die Erkenntnisformel. Darüber hinaus bietet sie anstelle der den Vers abschließenden Gottesspruchformel in MT τάδε λέγει κύριος, womit sonst im Buch die Botenformel wiedergegeben wird. Im letzten Punkt geht Pap 967 mit der Septuagintatradition überein, die Erkenntnisformel aber fehlt hier ebenso wie in MT. Zur Bewertung des Befunds ist ein wenig auszuholen. Die Verwendung der Erkenntnisformel im Ezechielbuch ist komplex; es lässt sich jedoch, wie FrankLothar Hossfeld gezeigt hat, ein Funktionswandel nachweisen vom textabgrenzenden Endsyntagma hin zur Kontextformel.42 Dabei fungiert die Formel in 38 Fäl­len als Schlusssyntagma. Steht sie allein, ist sie ein relativ sicherer Marker für einen ursprünglichen Textabschluss. Als solche fungiert sie aufgrund der nachfolgenden Botenformel auch hier in der Septuagintafassung, wohingegen die in MT belegte Gottesspruchformel sowohl als Endformel wie als Kontextformel fungieren kann.43

41 Siehe hierzu Michael Konkel, „The Vision of the Dry Bones (Ezek 37.1–14). Resurrection, Restoration or What?,“ in Ezekiel. Current Debates and Future Directions, hg. v. Penelope Barter und William A. Tooman, FAT 112 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017), 107–119, 116–118. 42 Hossfeld, Komposition, 40–46. 43 Zur Funktion der Gottesspruchformel s. Hossfeld, Komposition, 37–40.

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 Michael Konkel

So unterschiedlich nun die einzelnen Entwürfe zur Rekonstruktion der Genese von Ez 34 sein mögen, in einem Punkt kommen sie nahezu alle überein, nämlich dass der Text auf einer relativ frühen redaktionellen Stufe einmal mit V. 15 geendet hat.44 Literar- und redaktionskritische Überlegungen führen zum Schluss, dass zwischen V. 15 und V. 16 eine literarkritische Fuge liegt. Diese ist nun im Septuagintatext durch die Erkenntnisformel und die einen Neueinsatz markierende Botenformel deutlicher sichtbar als in MT. Von daher scheint mir der Schluss gerechtfertigt, dass die Septuaginta in V. 15 eine ältere Textfassung bewahrt hat. In MT hingegen wurden offensichtlich die Erkenntnisformel und die Botenformel ersetzt durch die Gottesspruchformel. Da Pap 967 allerdings bereits die Botenformel bezeugt, dürfte das Fehlen der Erkenntnisformel hier als eine vorhexaplarische Angleichung an MT zu erklären sein.

2.4 Ez 34,16 – Ziegler-Ausgabe und Pap 967 gegen MT 16aα

16aβ 16aγ 16b

Ziegler-Ausgabe Τὸ ἀπολωλὸς ζητήσω καὶ τὸ πλανώμενον ἐπιστρέψω καὶ τὸ συντετριμμένον καταδήσω καὶ τὸ ἐκλεῖπον ἐνισχύσω καὶ τὸ ἰσχυρὸν φυλάξω

Pap 967 το απολωλος εκζητησω και το πλανωμενον επιστρεψω και το συντετριμενον καταδησω και το εκλειπον ενισχυσω και το ισχυρον φυλαξω

καὶ βοσκήσω αὐτὰ μετὰ κρίματος.

και βοσκησω αυτα μετα κριματος

MT nach BHS ‫ת־הא ֶֹב ֶדת ֲא ַב ֵּקׁש‬ ָ ‫ֶא‬ ‫ת־הּנִ ַּד ַחת ָא ִׁ֔שיב‬ ַ ‫וְ ֶא‬ ‫וְ ַלּנִ ְׁש ֶּב ֶרת ֶא ֱח ֔בֹׁש‬ ‫חֹולה ֲא ַח ֵּז֑ק‬ ָ ‫ת־ה‬ ַ ‫וְ ֶא‬ ‫ת־ה ֲחזָ ָקה‬ ַ ‫ת־ה ְּׁש ֵמנָ ה וְ ֶא‬ ַ ‫וְ ֶא‬ ‫ַא ְׁש ִמיד‬ :‫ֶא ְר ֶ ֥עּנָ ה ְב ִמ ְׁש ָּפט‬

In diesem Beispiel ist Pap 967 auf Seiten der Septuagintatradition zu positionieren. In V. 16aα ist das εκζητησω von Pap 967 eine typische kleinere Abweichung, welche die Eigenständigkeit von Pap 967 gegenüber dem Vaticanus erkennen lässt. Entscheidend ist jedoch V. 16b: Das ‫ ואת השמנה‬des MT wird von der Septuaginta nicht bezeugt, das φυλάξω der Septuaginta führt auf eine Vorlage ‫אשמיר‬ anstelle des von MT bezeugten ‫אשמיד‬. Die ältere Forschung bis zu Walther Zim-

44 Vgl. exemplarisch Zimmerli, Ezechiel, 847; Hossfeld, Komposition, 281–282; Karl-Friedrich Pohlmann, Das Buch des Propheten Hesekiel (Ezechiel). Kapitel  20–48. Übersetzt und erklärt von Karl-Friedrich Pohlmann mit einem Beitrag von Thilo Alexander Rudnig, ATD 22/2 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001), 464–466; Klein, Schriftauslegung, 32–39. Die Ausnahme von der Regel bildet Christoph Levin, Die Verheißung des neuen Bundes. in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt, FRLANT 137 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985), 219. Er bestimmt als Grundschicht 34,1–6*.9–10.13.23–24.

Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 

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merli hat den Text im Sinne der Septuaginta geändert.45 Die neueren Kommentare hingegen bleiben praktisch durchgehend bei MT.46 MT bietet die lectio difficilior. Der Text dürfte so zu interpretieren sein, dass V. 16b den Gedanken eines Gerichts innerhalb der Herde (V. 17–22) vorwegnimmt. MT ist somit keineswegs fehlerhaft, und es besteht keine Notwendigkeit, den Text zu korrigieren. Da allerdings V. 17–22 nicht zum Grundbestand des Kapitels zu rechnen sein dürften, legt sich der Verdacht nahe, dass V. 16b überarbeitet wurde und der Gedanke des in V. 17–22 entfalteten Scheidungsgerichts innerhalb der Herde in V. 16 sekundär eingetragen wurde. Die lectio brevior et facilior der Septuagintatradition dürfte also in V. 16b keine bessere, wohl aber eine ältere Textstufe bewahrt haben. Hier wird erneut deutlich, dass in später Zeit der Text nicht nur erweitert, sondern auch durch den Wechsel von ‫ שמר‬zu ‫ שמד‬geändert wurde. Es werden hier Prozesse sichtbar, die mit den Mitteln der Literar- und Redaktionskritik nicht erfassbar sind.

2.5 Ez 34,30 – Ziegler-Ausgabe und Pap 967 gegen MT 30a

30bα 30bβ

Göttinger Ausgabe καὶ γνώσονται ὅτι ἐγώ εἰμι κύριος ὁ θεὸς αὐτῶν, καὶ αὐτοὶ λαός μου οἶκος Ισραηλ, λέγει κύριος.

Pap 967 και γνωσονται οτι εγω ειμι κυριος ο θεος αυτων και αυτοι λαος μου οικος ισραηλ λεγει κυριος =

MT nach BHS ‫וְ יָ ְדעּו‬ ‫יהם ִא ָ ּ֑תם‬ ֶ ‫ֹלה‬ ֵ ‫ִּכי ֲאנִ י יְ הוָ ה ֱא‬ ‫וְ ֵה ָּמה ַע ִּמי ֵּבית יִ ְׂש ָר ֵ֔אל‬ :‫נְ ֻ ֖אם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה‬

Am Schluss von V. 30a wird das ‫ אתם‬des MT von der Septuaginta und von drei hebräischen Handschriften nicht bezeugt. Walther Zimmerli merkt hierzu an, dass ‫„ אתם‬formal die doppelteilige Bundesformel unschön stört“47 und scheidet das Wort als sekundär aus. In der Tat liegen im heute vorliegenden MT die Aussagen der beiden Vershälften von V. 30 nicht auf einer Ebene: „Und sie werden erkennen, dass ich JHWH, ihr Gott, mit ihnen bin“ meint etwas anderes als die Aussage „und sie werden erkennen, dass ich, JHWH, ihr Gott bin.“

45 Siehe exemplarisch bereits Carl Heinrich Cornill, Das Buch des Propheten Ezechiel (Leipzig: Hinrichs, 1886), 402–403; Walther Zimmerli, Ezechiel, 830. 46 Die Ausnahme bildet der Kommentar von Pohlmann, Hesekiel, der zu dieser Stelle anmerkt: „der in M gebotene Text ist offensichtlich nicht in Ordnung.“ (460 Anm. 7) 47 Zimmerli, Ezechiel, 832.

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 Michael Konkel

Laut Apparat der BHS bezeugen einige hebräische Handschriften hinter ‫וידעו‬ noch ‫הגוים‬, so dass also die Völker Subjekt sind: „Und die Völker werden erkennen, dass ich, JHWH, ihr Gott, mit ihnen bin.“ Der Satz kann so verstanden werden, dass die Völker erkennen, dass JHWH mit Israel ist. Er läge dann auf einer Ebene mit 37,28: „Und die Völker werden erkennen, dass ich, JHWH, Israel heilige.“ Man kann das „mit ihnen“ aber auch auf die Völker beziehen. Ausgesagt wäre dann, dass JHWH auch der Gott der Völker ist und er „mit ihnen“ ist. Die Kopula am Beginn von V. 30b wäre dann adversativ zu übersetzen: Während JHWH mit den Völkern ist, gilt, dass das Haus Israel „sein Volk“ ist. Die Nennung der Völker als Subjekt der Erkenntnis in einigen Handschriften macht freilich nur explizit, was auch in MT möglich ist; denn die Völker werden im vorausgehenden V. 29b erwähnt. Grammatikalisch ist es also auch in MT möglich, als Subjekt von V. 30a die Völker einzusetzen. Das Zeugnis der Handschriften macht nur eine Interpretation explizit, die in MT implizit gegeben ist. Streicht man nun das ‫ אתם‬und stellt die Bundesformel her, dann geht diese Lesart kaum auf und man muss V. 30a auf Israel beziehen. Das ‫ אתם‬ist also kein überflüssiges Anhängsel. Es ermöglicht eine Interpretation von V. 30, die die Völker in einer Art und Weise in das Gottesverhältnis hineinnimmt, wie dies sonst im Ezechielbuch nicht der Fall ist. Zwar kennt das Ezechielbuch die Vorstellung, dass die Völker zur Anerkenntnis der Souveränität JHWHs gelangen, aber ein positives Verhältnis JHWHs zu den Völkern scheint an keiner anderen Stelle im Ezechielbuch durch. Ich glaube kaum, dass diese durch das ‫ אתם‬ermöglichte Interpretation ursprünglich ist. Von daher dürfte ‫ אתם‬später hinzugefügt sein. Die Septuaginta – und in diesem Fall darf man aufgrund der breiten Bezeugung m.  E. guten Gewissens von der Septuaginta sprechen – hat also erneut eine ältere Lesart bewahrt. Während es Christoph Rösel gelungen ist, aufzuzeigen, dass in Ez 38–39 die Septuagintatradition ein positiveres Verhältnis zu den Völkern zeigt als MT,48 lässt sich dieser Trend für Ez 34 nicht bestätigen. Hier ist es MT, der eine positivere Sicht der Völker zumindest zulässt.

48 Rösel, JHWHs Sieg, bes. 124–125.

Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 

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2.6 Ez 34,23 – Ziegler-Ausgabe und Papyrus 967 gegen MT 23aα

23aβ 23bα 23bβ

Göttinger Ausgabe καὶ ἀναστήσω ἐπ᾿ αὐτοὺς ποιμένα ἕτερον (Rahlfs: ἕνα) καὶ ποιμανεῖ αὐτούς, τὸν δοῦλόν μου Δαυιδ,

Papyrus 967 και αναστησω επ αυτους ποιμενα ετερον και ποιμανει αυτους τον δουλον μου δαουειδ

καὶ ἔσται αὐτῶν ποιμήν·

και εσται αυτων ποιμην

MT nach BHS ‫יהם ר ֶֹעה ֶא ָחד‬ ֶ ‫וַ ֲה ִקמ ִֹתי ֲע ֵל‬ ‫וְ ָר ָעה ֶא ְת ֶ֔הן‬ ‫ֵאת ַע ְב ִּדי ָדִו֑יד‬ ‫הּוא יִ ְר ֶעה א ָֹ֔תם‬ :‫וְ הּוא־יִ ְהיֶ ה ָל ֶהן ְלר ֶֹעה‬

Ins Auge fällt zunächst das Fehlen von V. 23bα in der Septuaginta. Die ältere Forschung hat den Satz auch meist als sekundär gestrichen.49 Die Wiederholung in MT dürfte als Emphase zu verstehen sein. Allerdings ist eine solche Form unmittelbarer Wiederholung für das Ezechielbuch untypisch, so dass hier der Verdacht nahe liegt, dass die Emphase sich späterer Überarbeitung verdankt. Eine letzte Entscheidung wird hier nur schwer zu treffen sein. Für unsere Fragestellung sodann von Bedeutung ist die Lesart ετερον anstelle des ‫ אחד‬des MT in V. 23aα. Die Göttinger Ausgabe und Pap 967 stimmen hier überein – allerdings deshalb, weil dies eine der wenigen Stellen ist, an denen Joseph Ziegler dem Pap 967 zusammen mit dem Alexandrinus und dem Codex Wirceburgensis gegen den Vaticanus folgt. Demgegenüber liest Rahlfs an dieser Stelle mit dem Vaticanus und in Übereinstimmung mit MT ἕνα. Die von Joseph Ziegler bevorzugte Lesart des Alexandrinus und des Pap 967 dürfte als interpretativer Versuch zu werten sein, die Spannung zwischen V. 15 – JHWH übt sein Hirtenamt direkt aus – und der Einsetzung Davids zum Hirten in V. 23 auszugleichen. Bereits George A. Cooke hat dies in seinem Ezechielkommentar von 1936 gesehen.50 Entsprechend kann hier nicht auf eine von MT verschiedene ältere Vorlage geschlossen werden. MT ist als lectio difficilior der Vorzug zu geben. Aber nichtsdestoweniger ist es denkbar, dass diese Lesart innerhalb der Septuagintatradition älter sein könnte als die durch den Vaticanus bezeugte. M.E. ist nicht entscheidbar, ob die Lesart des Vaticanus älter ist oder ob sie bereits eine vorhexaplarische Korrektur nach MT darstellt. Dieses Beispiel zeigt die Grenzen des textkritischen Instrumentariums auf.

49 Exemplarisch Zimmerli, Ezechiel, 831. 50 George A. Cooke, A Critical and Exegetical Commentary on the Book of Ezekiel, ICC (Edinburgh: T&T Clark, 1936), 381.

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 Michael Konkel

2.7 Ez 34,18 – Pap 967 und MT gegen die Ziegler-Ausgabe Ein besonderes Problem stellen die Lesarten dar, bei denen Pap 967 zusammen mit MT gegen Joseph Zieglers Ausgabe geht. Denn es stellt sich die Frage, ob die Übereinstimmung mit MT Zeichen eines höheren Alters oder Zeichen einer vorhexaplarischen Angleichung an MT ist. Oftmals kann hier keine definitive Entscheidung getroffen werden. Eine solche ist auch nur notwendig, wenn es darum geht, eine möglichst alte Textform der Septuaginta zu rekonstruieren. In Ez 34 finden sich sechs solcher Fälle (V. 13.17.18.19.28.31). Als Beispiel sei ein Blick auf Ez 34,18 geworfen: 18aα

Ziegler-Ausgabe καὶ οὐχ ἱκανὸν ὑμῖν ὅτι τὴν καλὴν νομὴν ἐνέμεσθε,

18aβ

καὶ τὰ κατάλοιπα τῆς νομῆς

18aγ

κατεπατεῖτε τοῖς ποσὶν ὑμῶν;

18bα

καὶ τὸ καθεστηκὸς ὕδωρ ἐπίνετε καὶ τὸ λοιπὸν τοῖς ποσὶν ὑμῶν ἐταράσσετε;

18bβ 18bγ

Pap 967 και ουχ ικανον υμιν οτι την καλην νομην ενεμεσθε και τα καταλοιπα της νομης υμων κατεπατειτε τοις πωσιν υμων και το καθεστηκος υδωρ επεινετε και το καταλοιπον τοις πωσιν υμων εταρασσετε

MT nach BHS ‫ַה ְמ ַעט ִמ ֶּכם‬ ‫ַה ִּמ ְר ֶעה ַהּטֹוב ִּת ְר ֔עּו‬ ‫יכם‬ ֶ֔ ‫וְ יֶ ֶתר ִמ ְר ֵע‬ ‫ִּת ְר ְמסּו ְּב ַרגְ ֵל ֶיכ֑ם‬ ‫ע־מיִם ִּת ְׁש ּ֔תּו‬ ַ ‫ּומ ְׁש ַק‬ ִ ‫ֹות ִ ֔רים‬ ָ ֣‫וְ ֵאת ַהּנ‬ :‫יכם ִּת ְרּפֹׂשּון‬ ֶ ‫ְּב ַרגְ ֵל‬

V. 18 bietet keinen einheitlichen Befund. Zunächst stimmen die Göttinger Ausgabe und Pap 967 darin überein, dass sie am Beginn des Verses zusätzlich ein και bezeugen. Die Lesart dürfte gegenüber MT sekundär sein. Dann aber bezeugt Pap 967 in V. 18aβ das in MT vorhandene Possessivsuffix der 2. Person Plural, das in der Ziegler-Ausgabe fehlt. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass Pap 967 in V. 18bβ καταλοιπον liest, die Göttinger Ausgabe hingegen einfaches λοιπον. Diese differenziert damit zwischen ‫ יתר‬in V. 18 (καταλοιπα) und ‫( הנותרים‬το λοιπον). Die mit MT übereinstimmende Lesart von Pap 967 ist auch im Codex Vaticanus belegt, weshalb Rahlfs sie in seiner Ausgabe als ursprünglich wertet. Joseph Zieglers Textfassung verstehe ich an dieser Stelle nicht ganz: In der Auslassung des υμων folgt er dem Alexandrinus, in der Wortfolge aber dem Vaticanus und Pap 967, denn der Alexandrinus liest τοις πωσιν υμων κατεπατειτε. Damit ergibt sich ein Mischtext, der – wenn ich den Apparat recht entschlüssele – so in keiner Handschrift belegt ist. Wie ist nun der Befund zu deuten? MT dürfte als lectio difficilior zu werten sein, denn dieser setzt voraus, dass die Weide – also das Land – den dem Gericht verfallenen Tieren innerhalb der Herde gehört. In der Septuagintatradition wird

Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 

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ein solcher Besitzanspruch der Tiere, welche die anderen unterdrücken, negiert. Es ist nicht „ihre Weide“, die sie geweidet haben. Entsprechend dürfte die Septuagintatradition gegenüber MT als sekundär zu werten sein. Ob allerdings Pap 967 nun ein Stadium der Septuaginta bezeugt, in der diese Erleichterung noch nicht vorhanden war, oder ob Pap 967 bereits nach MT rückkorrigiert ist, kann m.  E. nicht mehr entschieden werden.

3 Perspektiven Abschließend seien die Ergebnisse der Probebohrungen gebündelt: (1) Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, dass eine ernsthafte textkritische Arbeit als Grundlage literar- und redaktionskritischer Analysen am Ezechielbuch derzeit nur möglich ist, wenn man neben der Göttinger Ausgabe auch die Edition des Pap 967 direkt mitberücksichtigt. Zwar bietet die Göttinger Ausgabe ab der 2. Auflage sämtliche Abweichungen von Pap 967, aber ihre Präsentation ist sehr unübersichtlich (teils im Apparat, teils im Anhang); die in Köln und Madrid aufbewahrten Teile werden nur im Anhang ausgewertet und Joseph Zieglers Entscheidungen kann man nicht blind vertrauen. Auch die 2004 erschienene Edition des Ezechielbuches in der Hebrew University Bible berücksichtigt Pap 967 nur unzureichend. Die von Johan Lust betreute Edition des Ezechielbuches in der Biblia Hebraica Quinta ist daher dringlichst ersehnt. (2) In fünf von sieben Fällen konnte mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit gezeigt werden, dass die Septuagintatradition eine ältere Lesart bewahrt hat. Dabei bot die Septuagintatradition viermal die lectio brevior. Dieses Ergebnis ist repräsentativ. Durch das Zeugnis des Pap 967 wird diese allgemein in der Septuagintatradition vorhandene Tendenz noch einmal verschärft. Denn an zwei der fünf Stellen bezeugte Pap 967 eine kürzere Lesart nicht nur gegen MT, sondern auch gegen die Ausgabe Joseph Zieglers. Damit wird das Ergebnis der Arbeit von Christoph Rösel zu Ez 38–39 bestätigt. Soweit ich es derzeit überblicken kann, lässt sich dies für Ez 33–48 insgesamt ausweiten. Der Regel der lectio brevior kommt somit im Fall des Ezechielbuches hohe Bedeutung zu, auch wenn sie natürlich nicht mechanisch angewandt werden darf. Jeder Einzelfall ist genau zu prüfen. (3) Wenn Pap 967 mit MT gegen die Ziegler-Ausgabe steht, ist meist nicht zu entscheiden, ob dies ursprünglich ist, oder ob die Übereinstimmung sich bereits einer vorhexaplarischen Rückkorrektur in Pap 967 verdankt. Eine Entscheidung hierüber ist aber auch nur dann notwendig, wenn man sich auf das Projekt der Rekonstruktion einer ursprünglichen Septuaginta einlässt. Für die textkritische

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 Michael Konkel

Arbeit ist in diesen Fällen einfach MT der Vorzug zu geben, sofern nicht die breite Septuagintatradition die lectio brevior bezeugt (vgl. aber den Sonderfall Ez 34,15). (4) Unbehagen bereiten die beiden Fälle, die zeigen, dass im Fall von Fortschreibung nicht nur Text hinzugefügt, sondern auch geändert wurde (Ez 34,15.16). Mit den Mitteln der Literar- und Redaktionskritik ist diesen Untiefen kaum beizukommen und es dürfte klar sein, dass nur ein Bruchteil der Fälle noch in der Textüberlieferung sichtbar ist. Und seien wir ehrlich: Wenn jemand ohne das Zeugnis von Pap 967 die These aufgestellt hätte, dass in einer älteren Buchfassung Ez 37 einmal hinter Ez 38  f platziert war, hätte er sich des Spotts der Kollegenschaft sicher sein können. Die wirklichen Redaktionsprozesse dürften komplexer verlaufen sein, als es die wildesten Schichtenmodelle einfangen können. M.E. sollte man hieraus aber nicht den resignierten Schluss ziehen, dass man nicht hinter eine mittels sorgsamer Textkritik rekonstruierte ältere Textfassung zurückfragen kann. Erst recht sollte man sich nicht ausschließlich auf die synchrone Auslegung des vermeintlich sicheren MT zurückziehen. Die Analyse der Textüberlieferung zeigt, dass das Ezechielbuch nicht aus einem Guss ist, und dass in später Zeit – also bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. – teilweise noch umfangreich am Buch gearbeitet wurde. Es bleibt weiterhin Aufgabe der Exegese, diese Redaktionsprozesse so gut wie möglich nachzuzeichnen. Allerdings sollte man sich bewusst machen, dass redaktionskritische Modelle eher funktionalen und konstruktiven Charakter haben. Es geht in diesen Modellen darum, die Genese des Buches verständlich zu machen, nicht darum die historische Genese des Buches definitiv zu entschlüsseln. Schichten sollten als hermeneutisches Instrument verstanden werden, dass eine Art dreidimensionaler Textwahrnehmung ermöglicht, ohne dass sie den Anspruch erheben, exakt nachzeichnen zu können, wie ein Kapitel bzw. Teile des Buches entstanden sind.

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Anja Klein

„Das Ende kommt“ – Textgeschichte, Redaktion und literarische Horizonte in Ez 7,1–12a Abstract: This contribution deals with the prophecy about the coming end in Ezek  7:1–12a. Starting from the observation that there are major differences between the Masoretic and the Greek text tradition, it will be demonstrated that the Greek version attests to a Hebrew Vorlage that represents an older redactional stage, while the proto-Masoretic version is the result of a final reworking. Reconstructing an original core in Ezek  7:6aβ.7–9 that draws on the vision about the coming end in Amos 8:2, the paper traces the exegesis of this motif in the further literary development of Ezek  7:1–12a. Links between the proto-masoretic redaction and motifs that in Dan 8–9 refer to the reign of Antiochus IV. Epiphanes show that the late redactor in the book of Ezekiel condenses Antiochus’ reign of terror in the prophecy of the coming disaster (Ezek 7:5) that will descend upon Israel and the world in the final divine judgement.

1 Einleitung Die Ankündigung des Endes in Ez 7 ist der eindrückliche Auftakt der Gerichtsprophetie in Orakelform im Buch des Propheten Ezechiel. Dabei ist die Vorstellung des bevorstehenden Endes kein singuläres Motiv, sondern das Gerichtswort in Ez 7 weist deutliche Bezüge zur vierten Vision des Amosbuches (Am 8,1–2) und zu den Texten in Dan 8–9 auf. Obwohl die Nähen zwischen den Büchern weitgehend anerkannt sind, erweist sich eine erneute Untersuchung des literarischen Auslegungsverhältnisses als lohnend, wenn dabei auch die Textgeschichte von Ez 7 mit einbezogen wird. Zwischen der masoretischen Überlieferung und der griechischen Texttradition in Ez 7 existieren zahlreiche Unterschiede, die schon Walther Zimmerli zu dem Urteil veranlasst haben, der Überlieferungsstand stelle Fragen, „die bisher noch keineswegs befriedigend gelöst sind“.1 Nun sind vor einiger Zeit zwei Beiträge veröffentlicht worden, die nicht nur eine überzeugende Erklärung der Textgeschichte von Ez 7 anbieten, sondern die darüber hinaus auch neues

1 Walther Zimmerli, Ezechiel. 1. Teilband 1–24, BK 13/1 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1969), 159. https://doi.org/10.1515/9783110624250-003

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Licht auf die Entstehung des Endes als topos der alttestamentlichen Prophetie werfen.2 Im Folgenden soll deshalb gezeigt werden, dass eine erneute Diskussion der Text- und Redaktionsgeschichte von Ez 7 zum Verständnis dieser speziellen Gerichtsankündigung beitragen kann. Die Untersuchung wird sich dabei auf die erste Hälfte des Kapitels in Ez  7,1–12aα (im Folgenden 7,1–12a) beschränken, in dem das kommende Ende im Fokus steht, während der zweite Teil 7,12aβγ–27 zur Ankündigung des Tag Jhwhs überleitet und die Auswirkungen dieses Ereignisses auf das Land und seine Bewohner näher beschreibt. Ausgangspunkt der Argumentation ist eine getrennte Untersuchung von Ez 7,1–12a in der masoretischen und in der griechischen Überlieferung (2.), die daraufhin auszuwerten ist, inwieweit die textgeschichtlichen Erkenntnisse Rückschlüsse auf die Redaktionsgeschichte erlauben (3.). Die Analyse der literarischen Horizonte der unterschiedlichen Wachstumsstufen kann dann dazu beitragen, die Redaktionsgeschichte als innerbiblische Diskussion über das kommende Ende verständlich zu machen (4.). Dabei ist zu zeigen, dass die Ankündigung des bevorstehenden Endes ihren ursprünglichen Ort in der Prophetie des Amosbuches hat, von wo aus das Motiv im Ezechielbuch eingetragen worden ist. Zu einem Zeitpunkt, als das Gerichtswort in Ez 7* bereits in einer griechischen Fassung überliefert wurde, hat ein später Redaktor das kommende Ende mit den Visionen im Danielbuch verbunden und die proto-masoretische Fassung durch Anspielungen an Dan 8 und 9 erweitert.

2 Textgeschichte 2.1 Die masoretische Fassung 1 2 3

Und es erging das Wort Jhwhs an mich folgendermaßen: Und du, Menschensohn, so spricht der Herr Jhwh zum Land Israel: Ein Ende – das Ende kommt über die vier Flügel der Erde. Nun – das Ende über dich, und ich werde meinen Zorn auf dich loslassen, und dich richten nach deinen Wegen, und alle deine Gräueltaten über dich bringen.

2 Vgl. die Aufsätze von Johan Lust, „The Use of Textual Witnesses for the Establishment of the Text. The Shorter and Longer Texts of Ezekiel: An Exemple: Ez 7,“ in Ezekiel and His Book. Textual and Literary Criticism and Their Interrelation, BETHL 74, hg. v. Johan Lust (Leuven: Leuven University Press, 1986), 7–20, und Pierre-Maurice Bogaert, „Les deux rédactions conservées (LXX et TM) d’Ézéchiel 7“ in Ezekiel and His Book. Textual and Literary Criticism and Their Interrelation, BETHL 74, hg. v. Johan Lust (Leuven: Leuven University Press, 1986), 21–47.

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4 Und mein Auge wird nicht mitleidig auf dich blicken, und ich werde nicht verschonen. Fürwahr, deine Wege werde ich auf dich geben, und deine Gräueltaten werden in deiner Mitte sein. Und ihr werdet erkennen, dass ich Jhwh bin. 5 So spricht der Herr Jhwh: Ein Unheil – ein einzigartiges3 Unheil (‫) ַא ַחת ָר ָעה‬, siehe, es kommt.4 6 Ein Ende kommt – es kommt das Ende (‫)ּבא ַה ֵּקץ‬, ָ es ist reif5 für dich, siehe, es kommt. 7 Es kommt die ṣefîrâ (‫)צ ִפ ָירה‬ ְ über dich, Bewohner des Landes. Es kommt der Zeitpunkt, nahe ist der Tag; Bestürzung und kein Jauchzen auf den Bergen (‫א־הד ָה ִרים‬ ֵ ֹ ‫הּומה וְ ל‬ ָ ‫)מ‬. ְ 6 8 Nun – in Kürze gieße ich meinen Grimm aus über dich,

3 Die Übersetzung von ‫ ַא ַחת‬als „einzigartig“ folgt Moshe Greenberg, Ezekiel 1–20. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 22A (Garden City, New York: Doubleday, 1983), 142 („A singular evil“); Daniel Block, The Book of Ezekiel. Chapters 1–24, NICOT (Grand Rapids: Eerdmans, 1997), 250: „An exceptional disaster“, und Bogaert, „Les deux rédactions,“ 27: „un malheur unique“. Zwar bezeugen einige hebräische Handschriften die Lesart ‫„( אחר‬nachkommend, folgend„; vgl. die Übersetzungen von Leslie C. Allen, Ezekiel 1–19, WBC 28 [Dallas: Word Books, 1994], 96. 100: „Calamity after calamity,“ und Karl-Friedrich Pohlmann, Der Prophet Hesekiel/Ezechiel Kapitel 1–19, ATD 22/1 [Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996], 111: „Unheil nach Unheil“), während Targum und Peschitta eine ‫ תחת‬entsprechende Variante lesen, aber der MT ist verständlich und erklärt sich darüber hinaus als Auslegung von Dan 8,9; vgl. dazu im Folgenden. 4 Fettdruck kennzeichnet die wichtigsten Textüberschüsse der masoretischen Fassung im Vergleich mit der Septuaginta, die im Folgenden diskutiert werden, während Kursivdruck signifikante Abweichungen markiert. Zum Vergleich der masoretischen und der griechischen Fassung siehe die Synopse bei Bogaert, „Les deux rédactions,“ 26–27, und den Kommentar in Martin Karrer und Wolfgang Kraus, Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament. Band II. Psalmen bis Daniel (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011), 2872–2875. 5 Die Übersetzung folgt dem Vorschlag von Greenberg, Ezekiel 1–20, 148, der die Form ‫ הקיץ‬von dem Substantiv ‫„( ַקיִ ץ‬Sommerfrucht“) herleitet; siehe auch Karin Schöpflin, Theologie als Biographie im Ezechielbuch: Ein Beitrag zur Konzeption alttestamentlicher Prophetie, FAT 36 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), 247–248, und Johan Lust, Katrin Hauspie und A. Ternier, „Notes to the Septuagint,“ EThL 77 (2001): 384–394, 384; in der Mehrheit wird allerdings ein hifcil der Wurzel ‫ קיץ‬herangezogen („es erwacht“; so Allen, Ezekiel 1–19, 100: „it is awakened“) oder eine Variante zum Substantiv ‫ ֵּקץ‬vermutet (vgl. Pohlmann, Ezechiel 1–19, 111: „das Ende“). 6 Eine ähnliche Motivik wird in Jes 22,5 verwendet, wenn sich am Tag der Bestürzung (‎‫הּומה‬ ָ ‫)יֹום ְמ‬ Geschrei zum Gebirge erhebt (‎‫ל־ה ָהר‬ ָ ‫ׁשֹוע ֶא‬ ַ ְ‫)ו‬. Allerdings ist in Ez 7,7 insbesondere die Bedeutung von ‎‫ ֵהד‬unklar; die Übersetzung orientiert sich an dem Vorschlag von Pohlmann, Ezechiel 1–19, 111 („nah ist der Tag der Bestürzung, und kein Jubel von Bergen).“

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und ich werde meinen Zorn an dir vollenden, und dich richten nach deinen Wegen, und alle deine Gräueltaten über dich bringen. 9 Und mein Auge wird nicht mitleidig blicken, und ich werde nicht verschonen. Fürwahr,7 deine Wege werde ich auf dich geben, und deine Gräueltaten werden in deiner Mitte sein. Und ihr werdet erkennen, dass ich Jhwh bin, der schlägt. 10 Siehe, der Tag, siehe, sie kommt, es zieht heraus die ṣefîrâ, es blüht der Stab, es sprießt der Übermut. 11 Die Gewalttat hat sich erhoben zum Stab des Frevlers, nichts von ihnen – nichts von ihrem Prunk, nichts von ihrem Reichtum und nichts Herrliches wird ihnen bleiben.8 12a Die Zeit ist gekommen, der Tag ist eingetroffen (‎‫!)הּגִ ַיע‬ ִ …

Die masoretische Überlieferung der Gerichtsprophetie in Ez 7 wird durch die Wortereignisformel eröffnet (7,1), die im Ezechielbuch das deutlichste Gliederungssignal bildet. Das anschließende Wortereignis hat eine ausführliche Eröffnung in der ersten Vershälfte 7,2a mit der Anrede des Propheten als „Menschensohn“ und der Gottesspruchformel, die das folgende Gottesorakel als an das „Land Israel“ (7,2a: ‫)ל ַא ְד ַמת יִ ְׂש ָר ֵאל‬ ְ gerichtete Botschaft ausweist. Für diese bietet sich aufgrund formaler und inhaltlicher Gründe eine Gliederung in die drei Hauptteile 7,2b–4; 7,5–9 und 7,10–12a an, wie im Folgenden zu zeigen ist.9

7 Der MT liest ‎‫„( ִּכ ְד ָר ַכיִ ְך‬nach deinen Wegen“), wobei hier aber eine aberratio oculi zu vermuten ist (vgl. 7,8: ‫ְך‬‎ ִ‫)ּכ ְד ָר ָכי‬. ִ Mit der Parallele in 7,4 und der Variante in der LXX (διότι) kann eine ursprüngliche Lesung ‎‫ כי דרכיך‬vermutet werden (so mit Zimmerli, Ezechiel 1–24, 162; Block, Ezekiel 1–24, 251; Pohlmann, Ezechiel 1–19, 111). 8 Der MT in 7,11 ist weitgehend unklar (vgl. Zimmerli, Ezechiel 1–24, 163: „ganz unverständlich“; ähnlich Pohlmann, Ezechiel 1–19, 112: „Der Rest des Verses [11b] ist unverständlich“). Die LXX bietet einen kürzeren Text, der eine gewisse Nähe zum masoretischen Textbestand in V 11abα aufweist; das genaue Verhältnis ist aber nicht sicher zu entscheiden (vgl. Karrer/Kraus, Septuaginta Deutsch, 2873). 9 Die Gliederungseinschnitte im masoretischen Text in 7,5 und 7,10 sind weitgehend anerkannt, vgl. die Analysen von Zimmerli, Ezechiel 1–24, 165–168; Greenberg, Ezekiel 1–20, 157–163; Allen, Ezekiel 1–19, 103–106; Block, Ezekiel 1–24, 240–247, und Pohlmann, Ezechiel 1–19, 113–114.

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Der erste Abschnitt in 7,2b–4 beginnt mit der vorangestellten Nennung des Substantivs ‫„( ֵקץ‬ein Ende“), das prägnant das Thema der Gerichtsankündigung in Ez 7 benennt. Das folgende Bikolon ‫ ָּבא ַה ֵּקץ‬ist mehrdeutig, da die einleitende Form der Wurzel ‫ בוא‬sowohl als 3. Person mask. sg. Perfekt wie auch als Partizip mask. sg. verstanden werden kann;10 in beiden Fällen betont die Form die Unabänderlichkeit und Unerbittlichkeit des kommenden Endes, das nach 7,2b über die vier Flügel der Erde hereinbrechen wird (‎‫ל־א ְר ַּבע ַּכנְ פֹות ָה ָא ֶרץ‬ ַ ‫)ע‬. ַ 11 Mit 7,3 wechselt das Orakel zum Inhalt der Gottesrede, die, wie der durchgängige Gebrauch des Suffixes 2. Person fem. sg. in 7,3–4 (vgl. auch 7,6a: ‎‫)א ָליִ ְך‬ ֵ zeigt, zuerst an das in 7,2a angeredete Land gerichtet ist. Jhwh kündigt diesem das bevorstehende Zornesgericht an, das mit den moralischen Verfehlungen (‎‫ל־ּתֹועב ָֹתיִ ְך‬ ֲ ‫ּכ‬: ָ „alle deine Gräueltaten“) begründet wird. Die Drohung wird durch die doppelt formulierte Aussage in 7,4 verstärkt, dass Jhwh kein Mitleid haben wird,12 und mit einer Erkenntnisaussage abgeschlossen, die sich allerdings abweichend von der bisherigen Rederichtung an eine Gruppe 2. Person pl. richtet (‫י־אנִ י יְ הוָ ה‬ ֲ ‫וִ ַיד ְע ֶּתם ִּכ‬: „ihr werdet er­ kennen“). Der zweite Abschnitt in 7,5–9 wird erneut mit einer Gottesspruchformel eröffnet, wobei die Botschaft nach 7,7 nun an den Bewohner des Landes (‫יֹוׁשב‬ ֵ ‫)ה ָא ֶרץ‬ ָ gerichtet ist. Allerdings bietet nur der unmittelbare Vorkontext in 7,7 das entsprechende Suffix 2. Person mask. sg. (‎‫)א ֶליָך‬, ֵ während im Rest des Abschnittes die Suffixe 2. Person fem. sg. erneut auf das Land als fortgesetzten Adressaten der Gottesbotschaft hindeuten. Drei Mal variiert der zweite Abschnitt in 7,5–9 die Ansage des kommenden Endes: Kündigt Jhwh in 7,5 zuerst ein bevorstehendes Unheil an (‫)ר ָעה ַא ַחת ָר ָעה ִהּנֵ ה ָב ָאה‬, ָ wiederholt 7,6 die Ansage des kommenden Endes in einem Doppelzweier (‎‫)קץ ָּבא ָּבא ַה ֵּקץ‬. ֵ Was drittens in 7,7 mit dem Kommen e der ṣ firâ (‫)ּב ָאה ַה ְּצ ִפ ָירה‬ ָ gemeint ist, bleibt unklar,13 da das feminine Substantiv

10 Zur Übersetzung als Perfekt vgl. Zimmerli, Ezechiel 1–24, 158 („(Das) Ende ist gekommen“); Block, Ezekiel 1–24, 247 („the end has come“); zu einem partizipialen Verständnis siehe wohl Greenberg, Ezekiel 1–20, 142.147 („comes the end“); Allen, Ezekiel 1–19, 97 („an end is coming“), und Pohlmann, Ezechiel 1–19, 111 („es kommt das Ende“). Der griechische Text übersetzt durchgängig mit dem Verb ἥκω („gekommen sein, da sein“) und drückt so den resultativen Aspekt des Geschehens aus. 11 Da hier anders als in der ersten Vershälfte 7,2a (‎‫)ל ַא ְד ַמת יִ ְׂש ָר ֵאל‬ ְ das Substantiv ‫ ֶא ֶרץ‬gebraucht wird, ist das Wort als „Erde“ übersetzt, um den Unterschied deutlich zu machen; es wird im Folgenden noch zu zeigen sein, dass ein ursprüngliches Gerichtswort an den Bewohner des Landes redaktionsgeschichtlich zu einer universalen Gerichtsansage ausgearbeitet worden ist; vgl. dazu u. Kap. 3. 12 Vgl. Schöpflin, Theologie, 247. 13 So das mehrheitliche Urteil der Exegeten; vgl. Zimmerli, Ezechiel 1–24, 161–162; Allen, Ezekiel 1–19, 97.100; Block, Ezekiel 1–24, 251–252; Pohlmann, Ezechiel 1–19, 111.

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außer in Ez 7,7.10 nur noch in Jes 28,5 belegt ist. Während in Jes 28,5 für das Verständnis im Sinne von „Geflochtenes, Kranz“ argumentiert werden kann,14 muss die Bedeutung in Ez 7,7.10 im Folgenden noch genauer erörtert werden. Aus dem direkten Kontext in Ez 7,7 wird aber deutlich, dass das Eintreffen diese Ereignisses mit katastrophalen Folgen für das Land und seine Bewohner verbunden ist; das Stichwort ‫ יֹום‬im Fortgang des Verses stellt Verbindungen zu der umfassenden Gerichtsvorstellung des „Tag Jhwhs“ her. In 7,8–9 kündigt Jhwh dem Land in Aufnahme der Motivik aus dem ersten Teil 7,3–4 erneut das Vergeltungsgericht für die moralischen Vergehen an. Eine weitere Erkenntnisformel, die wie in 7,4 an eine Gruppe 2. Person pl. gerichtet ist, schließt den zweiten Abschnitt in Ez 7,9 ab. Sie ist an ihrem Ende um das Partizip ‫ה‬ ‎ ‫ ַמ ֶּכ‬erweitert, durch das die Schlagkräftigkeit Gottes zum Gegenstand der Erkenntnis wird (‎‫)וִ ַיד ְע ֶּתם ִּכי ֲאנִ י יְ הוָ ה ַמ ֶּכה‬. Der dritte Abschnitt in 7,10–12a wird mit der emphatischen Voranstellung der Partikel ‎‫ ִהּנֵ ה‬eröffnet, die auf den Tag hinweist, dessen Eintreffen mit dem Kommen der ṣefîrâ verbunden wird (7,10: ‫)הּנֵ ה ַהּיֹום ִהּנֵ ה ָב ָאה יָ ְצ ָאה ַה ְּצ ִפ ָרה‬. ִ Der Text des nachfolgenden Verses in 7,11 bleibt erneut unklar – er ist aber vermutlich zur Illustration der vorhergehenden Ankündigung abgefasst und sagt der Gewaltherrschaft des Frevlers das Ende an. Eine deutliche Zäsur liegt mit dem Doppelzweier in 7,12aα vor (‎‫)ּבא ָה ֵעת ִהּגִ ַיע ַהּיֹום‬, ָ der noch einmal das Motiv des „Kommens“ aufnimmt, das aber nun auf den Zeitpunkt und das Eintreffen des Tages gerichtet ist. Die Zäsur in 7,12aα wird auch dadurch unterstrichen, dass mit 7,12aβγ „deutlich etwas Neues beginnt“.15 Während sich die erste Kapitelhälfte in 7,1–12aα auf die Ankündigung des Endes bzw. des Tages beschränkt, beschreibt die zweite Hälfte in 7,12aβ–27 die Auswirkungen dieses Gerichtsereignisses auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und das Land.16 Zusammenfassend bestätigt sich der dreiteilige Aufbau der ersten Kapitelhälfte in 7,1–12a, wobei die drei Teile miteinander durch die Doppelung dreier Einzelmotive verzahnt sind: die Ankündigung des kommenden Endes (7,2.6), das Kommen der ṣefîrâ (7,7.10) und die zwei Erkenntnisformeln in 7,4.9, wobei die Formel in 7,9 eine partizipiale Erweiterung aufweist. Im Ablauf des Orakels tritt die Ankündigung des kommenden Endes in den ersten zwei Abschnitten zugunsten der ṣefîrâ in den Hintergrund, die den zweiten und dritten Abschnitt des Gerichtswortes dominiert. Es wird deshalb im Folgenden danach zu fragen sein, in welcher

14 Vgl. Hans Wildberger, Jesaja. 3. Teilband Jesaja 28–39. Das Buch, der Prophet und seine Botschaft, BK X/3 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1982), 1044; vgl. bereits Bernhard Duhm, Das Buch Jesaja (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 51968), 196: „Reif der Königskrone“. 15 Schöpflin, Theologie, 250. 16 So auch Schöpflin, Theologie, 250.

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text- und literargeschichtlichen Verbindung diese zwei Motive zueinander stehen. Literarkritisch werden weiterhin die Dublette in 7,3–4//8–9 und der Wechsel der Adressaten in der Durchführung des Textes zu untersuchen sein.

2.2 Der Text der Septuaginta 1 Und es erging das Wort Jhwhs an mich folgendermaßen: 2 Und du, Menschensohn, sprich: So spricht der Herr zum Land Israel: Ein Ende ist gekommen,17 das Ende ist gekommen über die vier Flügel der Erde. 3 Das Ende ist gekommen (ἥκει τὸ πέρας), 4 über dich, Bewohner der Erde, die Zeit ist gekommen, nahe ist der Tag, nicht mit Lärmen und nicht mit Schmerzen. 5 Nun – in Kürze werde ich meinen Grimm über dich ausgießen, und ich werde meinen Zorn an dir vollenden. und dich richten nach deinen Wegen und alle deine Gräueltaten über dich bringen. 6 Mein Auge wird dich nicht verschonen, und ich werde mich nicht erbarmen. Denn deine Wege werde ich auf dich geben, und deine Gräueltaten werden in deiner Mitte sein. Und du wirst erkennen, dass ich der Herr bin, der schlägt. 7 Nun – das Ende über dich, und ich, ich werde zu dir schicken, und ich werde Vergeltung üben an dir nach deinen Wegen, und ich werde alle deine Gräueltaten über dich bringen. 8 Mein Auge wird nicht verschonen, und ich werde mich nicht erbarmen. Denn deinen Weg werde ich auf dich geben, und deine Gräueltaten werden in deiner Mitte sein, und du wirst erkennen, dass ich der Herr bin. 9 Denn so spricht der Herr: 10 Siehe, das Ende ist gekommen, siehe, der Tag des Herrn. Wenn auch der Stab erblüht ist, der Übermut gesprosst.

17 Wie in der Übersetzung des masoretischen Textes kennzeichnet Fettdruck die Überschüsse in der Septuaginta im Vergleich mit der masoretischen Textfassung, während Kursivdruck signifikante Unterschiede markiert.

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11 12a

Und er wird zerbrechen die Stütze des Gesetzlosen, und nicht mit Lärm und nicht mit Hast. Die Zeit ist gekommen, siehe (ἰδοὺ), der Tag!

Für die griechische Textfassung legt sich nach der einleitenden Wortereignisformel in 7,1 und der Orakeleröffnung in 7,2a eine Gliederung in zwei Hauptteile 7,2b–6 und 7,7–12a nahe. Dabei tritt deutlicher als im masoretischen Text ein konzentrischer Aufbau hervor, dessen Spiegelpunkt mit der erweiterten Erkenntnisformel in 7,6b vorliegt.18 Auf beiden Seiten dieser Achse können jeweils ein Unterabschnitt mit der Ankündigung des kommenden Endes (A: 7,2b–4; A’: 7,7–8) und ein Unterabschnitt mit der Ankündigung des Zornesgerichts (B: 7,5–6; B’: 7,9–12a) unterschieden werden. So ergibt sich die Abfolge A – B – Erkenntnisformel (7,6b) – B’ – A’.19 Wie im masoretischen Text beginnt der erste Abschnitt mit der Ankündigung des kommenden Endes (7,2b–4), die aber im griechischen Text in einen Doppelzweier gefasst ist (7,2: πέρας ἥκει τὸ πέρας ἥκει). Dessen zweites Glied wird in dem kurzen Vers  7,3 noch einmal wiederaufgenommen und funktioniert dabei als Auftakt für die Anrede des Bewohners des Landes in 7,4 (τὸν κατοικοῦντα τὴν γῆν), dem das bevorstehende Ende als das Eintreffen von Zeit und Tag vor Augen gestellt wird. Der zweite Unterabschnitt in 7,5–6 nimmt die Form einer direkten Gottesrede an, in der Jhwh sein Zornesgericht ankündigt, in dem er den Bewohner (σύ) erbarmungslos nach dessen Lebensführung richten wird. Die Erkenntnisformel in 7,6, die wie im masoretischen Text mit einem Partizip des Verbes „schlagen“ erweitert ist (ἐγώ εἰμι κύριος ὁ τύπτων), schließt den ersten Hauptteil ab und bildet zugleich das Zentrum der Gerichtsankündigung. Der zweite Abschnitt der Septuaginta-Fassung in 7,7–12a spiegelt in seinem thematischen Aufbau die erste Hälfte. So steht am Anfang in 7,7–8 die erneute Ankündigung des göttlichen Zornesgerichts, die Motive von 7,5–6 wiederaufnimmt. Allerdings wird der Unterabschnitt mit einer erneuten Ansage des kommenden Endes eröffnet (7,7: νῦν τὸ πέρας πρὸς σέ), die in 7,5–6 keine Entsprechung hat. Der zweite Unterabschnitt in 7,9–12a beginnt mit einer Gottesspruchformel in 7,9, die zu einer deiktisch eingeleiteten Proklamation des Endes als „Tag des Herrn“ überleitet (7,10: ἰδοὺ τὸ πέρας ἥκει ἰδοὺ ἡμέρα κυρίου). Unklar bleibt die Aussage über das Erblühen des Stabes und das Sprossen des Übermuts im Fortgang von 7,10, die dann auch das Verständnis des folgenden Verses 7,11 erschwert, da hier 18 Vgl. dazu Bogaert, „Les deux rédactions,“ 23–24; ferner Lust/Hauspie/Ternier, „Notes to the Septuagint,“ 384: „a strictly concentric structure“. 19 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 23–24.

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auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist, wer das Subjekt für das einleitende Verb 3. Person mask. sg. ist (συντρίψει). Am wahrscheinlichsten ist aber die Annahme, dass 7,11 auf den Tag des Herrn in 7,9 zurückverweist und Jhwh selbst derjenige ist, von dem in 7,11 gesagt wird, dass er die Stütze des Gesetzlosen zerbrechen wird.20 Ein Doppelzweier in 7,12 bildet den Abschluss der ersten Kapitelhälfte und bekräftigt, dass Zeit und Tag gekommen sind. Das Hauptmerkmal der griechischen Textfassung ist damit ihr konzentrischer Aufbau, der auf die Erkenntnisformel in 7,6 zuläuft,21 die das kommende Ende als Erweis von Jhwhs Schlagkräftigkeit kennzeichnet. Wie im masoretischen Text liegt mit 7,5–6 und 7,7–8 eine Doppelung im Text vor, die aber im konzentrischen Aufbau eine Ringfunktion hat. Da das Griechische nur ein Pronomen für beide Geschlechter kennt, ist der durchgängige Gebrauch des Pronomens „σύ“ unproblematisch, da dieses sowohl auf das Land (τῇ γῇ) als auch auf den Bewohner des Landes (τὸν κατοικοῦντα τὴν γῆν) bezogen werden kann.

2.3 Textgeschichtliche Auswertung Nachdem nun beide Textfassungen je für sich analysiert worden sind, wird es darum gehen, Unterschiede in den beiden Texttraditionen aufzuzeigen und nach ihrer Auswertung zu fragen. Zuerst ist festzustellen, dass die griechische Überlieferung den kürzeren Text bietet: Der einzige signifikante Überschuss im Vergleich mit der masoretischen Fassung ist in 7,10LXX die Näherbestimmung des kommenden Gerichts als Tag „des Herrn“ (ἡμέρα κυρίου), während sich im hebräischen Text die allgemeinere Ankündigung des Tages findet (7,10MT: ‎‫)הּיֹום‬. ַ Dagegen fallen in der masoretischen Fassung eine Reihe von Textüberschüssen auf:22 Zuerst wird vor der Ankündigung des Endes in 7,5bMT die Aussage ergänzt, dass ein einzigartiges Unheil kommen wird (‫)ר ָעה ַא ַחת ָר ָעה ִהּנֵ ה ָב ָאה‬. ָ Zweitens ist die Ansage des Endes in 7,6MT durch ein Wortspiel mit der Wurzel ‫ קיץ‬erweitert, das das kommende Ende in einem Bild aus der Landwirtschaft als drohenden „Reifungsprozess“ näher beschreibt (‫)ה ִקיץ ֵא ָליִ ְך‬. ֵ 23 Zwei ähnliche Überschüsse fallen drittens in 7,7MT und 7,10MT auf: In beiden Versen ist das kommende Ende mit dem Eintreffen der (femininen) Größe der ṣefîrâ verbunden, die als Gerichtsinstrument des Gotteszornes eingeführt wird. Die zweimalige Ver-

20 Vgl. zu dieser Interpretation auch Lust/Hauspie/Ternier, „Notes to the Septuagint,“ 389. 21 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 29. 22 Vgl. dazu auch Lust/Hauspie/Ternier, „Notes to the Septuagint,“ 384. 23 Zu diesem Verständnis des Textes in 7,6MT siehe oben Anm. 5.

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wendung des Begriffs jeweils im zweiten und dritten Abschnitt der masoretischen Fassung (7,7.10MT) zeigt, dass es sich um einen zentralen Begriff handelt, der die Gerichtsankündigung im masoretischen Text entscheidend prägt: „‫ צפירה‬receives an emphasis“.24 Über diese drei Überschüsse im masoretischen Text hinaus ist auch die unterschiedliche Anordnung des Materials in den zwei Texttraditionen zu berücksichtigen. In einer vereinfachten Darstellung ist das Material aus den beiden Passagen 7,3–6aMT und 7,7–9MT in der griechischen Tradition umgekehrt angeordnet: So findet sich das Material aus 7,3–6aMT in 7,7–10aLXX, während das Material in 7,7–9MT dem Textbestand in 7,4–6LXX entspricht. Aus der Zusammenschau der Unterschiede zwischen der hebräischen und der griechischen Fassung wird deutlich, dass die Varianten nicht einfach mit Fehlern in der Textüberlieferung zu erklären sind, sondern dass der komplexe Befund einer literargeschichtlichen Erklärung bedarf, die zwischen einem älteren und einem jüngeren Stadium der Textüberlieferung unterscheidet. Einen ersten Erklärungsversuch hat Walther Zimmerli unternommen, der bei der griechischen Textüberlieferung ansetzt und aufgrund der Übersetzungstechnik in 7,3–6LXX (7,6aβ–9MT) zu dem Schluss kommt, dass mit diesem Passus eine spätere Ergänzung in der griechischen Überlieferung vorliegt.25 Am deutlichsten sei dies an der Formulierung der Erkenntnisformel in 7,6LXX (7,9MT) zu erkennen (διότι ἐγώ εἰμι κύριος), die von der im Kontext Ez 1–26 durchgängig belegten Übersetzung durch den zusätzlichen Gebrauch des Verbs εἰμι abweiche (vgl. Ez  7,8LXX: διότι ἐγὼ κύριος).26 Daraus schließt Zimmerli, dass der Abschnitt auch in der hebräischen Überlieferung sekundär ist, und dass die ursprüngliche Septuaginta auf einen älteren Textzusammenhang in der hebräischen Vorlage 7,2–4.5a.6aα.10  ff.MT führt, der durch die Einfügung von 7,6aβ–9MT zerrissen worden sei.27 Nachdem ein späterer Übersetzer der Septuaginta den späteren Zusatz von 7,6aβ–9 im protomasoretischen Text bemerkt habe, sei dieser in der griechischen Textfassung zwar nachgetragen, aber irrtümlich hinter 7,2LXX eingefügt worden.28 Gegen Zimmerlis These ist zu Recht eingewendet worden, dass die Erkenntnisformel in 7,6LXX/7,9MT, die das Hauptargument für seine Annahme einer abweichenden Übersetzungs-

24 Lust/Hauspie/Ternier, „Notes to the Septuagint,“ 384. 25 Vgl. dazu Zimmerli, Ezechiel 1–24, 159–160. 26 Vgl. Zimmerli, Ezechiel 1–24, 160. 27 Vgl. Zimmerli, Ezechiel 1–24, 160. Seine These ist von Emanuel Tov aufgenommen worden, der ebenfalls vermutet, dass eine der Dubletten im masoretischen Text (7,3–4MT und 7,8–9MT) zuerst als späte Einfügung am Rand eingetragen und dann in unterschiedlichen Positionen in der hebräischen und der griechischen Überlieferung eingefügt worden sei (vgl. Emanuel Tov, „Recensional Differences Between the MT and LXX of Ezekiel,“ EThL 62 [1986]: 89–101, 89–90). 28 Vgl. Zimmerli, Ezechiel 1–24, 160.

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tradition darstellt, durch die abschließende Erweiterung mit einem Partizip modifiziert ist, so dass sie damit bereits von der Norm abweicht.29 Es stellt sich auch die Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass die einfache Ergänzung eines späteren Zusatzes in der griechischen Texttradition zu einer Störung des ursprünglichen Textaufbaus führen kann, ohne dass dies aufgefallen wäre.30 In der Folge haben Johan Lust und Pierre-Maurice Bogaert deshalb nach einer Erklärung gesucht, die sowohl die unterschiedliche Textanordnung, als auch die Unterschiede zwischen den zwei Textfassungen berücksichtigt.31 Entscheidend ist ihre Erkenntnis, dass ein wesentlicher Überschuss im masoretischen Text in der Ankündigung der ṣefîrâ in 7,7.10MT vorliegt, die das kommende Ende näher bestimmt. Auch die weiteren Überschüsse auf Seiten der masoretischen Überlieferung wie die Ansage des großen Unheils in 7,5MT und das Bild des „ausgereiften“ Endes in 7,6MT dienen dazu, das kommende Ende weiter auszumalen. Lust und Bogaert sind deshalb unabhängig voneinander zu dem Schluss gekommen, dass die Unterschiede nicht text-, sondern redaktionsgeschichtlich zu erklären sind. Demnach bezeugt die Septuaginta eine ältere Wachstumsstufe, während die masoretische Fassung auf eine nachträgliche Überarbeitung zurückgeht, in der der Text neu organisiert und erweitert wurde, um insbesondere die Ankündigung der ṣefîrâ zu integrieren.32 Der Text der griechischen Überlieferung ist somit als älteste erreichbare Wachstumsstufe zu bewerten, die die Rekonstruktion einer proto-masoretischen Vorlage mit folgendem Textzusammenhang erlaubt: 7,1–2.6aβ(‫)בא הקץ‬.7–9.3–5a.6aα.10–12aMT. Im Folgenden soll nun versucht werden, auf der Grundlage der textgeschichtlichen Auswertung die Literargeschichte des Textes nachzuvollziehen.

29 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 30; Lust/Hauspie/Ternier, „Notes to the Septuagint,“ 388. 30 So Bogaert, „Les deux rédactions,“ 30. 31 Vgl. dazu Lust, „Use,“ 7–20, und Bogaert, „Les deux rédactions,“ 21–47. 32 So Lust, „Use,“ 18–19; Bogaert, „Les deux rédactions,“ 21–40; siehe auch Lust/Hauspie/Ternier, „Notes to the Septuagint,“ 384–385.

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3 Redaktion33 Ausgangspunkt der redaktionsgeschichtlichen Untersuchung ist die im vorherigen Kapitel rekonstruierte hebräische Vorlage der Septuaginta in Ez 7,1–12a.34 Zwar befinden wir uns in der glücklichen Lage, mit der Septuaginta einen Textzeugen für die Wiederherstellung der proto-masoretischen Vorlage zu haben, dafür muss jedoch der Text der Septuaginta rückübersetzt werden. Das literarische Hauptproblem der so rekonstruierten Textfassung liegt darin, dass diese nach wie vor die Dublette in 7,8–9 und 7,3–4 enthält, die nach allen Regeln der Literarkritik kaum als ursprünglich anzusehen ist, und deshalb aus der Vorgeschichte des Textes erklärt werden muss.35 Aus der Beobachtung, dass die Fassung der Septuaginta auf die Aussage in 7,6LXX (7,9MT) zuläuft, die Jhwh als denjenigen beschreibt, der „schlägt“, schließt Bogaert auf eine vorhergehende Redaktionsstufe, die weder das Partizip ‫ מכה‬noch die Dublette enthalten hat.36 Ihren Textbestand umschreibt er wie folgt: „Das Ende kommt […] Nun […] Mein Auge wird nicht mitleidig blicken […] Und du wirst erkennen […] Siehe, der Tag […]37 Dies entspricht einem Textbestand in 7,6aβ–9.10  ff., wobei m.  E. nicht zwingend davon ausgegangen werden muss, dass das ursprüngliche Gerichtswort bereits die Ausführungen über den Tag Jhwhs in 7,10  ff. enthalten hat. Vielmehr ist in Analogie zu den anderen im Buch zu beobachtenden Fortschreibungsprozessen von einem kurzen Grundwort in 7,6aβ.7–9 auszugehen, in dem der Prophet das bevorstehende Ende ankündigt, dessen Eintreffen auf einen bestimmten Tag terminiert wird. Für diese Annahme spricht auch die unterschiedliche Bezeichnung des Tages, der in 7,7 lediglich als „der Tag“ (‫ )היום‬angekündigt wird, während für 7,10 in der hebräischen Vorlage die Genitivverbindung „Tag Jhwhs“ zu rekonstruieren ist

33 Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Versangaben im Folgenden auf die Zählung des masoretischen Textes. 34 Nur wenige Exegeten haben versucht, den ursprünglichen Textkern von Ez 7 unter ausführlicher Berücksichtigung der Textgeschichte zu rekonstruieren. Wie bereits diskutiert, geht Zimmerli von einer hebräischen Vorlage aus, die nachträglich durch 7,6aβ–9 erweitert worden ist; weitere text- und literargeschichtliche Überlegungen führen ihn auf eine „Urgestalt des Prophetenwortes über den bitteren Tag des Endes“, die „etwa“ den folgenden Textbestand umfasst habe: 7,5*.6aα.10  ff. (siehe Zimmerli, Ezechiel 1–24, 174). Zwar folgt Pohlmann weitgehend Zimmerlis Beobachtungen zu den Unterschieden in der Textüberlieferung, vermutet dann aber „Reste eines ursprünglichen Textes“ in 7,6–7.12.14–19.25–27 (vgl. Pohlmann, Ezechiel 1–19, 110–115), ohne näher auf den textgeschichtlichen Befund einzugehen. 35 So auch das Urteil von Bogaert, „Les deux rédactions,“ 28–29: „Une aussi longue répétition […], peut difficilement être originale.“ 36 Bogaert, „Les deux rédactions,“ 28–29. 37 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 29.

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(‫ ;יום יהוה‬vgl. 7,10LXX: ἡμέρα κυρίου). Dies spricht für eine spätere Hand in 7,10, die die Ankündigung des Gerichtstages in 7,7 eindeutig als Tag Jhwhs kennzeichnet und damit an vorliegende prophetische Gerichtsankündigungen (vgl. z.  B. Amos 5) angleicht. Mit dem literarischen Grundbestand liegt damit ein kurzes, in sich geschlossenes Gerichtswort vor, das dem Bewohner des Landes das kommende Ende ansagt und auf dessen Jhwh-Erkenntnis zielt. Das kommende Ende wird mit dem Eintreffen des Tages verbunden und durch die direkte Jhwh-Rede in V 8 als göttliches Zornesgericht gezeichnet. In diesem Gericht wird Jhwh dem Bewohner des Landes den vorherigen, durch Gräueltaten gekennzeichneten Lebenswandel vergelten (V 9). Da dieses ursprüngliche Gerichtswort durchgängig an den Bewohner des Landes gerichtet ist, ist der einheitliche Gebrauch des Suffixes 2. Person mask. sg. und in 7,9 eine an die 2. Person mask. sg. gerichtete Erkenntnisformel („du wirst erkennen“) anzunehmen. Diese ist allerdings noch nicht mit dem Partizip ‎‫ מכה‬erweitert. 6aβ 7 8 9

Es kommt das Ende (‫)בא הקץ‬ über dich, Bewohner des Landes. Es kommt der Zeitpunkt, nahe ist der Tag (‫;)היום‬ Bestürzung und kein Jauchzen auf den Bergen. Nun – in Kürze gieße ich meinen Grimm aus über dich, und ich werde meinen Zorn an dir vollenden, und dich richten nach deinen Wegen, und alle deine Gräueltaten über dich bringen. Und mein Auge wird nicht mitleidig blicken, und ich werde nicht verschonen. Fürwahr, deine Wege werde ich auf dich geben, und deine Gräueltaten werden in deiner Mitte sein. Und du wirst erkennen, dass ich Jhwh bin.

Es ist möglich, dass dieses ursprüngliche Gerichtswort noch weitere literarische Überarbeitungen erfahren hat, für die es aber keine materialen Zeugen gibt. Mit Sicherheit ist die hebräische Vorlage der Septuaginta als nachfolgende Wachstumsstufe zu identifizieren. Diese Fortschreibung des ursprünglichen Gerichtswortes um das Material in 7,3–5a.6aα.9(‫)מכה‬.10–12a lässt zwei redaktionelle Absichten erkennen: Zuerst wird das einfache Gerichtswort in 7,6aβ.7–9 durch die Dublette in 7,3–4 zu einer konzentrischen Komposition erweitert, in deren Mitte die um das Partizip ergänzte Erkenntnisformel in 7,9 steht.38 Mit der Charakterisierung „Jhwh, der schlägt“ führt der Redaktor Jhwh als Gerichtsgott ein;

38 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 28.

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eine Vorstellung, die in der Endgestalt des Buches das göttliche Gerichtshandeln in der Tempelvision 9,5.7.8 vorwegnimmt.39 Die konzentrische Struktur wird auch durch die Wiederaufnahme des Doppelzweiers von 7,7bα (‫ )בא העת קרוב היום‬in 7,12a (‫)בא העת הנה היום‬40 unterstrichen, die einen weiteren Rahmen um die Erkenntnisaussage im Zentrum legt und mit der Variation des dritten Gliedes das unaufhaltsame Näherkommen des Gerichtsgeschehens ausdrückt. Zweitens identifiziert die Fortführung in 7,3–5a.6aα.9(‫)מכה‬.10–12a das kommende Ende mit dem über die Frevler ergehenden Tag Jhwhs (7,10: ‫)יום יהוה‬,41 so dass das Ende zum göttlichen Gerichtstag wird. Schließlich erhält das Gerichtswort durch die Voranstellung von 7,1–2 eine Einleitung, die das Orakel als Wortereignis kennzeichnet und das Land Israel als neuen Adressaten neben dem Bewohner des Landes (7,7) einführt. Diese Ergänzung führt zu einer Doppeldeutigkeit in der Rederichtung der Gerichtsankündigung, die nun sowohl auf den (maskulinen) Bewohner des Landes wie auch das (feminine) Land bezogen werden kann; dabei ist aber der Gebrauch des Suffixes in der unvokalisierten hebräischen Vorlage wie auch des Pronomens in der griechischen Übersetzung mehrdeutig, so dass keine klare Zuordnung möglich, und vielleicht auch nicht intendiert ist. Zuletzt führt die Überarbeitung der hebräischen Vorlage der Septuaginta zur proto-masoretischen Überlieferung, die durch eine Reihe von Erweiterungen und die Umstellung des Materials aus 7,7–9 und 7,3–6a profiliert wird. Die Gründe für die Umstellung des Textbestandes von 7,7–9 und 7,3–6a sind auf den ersten Blick kaum ersichtlich; es ist fraglich, ob eine redaktionsgeschichtliche Analyse ohne den textgeschichtlichen Befund auf diese Vorstufe geführt hätte. Der Vergleich der beiden materialiter bezeugten Textfassungen führt jedoch auf zwei dezidierte Redaktionsinteressen dieser Neuanordnung: Zuerst rückt die partizipial erweiterte Erkenntnisformel in 7,9 an das Ende des neu abgegrenzten zweiten Abschnittes und bildet eine Zäsur, von der sich der mit der Partikel ‎‫ הנה‬eingeleitete Vers 7,10 als Neueinsatz abhebt. Damit wird der wesentliche Einschnitt im Kapitel von 7,12a nach vorne an das Ende von 7,9 verschoben. Zweitens schafft die Voranstellung des Materials von 7,3–6a Platz für die Einfügung weiterer Jhwh-Worte im Zentrum des Gerichtswortes in 7,5b.6aα.b.7aα, die die Gottesspruchformel in 7,5a als Einleitung nutzen und das Kommen der ṣefîrâ zum neuen Inhalt der Verkündigung machen. Die Bedeutung der ṣefîrâ wird auch durch die Erweiterung in 7,10b unter39 Jhwhs Gericht in Ez 9 vollzieht sich durch die Aussendung von sechs Männern, die Jhwh beauftragt, die Bevölkerung niederzuschlagen (9,5: ‫ ;וְ ַהּכּו‬9,7: ‫)וְ ִהּכּו‬. Diesem Auftrag kommen die Männer in 9,8 nach, wo Ezechiel Zeuge der Vollstreckung des Gerichtshandelns wird (9,8: ‫ּכֹותם‬ ָ ‫)וַ יְ ִהי ְּכ ַה‬. 40 Die Rekonstruktion folgt dem Text der Septuaginta in 7,12a (ἥκει ὁ καιρός ἰδοὺ ἡ ἡμέρα). 41 Die Rekonstruktion folgt dem Text der Septuaginta in 7,10 (ἡμέρα κυρίου).

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strichen, wo am Beginn der neu abgegrenzten Worteinheit das Kommen des Tages mit dem Herauszug der ṣefîrâ näher beschrieben wird. Auf diese Weise wird die Ankündigung der ṣefîrâ zum zentralen Element der Gerichtsprophetie in 7,1–12a, das von der bereits vorgegebenen Ankündigung des Endes zur Ansage des Tages in 7,10.12 und der zweiten Kapitelhälfte überleitet. Vermutlich erklärt die Betonung der ṣefîrâ und die Verknüpfung mit dem Tag auch die Änderung in 7,12, wo nun explizit davon die Rede ist, dass der Tag eingetroffen ist (‫)הּגִ ַיע ַהּיֹום‬. ִ Damit bleibt nur noch die Frage nach dem fehlenden nomen rectum in 7,10MT (7,10LXX: „der Tag Jhwhs“) in der proto-masoretischen Fassung. Es ist schwer zu entscheiden, ob es sich dabei um eine versehentliche Auslassung in der Überarbeitung des Textes handelt, oder ob die Neugestaltung von Vers 10 in der proto-masoretischen Textfolge dazu geführt hat, dass der Gottesname ausgelassen wurde, um eine Reihe von fünf Doppelzweiern herzustellen. Die Leserschaft des Buches hat „den Tag“ vermutlich auch ohne ausdrückliche Nennung des Gottesnamens mit dem Gerichtstag Jhwhs assoziiert. Schließlich müssen auf dieser proto-masoretischen Redaktionsstufe auch die zwei Erkenntnisformeln in 7,4.9 mit einem Subjekt 2. Person mask. pl. überarbeitet worden sein („ihr werdet erkennen“), so dass das Gerichtswort über die im Text genannten Adressaten hinaus nun auch die weitere Leserschaft des Prophetenbuches anredet. In der späteren Vokalisierung der Masoreten ist die Gerichtsverkündigung in Ez 7,1–12a mit Ausnahme von 7,7 (‫)א ֶליָך‬ ֵ durchgehend an das Land (2. fem. sg.) gerichtet, wobei aber die Erkenntnisformeln in 7,4.9 weiterhin über den Sitz im Buch hinausweisen. Nachdem nun die Redaktionsgeschichte von 7,1–12a rekonstruiert worden ist, ist danach zu fragen, in welchem Verhältnis das ursprüngliche Gerichtswort in 7,6aβ.7–9 zur Gerichtsprophetie in Am 8 steht.

4 Literarische Horizonte 4.1 Amos 8 und die ältere Prophezeiung in Ez 7 Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass mit der Ankündigung des kommenden Endes in Ez 7 ein Zitat aus der vierten Vision des Amosbuches in Am 8,2 vorliegt.42 Die Visionenreihe im Amosbuch (7,1–9,6) umfasst fünf Visionen, von

42 Siehe dazu Zimmerli, Ezechiel 1–24, 169–170; Greenberg, Ezekiel 1–20, 147; Francis I. Andersen/David N. Freedman, Amos. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 24A (New York et alii: Doubleday, 1989), 797; Allen, Ezekiel 1–19, 107; Block, Ezekiel 1–24, 248–249;

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denen die ersten vier paarweise einander zugeordnet sind. In den ersten zwei Visionen gelingt es dem Propheten, erfolgreich mit seiner Fürbitte für das „kleine Israel“ (7,2.5) einzutreten, so dass Jhwh von seinem geplanten Gericht ablässt (7,3.6). Die dritte und vierte Vision bestehen dagegen aus einem statischen Bild, aus dem der Prophet das kommende und unabwendbare Gottesgericht erkennen muss. In der dritten Vision lässt Jhwh den Propheten eine Zinnmauer sehen (7,7–8), die dafür steht, dass er von nun an nicht mehr schonend an seinem Volk vorüber gehen wird (7,8: ‫א־אֹוסיף עֹוד ֲעבֹור לֹו‬ ִ ֹ ‫)ל‬, sondern wie das Zinn in die Mitte seines Volkes treten wird, so dass „jegliche Rettung unmöglich ist“43 (vgl. Am 5,17). Unter diesem unerbittlichen Vorzeichen steht auch die vierte Vision in 8,1–2, in der Jhwh den Propheten einen Korb mit Sommerobst schauen lässt (8,2: ‫ב‬ ‎ ‫ְּכלּו‬ ‫)קיִ ץ‬. ָ Mag das Sommerobst zuerst positive Assoziationen mit reicher Ernte wecken, wird es aber zum unerbittlichen Symbol für das bevorstehende Gericht, wenn Jhwh den Bildgehalt für den Propheten entschlüsselt: „Das Ende kommt über mein Volk Israel (8,2: ‎‫ל־ע ִּמי יִ ְׂש ָר ֵאל‬ ַ ‫“)ּבא ַה ֵּקץ ֶא‬. ָ Das Wortspiel mit den zwei hebräischen Nomina ‫„( ַקיִ ץ‬Sommer/Sommerfrucht“) und ‫„( ֵקץ‬Ende“) in der Deutung 8,2 zeigt deutlich, dass das Gerichtsmotiv seinen ursprünglichen Ort im Amosbuch hat und von dort in das Ezechielbuch Eingang gefunden hat. Zuerst zitiert der Autor des ursprünglichen Gerichtswortes in Ez 7,6aβ.7–9 die Ankündigung des kommenden Endes aus Am 8,2 in Ez 7,6aβ (‫)בא הקץ‬. Während das Motiv im Kontext der Gerichtsverkündigung im Amosbuch auf das Nordreich Israel bezogen ist,44 richtet sich die Prophezeiung im Ezechielbuch an den Bewohner des Landes, der stellvertretend für die Gesamtbevölkerung steht. Die weiteren Fortschreibungen ergänzen das Land Israel als Adressaten, und geben dem Endgericht durch die Verbindung mit dem Tag Jhwhs eine universale Geltung. Wenn die Annahme zutreffend ist, dass ‫( הקיץ אליך‬7,6) im proto-masoretischen Text von dem Nomen ‫„( ַקיִ ץ‬Sommerfrucht“) abzuleiten ist,45 bedeutet dies, dass auch der späte Redaktor, der die hebräische Vorlage der

Schöpflin, Theologie, 253, und Paul M. Joyce, Ezekiel. A Commentary (London: T&T Clark, 2007), 36.93. In einer noch nicht erschienenen Veröffentlichung habe ich mich bereits kurz zu diesem Auslegungsverhältnis geäußert, dabei aber noch nicht die Textgeschichte von Ez 7 berücksichtigt, siehe Anja Klein, „Ezekiel Among the Prophetic Tradition,“ in The Oxford Handbook of the Book of Ezekiel, hg. v. Corrine L. Carvalho (Oxford: OUP, 2019). 43 Jörg Jeremias, Der Prophet Amos, ATD 24/2 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1995), 103. 44 Siehe Hans W. Wolff, Dodekapropheton 2. Joel und Amos, BK XIV/2 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1969), 368, und Shalom M. Paul, Amos. A Commentary on the Book of Amos, Hermeneia (Minneapolis: Fortress Press, 1991), 253–255; anders Andersen/Freedman, Amos, 631–638. 45 Siehe oben Anm. 5.

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Septuaginta überarbeitet hat, sich des Auslegungsverhältnisses mit Am 8 bewusst war. Indem er ein weiteres Mal die Terminologie aus der Vision aufnimmt, verstärkt er die Verbindungen zum Amosbuch und macht deutlich, dass es sich bei dem Ende in Ez 7 um das göttliche Gericht handelt, das bereits der Prophet Amos geschaut hat.

4.2 Dan 8–9 und die proto-masoretische Fassung in Ez 7 Die Ansage des kommenden Endes spielt auch im Danielbuch eine gewichtige Rolle (vgl. Dan 8,17.19; 9,26; 11,6.13.27.35.40.45; 12,4.6.9.13). Dabei weist insbesondere die Vision in Dan 8, aber auch das nachfolgende Gebet in Dan 9, Berührungen mit der Gerichtsprophetie in Ez 7 auf, die über das Stichwort ‫ קץ‬hinausgehen, so dass hier eine engere Verbindung vermutet werden kann. Dan 8 ist die erste in Aramäisch überlieferte Vision des Buches und gliedert sich in sechs Abschnitte.46 Auf eine Einleitung in Dan 8,1–2, in der der Prophet nach Susa entrückt wird, folgt in 8,3–12 die eigentliche Vision, in der Daniel einen Widder (8,3: ‫)איִ ל‬ ַ mit zwei Hörnern schaut, der von einem Ziegenbock mit einem „ansehnlichen“ Horn (8,5: ‫ )וְ ַה ָּצ ִפיר ֶק ֶרן ָחזּות‬angegriffen wird. Nachdem der Ziegenbock den Widder besiegt hat, zerbricht das große Horn, und an seiner Stelle wachsen vier Hörner nach, bevor aus einem dieser vier ein einzelnes Horn nachkommt (8,9: ‫ן־א ַחת‬ ַ ‫)ק ֶר‬, ֶ das ins Übermaß anwächst und den Opferkult im Heiligtum entweiht (8,10–12). In 8,13–14 wird der Visionsbericht durch den Dialog zweier himmlischer Wesen unterbrochen, die Berechnungen über die Endzeit austauschen. Daniel hat an dieser Unterredung keinen Anteil, sondern er erfährt in 8,15–19 von einem als „Gabriel“ (8,16) eingeführten Deuteengel eine Auslegung der Vision, die zweimal auf das bevorstehende Ende bezogen wird (8,17: ‫ת־קץ ֶה ָחזֹון‬ ֵ ‫ּכי ְל ֶע‬‎ ִ ; 8,19: ‫מֹועד ֵקץ‬ ֵ ‫ּכי ְל‬‎ ִ ). Daran schließt sich in 8,20–22.23–25 eine doppelte Interpretation an, in der Daniel hört, dass der Angriff des Ziegenbocks auf den Widder den Übergang von der Herrschaft der Meder und Perser zum Großreich Alexanders des Großen symbolisiert, das schließlich in die Diadochenreiche aufgeteilt wird. Die unterschiedlichen Hörner symbolisieren dabei die Abfolge der verschiedenen Herrscher, an deren Ende im Bild des einzelnen Hornes Antiochus IV Epiphanes steht (8,9). Die Vision läuft auf den Sturz dieses letzten Herrschers hinaus, dessen Niedergang „nicht

46 Zu dem folgenden Gliederungsmodell vgl. ähnlich auch Reinhard G. Kratz, „The Visions of Daniel,“ in The Book of Daniel. Composition and Reception. Volume 1, VT.S 83, hg. v. John J. Collins und Peter W. Flint (Leiden: Brill, 2001), 91–113, 100, und Carol Newsom, Daniel: A Commentary (Louisville: Westminster John Knox, 2014), 258–259.

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durch Menschenhand“ (8,25) erfolgen wird. Zwei abschließende Verse berichten von Gabriels Ermahnung, das Gesehene geheim zu halten (8,26), und von Daniels Reaktion, der erschöpft und entsetzt an den Hof zurückkehrt (8,27). Mit dem Interesse am Schicksal der altorientalischen Weltreiche gibt sich Dan 8 als eine Fortschreibung der Vision in Dan 7 zu erkennen,47 wobei allerdings die Vorstellung des ewigen Gottesreiches, auf die die Vision in Dan 7 zuläuft, in Dan 8 durch das Interesse am Ende abgelöst wird. Das Motiv wird zuerst in 8,17 eingeführt, wo Daniel vor Gabriel auf das Angesicht fällt und von diesem die Information erhält, dass die Vision „für die Zeit des Endes“ gilt (‎‫ת־קץ ֶה ָחזֹון‬ ֵ ‫)ּכי ְל ֶע‬. ִ Nachdem ein zweites Mal berichtet wird, dass der Prophet auf sein Angesicht niedergefallen ist (8,18), präzisiert Gabriel die Deutung der Vision dahingehend, dass diese zeigt, was im Ausgang der Verfluchung (8,19: ‫ם‬ ‎ ‫)ּב ַא ֲח ִרית ַהּזָ ַע‬ ְ geschehen wird, und dass sie sich auf die festgesetzte Zeit des Endes bezieht (8,19: ‎‫מֹועד ֵקץ‬ ֵ ‫)ּכי ְל‬. ִ Von jeher ist die Doppelung der Anrede Daniels in 8,17.19 aufgefallen, die mit einer doppelten Notiz über sein Niederfallen einher geht: Er sinkt in 8,17 erschreckt auf sein Angesicht und fällt erneut in 8,18 zur Erde, ohne dass er sich dazwischen erhoben hätte. Dies spricht für die Annahme einer späteren Ergänzung in 8,18–19, die vermutlich mit einer Fortschreibung der Deutung in 18,23–25 in Verbindung steht, in der die kommenden Geschehnisse näher erläutert werden (8,19).48 In der Vision Dan 8 wird das Thema des bevorstehenden Endes damit sowohl im Grundbestand (8,17) als auch in der späteren Ergänzung (8,19) thematisiert, wobei 8,17b und 8,19b in ähnlichen Formulierungen darüber Auskunft geben, auf welche Zeit sich die Vision bezieht.49 Steht das Substantiv ‫ ֵקץ‬in 8,17b in einer Genitivverbindung mit dem Nomen ‫„( ֵעת‬die Zeit des Endes“), wird es in 8,19b durch das Nomen ‫מֹועד‬ ֵ näher bestimmt („die festgesetzte Zeit des Endes“). Das jeweilige Verständnis wird allerdings dadurch erschwert, dass ‫ ֵקץ‬im Biblischen Hebräisch zwar das Ende im Sinne eines Zeitpunktes, eines Abbruches, bezeichnet, im späteren Sprachgebrauch aber auch für eine Zeitperiode, eine Endzeit, stehen kann.50 Es überrascht deshalb nicht, dass das Verständnis des Endes in

47 Vgl. Kratz, „Visions,“ 100; ähnlich auch Louis F. Hartmann und Alexander A. DiLella, The Book of Daniel, AncB 23 (Garden City, New York: Doubleday, 1978), 230, and Newsom, Daniel, 256. 48 Zu einer nachträglichen Ergänzung in 8,18–19 vgl. Hartmann/DiLella, Book of Daniel, 231; ähnlich auch Kratz, „Visions,“ 103, der in einer über Hartmann/DiLella hinausgehenden literarkritischen Analyse zu dem Ergebnis kommt, dass die Grundschicht des Kapitels in 8,1(2).3– 8.15.17.20–22.26b.27a zu finden ist (vgl. Kratz, „Visions,“ 100–103). 49 Vgl. zu dieser Beobachtung auch Newsom, Daniel, 269. 50 Ein periodisches Verständnis ist vor allem für Texte in Qumran belegt; siehe dazu John J. Collins, Daniel. A Commentary on the Book of Daniel, Hermeneia (Minneapolis: Fortress Press,

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Dan 8 in der Forschung unterschiedlich beurteilt wird.51 Die nähere Beschreibung des Endes in den relevanten Versen spricht jedoch m.  E. eher für ein periodisches Verständnis. Die Vision, die nach 8,17 für die Zeit des Endes gilt, besteht nicht aus einem einfachen Bild wie die Vision im Amosbuch, sondern sie beschreibt eine Abfolge von Ereignissen, so dass von einer „Zeit der Schlußphase“52 auszugehen ist. In ähnlicher Weise spricht die vorangestellte Erklärung in Dan 8,19, wonach die Vision enthüllt, was im Ausgang der Verfluchung geschehen wird (‫ֲא ֶׁשר־יִ ְהיֶ ה‬ ‫)ּב ַא ֲח ֶרית ַהּזָ ַעם‬, ְ für ein periodisches Verständnis im Sinne von festgelegten Endzeitereignissen. Der Ausgang der Verfluchung ist dabei auf die Fremdherrschaft durch die Völker zu beziehen, die von der babylonischen Gefangenschaft bis zur Endzeit andauert.53 Weitgehend anerkannt ist jedoch, dass die Rede vom Ende in Dan 8,17.19 mit den Stichwörtern ‫„( ֵקץ‬Ende“), ‫„( ָחזֹון‬Vision“) und ‫מֹועד‬ ֵ („festgesetzter Zeitpunkt“) 54 auf das Prophetenwort in Hab 2,3 anspielt. Das Habakukbuch beginnt in Kap. 1 mit einer Reihe von Klagen, in denen der Prophet seine Vorwürfe vor Jhwh bringt. Nach einer ersten Antwort in 1,5–11 antwortet Gott dem Propheten in 2,1–5 ein zweites Mal und teilt ihm mit, dass die „Schauung“ auf eine bestimmte Zeit vor dem Ende begrenzt ist (2,3:‎‫ּמֹועד וְ יָ ֵפ ַח ַל ֵּקץ‬ ֵ ‫)ּכי עֹוד ָחזֹון ַל‬. ִ Das Gotteswort gibt keine näheren Informationen über den Inhalt dieser noch nicht erfolgten Schauung, aber es wird deutlich, dass sie in der Zeit konsultiert und herangezogen werden kann (vgl. 2,2), ehe das Ende eintritt.55 Das Ende bezieht sich im Kontext des Buches auf das Ende der (babylonischen) Fremdherrschaft und ist damit „ein

1993), 337–338; Newsom, Daniel, 269, und insgesamt Shemaryahu Talmon, Art. „‫קץ‬,“ ThWAT VII (1993): 84–91, und Heinz-Josef Fabry, Art. „‫קץ‬,“ TWQ 3 (2016): 544–550. 51 Collins, Daniel, 337–338, geht von einem periodischen Verständnis in 8,17 aus (338: „In Daniel, the ‫ עת קץ‬is a period of time“), während er sich im Fall von 8,19 in Angleichung an Dan 11,27 für eine Umpunktierung ‎‫ּמֹועד‬ ֵ ‫ ַל‬ausspricht: „so it would read ‚for there is an end at the appointed time‘“. Dagegen argumentiert Newsom, Daniel, 269, für das Verständnis als Endzeitpunkt in beiden Versen („Daniel clearly uses it in the older sense of ‚end,‘ ‚termination‘“). Hartmann/DiLella, Book of Daniel, 231–232, vermuten in 8,17 ein eschatologisches Verständnis, während sie für die spätere Ergänzung 8,19 urteilen: „qēṣ is used […] in the general sense of any ‚end‘“. 52 Tryggve Kronholm, Art. „‫עת‬,“ ThWAT VI (1989): 463–483, 481. 53 Siehe Collins, Daniel, 338–339, und Newsom, Daniel, 269–270. Hartmann/DiLella, Book of Daniel, 237, beziehen das Motiv in einem engeren Verständnis auf die Zeit der Verfolgung durch Antiochus IV Epiphanes. 54 Vgl. zu diesem Bezug Hartmann/DiLella, Book of Daniel, 231; Collins, Daniel, 337–338, und Newsom, Daniel, 269. 55 Vgl. Lothar Perlitt, Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, ATD 25/1 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2004), 64.

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in naher Zukunft bevorstehendes Ereignis.“56 In der Auslegung von Hab 2,3 in Dan 8 wird das Ende der babylonischen Fremdherrschaft auf die nun relevante Zeit der persischen und hellenistischen Fremdherrschaft bezogen, die als Endzeit in der Herrschaft Antiochus IV Epiphanes gipfelt. Der Autor von 8,17 verweist aber mit der „Schauung“ des Endes nicht auf eine bevorstehende Gottesoffenbarung, sondern er bezieht diese auf die bereits von Daniel empfangene Vision, die die Ereignisse im Ende vorabbildet.57 Das Ende wird zu einer (berechenbaren) Schlusszeit ausgedehnt und nimmt eine eschatologische Färbung an.58 Neben den klaren Bezügen von Dan 8,17.19 auf Hab 2,3 fallen auch eine Reihe von Nähen zwischen der Vision in Dan 8 insgesamt und dem Ezechielbuch auf. So ist die visionäre Entrückung Daniels nach Susa in Dan 8,2 mit der Entrückung Ezechiels nach Jerusalem in Ez 8,1–3 zu vergleichen, und der Widder (Dan 8,2: ‫)איִ ל‬ ַ als Symbol für ein Großreich berührt sich mit dem Bildgehalt des Hirtenkapitels in Ez 34, wo die Widder (34,17: ‫)א ִילים‬ ֵ die Rücksichtslosen im Volk symbolisieren, die die Schwächeren verdrängen. Besonders eng sind aber die Parallelen in Dan 8,17.19. So wird Daniel wie der Prophet Ezechiel als „Menschensohn“ (‎‫ן־א ָדם‬ ָ ‫ּב‬, ֶ Dan 8,17; vgl. Ez 2,1.3.6.8; 3,1.3.4.10 u. ö.) angeredet, wobei der Menschensohntitel in der Abfolge der Visionen im Danielbuch von der geschauten Gestalt in Dan 7,13–14 auf den Visionär in 8,17 übergegangen ist.59 Und wie Ezechiel im Angesicht der Herrlichkeit Gottes in Furcht auf sein Angesicht fällt (Ez 1,28–2,2; 3,23–24), so reagiert auch Daniel auf die göttliche Offenbarung mit Entsetzen und Niederfallen (8,17.19.27).60 Dies spricht dafür, dass die Figur des Daniel in der Vision Dan 8 nach dem Vorbild des Propheten Ezechiel angelegt worden ist. Damit ist auch zu überlegen, ob der Fokus auf das Ende durch die Prophetie im Ezechielbuch und insbesondere Ez 7 inspiriert worden ist,61 wobei hier von der in der Septuaginta bezeugten Wachstumsstufe auszugehen ist. Vor diesem literarischen Hintergrund stellt sich die Schauung in Dan 8 als eine visionäre und weltpolitische Auslegung der Prophetie in Ez 7 unter Rückgriff auf Hab 2,3 dar. In dieser Perspektive ist nun ein erneuter Blick auf die Überschüsse in der proto-masoretischen Fassung von Ez 7 zu werfen, die ihrerseits eine erstaunliche Nähe zum Danielbuch aufweisen. Das beginnt zuerst mit der Ankündigung des

56 Perlitt, Propheten, 64. 57 Vgl. Hartman/DiLella, Book of Daniel, 231. 58 In diesem Sinne wird Hab 2,3 auch im Pesher Habakkuk ausgelegt: „Seine Deutung ist, dass sich die letzte Zeit in die Länge zieht, und zwar weit hinaus über alles, was die Propheten gesagt haben“ (1QpHab 7,7–8). 59 Vgl. Kratz, „Visions,“ 102. 60 Vgl. Newsom, Daniel, 269. 61 So mit Kratz, „Visions,“ 102.

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kommenden „einzigartigen Unheils“ (‫ )רעה אחת רעה‬in Ez 7,5, die eine signifikante Erweiterung in der hebräischen Textüberlieferung darstellt. Der Begriff ‫ ָר ָעה‬ist im Ezechielbuch überhaupt nur an sieben Stellen belegt (6,9.10; 7,5; 14,22; 16,23.57; 20,43), wobei aber auffällt, dass die ersten zwei Belege in 6,9.10 nicht nur im unmittelbaren literarischen Kontext von Kap. 7 stehen, sondern ebenso wie der Beleg in 7,5 nicht in der griechischen Texttradition überliefert sind.62 Ohne näher auf die Textgeschichte in Kap. 6 eingehen zu können, spricht dies dafür, dass es sich bei den drei Belegen um ein spätes redaktionelles Geflecht handelt, das am Beginn der Gerichtsprophetien im Buch das Unheil als göttliches Strafgericht (6,10; 7,5) zur Vergeltung der bösen Taten (6,9) einträgt. Mit dieser Bedeutung („ein Unheil“) wird das Substantiv ‫ ָר ָעה‬auch im Gebet Daniels in Dan 9,12–14 gebraucht, wo Daniel in einem Geschichtsrückblick die Verwüstung Jerusalems – vermutlich durch Antiochus IV Epiphanes – als göttliches Strafgericht für die Schuld Israels (9,13) einordnet.63 Auf Antiochus IV Epiphanes verweist weiterhin die Näherbestimmung des Unheils in Ez 7,5 mit dem Nomen ‫ אחת‬als „einzigartig“ (‫רעה אחת‬ ‫)רעה‬. Zwar wird der Text in Ez 7,5 mit Verweis auf die Versionen gerne zu ‫ אחר‬oder ‫ תחת‬geändert,64 aber in Dan 8,9 gibt es eine Parallele für das Substantiv, in der die Herrschaft des Antiochus im Bild des „einzelnen Hornes“ (‫ן־א ַחת‬ ַ ‫)ק ֶר‬ ֶ symbolisiert ist. Das einzigartige Unheil im Ezechielbuch ist damit ein literarisches Echo des Unheils in Dan 9,12–14 und geht aus dem einzigen Horn in Dan 8,9 hervor, so dass es die Schreckensherrschaft des Antiochus IV Epiphanes in Erinnerung ruft.65 Weitere Parallelen verstärken die literarische Nähe zwischen den protomasoretischen Erweiterungen in Ez 7 und dem Danielbuch. Wie der Ziegenbock in Dan 8,7 eintrifft (‎ַ‫)מּגִ יע‬, ַ um den Widder anzugreifen, so wird auch vom Tag in Ez 7,12a gesagt, dass er eingetroffen ist (‫)הּגִ ַיע ַהּיֹום‬. ִ In dieser Bedeutung „eintreffen; zu jdm./etw. gelangen“ ist das Verb ‫ נגע‬selten und bezeugt einen späten Sprachgebrauch, so dass eine signifikante Verbindung zwischen den zwei Texten vorliegt.66 Es ist auch nicht zu übersehen, dass die hebräische Bezeichnung für den Ziegenbock in Dan 8,5.8.21 (‎‫)צ ִפיר‬ ָ eine gewisse Nähe zu der geheimnisvollen ṣefîrâ in Ez 7 (‫)צ ִפ ָירה‬ ְ aufweist, so dass das Motiv vermutlich in der Vision im Danielbuch

62 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 42. 63 Vgl. Choon-Leong Seow, Daniel, Westminster Bible Companion (Louisville: Westminster John Knox, 2003), 145. 64 Vgl. Zimmerli, Ezechiel 1–24, 161; Allen, Ezekiel 1–19; Pohlmann, Ezechiel 1–19, 111, und o. FN 3. 65 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 43: „Par ailleurs, le ʾaḥat de rāʿāh ʾaḥat rappelle la qèrèn ʾaḥat de Dn 8,9, qui dèsigne Antiochus IV Èpiphane.“ 66 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 19.43; zur Spätdatierung dieses Sprachgebrauches siehe ausführlich Ludger Schwienhorst-Schönberger, Art. „‫נגע‬,“ ThWAT V (1986): 219–226, 224.

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seinen literarischen Ursprung hat. Des Weiteren berühren sich die Texte in der Verwendung der Verben ‫ בוא‬und ‫יצא‬, die als Leitworte für das Herannahen des Gerichts gebraucht werden.67 Während ‫ בוא‬in den proto-masoretischen Ergänzungen in Ez 7 für die Ankündigung des Unheils (7,5) und das Kommen der ṣefîrâ (7,7) verwendet wird,68 kündigt das Verb in Dan 8 das Kommen des Ziegenbockes an (8,5.6) und beschreibt darüber hinaus in Dan 9,12–14, wie Jhwh das Unheil herbeigeführt hat. Das Verb ‫ יצא‬ist weniger breit belegt, wird aber in beiden Textbereichen an zentralen Stellen verwendet: In Ez 7,10 zieht die ṣefîrâ heraus (‎‫)יָ ְצ ָאה‬, während in Dan 8,9 das Hervorkommen des kleinen Hornes mit demselben Verb beschrieben wird (‎‫)יָ ָצא‬. Die zahlreichen Verbindungen zwischen den späten Erweiterungen in der proto-masoretischen Textüberlieferung und den Texten in Dan 8 und 9 lassen den Schluss zu, dass die redaktionelle Überarbeitung von Ez 7 als innerbiblische Auslegung von Dan 8–9 abgefasst worden ist. Vermutlich hat der Redaktor in Ez 7 Parallelen zwischen seinem Text und der Vision in Dan 8 erkannt, die ihn dazu inspiriert haben, die vorliegende Gerichtsprophezeiung in Ez 7 durch Anspielungen an Dan 8–9 zu aktualisieren. So wird das kommende Ende mit dem Kommen der ṣefîrâ (‫)צ ִפ ָירה‬ ְ verbunden, die ein literarisches Echo des Ziegenbockes (‫)צ ִפיר‬ ָ in Dan 8,5.8.21 darstellt.69 Da der Ziegenbock in Dan 8 die Herrschaft Alexanders des Großen abbildet, steht die ṣefîrâ in Ez 7 vermutlich für einen endzeitlichen König nach dem Vorbild der hellenistischen Herrscher in Dan 8,70 der als Instrument des Gotteszornes am Tag Jhwhs das Gericht vollstreckt. Die feminine Form könnte einerseits unter dem Einfluss der aufkommenden Apokalyptik eine Verfremdung der Tiersymbolik sein, oder sie könnte mit Lust als Wortspiel mit dem Substantiv ‫„( ְצ ִפ ָירה‬Gewinde, Kranz“; vgl. Jes 28,5) verstanden werden, so dass der Begriff auf eine Königskrone verweist und die Assoziationen mit einer Herrschergestalt verstärkt.71 Es ist schließlich auch zu überlegen, ob die feminine Form eine poetische Angleichung an das Kommen des im Hebräischen ebenfalls femininen Unheils darstellt (‫רעה‬, Ez 7,5), das wie die ṣefîrâ Teil der späten redaktionellen Überarbeitung des Kapitels ist. Die proto-masoretische Redaktion in Ez 7 stellt sich damit als innerbiblische Auslegung von Dan 8–9 dar, wobei insbesondere Symbole und Motive aufgenom-

67 Vgl. Bogaert, „Les deux rédaction,“ 43. 68 Vgl. die weiteren Belege für ‫ בוא‬auf den vorausgehenden Wachstumsstufen, wo das Verb das Kommen des Endes (7,2.6), des Tages (7,10), und des Zeitpunktes (7,12) ausdrückt. 69 So mit Lust, „Use,“ 18; Lust/Hauspie/Ternier, „Notes to the Septuagint,“ 385, und Bogaert, „Les deux rédactions,“ 41–43. 70 Vgl. Bogaert, „Les deux rédactions,“ 43. 71 So Lust, „Use,“ 18.

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men sind, die im Danielbuch mit der Schreckensherrschaft des Antiochus IV Epiphanes verbunden sind. Diese ist im Ezechielbuch allerdings zu einem einzigartigen Unheil angewachsen, das über ein geschichtliches Ereignis hinausgeht und apokalyptische Züge angenommen hat. Anders als im Danielbuch wird keine Begrenzung des Unheils in Aussicht gestellt, sondern mit dem Tag Jhwhs kommt das unabwendbare Ende. Das Endgericht in Ez 7 ist der unerbittliche Abbruch der Beziehung zwischen Jhwh und seinem Volk, das auch das Ende seiner Schöpfung nach sich zieht.

5 Das Ende im Ezechielbuch Die Ankündigung des kommenden Endes in Ez 7,1–12a stellt ein außergewöhnliches Beispiel für innerbiblische Auslegungsvorgänge in der Hebräischen Bibel dar, da die letzten zwei Stadien der produktiven Fortschreibung in der Textgeschichte von Ez 7 materialiter bezeugt sind. Als Ausgangspunkt des Textwachstums kann in Ez 7,6aβ.7–9 ein kurzes Prophetenwort rekonstruiert werden, das mit dem prägnanten Zweier ‫ בא הקץ‬auf die Prophetie im Amosbuch anspielt. Aus der Vision des kommenden Endes für das Nordreich in Am 8,2 wird im Ezechielbuch ein umfassendes Gerichtswort für Israel, das das kommende Ende als Zornesgericht mit den Vergehen der Bewohner begründet. Weitere Fortschreibungen ergänzen die Beschreibung des Endes mit dem Motiv des Tag Jhwhs und führen auf die Vorstellung eines umfassenden Weltgerichts, das das Ende allen Lebens und einen Abbruch der Gottesbeziehung mit sich bringt. In seiner Position im Buch hat die Ankündigung dieses Endes eine programmatische Funktion für die Gesamtkomposition, da Ez 7* die einleitende Gerichtsverkündigung in Ez 4–6 abschließt und unter dem Vorzeichen des kommenden Endes zusammenfasst. Im Aufriss des ersten Buchteils Ez 1–24(33) funktioniert das drohende Ende als Leitmotiv, indem die weiteren Gerichtsworte auf das Ende hinführen (vgl. den wiederkehrenden Gebrauch des Verbs ‫ בוא‬in Ez 21,12.24–25; 24,14.24). Wenn Ezechiel schließlich in 33,21 die Nachricht vom Fall Jerusalems erhält, ist die abschließende Notiz über das Eintreffen einer femininen Größe (33,33: ‫)ּובב ָֹאּה ִהּנֵ ה ָב ָאה‬ ְ als Rückbezug auf die Prophetie in Kap. 7 zu verstehen: Der Fall Jerusalems markiert das in Ez 7 angekündigte Ende und legitimiert den Propheten und seine Verkündigung. Zeigt die Textfassung der Septuaginta, dass das Prophetenwort Ez 7* auf dieser Wachstumsstufe bereits übersetzt und tradiert wurde, vollzieht sich in der hebräischen Überlieferung eine letzte produktive Auslegung. Mit einer Reihe von Erweiterungen spielt ein später Redaktor auf die Texte in Dan 8 und 9 an und verbindet die Ankündigung des Endes mit dem Kommen der ṣefirâ. Vor dem lite-

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rarischen Horizont der Visionen im Danielbuch schwingt in der ṣefirâ die Schreckensherrschaft der hellenistischen Könige und insbesondere des Antiochus IV Epiphanes mit. Diese Herrschaft verdichtet sich in Ez 7,1–12a in der Ansage des einzigartigen Unheils, das mit dem Ende am Tag Jhwhs über Israel und die Welt kommen wird. Auf diese Weise stellt die proto-masoretische Fassung von Ez 7 den Endpunkt der Rezeptionsgeschichte des kommenden Endes dar, das ausgehend von Am 8,2 zu einem bestimmenden topos alttestamentlicher Prophetie geworden ist.

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Christophe Nihan

Ezechiel 8 im Rahmen des Buches – Kompositions- und religionsgeschichtliche Aspekte Abstract: Ezekiel 8 is a key chapter of the book, which is discussed here from a threefold perspective: its formation, the rituals it describes, and its place in the composition of the book. The first part addresses textual and redactional issues, arguing that the chapter has been obviously revised, expanded, and partly aligned with other chapters (such as especially Ez  1); nonetheless, the earliest version of this chapter already included the description of four rituals. The second part turns to the meaning of these rituals, both individually and as a group, from a religious-historical perspective. It argues that there is no common theme in these rituals; rather, each ritual is joined to the next one by a distinct connection. The first (v. 3–6) and second (v. 7–13) rituals concern the use of cultic images; the second and third (v. 14–15) are about the elimination of evil forces; whereas the third and fourth (v. 16–17) rituals are linked by the mythological and ritual connection between Tammuz and Šamaš. The third and last part discusses the place of Ez 8 in the composition of the book, arguing that the chapter belongs to the same compositional layer as Ez 43 (or rather an earlier version thereof), both chapters being united by their polemics against Babylonian rituals and practices. As such, the rituals described in Ez 8 do not comprise actual practices from the late monarchic period; rather, they represent the projection in the late exilic or, more likely, early postexilic period of various practices construed as contrary to Yahwistic worship. Ez 8 ist in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsseltext des Ezechielbuches. Das Kapitel steht am Anfang des zweiten Visionsberichts des Buches Ez 8–11 und erzählt von unterschiedlichen Ritualen, die am Jerusalemer Tempel stattfinden und den Zorn Gottes verursachen. Als solches bietet Ez 8 den Grund für den Auszug des kabôd (‫ )כבוד‬Jhwhs von Jerusalem nach Babylon, der dann in den folgenden Kapiteln (Ez 9–11) ausführlich beschrieben wird. Dieser Auszug entspricht der Beschreibung der Rückkehr des kabôd in Ez 43, ein Kapitel, das mehrere Parallelen mit Ez 8–11 enthält, so dass beide Erzählungen zumindest in der Endgestalt des Buches Teil eines buchübergreifenden Systems bilden. Aus philologischer, literarischer und historischer Perspektive wirft Ez 8 allerdings mehrere Fragen auf. Das Kapitel gehört ohne Zweifel zu den schwierigsten Texten des Buches und stellt zahlreiche philologische und textkritische Probleme dar. Außerdem bleiben die Natur sowie die Systematik der Rituale, die in dem Kapitel beschrieben sind, unklar. https://doi.org/10.1515/9783110624250-004

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 Christophe Nihan

Entsprechend umstritten ist ihre Deutung. Der folgende Beitrag ist ein Versuch, diese Fragen zu behandeln, um die Kompositionsgeschichte des Kapitels, seine religiös-historische Systematik sowie seine Stelle in der Verfassung des Buches zu erklären. Meine Ausführungen untergliedern sich in drei Teile: der erste Teil (1.) diskutiert text- und redaktionsgeschichtliche Fragen; der zweite Teil (2.) analysiert die Rituale, die im Kapitel beschrieben sind, in religionshistorischer Perspektive; und der dritte Teil (3.) erörtert die Frage der Stelle des Kapitels innerhalb der Verfassung des Buches.

1 Zur Komposition von Ez 8 Die chronologische Notiz in Ez 8,1 trennt Ez 8  ff. von den Kapiteln 1–7 (vgl. Ez 1,1) und eröffnet einen neuen Abschnitt.1 Der Aufbau des Kapitels ist relativ klar: Am Anfang wird Ezechiel von Babylon nach Jerusalem gebracht (V. 1–3), wo der Prophet vier unterschiedlichen Ritualen im Tempelbezirk sieht. Jede Szene wird mit der Erklärung eingeführt, dass der Prophet an einen bestimmten Ort innerhalb des Tempelkomplexes geführt wird (V. 3.7.14.16), an dem er ein Ritual schaut. Die Beschreibung der vier Rituale wird immer mit ‫ והנה‬eingeführt (vgl. V. 5.10.14.16), gefolgt von einer Frage Jhwhs an den Propheten (V. 6.12.15.17). Die Szenen werden jeweils mit der Ankündigung abgeschlossen: „Du wirst noch größere Abscheulichkeiten sehen“ (‫עוד תשׁוב תראה תועבות גדלות‬, V. 6.13.15); in der letzten Szene wird diese Aussage durch eine umfassende Erklärung ersetzt (V. 18), die den Übergang zu den nächsten Kapiteln vorbereitet, indem Jhwh erklärt, dass er an den Judäern „mit Zorn handeln“ (‫ )וגם־אני אעשׂה בחמה‬will, und kein Mitleid mit ihnen hat.2 Unklar und umstritten ist allerdings, ob V. 17 noch Teil der Beschreibung des Rituals von V. 16 ist oder eher zu der abschließenden Aussage in V. 18 gehört. Mit Einschränkung ist die erste Interpretation – V. 17 geht mit V. 16 eher als mit V. 18 zusammen – vorzuziehen, wie ich unten noch weiter diskutieren werde.3 Eben-

1 Vgl. dazu z.  B. Tyler D. Mayfield, Literary Structure and Setting in Ezekiel, FAT II/43 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010), 104–105. Der masoretische Text liest „im sechsten Jahr, im sechsten Monat, am fünften Tag (des Monats),“ wobei in der Septuaginta der „fünfte“ Monat erwähnt ist (vgl. dazu unten). 2 Für diese Struktur vgl. u.  a. ausführlich Tobias Häner, Bleibendes Nachwirken des Exils. Eine Untersuchung zur kanonischen Endgestalt des Ezechielbuches, HBS 78 (Freiburg u.  a.: Herder, 2014), 168–169. 3 So u.  a. Walther Zimmerli, Ezechiel, BK.AT XIII/1 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1969), 222; Karl-Friedrich Pohlmann, Das Buch des Propheten Hesekiel (Ezechiel). Kapitel 1–19, ATD 22 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996), 141 (weiter dazu unten).

Ezechiel 8 im Rahmen des Buches 

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falls umstritten ist, wo die Versetzung des Propheten nach Jerusalem endet und wo die erste Szene beginnt.4 Der textliche Befund ist in der Tat etwas konfus: Die Erwähnung des „Eifersuchtsbilds“ (‫ )סמל הקנאה‬am Ende von V. 3 (vgl. 3bβ) nimmt deutlich V. 5b voraus, obwohl V. 4 den Übergang von V. 3b zu V. 5 unterbricht. Sehr wahrscheinlich erklärt sich der Befund durch die komplexe Textgenese dieser Stelle, die sich zum Teil auch durch den textkritischen Befund belegen lässt (s.  u.). In der jetzigen Form von MT (und von G) scheint allerdings V. 4 die Funktion zu haben, die Versetzung des Propheten in V. 1–3 von der folgenden Beschreibung in V. 5–18 zu trennen, und die vier visionären Szenen (V. 5–6, 7–13, 14–15, 16–17) mit einer Anfangsvision einzuführen, die auf Ez 3,22–27 deutlich hinweist und damit die Visionen Ez 8–11 mit Ez 1–3 verbindet. 8,1–3 8,4

Ezechiel wird von Babylon nach Jerusalem hinübergebracht Anfangsvision des kabôd (‫ )כבוד‬Jhwhs, „wie die Erscheinung, die ich in der Ebene gesehen hatte“ (vgl. Ez 3,22–27) 8,5–6 Erste Szene: das „Eifersuchtsbild“ am nördlichen Tor 8,7–13 Zweite Szene: die 70 Ältesten mit Weihrauchpfannen im Vorhof des Tempels 8,14–15 Dritte Szene: die Frauen, die für Tammuz am Eingang des inneren Hofs weinen 8,16–17 Vierte Szene: die 20/25 Männer, die sich vor Šamaš im inneren Vorhof werfen 8,18 Abschließende Aussage Ich wende mich jetzt den wichtigen text- und redaktionsgeschichtlichen Aspekten dieser Einheiten zu.

1.1 Ez 8,1–3 Der Anfang der Erzählung in V. 1 setzt eine Situation voraus, in der sich der Prophet Ezechiel nicht mehr in Jerusalem, sondern schon unter den Exilierten in Babylon befindet, wie es in Ez 3,15 erzählt wird. Die Bedeutung des Datums ist unklar. Laut MT geht es um den fünften Tag des sechsten Monats des sechsten Jahres nach der Exilierung des Königs Jojachin; G redet dagegen von dem „fünften“ Monat. Weder

4 Vgl. u.  a. William H. Brownlee, Ezekiel 1–19, WBC 28 (Waco: Word Books Publisher, 1986), 131, der die erste Szene in V. 5–6 identifiziert; dagegen Pohlmann, Hesekiel 1–19, 138, der V. 3bβ und 4 zusammen mit V. 5–6 sieht.

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MT noch G entsprechen einem bekannten Festtermin. Wenn man annimmt, dass MT den ältesten Termin belegt5 und dass dieser Termin wie an anderen Stellen des Buches einem babylonischen Kalender entspricht6, dann kommt man in die Nähe des Herbst-Äquinoktiums7. Die folgende Vision in V.  2–3a stellt mehrere Parallelen mit der vorigen Beschreibung in Ez 1,26–27 dar, vor allem in 8,2a. Dieses Phänomen spiegelt sich schon in den Unterschieden zwischen den Versionen wider, da MT zusätzlichen Text enthält, der die Beschreibung von 8,2a noch näher mit 1,26–27 anpasst:8 MT Ez 8,2a ‫ואראה והנה דמות כמראה־אשׁ ממראה מתניו ולמטה אשׁ‬

G Ez 8,2a9 καὶ εἶδον καὶ ἰδοὺ ὁμοίωμα ἀνδρός, ἀπὸ τῆς ὀσφύος αὐτοῦ καὶ ἕως κάτω πῦρ

MT Ez 1,26b–27 ‫ועל דמות הכסא דמות כמראה אדם עליו מלמעלה‬ ‫וארא כעין חשׁמל כמראה־אשׁ בית־לה סביב ממראה מתניו ולמעלה‬ ‫וממראה מתניו ולמטה ראיתי כמראה־אשׁ ונגה לו סביב‬ 26b Und auf der Gestalt des Throns, oben auf ihm, war eine Gestalt wie der Anblick eines Menschen oben darüber. 27 Und ich schaute: Es war wie das Funkeln von Elektron, [wie der Anblick von Feuer ringsum ein Gehäuse,] vom Anblick seiner Hüfte an aufwärts; und vom Anblick seiner Hüfte nach unten schaute ich wie einen Anblick von Feuer, und ringsum war ein Glanz. 5 Zimmerli, Ezechiel, 190–191; Daniel Isaac Block, The Book of Ezekiel. Chapters 1–24, NICOT (Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans, 1997), 276. 6 Vgl. vor allem Ez 40,1 und dazu ausführlich Michael Konkel, Architektonik des Heiligen. Studien zur zweiten Tempelvision Ezechiels (Ez 40–48), BBB 129 (Berlin/Wien: Philo, 2001), 245–246. 7 Gemäß Richard A. Parker und Waldo H. Dubberstein, Babylonian Chronology 626 B.C.–A.D. 75, Brown University Studies 19 (Providence: Brown University Press, 1956), 28, sollte dieser Termin dem 17.  September 592 oder dem 28.  September 593 entsprechen. Vgl. z.  B. Meindert Dijkstra, „Goddess, Gods, Men and Women in Ezekiel 8,“ in On Reading Prophetic Texts. Gender-Specific and Related Studies in Memory of Fokkelien van Dijk-Hemmes, hg. v. Bob Becking und Meindert Dijkstra, BiInS 18 (Leiden: Brill, 1996), 83–114, 85–89 (Lit.). 8 S. dazu ausführlich Timothy P. Mackie, Expanding Ezekiel. The Hermeneutics of Scribal Addition in the Ancient Text Witnesses of the Book of Ezekiel, FRLANT 257 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), 127–129. 9 Der griechische Text von Ez 8 nach Joseph Ziegler, Ezechiel, Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum. Auctoritate Academie Scientiarum Gottingensis 16/1 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21977), 117–121.

Ezechiel 8 im Rahmen des Buches 

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Da sich die Ausdrücke ‫ דמות כמראה‬und ‫ ממראה מתניו‬im ganzen AT nur an diesen Stellen finden, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Sondergut des MT einer späteren Anpassung von Ez 8,2 mit Ez 1,26–27 entsprechen.10 Weiterhin ist wahrscheinlich, dass die Lesart in 8,2 MT ‫„ כמראה־אשׁ‬wie der Anblick von Feuer“ statt „der Anblick von einem Mann“ (ὁμοίωμα ἀνδρός) in G durch Ez 1,27 beeinflusst wurde.11 Außerdem gibt es Gründe für die Annahme, dass die ganze Beschreibung in V. 2–3a in ihrem jetzigen Kontext sekundär ist, wie schon von unterschiedlichen Exegeten bemerkt wurde. Laut V. 3b vollzieht ein „Geist“ (‫ )רוח‬die Versetzung des Propheten nach Jerusalem, was der üblichen Konzeption des Buches entspricht.12 Der „Anblick von einem Mann“ (wenn man mit G liest),13 der in V. 2–3a beschrieben wird, ist dagegen in diesem Kontext ganz seltsam und spielt in dem Rest von Ez 8–11 keine Rolle mehr. Sehr wahrscheinlich sind also V. 2–3a nicht Teil der ursprünglichen Fassung von Ez 8, sondern wurden später zwischen V. 1 und 3b hinzugefügt, um den Anfang des Visionsberichts mit Ez 1,26–27 zu parallelisieren.14 Diese sekundäre Anpassung von Ez 8 mit der grandiosen Vision von Kap. 1 wurde dann in der Texttradition von MT noch weitergeführt (s. o). Nach V. 1 beschreibt V. 3b wie der Prophet von einem „Geist“ nach Jerusalem gebracht wird. Der Vergleich zwischen MT und G stellt einige bedeutende Varianten dar: MT Ez 8,3b ‫ותשׂא אתי רוח בין־הארץ ובין השׁמים ותבא אתי ירושׁלמה במראות אלהים‬ ‫אל־פתח שׁער הפנימית הפונה צפונה‬ ‫אשׁר־שׁם מושׁב סמל הקנאה המקנה‬

G Ez 8,3b καὶ ἀνέλαβέ με πνεῦμα ἀνὰ μέσον τῆς γῆς καὶ ἀνὰ μέσον τοῦ οὐρανοῦ καὶ ἤγαγέ με εἰς Ιερουσαλημ ἐν ὁράσει θεοῦ ἐπὶ τὰ πρόθυρα τῆς πύλης τῆς βλεπούσης πρὸς βορρᾶν, οὗ ἦν ἡ στήλη τοῦ κτωμένου

10 So schon Zimmerli, Ezechiel, 191; weiter z.  B. Mackie, Expanding Ezekiel, 127–129. 11 Zimmerli, Ezechiel, 191. 12 Vgl. Ez 3,12.14; 11,1.24; 43,5, und dazu Janina Maria Hiebel, Ezekiel’s Vision Accounts as Inter­ related Narratives. A Redaction-Critical and Theological Study, BZAW 475 (Berlin/Boston: de Gruyter, 2015), 112 mit Anm. 92. 13 Zum Verhältnis von MT und G hier, s.  o. 14 So schon Ernst Vogt, Untersuchungen zum Buch Ezechiel, AnBib 95 (Rome: Biblical Institute, 1981), 39–41; Pohlmann, Hesekiel 1–19, 138; jüngst Hiebel, Vision Accounts, 112.

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Der Ausdruck ‫ שׁער הפנימית‬in MT ist unklar und umstritten; die wahrscheinlichste Annahme ist, dass der Ausdruck eine Abkürzung für „Tor des inneren (Hofes)“ darstellt.15 Laut MT wurde also der Prophet an den Eingang eines Tores gebracht, das sich „nach Norden richtet“ (‫ )הפונה צפונה‬und zum inneren Hof (vermutlich des Tempels) führt. Allerdings hat das Wort ‫ הפנימית‬keine Entsprechung in G; da das Wort syntaktisch schlecht in seinem Kontext passt, handelt es sich wahrscheinlich um einen Zusatz, der versucht die Verortung des Propheten genauer zu präzisieren. Laut G, der vermutlich hier einen älteren Text belegt, kommt der Prophet „an den Eingang des Tores, das sich nach Norden richtet“ (ἐπὶ τὰ πρόθυρα τῆς πύλης τῆς βλεπούσης πρὸς βορρᾶν). Es gibt keinen Hinweis in G, dass es hier um ein Tor des Heiligtums geht; die Beschreibung scheint dagegen vielmehr auf ein Stadttor hinzuweisen, was auch in dem gesamten Bericht am besten Sinn ergibt (s. unten).16 Am Ende von V. 3b hat das Wort ‫ המקנה‬nach ‫ סמל הקנאה‬in MT auch keine Entsprechung in G. Sehr wahrscheinlich hat man es hier mit einer erklärenden Glosse zu tun: Das Bild wird „Eifersuchtsbild“ (‫ )סמל הקנאה‬genannt, weil sie die „Eifersucht“ (vermutlich von Jhwh) verursacht (mit ‫ מקנה‬als partizipiale Form Hifil von ‫)קנה‬. Die Glosse entspricht der Konzeption des Dekalogs (Ex 20,5; Dt 5,9; weiter Ex 34,14) und ist wahrscheinlich von dort beeinflusst.17

1.2 Ez 8,4 V. 4 ist in MT und G identisch. Der Vers wird üblicherweise als Zusatz interpretiert,18 wofür es in der Tat gute Argumente gibt. Der Hinweis auf den kabôd Jhwhs

15 Sonst wurde manchmal angenommen, dass die maskuline Form ‫ הפנימי‬statt ‫ הפנימית‬zu lesen („das innere Tor“) oder ‫ שׁער הפנימית‬mit ‫„ השער הצפוני‬das nördliche Tor“ zu emendieren ist (so z.  B. Brownlee, Ezekiel 1–19, 130). Beide Annahmen haben allerdings keine Unterstützung in den Textversionen und bleiben rein hypothetisch. 16 Zimmerli, Ezechiel, 211–212; Kenneth S. Freedy, „The Glosses in Ezekiel i-xxiv,“ VT 20 (1970): 129–152, 138; Pohlmann, Hesekiel 1–19, 138 („offensichtlich ein Tor der Stadtmauer“). 17 Vgl. dazu ausführlich Susan Ackerman, Under Every Green Tree. Popular Religion in Sixth– Century Judah, HSM 46 (Atlanta: Scholars Press, 1992), 57–60. Zur Identifizierung des „Eifersuchtsbilds“ von V. 3b und 5b, s. dazu unten 2.1. 18 Vgl. u.  a. Alfred Bertholet, Hesekiel. Mit einem Beitrag von Kurt Galling, HAT 13 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1936), 47; Zimmerli, Ezechiel, 212; Frank-Lothar Hossfeld, „Die Tempelvision Ez 8–11 im Licht unterschiedlicher methodischer Zugänge,“ in Ezekiel and his Book. Textual and Literary Criticism and their Interrelation, hg. v. Johan Lust, BETL 74 (Louvain: Presses Universitaires, 1986), 151–165, 157–158; Hiebel, Vision Accounts, 108.111.250–251 und passim; Yoo Hong Min, Die Grundschrift des Ezechielbuches und ihre Botschaft, FAT II/81 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2015),

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in V. 4 scheint den Übergang zwischen V. 3b und V. 5 zu unterbrechen und der folgende Bericht in Kap.  9–11 setzt voraus, dass sich der kabôd innerhalb des Tempels findet (vgl. Ez  9,3; 10,4.18.19, usw.).19 Die Erklärung in V.  4b, dass die Vision des kabôd „wie die Erscheinung, die ich in der Ebene geschaut hatte“ war, weist auf Ez 3,22–27 zurück, eine Stelle, die selbst ein späterer Zusatz innerhalb von Ez 1–3 ist.20 Allerdings schafft diese Lösung ein Problem, da das maskuline Subjekt am Anfang von V. 5 unerklärt bleibt: Subjekt kann nicht der „Geist“ von V. 3b sein, da ‫ רוח‬feminin ist. Dasselbe Phänomen tritt aber noch einmal im folgenden Bericht auf, Ez 11,1–2, in dem der Prophet von dem Geist zum östlichen Tor des Tempels hingebracht wird (V. 1) und dann ein maskulines Subjekt zu ihm redet (V. 2). Anscheinend muss man hier annehmen, wie schon in Ez 8,3.5, dass Jhwh selbst zu dem Propheten redet.

1.3 Ez 8,5–6 Die Beschreibung in V. 5, vor allem in 5b, ist unklar und schwierig. MT Ez 8,5 ‫ויאמר אלי בן־אדם שׂא־נא עיניך דרך צפונה‬ ‫ואשׂא עיני דרך צפונה והנה מצפון לשׁער המזבח סמל הקנאה הזה בבאה‬

G Ez 8,5 καὶ εἶπε πρός με Υἱὲ ἀνθρώπου, ἀνάβλεψον τοῖς ὀφθαλμοῖς σου πρὸς βορρᾶν· καὶ ἀνέβλεψα τοῖς ὀφθαλμοῖς μου πρὸς βορρᾶν, καὶ ἰδοὺ ἀπὸ βορρᾶ ἐπὶ τὴν πύλην τὴν πρὸς ἀνατολάς

Nachdem der Prophet den Befehl bekommen hat, seine Augen „Richtung Norden“ (‫ )דרך צפונה‬zu erheben (V. 5a), beschreibt MT in 5b den Inhalt seiner Vision mit den folgenden Wörtern: ‫והנה מצפון לשׁער המזבח סמל הקנאה הזה בבאה‬. In dem jetzigen

160.167, und jüngst Christoph Koch, Gottes himmlische Wohnstatt. Transformationen im Verhältnis von Gott und Himmel in tempeltheologischen Entwürfen des Alten Testaments in der Exilszeit, FAT 119 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018), 170. 19 Zu dem Unterschied zwischen dem kabôd in Ez 8,4 und in den folgenden Kapiteln 9–11, vgl. jetzt ausführlich Hiebel, Vision Accounts, 110–112. 20 Vgl. dazu Pohlmann, Hesekiel 1–19, 76–77; Hiebel, Vision Accounts, 90–93 (mit weiteren bibliographischen Hinweisen).

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Text von MT kann das Wort ‫המזבח‬, „der Altar,“ nicht mit ‫ סמל הקנאה הזה‬in einem Konstruktusverhältnis stehen, da in diesem Fall ‫ מזבח‬nicht determiniert sein sollte (dieses Phänomen wird noch dadurch unterstrichen, dass die Masoreten ein zaqep parvum an ‫ מזבח‬einführen). Deswegen hat man häufig angenommen, dass ‫מזבח‬ zu ‫ לשׁער‬gehört („Tor des Altars“) und ein Tor bezeichnet, welches zu dem Altar im Vorhof des Tempels führen würde.21 Allerdings gibt es Probleme mit dieser Erklärung, erstens, weil eine solche Bezeichnung für eines der Tore Jerusalems im AT sonst nie belegt ist;22 und zweitens, weil in diesem Fall die Beschreibung von V. 5b kein neues Element bringt und die Beschreibung von V. 3b einfach wiederholt.23 Wahrscheinlicher ist also die Annahme von W. Zimmerli und anderen, dass ‫( מזבח‬ohne Determinierung) statt ‫ המזבח‬zu lesen ist und im Konstruktusverhältnis mit ‫ סמל הקנאה הזה‬steht;24 möglicherweise gehörte das hē ursprünglich zu ‫לשׁער‬ (lĕša’arāh).25 In diesem Fall muss man V. 5b so verstehen, dass der Prophet einen Altar des in V. 3b schon erwähnten „Eifersuchtsbildes“ nördlich des Stadttores, bei dem er steht, schaut. Da die ganze Wendung ‫ סמל הקנאה הזה בבאה‬in G allerdings nicht belegt ist, könnte man im Prinzip auch vermuten, dass die Vorlage von G nur von „einem“ oder „dem Altar“ redete, ‫ואשׂא עיני דרך צפונה והנה מצפון לשׁער‬ ‫המזבח‬, und dass die Ergänzung ‫סמל הקנאה הזה בבאה‬, die in G fehlt, eine erklärende Glosse darstellt, die die Beschreibung von V. 5b mit V. 3b harmonisiert. Die Frage, ob der kürzere Text von G in V. 5b älter ist als MT, ist schwer zu entscheiden. Für eine absichtliche Auslassung von 5bβ in G gibt es keinen deutlichen Grund.26 Auf der anderen Seite gibt es auch Bedenken gegen die Priorität der Lesart von G: Ohne ‫ סמל הקנאה הזה בבאה‬scheint die Beschreibung der Vision in V. 5 eher unvollständig; und wegen der konfusen Übersetzung von G in V. 5b – wo G anscheinend ‫„( מזרח‬Osten“) statt ‫„( מזבח‬Altar“) gelesen hat27 – ist es zumindest möglich, dass der griechische Übersetzer seine hebräische Vorlage missverstanden hat.

21 So z.  B. noch Block, Ezekiel 1–24, 286. 22 Zimmerli, Ezechiel, 192. 23 Wie von Ackerman, Popular Religion, 40–41 Anm. 14, richtig bemerkt. 24 Zimmerli, Ezechiel, 192; weiter z.  B. Walther Eichrodt, Ezekiel, übers.  v. Cosslett Quin, OTL (London: SCM, 1970), 108; Ackerman, Popular Religion, 40–41 Anm. 14; Vogt, Untersuchungen, 43; Pohlmann, Hesekiel 1–19, 123; Thomas Römer, „Cultes en dehors du temple de Jérusalem selon Ezéchiel 8,“ in Rites aux portes, hg. v. Patrick Maxime Michel, Etudes genevoises sur l’Antiquité 4 (Bern u.  a.: Peter Lang, 2017), 123–132, 124 Anm. 11. 25 Godfrey Rolles Driver, „Linguistic and Textual Problems. Ezekiel,“ Bib. 19 (1938): 60–69, 62, der liš’ôlāh in Ps 9,18 als Parallele für diese Konstruktion erwähnt. 26 Pace Block, Ezekiel 1–24, 286. 27 καὶ ἰδοὺ ἀπὸ βορρᾶ ἐπὶ τὴν πύλην τὴν πρὸς ἀνατολάς: „Und siehe! Von Norden zu dem östlichen Tor.“

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Kurz gefasst: MT ist in V. 5b mit ‫ והנה מצפון לשׁערה מזבח סמל הקנאה הזה בבאה‬zu korrigieren. Die Möglichkeit, dass G einen kürzeren (und zwar älteren) Text für V. 5b gekannt hat, in dem nur „ein“ bzw. „der Altar“ erwähnt wurde, ist möglich, aber nicht sicher. Falls G die ältere Lesart belegt, wäre die Wendung von 5bβ, ‫סמל‬ ‫הקנאה הזה בבאה‬, eine Glosse, die in MT erklärt, was in G noch implizit war. Jedenfalls bleibt die Deutung des in V. 5b beschriebenen Rituals dieselbe: Der Prophet sieht einen Altar nördlich des Stadttores, bei dem er selber steht. Dieser Altar gehört zu dem „Eifersuchtsbild“ von V. 3b und wird wahrscheinlich für Opfer in diesem Bild gebraucht.

1.4 Ez 8,7–13 Die zweite Szene, V. 7–13, wurde vermutlich stark bearbeitet und stellt mehrere text- sowie redaktionskritische Probleme dar.28 Ich beschränke mich hier auf die wesentlichen Aspekte. MT Ez 8,7–9 ‫ ויאמר אלי בן־אדם חתר־נא בקיר ואחתר בקיר והנה‬8 :‫ ויבא אתי אל־פתח החצר ואראה והנה חר־אחד בקיר‬7 :‫ ויאמר אלי בא וראה את־התועבות הרעות אשׁר הם עשׂים פה‬9 :‫פתח אחד‬

G Ez 8,7–9 7 καὶ εἰσήγαγέ με ἐπὶ τὰ πρόθυρα τῆς αὐλῆς 8 καὶ εἶπε πρός με Υἱὲ ἀνθρώπου, ὄρυξον· καὶ ὤρυξα, καὶ ἰδοὺ θύρα μία. 9 καὶ εἶπε πρός με Εἴσελθε καὶ ἰδὲ τὰς ἀνομίας, ἃς οὗτοι ποιοῦσιν ὧδε·

Laut V. 7a wird der Prophet an den Eingang eines Vorhofs gebracht. Die folgende Beschreibung in V. 7b–8 scheint sekundär zu sein.29 V. 7b fehlt in G. Laut V. 8 muss der Prophet „durch die Wand brechen“ (nach MT), oder eben „graben“ (nach G). 28 „Ezek 8:7–13 is surely one of the most obscure passages in the Hebrew Bible“ (Ackerman, Popular Religion, 67). 29 So schon Bertholet, Hesekiel, 30–31; weiter z.  B. Zimmerli, Ezechiel, 215–216; Pohlmann, Hesekiel 1–19, 139; René Schurte, „Der Räucherkult in Ezechiel 8,7–13 – ein ägyptischer Kult?,“ in Bilder als Quellen – Images as Sources. Studies on Ancient Near Eastern Artefacts and the Bible Inspired by the Work of Othmar Keel, hg. v. Susanne Bickel u.  a., OBO.S 3 (Freiburg, Schweiz/ Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht, 2007), 403–423, 409; ausführlich Mackie, Expanding Ezekiel, 182–183. Anders z.  B. Ackerman, Popular Religion, 42 Anm. 20 und 67–69. Sie erkennt allerdings, dass ihre Rekonstruktion „highly speculative“ ist (a.a.O., 68) und erwähnt die alternative Möglichkeit, dass V. 7b und 8 sekundär hinzugefügt wären.

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Beide Beschreibungen scheinen auf einen geheimen Kult hinzuweisen, entweder in einer versteckten Kammer des Tempels (so MT) oder eben unter dem Boden in einer unterirdischen Kammer oder sogar in einer Grube (so G, vgl. Jes 65,4!). In beiden Fällen ist die Beschreibung mit dem Hinweis in V. 11 auf die 70 (!) Männer, die Weihrauch verbrennen, kaum kompatibel. Aller Wahrscheinlichkeit nach beschrieb der Text ursprünglich ein Ritual, welches in einem offenen Vorhof des Tempels stattfand; in Bezug auf V. 12 sollte man auch annehmen, dass dieser Vorhof unterschiedliche Kapellen (‫)ח ְד ֵרי‬ ַ hat, genau wie in der Beschreibung von Ez 40–42.30 Mit der Hinzufügung von V. 8 wurde dieses Ritual als geheimes Ritual verstanden, was die polemische Pointe der Beschreibung noch verschärft, und es entsprechend in einer Kammer des Vorhofs (so MT) oder eben in einer unterirdischen Kammer (so G) neu verortet.31 V. 7b in MT setzt die zusätzliche Beschreibung von V. 8 voraus.32 MT Ez 8,10 :‫ואבוא ואראה והנה כל־תבנית רמשׂ ובהמה שׁקץ וכל־גלולי בית ישׂראל מחקה על־הקיר סביב סביב‬

G Ez 8,10 καὶ εἰσῆλθον καὶ εἶδον καὶ ἰδοὺ μάταια βδελύγματα καὶ πάντα τὰ εἴδωλα οἴκου Ισραηλ διαγεγραμμένα ἐπ᾿ αὐτοῦ κύκλῳ

V. 10 enthält auch problematische Stellen und wurde anscheinend stark überarbeitet. In V. 10aα MT ist die Aussage ‫ כל־תבנית רמשׂ ובהמה שׁקץ‬syntaktisch schwierig. Der Satzteil ‫ תבנית רמשׂ ובהמה‬fehlt in G, entspricht aber der kombinierten Aussage von Dtn 4,17a (‫ )תבנית כל־בהמה‬+ 4,18a (‫)תבנית כל־רמשׂ‬. Sehr wahrscheinlich ist deswegen die Annahme, dass das Sondergut des MT in Ez 8,10a von Dtn 4,17–18 beeinflusst wurde.33 Ursprünglich las der Text also nur ‫( כל־שקץ‬vgl. G: μάταια βδελύγματα), was hier im Kontext wahrscheinlich eine Reihe von kleinen Tieren, wie Reptilien, Insekten usw. bezeichnet („Ungeziefer“).34

30 Schurte, „Räucherkult,“ 409–410. Schürte, a.a.O., erwähnt auch die Möglichkeit, dass die „Kammer“ in V. 12 sekundär ist. 31 V. 12a in MT erklärt weiter, dass die Ältesten Israels „im Dunkeln“ (‫ )בחשך‬handeln; diese Erklärung fehlt aber in G und wurde wahrscheinlich mit V. 7b und 8 eingeführt. Weiter dazu unten. 32 Zimmerli, Ezechiel, 193. 33 So schon Bertholet, Hesekiel, 31; weiter Zimmerli, Ezechiel, 193; Schürte, „Räucherkult,“ 411–412 mit Anm. 25. 34 Vgl. Lev 11, wo das Nomen ‫ שקץ‬für Wassertiere (Lev 11,10–13) sowie für fliegende Insekte (Lev 11,20.23) und Landreptilien (Lev 11,41–42) gebraucht ist. Die nominale Form ist sonst im

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Der folgende Satzteil in V. 10aβ, ‫וכל־גלולי בית ישׂראל‬, „und alle Götzen des Hauses Israel,“ könnte auch sekundär sein.35 Die Verbindung zwischen ‫ גלולים‬und ‫ שקץ‬ist im AT sonst nicht belegt und die Verbform ‫ ְמ ֻח ֶקּה‬am Anfang von V. 10b, im Singular, scheint sich eher auf das Wort ‫שקץ‬, „Ungeziefer“ zu beziehen.36 Der Glossator, welcher den Satzteil ‫ וכל־גלולי בית ישׂראל‬hinzufügte, hat wahrscheinlich ‫ שקץ‬im Sinne von ‫שקוץ‬, „Gräuel,“ verstanden, da die Assoziation zwischen ‫גלולים‬ und ‫ שקוצים‬im AT (und zwar auch im Ezechielbuch) an anderen Stellen belegt ist.37 Laut MT sind in V.  10b die Abbilder von „jeder Art Ungeziefer“ auf einer „Wand,“ wobei G einfach ἐπ᾿ αὐτοῦ („auf ihr“/„darauf“) liest. Sehr wahrscheinlich weist die Lesart von G auch auf die Wände des Vorhofs, auf die die Abbilder gemalt sind.38 Genauer sollte man an Ritzzeichnungen denken, eine Technik, die in der westsemitischen Welt gut belegt ist. Im Land Israels ist sie durch eine jüngst veröffentlichte Stele aus Tulūl ed-Dahabes, ca. 8 km östlich des Jabboktals, für die Eisenzeit II dokumentiert.39 MT Ez 8,11–13 ‫ ושׁבעים אישׁ מזקני בית־ישׂראל ויאזניהו בן־שׁפן עמד בתוכם עמדים לפניהם ואישׁ מקטרתו בידו ועתר‬11 ‫ ויאמר אלי הראית בן־אדם אשׁר זקני בית־ישׂראל עשׂים בחשׁך אישׁ בחדרי משׂכיתו כי‬12 :‫ענן־הקטרת עלה‬ ‫ ויאמר אלי עוד תשׁוב תראה תועבות גדלות אשׁר־המה‬13 :‫אמרים אין יהוה ראה אתנו עזב יהוה את־הארץ‬ :‫עשׂים‬

Ezechiel­buch nicht belegt. So z.  B. Zimmerli, Ezechiel, 216; Moshe Greenberg, Ezekiel 1–20, AncB 22 (Garden City: Doubleday, 1983), 169; gegen Ackerman, Popular Religion, 70–71, die den Terminus ‫ שקץ‬im Kontext von Ez 8,10 als „unclean food“ deutet. 35 So z.  B. Georg Fohrer, Ezechiel. Mit einem Beitrag von Kurt Galling, HAT 13 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1955), 49; Schurte, „Räucherkult,“ 412. 36 Allerdings ist es auch möglich, ‫ ְמ ֻח ֶקּה‬als Prädikationsnomen zu deuten, das an dieser Stelle im Singular mit einem Subjekt im Plural gebraucht wäre; vgl. Ez 23,14, und dazu schon Zimmerli, Ezechiel, 193. Reto Nay, Jahwe im Dialog. Kommunikationsanalytische Untersuchung von Ez 14,1–11 unter Berücksichtigung des dialogischen Rahmens in Ez 8–11 und Ez 20, AnBib 141 (Rom: Pontificio Istituto Biblico, 1999), 211–212, erkennt zu Recht, dass ‫ ְמ ֻח ֶקּה‬als partizipiale Form zu deuten ist. Er nimmt aber an, dass der Singular auf das letzte Glied „alle Götzen des Hauses Israels“ zu beziehen sei. Diese Deutung scheint mir allerdings sehr unwahrscheinlich. 37 Vgl. Dtn 29,16; 2 Kön 23,24; Ez 37,23, weiter Ez 20,7.8. 38 So z.  B. John W. Olley, Ezekiel. A Commentary based on Iezekiēl in Codex Vaticanus, Septuagint Commentary Series (Leiden/Boston: Brill, 2009), 286. 39 S. dazu Thomas Pola, „Ritzzeichnungen. Werfen archäologische Funde aus dem Ostjordanland Licht auf Ez 8,10 und 1 Kön 6,29–36?,“ ThBeitr 41 (2010): 97–113.

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G Ez 8,11–13 11 καὶ ἑβδομήκοντα ἄνδρες ἐκ τῶν πρεσβυτέρων οἴκου Ισραηλ, Ιεζονιας ὁ τοῦ Σαφαν ἐν μέσῳ αὐτῶν εἱστήκει πρὸ προσώπου αὐτῶν, καὶ ἕκαστος θυμιατήριον αὐτοῦ εἶχεν ἐν τῇ χειρί, καὶ ἡ ἀτμὶς τοῦ θυμιάματος ἀνέβαινε. 12 καὶ εἶπε πρός με Υἱὲ ἀνθρώπου, ἑώρακας ἃ οἱ πρεσβύτεροι οἴκου Ισραηλ ποιοῦσιν, ἕκαστος αὐτῶν ἐν τῷ κοιτῶνι [τῷ κρυπτῷ] αὐτῶν; διότι εἶπαν Οὐχ ὁρᾷ κύριος, ἐγκαταλέλοιπε κύριος τὴν γῆν. 13 καὶ εἶπε πρός με Ἔτι ὄψει ἀνομίας μείζονας, ἃς οὗτοι ποιοῦσι.

Die folgenden Verse (V. 11–13) stellen weniger Probleme dar. Die Formulierung von V. 11a ist deutlich überladen und der Hinweis auf „Jaasanja, der Sohn Schaphans“ ist wahrscheinlich nachgetragen.40 Der Zusatz wurde im Blick auf Ez 11,1 hinzugefügt und dient dem Zweck die Beschreibung von 8,7–13 mit der Polemik von Ez 11,1–12 zu koordinieren. In V. 11b fehlt in G der Hinweis auf die „Wolke“ des Räucherwerks. Da der Ausdruck ‫ ענן־הקטרת‬sich nur hier und in Lev 16,13 findet, ist es durchaus möglich, dass der zusätzliche Text von MT durch Lev 16 beeinflusst wurde.41 Die Erklärung ‫ בחשׁך‬fehlt in V. 12a auch in G und wurde wahrscheinlich zusammen mit V. 7b und 8 in MT eingeführt, um die Stilisierung als geheimes Ritual zu verstärken (s.  o.).42 Letztlich liest G in V. 12b Οὐχ ὁρᾷ ὁ κύριος, „Jhwh sieht nicht“ (wie in Ez 9,9), während der MT ‫„( אין יהוה ראה אתנו‬Jhwh sieht uns nicht“) hat. Ob MT das Pronomen hinzufügt, um die persönliche Schuld der Ältesten zu unterstreichen oder ob G hier eine sekundäre Anpassung mit Ez 9,9 darstellt, ist schwer zu entscheiden. Auf Basis dieser Bemerkungen lässt sich eine Grundschicht in V. 7a.9* (ohne ‫)הרעות‬.10aα* (ohne ‫)תבנית רמשׂ ובהמה‬.10b.11aα* (ohne ‫)ויאזניהו בן־שׁפן עמד בתוכם‬. aβ.11b* (ohne ‫)ענן‬.12* (ohne ‫)בחשׁך‬.13 rekonstruieren. Diese Grundschicht erzählt eine Vision des Propheten Ezechiel, in der 70 Männer, die eine Elitengruppe in Jerusalem darstellen, Weihrauch in Räuchergefäßen in einem Vorhof vor den Abbildern von „allen Ungeziefern“ (‫ )כל־שקץ‬verbrennen; diese Abbilder sind entweder auf Stelen in den Kapellen des Vorhofs eingeritzt oder eben auf die Wände dieser Kapellen (so G).

40 Fohrer, Ezechiel, 49; Zimmerli, Ezechiel, 194; Pohlmann, Hesekiel 1–19, 139–140 Anm. 650. Pace Ackerman, Popular Religion, 43 Anm. 25; Block, Ezekiel 1–24, 288. 41 Zimmerli, Ezechiel, 194; weiter Mackie, Expanding Ezekiel, 181–182. 42 So auch Schurte, „Räucherkult,“ 410 Anm. 20. Zur Bedeutung von ‫ בחשׁך‬im Kontext von Ez 8,7–13, vgl. Nay, Dialog, 235–236. Allerdings lesen die meisten griechischen Handschriften in der nächsten Klausel ἐν τῷ κοιτῶνι τῷ κρυπτῷ αὐτῶν, in der die Präzisierung τῷ κρυπτῷ mög­licherweise ‫ בחשׁך‬entsprechen könnte. Die Präzisierung fehlt aber in einer lat. Handschrift (Ls: unusquisque eorum in cubiculo) und könnte eine sekundäre Anpassung von G mit MT darstellen.

Ezechiel 8 im Rahmen des Buches 

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1.5 Ez 8,14–15 MT ‫ ויאמר‬15 :‫ ויבא אתי אל־פתח שׁער בית־יהוה אשׁר אל־הצפונה והנה־שׁם הנשׁים ישׁבות מבכות את־התמוז‬14 :‫אלי הראית בן־אדם עוד תשׁוב תראה תועבות גדלות מאלה‬

G 14 καὶ εἰσήγαγέ με ἐπὶ τὰ πρόθυρα τῆς πύλης οἴκου κυρίου τῆς βλεπούσης πρὸς βορρᾶν, καὶ ἰδοὺ ἐκεῖ γυναῖκες καθήμεναι θρηνοῦσαι τὸν Θαμμουζ, 15 καὶ εἶπε πρός με Υἱὲ ἀνθρώπου, ἑώρακας; καὶ ἔτι ὄψει ἐπιτηδεύματα μείζονα τούτων.

Die hebräischen und griechischen Versionen sind hier fast identisch. In V. 14b liest G „Frauen“ ohne den Artikel. Möglicherweise hat hier G ‫ שמה נשים‬statt MT ‫שׁם‬ ‫ הנשׁים‬gelesen,43 allerdings ist schwierig zu entscheiden, welche Lesart die älteste ist. Sonst sehe ich keinen Grund anzunehmen, dass der Text nicht einheitlich ist bzw. bearbeitet wurde.

1.6 Ez 8,16–17 MT ‫ ויבא אתי אל־חצר בית־יהוה הפנימית והנה־פתח היכל יהוה בין האולם ובין המזבח כעשׂרים וחמשׁה אישׁ‬16 ‫ ויאמר אלי הראית בן־אדם הנקל‬17 :‫אחריהם אל־היכל יהוה ופניהם קדמה והמה משׁתחויתם קדמה לשׁמשׁ‬ ‫לבית יהודה מעשׂות את־התועבות אשׁר עשׂו־פה כי־מלאו את־הארץ חמס וישׁבו להכעיסני והנם שׁלחים‬ :‫את־הזמורה אל־אפם‬

G 16 καὶ εἰσήγαγέ με εἰς τὴν αὐλὴν οἴκου κυρίου τὴν ἐσωτέραν, καὶ ἰδοὺ ἐπὶ τῶν προθύρων τοῦ ναοῦ κυρίου ἀνὰ μέσον τῶν αιλαμ καὶ ἀνὰ μέσον τοῦ θυσιαστηρίου ὡς εἴκοσι ἄνδρες, τὰ ὀπίσθια αὐτῶν πρὸς τὸν ναὸν τοῦ κυρίου καὶ τὰ πρόσωπα αὐτῶν ἀπέναντι, καὶ οὗτοι προσκυνοῦσι τῷ ἡλίῳ 17 καὶ εἶπε πρός με Ἑώρακας, υἱὲ ἀνθρώπου; μὴ μικρὰ τῷ οἴκῳ Ιουδα τοῦ ποιεῖν τὰς ἀνομίας, ἃς πεποιήκασιν ὧδε; διότι ἔπλησαν τὴν γῆν ἀνομίας, καὶ ἰδοὺ αὐτοὶ ὡς μυκτηρίζοντες.

43 Dazu Zimmerli, Ezechiel, 194.

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In V. 16 liest G „20“ Männer statt „25“ in MT. Anscheinend ist die Lesart von MT ein Versuch die Männer, die sich vor Šamaš niederwerfen, mit den 25 Männern von Ez 11,1  ff. zu identifizieren.44 In diesem Fall hat man es hier mit demselben Phänomen wie mit der masoretischen Glosse über „Jaasanja, der Sohn Schaphans“ in V. 11 zu tun (s.  o.). Umstritten ist, ob V. 17 eher zu V. 16 oder zu V. 18 gehört. Entscheidend für dieses Problem ist die Frage der Deutung der Aussage von V. 17bγ, „Siehe, sie strecken die Ranke zu ihrer Nase hin“ (‫ )הנם שׁלחים את־הזמורה אל־אפם‬und ihres Verhältnisses zu V. 16 und 18. Die rabbinische Tradition identifiziert an der Stelle eines der tiqqune sopherim und nimmt an, die Form ‫ אל־אפם‬in V. 17bγ sei eine Korrektur für eine ältere Form ‫„( אל־אפי‬vor mir“), die von späteren Tradenten als blasphemisch empfunden wurde.45 Diese Korrektur wurde i.  d.  R. in der modernen Forschung angenommen.46 Der Gestus, welcher in V. 17bγ erwähnt ist, wurde als Verehrungsgestus gedeutet und – seit einem Aufsatz von H. Saggs des Jahres 1960 – mit dem labān appi-Gestus in akkadischen Quellen verglichen.47 Nach dieser Interpretation würde V. 17bγ einen Verehrungsgestus vor dem – in V. 16 schon erwähnten – Gott Šamaš schildern, der hier wahrscheinlich mit Jhwh identifiziert wird, wenn man die Korrektur von ‫ אל־אפם‬zu ‫ אל־אפי‬annimmt. Diese Interpretation wurde allerdings in einem neueren Aufsatz von S. Lauber kritisch rezipiert.48 Lauber merkt zu Recht an, dass die Korrektur von ‫ אל־אפם‬zu ‫ אל־אפי‬in keiner antiken Version belegt und deswegen mit Vorsicht zu betrachten ist.49 Er notiert weiter, dass das Halten von Blumen (wie vor allem Lotusblumen) „vor der Nase“ einer Person auch Parallelen in der Ikonographie hat und als Symbol von Macht und Herrschaft zu deuten ist. Gemäß dieser Erklärung hat V. 17bγ nichts mit der Verehrung von Šamaš in V. 16 zu tun; der Vers beschreibt (so Lauber) einen

44 Zimmerli, Ezechiel, 195. Die Lesart von G wird von zwei hebräischen Handschriften belegt. Anders Greenberg, Ezekiel 1–20, 202, dem jüngst Stephan Lauber, „Die Ranke an der Nase. Zum motivgeschichtlichen Hintergrund von Ez 8,17,“ in Studien zu Psalmen und Propheten. FS Hubert Irsigler, hg. v. Carmen Diller u.  a., HBS 64 (Freiburg u.  a.: Herder, 2010), 193–213, 194 Anm. 4, gefolgt ist. 45 Ausführlich dazu Carmel McCarthy, The Tiqqune Sopherim, and Other Theological Corrections in the Masoretic Text of the Old Testament, OBO 36 (Freiburg, Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht, 1981), 91–97; vgl. auch Greenberg, Ezekiel 1–20, 172–173. 46 Vgl. z.  B. Zimmerli, Ezechiel, 195; Dijkstra, „Goddess,“ 110 Anm. 100. 47 Henry William Frederick Saggs, „The Branch to the Nose,“ JTS 11 (1960): 318–329. Weiter z.  B. CAD (L), 12a. Für andere Deutungen, vgl. Ackerman, Popular Religion, 45–46 Anm. 39. 48 Lauber, „Ranke.“ 49 Lauber, „Ranke,“ 195–196.

Ezechiel 8 im Rahmen des Buches 

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weiteren Ritus, der eng mit dem Vorwurf der Gewalt in dem Land in V. 17bαβ verbunden ist.50 Dass V. 17bγ ein weiteres, fünftes Ritual innerhalb von Ez 8 beschreibt, ist eher unwahrscheinlich und der Vorschlag birgt mehr Probleme, als er löst. Das postulierte Ritual entspricht gar nicht den vorigen Ritualen in Ez 851 und zerstört die Struktur des Kapitels.52 Eine komplette Trennung zwischen V. 16 und 17 erscheint unplausibel, sodass der Gestus von V. 17bγ irgendwie auf die Verehrung von Šamaš in V. 16 bezogen sein sollte.53 Dagegen hat Lauber recht, dass der Korrektur von ‫ אל־אפם‬zu ‫ אל־אפי‬nicht unbedingt zu folgen ist,54 vor allem da sie in antiken Versionen kaum belegt ist. Allerdings ist die Beschreibung einer Person, die im Kontext der Verehrung von astralen Göttern, wie Šamaš, eine Blume oder ein anderes Objekt – wie einen Zylinder – vor ihre eigene Nase hält, im ersten Jahrtausend ikonographisch gut belegt,55 sodass das Behalten der masoretischen Lesart mit der Deutung von 17bγ im Sinne von Saggs keinesfalls ausschließlich ist. Dass der Gestus von V. 17bγ außerdem ein Herrschaftssymbol darstellt ist möglich, aber nicht ganz sicher. Die meisten ikonographischen Belege, die von Lauber selbst für diese Annahme aufgeführt werden, beziehen sich eher auf das Halten von Bechern als Blumen.56 Die Deutung von Lauber hat den Vorteil, die Beziehung zwischen V. 17bαβ und 17bγ etwas besser zu erklären, sie löst allerdings noch nicht alle Schwierigkeiten. Die Wendung von V. 17bβ, „und sie haben fortgesetzt mich zu beleidigen“ (‫)וישׁבו להכעיסני‬, fehlt in G (was von Lauber nicht wirklich diskutiert wird). Für eine Unterlassung von G an der Stelle gibt es keinen guten Grund, sodass es wahrscheinlich ist, dass die Wendung einer späten Glosse entspricht, welche zur Erklärung des Verhältnisses zwischen dem Vorwurf der Gewalt in V. 17bα und dem Verehrungsgestus in V. 17bγ dient.57 Ob der Hinweis

50 Lauber, „Ranke,“ 201–205. Für die Annahme, V. 17bγ würde einen neuen Ritus beschreiben, vgl. z.  B. schon George Albert Cooke, A Critical and Exegetical Commentary on the Book of Ezekiel, ICC 21 (Edinburgh: T&T Clark, 1951), 100. 51 S.  o. 1.1. 52 Pace Lauber, „Ranke,“ 202–203, die Beobachtung, dass die Struktur der vier Rituale nicht immer konsequent durchgeführt ist – vor allem in V. 15 – noch kein Argument gegen die Existenz einer solchen Struktur innerhalb von Ez 8. 53 So mit Recht z.  B. Dijkstra, „Goddess,“ 110: „Most probably the act of sun worship and the gesture of holding out the ‫ הזמורה‬to each other’s nose are interconnected.“ 54 Vgl. auch die ausführliche und vorsichtige Analyse von McCarthy, Tiqqune Sopherim, 91–97, welche gegen diese Korrektur votiert. 55 Vgl. Abb. 5, 6 und 7 in Lauber, „Ranke,“ 207–208. 56 Vgl. Lauber, „Ranke,“ 208–209, Abb. 8 und 10–11. 57 So schon Zimmerli, Ezechiel, 195. Lauber, „Ranke,“ 194–195, bemerkt zwar das Fehlen von V. 17bβ in G, aber (soweit ich sehe) diskutiert dieses Phänomen nicht weiter.

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in V. 17bα auf die „Gewalt“ (‫)חמס‬, mit der die Judäer das Land „erfüllt“ haben, ursprünglich ist oder nicht, ist schwer zu entscheiden. Das Motiv ist im Kontext von Ez 8 schwach verankert, eben wenn man die folgende Wendung in V. 17bγ mit Lauber im Sinne von einem Herrschaftsanspruch deutet; sie scheint vor allem den Zweck zu haben, die Kritik in Ez 11,6–7 gegen die sozialen Vergehen der Elite von Jerusalem vorzubereiten.58 Kurz gefasst: Die Korrektur von ‫ אל־אפם‬zu ‫ אל־אפי‬in V. 17bγ ist nicht zwingend. Der in V. 17 beschriebene Gestus, eine „Ranke“ oder ein ähnliches Blumenelement vor der Nase zu halten, lässt sich vor allem als Verehrungsgestus vor dem in V. 16 erwähnten Gott Šamaš deuten. Eine zusätzliche Herrschaftssymbolik ist möglich, aber nicht sicher. V. 17bβ fehlt in G und ist wahrscheinlich eine spätere Glosse, V. 17bα könnte auch sekundär sein. Für eine strukturelle sowie thematische Trennung zwischen V. 16 und 17 (so jüngst Lauber) gibt es auf jeden Fall keinen Grund.

1.7 Ez 8,18 MT :‫וגם־אני אעשׂה בחמה לא־תחוס עיני ולא אחמל וקראו באזני קול גדול ולא אשׁמע אותם‬

G καὶ ἐγὼ ποιήσω αὐτοῖς μετὰ θυμοῦ· οὐ φείσεται ὁ ὀφθαλμός μου, οὐδὲ μὴ ἐλεήσω.

V. 18b „Und sie werden vor meinen Ohren mit lauter Stimme rufen, aber ich werde sie nicht hören“ fehlt in G. Da aber der Anfang von Ez 9,1 fast identisch formuliert ist (‫)ויקרא באזני קול גדול‬, liegt die Annahme nahe, dass 8,18b in G durch homoioarcton ausgefallen ist.59 In diesem Fall könnte also der längere Text von MT einer früheren Textstufe entsprechen.

1.8 Ergebnis Nach dieser Analyse lässt sich der ursprüngliche Text von Ez 8 in V.  1.3b.5–6* .7a.9.10–13*.14–15*.16–17* und 18 rekonstruieren. Der Text bildet einen kohären58 So z.  B. Hossfeld, „Tempelvision,“ 158; Pohlmann, Hesekiel 1–19, 141. 59 So Greenberg, Ezekiel 1–20, 175; anders z.  B. Zimmerli, Ezechiel, 195, der V. 18b als Erweiterung von 9,1a versteht.

Ezechiel 8 im Rahmen des Buches 

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ten Visionsbericht, in dem ich keinen Grund sehe, weitere Schichten bzw. Fortschreibungen anzunehmen. Vor allem sehe ich keinen Grund, zwischen V. 1.3b und V. 5–18* literarkritisch zu trennen:60 Ohne V.5–18* versteht man nicht, warum der Prophet gerade an das nördliche Tor der Stadt hinübergetragen wurde und der Hinweis auf „den Ort des Eifersuchtsbilds“ bleibt ein blindes Motiv.61 Die Beschreibung, welche in V. 5–18 folgt, wurde in der Textüberlieferung stark bearbeitet und fortgeschrieben. Sie enthielt aber von Anfang an vier Rituale, die man aus literargeschichtlicher Perspektive nicht trennen kann.62 Grundschicht: V. 1 (ohne ‫)?אדני‬.633b (ohne ‫ ]?[ הפנימית‬und ‫)המקנה‬.5.6 (ohne ‫)אשׁר בית־ישׂראל‬.647a.9 (ohne ‫)הרעות‬.10aα (ohne ‫)תבנית רמשׂ ובהמה‬. 10b. 11aα (ohne ‫)ויאזניהו בן־שׁפן עמד בתוכם‬.aβ.11b (ohne ‫)ענן‬.12 (ohne ‫)בחשׁך‬.13.14–15.16 (ohne ‫)קדמה‬.17abγ.18. ‫ ויהי בשׁנה השׁשׁית בשׁשׁי בחמשׁה לחדשׁ אני יושׁב בביתי וזקני יהודה יושׁבים לפני ותפל עלי שׁם יד אדני יהוה׃‬1 ‫ ותשׂא אתי רוח בין־הארץ ובין השׁמים ותבא אתי ירושׁלמה במראות אלהים אל־פתח שׁער הפונה צפונה‬3b ‫ ויאמר אלי בן־אדם שׂא־נא עיניך דרך צפונה ואשׂא עיני דרך צפונה והנה מצפון‬5 :‫אשׁר־שׁם מושׁב סמל הקנאה‬ ‫ ויאמר אלי בן־אדם הראה אתה מהם עשׂים תועבות גדלות עשׂים פה‬6 :‫לשׁערה מזבח סמל הקנאה הזה בבאה‬ ‫ ויאמר אלי בא וראה‬9 :‫ ויבא אתי אל־פתח החצר‬7 :‫לרחקה מעל מקדשׁי ועוד תשׁוב תראה תועבות גדלות‬ ‫ ושׁבעים אישׁ‬11 :‫ ואבוא ואראה והנה כל שׁקץ מחקה סביב סביב‬10 :‫את־התועבות הרעות אשׁר הם עשׂים פה‬ ‫ ויאמר אלי הראית בן־אדם אשׁר‬12 :‫מזקני בית־ישׂראל עמדים לפניהם ואישׁ מקטרתו בידו ועתר הקטרת עלה‬ ‫ ויאמר‬13 :‫זקני בית־ישׂראל עשׂים אישׁ בחדרי משׂכיתו כי אמרים אין יהוה ראה ]?אתנו[ עזב יהוה את־הארץ‬ ‫ ויבא אתי אל־פתח שׁער בית־יהוה אשׁר אל־הצפונה‬14 :‫אלי עוד תשׁוב תראה תועבות גדלות אשׁר־המה עשׂים‬ ‫ ויאמר אלי הראית בן־אדם עוד תשׁוב תראה תועבות גדלות‬15 :‫והנה־שׁם הנשׁים ישׁבות מבכות את־התמוז‬ ‫ ויבא אתי אל־חצר בית־יהוה הפנימית והנה־פתח היכל יהוה בין האולם ובין המזבח כעשׂרים וחמׁשה‬16 :‫מאלה‬ ‫ ויאמר אלי הראית בן־אדם הנקל לבית‬17 :‫אישׁ אחריהם אל־היכל יהוה ופניהם קדמה והמה משׁתחויתם לשׁמשׁ‬ ‫ וגם־אני אעשׂה בחמה לא־‬18 :‫יהודה מעשׂות את־התועבות אשׁר עשׂו־פה והנם שׁלחים את־הזמורה אל־אפם‬ :‫תחוס עיני ולא אחמל וקראו באזני קול גדול ולא אשׁמע אותם‬ 60 So Pohlmann, Hesekiel 1–19, 132. Er erkennt allerdings zu Recht, dass diese Rekonstruktion nicht unbedingt zwingend ist: „Daß daran [scil. an Ez 8,1–3*] 8,5–18* anschloß, ist zwar möglich […].“ 61 So muss Pohlmann, Hesekiel 1–19, 123, annehmen, dass in V. 3b alles, was nach V. 8,3bα kommt (bis ‫)במראות אלהים‬, sekundär ist. Für diese Annahme gibt es allerdings kaum Gründe im Text selbst. 62 So auch z.  B. Hiebel, Vision Accounts, 113–114, allerdings mit einer anderen Rekonstruktion des Inhalts von Ez  8. Zur Stelle von Kap.  8 innerhalb von Ez 8–11 aus literarhistorischer Perspektive, s. dazu unten 3. 63 Ob der „doppelte“ Name ‫ אדני יהוה‬in MT, welcher in G einfach mit κυρίος wiedergegeben ist, eine ursprüngliche Lesart oder eine spätere Entwicklung innerhalb der hebräischen Textüberlieferung darstellt, bleibt umstritten und darf hier offenbleiben. Vgl. z.  B. Johan Lust, „The Ezekiel Text,“ in Sôfer Mahîr. Essays in Honour of Adrian Schenker. Offered by Editors of Biblia Hebraica Quinta, hg. v. Yohanan A. P. Goldman u.  a., VT.S 110 (Leiden/Boston: Brill, 2006), 153–167, 165–167. 64 Der Hinweis auf das „Haus Israels“ fehlt in G und könnte einer späteren Glosse in MT entsprechen.

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1 Und es geschah im sechsten Jahr, im sechsten Monat, am fünften Tag des Monats, während ich in meinem Haus saß, und die Ältesten Judas vor mir saßen, da fiel auf mich dort die Hand Jhwhs. 3b Der Geist hob mich empor zwischen Erde und Himmel und brachte mich nach Jerusalem, in göttlichen Visionen, an den Eingang des Tores, das sich nach Norden richtet, wo sich der Standplatz des Eifersuchtsbildes befand. 5 Und er sprach zu mir: „Menschensohn, erhebe doch deine Augen Richtung Norden.“ Und ich erhob meine Augen Richtung Norden, und siehe, nördlich vom Tor war der Altar des Eifersuchtsbildes. 6 Und er sprach zu mir: „Menschensohn, siehst du, was sie tun? Große Gräueltaten tun sie hier, um mich fern zu halten von meinem Heiligtum. Und du wirst noch größere Gräueltaten sehen.“ 7a Er brachte mich zum Eingang des Hofes, 9 und sagte zu mir: „Geh hinein und sieh die Gräueltaten, die sie hier tun!.“ 10aα.b Ich ging hinein, und ich sah; und siehe: Jedes Ungeziefer, eingeritzt auf die Wand ringsum. 11 Und 70 Männer von den Ältesten des Hauses Israel stehend vor ihnen, jeder sein Räuchergefäß in seiner Hand, und der Duft des Weihrauchs stieg auf. 12 Und er sagte zu mir: „Hast du gesehen, Menschensohn, was die Ältesten des Hauses Israel tun, jeder in der Kammer seines Bildnisses? Denn sie sagen: ‚Jhwh sieht [uns?] nicht, Jhwh hat das Land verlassen.‘“ 13 Und er sagte zu mir: „Du sollst noch größere Gräueltaten sehen, die sie tun.“ 14 Und er brachte mich zum Eingang des Tores des Hauses Jhwhs, das nach Norden (weist), und siehe, dort saßen die Frauen, die den Tammuz beweinten. 15 Und er sprach zu mir: „Hast du gesehen, Menschensohn? Du wirst noch größere Gräueltaten sehen als diese.“ 16 Und er brachte mich in den inneren Vorhof des Hauses Jahwes, und siehe, am Eingang des Tempels Jhwhs, zwischen der Vorhalle und dem Altar, waren etwa zwanzig Männer mit ihrem Rücken zum Tempel Jahwes und ihrem Gesicht nach Osten; und sie warfen sich anbetend vor der Sonne nieder. 17abγ Und er sprach zu mir: „Hast Du es gesehen, Menschensohn? Ist es dem Haus Juda zu wenig, die Gräueltaten zu tun, die sie hier tun? Siehe, sie strecken die Ranke zu ihrer Nase hin. 18 So will auch ich im Zorn handeln; und mein Auge wird mitleidig blicken, und ich werde nicht verschonen; und sie werden vor meinen Ohren mit lauter Stimme rufen, aber ich werde sie nicht hören.

2 Die Natur und Systematik der Rituale Es wurde schon häufig beobachtet, dass die in Ez 8 beschriebenen Rituale einer topographischen Steigerung entsprechen, die von außen nach innen geht. Das erste Ritual, in V. 5–6, findet vor dem „nördlichen Tor“ statt. Wie oben diskutiert, geht es hier wahrscheinlich um das nördliche Stadttor. Das zweite Ritual, V. 7–13*, spielt sich in dem äußeren Vorhof des Tempels ab, was 1 Kön 7,12 als ‫חצר הגדולה‬, „der große Hof“ bezeichnet. Das dritte Ritual, V. 14–15, ist – laut V. 14a – am nördlichen Eingang des inneren Hofs des Tempels verortet. Und das vierte und letzte Ritual, V. 16–17, findet im inneren Tempelhof statt. Diese topographische Stei­gerung scheint z.  T. einer Steigerung in der Schändlichkeit dieser Rituale zu ­entsprechen, da zumindest das letzte Ritual (V. 16–17) mit der folgenden Aussage eingeführt wird: „Du wirst noch größere Gräueltaten sehen als diese“

Ezechiel 8 im Rahmen des Buches 

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(V. 15b).65 Sehr umstritten ist dagegen die Frage, ob eine engere Systematik diese vier Rituale verbindet – und wenn ja, welche. Diese Frage lässt sich allerdings nur durch eine genauere Analyse der Rituale selbst beantworten.

2.1 Das „Eifersuchtsbild“ und sein Altar (V. 3b und 5–6) Die erste Szene ist nur sehr vage beschrieben. V. 3bδ – der in V. 5–6 vorausgesetzt ist – weist auf ein „Bildnis“ (‫)סמל‬, wahrscheinlich eine Statue oder eventuell eine Stele.66 Diese Statue steht anscheinend am Eingang des nördlichen Tores der Stadt, wenn man der Lesart von G in V. 3b folgt (s.  o.). V. 5 erwähnt seinerseits einen Altar für diese Statue, der auch mit dem nördlichen Tor in Verbindung steht. Rituelle Praxen im Zusammenhang mit dem Bildnis von V. 3b und dem Altar von V. 5b sind nicht weiter beschrieben. Die Erwähnung einer Statue oder einer Stele zusammen mit einem Altar am Stadttor entspricht allerdings dem Befund der materiellen Kultur Israels, in der ähnliche kultische Objekte für die Eisenzeit IIB und C gut belegt sind.67 So hat man z.  B. in Bethsaida Stratum 5 vor dem Stadttor in Area A ein Podium, eine ikonische Stele des Mondgottes, vier anikonischen Stelen, ein Becken sowie unterschiedliche Gefäße gefunden; die Gefäße (Dreifußschalen) wurden in die Eisenzeit IIB datiert.68 In zumindest einem Kontext, Ḥorvat ‘Uza (Khirbet Gazzeh), aus dem 7. Jahrhundert sind Residuen von

65 Wie richtig z.  B. von Römer, „Cultes,“ 126, bemerkt: „Il y a apparemment sur le plan de l’espace un rapprochement progressif du temple, ce qui peut expliquer que les différentes activités soient présentées comme allant de pire en pire.“ 66 Der allgemeine Sinn von ‫ סמל‬ist „Bildnis,“ „figürliche Darstellung,“ vgl. Dtn 4,16 (‫פסל תמונת‬ ‫ )כל־סמל‬und HALOT, 760. Die westsemitischen (vor allem phönizischen) Belege für sml im 1. Jahrtausend v. Chr. weisen vor allem auf eine Statue: DNWSI, 792–793 (sml I); vgl. auch Ackerman, Popular Religion, 56–57. Allerdings passt diese Deutung nicht für alle Belege, vgl. dazu Christoph Dohmen, „Heißt ‫› ֶס ֶמל‬Bild, Statue‹?,“ ZAW 96 (1984): 263–266. Dohmen schlägt deswegen vor, ‫ סמל‬mit „beigestelltes Kultobjekt“ zu übersetzen (a.a.O., 265): s-m-l ist „im Bereich der Bilderterminologie kein Wesens-, sondern ein funktionaler Begriff […]“ (a.a.O., 266). Vgl. auch Silvia Schroer, In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament, OBO 74 (Freiburg, Schweiz/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht, 1987), 26–28. Dazu ist auch zu bemerken, dass aus archäologischer Perspektive Stelen im Kontext von kultischen Zusammenstellungen am Stadttor besser belegt sind als Statuen, vgl. Tina Haettner Blomquist, Gates and Gods. Cults and City Gates of Iron Age Palestine. An Investigation of the Archaeological and Biblical Sources, CB.OT 46 (Stockholm: Almqvist & Wiksell International, 1999). Von daher kann man nicht ausschließen, dass ‫ סמל‬in Ez 8,3b.5 eine Stele bezeichnet, wie es G (στήλη) versteht. 67 Blomquist, Gates, 47–131. 68 Dazu ausführlich Blomquist, Gates, 51–57.

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gebrannten Tieren in Verbindung mit kultischen Zusammenstellungen am Stadttor belegt;69 für andere Kontexte weisen die Gefäße eher auf Trank-, Räucher- und Speiseopfer hin.70 Kultische Komplexe an den Toren der Stadt sind auch in einigen Stellen des ATs erwähnt, wie z.  B. 2 Kön 23,8, wo auf die ‫„( במות השׁערים‬Heiligtümer der Tore“) hingewiesen wird.71 Allerdings bleibt es schwierig, weitere Informationen aus dem Text von Ez 8 zu gewinnen. Die Erwähnung der Statue als ‫ סמל הקנאה‬in V. 3b und 5b weist sicherlich auf die Repräsentation einer Gottheit, da andernorts im AT das Motiv der „Eifersucht“ Jhwhs mit der Verehrung von Göttern (vor allem von anderen Göttern) eng verknüpft ist.72 Die Identifikation dieser Gottheit im Kontext von Ez 8 bleibt allerdings umstritten. 2 Chr 33,7 redet von der Erstellung eines ‫פסל הסמל‬ durch Manasse, wobei die parallele Stelle in 2 Kön 21,7 ‫ פסל האשׁרה‬liest. 2 Chr 33 scheint also eine Identifikation von ‫„ סמל‬Statue“ mit Aschera zu belegen, wie es mehrere Autoren annehmen.73 Dazu ist zu bemerken, dass G für ‫ סמל הקנאה‬in MT ἡ στήλη τοῦ κτωμένου liest; da ktáomai in der LXX üblicherweise ‫ קנה‬übersetzt,74 scheint G in Ez 8,3b die Wurzel ‫( קנה‬mit ‫ )ה‬statt ‫( קנא‬mit ‫ )א‬zu lesen. Von daher haben Autoren wie M. Dijkstra und H.C. Lutzky angenommen, dass V. 3 ursprünglich ‫( הקניה‬ha-qāniyāh), „die Schöpferin,“ statt ‫( הקנאה‬ha-qin’āh) „Eifersucht,“ wie in MT, las.75 Qāniyāh ist in der Tat als Epitheton für Athirat in Ugarit belegt, wo die Göttin als qnyt ’lm „Schöpferin der Götter“ in KTU 1.4 bezeichnet wird.76 Der semel ha-qāniyāh, wenn man den masoretischen Text von Ez 8,3 mit Hilfe von G so korrigiert, würde also eine Statue bzw. eine Stele von Aschera als Schöpfergöttin beschreiben. Diese Rekonstruktion ist allerdings nicht unproblematisch. Der – im AT sonst nicht belegte – Ausdruck ‫ סמל הקנאה‬lässt sich gut als Hinweis auf Texte wie Ex 20,5 und Dtn 5,9 deuten, wie oben bemerkt; dass G mit ἡ στήλη τοῦ κτωμένου eine ältere Lesart als MT bewahrt, ist demnach fraglich. Weiter ist unklar, ob Aschera in der späten Eisenzeit noch als Schöpfergöttin

69 Blomquist, Gates, 98–100. 70 Blomquist, Gates, 113 und passim. 71 Ausführlich dazu Blomquist, Gates, 151–207. 72 Vgl. Ex 20,3–5; 34,14; Dtn 5,7–9. Zur Beziehung von Ez 8,3b.5b zu diesen Stellen, s.  o. 1.1. 73 Vgl. u.  a. Eichrodt, Ezekiel, 122; Ackerman, Popular Religion, 60–61. Kritisch dagegen z.  B. Zimmerli, Ezechiel, 214. 74 Vgl. Gen 4,1; 25,10; 33,19; 39,1 usw. 75 Dijkstra, „Goddess,“ 91–93; Harriet C. Lutzky, „On the ‚Image of Jealousy‘ (Ezekiel VIII 3,5),“ VT 46 (1996): 121–125, 123–124; vgl. auch Blomquist, Gates, 170–171. 76 Der Titel ist für Athirat fünfmal auf der vierten Tafel des Baal-Zyklus belegt: vgl. KTU 1.4 I 22; 1.4 III 26; 1.4. III 30; 1.4 III 35; 1.4 IV 33. Man findet es auch einmal in KTU 1.8 (vgl. KTU 1.8 II 2), welcher Exzerpte aus KTU 1.4 enthält.

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verehrt wurde (was Dijkstra und Lutzky gar nicht wahrnehmen). Der Beleg von 2 Chr 33,7 ist zwar interessant, aber auch nicht unbedingt entscheidend, da diese Stelle schon von Ez 8 beeinflusst sein könnte.77 Allerdings sind andere Deutungen an der Stelle kaum überzeugend,78 sodass die Annahme, der Ausdruck ‫סמל הקנאה‬ in Ez 8,3b und 5b bezeichne eine Statue oder eine Stele von Aschera, vermutlich die beste Erklärung darstellt.79 Zusammenfassend: Die Gottheit, die durch das ‫ סמל הקנאה‬repräsentiert ist, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit identifizieren. Wahrscheinlich ist, dass die Leser von Ez 8 diese Gottheit primär mit der Göttin Aschera identifiziert hatten, und diese Deutung ist vermutlich in 2 Chr 33,7 reflektiert. Die Erwähnung einer Statue (oder eventuell einer Stele) sowie eines Altars in der Nähe des Stadttors hat Parallelen in der materiellen Kultur der Eisenzeit IIB und C; für rituelle Praxen in diesem kultischen Zusammenhang gibt der Text von Ez 8 leider keine weitere Indizien. Wichtiger scheint mir allerdings die theologische Aussage, welche der Text trifft. Mit dem polemischen Hinweis auf ein göttliches Bildnis sowie auf einen Altar werden hier zwei wesentliche Aspekte der nachexilischen Kritik gegen die traditionelle Religion Israels zusammenfassend kombiniert: die Kritik der Gottesbilder einerseits, und die Polemik gegen die Mehrheit der Kultsorte andererseits. Der erste Aspekt entspricht dem Bildverbot, der zweite der Kultzentralisation.

77 Auf jedem Fall kann es sich in Ez 8,3b.5b nicht um dasselbe Bild von Aschera handeln, die in 2 Kön 21,7 (und 2 Chr 33,7) erwähnt wird, da die Statue von Ez 8 neben dem Eingang des nördlichen Stadttores aufgestellt ist (s.  o.), wobei das Ascherabild von Manasse innerhalb des Tempels lag. 78 Franz Sedlmeier, Das Buch Ezechiel. Kapitel 1–24, NSK.AT 21/1 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2002), 140, denkt an Schutzgötter wie die lamassu in Mesopotamien. Er folgt einem früheren Vorschlag von Zimmerli, Ezechiel, 214–215. Dagegen ist allerdings zu bemerken, dass die lamassu und ähnliche Wächterfiguren gewöhnlich paarweise auftreten und den Durchgang eines Tores flankieren; vgl. dazu schon Schroer, Bilder, 28. Allerdings haben sie in der Regel keinen Altar. Für Römer, „Cultes,“ 129–131, geht es in Ez 8,3b und 5b um eine Statue von Jhwh selbst. Dass es eine solche Statue innerhalb des Tempels gab, ist zwar möglich (obwohl auch nicht ganz sicher), für eine Statue von Jhwh am Stadttor haben wir allerdings m.  E. gar keinen Beleg. Margaret S. Odell, „What Was the Image of Jealousy in Ezekiel 8?,“ in The Priests in the Prophets. The Portrayal of Priests, Prophets and Other Religious Specialists in the Latter Prophets, hg. v. Lester L. Grabbe und Alice Ogdon Bellis, JSOTS 408 (London/New York: T&T Clark, 2004), 134–148, interpretiert das „Eifersuchtsbild“ von Ez 8,3 als Hinweis auf Votivbilder von Jungen, die als Substitut für das in Ez 20,26 kritisierte Kinderopfer dienten. Für solche Votivbilder haben wir auch keinen Beleg und diese Interpretation bleibt ganz spekulativ. 79 Vgl. auch z.  B. Blomquist, Gates, 169–174.

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2.2 Die 70 Ältesten und das Weihrauchritual (V. 7–13*) Die zweite Szene, in V. 7–13*, ist ausführlicher beschrieben, ihre Deutung bleibt dennoch nicht weniger schwierig. In der Exegese wurde das Verbrennen von Weihrauch fast ausschließlich als kultisches Opfer für die Wesen, die auf den Stelen repräsentiert sind, interpretiert. Da die Opferung von Weihrauch an unterschiedliche Tiere, samt Reptilien (wie die Schlange) oder Insekten (wie der Skarabäus), vor allem in Ägypten belegt ist, hat man häufig an ägyptische Rituale gedacht, die in Ez 8,7–13 kritisch erwähnt wären.80 In der Tat ist die Opferung von Weihrauch an solche Tiere auf Stelen und an Wänden in einzelnen Kapellen zumindest seit dem Neuen Reich belegt. Es gibt trotzdem einige Probleme mit dieser Interpretationslinie, die schon 2007 von R. Schurte in Frage gestellt wurde.81 Einerseits basiert diese Interpretation vor allem auf der Erwähnung in V. 10a von „allerlei Abbildung von Gewürm und Viehzeug“ (‫)כל־תבנית רמשׂ ובהמה שׁקץ‬, die allerdings in G fehlt und wahrscheinlich sekundär ist, wie oben schon diskutiert wurde.82 Andererseits ist zu bemerken, dass der Hinweis auf ägyptische Rituale schlecht in den Kontext von Ez 8,7–13 passt. Laut V. 12 ist das Ritual der Ältesten deutlich mit einer Notlage verbunden: Die Ältesten verbrennen Weihrauch, weil Jhwh „nicht sieht“ und das Land „verlassen“ hat; das Verb ‫ עזב‬hat im Kontext wahrscheinlich nicht nur einen theologischen, sondern vor allem einen rechtlichen Sinn, wie jüngst von J. Kemp argumentiert wurde.83 Die rituelle Opferung von Weihrauch an Tiere und Götter gehört aber in Ägypten zum gewöhnlichen Kult; für ihren Gebrauch in Notlagen – wie die, auf welche 8,12 deutlich hinweist – gibt es m.  E. kaum Belege. Außerdem ist zu bemerken, dass die Opferterminologie in dem Text völlig fehlt und dass das Verbrennen von Weihrauch in Pfannen (‫ )מחתות‬im AT keinesfalls nur als Opferung dient. Das ist zwar der Fall in zwei Stellen (Lev 10,1 und 2Chr 26,19 [mit ‫)]מקטרת‬, aber andere Stellen erwähnen vielmehr eine apotropäische Funktion für das Verbrennen von Weihrauch in Pfannen. So muss in

80 So vor allem Schroer, Bilder, 71–75; Othmar Keel, „Zeichensysteme der Nähe Gottes in den Büchern Jeremia und Ezechiel,“ in Gottes Nähe im Alten Testament, hg. v. Gönke Eberhardt und Katrin Liess, SBS 202 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2004), 30–64, 44; Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, OLB IV/1 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007), § 936 (mit Abb. 474–477). Weiter z.  B. Jill Anne Middlemas, The Troubles of Templeless Judah, OTM (Oxford u.  a.: Oxford University Press, 2005), 114. Die Annahme ist allerdings älter, vgl. z.  B. Eichrodt, Ezekiel, 123–125 („clandestine Egyptian cult“). 81 Schurte, „Räucherkult,“ insb. 416–419; vgl. auch Römer, „Cultes,“ 128–129. 82 S.  o. 1.4. 83 Michael Kemp, „Renounced and Abandoned. The Legal Meaning of ‫ עזב‬in Ezekiel 8:12 and 9:9,“ CBQ 79 (2017): 593–614.

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Lev 16 Aaron Weihrauch in einer Pfanne verbrennen, damit er nicht stirbt, wenn er das Allerheiligste betritt (Lev 16,12–13);84 und in Num 17 wird beschrieben, wie Aaron die Gemeinde vor einer Plage schützt, indem er Weihrauch in einer Pfanne in der Mitte der Gemeinde verbrennt (Num 17,11–13). Von daher darf man die Frage stellen, ob sich das Ritual von Ez 8 nicht besser als apotropäisches Ritual beschreiben lässt. Die Beschreibung hat vor allem in den mesopotamischen NAMBÚR.BI Löseritualen eine Parallele, wie von R. Achenbach schon z.R. bemerkt wurde.85 Die bösen Kräfte, von denen man versucht, sich mit Hilfe der Namburbi-Rituale zu lösen, sind durch unterschiedliche Vorzeichen (Omina) angekündigt, die den Menschen oder sein Haus betreffen.86 Die dort geschilderten negativen Vorzeichen umfassen ein sehr breites Spektrum von Phänomenen (vor allem irdische Phänomene) und eine Reihe davon besteht aus dem Verhalten von Tieren, vor allem von Reptilien (wie der Eidechse), Amphibien (wie der Frosch), Insekten und Würmern87 – also genau das semantische Feld von ‫ שקץ‬in Ez 8. Das Namburbi-Ritual selbst erfordert häufig die Erstellung eines Substituts, vor allem in Form von einem Figürchen (manchmal werden auch Zeichnungen erwähnt), welches dazu dient, das Vorzeichen im Lauf des Rituales zu repräsentieren; i.  d.  R. wird dann das Böse auf dieses Substitut transferiert, bevor das Substitut beseitigt oder zerstört wird. Letztlich ist zu bemerken, dass ein wichtiger Teil des Rituals die Reinigung des betroffenen Menschen (bzw. seines Hauses) betrifft, wobei das Verbrennen von unterschiedlichen Weihraucharten eine gewisse Rolle spielen kann.88 Diese Bemerkungen bedeuten zwar noch nicht, dass Ez 8,7–13 ein NamburbiRitual beschreibt, wie es Achenbach annimmt; für diese Annahme wäre meiner

84 Vgl. schon Lev 16,2. Zur Funktion des Weihrauchs in Lev 16, s. meine Diskussion in Christophe L. Nihan, From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus, FAT II/ 25 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007), 375–379. 85 Vgl. Reinhard Achenbach, Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, BZAR 3 (Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2003), 82–90, insb. 84–88. Diesem folgte jüngst Katharina Pyschny, Verhandelte Führung. Eine Analyse von Num 16–17 im Kontext der neueren Pentateuchforschung, HBS 88 (Freiburg u.  a.: Herder, 2017), 209. Eine apotropäische Funktion des Weihrauchs im Kontext von Ez 8,7–13 wird auch von Block, Ezekiel 1–24, 293, vermutet. 86 Ausgabe und Übersetzung ausgewählter Texte in Stefan M. Maul, Zukunftsbewältigung. Eine Untersuchung altorientalischen Denkens anhand der babylonisch-assyrischen Löserituale (Namburbi), BaF 18 (Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 1994), 227–506. 87 Für eine Charakterisierung dieser Texte und der entsprechenden rituelle Vorfahren, vgl. Maul, Zukunftsbewältigung, 1–226. 88 Vgl. z.  B. das sog. „Echsen-Namburbi“ (K 3365, STT n. 63) in Maul, Zukunftsbewältigung, 305–311.

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Meinung nach eine stärkere Evidenz nötig. Aber die Namburbi-Rituale bieten einen kohärenten Kontext, um das Verbrennen von Weihrauch in Ez 8,7–13* als Teil eines Löserituals zu verstehen. Wenn man dieser Interpretation folgt, wäre der Ausdruck ‫ כל־שקץ‬in Ez 8 nicht als polemischer Hinweis auf die Empfänger des Weihrauchs zu verstehen, sondern als konkrete Bezeichnung für böse Wesen, von denen die Ältesten versuchen, sich mit Weihrauch zu schützen und zu lösen. Die Not, sich vor solchem Bösen zu schützen, entsteht daraus, dass Jhwh das Land „verlassen“ hat, wie es V. 12 ausdrücklich sagt, d.  h., der Stadt- und Landesgott setzt sich nicht mehr (aus der Perspektive der Ältesten) für sein Gebiet ein. Nur in einer späteren Phase der Überlieferung des Textes, die in dem längeren und deutlich überarbeiteten Text von MT reflektiert ist, wurde das Verbrennen von Weihrauch als Opferung an die Wesen, die von den Ältesten repräsentiert werden, gedeutet.89 Selbstverständlich ist dieses Ritual ganz anders als dasjenige, welches in V. 3b und 5–6 beschrieben ist. Obwohl dieser Punkt kaum bemerkt wurde, besteht allerdings eine Beziehung zwischen beiden Stellen, insofern sie auf den rituellen Gebrauch von Bildern hinweisen: Ein „Bildnis“ (‫ )סמל‬in V. 3b, wahrscheinlich in der Form einer Statue oder einer Stele (so G), Ritzzeichnungen, auf Stelen oder auf Wände, von unterschiedlichem „Ungeziefer“ in Ez 8,10. In MT wird diese Beziehung noch deutlicher gemacht, indem V. 10 mit Dtn 4,17–18 ergänzt wurde (s.  o.). Ez 8,3b (sowie 8,5 in MT) hat ihrerseits eine Parallele in Dtn 4,16, wo das hebräische Wort semel das erste – und eben einzige – Mal vor Ez 8 auftritt. In dieser Weise werden in dem masoretischen Text (MT) die zwei ersten Visionen im Lichte des Bildverbots von Dtn 4,16–18 systematisch gedeutet.

2.3 Die Frauen, die den Tammuz beweinen (V. 14–15) V. 14 beschreibt Frauen, die am Eingang des Tempelhofs sitzen und „Tammuz“ (Sumerisch Dumuzi) beklagen. Der Artikel vor Tammuz (‫ )התמוז‬wurde unterschiedlich erklärt. Manchmal hat man vorgeschlagen, dass ha-Tammuz nicht den Gott selbst bezeichnet, sondern eher ein technischer Begriff für die TammuzLiturgie wäre (etwa wie „der Tammuz-Gesang“).90 Das Problem dieser Erklärung 89 Der Versuch von Ackerman, Popular Religion, 67–79, die ganze Szene von Ez 8,7–13 als Beschreibung eines marzēaḥ zu deuten, stellt mehrere Probleme und hat (m.  E. zu Recht) keine Zustimmung gefunden. Für eine ausführliche Kritik, vgl. John L. McLaughlin, The Marzēaḥ in the Prophetic Literature. References and Allusions in Light of the Extra-Biblical Evidence, VT.S 86 (Leiden: Brill, 2001), 202–205; auch Dijkstra, „Goddess,“ 94–97. 90 So Block, Ezekiel 1–24, 295.

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liegt darin, dass ein solcher Gebrauch für ‫ בכה‬im AT sonst nie belegt ist; ‫ בכה‬mit ‫ את‬heißt immer eine Person bzw. eine Sache beklagen.91 Eine bessere Erklärung ist die Annahme, dass ‫ התמוז‬mit Konstruktionen wie ‫ האשרה‬oder ‫ הבעל‬vergleichbar ist: Der Artikel signalisiert, dass es um einen Gattungsnamen geht, der, sowie der Gott selbst, sein Kultobjekt bezeichnen kann.92 In der Regel hat man angenommen, dass Tammuz hier als ein Gott beklagt wird, der die sterbende und wiedererstehende Vegetation repräsentiert.93 Allerdings ist die Beziehung von Tammuz mit der wiedererstehenden Natur nicht so klar und unkompliziert, wie sie früher vermutet wurde. Im 1. Jahrtausend v. Chr., genauer in der neuassyrischen Zeit, war die rituelle Beweinung des Tammuz auch auf die Beweinung der Angehörigen bezogen, indem man Opfer für die Götter der Unterwelt und Speisen für die Verstorbenen der Familie darbrachte.94 Der Text von Ez 8,14, welcher die rituelle Beweinung des Tammuz von Frauen erwähnt, weist sicherlich auf diesen Aspekt des Rituals hin.95 Allerdings war die Beweinung der Angehörigen eng mit einem weiteren Aspekt verknüpft, wie es vor allem W. Farber und in neuerer Zeit S. Maul betont haben:96 Die rituelle Beweinung des Tammuz stellte auch die Gelegenheit dar, um Krankheiten und andere böse Kräfte, welche die Lebenden belasten, zu beseitigen. In einigen Ritualen wird der zweite Aspekt (die Auflösung des Bösen) im Zusammenhang mit dem Mythos von Ischtar und

91 Römer, „Cultes,“ 128, schlägt vor, dass ha-Tammuz nicht den Gott selbst sondern „des jeunes gens morts prématurément“ bezeichnen würde. Die Annahme scheint mir allerdings kaum beweisbar und die Parallele, die von Römer a.a.O. – Jhwh h-tmn („Jhwh-aus-Temân“) in den Inschriften von Kuntillet ‘Ajrud – erwähnt wird, hat mit Ez 8,14 wenig zu tun. 92 So z.  B. Dijkstra, „Goddess,“ 98 Anm.  50. Zu dieser Konstruktion, vgl. Christian Frevel, Aschera und der Ausschließlichkeitsanspruch YHWHs. Beiträge zu literarischen, religionsgeschichtlichen und ikonographischen Aspekten der Ascheradiskussion, Bd.  2, BBB 94 (Weinheim: Beltz Athenäum, 1995), 626. 93 Vgl. z.  B. Zimmerli, Ezechiel, 218–220; Eichrodt, Ezekiel, 125–126; Dijkstra, „Goddess,“ 99–100; ausführlich Ackerman, Popular Religion, 82–93. 94 S. dazu zusammenfassend Bendt Alster, „Tammuz,“ in Dictionary of Deities and Demons. Second Extensively Revised Edition, hg. v. Karel van der Toorn u.  a. (Leiden/Grand Rapids: Brill/ Eerdmans, 1999), 828–834, 832–833; weiter vor allem Karel van der Toorn, From Her Cradle to Her Grave. The Role of Religion in the Life of the Israelite and the Babylonian Woman, übers.  v. Sara J. Denning-Bolle, BiSe 23 (Sheffield: Academic Press, 1994), 192–194; jüngst Michael M. Fritz, „… und weinten um Tammuz.“ Die Götter Dumuzi-Amaʾušumgʾalanna und Damu, AOAT 307 (Münster: Ugarit-Verlag, 2003), 346–351.365 (mit Anm. 1581), mit weiterer Literatur. 95 So z.  B. auch Römer, „Cultes,“ 127–128. 96 S. dazu Walter Farber, Beschwörungsrituale an Ištar und Dumuzi. Attī Ištar ša ḫarmaša Dumuzi, VOK 30 (Wiesbaden: Steiner, 1977); Stefan M. Maul, „Altorientalische Trauerriten,“ in Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, hg. v. Jan Assmann u.  a. (Göttingen: Wallstein Verlag, 2005), 359–372, 368–371. Vgl. auch Fritz, Götter, 346–351.

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Dumuzi bzw. Tammuz gebracht. So erklärt z.  B. eine Ritualanweisung aus dem 1. Jahrtausend v. Chr.: „Im Monat Du’uzu (Tammuz), wenn Ischtar um Dumuzi, ihren Liebhaber, die Leute des Landes weinen lässt – die Familie eines jeden Mannes ist am (jeweils) entsprechenden Ort versammelt – tritt Ischtar herbei und befaßt sich mit den Angelegenheiten der Leute. Sie nimmt Krankheit weg, sie bereitet Krankheit.“97

Die zwei Aspekte des Rituals  – die Versorgung der toten Angehörigen und die rituelle Beseitigung des Bösen – waren im ersten Jahrtausend deutlich verbunden, sodass die Fahrt von Dumuzi in die Unterwelt eine zunehmende „exorzistische“ Dimension bekam, wie es B. Alster formuliert: „In the first millenium BCE, the death of Dumuzi became the climax of his cult. His journey to the netherworld became symbolic of exorcistic rituals aimed at the removal of everything evil“.98 In dieser Hinsicht gibt es eine inhaltliche Beziehung zwischen der rituellen Beweinung des Tammuz in V.  14–15 und dem Verbrennen von Weihrauch in V.  7–13: beide Rituale sind mit dem Schutz vor  – bzw. Auflösung von  – bösen Kräften beschäftigt.99

2.4 Die 20 Männer, die sich vor Šamaš niederwerfen (V. 16–17) Die Szene in V. 16 beschreibt ganz deutlich eine rituelle Verehrung der Sonne im Tempelhof; wie schon bemerkt, ist das Halten einer Ranke an der Nase in V. 17bγ auch als Verehrungsritus zu verstehen, der zu dem Ritual von V.  16 gehört.100 Wegen der Orientierung nach Osten sollte man annehmen, dass es hier genauer um die Verehrung der Sonne am Morgen geht. Im alten Vorderen Orient ist dieses Motiv traditionellerweise mit Errettung verbunden, da die Sonne am Morgen den Sieg über die Mächte der Finsternis symbolisiert.101

97 Farber, Beschwörungsrituale, 140; weiter Maul, „Trauerriten,“ 370. 98 Alster, „Tammuz,“ 832; zu diesem Aspekt vgl. auch Maul, „Trauerriten,“ 370–371; Fritz, Götter, 346–351, insb. 347–348. 99 Die Frage der Entwicklung dieser Aspekte des Tammuzkults vor der neuassyrischen Zeit ist komplex, vgl. dazu Fritz, Götter, 361–368, insb. 365–368. Gemäß seiner Analyse hätte diese Entwicklung ihren Ursprung in der Integration Dumuzis innerhalb der königlichen Genealogien der Dynastien von Isin und Larsa seit der Ur III-Zeit. 100 S.  o.1.7. 101 Umfassend dazu Bernd Janowksi, Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament, Bd. 1, Alter Orient, WMANT 59 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1989).

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Auf Basis der ikonographischen sowie der textlichen Evidenz für die Verehrung Jhwhs als Sonnengott in der neuassyrischen Zeit wird häufig angenommen, dass Ez 8 hier gegen eine solche solarisierte Form des Kults von Jhwh polemisiert.102 Diese Annahme ist durchaus möglich. Allerdings ist zu bemerken, dass an anderen Stellen des Buches – wie vor allem Ez 43,1–9*, wo der kabôd Jhwhs von Osten den Tempel betritt  – die solare Repräsentation Jhwhs gar nicht so kritisch rezipiert wird.103 Die Zahl von „20“ in G (die hier vorzuziehen ist) ist in einer mesopotamischen Tafel des 1. Jahrtausend als Ideogramm von Šamaš erklärt,104 sodass man zumindest die Frage stellen kann, ob die Polemik hier nicht vielmehr gegen den babylonischen Gott Šamaš (eher als gegen eine solarisierte Form von Jhwh) gerichtet ist. Diese Annahme wird außerdem durch die Beschreibung von Ez 8,16 betont, da die Männer dem Tempel den Rücken zuwenden, um die Sonne zu verehren.105 Wichtig ist jedenfalls die Bemerkung, dass die Beziehung zwischen Dumuzi bzw. Tammuz und Šamaš traditionell ist. Diese Beziehung ist in Mesopotamien sehr früh belegt und ist z.  B. in dem Sumerischen Gedicht „Der Traum von Dumuzi“ gut dokumentiert. In dem Gedicht wird erzählt, wie Dumuzi den Gott Utu (= Šamaš) anrief, um Dämonen zu entkommen: „Utu, you are my brother-in-law, I am your sister’s husband! (…) Please change my hands into gazelle hands, change my feet into gazelle feet, so I can escape to the holy sheepfold, my sister’s sheepfold. Utu accepted his tears“ (Z. 227–235).106 In diesem Kontext ist weiterhin zu bemerken, dass Šamaš als Sonne- und Richtergott eine zentrale Rolle in der mesopotamischen

102 Umstritten ist allerdings, ob diese solarisierte Verehrung Jhwhs neuassyrischen oder eben ägyptischen Einfluss widerspiegelt (möglicherweise durch Phönizien vermittelt) oder ob sie primär eine lokale, westsemitische Entwicklung darstellt. Für eine Übersicht, vgl. Ackerman, Popular Religion, 93–99. Zur Antiquität des solaren Kults in Jerusalem, vgl. vor allem Othmar Keel und Christoph Uehlinger, „Jahwe und die Sonnengottheit von Jerusalem,“ in Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte, hg. v. Walter Dietrich und Martin A. Klopfenstein, OBO 139 (Freiburg/Göttingen: Universitätsverlag/Vandenhoeck & Ruprecht, 1994). Das schließt natürlich keinesfalls aus, dass die Verehrung Jhwhs als Sonnengott in der Eisenzeit II neuassyrische sowie ägyptische Einflüsse widerspiegelt. 103 Zur solaren Darstellung Jhwhs in Ez  43,1–9, vgl. Konkel, Architektonik, 264–265; letztlich Koch, Wohnstatt, 179–182. Zur Beziehung von Ez 8 (und Ez 8–11* insgesamt) zu Ez 43, s. unten. 104 Nahum M. Sarna, „Psalm XIX and the Near Eastern Sun-God Literature,“ in World Congress of Jewish Studies 4/1 (Jerusalem: World Union of Jewish Studies, 1967), 171–175, 175; vgl. auch Römer, „Cultes,“ 126. 105 Steve A. Wiggins, „Yahweh. the God of Sun?,“ JSOT 71 (1996): 89–106, 103; Block, Ezekiel 1–24, 298. 106 Übersetzung nach „The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature“ (www.etcsl.orinst. ox.ac.uk).

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Tradition der Löserituale (wie die Namburbi-Rituale) spielt.107 In diesen Ritualen wird er ständig als der häufigste (obwohl nicht der einzige) Gott angerufen, welcher die Auflösung des betroffenen Menschen verwirklichen kann. Im Blick auf diese Bemerkungen sollte es also klar sein, dass die Beschreibung in Ez 8 der Verehrung von Šamaš gerade nach der rituellen Beweinung von Tammuz kein Zufall ist: Es gibt im Gegenteil einen engen Zusammenhang zwischen den beiden Ritualen. Dieser Zusammenhang wird noch dadurch unterstrichen, dass beide Rituale in demselben Raum stattfinden, namentlich, im Bezirk des Tempelhofs. Ich fasse jetzt diese Analyse zusammen. Eine einzige, gemeinsame Thematik ist m.  E. in den vier Ritualen, die in Ez 8 beschrieben sind, nicht zu finden. Diese Rituale sind zu unterschiedlich, um eine solche Annahme zu erlauben. Der Versuch von T. Gaster108 und, neuerdings, von M. Nobile109 und M. Dijkstra,110 die allgemeine Logik der Beschreibung auf Basis des chronologischen Datums in V. 1 zu erklären, kann nicht überzeugen: Ein Fest am 5. Tag des 6. Monats ist im AT – oder eben in der westsemitischen Welt – sonst nie belegt und es ist unwahrscheinlich, dass die in Ez 8 beschriebenen vier Rituale Teil eines einzelnen Festes waren. Andere Vorschläge, die eine thematische Einheit in der Beschreibung von Ez 8 suchen, sind ebenfalls schwierig und problematisch.111 Aufgrund dieser Probleme gehen die meisten Forscher davon aus, dass Ez 8 aus vier unzusammenhängenden Ritualen besteht.112 Die Stellungnahme erklärt allerdings nicht, warum besonders diese vier Rituale ausgewählt wurden. Mehrere Autoren vermuten, Ez 8 sei eine Art von „Katalog“ der schlimmsten Götzenverehrungen, die dem Propheten Ezechiel bekannt waren – eine These, die vor allem 107 Vgl. dazu Maul, Zukunftsbewältigung, 60–72 und passim. 108 Theodor H. Gaster, „Ezekiel and the Mysteries,“ JBL 60 (1941): 298–310. Für diese Annahme, vgl. auch Herbert Gordon May, „The Departure of the Glory of Yahweh,“ JBL 37 (1937): 309–321. 109 Marco Nobile, „Lo sfondo cultuale di Ez 8–11,“ Anton. 56 (1983): 185–200. 110 Dijkstra, „Goddesses,“ insb. 113–114. Er deutet die Rituale von Ez 8 als eine Art von Vorläuferfest des späteren Sukkots. 111 Ziony Zevit, The Religions of Ancient Israel. A Synthesis of Parallactic Approaches (London/ New York: Continuum, 2001), 559–560; Odell, „Image,“ 134, verstehen Ez 8 als ein Ritual, um die Rückkehr von Jhwh zu veranlassen. Diese Erklärung setzt allerdings voraus, dass alle vier Rituale in einem gewissen Sinne auf den Kult Jhwhs in Jerusalem bezogen sind, was die vorige Analyse nicht bestätigt. Römer, „Cultes,“ insb. 131, schlägt seinerseits vor, dass alle vier Rituale von Ez 8 durch die Themen der Präsenz Jhwhs in seinem Tempel und der Rückkehr des Gottes verknüpft sind. Diese Deutung ist zwar für das zweite Ritual relevant (vgl. V. 12), weniger für die anderen Rituale. Vor allem für V. 3b.4–5 ist diese Lektüre problematisch, da Römer annehmen muss, dass es hier um die Statue Jhwhs geht. Vgl. oben Anm. 78. 112 Vgl. schon Zimmerli, Ezechiel, 211–212 („So wird man darauf verzichten, hinter den vier Greueln von Ez 8 ein kultisches Gesamtgeschehen zu finden […]“); und jüngst z.  B. McLaughlin, Marzēaḥ, 200.

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Fig. 1: Ritualassoziationen und Systematik von Ez 8.

von S. Ackerman vertretet wurde.113 Die These setzt aber voraus, dass Ez 8 „historische“ Rituale aus dem späten 7. oder frühen 6. Jahrhundert beschreibt, was fraglich ist (s.  u.); und sie erläutert auf jedem Fall noch nicht die Struktur des Textes: Warum wurden die vier Rituale von Ez 8 so arrangiert? Die vorige Analyse weist eher darauf hin, dass die Ausgestaltung der Rituale aus unterschiedlichen thematischen Assoziationen besteht (vgl. Fig. 1). Die erste Szene (V. 5–6) hat den rituellen Gebrauch von Bildern mit dem zweiten (V. 7–13*) gemeinsam. Die Beziehung zwischen dem zweiten und dem dritten Ritual besteht aus der rituellen Auflösung von bösen Kräften, entweder durch die Verbrennung von Weihrauch (V. 7–13*) oder durch die Beweinung des Tammuz (V. 14–15). Die Tradition von Tammuz war selbst eng mit der Anrufung des Sonnengottes als Richter- und Erlösergott bezogen (V. 16–17), was die Reihenfolge des dritten und vierten Rituals konsequent erklärt. Eine ähnliche Technik, die unterschiedliche Rituale durch thematische Assoziationen organisiert, ist in anderen Kulturen der Antike – vor allem in Ägypten und Mesopotamien – gut belegt.114 In dem resultierenden Arrangement fängt Ez 113 Ackerman, Popular Religion, 53, die sich selbst ausdrücklich auf Mordechai Cogan, Imperialism and Religion. Assyria, Judah and Israel in the Eighth and Seventh Centuries B.C.E., SBLMS 19 (Missoula: Scholars press u.  a., 1974), 86 Anm 116, beruft. 114 Für Ägypten, vgl. z.  B. das Totenbuch und dazu Rita Lucarelli, The Book of the Dead of Gatseshen. Ancient Egyptian Funerary Religion in the 10th Century BC, Egyptologische Uitgaven 21 (Leiden: Nederlands Instituut voor het Nabije Oosten, 2006), 61–64 und passim; weiter Giusep-

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8 in V. 5–6 mit einer Polemik an, welche zwei Hauptthemen der exilischen bzw. nachexilischen Kritik gegen die traditionelle Religion Israels entfaltet – Bildverbot und Kultzentralisation; und sie kulminiert in V. 16–17 mit einer Polemik gegen die Verehrung von Šamaš als Erretter bzw. Auflöser, welche – zusammen mit der Polemik gegen die rituelle Beweinung des Tammuz in V. 14–15 – starke babylonische Züge hat. Dieser Befund entspricht m.M. nach einer breiteren Tendenz innerhalb des Ezechielbuches, zu der ich mich jetzt kurz wende.

3 Ezechiel 8 im Rahmen des Buches Der ursprüngliche Abschluss des Berichts von Ez 8 findet sich wahrscheinlich in Ez 11,22–25*.115 Die Verse 22–25 (oder zumindest ein Teil davon) beschreiben den Auszug des kabôd (V. 22–23) und die Rückkehr des Propheten nach Babylon, die ganz deutlich eine inclusio mit Ez 8,1–3* bildet und die Sammlung von Kap. 8–11 umrahmt.116 Die anderen Abschnitte von Ez 11, V. 1–13 und 14–21, sind kaum auf den visionären Kontext von Kap. 8–11 bezogen und werden deswegen häufig – m.  E. zu Recht – als spätere Zusätze interpretiert.117 Ez 11,22–23 nimmt deutlich Bezug auf Ez 9* und 10*, wo der Auszug des kabôd erzählt wird, während Ez 11,24– 25 seinerseits auf das Motiv des Hinüberbringens des Propheten durch einen

pina Lenzo, The Greenfield Papyrus. Funerary Papyrus of a Priestess at the Karnak Temple (c. 950 BCE) (London: British Museum Press, erscheint 2020). Ich danke Dr. Lenzo (Lausanne) für ihre Hilfe mit diesen Hinweisen. 115 So die meisten Exegeten; vgl. z.  B. Zimmerli, Ezechiel, 201–206; Hossfeld, „Tempelvision,“ 156–157 (zu Ez 8,1–3 und 11,24–25); jüngst Hiebel, Visions, 118–119; Koch, Wohnstatt, 171–172. Pohlmann, Hesekiel 1–19, 170, erwähnt Bedenken, führt aber trotzdem 11,24b.25 auf seine „Golaredaktion“ zurück (a.a.O., 128). Zur Frage der inneren Diachronie von Ez 11,22–25, s. unten. 116 Vgl. dazu ausführlich Hiebel, Visions, 119. Vor allem die Sprache von 11,24 zeigt mehrere Parallelen mit Ez 8,1–3: „ein Geist hob mich empor (‫ )נשא‬und brachte (‫ בוא‬Hif.) mich nach X,“ wie in Ez 8,3; in beiden Stellen wird auch die visionäre Erfahrung erwähnt: ‫ במראות אלהים‬in 8,3 und ‫ במראה ברוח אלהים‬in 11,24. Dass Ez 8,1 die „Ältesten“ und 11,25 die „Gola“ erwähnen, ist noch kein Grund, um eine literarische Spannung zwischen den beiden Stellen anzunehmen (gegen Min, Grundschrift, 144): die Ältesten von 8,1 sind die Führer der Gola in Chaldäa, und repräsentieren sie pars pro toto. 117 Vgl. schon Zimmerli, Ezechiel, 202: „Am unmittelbarsten heben sich 11,1–21 als Fremdkörper aus dem übrigen Zusammenhang heraus.“ Weiter besonders Hossfeld, „Tempelvision,“ 153–156; Hiebel, Visions, 99–103. Dieser Schluss wird auch von Autoren angenommen, die sich i.  d.  R. mit literarhistorischen Analysen des Buches vorsichtig zeigen: vgl. z.  B. Paul Joyce, Ezekiel. A Commentary, LHB 482 (New York/London, T&T Clark, 2009), 108–109. Eine Ausnahme ist Pohlmann, Hesekiel 1–19, 128–137 und 158–165, der in Ez 11,1–21* den ältesten Kern von Ez 8–11 findet.

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Geist in 8,1–3* rückverweist. Im Prinzip könnte Ez 11,24–25 direkt auf Ez 8,1–18* folgen; in diesem Fall wären Ez 9 und 10 zwischen Ez 8* und 11* sekundär hinzugefügt. Allerdings stellt diese Lösung Probleme dar: Ohne die Beschreibung von Ez 9–10 bleibt die Kritik von Ez 8 zwecklos; und andere Stellen des Buches, die Ez 8 voraussetzen – wie vor allem Ez 40–48 – kennen schon das Motiv des Auszugs des kabôd, die in Ez 9–10 (aber nicht in Ez 8) erzählt wird. Das heißt also, dass Ez 8* von Anfang an eine Fortsetzung in Ez 9* und 10* bedurfte, auch wenn diese zwei Kapitel ganz deutlich stark bearbeitet wurden. Innerhalb von 11,22–25 ist es wahrscheinlich, dass V. 22, welcher Ez 10,19 wiederholt, später hinzugefügt wurde;118 für eine literarkritische Trennung zwischen 11,23 und 11,24–25 gibt es allerdings keinen inhaltlichen Grund. Kurz gefasst: Die Polemik von Ez 8 führt folgerichtig zu der Beschreibung des Auszugs des kabôd in Kap. 9* und 10* und diese literarische sowie thematische Kohärenz spiegelt sich auch in dem Zusammenhang von 11,23–25. Wie häufig bemerkt wurde, hat die Kompositionsschicht, die man in Ez 8–11* rekonstruieren kann, ihr Gegenstück in dem letzten Visionsbericht des Buches, Ez 40–48, genauer in Kap.  40–43. Es ist wahrscheinlich, dass Ez 40–43* die Grundschicht des letzten Visionsberichts bildet, wie es M. Konkel überzeugend demonstriert hat. Diese Grundschicht kulminiert in 43,1–10* mit der visionären Beschreibung der Rückkehr des kabôd in den Tempel.119 Wichtig scheint mir vor allem die Bemerkung von Konkel, dass diese Grundschicht in Ez 40–43* auch Elemente enthält, die kritisch gegen babylonische Traditionen gerichtet sind. Dieser Aspekt lässt sich schon an dem Datum der Tempelvision in Ez 40,1 festmachen, da dieses Datum dem babylonischen Neujahrfest entspricht. So Konkel: „Wenn nun die zweite Tempelvision auf den 10. Nisan (= 28. April) des Jahres 573 datiert wird, so läßt sie sich als bewusste Gegenveranstaltung zur religiösen und politischen Ideologie des babylonischen Neujahrfestes verstehen. An diesem Tag, an dem Babylon den Mittelpunkt des Weltgeschehens darstellt, und alle Götter des Reiches in der Hauptstadt Marduk als oberstem Gott ihre Huldigung darbringen, wird der Prophet Ezechiel nach Jerusalem versetzt, um dort den neu errichteten Tempel zu sehen.“120

Die vorige Analyse weist allerdings darauf hin, dass solch kritische Rezeption von babylonischen Traditionen von den Verfassern des Ezechielbuches nicht nur in 118 Vgl. Zimmerli, Ezechiel, 240; Hossfeld, „Tempelvision,“ 163; Hiebel, Visions, 118–120. 119 Konkel, Architektonik, 244–270. Anders Thilo Alexander Rudnig, Heilig und Profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40–48, BZAW 287 (Berlin: de Gruyter, 2000), der unterschiedliche Stellen zum Thema „Land“ und „Fürst“ auf seine Grundschicht in Ez 40–48 zurückführt. Zur Schichtung und Interpretation von Ez 40–48, insb. 43,1–9, vgl. jetzt auch Koch, Wohnstatt, 175  ff. 120 Konkel, Architektonik, 246.

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Ez 40–48 belegt ist, sondern in Ez 8 durch die Polemik gegen babylonisch geprägte Praxen im Tempel Jerusalems vorweggenommen und vorbereitet wurde. Die beiden Tempelvisionen Ez 8–11* und 40–43* beziehen sich nicht nur auf das Motiv der Abkehr/Rückkehr des kabôd Jhwhs, wie man gewöhnlich annimmt, sondern auch auf ihre Polemik gegen babylonische Rituale, die in Ez 8 fiktiv in den Bezirk des ersten Tempels projiziert werden.121 Hier hat man also mit einer buchübergreifenden Kompositionsschicht zu tun, die die Grundschicht der zwei Tempelvisionen Ez 8–11* und 40–43* innerhalb von einem kohärenten System umfasst. Konkel datiert die Grundschicht von Ez 40–43* in die spätexilische Zeit.122 Ich tendiere eher zu der Annahme, dass sie in der frühnachexilischen Zeit entsteht und die Eroberung von Babylon voraussetzt. Dieser Schluss entspricht der Rezeption und Auslegung in Ez 8 von unterschiedlichen Themen wie dem Bildverbot, der ausschließlichen Verehrung Jhwhs und der Kultzentralisation in Jerusalem, die vor allem nachexilisch entwickelt wurden. Diese Frage lässt sich allerdings nicht nur auf Basis von Ez 8 entscheiden und würde einer längeren Diskussion bedürfen.

4 Abschließende Bemerkungen Am Ende dieses Aufsatzes möchte ich einige wichtige Befunde der vorigen Analyse zusammenfassen: 1. Die Kohärenz der vier Rituale, die in Ez 8 beschrieben sind, besteht aus unterschiedlichen thematischen Assoziationen von einem Ritual mit dem nächsten – eine Technik, die in anderen Kulturen der Antike (wie Ägypten und Mesopotamien) gut belegt ist. Eine einzige Thematik oder ein einziger historischer Kontext (wie das Herbstfest) für diese Rituale lässt sich nicht beweisen. 2. Die vier Rituale von Ez 8 bilden vor allem eine theologische Aussage, die ihre Pointe in der Polemik gegen babylonische Rituale (vor allem in V. 14–15 und 16–17) findet. Sie sind keine „faktischen“ Beschreibungen des Kults in Jerusalem in dem 6. Jahrhundert v. Chr. 121 Ein weiterer Bezug betrifft die Einleitungsvision Ez 1, die auch mehrere Parallelen mit Ez 8–11 – vor allem mit Ez 10 – enthält und die auch durch die Rezeption babylonischer Traditionen charakterisiert ist. Vgl. dazu vor allem Christoph Uehlinger und Susanne Müller Trufaut, „Ezekiel 1, Babylonian Cosmological Scholarship and Iconography. Attempts at Further Refinement,“ ThZ 57 (2001): 140–171. Zum Thema auch Casey A. Strine, „Ezekiel’s Image Problem. The Mesopotamian Cult Statue Introduction Ritual and the Imago Dei Anthropology in the Book of Ezekiel,“ CBQ 76 (2014): 252–272. 122 Konkel, Architektonik, 245–246.269 und passim.

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3. Ez 8* ist der Anfang einer kohärenten Komposition, die in 9* und 10* weitergeführt ist und die mit Ez 40–43* (die Grundschicht von Ez 40–48) aus der spätexilischen oder eben (m.  E. wahrscheinlicher) frühnachexilischen Zeit stammt. 4.1. Aus methodologischer Perspektive bestätigt die vorige Analyse die Annahme, dass der kürzere Text von G häufig einer älteren Lesart als MT entspricht; allerdings gibt es in Ez 8 auch Stellen wo der Befund komplexer ist und G kein zuverlässiges Zeugnis für den Text von Ezechiel bietet. 4.2. Die vorige Analyse hat auch die Annahme bestätigt, dass Ez 8 einerseits mit Kap. 9–11 und andererseits mit den anderen Visionen des Buches (vor allem in Ez 1–3) zunehmend vernetzt wurde. Allerdings ist dieses Phänomen nicht mit einer bestimmten Phase bzw. Redaktion des Buches zu korrelieren, sondern entspricht einem allgemeinen Prozess der Fortschreibung, der bis zu den ganz späten Phasen der Textüberlieferung weitergeht.

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Franz Sedlmeier

„Ich will euch gnädig annehmen …“ (Ez 20,41) – Ez 20,39.40–44 im Horizont des Ezechielbuches Abstract: The final verses of Ezek 20 place a striking emphasis on a theology of grace, compared with the original material of the chapter (20:1–39*) and other Ezekielian texts that call to repentance (Ezek 14:1–11; 18). Apart from Ezek 20:39–44, this emphasis on grace is present also in Ezek 16:59–63; 36:16–38 and 43:27 and marks the concluding point of an exciting process of transformation. The comparison with similar statements from Lev 26 shows the radical character of the Ezekielian theology. According to the latter, God’s gracious acceptance (Ezek 43:27) is not only the point of arrival of God’s ways; it is at the same time the point of departure for Israel’s new recognition of their own misconduct, which, as a result, elicits a profound repentance and a radical conversion. Gerne habe ich die freundliche Einladung zu dieser Tagung angenommen, im Kreis der evangelischen Kolleginnen und Kollegen einige Überlegungen zum Ezechielbuch vorzulegen.1 Sie geben mir dadurch die Gelegenheit, zu einem Schlüsseltext aus dem Ezechielbuch Stellung zu nehmen, der mich seit vielen Jahren beschäftigt: der Geschichtsrückblick von Ez 20 und seine ungewöhnliche Ankündigung eines neuen Exodus und einer neuen Landnahme.

1 Ez 20,39.40–44 im Textzusammenhang von Ez 20 Das Augenmerk dieses Beitrages gilt vor allem den Schlussversen des Kapitels, V.  39.40–44. Für deren Verständnis sind allerdings das gesamte Kapitel Ez 20 sowie das ganze Ezechielbuch in den Blick zu nehmen.

1 Der ursprüngliche Vortragsstil wurde für die vorliegende Veröffentlichung des Beitrags weitgehend beibehalten. https://doi.org/10.1515/9783110624250-005

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 Franz Sedlmeier

1.1 Die einführende Datierung V. 1 Ich halte Ez 20 für einen gewachsenen Text. Die Spuren der Bearbeitung sind deutlich erkennbar. Die einführende Datierung ‫יעית ַּב ֲח ִמ ִׁשי ֶּב ָעׂשֹור‬ ִ ‫וַ יְ ִהי ַּב ָּׁשנָ ה ַה ְּׁש ִב‬ ‫ ַלח ֶֹדׁש‬verortet das beschriebene Szenario im 7. Jahr, dem 5. [Monat], am 10. Tag des Monats, also zwei oder drei Jahre vor Beginn der Belagerung Jerusalems.2 Ist diese frühe Ansetzung möglich? – Der folgende Geschichtsrückblick, der als Persiflage ein Geschichtsverständnis im Sinne eines heilsgeschichtlichen Weges destruiert, setzt ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein und eine bestehende Exodustheologie voraus.3 In seiner Studie über V. 25  f von Ez 20 sieht Rainer Kessler in den ‫ּומ ְׁש ָּפ ִטים לֹא יִ ְחיּו ָּב ֶהם‬ ִ ‫טֹובים‬ ִ ‫„ ֻח ִּקים לֹא‬Gesetzen, die nicht gut waren, und Satzungen, in denen sie kein Leben fanden“ eine Polemik gegen das Deuteronomium gegeben.4 Die Bezugnahmen auf Texte aus dem inneren Rahmen (Dtn 5–11 und 27–28) wie aus dem äußeren Rahmen des Buches Deuteronomium (Dtn 1–4 und 29–34) mit seinen späten Texten machten eine noch spätere Entstehung von Ez 20 wahrscheinlich. So votiert Kessler für eine „nachezechielische[n] Entstehung“5 und sucht den theologischen Ort von Ez 20 folgendermaßen zu bestimmen: Es ist der spannungsreiche Prozess, der schließlich zur Entstehung des Pentateuchs und letztlich des ganzen Alten Testaments führt. Gerade der Pentateuch ist in vielem das Dokument eines Kompromisses. Gehen wir von den Literaturen aus, dann sehen wir, wie in ihm priesterschriftliche und deuteronomistische Texte eingehen. Versuchen wir deren soziale Verortung, dann ist an Kreise der Priesterschaft bzw. an Laienkreis zu denken. Ez 20 bezieht

2 Nach manchen Exegeten (z.  B. Ernst Kutsch, Die chronologischen Daten des Ezechielbuches, OBO 62 [Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag, 1985], 60.71) verweist dieses Datum auf den 24. August 592 v. Chr., nach anderen (z.  B. Walther Zimmerli, Ezechiel, BK XIII/1–2 [Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag, 21979], 441) auf den 14.  August 591. Ausführlicher dazu Franz Sedlmeier, Studien zu Komposition und Theologie von Ezechiel 20, SBB 21 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1990), 137–148. 3 Die Tragweite einer Frühdatierung von Ez 20 aufgrund des Datums in V. 1 liegt auf der Hand, hat sie doch entsprechende Auswirkungen auf eine Hypothesenbildung zur Entstehung des Pentateuchs. Setzt sich Ezechiel ggf. von einer bereits bestehenden vorexilischen Geschichtskonzeption ab, indem er diese destruiert? Vgl. dazu Erich Zenger u.  a., Einleitung in das Alte Testament, hg. von Christan Frevel (Stuttgart: Kohlhammer, 92016), 216  f. 4 Rainer Kessler, „‚Gesetze, die nicht gut waren‘ (Ez  20,25)  – eine Polemik gegen das Deuteronomium,“ in Gotteserfahrung. Beiträge zur Hermeneutik und Exegese der Hebräischen Bibel, BWANT 170, hg. v. Rainer Kessler (Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 99: „Meine These ist, dass mit den Gesetzen und Satzungen von Ez 20,25 das Deuteronomium gemeint ist. Ez 20,25  f hält das Deuteronomium für ‚Gesetze, die nicht gut waren, und Satzungen, in denen sie kein Leben fanden.‘“ 5 Kessler, „Gesetze,“ 105.

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auf dem Weg zu diesem Kompromiss Position: gegen die vom Deuteronomium geprägte Theologie.6

Das würde bedeuten, dass Ez 20 irgendwann im 5. Jahrhundert anzusiedeln ist. In diesem Sinne äußern sich auch Thilo Alexander Rudnig7 und Reinhard Achenbach.8 Auch Karl-Friedrich Pohlmann sieht in Ez 20 „ein Produkt nachexilischer Reflexionen“,9 wofür die Nähe zu priesterschriftlichen Auffassungen und zur nachdeuterojesajanischen Schultheologie spreche, wie sie etwa in Jes 48 zum Ausdruck komme. Anliegen des Autors sei es gewesen, den Blick über die Gola hinaus auf die in der Diaspora lebenden JHWH-Gläubigen zu richten und aufzuzeigen, daß Israel als ‚Diaspora-Israel‘ nicht dem Zuständigkeitsbereich Jahwes entglitten ist, ja, daß die Diasporasituation selbst ein Ergebnis der geschichtsmächtigen Steuerung Jahwes ist. Nicht der Vernichtungszorn Jahwes über die Verschuldungen Israels hat die vergangene und gegenwärtige Geschichte bestimmt, sondern die eben diesen Zorn überholende Besinnung Jahwes darauf, daß er der Gott ist, der seine Zusagen und Ankündigungen zum Ziel bringt  – und daran hängt der Stellenwert seines Namens in den Augen der Völker. Aus dieser Konzeption ergibt sich für die Diasporasituation, daß sie im Plan Jahwes ein Durchgangsstadium auf dem Weg Israels zu seiner eigentlichen Bestimmung ist. Und diese eigentliche Bestimmung Israels ist der Dienst für Jahwe auf seinem heiligen Berg, der eben in der Diaspora nicht gelingen kann.10

Die Aussageabsicht des Kapitels zielt somit darauf nachzuweisen, dass das unter die Völker zerstreute Israel „nicht aus dem Zuständigkeitsbereich Jahwes herausgefallen ist“11 und dass es JHWHs ureigenes Anliegen ist, wie Ez 20,40 ausdrückt, dass Israel „auf Jahwes heiligem Berg“ den Jahwedienst realisieren kann. Andererseits bleibt dann zu erklären, wieso ein Autor aus dem ausgehenden 6. oder dem 5. Jahrhundert die JHWH-Befragung von Ez 20 in das 7. Jahr der Ära Jojachin datiert, zwei oder drei Jahre vor der Belagerung Jerusalems. Nach Pohl-

6 Kessler, „Gesetze,“ 105  f. Kessler verweist zudem auf Risa Levitt Kohn, „A Prophet Like Moses? Rethinking Ezekiel’s Relationship to the Torah,“ ZAW 114 (2002): 236–254. 7 Thilo A. Rudnig, Heilig und Profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40–48, BZAW 287 (Berlin/ New York: De Gruyter, 2000), 241 sieht diasporaorientierte Eingriffe gegeben, für die sich eine Datierung in das 5. Jahrhundert, vielleicht sogar in dessen zweite Hälfte, nahelege. 8 Reinhard Achenbach, Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeri­ buches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, BZAR 3 (Wiesbaden: Harrassowitz, 2003), 625–628. 9 Karl-Friedrich Pohlmann, Ezechielstudien, BZAW 202 (Berlin/New York: de Gruyter, 1992), 77. 10 Pohlmann, Ezechielstudien, 77. 11 Pohlmann, Ezechielstudien, 76.

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mann wollte der unbekannte Autor sein Anliegen mit Hilfe des Ezechielbuches bekannt machen, und es dadurch „in die Zeit der ersten Gola noch vor der eigentlichen Katastrophe 587“ zurückverlegen. Damit kann er […] nicht nur die Autorität des Propheten Ezechiel als d e s Exilspropheten für seine Darlegungen in Anspruch nehmen; er erreicht auf diese Weise zugleich, daß die von der golaorientierten Konzeption vorgegebene Einschätzung der Katastrophe von 587 und ihrer Auswirkungen relativiert wird; denn nach seinen Darlegungen (vgl. besonders Ez  20,23) läuft nun das Gerichtswirken Jahwes nicht mehr lediglich auf diese […] Katastrophe (vgl. Ez 24/33) und damit auf das Ende der im Lande Verbliebenen hinaus; Jahwes Geschichtswirken ist vielmehr von Anfang an auf eine die Katastrophe überholende Initiative ausgerichtet.12

Es werde also laut Karl-Friedrich Pohlmann mit der Datierung zwei oder drei Jahre vor der Eroberung Jerusalems unter Berufung auf die Autorität Ezechiels die Diasporasituation fiktiv als ein von JHWH herbeigeführter Zustand gedeutet.13 Dieser sei Ausdruck der göttlichen „Geschichtslenkung“,14 in der sich einerseits Gottes Gerichtshandeln zeige, sich aber zugleich eine über das Gericht hinausführende Perspektive öffne.15 Diese Deutung erklärt jedoch noch nicht die präzise Datierung in Ez 20,1. So stellt sich die Frage, ob die Aussage Walther Zimmerlis nicht doch nach wie vor gültig ist, man müsse „zunächst nüchternerweise bei der Annahme bleiben […], daß diese Daten, für deren Setzung und Nichtsetzung bei den einzelnen Worten kein bestimmtes System erkennbar wird, ursprünglicher Textbestand sind“.16 12 Pohlmann, Ezechielstudien, 76. 13 Es ist jedoch eine offene Frage, woher diese Autorität des Propheten kommt. Wenn die Gestalt Ezechiels im Dunkel der Geschichte entschwindet, bleibt ungeklärt, woher und warum ihm Bedeutung zukommen soll. 14 Pohlmann, Ezechielstudien, 76. 15 Eine weitere Möglichkeit, die Datierung von 20,1 zu erklären, ergibt sich aus den literarischen Bezügen von Ez 20 zur Kundschafter-Erzählung von Num 13–14. So bringt etwa Jan van Goudoever, Biblical Calendars (Leiden: Brill, 21961), 71–86; ders., „Ezekiel sees in Exile a New TempleCity at the Beginning of the Jobel Year,“ in Ezekiel and His Book. Textual and Literary Criticism and their Interrelation, BEThL LXXIV, hg. v. Johan Lust (Leuven: University Press, 1986), 345 das Datum von V. 1 mit Num 13  f und einem liturgischen Kalender in Verbindung. Zu den literarischen Bezügen zwischen Ez 20 und Num 13  f vgl. Johan Lust, Traditie, Redactie en Kerygma bij Ezechiel. Een Analyse von Ez., XX, 1–26 (Brüssel: Paleis der Academïen, 1969), 31–32, der besonders auf Num 14,26–35 verweist; Penelope Barter, Ezekiel 20 and the Composition of the Torah, University of St. Andrews (Schottland) (2016), 43–65. 16 Zimmerli, Ezechiel, 41. „Wenn hier nach einer langen Kapitelreihe zum ersten Mal wieder eine solche Datierung auftaucht, so weist das wohl auf die besondere Bedeutung der hier an den Propheten gerichteten Anfrage und des darauf ergangenen Bescheids hin, die denn auch durch das Folgende bestätigt wird“ (ebd.).

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1.2 Die JHWH-Befragung V. 2–4 und V. 30–31 Die feierlich inszenierte JHWH-Befragung durch die Ältesten Israels (‫ֲאנָ ִׁשים ִמּזִ ְקנֵ י‬ ‫ )יִ ְׂש ָר ֵאל‬in V. 2–4, die in V. 30–31 zurückgewiesen wird, bildet einen Rahmen um den Geschichtsrückblick von V. 5–29. Die Aufforderung an Ezechiel, die das Gottesvolk repräsentierenden Ältesten zu richten (‫ן־א ָדם‬ ָ ‫)ה ִת ְׁשּפֹט א ָֹתם ֲה ִת ְׁשּפֹוט ֶּב‬ ֲ und ihnen die Gräuel ihrer Väter kundzutun (‫יעם‬ ֵ ‫הֹוד‬ ִ ‫בֹותם‬ ָ ‫ת־ּתֹועבֹת ֲא‬ ֲ ‫)א‬, ֶ zielt auf eine Loslösung der angeredeten Gegenwartsgeneration von den Wegen der Väter, wie V. 30–31 zeigen.17 Ezechiel hat seinem Adressaten ‫ ֵּבית יִ ְׂש ָר ֵאל‬genau dies vorzuhalten: die fehlende Loslösung (V. 30  f ): ‫יכם ַא ֶּתם נִ ְט ְמ ִאים‬ ֶ ‫בֹות‬ ֵ ‫ַה ְּב ֶד ֶרְך ֲא‬ ‫יהם ַא ֶּתם זֹנִ ים‬ ֶ ‫ּקּוצ‬ ֵ ‫וְ ַא ֲח ֵרי ִׁש‬ ‫[…] ַא ֶּתם נִ ְט ְמ ִאים‬‎ ‫יכם‬ ֶ ‫ּוב ְׂש ֵאת ַמ ְּתנ ֵֹת‬ ִ ‫ד־הּיֹום‬ ַ ‫יכם ַע‬ ֶ ‫ּלּול‬ ֵ ִ‫ְל ָכל־ּג‬

Auf dem Weg eurer Väter macht ihr euch unrein? Und hinter ihren Scheusalen hurt ihr her? Und durch das Darbringen eurer Gaben […] macht ihr euch unrein für all eure Götzen – bis zum heutigen Tag?

Die Verweigerung einer JHWH-Befragung und die damit verbundene Leugnung eines vitalen Gottesbezugs Israels gründet in der fehlenden Loslösung, die ihrerseits zur Folge hat, dass die Götzen Ägyptens über die Väter von der Gegenwartsgeneration übernommen und in die eigene Lebenswelt und Glaubenspraxis integriert werden. Einen ähnlichen Loslösungsprozess fordert der Umkehrruf von Ez 14,1–11 ein. Die Inszenierung gleicht der von Kapitel 20. Männer aus der Ältestenschaft Israels (‫)אנָ ִׁשים ִמּזִ ְקנֵ י יִ ְׂש ָר ֵאל‬ ֲ nehmen Sitz vor Ezechiel (‫)וַ ּיֵ ְׁשבּו ְל ָפנָ י‬, offensichtlich um JHWH zu befragen (V. 3). Im Unterschied zu Ez 20 sind es nicht die Götzen der Väter, von denen sie bestimmt werden, sondern ‫יהם‬ ֶ ‫ּלּול‬ ֵ ִ‫ ג‬ihre eigenen Götzen, die sie in ihrem Herzen haben aufsteigen lassen (‫ל־ל ָּבם‬ ִ ‫יהם ַע‬ ֶ ‫ּלּול‬ ֵ ִ‫)ה ֱעלּו ג‬. ֶ 18 Der geforderte Loslösungsprozess geht in Ez 14,6 in eine an das Haus Israel adressierte Umkehrforderung über: ‫יכם‬ ֶ ‫ּלּול‬ ֵ ִ‫ׁשּובּו וְ ָה ִׁשיבּו ֵמ ַעל ּג‬ ‫יכם‬ ֶ ֵ‫יכם ָה ִׁשיבּו ְפנ‬ ֶ ‫ל־ּתֹועב ֵֹת‬ ֲ ‫ּומ ַעל ָּכ‬ ֵ

Kehrt um! Ja kehrt euch ab von euren Götzen, und von all euren Gräueltaten kehrt ab euer Angesicht.

17 Wenn die ‫ ֲאנָ ִׁשים ִמּזִ ְקנֵ י יִ ְׂש ָר ֵאל‬das gesamte Gottesvolk repräsentieren, ist zu fragen, wie sich dies zur Auffassung von Pohlmann verhält, nach der die „Ältesten“ Vertreter lediglich der Gola sind, die nun gerichtet werden, um so eine Weitung auf die Diaspora hin zu vollziehen. Nach Pohlmann geschieht hier eine Neuausrichtung der ezechielischen Botschaft, weg von der Konzentration auf die Gola und hin zu einer Diaspora-Orientierung. 18 Auch wenn in Ez 14,1–11 anders als in Ez 20 neben dem Verhalten des Götzendieners kontextbedingt auch das des Propheten reflektiert wird, so ist das Anliegen doch das gleiche wie in Ez 20, nämlich das der Loslösung von den Götzen.

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 Franz Sedlmeier

Die durch Umkehr vollzogene Loslösung dient einem zweifachen Ziel, wie der abschließende V. 11 hervorhebt: (1) um weitere Irrwege zu unterbinden (V. 11a): ‫א־יִתעּו עֹוד ֵּבית־יִ ְׂש ָר ֵאל ֵמ ַא ֲח ַרי‬ ְ ֹ ‫ְל ַמ ַען ל‬ ‫יהם‬ ֶ ‫ל־ּפ ְׁש ֵע‬ ִ ‫וְ לֹא־יִ ַּט ְּמאּו עֹוד ְּב ָכ‬

Damit die vom Haus Israel nicht mehr länger von mir weg in die Irre gehen und sich nicht mehr länger unrein machen mit all ihren Freveln.

(2) Um Israel neu für den Bund mit seinem Gott zu gewinnen: ‫וְ ָהיּו ִלי ְל ָעם‬ ‫אֹלהים‬ ִ ‫וַ ֲאנִ י ֶא ְהיֶ ה ָל ֶהם ֵל‬ ‫נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה‬

Dann werden sie mir Volk sein, und ich, ich werde ihnen zum Gott sein, Spruch meines Gebieters19 JHWH.

Eine ähnliche Aussageabsicht formuliert der Umkehrruf Ez 18. Auch er ist durchgängig vom Anliegen bestimmt, Loslösungsprozesse zu initiieren. Ausgehend vom Sprichwort von den sauren Trauben der Väter und den stumpfen Zähnen der Söhne (V. 2) insistiert der Verfasser unnachgiebig auf der grundlegenden Bedeutung des Gottesbezuges, gleich, um welche Generation oder Lebensphase es sich handelt: ‫י־הּנָ ה‬ ֵ ‫ּוכנֶ ֶפׁש ַה ֵּבן ִל‬ ְ ‫ל־הּנְ ָפׁשֹות ִלי ֵהּנָ ה ְּכנֶ ֶפׁש ָה ָאב‬ ַ ‫הן ָּכ‬. ֵ Auf der Grundlage des Gottesbezugs ordnet sich das Leben der verschiedenen Generationen im Gottesvolk neu. Diesem Ziel dient der Loslösungsprozess zwischen den Generationen (Ez  18, 4–20), dann aber auch der innerhalb der verschiedenen Lebensphasen des Einzelnen. Der Diskurs mündet ein in die das Kapitel abschließende Umkehrforderung V. 30–32. Um das Grundanliegen des Grundbestands von Ez 20 zu verstehen, sind meines Erachtens die beiden Perikopen aus Ez 14,1–11 und 18,1–32 mit in die Reflexion einzubeziehen. Und dies umso mehr, als der Geschichtsrückblick von Ez 20 auch in seiner sprachlichen Gestaltung eine auffällige Nähe zu Ez 18 aufweist.

1.3 Zum Geschichtsrückblick Ez 20,5–26*[.27–29] Auch der Geschichtsrückblick von Kapitel 20 dient dem Anliegen der Loslösung, und zwar ex negativo, indem er die verweigerte Loslösung und die damit verbundenen Konsequenzen aufzeigt. Beginnend mit der Erwählung Israels in Ägypten

19 Zur Wiedergabe von ‫ ֲאד ֹנָ י‬mit ‫„ אדנִ י‬mein Gebieter“ vgl. Sedlmeier, Studien, 64–81 (Exkurs 1: Die Gottesbezeichnung ‫ אדני‬im Buch Ezechiel).

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in Ez 20,5 (‫)ּביֹום ָּב ֳח ִרי ְביִ ְׂש ָר ֵאל‬ ְ und der Selbstkundgabe JHWHs (‫)וָ ִאּוָ ַדע ָל ֶהם‬,20 verbunden mit doppeltem JHWH-Schwur (‫ )וָ ֶא ָּׂשא יָ ִדי‬und JHWHs Ausschließlichkeitsanspruch (‫יכם‬ ֶ ‫ֹלה‬ ֵ ‫)אנִ י יְ הוָ ה ֱא‬, ֲ entwirft der Verfasser in einem dreifachen Durchgang eine schematische Geschichtsdarstellung, adressiert (1) an die Väter in Ägypten, (2) an die Väter in der Wüste und (3) an die Söhne in der Wüste. Jede dieser Phasen beginnt mit dem göttlichen Heilshandeln (V. 5aα²–6.10.17), gefolgt von der Gabe der Gebote (V. 7.11–12.18–20), konstatiert sodann die je neue Verweigerung Israels, sich zu loslösen, sei es von den Götzen Ägyptens (V. 8a), von den bisherigen Wegen (V. 13a) oder von den Wegen der Väter (V. 21a). JHWH hält seinen berechtigten Gerichtszorn wiederholt zurück (V. 8b. 13b. 21b) und orientiert sich in seinem Tun nicht am Fehlverhalten Israels, sondern an seinem eigenen Namen (V. 9.14.22).21 Während in der ersten Phase V.  5–9 ein göttliches Gerichtshandeln unterbleibt, ergeht an die Vätergeneration, aus Ägypten in die Wüste geführt, in einer zweiten Phase ein erneuter Anruf. Da die Väter sich aber am veränderten Ort erneut verweigern, ist über das Schema hinausgehend in V. 15–16 erstmals ein göttliches Gerichtshandeln angekündigt. Dieses bedeutet, dass der Väter-Generation mit einem Schwur die Landnahme verweigert wird.22

20 Es sei hier auf die besondere Nähe zu Ex 6,2–8 (P) hingewiesen. Vgl. dazu Jan Christian Gertz, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, FRLANT 186 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000), 248  f. und Barter, Ezekiel 20, 66–87; anders Achenbach, Vollendung, 625–628. 21 Für Pohlmann, Ezechielstudien, 70–75 liegt im Handeln JHWHs ‫„ ְל ַמ ַען ְׁש ִמי‬um meines Namens willen“ ein entscheidender Grund, um Israel in seiner Diasporaexistenz im Horizont der Völkerwelt als Adressat zu sehen. Dabei kann er darauf verweisen, dass das Motiv des göttlichen Namens mit Blick auf die Völkerwelt mehrfach „in späten, überwiegend nachexilischen Texten wie z.  B. Ex 32,12  ff.; Nu 14,13; Dtn 9,26  ff.; Dtn 32,27; Jos 7,8–10“ auftauche und sicherzustellen habe, „daß Jahwe sein einmal mit der Herausführung aus Ägypten in Gang gebrachtes Heilshandeln an Israel nicht mehr in ein endgültiges Vernichtungshandeln umschlagen lassen kann“ (ebd., 70). 22 Möglicherweise nehmen V. 13–14 auf den in Num 13–14 überlieferten Sachverhalt Bezug. Vgl. Num 14,28–29 (mit Schwurformel). Näheres Barter, Ezekiel 20, 52: „Numbers 13–14 tells the story of Israel’s rebellion and its far-reaching consequences; Ezekiel 20 sees this rebellion as a turning point in Israel’s history and examines what the consequences were. The fact that the material outlined above is shared between two texts telling the same story adds weight to the assertion that this is intentional reuse.“ In ihrer Untersuchung sieht Barter den P-Text aus Num 13–14 als Gebertext für Ez 20 und schlussfolgert: „(1) Ezek 20 borrows from Num 13–14*, but seemingly only from the P material; (2) this suggests that the P spy story was not yet expanded by the non-P material at the time of Ezek 20’s composition; (3) Ezekiel uses Num 13–14* to portray Yhwh’s generation-specific judgement as a perennial truth“ (ebd., 64). Achenbach, Vollendung, 627 kontrastiert Ez 20 mit Num 13–14 hinsichtlich der Begründung des Wüstenaufenthaltes. „Der eigentliche Grund der 40-jährigen Wüstenwanderung wird also nicht in der Verweigerung der Landnahme gemäß Num 13  f. gesucht, sondern in der Mißachtung der

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Auch die in der dritten Phase des Geschichtsrückblicks angeredeten Söhne verweigern sich der göttlichen Weisung und ziehen es vor, auf den Wegen der Väter zu bleiben. Die geforderte Loslösung geschieht gerade nicht. In einem deutlichen Crescendo verschärft sich nun das göttliche Gerichtshandeln in V. 23–26. Dieses besteht in der Zerstreuung unter die Völker (V. 23–24)23 und ferner in der Gabe von „Satzungen, die nicht gut sind“ und in „Richtsprüchen, durch die man das Leben nicht gewinnt“. Ob mit diesen ‫טֹובים‬ ִ ‫ ֻח ִּקים לֹא‬und den ‫ִמ ְׁש ָּפ ִטים לֹא יִ ְחיּו‬ ‫ ָּב ֶהם‬tatsächlich gegen das Deuteronomium polemisiert wird, wie Rainer Kessler in einem lesenswerten Beitrag vertritt,24 ist nicht so sicher. Sicher ist hingegen, dass diese „Gesetze, die nicht gut waren“ verhindern, dass eine Landnahme je wieder möglich sein wird. Gehören doch das Leben in den Satzungen und Richtsprüchen und das Leben im Land von der Sache her untrennbar zusammen, ein Konnex, der auch für deuteronomische Theologie kennzeichnend ist. Bereits zuvor, in den Begründungen von V. 16 und V. 24, hatte das Nicht-Einhalten der Gebote den Verlust des von JHWH eigens ausgesuchten Landes und die Zerstreuung zur Folge. Dieser Zusammenhang wird in V. 25 dahingehend radikalisiert, dass durch die ‫טֹובים‬ ִ ‫ ֻח ִּקים לֹא‬und die ‫ ִמ ְׁש ָּפ ִטים לֹא יִ ְחיּו ָּב ֶהם‬die Voraussetzungen für einen nochmaligen Landbesitz durch eine positive Willensentscheidung JHWHs hinweggenommen werden. Deshalb führt der Weg von der Wüste mit inhaltlicher Konsequenz gerade nicht ins Land, sondern aus der Wüste direkt in die Zerstreu-

Gesetze und Sabbate, im ‚Götzendienst des Herzens‘, Ez 20,16  f. Eine analoge Neuinterpretation der Gründe, die zum Exil führten, entwickelt für die Generation der Söhne Ez 20,18–26. Das Kerygma von Ez 20 hat also eine grundsätzliche Neuinterpretation der Wüstenzeit geliefert. Diese setzt deutlich die Arbeit der Pentateuchredaktion voraus, indem sie das Heiligkeitsgesetz als Schlüssel für das Verständnis der Wüstenzeit nutzt.“ – Nun gründet aber die Verweigerung der Landnahme auch in Num 13–14 in der Verweigerung gegenüber JHWHs Auftrag (Num 14,9.11.27), die dieser unter Verwendung der Schwurformel scharf ahndet. Neben der unterschiedlichen Akzentsetzung gibt es durchaus auffällige Gemeinsamkeiten zwischen Num 13–14 und Ez 20. Außerdem ist das Thema des Grundbestandes von Ez 20,1–39* nicht nur das der Tora-Frömmigkeit, sondern gleichermaßen das des Generationenzusammenhanges, der auch in Ez 18 unter Rekurs auf die Tora-Frömmigkeit im Horizont des „Heiligtums-Zulassungsrechtes“ (Zimmerli, Ezechiel, 447) entfaltet wird. Dadurch aber verschiebt sich auch die Verhältnisbestimmung zwischen Num 13–14, Heiligkeitsgesetz und Ez 20. Und in der späteren Bearbeitung mit V. 39.40–44 geschieht erneut ein radikaler Perspektivenwechsel in Ez 20. Man wird also die Rolle von Ez 20 auf dem Weg zur „Vollendung der Tora“ vielschichtiger deuten müssen und in dieser singulären ezechielischen Geschichtsreflexion in ihrem Grundbestand wie in der Endgestalt sowohl einen Empfänger- wie einen Gebertext zu sehen haben. 23 Pohlmann, Ezechielstudien, 76 sieht mit der Ankündigung der Zerstreuung einen eindeutigen Hinweis auf eine diasporaorientierte Textschicht. Ihm folgt auch Achenbach, Vollendung, 626, Anm. 41. 24 Kessler, „Gesetze,“ 99.

Ez 20,39.40–44 im Horizont des Ezechielbuches 

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ung.25 Damit bleibt der Exodus, der erst in der Landgabe zu seinem Ziel kommt, von Anfang an ein Torso. V. 26 führt das göttliche Gerichtshandeln fort und verschärft es. Die schwer verständliche und umstrittene Aussage von V. 26a ‫נֹותם ְּב ַה ֲע ִביר‬ ָ ‫אֹותם ְּב ַמ ְּת‬ ָ ‫וָ ֲא ַט ֵּמא‬ ‫ל־ּפ ֶטר ָר ַחם‬ ֶ ‫ ָּכ‬hat, wie Kessler und andere zu Recht betonen, mit der Darbringung von Kinderopfern nichts zu tun. Das deklarativ zu verstehende ‫אֹותם‬ ָ ‫„ וָ ֲא ַט ֵּמא‬und ich erklärte sie für unrein“ in Verbindung mit der Wendung ‫ל־ּפ ֶטר ָר ַחם‬ ֶ ‫ְּב ַה ֲע ִביר ָּכ‬ „beim Darbringen einer jeden Erstgeburt“ ist aufgrund des Bezugs zu Ex 13,12 wohl folgendermaßen zu verstehen: In der Darbringung der Erstgeburt findet die besondere Zugehörigkeit zu JHWH und die Anerkenntnis seiner Herrschaft ihren besonderen Ausdruck. Der kultische Akt ist zugleich existentieller „Vollzug der Schutzherrschaft, die Jahwe seinem Volk geschenkt hat und weiter schenken will“, um es mit Erich Zenger zu formulieren.26 Dieses besondere Verhältnis bleibt auch gültig, wenn die Erstgeburt ausgelöst wird. Ez 20,26 macht nun die anstößige Aussage: Was von der Sache her der Begegnung mit JHWH dienen soll, vermittelt im kultischen Vollzug – im Darbringen der Erstgeburt bzw. in der entsprechenden Auslösung –, wird in sein Gegenteil verkehrt, und zwar durch den erklärten Willen JHWHs. Damit aber ist der die Rettung aus Ägypten erinnernde Kult, der die Zu-Eignung Israels zu JHWH und dessen Schutzherrschaft vergegenwärtigt, nicht nur unwirksam, sondern zu tödlichem Gift geworden. Denn nicht weniger als die Götzen und Scheusale bewirkt Israels eigener Kult fortan Verunreinigung. Er wird zum Götzendienst. Dieses Zunichte-Machen des Kultes gilt es festzuhalten für das Verständnis der Aussagen im Schlussteil von Ez 20 wie für die Aussagen in Ez 43,27. Die im Geschichtsrückblick sich anschließenden V. 27–29 stellen eine spätere Ergänzung dar. Dass ein und derselbe Autor das göttliche Gerichtshandeln unterläuft, indem er nun doch eine Landnahme anfügt, wenngleich diese unter dem Zeichen des Götzendienstes steht, dass er ferner die sprachliche Diktion und das Vokabular ändert und die zuvor aufgebaute schematische Struktur nicht länger berücksichtigt, erscheint sehr unwahrscheinlich. Plausibler ist es doch, dass ein späterer Bearbeiter die zuvor übergangene Landnahme vermisst und deshalb nachgetragen hat. Der Geschichtsrückblick kehrt von V. 26 und der darin angedrohten gottgewollten Ver-Nichtung des Kults aus der Vergangenheit zurück in die Erzählgegen-

25 Abgesehen von formalen und sprachlichen Gesichtspunkten sind auch aus inhaltlichen Erwägungen und von der Logik des Geschichtsrückblicks her V. 27–29 als sekundär zu beurteilen. Dazu später mehr. 26 Erich Zenger, Das Buch Exodus, GSL 7 (Düsseldorf: Patmos, 21982), 254.

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wart, zur von Ezechiel angesprochenen Gegenwartsgeneration in V. 30–31. Freilich nicht ohne in V. 26bα eine Zielangabe zu formulieren, die über das Gericht hinausweist: ‫„ ְל ַמ ַען ֲא ִׁש ֵּמם‬um sie mit Grauen zu erfüllen“27. „Jedoch“ – so Rudolf Mosis – „weist dieses dunkle und bittere Tun Gottes über das Gericht hinaus. Er stößt Israel in den Machtbereich heidnischen Tuns und Denkens, damit Entsetzen und Grausen über es kommt. Dieses Entsetzen über die eigene Verlorenheit kann und soll die Sehnsucht wecken, aus diesem Zustand befreit zu werden und aus dieser Gefangenschaft zu entkommen.“28

1.4 Zurück zur JHWH-Befragung V. 30–31 Die Weigerung JHWHs, sich befragen zu lassen, wird in V. 30–31 noch einmal ausführlich mit der fehlenden Loslösung begründet. Da das von Ezechiel angeredete, im Exil bzw. in der Diaspora lebende Israel sich die Wege der Väter (‫יכם‬ ֶ ‫בֹות‬ ֵ ‫ַה ְּב ֶד ֶרְך ֲא‬ ‫)א ֶּתם נִ ְט ְמ ִאים‬ ַ zu eigen macht, läuft es in die gleiche Verlorenheit, mit welcher der Geschichtsrückblick in V. 26 geendet hatte. Zweimal verwendet der Verfasser den partizipialen Ausdruck ‫„ נִ ְט ְמ ִאים‬sich unrein machen“,29 einmal das Partizip ‫;זֹנִ ים‬30 alle drei Ausdrücke thematisieren den Götzendienst, in dem die Exilsgeneration befangen ist. Mit der Weigerung JHWHs gegenüber der exilischen Kommunität, für die ‫ֵּבית‬ ‫ יִ ְׂש ָר ֵאל‬steht, ist ein gewisser Abschluss des Gedankenganges erreicht, angedeutet durch die Schwur- und Gottesspruchformel.31 Der bisherige Gedankenduktus von V. 1–31 wäre meines Erachtens durchaus denkbar in der von der Datierung in V. 1 angegebenen Zeit zwischen erster und zweiter Deportation, in jener ersten Phase des prophetischen Wirkens vor der Zerstörung des Tempels also, in der Ezechiel falsche Sicherheiten zu destruieren hat.

27 Die Wurzel ‫ שמם‬taucht auch in Ez 3,15 auf, wo Ezechiel nach der Vision sieben Tage mit Ingrimm erfüllt im Kreis der Gola sitzt, ohne etwas zu sagen: ‫תֹוכם‬ ָ ‫יָמים ַמ ְׁש ִמים ְּב‬ ִ ‫וָ ֵא ֵׁשב ָׁשם ִׁש ְב ַעת‬. 28 Rudolf Mosis, Das Buch Ezechiel, GSL 8/1 (Düsseldorf: Patmos, 1978), 242. 29 In V. 30a ‫יכם ַא ֶּתם נִ ְט ְמ ִאים‬ ֶ ‫בֹות‬ ֵ ‫ ַה ְּב ֶד ֶרְך ֲא‬und in V. 31a ‫ם]…[א ֶּתם נִ ְט ְמ ִאים‬ ַ ‫יכ‬ ֶ ‫ ִב ְׂש ֵאת ַמ ְּתנ ֵֹת‬. Im Unterschied zu V. 26a wird die Wurzel ‫ טמא‬hier nicht im Pi‘el (deklarativ), sondern im Nif‘al (reflexiv) gebraucht. Wie in V. 26a ‫נֹותם‬ ָ ‫„( ְּב ַמ ְּת‬mit ihren Gaben“) ist auch in V. 31a von ‫יכם‬ ֶ ‫„ ַמ ְּתנ ֵֹת‬euren Gaben“ die Rede. Dass hier das Deuteronomium gemeint sein soll, erschließt sich mir nicht. Gegen Kessler, „Gesetze,“ 105  f. 30 V. 30b ‫יהם ַא ֶּתם זֹנִ ים‬ ֶ ‫ּקּוצ‬ ֵ ‫וְ ַא ֲח ֵרי ִׁש‬. 31 Es ist zu überlegen, ob mit der Frageform der Aussage lediglich ein rhetorisches Element gegeben ist oder nicht doch eine gewisse Offenheit und damit ein Moment der Hoffnung auf Umkehr zur Sprache kommt. Dafür könnte auch der Schluss des Geschichtsrückblicks sprechen: ‫„ ְל ַמ ַען ֲא ִׁש ֵּמם‬um sie mit Grauen zu erfüllen“.

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Im vorliegenden Falle hieße dies: An eine Rückkehr aus dem Exil in die judäische Heimat ist unter keinen Umständen zu denken, weil die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind.32 Es ist nicht zu leugnen, dass die mit V. 1 gegebene zeitliche Einordnung von Ez 20,1–39* eine Reihe von Problemen aufwirft. Diese betreffen unter anderem die Frage nach den Bezügen des Geschichtsrückblicks zu Texten wie Ex 6,2–8 bzw. 6,6–8 und zur Priesterschrift generell, zu Lev 18 und 26 wie auch zu Num 13–14.33 Umgekehrt kann eine Spätdatierung in das 5. und 4. Jahrhundert keine plausible Erklärung für die präzise Datierung von Ez 20,1 liefern.

1.5 Der neue Exodus: V. 32–38.39* Ohne deutlichen formalen Neueinsatz führt der folgende Abschnitt V. 32–38.39*, die vermutlich älteste Rede vom neuen Exodus,34 den Redegang fort.35 Ausgangspunkt des Diskurses ist wie des Öfteren bei Ezechiel eine Redeweise der Exilsgeneration, die im Anschluss an den Geschichtsrückblick eine unmittelbare Reaktion der Ältesten auf die Weigerung JHWHs, sich befragen zu lassen, darstellt. Dabei ist unsicher, ob die Redeweise Ausdruck der Resignation oder des Aufbegehrens ist (vgl. die Bezüge zu 1 Sam 8):

32 In diesem Sinne votiert auch Carolin Neuber, „Auszug in die Wüste des Gerichts. Transformation des Exodusmotivs in Ez 20,“ in Der immer neue Exodus. Aneignungen und Transformationen des Exodusmotivs, SBS 242, hg. v. Carolin Neuber (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2018), 75. Nach ihr „scheint die Aussage von V. 1–31* darin zu liegen, dass die Exilierten akzeptieren müssen, dass der Exodus als Heilsmöglichkeit wegen der ständigen Verschuldungen des Volkes nicht in Frage kommt, dass eine Existenz im Land keine denkbare Realität besitzt – entsprechend der zweistufigen Verkündigung des Ezechielbuches, nach der Israel erst akzeptieren muss, dass das Exil kein kurzfristiger Zustand ist. Erst dann ist vielleicht eine neue Hinwendung des Volkes zu JHWH denkbar. Bis dahin lehnt JHWH aufgrund der bis in die gegenwärtige Zeit des Exils anhaltenden Ablehnung des Volkes die Gemeinschaft mit seinem Volk ab, weswegen er sich nicht befragen lässt. Doch damit ist noch nicht das letzte Wort in Ez 20 gesprochen.“ 33 Barter, Ezekiel 20, 124 sieht im Grundbestand von Ez 20,1–39* sowohl einen Empfänger- wie einen Gebertext. Demnach sind ein Grundtext von Lev 26* und von Num 13–14* Gebertexte für den Grundbestand Ez 20,1–39*, dieser seinerseits wird zum Gebertext für Ex 6,2–8 bzw. 6,6–8 – die Frage der Einheit von Ex 6,2–8 ist umstritten –, ferner für Ex 31,12–17 und vermutlich auch für eine spätere Fassung von Lev 26*. 34 So in Anschluss an Frank-Lothar Hossfeld, Untersuchungen zu Komposition und Theologie des Ezechielbuches, FzB 20 (Würzburg: Echter, 1977), 310: „Wir halten 20,32–38 für den Geburtsort der Rede vom ‚neuen Exodus‘“. 35 Während Zimmerli ab V. 32  ff eine Fortschreibung annimmt, gibt es gute Gründe, V. 32–38.39* als Teil des Grundtextes anzusehen. Doch lässt sich auch eine nur redaktionelle Einheit vertreten.

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‫נִ ְהיֶ ה ַכּגֹויִם‬ ‫ְּכ ִמ ְׁש ְּפחֹות ָה ֲא ָרצֹות‬ ‫ְל ָׁש ֵרת ֵעץ וָ ָא ֶבן‬

Wir wollen wie die Völker sein, wie die Völkerstämme der Länder, um zu dienen Holz und Stein.

Das Ansinnen der Exilsgeneration, sich an die Exilswelt zu assimilieren, wird von JHWH mit aller Vehemenz zurückgewiesen. Der neue Exodus dient zuallererst dem Ziel, eine Assimilierung zu unterbinden. Insofern steht er noch ganz im Zeichen des Gerichts, wie auch die Formel von der ‫פּוכה‬ ָ ‫ב ֵח ָמה ְׁש‬, ְ dem „ausgegossenen Grimm“, deutlich macht. Dieser neue Exodus entspricht in seinen Etappen dem ersten. Er beginnt mit der erneuten Herausführung und Sammlung aus der Völkerwelt (V. 33–34), steht unter der Autorität des göttlichen Königs (‫ֶא ְמלֹוְך‬ ‫יכם‬ ֶ ‫„ ֲע ֵל‬ich werde als König über euch herrschen“) und führt erneut in die Wüste (V. 35–36). An diesem besonderen Ort, der ‫„ ִמ ְד ַּבר ָה ַע ִּמים‬Wüste der Völker“, findet in einer persönlichen Konfrontation mit JHWH die große Scheidung statt – ‫ָּפנִ ים‬ ‫ל־ּפנִ ים‬ ָ ‫„ ֶא‬von Angesicht zu Angesicht“. In der Beschreibung dieses künftigen Gerichts ist es JHWH allein, der als königlicher Souverän und Richter handelt, indem er alle ‫„ ְּב ָמס ֶֹרת ַה ְּב ִרית‬in die Fessel des Bundes“ bringt, die Empörer aber aussondert. Von einer zukünftigen Entscheidung weiß diese Darstellung des neuen Exodus nichts. Dies ist verständlich, würde eine solche doch dazu führen, dass die Exilsgeneration die anstehende Entscheidung in die Zukunft verlagert, eine Fehlhaltung, gegen die Ezechiel an anderer Stelle mehrfach polemisiert (vgl. Ez 12,2236 und 12,2737). Der neue Exodus verfolgt ein zweifaches Ziel: (1) Er macht deutlich, dass eine Assimilierung unter die Völker von JHWH her keine gültige Alternative ist. Dieser Weg wird verbaut. (2) Da in der Zukunft keine Entscheidung vorgesehen ist, ist diese in der Exilsgegenwart inmitten der Diaspora zu reali­sieren. Deshalb kehrt der Diskurs nach dem Vorgriff in die Zukunft wieder in die Gegenwart zurück. Explizit geschieht dies in V.  39*, der allerdings nur bruchstückhaft erhalten ist. Mit Walther Zimmerli vertrete ich die Meinung, dass hier – ähnlich wie in V. 7a innerhalb des Geschichtsrückblicks – ursprünglich eine Aufforderung zur Loslösung von der Götzenwelt des Exils stand. Der Grundtext von Ez 20 ist somit von dem Anliegen geprägt, das sich ähnlich in Ez 14,1–11 und Ez 18 findet: durch Loslösung von der Götzenwelt Ägyptens, von den verkehrten Wegen der Väter wie von den eigenen Götzen soll ein Neubeginn geschehen. Vor diesem Hintergrund ist nun die völlig anders konzipierte Heils36 Ez 12,22: „Menschensohn, was habt ihr da für ein Sprichwort auf dem Ackerboden Israels: Die Tage ziehen sich hin, doch keine Visionen erfüllt sich.“ 37 Ez 12,27: „Menschensohn, siehe, das Haus Israel sagt: Die Vision, die er schaut, gilt für spätere Tage, er weissagt für ferne Zeiten.“

Ez 20,39.40–44 im Horizont des Ezechielbuches 

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verkündigung von Ez 20,39*.40–44 zu hören, deren abweichende Sprache und theologische Akzentsetzung auf andere Verfasser verweisen.

2 Ez 20,39.40–44 als Relecture der vergangenen Geschichte Ez 20,39.40–44 ist ein später Text, der in die nachexilische Zeit gehören und Diasporagemeinden im Blick haben dürfte.

2.1 Aufbau Der Textabschnitt beginnt in V. 39 mit der Aufforderung zum Götzendienst, um zu unterstreichen, dass eine Entweihung des göttlichen Namens fortan nicht mehr möglich ist. Verse 40–42 kündigen einen neuen Exodus an. Dieser führt Israel in das Land der Verheißung, in dem kultisch die Annahme durch Gott vollzogen wird. Die abschließenden V. 43–44 betonen Israels Abscheu vor der eigenen verfehlten Geschichte.

2.2 Neuinterpretation der eigenen Geschichte Wie sehr die später hinzugefügten Verse 39*.40–44, möglicherweise zusammen mit V. 27–29,38 die Gesamtaussage des Grundtextes verändern, zeigt der Vergleich mit Ez 18. Die vielen Entsprechungen zwischen Ez 18 und 2039 lassen auch die

38 Ausführlicher dazu Sedlmeier, Studien, 98–105. 39 Zu den zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen Ez 18 und 20, vgl. Tobias Häner, Bleibendes Nachwirken des Exils. Untersuchungen zur kanonischen Endgestalt des Ezechielbuches, HBS 78 (Freiburg: Herder, 2014), 228–235. Hierher gehören zahlreiche Lexeme, u.  a. die Aufforderung zu „richten“ ‫ שפט‬in Ez 18,30 und 20,4.35  f. Beide Kapitel antworten auf eine Redensart (18,2 und 20,32). Die Ähnlichkeiten in sprachlicher Hinsicht wie in Form, Aufbau und Aussageziel verbinden sie. Die Wendung ‫ּלּולי‬ ֵ ִ‫„ וְ ֵעינָ יו לֹא נָ ָׂשא ֶאל־ּג‬die Augen (nicht) erheben zu den Götzen“ in Ez 18,6.12.15 findet einen Widerhall in Ez 20,24, wo die „Augen“ und „Götzen“ aufeinander bezogen sind: ‫יהם‬ ֶ ֵ‫בֹותם ָהיּו ֵעינ‬ ָ ‫ּלּולי ֲא‬ ֵ ִ‫וְ ַא ֲח ֵרי ּג‬. Die „Gesetze und Rechtsvorschriften“ JHWHs (20,11: ‫ת־מ ְׁש ָּפ ַטי‬ ִ ‫ּקֹותי וְ ֶא‬ ַ ‫ת־ח‬ ֻ ‫)א‬ ֶ finden in Ez 18,9.17.21 Erwähnung und ebenso in Ez 20,11.13.16.19.21.24. Vor allem aber ist die Abfolge mehrerer Generationen mit den Stichworten ‫ אב‬und ‫ בן‬prägend für beide Kapitel. In Ez 18 sind es drei Generationen (Ez 18,5–9.10–13.14–19), in Ez 20 im Grundbestand zwei, wobei die erste Generation durch den Ortswechsel von Ägypten in die Wüste in

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Unterschiede sichtbar werden, die durch die redaktionelle Bearbeitung des Grundtextes von Ez 20 entweder verstärkt oder erst generiert werden. Ez 18 läuft in V. 30–32 auf eine Umkehrforderung als Ziel des gesamten Redeganges hinaus, eingebunden in eine „Tod-Leben“-Problematik. So heißt es in V. 31 und V. 32: ‫יכם‬ ֶ ‫ל־ּפ ְׁש ֵע‬ ִ ‫ת־ּכ‬ ָ ‫יכם ֶא‬ ֶ ‫ […] ַה ְׁש ִליכּו ֵמ ֲע ֵל‬:‫וְ ָל ָּמה ָת ֻמתּו ֵּבית יִ ְׂש ָר ֵאל‬ :‫ִּכי לֹא ֶא ְחּפֹץ ְּבמֹות ַה ֵּמת נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה וְ ָה ִׁשיבּו וִ ְחיּו‬

Hinter der Aufforderung von Ez 20,39 ‫ּלּוליו ְלכּו‬ ָ ִ‫ ִאיׁש ּג‬mag man noch ein ursprüngliches ‫„ ַה ְׁש ִליכּו‬werft weg!“ vermuten. Doch in seiner von V. 40–44 her bearbeiteten Endgestalt fordert V. 39 ausdrücklich zum Götzendienst auf. Diese wohl ironisch zu verstehende Aufforderung will sagen, dass selbst im Falle des Götzendienstes eine Entweihung des göttlichen Namens nicht mehr möglich ist. ‫ֹה־א ַמר ֲאד ֹנָ י יְ הֹוה‬ ָ ‫וְ ַא ֶּתם ֵּבית־יִ ְׂש ָר ֵאל ּכ‬ ‫ּלּוליו ְלכּו ֲעבֹדּו‬ ָ ִ‫ִאיׁש ּג‬ ‫ם־אינְ ֶכם ׁש ְֹמ ִעים ֵא ָלי‬ ֵ ‫וְ ַא ַחר ִא‬ ‫ת־ׁשם ָק ְד ִׁשי לֹא ְת ַח ְּללּו־עֹוד‬ ֵ ‫ֶא‬ ‫יכם‬ ֶ ‫ּלּול‬ ֵ ִ‫ּובג‬ ְ ‫יכם‬ ֶ ‫נֹות‬ ֵ ‫ְּב ַמ ְּת‬

Ihr aber, Haus Israel, so spricht mein Gebieter, JHWH: Geht doch, dient! Ein jeder seinen Götzen! Doch danach, wenn ihr nicht auf mich hört – meinen heiligen Namen werdet ihr nicht mehr entweihen mit euren Opfergaben und mit euren Götzen.

Vergleicht man die Aufforderung in V. 39 mit dem Grundtext von Ez 20, entspricht sie dem Sinn nach der Redewendung der Exilierten von V. 32 und ihrem Ansinnen, sich in der Völkerwelt zu assimilieren. Wozu dann ein neuer Exodus und der Weg in die Wüste der Nationen (V. 34–38)? – Es ist offensichtlich, dass hier eine neue theologische Argumentationsebene eingefügt wurde. Ein zweites Beispiel: In Ez 18,30 fordert JHWH das rechte Verhalten nach dem Prinzip der individuellen Vergeltung ein: ‫איׁש ִּכ ְד ָר ָכיו ֶא ְׁשּפֹט ֶא ְת ֶכם ֵּבית יִ ְׂש ָר ֵאל‬. ִ In 20,44 hingegen wird exakt dieses Prinzip der Vergeltung ausdrücklich außer Kraft gesetzt: ‫יכם ַהּנִ ְׁש ָחתֹות‬ ֶ ‫ילֹות‬ ֵ ‫יכם ָה ָר ִעים וְ ַכ ֲע ִל‬ ֶ ‫לֹא ְכ ַד ְר ֵכ‬. Pointiert formuliert deshalb Michael Fishbane: „the theological core of Ezekiel 20 is diametrically opposed to the teaching of chapter 18“.40 Die von V. 40–44 her vollzogene Umdeutung verleiht auch dem Generationenzusammenhang und mit ihm dem Geschichtsrückblick eine neue Ausrichtung.41 Während Ez 18 in Reaktion auf den Spruch von V. 2 die Diskontinuität einfordert, zwei Phasen aufgeteilt ist (Ez 20,5–9.10–16.17–26). Durch die Ergänzung V. 27–29 wird eine weitere Phase der „Väter im Land“ hinzugefügt. Häner, Nachwirken, 231 gliedert die Generationenfolgen von Kap. 20 vom Endtext ausgehend in die Abschnitte Ez 20,5–17.18–29.30–44. Vom Textbefund her scheint mir diese Einteilung etwas gewagt. 40 Michael Fishbane, „Sin and Judgement in the Prophecies of Ezekiel,“ in Interpreting Prophets, hg. v. J.L. Mays / P.J. Achtemeier (Philadelphia: Fortress Press, 1987), 181. 41 Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen von Häner, Nachwirken, 231–235.

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die schließlich in einen Ruf in die Verantwortung übergeht (V. 31: ‫וַ ֲעׂשּו ָל ֶכם ֵלב‬ ‫רּוח ֲח ָד ָׁשה‬ ַ ְ‫)ח ָדׁש ו‬, ָ und auch der Grundbestand von Ez 20 auf dieser Diskontinuität gegenüber den Vätern insistiert, gewinnt die Aussage des Endtextes von V. 39–44 her eine gegenläufige Stoßrichtung. Statt der Diskontinuität wird die Kontinuität zwischen den Generationen ausdrücklich betont. Damit gewinnt der Geschichtsrückblick in der Endgestalt von Ez 20 ein völlig neues Profil. Die Väter in Ägypten lösen sich nicht von den „Götzen Ägyptens“ (V. 7  f ‫ּלּולי ִמ ְצ ַריִ ם‬ ֵ ִ‫)ג‬, sondern geben diese in der Wüste als Erbe an die nächste Generation weiter, die den „Götzen ihrer Väter“ (V. 18.24: ‫בֹותם‬ ָ ‫ּלּולי ֲא‬ ֵ ִ‫ )ּג‬folgt. Und diese werden nach V. 31 und 39 schließlich zu ihren eigenen Götzen, nämlich zu denen der gegenwärtigen Generation (‫יכם‬ ֶ ‫ּלּול‬ ֵ ִ‫ג‬ „eure Götzen“). Die Aufforderung von V. 39 in seiner Endgestalt bestätigt diese Kontinuität mit dem ironisch-zynischen Aufruf, doch zu den Götzen zu gehen. Die Perspektive gegenüber Ez 18,30 (‫)איׁש ִּכ ְד ָר ָכיו ֶא ְׁשּפֹט ֶא ְת ֶכם‬ ִ kehrt sich völlig um, wenn 20,44 konstatiert: ‫יכם ָה ָר ִעים‬ ֶ ‫ׂשֹותי ִא ְּת ֶכם ְל ַמ ַען ְׁש ִמי לֹא ְכ ַד ְר ֵכ‬ ִ ‫„ ַּב ֲע‬wenn ich an euch handle um meines Namens willen, nicht gemäß eurer bösen Wege“. Diesen radikalen Wechsel in der Perspektive hat Tobias Häner so charakterisiert: „Nicht die Abkehr Israels von den Verfehlungen wird dazu führen, dass JHWH dieser ‚nicht mehr gedenkt‘ (‫ל־ּפ ָׁש ָעיו ֲא ֶׁשר ָע ָׂשה לֹא יִ ּזָ ְכרּו לֹו‬ ְ ‫ ָּכ‬18,22), sondern das gegenläufige Handeln JHWHs wird Israel dazu bringen, selber der eigenen Verfehlungen ‚zu gedenken‘ (‫יכם‬ ֶ ‫ילֹות‬ ֵ ‫ל־ע ִל‬ ֲ ‫יכם וְ ֵאת ָּכ‬ ֶ ‫ת־ּד ְר ֵכ‬ ַ ‫ם־ׁשם ֶא‬ ָ ‫ ּוזְ ַכ ְר ֶּת‬20,43).“42 Diese radikale Wende, auf die die Botschaft von Ez 20 hinausläuft, hat Rüdiger Bartelmus pointiert so zusammengefasst: „Israel kann Heil erwarten, ohne etwas dafür getan zu haben.“43

3 Ez 20,39.40–44 im Horizont des Ezechielbuches Ez 20,39–44 ist in ein verzweigtes Textgewebe mit ähnlich gearteten Aussagen innerhalb wie außerhalb des Ezechielbuches eingebunden. Dabei ist es im Einzelfall schwierig, den jeweiligen Geber- und Empfängertext präzise zu bestimmen.

42 Häner, Nachwirken, 232  f. 43 Rüdiger Bartelmus, „Menschlicher Misserfolg und Jahwes Initiative: Beobachtungen zum Geschichtsbild des deuteronomistischen Rahmens im Richterbuch und zum geschichtstheologischen Entwurf in Ez 20,“ BN 70 (1993): 46. Diese pointierte Aussage bleibt, isoliert betrachtet, jedoch missverständlich. Denn das von JHWH her geschehende Heil ist Teil eines dramatischen Transformationsgeschehenes, das Israel ganz und gar involviert und in keiner Weise unbeteiligt lässt. In diesem Sinne ist die Aussage von R. Bartelmus auch zu verstehen.

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3.1 Ez 20,39–44 und Ez 16,59–63 Eine auffällige Verknüpfung besteht mit Ez  16,59–63.44 In der Darstellung der heilvollen Zukunft zeigen beide Texte bemerkenswerte Entsprechungen. Dabei kommt dem „Gedenken“ jeweils eine besondere Bedeutung zu. In Ez 16,60 ist es JHWH, der seines Bundes „gedenkt“ (‫יתי‬ ִ ‫ת־ּב ִר‬ ְ ‫זָ ַכ ְר ִּתי ֲאנִ י ֶא‬ ‫עּוריִ ְך‬ ָ ְ‫ימי נ‬ ֵ ‫)אֹותְך ִּב‬, ָ eines Bundes, den er nach Ez 16,8 mit seiner Braut eingegangen ist (‫)וָ ָאבֹוא ִב ְב ִרית א ָֹתְך‬. Ez 20,42 erinnert an den Schwur (‫אֹותּה‬ ָ ‫אתי ֶאת־יָ ִדי ָל ֵתת‬ ִ ‫נָ ָׂש‬ ‫יכם‬ ֶ ‫בֹות‬ ֵ ‫)ל ֲא‬, ַ den JHWH nach 20,6 einst den Vätern gegeben hat (‫אתי‬ ִ ‫ַּבּיֹום ַההּוא נָ ָׂש‬ ‫)יָ ִדי ָל ֶהם‬. Das „Gedenken“ führt in beiden Texten zur Einsicht in die eigenen Vergehen, in 16,61 (‫ת־ּד ָר ַכיִ ְך‬ ְ ‫ )וְ זָ ַכ ְר ְּת ֶא‬und in 20,43 (‫יכם‬ ֶ ‫ת־ּד ְר ֵכ‬ ַ ‫ם־ׁשם ֶא‬ ָ ‫ )ּוזְ ַכ ְר ֶּת‬ähnlich formuliert. Diese Einsicht in das eigene Fehlverhalten geschieht angesichts und aufgrund des göttlichen Heilshandelns. Die Folge dieser Einsicht ist das „Sich Schämen“, ausgedrückt mit den Wurzeln ‫ בוש‬und ‫ כלם‬niph (16,63: ‫ְל ַמ ַען ִּתזְ ְּכ ִרי וָ ב ְֹׁש ְּת‬ ‫ה־ּלְך עֹוד ִּפ ְתחֹון ֶּפה‬ ָ ֶ‫)וְ לֹא יִ ְהי‬, und ist das „Sich Ekeln“ ‫ קוט בפנים‬niph (20,43: ‫ּונְ קֹט ֶֹתם‬ ‫יכם‬ ֶ ֵ‫)ּב ְפנ‬. ִ Für diesen Vorgang der Transformation gilt es festzuhalten: „Beide Male ist es nicht die Reue, die Vergebung ermöglicht, sondern folgt die Reue erst nach der Vergebung, da nämlich JHWHs Heilsinitiative das Bewusstsein der eigenen Vergehen hervorruft“.45 Wandlung und Erneuerung geschehen durch ein künftiges göttliches Heilshandeln, das gegenläufig zur Schuldverfallenheit Israels wirksam wird. Ähnlich wie in Ez 16,59–63 sind auch in Ez 20,40–44 die Stichworte „gedenken, erinnern“ (V. 43a: ‫)זכר‬, „Abscheu haben“ vor sich selbst (V. 43b: ‫ )קוט‬und JHWH „erkennen“ (V. 44a: ‫ )ידע‬leitend.46

44 Beide Geschichtsreflexionen sind zwar in der sprachlichen Gestaltung und hinsichtlich der Adressaten (Jerusalem, Haus Israel) sehr unterschiedlich, beginnen aber jeweils mit der fremden Herkunft der/des Erwählten (Findelkind, Ägyptenaufenthalt), betonen sodann die gnadenhafte Erwählung und die Abtrünnigkeit. In beiden erfolgt ein Gericht. Beide münden ein in eine heilvolle Zukunft. 45 Häner, Nachwirken, 235, bezugnehmend auf Margaret S. Odell, „The Inversion of Shame and Forgiveness in Ezekiel 16:59–63,“ JSOT 56 (1992): 101–112. 46 Die gleiche Abfolge der drei Verben findet sich auch in Ez 6,9  f, ein Text, der in das Panorama anthropologischer Aussagen des Ezechielbuches gehört. Ausführlicher dazu: Franz Sedlmeier, „Transformationen. Zur Anthropologie Ezechiels,“ in Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, FRLANT 232, hg. v. Andreas Wagner (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 203–233.

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3.2 Lev 26 und die Heilsverheißungen von Ez 16,59–63 und 20,39–44 Ez 16,59–63 und Ez 20,39–44 weisen auffällige Bezüge zu Lev 26 auf. Schon in den Gerichtsworten des Ezechielbuches Ez 5,5–7,27 finden sich deutliche Anspielungen auf Lev 26, und zwar auf die Fluchandrohungen Lev 26,14–45, vor allem auf V. 14–33. Die Heilsankündigungen von Ez 16 und 20 greifen hingegen auf die Segensworte in Lev 26,34–45 zurück.

3.2.1 Ez 16,59–63 und Lev 26 Die Anspielungen von Ez 16,59–63 auf Lev 26,42–45 sind auffällig.47 Fünfmal taucht in beiden Abschnitten das Wort ‫„ ברית‬Bund“ auf, dreimal ist von ‫זכר‬ „gedenken“ die Rede.48 Im Unterschied zu Lev 26,42.45, wo der Väterbund erinnert wird, spielen die Väter beim Bundesgedenken in Ez 16 keine Rolle. Ez 16,60 spricht stattdessen von ‫עּוריִ ְך‬ ָ ְ‫ימי נ‬ ֵ ‫אֹותְך ִּב‬ ָ ‫יתי‬ ִ ‫ת־ּב ִר‬ ְ ‫וְ זָ ַכ ְר ִּתי ֲאנִ י ֶא‬ – „meinem Bund mit dir in den Tagen deiner Jugend“. Nicht der Bund mit den Vätern, sondern die eigene Jugend, die Tage des Findelkindes, das ausgesetzt und nackt und bloß in seinem Blute lag, werden erinnert. Auch das „Gedenken“ geht in Ez 16 nicht zurück auf den Bund mit den Vätern, sondern es löst ein „Sich-Schämen“ aus (V. 61: ‫ כלם‬niph; V. 63: ‫)בוש‬. Der entscheidende Unterschied zwischen Lev 26 und Ez 16 liegt jedoch im jeweiligen Begründungszusammenhang. „Im Unterschied zu Lev 26 geht […] in Ez 16 der Verheißung der Heilswende nicht die Ankündigung eines Prozesses der

47 Lev 26,42–45: „42 Dann werde ich meines Bundes mit Jakob gedenken (‫יתי יַ ֲעקֹוב‬ ִ ‫ת־ּב ִר‬ ְ ‫)וְ זָ ַכ ְר ִּתי ֶא‬, und auch meines Bundes mit Isaak (‫יתי יִ ְצ ָחק‬ ִ ‫ת־ּב ִר‬ ְ ‫ )וְ ַאף ֶא‬und auch meines Bundes mit Abraham werde ich gedenken (‫יתי ַא ְב ָר ָהם ֶאזְ ּכֹר‬ ִ ‫ת־ּב ִר‬ ְ ‫)וְ ַאף ֶא‬, und gedenken werde ich des Landes (‫)וְ ָה ָא ֶרץ ֶאזְ ּכֹר‬. 43 Das Land aber muss von ihnen verlassen werden und seine Sabbate ersetzt bekommen, indem es ohne seine Bewohner verödet daliegt. Sie sollen ihre Schuld sühnen, weil sie immer wieder meine Vorschriften missachtet und meine Satzungen verabscheut haben. 44 Aber selbst wenn sie im Land ihrer Feinde sind, werde ich sie nicht missachten und sie nicht verabscheuen, um ihnen etwa ein Ende zu machen und meinen Bund mit ihnen zu widerrufen (‫יתי ִא ָּתם‬ ִ ‫;)ל ָה ֵפר ְּב ִר‬ ְ denn ich bin der Herr, ihr Gott. 45 Ich werde zu ihren Gunsten des Bundes mit den Vorfahren gedenken (‫)וְ זָ ַכ ְר ִּתי ָל ֶהם ְּב ִרית ִראׁש ֹנִ ים‬, die ich vor den Augen der Völker aus Ägypten herausgeführt habe, um ihr Gott zu sein, ich, der Herr.“ 48 JHWH gedenkt seines Bundes (Ez 16,60; Lev 26,42.45). Außerdem wird mit dem Bundesgedenken auch der Bundesbruch erwähnt (Lev 26,44; Ez 16,59).

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Einsicht in die eigene Schuld voraus wie in Lev  26,39–41, vielmehr erfolgt ein solcher Prozess erst als Reaktion auf Gottes Heilsinitiative.“49

3.2.2 Ez 20,39–44 und Lev 26 Ähnliches lässt sich auch für Ez 20 und seine Bezüge zu Lev 26 feststellen. Während die Exilierten nach Lev 26,40–4150 und 26,4351 ihre Schuld gleichsam „abtragen“ und „abarbeiten“ müssen, geschieht in Ez 20 wie zuvor schon in Ez 16 ein umgekehrter Vorgang. Nicht vor dem Heilshandeln JHWHs erfolgt die Einsicht der Exilierten in ihre Schuld, sondern erst aufgrund desselben; ins Land zurückgeführt, werden sie „ihrer Wege gedenken“ und „sich vor sich selbst ekeln“ (Ez  20,43). Nicht durch JHWHs vergeltendes Strafhandeln, wie der Verlauf von Lev 26 anzeigt, sondern durch Nichtvergeltung wird Israel zur Schuldeinsicht und schließlich zur Gotteserkenntnis gelangen: „Ihr werdet erkennen, dass ich JHWH (es) bin, wenn ich an euch um meines Namens willen handle, nicht gemäss euren schlechten Wegen und euren verdorbenen Taten, Haus Israel“ (Ez 20,44).52

Durch den Bezug auf Lev 26 wird somit die Bedingtheit des kommenden göttlichen Heils ins Spiel gebracht, die auch Ez 14,1–11; Ez 18 und den Grundtext von Kap. 20 prägt. Im Unterschied dazu zeigen die Heilsworte Ez 16,59–63 und 20,39–44 ein zum menschlichen Fehlverhalten gegenläufiges Heilshandeln JHWHs. Dieses ist Voraussetzung für eine neue Selbstwahrnehmung des Menschen. Und diese Selbstwahrnehmung verbindet Ezechiel mit der Rede von der Abscheu und vom Ekel vor dem eigenen Fehlverhalten, wie Ez 16,63 und 20,43, aber auch Ez 36,31 zeigen.

49 Häner, Nachwirken, 284. 50 Lev 26,40–41: „40 Dann werden sie die Schuld eingestehen, die sie selbst und ihre Väter begangen haben durch ihren Treubruch und auch dadurch, dass sie mir feindlich begegnet sind, 41 so dass auch ich ihnen feindlich begegnete und sie in das Land ihrer Feinde führte. Ihr unbeschnittenes Herz muss sich dann beugen, und ihre Sünden müssen sie sühnen.“ 51 Lev 26,43: „Das Land aber muss von ihnen verlassen werden und seine Sabbate ersetzt bekommen, indem es ohne seine Bewohner verödet daliegt. Sie sollen ihre Schuld sühnen, weil sie immer wieder meine Vorschriften missachtet und meine Satzungen verabscheut haben.“ 52 Häner, Nachwirken, 287.

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3.3 Ez 20,39–44 und Ez 36,16–38 Die Bezüge zwischen Ez 20 und Ez 36 sind ausgesprochen vielschichtig, vermutlich sind beide Texte einander Geber- wie Empfängertext.53 Ez  36,16–23bα dürfte jünger als der Grundbestand von Ez 20 sein, aber älter als Ez 20,39.40–44. Den jüngsten Textabschnitt stellen zweifellos die in P 967 noch nicht bezeugten V. 23bβ–38 aus Ez 36 dar. Die negative Beurteilung der vergangenen Wege und Taten Israels, die den Boden (‫ )אדמה‬verunreinigten (in 36,17: ‫ טמא‬pi; in 20,43: ‫ טמא‬niph) verbindet Ez 36,17.19 mit Ez 20,43–44.54 Die Ausgießung des göttlichen Zornes, die im Grundtext von Ez 20 sowohl im Geschichtsrückblick (20,8.13.21: ‫יהם‬ ֶ ‫)וָ א ַֹמר ִל ְׁשּפְֹך ֲח ָמ ִתי ֲע ֵל‬ als auch beim neuen Exodus (V. 33.34) angekündigt, aber nicht realisiert wurde,55 wird in Ez 36,18 aufgrund der Verunreinigung des Landes als vollzogen dargestellt (‫יהם‬ ֶ ‫)וָ ֶא ְׁשּפְֹך ֲח ָמ ִתי ֲע ֵל‬. Das göttliche Gerichtshandeln findet in der Zerstreuung seinen Ausdruck (20,41b; 36,19). Dabei hält 36,19 ausdrücklich das göttliche Vergeltungshandeln fest: ‫ילֹותם ְׁש ַפ ְט ִּתים‬ ָ ‫„ ְּכ ַד ְר ָּכם וְ ַכ ֲע ִל‬nach ihrem Weg und nach ihren

53 Horacio Simian(-Yofre), Die theologische Nachgeschichte der Prophetie Ezechiels. Form- und traditionsgeschichtliche Untersuchung zu Ez 6; 35; 36, FzB 14 (Würzburg: Echter, 1974), 353 sieht in Ez 20 den Gebertext für Ez 36; ähnlich Moshe Greenberg, Ezekiel, 21–37, AncB 22A (New York: Doubleday, 1997), 734  f (= ders., Ezechiel 21–37, HThKAT [Freiburg: Herder, 2005], 435), der von einer Weiterführung spricht. Anders hingegen Thomas Krüger, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, BZAW 180 (Berlin/New York: De Gruyter, 1989), 441–444; Pohlmann, Ezechielstudien, 79–84; Anja Klein, Schriftauslegung im Ezechielbuch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39, BZAW 391 (Berlin: de Gruyter, 2008), 154–161, die eine gegenseitige Abhängigkeit annehmen, nach der Ez 36,16–23bα den Ausgangspunkt bildet. Vermutlich hat der Grundtext von Ez 20,1–26.30–38.39a* als ältester Text zu gelten, der in Ez 36,16–23bα weitergeführt wird. Ez 36,16–23bα ist Gebertext für Ez 20,39.40–44 (einschließlich der Ergänzung V. 27–29). Den Abschluss der Textentwicklung bildet der späte, in P 967 noch nicht bezeugte Text Ez 36,23bβ–38. 54 Ez 36,17: „Als die vom Haus Israel in ihrem Land wohnten, machten sie es durch ihre Wege und ihre Taten unrein.“ (‫ילֹותם‬ ָ ‫ּוב ֲע ִל‬ ַ ‫אֹותּה ְּב ַד ְר ָּכם‬ ָ ‫)וַ יְ ַט ְּמאּו‬. Ez 36,19: „Ich zerstreute sie unter die Nationen; in die Länder wurden sie vertrieben. Nach ihren Wegen und nach ihren Taten habe ich sie gerichtet.“ (‫ילֹותם ְׁש ַפ ְט ִּתים‬ ָ ‫)ּכ ַד ְר ָּכם וְ ַכ ֲע ִל‬. ְ Ez 20,43–44: „43 Dort werdet ihr euch an euer Verhalten und an all eure Taten erinnern, durch die ihr euch unrein gemacht habt (‫אתם ָּבם‬ ֶ ‫יכם ֲא ֶׁשר נִ ְט ֵמ‬ ֶ ‫ילֹות‬ ֵ ‫ל־ע ִל‬ ֲ ‫יכם וְ ֵאת ָּכ‬ ֶ ‫ת־ּד ְר ֵכ‬ ַ ‫ם־ׁשם ֶא‬ ָ ‫)ּוזְ ַכ ְר ֶּת‬, und es wird euch ekeln vor euch selbst wegen all der bösen Taten, die ihr begangen habt. (‫יכם‬ ֶ ֵ‫ּונְ קֹט ֶֹתם ִּב ְפנ‬ :‫יתם‬ ֶ ‫יכם ֲא ֶׁשר ֲע ִׂש‬ ֶ ‫עֹות‬ ֵ ‫ל־ר‬ ָ ‫)ּב ָכ‬ ְ 44 Ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin, wenn ich um meines Namens willen so an euch handle (‫ׂשֹותי ִא ְּת ֶכם ְל ַמ ַען ְׁש ִמי‬ ִ ‫י־אנִ י יְ הוָ ה ַּב ֲע‬ ֲ ‫ )וִ ַיד ְע ֶּתם ִּכ‬und nicht nach eurem verkehrten Verhalten und nach euren verwerflichen Taten (‫יכם ַהּנִ ְׁש ָחתֹות‬ ֶ ‫ילֹות‬ ֵ ‫יכם ָה ָר ִעים וְ ַכ ֲע ִל‬ ֶ ‫)לֹא ְכ ַד ְר ֵכ‬, ihr vom Haus Israel (‫)ּבית יִ ְׂש ָר ֵאל‬ – ֵ Spruch Gottes, des Herrn.“ (‫)נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה‬. 55 Im Geschichtsrückblick nimmt JHWH seinen Gerichtszorn ‫„ ְל ַמ ַען ְׁש ִמי‬um meines Namens willen“ jeweils zurück. Beim neuen Exodus in 20,32–38 kündigt er ein künftiges Gericht an.

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Taten habe ich sie gerichtet“. Dies entspricht der theologischen Sicht, wie sie sich in Ez 18 und im Grundbestand von Ez 20 gezeigt hat. Die Entweihung des göttlichen Namens vor den Augen der Völker als Folge der Zerstreuung56 führt als göttliche Reaktion zum Heiligkeitserweis vor den Augen der Völker, so Ez 36,23 und Ez 20,41aβ.b.57 Während der Grundbestand von Ez 36 – hier V. 23bα – dieses künftige göttliche Handeln noch nicht als neuen Exodus benennt, ist es im späteren Text Ez 40,41b bereits mit dem neuen Exodus verbunden. Außerdem geht Ez 20,44 deutlich über Ez 36,19 hinaus. An die Stelle eines göttlichen Vergeltungshandelns (36,19) tritt in Ez 20,44 das Handeln Gottes um seines Namens willen: ‫ׂשֹותי ִא ְּת ֶכם ְל ַמ ַען‬ ִ ‫י־אנִ י יְ הוָ ה ַּב ֲע‬ ֲ ‫וִ ַיד ְע ֶּתם ִּכ‬ ‫ְׁש ִמי‬ ‫יכם ַהּנִ ְׁש ָחתֹות‬ ֶ ‫ילֹות‬ ֵ ‫יכם ָה ָר ִעים וְ ַכ ֲע ִל‬ ֶ ‫לֹא ְכ ַד ְר ֵכ‬ ‫ֵּבית יִ ְׂש ָר ֵאל נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה‬

Ihr werdet erkennen, dass ich JHWH bin, wenn ich um meines Namens willen an euch handle, und nicht nach euren bösen Wegen und nach euren verderbten Taten, Haus Israel – Spruch meines Gebieters JHWH.

Der neue Exodus, der erstmals in 20,34 Erwähnung findet, dann in 20,41 wieder aufgegriffen und mit der Landgabe in 20,42 fortgeführt ist, wird im späten Text Ez 36,24–28 breit entfaltet. Der erste Exodus war mit der Auflage verbunden, sich an die Gesetze zu halten (20,13.21), um in das von JHWH ausgesuchte Land zu kommen. Anders in Ex 36,24–28. Auf den Exodus und die Landgabe (V. 24) folgen eine gottgewirkte Reinigung (V. 25) und eine Erneuerung des Menschen (V. 26). Diese göttlichen Heilstaten, verbunden mit der Gabe des göttlichen Geistes, befähigen den Menschen erst zum Leben nach der göttlichen Weisung. Damit führt Ez 36,23bβ–28 die Theologie von Ez 16,59–63 und 20,39–44 fort und entfaltet sie weiter. Unter der Voraussetzung einer grundlegenden, von Gott selbst gewirkten Erneuerung des Menschen („neues Herz, Herz aus Fleisch, neuer Geist“) ist dieser erst fähig, aus der Weisung zu leben. Beobachtung der Gesetze und Leben im

56 Nach dem Geschichtsrückblick Ez 20,9.14.22 bestand die Gefahr der Entweihung „vor den Augen der Völker“ (‫)ל ֵעינֵ י ַהּגֹויִם‬, ְ weswegen das Gericht nicht vollstreckt wurde. Ez 20,41b und 36,23 konstatieren hingegen, dass diese Entweihung geschehen ist. 57 Ez 36,23: „Meinen großen, bei den Nationen entweihten Namen, den ihr mitten unter ihnen entweiht habt, werde ich wieder heiligen (‫תֹוכם‬ ָ ‫ת־ׁש ִמי ַהּגָ דֹול ַה ְמ ֻח ָּלל ַּבּגֹויִ ם ֲא ֶׁשר ִח ַּל ְל ֶּתם ְּב‬ ְ ‫)וְ ִק ַּד ְׁש ִּתי ֶא‬. Und die Nationen – Spruch meines Gebieters JHWH – werden erkennen, dass ich der JHWH bin, wenn ich mich an euch vor ihren Augen als heilig erweise.“ (‫י־אנִ י יְ הוָ ה נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הוִ ה‬ ֲ ‫וְ יָ ְדעּו ַהּגֹויִם ִּכ‬ ‫יהם‬ ֶ ֵ‫)ּב ִה ָּק ְד ִׁשי ָב ֶכם ְל ֵעינ‬. ְ Ez 20,41aβ.b: „Ich werde euch aus den Ländern sammeln, in die ihr zerstreut seid (‫וְ ִק ַּב ְצ ִּתי ֶא ְת ֶכם‬ ‫ן־ה ֲא ָרצֹות ֲא ֶׁשר נְ ֹפצ ֶֹתם ָּבם‬ ָ ‫)מ‬, ִ und ich werde ich mich vor den Augen der Völker durch euch als heilig erweisen“ (‫)וְ נִ ְק ַּד ְׁש ִּתי ָב ֶכם ְל ֵעינֵ י ַהּגֹויִם‬.

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Land gehören weiterhin sachgemäß zusammen, doch hat sich die Grundlage verändert. Die entscheidende Voraussetzung liegt bei der gottgewirkten Erneuerung und Zurüstung des Menschen für das Leben im Lande. Ez 20,42 und 36,28 bezeugen gemeinsam, dass damit die an die Väter ergangenen Verheißungen erfüllt sind, was Ez 36,28 durch die abschließende Bundes- oder Zugehörigkeitsformel unterstreicht. Dieses gottgewirkte Heil führt auch in Ez 36,31 wie schon zuvor in 20,43 zur Abscheu vor der eigenen Vergangenheit.58 Die Abscheu vor sich selbst und das Gedenken der eigenen Schuld unterstreichen so erneut das menschlicherseits unverdiente, ausschließlich gnadenhafte Geschehen der heilvollen Zukunft.

4 „Ich will euch gnädig annehmen“: Ez 20,40–44 und Ez 43,27 Mein Beitrag ist überschrieben ‫„ ֶא ְר ֶצה ֶא ְת ֶכם‬Ich will euch gnädig annehmen …“ (Ez 20,41). Diese Aussage aus Ez 20,41 wird in Ez 43,27 aufgegriffen und findet dort zugleich einen Höhe- und Zielpunkt. Darauf sei abschließend noch eigens eingegangen. Israels Weg war nach der Darstellung des Geschichtsrückblicks von Ez 20 völlig gescheitert. Dieses Scheitern findet seinen deutlichsten Ausdruck in den ‫טֹובים‬ ִ ‫„ ֻח ִּקים לֹא‬Geboten, die nicht gut waren“ (V. 25) und in der Vernichtung des Kultes, der in die Unreinheit führt und deshalb kultunfähig macht. Damit werden zwei Heilsgaben, die als solche konstitutiv für den Weg Israels mit Gott sind, zur schadhaften, tödlichen Medizin. Die Gebote dienen nicht dem Leben, die Perspektive auf ein Leben im Lande ist damit zunichte. Und – der Kult zerstört den Gottesbezug. Nun ist mit der Erwähnung des „Durchbruchs des Mutterschoßes“ (Ez 20,26) nicht irgendein kultisches Begängnis, ein Wallfahrtsfest oder Ähnliches, im Blick. Mit der Darbringung der Erstgeburt oder deren Auslösung kommt die Wurzel menschlicher Existenz in den Blick: die Übereignung des Lebens an JHWH, das Eintreten in den Bereich des göttlichen Schutzes. Auf

58 Ez 36,31: „Dann werdet ihr an eure verkehrten Wege und an eure Taten denken, die nicht gut waren, und es wird euch ekeln vor euch selbst (‫יכם‬ ֶ ֵ‫ )ּונְ קֹט ֶֹתם ִּב ְפנ‬wegen eurer Gräueltaten.“ Ez 20,43.44: „43 Dort werdet ihr eurer Wege und all eurer Taten gedenken, durch die ihr euch unrein gemacht habt, und es wird euch ekeln vor euch selbst (‫יכם‬ ֶ ֵ‫ )נְ קֹט ֶֹתם ִּב ְפנ‬wegen all der bösen Taten, die ihr begangen habt. 44 Ihr werdet erkennen, dass ich JHWH bin, wenn ich um meines Namens willen an euch handle und nicht nach euren bösen Wegen und nach euren verderbten Taten, Haus Israel – Spruch meines Gebieters JHWH.“

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kollektiver Ebene geht es um nicht weniger als um die Existenz Israels vor Gottes Angesicht, gehört doch die Weisung von Ex 13,2 in die Geburtsstunde Israels beim Auszug aus Ägypten. Es wird also nicht irgendeine kultische Gestalt oder deren Fehlform negativ beurteilt, sondern die Grundgestalt von Kult und das, wofür der Kult steht, ist ver-nichtet: die Zueignung an JHWH und das Leben aus dem göttlichen Schutz.59 In Ez 20,40–41 mit der Zielangabe ‫ר־ק ְד ִׁשי‬ ָ ‫„ ְב ַה‬auf meinem heiligen Berg“ und ‫„ ְּב ַהר ְמרֹום יִ ְׂש ָר ֵאל‬auf dem hohen Berg Israels“ ist sicherlich auf den Tempelberg als dem Ort der Gegenwart Gottes verwiesen. Israel wird nicht länger in der Gefolgschaft der Götzen gehen (vgl. V. 39), sondern JHWH dienen, und zwar ‫ל־ּבית‬ ֵ ‫ָּכ‬ ‫„ יִ ְׂש ָר ֵאל ֻּכֹּלה ָּב ָא ֶרץ‬das ganze Haus Israel, sie alle, im Lande“ (V. 40), ein deutlicher Hinweis darauf, dass die gesamte Diaspora im Blick ist und am heiligen Ort ihr bleibendes Ziel findet. Weil JHWH Israel als sein Volk „dort“ ganz annehmen wird (V. 40: ‫)ׁשם ֶא ְר ֵצם‬, ָ wird Israel – anders als in V. 26 – nun „Opfer“ darbringen, die Zeichen einer stimmigen Beziehung zu Gott sind (V. 41). Diese Annahme Israels durch Gott wird weiter verstärkt durch den Ausdruck ‫ּב ֵרי ַח נִ יחֹ ַח‬. ְ Ich deute die Präposition als ‫ ב‬essentiae. Das heißt: ‫„ ְּב ֵרי ַח נִ יחֹ ַח‬als lieblichen Opferduft“ wird JHWH sein Volk annehmen. In dieser Metapher, nach der Israel selbst der „liebliche Opferduft“ ist, kommt zum Ausdruck, dass JHWH und sein Volk einander neu und ganz inne sind.60 Die Aussage einer „gnädigen Annahme“ durch Gott auf seinem heiligen Berg (‫)ׁשם ֶא ְר ֵצם‬ ָ von 20,40 wird in der Schlussvision von Ez 40–48 gezielt und an herausragender Stelle erneut aufgegriffen, in Ez 43,27. Die Schlussvision gliedert sich nach der Eröffnung 40,1–4 in zwei größere Textabschnitte ungleichen Ausmaßes. Deren erster konzentriert sich auf den Tempel (40,5–46,24), der zweite auf das Land (47,1–48,35). Der für uns einschlägige erste Textabschnitt 40,5–46,24 kreist um den Tempelbezirk und lässt sich seinerseits in drei Teile gliedern. Er beginnt (1) mit der Tempelführung (40,5–42,20), daran schließt sich (2) als Mitte dieses Textabschnittes 43,1–44,8 an: die Beschreibung und Weihe des Brandopferalters. (3) Die Tempelsatzungen Ez 44,9–46,24 beschließen den Abschnitt über den Tempelbezirk. Ez 43,27 gehört zum zentralen Mittelteil 43,1–44,8, der sich dem Brandopferaltar widmet. Ein eröffnender Theophaniebericht über die Rückkehr der ‫ כבוד‬in

59 Die Dramatik und Ernsthaftigkeit dieser Aussage wird in den später angefügten V. 27–29 nicht eingehalten, ein weiteres Indiz für ihren sekundären Charakter. Sie dienen vor allem dazu, den Geschichtsverlauf zu komplettieren. 60 In Ez 20,28 ist das Bild des „lieblichen Opferduftes“ (‫יהם‬ ֶ ‫יחֹוח‬ ֵ ִ‫ )וַ ּיָ ִׂשימּו ָׁשם ֵר ַיח נ‬kontrastiv für den Götzendienst verwendet.

Ez 20,39.40–44 im Horizont des Ezechielbuches 

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den Tempel (43,1–12) und eine abschließende Theophanie mit einigen Weisungen (44,1–8) rahmen diesen zentralen Mittelteil, dessen innerste Mitte die Beschreibung und Weihe des Brandopferaltars (43,13–27) bildet. An dessen Ende steht die für unseren Zusammenhang wichtige Aussage von der göttlichen Annahme Israels 43,27: „26 Sieben Tage lang soll man den Altar entsühnen, rein machen und einweihen. 27 Man soll diese Tage zu Ende führen. Vom achten Tag an sollen dann die Priester auf dem Altar eure Brandopfer und eure Heilsopfer darbringen. ‫אתי ֶא ְת ֶכם נְ ֻאם ֲאד ֹנָ י יְ הֹוה‬ ִ ‫ וְ ָר ִצ‬Dann will ich euch gnädig sein – Spruch meines Gebietes JHWH.“ Die Tempelführung, die Beschreibung des Brandopferalters und dessen Weihe laufen auf die zentrale Stelle zu, auf „die Zusage der kultisch vollzogenen Annahme Israels durch JHWH“.61 Dazu Tobias Häner: „Die Riten zur Altarweihe münden in die Versöhnung JHWHs mit Israel, die im abschließend proklamierten ‚Wohlgefallen‘ (‫ )רצה‬an Israel ihren Ausdruck findet. In der knappen Formulierung ‫ורצאתי אתכם‬, die […] einen Rückbezug zu 20,40  f herstellt, gipfelt der Textabschnitt über den Brandopferaltar“.62 Nun stellt sich die Frage, wie sich die Aussagen von Ez 20,40–41 und 43,27 zueinander verhalten. Thilo Alexander Rudnig deutet Ez  20,39–44 als diasporaorientierte Überarbeitung. Durch diese würde „die Verwirklichung des Heilsprogramms von c.40–48* im Leseablauf des Ezechielbuches […] durch den buchredaktionellen Schlüsseltext Ez  20,39–44 von naher Zukunft bis zur Rückkehr der weltweiten Diaspora ins Land aufgeschoben, ja nahezu suspendiert; 20,39  ff ‚degradieren‘ die Themen und Fragen des Verfassungsentwurfs zur cura posterior, wenn auch mit dem Gottesdienst auf Jahwes heiligem Berg das Ziel der Geschichte erreicht ist.“63 Ich ziehe es vor, den Sachverhalt anders zu deuten, und folge dabei einem Vorschlag von Steven Shawn Tuell, dem sich auch Tobias Häner anschließt.

61 Häner, Nachwirken, 517. Damit bildet die Aussage von Ez  43,27 sachlich einen bewussten Gegensatz zu Ez 20,25–26. 62 Häner, Nachwirken, 516. Auf die zahlreichen Bezüge zu den Heilsausblicken in Ez 16,59–63; 17,22–24 und 20,40–41 kann im Detail nicht eingegangen werden. Die Heilsverheißung von Ez 16 hatte in 16,63 unter Verwendung kultischen Vokabulars (‫ )כפר‬die Versöhnung mit JHWH angekündigt: „So sollst du gedenken, sollst dich schämen und wirst vor Scham den Mund nicht mehr öffnen können, weil ich dir alles vergebe, was du getan hast (‫ל־א ֶׁשר ָע ִׂשית‬ ֲ ‫י־לְך ְל ָכ‬ ָ ‫)ּב ַכ ְּפ ִר‬ – ְ Spruch Gottes, des Herrn.“ Das Motiv des „hohen Berges“ bzw. der „Spitze des Berges“ (43,12; 40,2) greift zurück auf 17,22–24 und auf 20,40. Das Motiv der „Scham“ (‫ כלם‬niph) taucht im Anschluss an die Rückkehr der „Herrlichkeit“ in 43,10  f. auf, wodurch der Bezug auf Ez 16,61.63; 20,43–44 und 36,31–32 hergestellt wird. 63 Rudnig, Heilig, 242.

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Die Wiederherstellung des zukünftigen Kultes und die damit gegebene Wiederannahme durch Gott knüpft bewusst an die Heilsansagen von Ez 16,63; 17,22–24 und vor allem von Ez 20,40–41 an und findet in der Aussage von der gnädigen Annahme Israels durch Gott in Ez 43,27 ihren Höhepunkt. Steven S. Tuell spricht unter Bezugnahme Ez 40–42 von einer „verbal icon“.64 Im Medium des Textes werde die in ihm und durch ihn bezeichnete Realität den jeweiligen Leserinnen und Lesern vermittelt. Der Text selbst vergegenwärtige also die in der priesterlichen Tradition mit Tempel und Kult verbundene gnädige Annahme durch Gott. Tobias Häner überträgt dieses Konzept der „verbalen Ikone“ auf die ganze Schlussvision Ez 40–48. „Mittels der […] vergegenwärtigenden Wirkung der Vision tritt […] dem Leser von Ez 40–48 die Zusage der Vergebung entgegen, die in die (Wieder)ermöglichung der Begegnung von Gott und seinem Volk einmündet.“65 Es geht in Ez 43 somit nicht um einen real zu vollziehenden materiellen Kult, sondern um die im Wort der Schrift vermittelte Vergegenwärtigung („verbale Ikone“) der gnädigen Annahme durch Gott. So gesehen wird die visionär vermittelte Schau von Ez 40–48 nicht suspendiert, sondern als die hinter dem Wort der Schrift stehende transzendente Wirklichkeit durch eben dieses Wort vergegenwärtigt. Freilich führt diese verheißene „gnädige Annahme“ die Leserinnen und Leser je neu hinein in das Ereignis der Transformation, wie diese in Ez 6,9–11; 16,59–63; 20,39–44 prozesshaft beschrieben wird als „erinnern“ – „sich schämen“ – „erkennen“. Zielpunkt dieses Transformationsprozesses ist die gnädige Annahme Israels durch Gott.

64 Steven S. Tuell, „Ezekiel 40–42 as Verbal Icon,“ CBQ 58 (1996): 649–664 (besonders: 662– 664). Zum Konzept der „verbal icon“ vgl. auch Hanna Liss, „‚Describe the Temple to the House of Israel‘. Preliminary Remarks on the Temple Vision in the Book of Ezekiel and the Question of Fictionality in Priestly Literature,“ in Utopia and Dystopia in Prophetic Literature. SESJ 92, hg. v. Ben Zvi (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 122–143; Brian Boyle, „Holiness Has a Shape: the Place of the Altar in Ezekiel’s Visionary Plan of Sacral Space (Ezekiel 43:1–12, 13–17, 18–27),“ ABR 57 (2009): 1–21. 65 Häner, Nachwirken, 544  f.

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 Franz Sedlmeier

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Markus Saur

Vom Untergang Ägyptens – Ez 29–32 im Kontext des Ezechielbuches Abstract: The oracles against the nations in Ezek 25–32, in the centre of the book, illustrate the special interest in the phoenician city of Tyre (Ezek 26–28*) as well as in Egypt and the Pharaoh (Ezek 29–32*). The oracles against Tyre and Egypt are interwoven, as a short passage in Ezek 29:17–20 shows, where some allusions on Tyre can be found within the words against Egypt. By analyzing content and structure of the oracles against Egypt and the Pharaoh some more observations lead to the supposition that these words are the result of a longer process of literary growth. This process is reconstructed in this article with special focus on Ezek 29 and Ezek 31 being the opening texts of the two main parts of the oracles against Egypt and the Pharaoh. In opposition to interpretations of Ezek 29–32 as a more or less isolated collection of oracles, this article intends to show in which way these chapters are connected to and interwoven with other parts of the book. Hereby the article aims to demonstrate that parts of Ezek 29–32 belong to the oldest traditions within the book of Ezekiel.

1 Einführung Es gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen der Ezechielexegese, dass das Ezechielbuch sich durch eine ausgesprochen geschlossene literarische Struktur auszeichnet. Durch die fast durchgängige Redeperspektive der 1. Person sowie eine Reihe thematischer Querbezüge und Wiederaufnahmen wird der Eindruck eines literarisch einheitlichen Textes erzeugt, dem mit den Mitteln der literarkritischen Methode nicht in demselben Maße begegnet werden kann, wie das in anderen prophetischen Schriften der Fall ist. Trotz seiner augenscheinlichen Einheitlichkeit prägt die Texte des Ezechielbuches ein eigentümlicher Stil: Innerhalb der teilweise sehr umfangreichen literarischen Einheiten nehmen Argumentationsgänge immer wieder eine neue Richtung ein und verlagern sich die Schwerpunkte der Gedankenführung. Literarische Brüche im eigentlichen Sinne sind hier kaum zu ermitteln, wohl aber Tendenzen, die Textbestandteile voneinander unterscheidbar machen. Es ist das große Verdienst Walther Zimmerlis, diesem Phänomen umfassend nachgegangen zu sein und mit seinem Kommentar am Beispiel des Ezechielbuches gezeigt zu haben, was man in der alttestamentlichen https://doi.org/10.1515/9783110624250-006

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 Markus Saur

Wissenschaft unter Fortschreibung verstehen kann.1 Die Entstehung des Ezechielbuches, dessen Texte zum einen durch ihre literarische Geschlossenheit und zum anderen durch ihre signifikanten thematischen Verschiebungen charakterisiert sind, mit der Annahme eines sukzessiven Prozesses der kohärenten Erweiterung und Fortführung von Argumentationszusammenhängen zu erklären und dafür, so zumindest Zimmerli, eine „Ezechielschule“ verantwortlich zu machen, gehört zwar nicht zum allgemein anerkannten Forschungsstand der Ezechielexegese, kann angesichts der komplexen Textüberlieferung des Buches, die es sehr nahelegt, das Buch nicht auf einen Verfasser, sondern auf Verfasser- und Trägerkreise zurückzuführen, eigentlich nicht sachgemäß bestritten werden. Es ist aber nicht zu übersehen, dass neben redaktionsgeschichtlich orientierten Beiträgen in den letzten Jahren auch ausschließlich an der vorliegenden, masoretisch bezeugten Textgestalt des Buches ausgerichtete Arbeiten erschienen sind, die dazu herausfordern, das redaktionsgeschichtliche Modell der Rekonstruktion der Entstehung des Ezechielbuches hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit zu prüfen. In Form einer umfassenden Analyse hat das zuletzt Karl-Friedrich Pohlmann geleistet. Pohlmann gelingt es dabei, die von Zimmerli postulierte „Ezechielschule“ genauer zu profilieren und hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Trägergruppen zu differenzieren. In Pohlmanns Analyse werden Texte wie Ez 3*, Ez 24* und Ez 33*, in denen das Motiv des Wächters und das Motiv der Verstummung des Propheten eine herausragende Rolle spielen, oder Kompositionen wie das Kapitel Ez 20, an dessen Ende eine stark akzentuierte Orientierung an den Zerstreuten unter den Völkern erkennbar ist, hinsichtlich ihrer Literargeschichte und ihrer kompositionellen Funktion ausgewertet und in einem überzeugenden Entstehungsmodell zusammengeführt, in dem den Unterschieden zwischen gola- und diaspora­ orientierten Fortschreibungen innerhalb des Ezechielbuches Rechnung getragen wird.2 Zu den zentralen Fragen Pohlmanns gehört diejenige nach den ältesten Texten des Buches. In seinen detaillierten Analysen ermittelt er ein Textgeflecht zwischen den Bildworten in Ez 19 und Ez 31, das zudem mit der jüngeren Dichtung Ez 17 in Verbindung steht.3 In seiner Grundstruktur lasse sich dieses Text1 Vgl. dazu Walther Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/1 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1969), 106*–109*, mit expliziten Verweisen auf Ez 29–30. 2 Vgl. dazu insgesamt Karl-Friedrich Pohlmann, Ezechielstudien. Zur Redaktionsgeschichte des Buches und zur Frage nach den ältesten Texten, BZAW 202 (Berlin/New York: de Gruyter, 1992). Zu Ez 3*, Ez 24* und Ez 33* vgl. besonders Pohlmann, Ezechielstudien, 21–34, und zu Ez 20 vgl. Pohlmann, Ezechielstudien, 54–77. Pohlmann greift in seinen Studien vielfach auf die Analysen von Jörg Garscha, Studien zum Ezechielbuch. Eine redaktionskritische Untersuchung von 1–39, EHS.T 23 (Bern/Frankfurt am Main: Peter Lang u.  a., 1974), zurück, die als eine erste umfassend redaktionsgeschichtlich orientierte Untersuchung des Ezechielbuches gelten können. 3 Vgl. Pohlmann, Ezechielstudien, 139–219.

Vom Untergang Ägyptens – Ez 29–32 im Kontext des Ezechielbuches 

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geflecht auf Klagen zurückführen, die mutmaßlich am Anfang der Buchformation standen und in der Situation der ersten Wahrnehmung und der darauf folgenden Verarbeitung der Katastrophe von 587 v. Chr. verortet werden müssen.4 Es handelt sich dabei um Klagen, die in ausgestalteten Bildreden von Löwe, Weinstock und Zeder den Untergang des Jerusalemer Königtums betrauern. In ihrer Pragmatik veranschaulichen diese Klagen die aus Prov  16,18 bekannte weisheitliche Einsicht, der zufolge Hochmut vor dem Fall kommt. Es ist bemerkenswert, dass mit dem Zedernlied aus Ez 31 ein Text aus dem Korpus der Völkersprüche zu diesen ältesten Texten des Ezechielbuches gehören könnte. Damit wird ein Problem berührt, das für das Verständnis der Prophetenbücher von hoher Relevanz ist, nämlich die Frage nach Funktion und Bedeutung der Völkersprüche,5 die ja dem Umfang nach einen ganz erheblichen Teil der Prophetenbücher ausmachen. Das ist in besonderer Weise für das Ezechielbuch der Fall, dessen Völkersprüche sich durch eine signifikante Disproportionalität auszeichnen: Während in Ez 25 mit den Worten gegen die Ammoniter, Moabiter, Edomiter und Philister die unmittelbaren östlichen, südlichen und westlichen Nachbarn Judas in vergleichsweise stereotyper Form angesprochen werden, folgen in Ez 26–28 und Ez 29–32 ausgesprochen umfangreiche Auseinandersetzungen mit Tyros (und Sidon) auf der einen und mit Ägypten auf der anderen Seite. Im Blick auf die Worte gegen Tyros lässt sich zeigen, dass die Texte vom 6. bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. gewachsen sind und eine Geschichte der Auseinandersetzung Judas bzw. Jehuds mit dem nördlichen Nachbarn spiegeln.6 Im Blick auf Ez 29–32 liegen die Dinge wahrscheinlich ähnlich, wenngleich die Quellenlage die Rekonstruktion nicht gerade erleichtert. Wie ein möglicher Feldzug Nebukadnezzars gegen Ägypten, von dem in den Ägyptenworten in Ez 29,17–20; 30,10–12 die Rede ist, verlaufen sein könnte und ob es ihn überhaupt gegeben hat, lässt sich nur schwer ermitteln.7 Eine gewichtige Zäsur dürfte das Jahr 525

4 Vgl. Pohlmann, Ezechielstudien, 249–250. 5 Vgl. dazu Franz Sedlmeier, Das Buch Ezechiel. Kapitel 25–48, NSK.AT 21/2 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2013), 23–27. 6 Vgl. dazu Markus Saur, Der Tyroszyklus des Ezechielbuches, BZAW 386 (Berlin/New York: de Gruyter, 2008), 44–79.182–251. 7 In den Quellen sind nach der Schlacht von Karkemisch im Jahr 605 v. Chr. eine babylonischägyptische Konfrontation um 601 v. Chr. (vgl. Bernd Ulrich Schipper, Israel und Ägypten in der Königszeit. Die kulturellen Kontakte von Salomo bis zum Fall Jerusalems, OBO 170 [Freiburg, Schweiz/ Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999], 240–241, und Klaas R. Veenhof, Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexanders des Großen, Übers. Helga Weippert, GAT 11 [Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001], 280), dann die mutmaßliche Unterstützung Jerusalems durch Apries 588/587 v. Chr. (vgl. Schipper, Israel, 242–246, und Christian Frevel, Geschichte Israels, KStTh 2 [Stuttgart: Kohlhammer, 2016], 274) sowie ein Feldzug Nebukadnezzars II. gegen Pharao Amasis

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 Markus Saur

v. Chr. markieren, in dem Kambyses II. Ägypten einnimmt und letztlich zu einer persischen Satrapie macht.8 Zu diesem Zeitpunkt werden die komplexen Ägyptenworte des Ezechielbuches kaum abgeschlossen gewesen sein. Mit wem setzen sie sich aber auseinander und wen adressieren sie nach 525 v. Chr., wenn von dem Pharao und Ägypten die Rede ist? Es ist möglicherweise nicht ganz abwegig, hier mindestens mit zu bedenken, dass es spätestens seit der Perserzeit eine bedeutende jüdische Diaspora in Ägypten gab, von der im 5. Jahrhundert v. Chr. aus Elephantine Nachrichten erhalten sind und die sich in hellenistischer Zeit vor allem in Alexandria zu einer starken jüdischen Gemeinschaft entwickelte, was den an der babylonischen Diaspora orientierten Trägerkreisen des Ezechielbuches nicht unbekannt gewesen sein dürfte.

Hier stellen sich sehr unterschiedliche Fragen, denen im Folgenden nur in Umrissen nachgegangen werden kann. Nach einem kurzen Überblick über den Aufbau und die Struktur der Ägyptenworte soll zunächst knapp den textinternen Hinweisen auf die Entstehungsgeschichte von Ez 29–32 nachgegangen werden. Etwas detaillierter soll dann anhand der Analyse von Ez 29 und Ez 31 gezeigt werden, welche literarischen Prozesse sich innerhalb der Ägyptenworte rekonstruieren lassen. Dabei soll zum einen die buchinterne Verankerung der Texte nachgewiesen und damit der Vermutung widersprochen werden, es handele sich bei den Ägyptenworten um eine ursprünglich selbständige Sammlung, und es soll zum anderen, wo immer möglich, der zeitgeschichtliche Hintergrund der jeweiligen Entstehungsstufen der Texte erhellt werden.

2 Aufbau und Struktur der Ägyptenworte des Ezechielbuches Versucht man die Ägyptenworte des Ezechielbuches zu gliedern, sind dafür in erster Linie die textinternen Gliederungssignale zu beachten. Im Blick auf Ez 29–32 sind das zum einen die Datierungen und zum anderen die geprägten

568 v. Chr. (vgl. James B. Pritchard, Hg., ANET [Princeton: Princeton University Press,31969], 308, sowie Walther Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2 [Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1969], 700–701, und Veenhof, Geschichte, 282) belegt. Die Hintergründe des Feldzugs von 568 v. Chr. bleiben aufgrund der Quellenlage allzu sehr im Dunkel, es ist aber nicht auszuschließen, dass die Verfasser der Ägyptenworte des Ezechielbuches diese Konfrontation zwischen Babylonien und Ägypten im Blick hatten. 8 Vgl. dazu Veenhof, Geschichte, 291–292.

Vom Untergang Ägyptens – Ez 29–32 im Kontext des Ezechielbuches 

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Formeln, insbesondere die für das Ezechielbuch charakteristische Wort-EreignisFormel. Folgt man diesen Signalen, lassen sich folgende Einheiten voneinander unterscheiden: – Ez 29,1–16 (12.10.10 [17. Januar 588 v. Chr.]) – Ez 29,17–21 (1.1.27 [8. April 572 v. Chr.]) – Ez 30,1–19 (ohne Datierung) – Ez 30,20–26 (7.1.11 [10. April 588 v. Chr.]) – Ez 31,1–18 (1.3.11 [2. Juni 588 v. Chr.]) Fall Jerusalems – Ez 32,1–16 (1.12.12 [11LXX/A] [15. März 586 [[587]] v. Chr.]) – Ez 32,17–32 (15.[1.LXX]12 [29. [[März]] 586 v. Chr.]) Die sieben Worte scheinen weitgehend chronologisch geordnet zu sein.9 So ergibt sich eine zeitliche Abfolge, die sich um das Jahr 587 v. Chr. herum anordnet. Auch wenn der Untergang Jerusalems und Judas im Text keine direkte Rolle spielt, ist dieser Umstand im Blick zu behalten. In auffälliger Weise fällt Ez 29,17–20.21 aus dem Datierungsgerüst der Ägyptenworte heraus. Hier wird der innere Aufbau durchbrochen, wenn Nebukadnezzar  – wohl vor dem Hintergrund seines um 572 v. Chr. gescheiterten Versuchs, Tyros einzunehmen – nun Ägypten als Lohn zugesagt wird. Die fehlende Datierung zu Beginn von Ez 30 lässt darauf schließen, dass Ez  29,1–30,19 als eine unter derselben Datierung stehende literarische Einheit gelesen werden sollen. Ez 29,1–30,19 bilden damit den ersten großen Zusammenhang der Ägyptenworte. Dem Chaosungeheuer Pharao wird hier das Ende durch Jhwh vorhergesagt und dieses Ende als Sieg Jhwhs im Chaoskampf gedeutet. Ab Ez 30,1 wird dieser Chaoskampf in den Horizont der Tag-Jhwhs-Tradition gestellt und damit Urzeit und Endzeit im Untergang Ägyptens zusammengefasst. Bemerkenswert ist innerhalb der größeren literarischen Zusammenhänge die Sequenz in Ez 30,10–12, der zufolge Nebukadnezzar als ausführende Hand Jhwhs zu verstehen ist. Das verbindet sich mit Ez 29,17–20, wo genau diesem Nebukadnezzar Ägypten als Ersatz für Tyros zugesagt wird. Die probabylonische Tendenz innerhalb der Ägyptenworte ist damit unverkennbar. Gleichermaßen auffällig ist Ez 29,6b–9a, wo der Topos des vergeblichen Hoffens auf Ägyptens Schutz aufgerufen wird, um damit die vorangehende Untergangsansage an das Chaosungeheuer Pharao zu begründen. Dass der gesamte Zusammenhang Ez 29,1–30,19 literarisch sukzessiv gewachsen ist, machen diese und weitere Hinweise deutlich – nicht zuletzt das folgende Wort in Ez 30,20–26, das dem Pharao durch Nebukadnezzar zerbrochene

9 Zu den Daten und ihrer Umrechnung vgl. Ernst Kutsch, Die chronologischen Daten des Ezechielbuches, OBO 62 (Freiburg, Schweiz/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985), 65–71.

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Arme ansagt. Diese Erwartung korrespondiert mit Ez 30,10–12 und Ez 29,17–20, setzt aber mit dem Motiv der zerbrochenen Arme einen eigenen Akzent. Mit den drei folgenden, durch die Datierungen voneinander abgegrenzten literarischen Einheiten in Ez 31–32 setzen die Ägyptenworte noch einmal neu ein. Insbesondere in Ez 31 wird mit dem Vergleich des Pharaos bzw. Assurs mit einer Zeder eine neue Bildwelt aufgerufen. Das Nebeneinander unterschiedlicher Bilder ist für das Ezechielbuch nicht ungewöhnlich, wie die Rede von Zeder, Adler, Löwe und Weinstock als Bildern für das Königtum in Ez 17 und Ez 19 zeigt. Das in diesen Klagetexten charakteristische Motiv des Falles alles Hohen in die Tiefe wird auch in Ez 31 durchbuchstabiert: Von der umwölkten Höhe geht es für die Zeder bei ihrem Sturz bis in die tiefste Tiefe. Diese Bilder, die den Topos „Hochmut kommt vor dem Fall“ ausgestalten, bilden das Zentrum des Textes, in dem es vordergründig nicht um irgendeinen Mythos geht. Es ist hier sehr genau zwischen der Aussageabsicht und dem konzeptionellen Rückraum zu unterscheiden, der der Aussageabsicht dienstbar gemacht wird. Das gilt auch für Ez 31,15–18, wo der Sturz in die Unterwelt literarisch ausgestaltet wird. Dass der Topos „Sturz in die Sche’ol“ bereits in der Entstehungszeit der Texte eine gewisse Faszination ausübte, zeigen die letzten beiden datierten Worte in Ez 32,1–16 und Ez 32,17–32. Der in V. 2 als Qina ausgewiesene erste Textabschnitt des Kapitels greift auf das Bild des Löwen aus Ez 19,2 und die Vorstellung eines Chaosungeheuers aus Ez 29,3 zurück, um den Untergang des Pharaos durch das Schwert des Königs von Babel anzusagen. Ez 32,1–16 ist derart durchsetzt von Motiven und Bildern der vorangehenden Passagen, dass man diesen Text als Wiederaufnahme, wiederholende Fortschreibung oder Anthologie des Vorangehenden beschreiben kann. Von daher lässt sich wohl auch die Charakterisierung des Textes als Qina verstehen, die im engeren formgeschichtlichen Sinne nicht gedeckt ist, im Blick auf die gesamten Ägyptenworte aber doch das Richtige treffen dürfte, denn es sind ja umfassend ausgestaltete Totenklagen, die hier erhoben werden.10 Von fast skurrilem Charakter ist die Abschlusspassage der Ägyptenworte in Ez 32,17–32. Ägypten wird hier neben Assur, Elam, Meschech, Tubal und – natürlich noch einmal – Edom sowie den Fürsten des Nordens und den Sidoniern in der Grube gesehen. Hier wird ein Einblick in die Sche’ol eröffnet, der mit der Erwähnung der „Helden“ (‫ )גבורים‬in V. 27 deutlich erkennen lässt, dass es in der Sche’ol eine Hierarchie gibt,11 innerhalb 10 Wie schon in den Worten gegen Tyros ist auch in den Ägyptenworten eine bemerkenswerte Empathie zu greifen, wenn in Ez 29,9b–16; 30,26 Ägypten mit den Sprachmustern, die anderenorts für Juda bzw. Israel verwendet werden, dargestellt wird. Hier geht es um mehr als nur um Ägypten – hier geht es um die Völkerwelt und vor allem die Souveränität Jhwhs über Israel und die Welt insgesamt. 11 Vgl. Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 789–790.

Vom Untergang Ägyptens – Ez 29–32 im Kontext des Ezechielbuches 

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derer Ägypten neben Assur ganz unten in der Tiefe liegt. Der Topos „Hochmut kommt vor dem Fall“ bleibt auch hier bestimmend, doch werden die engeren Grenzen der Auseinandersetzung mit Ägypten nun deutlich überschritten. Am Ende der Völkersprüche des Ezechielbuches wird ein ausgreifendes Panorama der gesamten Völkerwelt in der Sche’ol gezeichnet, das zum einen mit dem Eröffnungstext der Völkerworte in Ez 25, aber wohl auch mit der Gog/Magog-Perikope in Ez 38–39 korrespondiert. Hier geht es kaum noch um historische Ereignisse aus dem 6./5. Jahrhundert v. Chr., sondern um eine Auseinandersetzung mit der Völkerwelt insgesamt.12 Der knappe Durchgang durch Ez 29–32 lässt bereits erkennen, dass die vorliegenden Texte keineswegs auf einer Linie liegen, sondern vielmehr so etwas wie ein Kompendium der Auseinandersetzung Judas mit Ägypten13 und der Völkerwelt spiegeln.14 Der Topos „Hochmut kommt vor dem Fall“ wird hier sukzessiv transformiert und am Ende im Horizont der übergreifenden Frage, in welchem Verhältnis Israel zu den Völkern steht, erörtert. Vor dem Hintergrund der Erwähnung von Syene/Assuan in Ez 29,10; 30,6, das in unmittelbarer Nachbarschaft zur Nilinsel Elephantine mit ihrer jüdischen Militärkolonie liegt, wird man die Frage stellen müssen, ob in diesen Texten eine Ägypten-spezifische Diasporaorientierung greifbar wird. Es ist ja nicht denkbar, dass ein sukzessiv wachsender Textkomplex wie Ez 29–32, der zudem durchaus historische Konstellationen verarbeitet, wie die Nennungen Nebukadezzars zeigen, die Verhältnisse in Elephantine, also den Aufstieg und möglicherweise auch den Untergang der jüdischen Kolonie, nicht auch mit im Blick hat und reflektiert.15 Die auffällige Restitutionsansage in Ez 29,13–14 könnte sich durchaus in einem Diskurs verorten lassen, innerhalb dessen es auch um Ägypten als einen Lebensraum für Juden bzw. Jhwh-Anhänger geht.16 Im ausgehenden 4.  Jahrhundert v. Chr. verliert Elephantine, wo der erste Jahu-Tempel wahrscheinlich um 410 v. Chr. im Zusammenhang von Auseinandersetzungen mit der ortsansässigen

12 Dieser weitere Horizont deutet sich ja bereits in Ez 31* an, wenn der Pharao im Königsbild der Zeder mit Assur in Beziehung gesetzt wird. 13 Vgl. zur Positionierung der Ägyptenworte Karl-Friedrich Pohlmann, Das Buch des Propheten Hesekiel (Ezechiel). Kapitel 20–48. Übersetzt und erklärt von Karl-Friedrich Pohlmann mit einem Beitrag von Thilo Alexander Rudnig, ATD 22/2 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001), 401, der davon ausgeht, „daß das Thema ‚Pharao‘ bzw. ‚Ägypten‘ ursprünglich vor Ez 25–28 verhandelt war, woraufhin bereits die Datierungen der Ägyptenworte deuteten.“ 14 Vgl. Sedlmeier, Ezechiel, 25, der ein Anliegen der Völkersprüche darin sieht, die „Interdependenz der Völker“ zum Ausdruck zu bringen: „In diesem Konzert der Völker habe auch Israel seinen Platz zu suchen und seine Funktion auszuüben.“ 15 Anders Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 714. 16 So bereits Gustav Hölscher, Hesekiel. Der Dichter und das Buch. Eine literarkritische Untersuchung, BZAW 39 (Giessen: Töpelmann, 1924), 146–147 Anm. 2.

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Chnum-Priesterschaft zerstört wurde,17 an Bedeutung und das seit seiner Gründung 331 v. Chr. aufstrebende Alexandria wird zum Zentrum der jüdischen Diaspora in Ägypten.18

Während der vorliegende Überblick nur sehr großflächig vorgehen konnte, um eine Übersicht über Ez 29–32 zu gewinnen, sollen die skizzierten Entstehungsprozesse nun an den beiden Eröffnungstexten der großen Hauptteile der Ägyptenworte, nämlich Ez 29 und Ez 31, genauer untersucht werden.

3 Ezechiel 29 – eine exegetische Skizze 1 Im 10. Jahr, im 10. (Monat), am 12. (Tag) des Monats erging das Wort Jhwhs an mich folgendermaßen: 2 Menschensohn, richte dein Angesicht gegen den Pharao, den König von Ägypten, und prophezeie gegen ihn und gegen ganz Ägypten, 3 rede und sprich: So spricht der Herr, Jhwh: Siehe, ich komme über dich, Pharao, König von Ägypten, du großes Chaosungeheuer, das inmitten seiner Flussläufe lagert, das gesagt hat: Mir gehören meine Flussläufe und ich habe sie gemacht. 4 Und ich gebe Haken an deine Kinnbacken und lasse die Fische deiner Flussläufe an deinen Schuppen haften; und ich hole dich mitten aus deinen Flussläufen heraus und alle Fische deiner Flussläufe, die an deinen Schuppen hängen. 5 Und in die Wüste werfe ich dich und alle Fische deiner Flussläufe; auf die Fläche des Feldes stürzt du, wirst nicht aufgelesen und nicht eingesammelt; dem Getier der Erde und den Vögeln des Himmels habe ich dich zum Fraß gegeben. 6 Und es werden erkennen alle Bewohner Ägyptens, dass ich Jhwh bin. Weil du eine Stütze aus Schilfrohr für das Haus Israel gewesen bist – 7 indem sie dich fassen mit der Hand, zerknickst du, und du reißt ihnen die ganze Schulter auf; und indem sie sich auf dich stützen, zerbrichst du, und du machst ihnen alle Hüften steif –, 8 daher, so spricht der Herr, Jhwh: Siehe, ich bringe über dich ein Schwert und ich rotte aus dir aus Mensch und Vieh. 9a Und das Land Ägypten wird zur Wüstung und Trümmerstätte werden. Und sie werden erkennen, dass ich Jhwh bin. 9b Weil du gesagt hast: Der Fluss gehört mir und ich habe (ihn) gemacht, 10 daher, siehe, komme ich über dich und über deine Flussläufe; und ich mache das Land Ägypten zu Trümmerhaufen der Verheerung, der Wüstung von Migdol (über) Syene und bis zur Grenze von Kusch. 11 Nicht wird es durchschreiten der Fuß eines Menschen; und der Fuß von Vieh wird es nicht durchschreiten; und es wird nicht bewohnt sein für 40 Jahre. 12 Und ich mache das

17 Zu Elephantine vgl. Ernst Axel Knauf, „Elephantine und das vor-biblische Judentum,“ in Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, hg. v. Reinhard Gregor Kratz, VWGTh 22 (Gütersloh: Kaiser, 2002), 179–188, und Reinhard Gregor Kratz, „Elephantine und Alexandria. Nicht-biblisches und biblisches Judentum in Ägypten,“ in Alexandria, hg. v. Tobias Georges u.  a., Civitatum Orbis Mediterranei Studia 1 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2013), 193–208, sowie Frevel, Geschichte, 284–286. 18 Zu Alexandria vgl. Kratz, „Elephantine und Alexandria,“ und Frevel, Geschichte, 336–337. Erste jüdische Grabinschriften sind in Alexandria um 300 v. Chr. belegt, zeitweise stellte die jüdische Gemeinschaft wohl ein Drittel der Bevölkerung Alexandrias.

Vom Untergang Ägyptens – Ez 29–32 im Kontext des Ezechielbuches 

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Land Ägypten zur Wüstung mitten unter verwüsteten Ländern; und seine Städte werden mitten unter zertrümmerten Städten Wüstung sein für 40 Jahre; und ich versprenge Ägypten unter die Völker und zerstreue sie in die Länder. 13 Ja, so spricht der Herr, Jhwh: Am Ende von 40 Jahren sammle ich Ägypten aus den Völkern, wohin sie versprengt sind. 14 Und ich wende das Geschick Ägyptens und bringe sie zurück in das Land Patros, in das Land ihrer Herkunft; und sie werden dort ein niedriges Königtum sein. 15 Niedriger als (alle) Königreiche wird es sein; und es wird sich nicht mehr erheben über die Völker. Und ich mache sie klein, damit sie nicht herrschen über die Völker. 16 Und sie werden nicht mehr für das Haus Israel Anlass zum Vertrauen werden, an Schuld erinnernd, wenn sie sich zu ihnen wenden; und sie werden erkennen, dass ich der Herr, Jhwh, bin. 17 Und es geschah im 27. Jahr, im 1. (Monat), am 1. (Tag) des Monats, da erging das Wort Jhwhs an mich folgendermaßen: 18 Menschensohn, Nebukadrezzar, der König von Babel, hat sein Heer schwere Arbeit tun lassen um Tyros’ willen. Jeder Kopf ist kahl und jede Schulter ist aufgerieben – aber Lohn wurde ihm und seinem Heer nicht von Tyros für die Arbeit zuteil, die er seinetwegen verrichtete. 19 Daher, so spricht der Herr, Jhwh: Siehe, ich gebe Nedukadrezzar, dem König von Babel, das Land Ägypten. Und er wird sein Gepränge davontragen und ausbeuten sein Beutegut und ausrauben sein Raubgut. Und das wird Lohn sein für sein Heer. 20 Als seinen Sold, um den er gearbeitet hat, habe ich ihm das Land Ägypten gegeben, weil sie für mich gehandelt haben. Spruch des Herrn, Jhwhs. 21 An jenem Tage lasse ich ein Horn sprossen für das Haus Israel; und an dir vollziehe ich die Öffnung des Mundes in ihrer Mitte. Und sie werden erkennen, dass ich Jhwh bin.

Ez 29 zerfällt durch die beiden Datierungen in V. 1 und V. 17 in zwei Teile. Im Blick auf V. 21, der bei genauer Betrachtung vergleichsweise isoliert am Ende des Kapitels steht, könnte man sogar von einer Dreiteilung sprechen. Ez 29,17–20 verweisen auf die vorangehenden Worte gegen Tyros, insbesondere auf Ez 26 zurück, wo die Belagerung von Tyros durch Nebukadnezzar thematisiert wird, auf deren Erfolglosigkeit Ez 29,17–20 dann Bezug nimmt. Vor diesem Hintergrund und aufgrund der aus dem Zusammenhang der Ägyptenworte herausfallenden, spätesten Datierung innerhalb des Ezechielbuches in Ez 29,17 lässt sich die Sequenz Ez 29,17–20 als eine späte Fortschreibung innerhalb des Kapitels verstehen.19 Ähnliches dürfte für die Erwartung in Ez 29,21 gelten, derzufolge Jhwh ein „Horn“ für Israel sprossen lassen wird, wobei das Nebeneinander von ‫ קרן‬und ‫ צמח‬in königstheologisch-messianische Vorstellungszusammenhänge verweist.20 V. 21 ist nur über die eschatologisch geprägte Eingangswendung ‫ ביום ההוא‬mit dem Vorangehenden verknüpft, wobei dieses Vorangehende auch in V. 1–16 zu suchen sein könnte und nicht notwendigerweise V. 17–20 voraussetzt. V. 21 verklammert Ez 29

19 So bereits Johannes Herrmann, Ezechielstudien, BWAT 2 (Leipzig: Hinrichs, 1908), der zu V. 21 anmerkt: „Daß der dunkle Vers 21 nicht ursprünglich zu 17–20 gehörte, ist aus dem abrupten Anfang und aus dem Inhalt klar“ (Herrmann, Ezechielstudien, 31). 20 Vgl. Ps 132,17, aber auch Jer 23,5; 33,15; Sach 3,8; 6,12 und 1. Sam 2,10; Ps 89,25.

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in jedem Fall mit weiteren Teilen des Ezechielbuches.21 Zum einen werden mit der messianisch-eschatologischen Farbe, die Ez 29,21aα vergleichsweise unvermittelt in den Text einträgt,22 entsprechende Passagen in Ez 34,23–24 und Ez 37,21–25 vorbereitet. Damit wird eine Verklammerung zwischen den Ägyptenworten und den heilstheologisch ausgerichteten Buchteilen vorgenommen. Zum anderen wird mit der Ankündigung der Öffnung des Mundes des Propheten in Ez 29,21aβ ein Bogen zu Ez 3,26; 24,27; 33,22 und dem dort greifbaren Motiv des Verschließens und des Öffnens des Mundes des Propheten geschlagen,23 das buchkompositionell von herausragender Bedeutung für die diasporaorientierte Redaktion des Ezechielbuches ist.24 Das lässt darauf schließen, dass diese diasporaorientierte Trägergruppe auch in den Ägyptenworten zu greifen ist. Trägt man die beiden späteren Fortschreibungen in V. 17–20 und V. 21 ab, bleibt man auf Ez 29,1–16 verwiesen. Die Gliederung dieses Textzusammenhangs fällt vergleichsweise leicht,25 da die für das Ezechielbuch typischen Textsignale eindeutig sind: Nach der ausführlichen Einleitung in V. 1–3aα1 folgt in V. 3aα2–5 ein erster inhaltlicher Abschnitt, der in V. 6a durch die Erkenntnisformel abgeschlossen wird. Das Wort richtet sich an den Pharao und an Ägypten: Der Pharao und mit ihm das ganze Land Ägypten wird durch 26‫ התנים הגדול‬mit deutlichem Anklang an Chaosmotive als Chaosungeheuer inmitten seines großen Flusses gezeichnet.27 V. 2b könnte durchaus später nachgetragen worden sein, was dann

21 Daher kommt Thomas Krüger, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, BZAW 180 (Berlin/New York: de Gruyter, 1989), 303, zu dem Ergebnis: „Vielleicht ist deshalb 29,21 als Produkt der ‚Endredaktion‘ anzusprechen.“ Ähnlich urteilt schon Garscha, Studien, 173–174, und fragt: „Vielleicht interpretiert der Ergänzer bereits die in 29,17–20 angekündigte Eroberung Nebukadnezars endzeitlich und kommt so zur Heilsverkündigung von V21a?“ Anders Pohlmann, Hesekiel, 413, demzufolge „der Verfasser […] weitere eschatologische Lesarten sowie entsprechende argumentative Verwendung ausschließt.“ Friedrich Fechter, Bewältigung der Katastrophe. Untersuchungen zu ausgewählten Fremdvölkersprüchen im Ezechielbuch, BZAW 208 (Berlin/New York: de Gruyter, 1992), 259, rechnet im Blick auf V. 21 damit, „daß der Vers von einem Redaktor gebildet wurde, um eine Vorform der FVS-Sammlung in das Buchkorpus integrieren zu können.“ 22 Anders Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 721. 23 Anders Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 722. 24 Ob das „Verstummungsmotiv“ an dieser Stelle darauf hinweisen will, dass die Völkerworte nicht von Ezechiel stammten (vgl. Fechter, Bewältigung, 259, und Sedlmeier, Ezechiel, 26), scheint mir fraglich. Derartige „negative Autorisierungen“ finden sich an anderen Stellen des Buches auch nicht und widersprechen dem Vorgehen der Trägergruppen, die ihre Bearbeitungen ja gerade unter die Autorität des Propheten stellen. 25 Im Blick auf die Gliederung des Kapitels herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit. 26 Vgl. Ges18 (2013), 1448–1449. 27 Vgl. dazu nur die Belege in Jes 27,1; 51,9; Jer 51,34; Ps 74,13–14; Hi 7,12. Die Übersetzung von ‫ תנים‬bzw. ‫ תנין‬mit „Nilpferd“ oder „Krokodil“ bleibt hinsichtlich des semantischen Rückraums von

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konsequenterweise auch für den Beifang gelten dürfte, der in V. 4–5 im Bild der Fische in den Schuppen des Chaosungeheuers greifbar wird.28 Diese Annahme lässt sich allerdings nicht klar begründen, weswegen man V. 3aα2–5 als literarische Einheit betrachten sollte. Der Pharao lagert als großes Chaosungeheuer inmitten der Flussarme, von denen er behauptet, er habe sie selber gemacht. Diese Überheblichkeit, mit der der Pharao sich die Fähigkeiten eines Schöpfergottes zuschreibt, begründet das in V. 4–5 angesagte Geschehen: Jhwh zerrt den Pharao mitsamt den Fischen in seinen Schuppen aus den Flussarmen heraus29 und lässt ihn in der Wüste auf offenem Feld zum Fraß der Tiere des Feldes und der Vögel des Himmels liegen. Mit den Fischen, den Feldtieren und den Vögeln ist die gesamte Fauna an diesem Schauspiel der Trockenlegung des Chaosungeheuers Pharao beteiligt. Die Auseinandersetzung mit Ägypten ist ein stehender Topos der alttestamentlichen Literatur und spielt auch im Ezechielbuch ihre Rolle.30 Geht man von der Datierung in Ez 29,1 aus, führt der Text in die unmittelbare Eroberungsphase Jerusalems durch die Babylonier unter Nebukadnezzar. Pharao Apries, der 589 v. Chr. den ägyptischen Thron besteigt, könnte 587 v. Chr. ein Entsatzheer zur Hilfe nach Jerusalem gesandt haben  – aus der Perspektive der Verfasser des Textes wäre das allerdings ein aussichtsloses Unternehmen, da der Pharao durch Nebukadnezzar besiegt werden wird. Als vaticinium ex eventu blickt der Text auf die enttäuschten Hoffnungen auf Ägypten zurück und entzieht damit gegenwärtigem und künftigem Vertrauen auf Ägypten jede Grundlage. Eine Ägypten-freundliche Trägergruppe steht nicht hinter diesem älteren Material des Ezechielbuches, dessen Hintergründe eher in der Gola und der späteren östlichen Diaspora zu suchen sein werden. Bemerkenswert ist, dass in V.  1–6a Nebukadnezzar namentlich nicht genannt wird31 – die Verantwortung für die Zerstörung Ägyptens liegt allein bei Jhwh.

In Ez 29,6b–9a folgt ein mit ‫ יען‬eingeleitetes begründetes Gerichtswort, das in die Begründung in V. 6b–7 und die folgende Unheilsansage in V. 8–9a unterteilt

‫ תנין‬unterbestimmt und löst dessen umfassendes Bedrohungspotential in der zoologischen Konkretion auf (vgl. dazu Georg Fohrer, Ezechiel, HAT I/13 [Tübingen: Mohr Siebeck, 1955], 166–168, und Sedlmeier, Ezechiel, 79; anders Herbert Niehr, Art. „‫ ַּתּנִ ין‬tannîn,“ ThWAT VIII, hg. v. HeinzJosef Fabry und Helmer Ringgren [Stuttgart u.  a.: Kohlhammer, 1995], 715–720, 719; zum Problem vgl. zudem die Ausführungen von Corrine L. Carvalho, „A Serpent in the Nile. Egypt in the Book of Ezekiel,“ in Concerning the nations. Essays on the oracles against the nations in Isaiah, Jeremiah and Ezekiel, hg. v. Else K. Holt u.  a., LHB 612 [London/New York: Bloomsbury 2015], 195–220, 211–214). 28 Vgl. dazu Hölscher, Hesekiel, 144–145, und Fechter, Bewältigung, 243–244. 29 Zum Krokodilfang in Ägypten vgl. Herodot, Historien II 70. 30 Vgl. dazu nur Ez 17,15.17. 31 „Nebukadrezzar“ wird nur in dem späten Wort in Ez 29,18–19 und in Ez 30,10 namentlich genannt; in Ez 30,24–25; 32,11 ist aber immerhin vom „König von Babel“ die Rede, was eine gewisse Transparenz und Offenheit des Textes für Rezeptionen nach 539 v. Chr. erzeugt.

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werden kann. Dieses formgeschichtlich klassisch gebildete begründete Gerichtswort zeichnet sich allerdings durch eine gewisse Ambivalenz aus, denn es kann für sich gelesen werden, wirkt im vorliegenden Textzusammenhang nun aber wie eine nachgelagerte Begründung für das in V. 1–6a geschilderte Geschehen. Aus dem Topos der Überheblichkeit, der in V. 3aα2–5 im Zentrum steht, wird hier eine konkrete Anklage, die das Vertrauen auf Ägypten aufgrund dessen uneingehaltener Sicherheitszusagen problematisiert. Damit richtet sich der Text mindestens ebenso deutlich gegen die fälschlicherweise auf Ägypten setzenden Kreise Judas wie gegen Ägypten selbst. Das in V. 6b verwendete Bild des Schilfrohres korrespondiert dabei nur lose mit dem des Chaosungeheuers aus V. 1–6a, außerdem rückt der Fokus deutlich weg vom Pharao auf das Land Ägypten, dem in V. 9a die Verwüstung angesagt wird. Man hat es hier wohl mit einer klassischen Fortschreibung zu tun, die das Bildwort aus V. 1–6a kennt und die um das Vertrauen der Judäer auf Ägypten trotz dessen Unzuverlässigkeit weiß. Wie V. 6a schließt auch V. 9a mit der Erkenntnisformel ab. Die folgende Passage in V. 9b–16 setzt die beiden vorangehenden Abschnitte voraus. Mit ‫ יען‬in V. 9b wird das ‫ יען‬aus V. 6b imitiert und das Zitat im Munde des Pharao aus V. 9b greift V. 3b direkt auf. In V. 10–12 folgt nun eine bemerkenswerte Konkretion und zugleich Annäherung: Sehr schnell verlagert sich der Schwerpunkt vom Pharao in V. 10 auf das Land Ägypten, das von Norden bis Süden, von Migdol bis Syene und an die Grenze von Kusch vernichtet werden soll.32 Dass nun von einer vierzigjährigen Phase der Verwüstung die Rede ist, könnte man vielleicht noch als weniger bedeutungsvoll werten.33 V. 12b zeigt aber die Signifikanz der Topologie auf: Hier wird in der geprägten Sprache, die sonst für Israel Verwendung findet,34 von der Vernichtung und Zerstreuung Ägyptens und der Ägypter gesprochen.35 Jhwh erscheint als der universal handelnde Souverän, der sich nicht nur im Gericht, sondern auch im Heil um Ägypten kümmert: In V. 13b– 14aα überrascht der Text mit der Ansage einer Rückführung der Ägypter aus der Diaspora – erneut mit der geprägten Sprache, die anderenorts den Topos der Rückführung mit Israel verbindet.36 In V. 14aβ ist zudem bemerkenswert, dass von Patros als dem Land der Herkunft Ägyptens gesprochen wird, was möglicherweise

32 Vgl. Sedlmeier, Ezechiel, 81. 33 Vgl. aber Ez 4,6. 34 Zu ‫ פוץ‬mit Bezug auf Israel bzw. Juda vgl. Ez 11,16–17; 12,15; 20,23.34.41; 22,15; 28,25; 34,5– 6.12.21; 36,19 und zu ‫ זרה‬in diesem Sinn vgl. Ez 5,12; 6,8; 12,14–15; 20,23; 22,15; 36,19. 35 Vgl. Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 712–713. 36 Zu ‫ קבץ‬im Blick auf Israel vgl. Ez 11,17; 20,34.41; 28,25; 34,13; 36,24; 37,21; 38,8; 39,27, und zu ‫ שוב שבות‬in diesem Sinn vgl. Ez 16,53; 39,25.

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mit alten Überlieferungen übereinstimmt.37 In V. 14b–15 wird Ägypten schließlich ein „niedriges“ Königtum angesagt, das keineswegs mehr Völker beherrschen und das für Israel auch keinen Anlass mehr zu falschem Vertrauen geben wird. Ez 29,9b–16 bilden offensichtlich eine Fortschreibung der beiden vorangehenden Abschnitte, die im Horizont der diasporaorientierten Perspektiven des Ezechielbuches verortet werden kann und daher mit V. 21 in Verbindung stehen könnte, der ja durchaus als direkte Fortsetzung von V. 9b–16 lesbar ist. V. 9b–16 tragen in den Text eine Völkerperspektive ein, die Juda bzw. Israel und Ägypten nebeneinanderstellt und gewissermaßen vergleichbar macht.38 Hier wird ein inklusiver Universalismus greifbar, in dessen Horizont auch V. 21 zu verstehen ist: Das sprossende Horn als Bild für den König auf dem Thron in Jerusalem ist die dem niedrigen Königtum in Ägypten entsprechende Erwartungsfigur innerhalb des Textzusammenhangs. Vor dem Hintergrund der vorangehenden Überlegungen spricht einiges dafür, die ältesten Textteile von Ez 29 in dem kräftigen Bildwort gegen den Pharao als einem Chaosungeheuer in V. 1–6a* zu suchen39 und für dieses Bildwort eine Entstehung im 6. Jahrhundert v. Chr. anzunehmen, weil die in dem Bildwort greifbare Selbstüberschätzung und Größe des Pharaos in der späteren Perserzeit nicht mehr mit den tatsächlichen Machtverhältnissen in Deckung gebracht werden kann, denn spätestens ab 525 v. Chr. herrschen die Perser in Ägypten. Dieses ältere Bildwort wurde in einem zweiten Schritt in Form eines begründeten Gerichtswortes in V. 6b–9a* fortgeschrieben und erläutert; diese Fortschreibung gehört wohl in die Formationsphase des golaorientierten Ezechielbuches, denn die Rede von Ägypten als zerbrechlicher Stütze zerstreut jede noch verbliebene Hoffnung auf Ägypten innerhalb der Gola. Die Eroberung Ägyptens durch Kambyses II. könnte der terminus ad quem dieser Fortschreibung sein. Erst in einem dritten Schritt wurde der vorliegende Text mit dem Abschnitt V. 9b–16(.21) fortgeschrieben, der stark mit den diasporaorientierten Passagen des Ezechielbuches korrespondiert und daher mindestens weit in die Perserzeit führen dürfte. Die Restitutionshoffnungen für Ägypten, die in V. 13–14 greifbar werden, sprechen in jedem Fall für einen Entstehungszeitpunkt vor der Ptolemäerzeit, in der eine derart hoffnungsvolle Perspektive auf Ägypten, wie sie in V. 9b–16 greifbar wird, kaum denkbar ist. Die Einschaltung von Ez 29,17–20 setzt die Tyrosworte des Ezechielbuches voraus

37 Vgl. Herodot, Historien II 4.15, und dazu Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 713–714; zurückhaltender dazu Fechter, Bewältigung, 250–252. 38 Vgl. dazu das Nebeneinander in Jes 19,23–25, wo bemerkenswerterweise neben Ägypten und Israel auch noch Assur tritt, was im Blick auf Ez 31* von besonderer Bedeutung ist. 39 Vgl. Pohlmann, Hesekiel, 419–420.

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und steht möglicherweise zunächst in einem engeren literarischen Zusammenhang mit Ez 26–28*, als das in der jetzigen Buchfassung erkennbar ist. Insbesondere die Nennung von „Nebukadrezzar“ lässt hier keinen Spielraum dafür, in dem Babylonier einen Platzhalter auch für spätere Großkönige zu sehen, wie das etwa in Ez 26,1–14 der Fall ist, wo die angesagte Eroberung von Tyros durch „Nebu­ kadrezzar“ mit der Belagerung und Einnahme von Tyros durch Alexander den Großen regelrecht „überschrieben“ wird. Von einem solchen „Überblenden“ der Großkönige kann man in Ez 29,17–20 nicht ausgehen, weil der Text ein Scheitern vor Tyros voraussetzt, was für Alexander nicht, für Nebukadnezzar aber sehr wohl das Richtige trifft. Ez 29,17–20 muss daher nach 572 v. Chr., aber vor 333/332 v. Chr. entstanden sein40 – auch hier lässt sich erwägen, die Entstehung des Textes im Umfeld eines möglichen Feldzuges Nebukadnezzars gegen Ägypten um 568 v. Chr. herum anzusetzen; die buchkompositionelle Positionierung der Passage innerhalb der Ägyptenworte, die dadurch nun mit den vorangehenden Tyrosworten verknüpft werden und die Völkersprüche so zu einem zusammengehörigen Text gestalten, ist aber deutlich später in der Perserzeit anzunehmen.

4 Ezechiel 31 – eine exegetische Skizze 1 Und es geschah im 11. Jahr, im 3. (Monat), am 1. (Tag) des Monats, da erging das Wort Jhwhs an mich folgendermaßen: 2 Menschensohn, sprich zum Pharao, dem König von Ägypten, und zu seinem Gepränge: Wem bist du gleich gewesen in deiner Größe? 3 Siehe, Assur! Eine Zeder auf dem Libanon, schön an Gezweig und ein schattiger Wald und hoch an Wuchs – und zwischen Wolken war ihr Wipfel. 4 Wasser machten sie groß, die Urflut zog sie hoch – ihre Ströme führte sie rings um ihre Pflanzung und ihre Kanäle trieb sie zu allen Bäumen des Feldes. 5 Darum überragte ihr Wuchs alle Bäume des Feldes und zahlreich wurden ihre Zweige und lang ihre Äste wegen der vielen Wasser, als sie sich ausbreitete. 6 In ihren Zweigen nisteten alle Vögel des Himmels und unter ihren Ästen gebar alles Getier des Feldes und in ihrem Schatten wohnten alle vielen Völker. 7 Und sie war schön in ihrer Größe, im Ausmaß ihres Laubwerks, denn ihre Wurzel war an vielen Wassern.

40 Vgl. Pohlmann, Hesekiel, 413.

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8 Zedern kamen ihr nicht gleich im Garten Gottes, Zypressen glichen nicht ihren Zweigen und Platanen waren nicht wie ihre Äste – kein Baum im Garten Gottes glich ihr in ihrer Schönheit. 9 Schön hatte ich sie gemacht in der Fülle ihres Laubwerks. Und es beneideten sie alle Bäume Edens, die im Garten Gottes waren. 10 Daher, so spricht der Herr, Jhwh: Weil sie hoch wurde in ihrem Wuchs und ihre Wipfel zwischen die Wolken streckte und ihr Herz sich überhob wegen ihrer Höhe, 11 gebe ich sie in die Hand eines Völkerfürsten und er verfährt wahrhaftig mit ihr ihrem Frevel entsprechend – vertrieben habe ich sie! 12 Es fällten sie Fremde, Gewalttätige der Völker, warfen sie nieder auf die Berge, und in alle Täler fiel ihr Laubwerk; und ihre Äste wurden zerbrochen in allen Bachrinnen des Landes; und aus ihrem Schatten traten heraus alle Völker der Erde und ließen sie liegen; 13 auf ihrem Stamm ließen sich nieder alle Vögel des Himmels und auf ihren Ästen war alles Getier des Feldes  – 14 damit nicht hoch werden in ihrer Höhe alle Wasserbäume und nicht ihren Wipfel zwischen die Wolken strecken und sich nicht auf sich selber stellen in ihrer Höhe alle Wasser Trinkenden, denn allesamt sind sie dem Tode übergeben, hinab zur tiefsten Erde, inmitten von Menschen, hin zu den in die Grube Hinabsteigenden. 15 So spricht der Herr, Jhwh: Am Tage, als sie hinabstieg in die Unterwelt, habe ich in Trauer versetzt, habe ich verdeckt ihretwegen die Urflut und ich hielt ihre Ströme auf und zurückgehalten wurden viele Wasser; und ich verfinsterte ihretwegen den Libanon; und alle Bäume des Feldes sind ihretwegen ohnmächtig geworden. 16 Vom Getöse ihres Sturzes habe ich Völker erbeben lassen, indem ich sie hinabfahren ließ zur Unterwelt mit den in die Grube Hinabsteigenden. Es trösteten sich in der untersten Erde alle Bäume Edens, erlesen und gut vom Libanon, alle Wasser Trinkenden. 17 Auch sie sind mit ihr zur Unterwelt hinabgestiegen, zu den Schwerterschlagenen, mit ihrer Helferschaft, die in ihrem Schatten wohnte, inmitten der Völker. 18 Wem bist du gleich gewesen, so in Herrlichkeit und Größe unter den Bäumen Edens? Doch du wurdest hinuntergebracht mit den Bäumen Edens zur untersten Erde, inmitten von Unbeschnittenen liegst du mit den Schwerterschlagenen. Das ist der Pharao und sein ganzes Gepränge! Spruch des Herrn, Jhwhs.

In Ez 31 steht der Pharao im Zentrum. Nach der Datierung in V. 1 und der Adressierung des Wortes an den Pharao und „sein Gepränge“41 in V. 2a folgt eine Passage, die in V. 2b mit der Frage „Wem bist du gleich gewesen in deiner Größe?“ eröffnet und in V. 9 mit dem Hinweis auf den Neid der Bäume Edens abgeschlossen wird. Mit ‫ לכן‬in V. 10 wird eine neue Einheit eröffnet.42 Die in poetischer Sprache gehaltene Einheit V. 2b–9 wirkt auf den ersten Blick vergleichsweise geschlossen, wenngleich die Anrede an den Pharao in der 2. Person in V. 2b sich von der nach-

41 Zur Übersetzung von ‫ המון‬mit „Gepränge“ vgl. Hölscher, Hesekiel, 151. Ihm folgen Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 733 u. ö., und Pohlmann, Hesekiel, 403 u. ö. 42 Vgl. zudem Sedlmeier, Ezechiel, 98: „Während der erste Abschnitt VV. 2b–9 poetisch gestaltet ist, präsentieren sich VV. 10–14 und 15–18 als vorwiegend prosaische Rede.“

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folgenden Rede über die Zeder in der 3. Person in V. 3–9 abhebt43 und die thematische Erweiterung durch das Motiv des „Gartens Gottes“ in V. 8–9 innerhalb des Textes einen eigenen Akzent setzt. Möglicherweise liegt eine ältere Fassung des Gedichts in V. 3–7 vor44 – hier wird man aber über vage Vermutungen nicht mehr hinauskommen.45 Das Bild der Zeder auf dem Libanon in V. 3aα erinnert an die entsprechende Bildrede aus Ez 17,3 und Ez 17,22–23, wo die Zeder einerseits für den abgesetzten und andererseits für den erwarteten König in Jerusalem steht. In Ez 31 wird das Bild der Zeder auf den Pharao bzw. dessen Vergleichsgröße Assur bezogen. Betont wird in dem Zedernlied in V. 3–5 die Höhe der Zeder bis in die Wolken hinein, ihre Versorgung durch die Wasser der „Urflut“ und in V. 6a ihre Funktion für die Vögel des Himmels und die Tiere des Feldes. V. 6b verlässt mit der Nennung „aller vielen Völker“ die Bildebene. Nach V. 8–9 gleicht dieser Zeder kein Baum im Garten Gottes, die Bäume Edens beneiden sie vielmehr. Damit ist der Höhepunkt des Bildwortes erreicht, das frühestens über das Motiv des Neides in V. 9b eine Kritik erahnen lässt – in V. 3–7 spiegelt sich nichts als Anerkennung, Hochachtung und Respekt für die große Zeder. Die vermeintlich mythischen Bilder von „Eden“ und vom „Garten Gottes“ sind hier als literarische Ausschmückungen zu verstehen, die den folgenden Sturz des Baumes aufgrund der übersteigerten Fallhöhe besonders dramatisch erscheinen lassen sollen. Von einem „Paradiesbaum“ oder einem „Lebensbaum“ kann hier

43 Vgl. Hölscher, Hesekiel, 151, demzufolge der Fragesatz in V. 2b „nicht als ursprünglicher Anfang des hesekielischen Gedichtes verstanden werden“ kann; ähnlich Garscha, Studien, 184 Anm. 557. 44 Anders Hölscher, Hesekiel, 152 Anm. 1, für den Teile von V. 8 noch zum älteren Zederngedicht hinzugehört haben; so auch Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 758: „Die ursprüngliche Schilderung der Pracht des Baumes dürfte mit 8 geendet haben.“ Garscha, Studien, 182–185, zählt dagegen neben V. 2a.3–4.6–7.8aα1.b auch V. 12–13 zum ursprünglichen Gedicht und rechnet den Fall der Zeder mit zum Grundbestand, konzediert allerdings: „Einige Hinweise deuten auf ein nicht mehr faßbares, hoch mythologisches Vorstadium des Stoffes hin.“ (Garscha, Studien, 184–185) Pohlmann, Ezechielstudien, 188; Pohlmann, Hesekiel, 424, sieht die älteste Fassung des Gedichts in V. (2.)3.4a.6aα.12a.bα.13a und erkennt in ihm eine Klage, die „rückblickend ein dem Fall der Zeder analoges Katastrophengeschehen anspricht und den Klagen in Ez 19 weithin korrespondiert“ (Pohlmann, Ezechielstudien, 189). Pohlmann folgert daraus, dass Ez 31* wie auch Ez 19* zunächst einmal den Untergang des Jerusalemer Königtums beklagte (vgl. Pohlmann, Ezechielstudien, 249–250), dann aber auf den Pharao übertragen wurde; zu erwägen sei, ob Ez 31* „daraufhin den Ausgangstext zur schließlich entstehenden Sammlung von Ägyptenworten darstellte.“ (Pohlmann, Hesekiel, 426) 45 Vgl. Sedlmeier, Ezechiel, 98: „Die Zeichnung der prachtvollen Zeder ist an manchen Stellen so überfrachtet, dass eine spätere ausmalende Nachexegese anzunehmen ist.“

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ebenso wenig substantiell die Rede sein wie von einem „Urmenschmythos“ in Ez 28,11–19 im Blick auf den König von Tyros.46 Da in V. 10–14, mit ‫ לכן‬und anschließender Botenspruchformel eingeleitet, eine Unheilsansage folgt, liest sich das Zedernlied im Gesamtgefüge von V. 2–10 nun wie eine vorausgehende Begründung für das angesagte Kommen des Unheils, was das Zedernlied in einen vollkommen anderen Bedeutungsrahmen stellt. Der Form nach liegt hier ein begründetes Gerichtswort vor, was deutlich zeigt, dass die Trägergruppen des Ezechielbuches in der Tradition prophetischer Sprachmuster stehen, auch wenn hinter V. 2–10 natürlich keine konkrete prophetische Redesituation mehr stehen wird, sondern die Form des begründeten Gerichtswortes hier die Grundlage eines literarisch ausgreifend gestalteten Textes ist. In V. 10–14 werden die Zedernbilder aus V. 2b–9 aufgegriffen, mit dem ‫ איל גוים‬und den ‫ עריצי גוים‬in V. 11–12 werden allerdings neue Handlungsträger eingeführt, die das Bildwort mit der konkreten Nennung von Macht- und Gewalthabern verlassen47 und damit auf einer Ebene mit V. 6b liegen. Mit den Stichworten ‫מות‬, ‫ארץ תחתית‬ und ‫ בור‬in V. 14 wird der Vorstellungsraum erschlossen, den die folgende Passage dann ausfüllt.48 Der Schlussabschnitt V. 15–18 setzt mit der Botenspruchformel ein und eröffnet damit eine neue literarische Einheit, die in V. 15–17 vom Fall der Zeder in die Sche’ol, vom Erbeben der Völkerwelt und vom Sich-Trösten der Bäume Edens über diesen Sturz berichtet. V. 18 greift mit der Frage „Wem bist du gleich gewesen?“ und der Eden-Topologie erkennbar auf V. 2b.8–9 zurück, was

46 Vgl. dazu bereits Herrmann, Ezechielstudien, 104: „Die Art, wie Ezechiel mit dem Gedanken der Weltkatastrophe und den naturmythischen Zügen umgeht, zeigt ganz bestimmt, daß er hier mit überliefertem Material arbeitet, das bis zu einem gewissen Grade abgegriffen ist, das schon soweit typisch, soweit ‚Stil‘ geworden ist, um einfach in dichterischer Weise verwendet zu werden.“ Zu den Motiven vgl. Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 751–753, und jetzt auch Sedlmeier, Ezechiel, 99–101. Nach Fohrer, Ezechiel, 176, „haben diese Motive vom Weltenbaum und Gottesgarten offensichtlich nur dazu gedient, den eigentlichen Überlieferungsstoff auszuschmücken und den Prachtbaum gewaltiger erscheinen zu lassen.“ Ähnlich urteilt Lawrence Boadt, Ezekiel’s Oracles against Egypt. A Literary and Philological Study of Ezekiel 29–32, BibOr 37 (Rome: Biblical Institute Press, 1980), 27: „Although widely familiar with mythological themes in chs 27, 28, 29, 31 and 32, Ezekiel thoroughly demythologizes them in use.“ In diese Richtung geht auch die Deutung Pohlmanns, Ezechielstudien, 187, der in Ez 31* nicht mit einem ehemals „mythologischen Gedicht“ rechnet. 47 Hölscher, Hesekiel, 154, konstatiert hier „eine üble Mischung von Bild und Sache; sie zieht sich durch den ganzen Abschnitt, der dadurch stilistisch zu den unerfreulichsten des ganzen Buches gehört und allein aus diesem Grunde nicht für echt gehalten werden kann.“ 48 Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 760, spricht im Blick auf V. 14 von einer „eigenartigen Paränese“, „die sich durch ihren Inhalt wie auch durch die neuartige Begrifflichkeit, die in ihr zu erkennen ist, als Zufügung von anderer Hand ausweist.“

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den Eindruck hoher Kohärenz erzeugt,49 der jedoch nicht über die thematischen Verschiebungen innerhalb der drei Teile des Kapitels hinwegtäuschen kann. Um Ez 31 sachgemäß einordnen zu können, muss man das gesamte Ezechielbuch im Blick haben. Die Königstexte in Ez 19 und Ez 17, die ebenfalls mit Vergleichs- und Bildworten arbeiten, bilden den Rückraum für das Verständnis von Ez 31. Das Bild der Zeder wird in Ez 17 verwendet und bezieht sich dort auf den Jerusalemer König, dessen Ende in der Qina in Ez 19 beklagt wird. Den Fragen in Ez 31,2b.18 entspricht pragmatisch die Überschrift in Ez 17,2, die den Text als „Rätsel“ und „Gleichspruch“ ausweist. Der Sequenz „Rätsel – Qina“ in Ez 17 und Ez 19 entspricht die Positionierung von Ez 31 unmittelbar vor dem als Qina überschriebenen Text Ez 32,1–16, der seinerseits aber gar keine Totenklage darstellt; zudem geht Ez 31 mit Ez 30,2b–5 eine Klagesequenz voraus, die zwar nicht als Qina bezeichnet wird, durch die Wendung ‫ הילילו הה‬aber Klagelexematik verwendet. Gemeinsam ist den Rätsel- und Klageworten in Ez 17, Ez 19 und Ez 31 der Topos des Hochmuts, der vor dem Fall kommt. In Ez 31 wird dieser Topos mit der Höhe der Zeder und dem Sturz in die Sche’ol besonders eindrucksvoll ausgestaltet. Geht man davon aus, dass in diesen Bild- und Klageworten die ältesten Texte und damit die Anfänge des Ezechielbuches zu suchen sind, stellt sich im Blick auf Ez 31 die Frage, um wen es hier eigentlich geht. In Ez 17 und Ez 19 geht es um das Jerusalemer Königtum, das zu einem beklagten Ende kommt. Das ist in der vorliegenden Fassung von Ez 31 nicht der Fall. Vielmehr bietet Ez 31,2–3 zwei andere Antworten auf die Frage, um wen es hier geht: In V. 2a wird der Pharao als Adressat des folgenden Bildwortes genannt und in V. 18bγ mit der Unterschrift ‫ הוא פרעה וכל המונה‬die Deutung des Textes auf den Pharao und Ägypten hin eigens noch einmal abgesichert. Außer in dieser Rahmung in V. 2 und V. 18 ist vom Pharao oder von Ägypten innerhalb des Kapitels aber keine Rede. Die betonte Signatur in V. 18 und die auffällige Voranstellung von V. 2b vor dem eigentlichen Zedernlied lassen vermuten, dass hier erst nachträglich eine Identifikation der Zeder mit dem Pharao vorgenommen wird. Die Antwort auf die Frage aus V. 2b, wem der Pharao gleich gewesen sei, lautet in V. 3a schlichtweg „Assur“ – akzentuiert durch das voranstehende ‫הנה‬. Auch wenn die Auslegungsgeschichte von Ez 31,3 ohne Anhalt an der Textüberlieferung davon bestimmt ist, an Stelle von ‫ אשור‬das Lexem ‫ תאשור‬für „Zypresse“ zu lesen,50 kann man dieser Konjektur nicht folgen.51 49 So urteilt Herrmann, Ezechielstudien, 31, lapidar: „31 ist einheitlich.“ 50 Vgl. etwa Hölscher, Hesekiel, 151, demzufolge „statt ‫ אשור‬sicher ‫ תאשור‬zu lesen“ ist; so dann auch Fohrer, Ezechiel, 173, sowie Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 746–748, und Pohlmann, Hesekiel, 421. 51 Vgl. Ernst Haag, „Ez 31 und die alttestamentliche Paradiesvorstellung,“ in Wort, Lied und Gottesspruch, Bd. 2, Beiträge zu Psalmen und Prophete, FS Joseph Ziegler, hg. v. Josef Schreiner,

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Es spricht vielmehr alles dafür, dass mit V. 3–7.8–9 ein nun auf Assur bezogener Text in das Wort gegen den Pharao und sein Gepränge eingebaut wurde, um am gefallenen Großkönig des 7. Jahrhunderts v. Chr. zu demonstrieren, dass auch der Pharao nicht mehr ist als der assyrische Großkönig, der von den Babyloniern besiegt wurde. Das Bild der hohen Zeder inmitten der Bäume des Gartens Gottes in V. 3–9 passt ohnehin nur bedingt zum Chaosungeheuer aus Ez 29. Fragt man allerdings, wer in Juda eigentlich ein älteres, zunächst unkritisches Lob- und Preislied auf den assyrischen König gedichtet haben sollte, bleibt man ratlos.52 Im Horizont des Zedernbildes aus Ez 17, das auf den Jerusalemer König bezogen ist, wird man daher zumindest fragen können, ob das Zedernlied aus Ez 31,3–7.8–9* nicht in einer älteren Fassung auf den Jerusalemer König bezogen war, wofür insbesondere die Mythologeme in V.  8–9 sprechen, denn mit dem „Garten Gottes“ und mit „Eden“ wird ja eine Topologie aufgegriffen, die auch in der nichtpriesterschriftlichen Paradieserzählung Verwendung findet53 und wohl weniger im ägyptischen und assyrischen, sondern vielmehr im hebräischen Kulturraum beheimatet sein dürfte. Das weit übersteigerte Zedernlied auf den Jerusalemer König, das konzeptionell zunächst näher bei Ez 19 stand, wurde vermutlich aus diesem Zusammenhang herausgenommen, als Vergleichsbild für den Pharao auf den assyrischen König übertragen und in den Ägyptenworten verankert, wo es zu den ältesten Texten gehört.54 Ez 17 stellt dabei übrigens einen Reflex auf dieses hohe Zedernlied dar, wenn es in der Bildsprache von Adler und Zedernwipfel die Entmachtung des Jerusalemer Königs verrätselt.

FzB 2 (Würzburg: Echter Verlag, 1972), 171–178, 172, und Harald Schweizer, „Die vorhergesehene Katastrophe: Der Sturz des Weltenbaumes (Ez 31),“ in »… Bäume braucht man doch!« Das Symbol des Baumes zwischen Hoffnung und Zerstörung, hg. v. Harald Schweizer (Sigmaringen: Thorbecke, 1986), 89–108, 90, sowie Volkmar M. Premstaller, Fremdvölkersprüche des Ezechielbuches, FzB 104 (Würzburg: Echter, 2005), 175.180, und Sedlmeier, Ezechiel, 98.105. 52 Vgl. aber Schweizer, „Katastrophe,“ 92, demzufolge der Text „eine Hymne auf Assur“ ist, allerdings: „Wer die Hymne auf Assur verfaßt hat, wissen wir nicht.“ (Schweizer, „Katastrophe,“ 96) Ähnlich Sedlmeier, Ezechiel, 102–103, der die Bedeutung Assurs in der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. herausstellt und folgert: „In diese Zeit der unbestrittenen Vormachtstellung Assurs lässt sich das Bild des Weltenbaumes situieren“ – was grundsätzlich nicht zu bestreiten ist, doch aber die Frage aufwirft, wer in Juda angesichts des durchweg negativen Assurbildes ein solches Gedicht verfasst haben sollte. 53 Vgl. dazu Haag, „Paradiesvorstellung,“ 177–178. 54 Vgl. dazu bereits die Überlegungen von Garscha, Studien, 194: „Die Grundlage der Ägyptenworte bildet ein Zyklus von drei Worten gegen den Pharao 29,2–5; 31,2a–13; 32,2–6.16a, die dem Komplex der Worte gegen die letzten Könige Judas nachgebildet sind. Er stammt vom Verfasser des Prophetenbuches (VEz).“

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Für die vorliegende Sequenz in Ez 31,2–9 lässt sich feststellen, dass der Pharao im Bild der Zeder mit dem König von Assur verglichen wird. Die Rede von Schönheit, Höhe und Fülle der Zeder beschreibt durchaus das, was auch den Pharao nach Ez 29 auszeichnet. Und so wird auch das, was die Zeder trifft, am Ende den Pharao treffen: Wegen ihrer Höhe und Überheblichkeit wird die Zeder nach Ez 31,11 am Ende einem „Völkerfürsten“ übergeben. Dieser „Völkerfürst“ wird mit der Zeder ihrem Frevel entsprechend verfahren. Eine Identifikation dieses Fürsten mit Nebukadnezzar oder einem anderen Herrscher lässt sich nicht mehr sicher begründen; die Formulierung in V. 11 ist vielmehr durch eine gewisse Offenheit bestimmt, die den Text auch in nachbabylonischer Zeit rezipierbar hält: Der Abschnitt V. 10–14 legt auf der Ebene Assurs eine Identifikation des ‫ איל גוים‬mit dem babylonischen König nahe, auf der Ebene Ägyptens ist aber auch eine Identifikation mit Kambyses II. möglich und denkbar.55 In diesem Zusammenhang darf gerade nicht unterbestimmt werden, dass das Zedernlied durch die mythische Topologie in V. 8–9 in einem überzeitlichen Horizont steht. Damit wird der Text in seiner vorliegenden Gestalt aus seinen zeitlichen Verankerungen gelöst und als Exempel für Hochmut und dann auch Fall alles Übersteigerten lesbar. Das konzeptionelle Umfeld in Ez 28,11–19, Ez 29 und Ez 31,15–18 spricht jedenfalls dafür, dass es in diesem gesamten Text noch um mehr geht, wenn Hochmut und Überheblichkeit mit Chaos und Unterwelt, also mit den grundlegenden Bedrohungen der Ordnung in Verbindung gebracht werden.56 Die Überheblichkeit des assyrischen Königs, des Pharaos oder jedes anderen großen Machthabers – auch des vormaligen Jerusalemer Königs – ist nicht irgendein beliebiger Mangel oder irgendein charakterliches Defizit, sondern ein grundsätzlicher Angriff auf die Ordnung der Welt, die ein derartiges Herausragen nicht dauerhaft zulässt. Es ist ein zutiefst weisheitliches Denkschema, das hier – wie auch in Ez 28,11–19 –

55 Vgl. dazu bereits Hölscher, Hesekiel, 155, und Otto Kaiser, „Der geknickte Rohrstab. Zum geschichtlichen Hintergrund der Überlieferung und Weiterbildung der prophetischen Ägyptensprüche im 5. Jahrhundert,“ in: Otto Kaiser, Von der Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments. Gesammelte Studien zur Hermeneutik und zur Redaktionsgeschichte. Zu seinem 60. Geburtstag am 30. November 1984, hg. v. Volkmar Fritz u.  a. (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984), 181–188, 182, der davon ausgeht, dass die literarischen Prozesse, die hinter Ez 29–32 liegen, auch damit zusammenhängen, dass „man in dem gegen das Nilland heranrückenden Nebukadnezar den persischen Großkönig der eigenen Zeit wiederentdeckte.“ 56 Nach Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 761–762, wird in Ez 31 „mit der Kühnheit der mythischen Aussage sichtbar gemacht, daß in irdischer Machtballung hintergründige, uranfängliche Mächtigkeiten mit ihm Spiele sind.“ Zugleich wird hier aber vor allem – und zwar nicht in mythischen Aussagen (!) – sichtbar gemacht, dass Jhwh die durch das Chaos bedrohte Ordnung herstellt und absichert, wenn er das chaotisch Übersteigerte und Hochmütige erniedrigt (vgl. dazu Pohlmann, Hesekiel, 428–429).

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zugrunde liegt. So kann es auch nicht überraschen, mit welcher Dramatik dann in der neu mit der Botenspruchformel eingeleiteten Einheit in V. 15–18 die Höhe gegen den Fall in die Tiefe eingetauscht wird und erneut Mythologeme wie die Rede von der ‫ תהום‬in V. 15 aufgerufen werden. Hier stehen die bekannten altorientalischen „Höllenfahrtstexte“57 mit ihren geprägten Sprachmustern als konzeptioneller Rückraum zweifellos im Hintergrund; sie sind ihrer Pragmatik nach aber durchweg den Aussageabsichten der Texte untergeordnet. Dass beim Sturz der Zeder in die Tiefe nach V. 16 die Völker erbeben, bewegt sich im Rahmen der Tag-Jhwhs-Tradition, die in Ez 30,2–3 bereits aufgegriffen wird. Die Rede von den ‫חללי חרב‬, den „Schwerterschlagenen“ in V. 17–18 verweist voraus auf Ez 32,17–32, wo vom Wesen der „Schwerterschlagenen“ in der Sche’ol ausführlich gehandelt wird. Wo V. 15–18 im Kontext der Entstehung der Ägyptenworte zu verorten sind, ist fraglich. Gerade von V. 18 her scheint es nicht unsachgemäß zu sein, hier die letzte literarische Stufe zu suchen, die in der fortgeschrittenen Perserzeit die überholte Ägyptenperspektive nur noch symbolisch einnimmt, um letztlich wie in Ez 17 und Ez 19 auch hier das Exempel von Hochmut und Fall ganz allgemein zu statuieren. In das Textgeflecht, das zwischen Ez 17 und Ez 19 besteht, ist zu einem noch späteren Zeitpunkt Ez 18 eingewoben worden. Hier werden die königlichen Perspektiven individualisiert und die politisch-historischen Diskurse des vorliegenden Ezechielbuches einer ethischen Debatte um Schuld und Verantwortung und um Leben und Tod des einzelnen zugeordnet. Dieser weitere Horizont ist für die Einordnung von Ez 31 nicht unwesentlich, da das Kapitel innerhalb des Ezechielbuches gewissermaßen in nuce Stationen der Buchformation spiegelt, die sich in Ez 29 ebenfalls erkennen lassen: Am Anfang von Ez 31 steht das Zedernlied, das mehrere Transformationen durchläuft und als Vergleich des Pharaos mit dem gestürzten assyrischen König von derselben golaorientierten Gruppe getragen worden sein dürfte wie die Anfänge von Ez 29 in Ez 29,1–6a*. Das bearbeitete Bildwort aus Ez 31,2b–9* wird durch die folgende Unheilsansage in V. 10–14 zur Begründung eines Gerichtswortes, das nun V. 2–14 umfasst. Die in V. 10–14 greifbaren neuen Akzente, die mit der Nennung des „Völkerfürsten“ und der „Gewalttätigen der Völker“ gesetzt werden, könnten wegen des weiten Horizontes zu den diasporaorientierten Trägergruppen des Ezechielbuches führen. Hier scheint aber eine genauere Bestimmung nicht möglich zu sein, denn V. 2–14 sind durch die Querbezüge des ausgestalteten Zedernbildes so stark miteinander vernetzt, dass sich eine redaktionsgeschichtliche Differenzierung nur

57 Vgl. dazu exemplarisch die sumerische Darstellung von Inannas Gang zur Unterwelt (TUAT III/3 [1993], 458–495) und die akkadische Überlieferung von Ischtars Höllenfahrt (TUAT III/4 [1994], 760–766); vgl. auch Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/2, 784.

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schwer begründen lässt. Eine deutliche Brückenfunktion innerhalb des Textes nimmt die spätere Fortschreibung in V.  15–18 ein, die zum einen das folgende Kapitel Ez 32 konzeptionell vorbereitet, die aber zum anderen das in V. 14 angedeutete Bild der Unterwelt massiv ausbaut und durch das Motiv des Sich-Tröstens der „Bäume Edens“ in der Unterwelt weiterführt. Aus dem Neid der Bäume Edens in V. 9b wird in V. 16b der Trost dieser Bäume, die sich zusammen mit der Zeder in der Unterwelt wiederfinden. Darauf läuft das Kapitel hinaus: Am Ende ist aus der Höhe, Überheblichkeit und Ungleichheit eine Gleichheit geworden, die die Ordnung dadurch wiederherstellt, dass sich alle gemeinsam in der Sche’ol wiederfinden – und zwar nicht nur die Zeder, die für Assur und Ägypten steht, sondern auch die Bäume Edens.58 Damit wird eine Gemeinsamkeit begründet, die mit der Gemeinsamkeit, die zwischen Juda bzw. Israel und Ägypten in Ez 29,9b–16 erkennbar war, korrespondiert – nur dass es hier nicht um eine Gemeinsamkeit von Zerstreuung und Restitution geht, sondern um eine Gemeinsamkeit aller auf der Ebene der Sche’ol. Aus dem älteren Bildwort von Höhe und Übersteigerung wird damit über die konkreteren Erwartungen der Vernichtung der hohen Zeder durch „Völkerfürsten“ und „Gewalttäter“ am Ende ein Lehrstück über die Wiederherstellung der Ordnung der Welt durch Jhwh, der alle gemeinsam in der Unterwelt versammelt und damit alles Übersteigerte und Hervorragende in der Sche’ol ausgleicht.

5 Schluss Nach Zimmerli bilden Ez 29,1–16; 30,20–32,32 „ein zunächst wohl selbständiges Büchlein von Sprüchen gegen Ägypten und den Pharao.“59 Ein Ziel der vorangehenden Ausführungen lag darin zu zeigen, dass diese Einschätzung zahlreiche Verbindungen und Vernetzungen der Ägyptenworte innerhalb des Ezechielbuches 58 Vgl. dazu Schweizer, „Katastrophe,“ 101: „Das große mythische Bild vom Sturz des Weltenbaumes wird hier in eine allgemeine Lebensweisheit umgesetzt, in ein memento mori.“ Das greift aber zu kurz, denn es geht nicht zentral um das memento mori, sondern pragmatisch um die weisheitliche Ermahnung und Warnung vor Stolz, Hochmut und Überheblichkeit, wie Sedlmeier, Ezechiel, 112, ausführt: „Das Schicksal Assurs und Ägyptens wie derer, die im Gefolge der Großmächte agieren, wird in V. 14 in eine allgemein gültige, weisheitlich geprägte Aussage gebracht: Alles Große, sich selbst Überhebende, jede Form von Hybris und Allmachtträumerei ist letztlich Wahn und zum Scheitern verurteilt, wie das Finale mit dem Sturz des Weltenbaumes in die Unterwelt drastisch ausführt. Auf diese Weise wird Ez 31 zu einem paradigmatischen Text, der jede Weltmacht entzaubert.“ 59 Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII/1, 111*. In eine ähnliche Richtung gehen auch Pohlmann, Hesekiel, 364, und Sedlmeier, Ezechiel, 23.

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außer Acht lässt. Die außergewöhnlich breit ausgestalteten und über mindestens drei Jahrhunderte gewachsenen Ägyptenworte gehören zusammen mit den Tyrosworten, für die sich Ähnliches zeigen lässt, zu den ältesten Texten des Ezechielbuches, anhand derer sich verfolgen lässt, wie sich aus Gerichtsworten gegen die Völker universale Perspektiven entwickeln, die nicht nur Abgrenzung, sondern auch Gemeinsamkeiten zwischen Israel und der Völkerwelt in den Blick nehmen. Ez 31 zeigt zudem, wie diese universalen Perspektiven weisheitlich akzentuiert werden, wenn der Topos von Hochmut und Fall breit ausgeführt wird. Aus dem Fall des Hochmütigen ist etwas zu lernen, und vor einem Hochmut, der in die Sche’ol führt, soll man sich gewarnt sein lassen. Die besondere Empathie, die sich in Teilen der Ägyptenworte erkennen lässt und die auch die Klagen über den Untergang von Tyros bestimmt, zeigt deutlich, dass man in den unmittelbaren Nachbarn im Norden und im Süden nicht nur Feinde und Gegner zu sehen in der Lage war, sondern dass man auch darum wusste, dass die Fremde ein Ort des Bleibens sein kann. Es ist ja durchaus auch eine Form von Hochmut zu meinen, dass die oder das Fremde dem Eigenen grundsätzlich unterlegen oder nachgeordnet sei. Die Völkersprüche betonen durchaus Gemeinsamkeiten zwischen vermeintlich Fremden und schaffen damit Räume des Verstehens – wenngleich die Sche’ol nicht der ideale Ort der Völkerverständigung sein dürfte. Aber hier finden sich ja auch nur diejenigen, die zu keinem Zeitpunkt zur Einsicht gekommen sind und die sich nicht haben warnen lassen vor ihrem Hochmut und ihrer Überheblichkeit.

Literaturverzeichnis Boadt, Lawrence. Ezekiel’s Oracles against Egypt. A Literary and Philological Study of Ezekiel 29–32. BibOr 37. Rome: Biblical Institute Press, 1980. Carvalho, Corrine L. „A Serpent in the Nile. Egypt in the Book of Ezekiel.“ In Concerning the nations. Essays on the oracles against the nations in Isaiah, Jeremiah and Ezekiel, hg. v. Else K. Holt u.  a., 195–220. LHB 612. London/New York: Bloomsbury, 2015. Fechter, Friedrich. Bewältigung der Katastrophe. Untersuchungen zu ausgewählten Fremdvölkersprüchen im Ezechielbuch. BZAW 208. Berlin/New York: de Gruyter, 1992. Fohrer, Georg. Ezechiel. Mit einem Beitrag von Kurt Galling. HAT 1/13. Tübingen: Mohr Siebeck, 1955. Frevel, Christian. Geschichte Israels. KStTh 2. Stuttgart: Kohlhammer, 2016. Garscha, Jörg. Studien zum Ezechielbuch. Eine redaktionskritische Untersuchung von 1–39. EHS.T 23. Bern/Frankfurt am Main: Peter Lang u.  a., 1974. Haag, Ernst. „Ez 31 und die alttestamentliche Paradiesvorstellung,“ In Wort, Lied und Gottesspruch. Beiträge zu Psalmen und Propheten, Bd. 2, FS Joseph Ziegler, hg. v. Josef Schreiner, 171–178. FzB 2. Würzburg: Echter, 1972. Herrmann, Johannes. Ezechielstudien. BWAT 2. Leipzig: Hinrichs, 1908.

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Walter Bührer

Ezechiel und die Priesterschrift Abstract: The paper begins with methodological questions concerning the comparability of literary works in the Hebrew Bible, concentrating on the comparison between the priestly literature of the Pentateuch and the Book of Ezekiel. As the first one didn’t come to us as a separate work (but only as part of the broader Pentateuch) and the second one comes in different textual forms (see section 2) the comparison between Ezekiel and the priestly literature of the Pentateuch must be a redaction-critical one. In section 3, the paper first analyses the close tradition-historical relations between the oldest priestly texts (the socalled „ursprüngliche Priesterschrift“) and the Pro-Gola-Redaction of the Book of Ezekiel, where Ezekiel seems to be the older tradition; and second it analyses the literary-historical relations between the „Priesterschrift“ (especially Exod 6:2–8) and the Diaspora-Redaction of the Book of Ezekiel (especially Ez  20). Here, in contrast, the „Priesterschrift“ seems to be the older text. Thus, the relation between Ezekiel and the priestly literature of the Pentateuch is a mutual one depending on which state of the formation of the respective texts is discussed. Das mir gestellte Thema, „Ezechiel und die Priesterschrift“, stellt eine immense Herausforderung dar – gerade in der gegenwärtigen Forschungslandschaft und erst recht, wenn man die Debatte nicht auf den europäischen Gesprächsraum engführt. Der folgende Beitrag beginnt daher mit einigen Problematisierungen, die auf den ersten Blick trivial erscheinen, mit Blick auf die Literatur zur Debatte freilich alles andere als trivial sind. Ausgehend davon sollen im zweiten Teil ein kurzer Blick in die Textgeschichte des Ezechielbuches geworfen und im dritten und zugleich Hauptteil drei Vergleichspunkte untersucht werden. Der vierte Teil zieht ein kurzes Fazit.

1 Problematisierungen „Ezechiel und die Priesterschrift“: Alle Bestandteile des Titels sind interpreta­ tions­bedürftig – angefangen bei der Konjunktion „und“, aus der hier die Aufgabe eines Vergleichs beider damit verbundenen Größen herausgelesen wird. Dabei wird der Vergleich ein theologie- und redaktionsgeschichtlicher sein, was bei den verglichenen Größen schlicht geboten ist: https://doi.org/10.1515/9783110624250-007

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 Walter Bührer

Mit der Größe „Priesterschrift“ ist sodann ein Textkorpus des Alten Testaments im Blick, das es nicht anders denn in Form einer These gibt.1 Wenn auch die These der Priesterschrift fester Bestandteil der Pentateuchforschung war und ist, so war und ist die Einschätzung ihrer literarischen Eigenart, ihrer literarischen Erstreckung sowie ihrer Datierung Gegenstand der (zumindest internationalen) Forschungsdebatte. Alle drei Aspekte haben mittelbar oder unmittelbar Einfluss auf den hier abgezielten Vergleich. Als drittes ist auch die Größe „Ezechiel“ zu definieren, damit klar wird, was zu vergleichen sein wird.2 Geht es um das „Buch Ezechiel“ und damit um dessen „Komposition, Redaktion und Rezeption“, wie der Tagungstitel formuliert? Wenn auch hier, anders als bei der Priesterschrift, der Diskussion um die Datierung zumindest nach oben engere Grenzen gesetzt sind, und die Frage des zu behandelnden Textes mehr eine textgeschichtliche denn eine redaktionsgeschichtliche bzw. quellenkritische ist, so ist die Frage der Entstehungsgeschichte des Buches nicht weniger kontrovers diskutiert als bei der Priesterschrift.3 Oder aber geht

1 Zur Priesterschrift vgl. die divergente (und keineswegs die gesamte Bandbreite internationaler Pentateuchforschung abdeckende) Sammlung: Friedhelm Hartenstein und Konrad Schmid, Hg., Abschied von der Priesterschrift? Zum Stand der Pentateuchdebatte, VWGTh 40 (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2015); zum Pentateuch insgesamt: Jan Christian Gertz u.  a., Hg., The Formation of the Pentateuch. Bridging the Academic Cultures of Europe, Israel, and North America, FAT 111 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016); Walter Bührer, „Neuere Ansätze in der Pentateuchkritik,“ VF 64 (2019): 19–32. 2 Zum Ezechielbuch vgl. den Forschungsüberblick bei Karl-Friedrich Pohlmann, Ezechiel. Der Stand der theologischen Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008); und die (ebenso) divergente Sammlung: William A. Tooman und Penelope Barter, Hg., Ezekiel. Current Debates and Future Directions, FAT 112 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017). Zur Textgeschichte des Ezechielbuches  – bzw. der Ezechielbücher  – vgl. bes. Peter Schwagmeier, Untersuchungen zu Textgeschichte und Entstehung des Ezechielbuches in masoretischer und griechischer Überlieferung (Dissertationsschrift Zürich, 2004); Ingrid E. Lilly, Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the Masoretic Text as Variant Literary Editions, VT.S 150 (Leiden: Brill, 2012). 3 Mit Thomas Krüger, „Ezekiel Studies. Present State and Future Outlook,“ in Ezekiel. Current Debates and Future Directions, hg. v. William A. Tooman und Penelope Barter, FAT 112 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017), 18–27, 23 ist angesichts der Textgeschichte des Ezechielbuches sowie aufgrund materiell präsenter, sog. empirischer, Beispiele fortschreibender Textentstehung im Alten Orient insgesamt die Rückfrage nach der Entstehungsgeschichte auch des Ezechielbuches gegenüber ahistorischen Lektüreversuchen wissenschaftlich geboten: „To say it in no uncertain manner: the evidence from different manuscripts and versions, and from documented cases in ancient Near Eastern and ancient Hebrew texts, makes clear that we must expect the Book of Ezekiel’s literary development through multiple stages over a considerable period of time. According to our present understanding, this is the default hypothesis. The burden of proof is on the side of those claiming literary unity. In view of the differences between different editions of Ezekiel that are documented by Hebrew, Greek and Latin manuscripts, it is patently impossible to take

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es nicht um das Buch, sondern um den hinter dem Buch stehenden „Propheten Ezechiel“, dem sich der Vergleich widmen soll wegen dessen Bescheibung als Priester (so explizit die griechische Überlieferung) oder Priestersohn in Ez 1,3 und der priesterlichen Prägung des als Autobiographie dieses Propheten gestalteten Ezechielbuches? Nun hat freilich die Propheten(buch)forschung der letzten gut 50  Jahre die Schwierigkeiten dabei aufgezeigt, von den vorliegenden Prophetenbüchern auf die hinter ihnen stehenden Autoritäten rückzuschließen.4 Und gerade angesichts strittiger wie thetischer Rekonstruktionen der Entstehung des Ezechielbuches kann die Rückfrage nach dem Propheten Ezechiel, oder allgemeiner nach den Trägerkreisen des Buches oder seiner Buchgestalten, nur umso mehr strittig und thetisch bleiben. Im Folgenden soll sie daher unterbleiben; stattdessen soll es um einen Vergleich des Ezechielbuches mit der Priesterschrift bzw. der priesterlichen Literatur des Pentateuch gehen. Eine letzte Problematisierung ist methodischer Art:5 Wenn auch im Folgenden zwei Texte oder Textbereiche miteinander verglichen werden, so kann doch nicht jeder Text-Text-Vergleich mit Sicherheit auf einen Text-Text-Bezug zurückgeführt werden. So könnten etwa bei dem beiden Texten gemeinsamen Interesse an kultisch-rituellen und institutionellen Fragen traditionsgeschichtliche Erklärungen näher liegen. Desgleichen gilt auch für das/die zugrundeliegende(n) und im Ezechielbuch sowie der Priesterschrift relativ ausführlich auch explizit

the Masoretic Book of Ezekiel as a source for the sixth century BCE without any source-critical analysis (in the sense of a critical examination of the worth of Ezekiel as a historical source).“ Der „burden of proof“ für die jeweils zugrundegelegte redaktionsgeschichtliche These liegt sodann beim jeweiligen Exegeten; vgl. ebd. Anm. 9: „redaction-critical reconstructions are never more than an educated guess“. 4 Vgl. etwa Uwe Becker, „Die Wiederentdeckung des Prophetenbuches. Tendenzen und Aufgaben der gegenwärtigen Prophetenforschung,“ BThZ 21 (2004): 30–60; Jörg Jeremias, „Das Rätsel der Schriftprophetie,“ ZAW 125 (2013): 93–117; Reinhard Gregor Kratz, „Das Rätsel der Schriftprophetie. Eine Replik,“ ZAW 125 (2013): 635–639; sowie spezifisch mit Blick auf das Ezechielbuch und die Rückfrage nach dem historischen Ezechiel Pohlmann, Ezechiel, 177–194; sowie programmatisch Karin Schöpflin, Theologie als Biographie im Ezechielbuch. Ein Beitrag zur Konzeption alttestamentlicher Prophetie, FAT 36 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002). 5 Vgl. zum Folgenden Walter Bührer, Am Anfang… Untersuchungen zur Textgenese und zur relativ-chronologischen Einordnung von Gen 1–3, FRLANT 256 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014), 277–284; sowie mit Blick auf den hier angezielten Vergleich etwa Michael A. Lyons, „How Have We Changed? Older and Newer Arguments about the Relationship between Ezekiel and the Holiness Code,“ in The Formation of the Pentateuch. Bridging the Academic Cultures of Europe, Israel, and North America, hg. v. Jan Christian Gertz u.  a., FAT 111 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 1055–1074.

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beschriebene(n) „Weltbild“/„Weltbilder“6 – umso mehr, wenn man (wie es zumindest die europäische und die hiervon beeinflusste Forschung zu tun pflegen) davon ausgeht, dass nicht nur die Entstehung des Ezechielbuches, sondern auch die der Priesterschrift durch die Erfahrung des babylonischen Exils geprägt ist. Angesichts des begrenzten Textcorpus, das auf uns gekommen ist, ist zusätzlich mit rein zufälligen Übereinstimmungen zwischen Texten zu rechnen, die etwa in der Verwendung der gleichen Sprache oder einer vergleichbaren Ausbildung der Schreiber begründet liegen könnten. Und schließlich ist auch die methodisch schwierig zu fassende Kategorie der mündlich-schriftlichen Schreiberausbildung und Textproduktion in den Blick zu nehmen.7 Erscheint dann bei einem Textvergleich eine Text-Text-Beziehung gegenüber traditions-, form- oder überlieferungsgeschichtlichen Erklärungen oder dem Verweis auf zufällige Übereinstimmungen überzeugender, ist in einer historisch arbeitenden Wissenschaft die Frage nach der Theologie- und Literaturgeschichte und damit auch nach der Abhängigkeitsrichtung zu stellen. Bei beiden Textbereichen kann daher das erzählte Setting der Texte (das vorstaatliche Israel in der priesterlichen Literatur, das exilierte und das exilische Juda im Ezechielbuch) nicht unkritisch als alleiniger Verstehensschlüssel auf die Texte appliziert werden,8 genauso wenig wie schlicht ein mittelalterlicher Textzeuge als Grundlage für Erörterungen über die Theologie und Theologiegeschichte des biblischen Israel des  – sehr grob gesagt  – ersten vorchristlichen Jahrtausends verwendet werden kann. Vielmehr sind text- und redaktionsgeschichtliche Fragen miteinzubeziehen. Um die genannten Problematisierungen zu illustrieren, kann als ein Beispiel der jüngeren Forschungsgeschichte die Studie von Risa Levitt Kohn, A New Heart

6 Vgl. die notwendigen Problematisierungen dieses Begriffes etwa bei Bernd Janowski, „Das biblische Weltbild. Eine methodologische Skizze,“ in Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, hg. v. Bernd Janowski und Beate Ego in Zusammenarbeit mit Annette Krüger, FAT 32 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), 3–26. 7 Vgl. hierzu David M. Carr, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature (Oxford/New York: Oxford University Press, 2005); und knapp ders., „Mündlich-schriftliche Bildung und die Ursprünge antiker Literaturen,“ in Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, hg. v. Erhard Blum und Helmut Utzschneider (Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 183–198. Zur Schreiberausbildung mit Blick auf (das) Ezechiel(buch) vgl. etwa Menahem Haran, „Ezekiel, P, and the Priestly School,“ VT 58 (2008): 211–218, hier 214 (judäische Schreiberausbildung); und Jonathan Stökl, „Schoolboy Ezekiel. Remarks on the Transmission of Learning,“ WO 45 (2015): 50–61 (babylonische Schreiberausbildung). 8 Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich diese Erkenntnis hinsichtlich der priesterschriftlichen Texte sehr viel flächendeckender durchgesetzt hat als hinsichtlich des Ezechielbuches.

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and a New Soul: Ezekiel, the Exile and the Torah, angeführt werden:9 Sie listet 97 Übereinstimmungen zwischen „Ezekiel and the Priestly Source“ auf, die als Nachweis für die literarische Abhängigkeit des Ezechielbuches von der „Priestly Source“ interpretiert werden.10 Dreierlei fällt hierbei auf: Erstens versperrt die Fokussierung allein auf literarische Bezüge allein zwischen „Ezekiel and the Priestly Source“ den Blick auf traditions-, form- oder überlieferungsgeschichtliche Erklärungen oder den Verweis auf zufällige Übereinstimmungen.11 Zweitens kommt man nicht umhin, kritisch anzumerken, dass bei Levitt Kohn das relativchronologische Ergebnis im Wesentlichen bereits vor der Analyse feststeht,12 die Analyse das Ergebnis damit nur untermauern soll.13 Und drittens fällt auf, dass zahlreiche der angeführten Übereinstimmungen auf den Textbereich von Lev 17–26, also das sog. Heiligkeitsgesetz, begrenzt sind und damit auf einen sehr spezifischen Textbereich priesterlicher Literatur des Pentateuch, die von Levitt Kohn nicht genauer ausdifferenziert wird.14 Wer sich aber – zumindest prinzipiell – auf

9 Vgl. Risa Levitt Kohn, A New Heart and a New Soul. Ezekiel, the Exile and the Torah, JSOTS 358 (Sheffield: Sheffield Academic Press, 2002), 30–75; vgl. auch dies., „A Prophet Like Moses? Rethinking Ezekiel’s Relationship to the Torah,“ ZAW 114 (2002): 236–254; sowie Tova Ganzel und Risa Levitt Kohn, „Ezekiel’s Prophetic Message in Light of Leviticus 26,“ in The Formation of the Pentateuch. Bridging the Academic Cultures of Europe, Israel, and North America, hg. v. Jan Christian Gertz u.  a., FAT 111 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 1075–1084. 10 Verschiedentlich fehlen Belegstellen, und/oder es werden falsche Stellenangaben gemacht. 11 Belege der untersuchten Lexeme oder Wendungen außerhalb von „Ezekiel and the Priestly Source“ werden zwar teilweise (aber nur teilweise) aufgeführt, jedoch nicht ausgewertet. Traditions-, form- oder überlieferungsgeschichtliche Erklärungen oder der Verweis auf zufällige Übereinstimmungen kommen gar nicht in den Blick. 12 Als nur ein Beispiel hierfür sei auf Levitt Kohn, Heart, 29 verwiesen, wo als Ziel der Studie bzw. des Kapitels „a basic classification of what, indeed, P and Ezekiel have in common“ angeführt wird. In der zu diesem Satz gehörenden Fußnote wird das relativ-chronologische Verhältnis zwischen P (sowie der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur) und Ezechiel aber sogleich festgehalten: „Our preoccupation with P and D/Dtr does not imply that these were Ezekiel’s only sources.“ (a.a.O., 29 Anm. 140; Herv. W.B.). Ähnliches gilt für die im Wesentlichen achrone Studie von Rebecca G.S. Idestrom, „Echoes of the Book of Exodus in Ezekiel,“ JSOT 33 (2009): 489–510, die lediglich diachrone Mutmaßungen anführt (vgl. bes. a.a.O., 506 Anm. 68). 13 Die hierbei zugrundeliegende Voraussetzung, dass sich Propheten(worte) mit Gesetzestexten auseinandersetzen können, dass aber das Umgekehrte, dass Gesetzestexte auf der Basis (etwa) von prophetischen Texten gebildet werden könnten, unwahrscheinlich sei (vgl. etwa Levitt Kohn, Heart, 79; dies., „Prophet,“ 241.244–245; Ganzel und Levitt Kohn, „Message,“ 1081), hat Lyons, „Arguments,“ 1064–1065 nicht zuletzt aufgrund des schriftgelehrten Charakters auch von Gesetzestexten völlig zu Recht als haltlos entlarvt. 14 Vgl. Levitt Kohn, Heart, 30: „Throughout the examination, I do not attempt to stratify either P or Ezekiel into earlier or later layers.“ Mit Israel Knohl unterscheidet Levitt Kohn zwar zwischen der „Priestly Torah“ und der „Holiness School“, jedoch gilt ihres Erachtens: „If we can indeed

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diachrone Fragen nach Abhängigkeitsrichtungen einlässt, darf vor diachronen Rückfragen hinsichtlich der Textgeschichte (im weitesten Sinne) der jeweils verglichenen Texcorpora nicht zurückschrecken – und dies umso mehr, als im Falle der „Priestly Source“ ja von Anfang an ein nur rekonstruiertes Werk vorliegt. Es wäre daher im Falle von Levitt Kohn und ist grundsätzlich für einen historisch verantworteten Vergleich zwischen dem Ezechielbuch und der priesterlichen Literatur des Pentateuch erstens bei jedem einzelnen Vergleich jeweils zu prüfen, ob eine Text-Text-Beziehung den Befund überhaupt am besten erklärt, oder ob nicht traditions-, form- oder überlieferungsgeschichtliche Erklärungen oder der Verweis auf zufällige Übereinstimmungen schlüssiger sein könnten. Und zweitens wäre und ist für jeden einzelnen Vergleich jeweils die Frage nach der Abhängigkeitsrichtung zu stellen, um bei einer genuin diachronen Fragestellung nicht zu achronen Kurzschlüssen zu gelangen. Angesichts der Textgeschichte insbesondere des Ezechielbuches sowie der materiell präsenten, sog. empirischen, Beispiele fortschreibender Textentstehung kommt daher der (an diesen Beispielen geeichten!) redaktionsgeschichtlichen Analyse der Texte eine grundlegende Rolle zu.15 Die bisherigen Überlegungen haben zweierlei gezeigt bzw. bestätigt: Einerseits, dass ein Vergleich zwischen dem Ezechielbuch und den priesterlichen Texten des Pentateuch ein komplexes Unterfangen ist. Und andererseits, dass sich der Vergleich oft auf priesterliche Texte des Pentateuch bezieht und bezogen hat, die in der gegenwärtigen Debatte um die Redaktionsgeschichte dieser Texte nicht mehr unhinterfragt zu den ältesten priesterlichen Texten des Pentateuch gerechnet werden können – um sehr vorsichtig zu formulieren. Im Zentrum bisheriger Vergleiche zwischen dem Ezechielbuch und der priesterlichen Literatur des Pentateuch standen und stehen wegen priesterlicher Sprache und Interessen

subdivide P into two separate entities, Ezekiel utilizes both without particular differentiation.“ A.a.O., 85 (vgl. dies., „Prophet,“ 238 Anm. 11). 15 S.  o. Anm. 3. Der häufig als weniger hypothetische Alternative ins Feld geführte sprachwissenschaftliche Zugang kann aus verschiedenen Gründen nur ergänzend neben die Redaktionskritik treten; vgl. die kritischen Überlegungen von Erhard Blum, „The Linguistic Dating of Biblical Texts. An Approach with Methodological Limitations,“ in The Formation of the Pentateuch. Bridging the Academic Cultures of Europe, Israel, and North America, hg. v. Jan Christian Gertz u.  a., FAT 111 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 303–325.

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v.  a. Ez 40–4816 sowie Ez 34 und Ez 3717 auf der einen Seite sowie die priesterlichen Texte in Exodus, Leviticus und Numeri, und zwar allen voran das sog. Heiligkeitsgesetz und hierin wiederum besonders Lev 26, auf der anderen Seite.18 Demgegenüber sollen im Folgenden nach einem kurzen Blick in die Textgeschichte des Ezechielbuches (2.) schwerpunktmäßig solche Texte untersucht werden, die weithin anerkannt zu den älteren priesterlichen Texten des Pentateuch gehören (3.).

2 Zur Textgeschichte des Ezechielbuches Dass Textentstehung und Textüberlieferung alttestamentlicher Texte nicht trennscharf voneinander unterschieden werden können, hat die Auswertung insbesondere der Qumrantexte gezeigt. Redaktionskritik und Textkritik gehen daher fließend ineinander über. Dies gilt auch für das Ezechielbuch, wo, mehr noch als bei anderen Texten des Alten Testaments, dieser Übergangsbereich von Textentstehung und Textüberlieferung auch materialiter greifbar ist in den unterschiedlichen Buchgestalten: der aller Wahrscheinlichkeit nach älteren protomasoretischen, besonders in der griechischen Übersetzung überlieferten, und der entsprechend jüngeren masoretischen, im hebräischen Text des Alten Testaments überlieferten, Buchgestalt.19 Die unterschiedlichen Buchgestalten des Ezechielbuches weisen nun zahlreiche textliche Erweiterungen gegenüber der jeweils anderen auf. In den meisten Fällen sind diese durch den näheren oder weiteren Kontext im Ezechielbuch bedingt. In einigen Fällen werden aber auch andere alttestamentliche Bücher

16 Vgl. etwa Thilo Alexander Rudnig, Heilig und Profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40–48, BZAW 287 (Berlin: de Gruyter, 2000); Michael Konkel, Architektonik des Heiligen. Studien zur zweiten Tempelvision Ezechiels (Ez 40–48), BBB 129 (Berlin: Philo Verlagsgesellschaft, 2001); Nathan MacDonald, Priestly Rule. Polemic and Biblical Interpretation in Ezekiel 44, BZAW 476 (Berlin/Boston: de Gruyter, 2015). 17 Vgl. Christophe L. Nihan, „Ezekiel 34–37 and Leviticus 26. A Reevaluation,“ in Ezekiel. Current Debates and Future Directions, hg. v. William A. Tooman und Penelope Barter, FAT 112 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2017), 153–178. 18 Vgl. dazu etwa Michael A. Lyons, From Law to Prophecy. Ezekiel’s Use of the Holiness Code, LHB 507 (New York/London: T&T Clark, 2009), die Beiträge von Christophe L. Nihan, Ariel Kopilovitz, Michael A. Lyons sowie Tova Ganzel und Risa Levitt Kohn in The Formation of the Pentateuch. Bridging the Academic Cultures of Europe, Israel, and North America, hg. v. Jan Christian Gertz u.  a., FAT 111 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016) sowie Nihan, „Ezekiel 34–37.“ 19 S.  o. Anm. 2.

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eingespielt. Durch die unterschiedlichen Buchgestalten und die Manuskripte hiervon lassen sich Text-Text-Bezüge damit mit Händen greifen. Diese empirische Evidenz dient der Kontrolle der dann zu analysierenden möglichen Beziehungen im Rahmen der Textentstehung. Gemäß der ausführlichen Studie von Timothy P. Mackie gehen die meisten intertextuellen Erweiterungen im Text des Ezechielbuches auf Bezüge auf Jeremia oder Leviticus, und darin besonders das Heiligkeitsgesetz, zurück, nämlich jeweils sechs.20 Genesis (s.  u.) und Exodus (Ex  20,18 → Ez  3,12  f.) liefern jeweils einen Beleg, wovon nur der Genesis-Beleg zur Priesterschrift gehört, Numeri keinen, das Deuteronomium einen21 und schließlich das Danielbuch fünf (alle in Ez 7). Dieser Befund zeigt deutlich, dass zumindest die antiken Tradenten des Ezechielbuches sehr viel engere Bezüge zum Heiligkeitsgesetz gesehen haben als zu anderen priesterlichen Texten des Pentateuch bzw. zum Pentateuch insgesamt. Diese Einschätzung verschärft sich noch bei einer kritischen Prüfung des einen Genesis-Beleges: In der Heilsverheißung an die Berge Israels in Ez 36 enthält der masoretische Text gegenüber der griechischen Überlieferung in Vers 11 eine, zudem syntaktisch auffällige, Erweiterung: ‫„ ורבו ופרו‬und sie werden zahlreich sein und sich mehren“ im Zusammenhang der Gottesrede „Und ich will zahlreich machen auf euch Menschen und Tiere, und sie werden zahlreich sein und sich mehren, und ich will euch bewohnt sein lassen …“ Diese Erweiterung wird üblicherweise, auch von Mackie, als Anspielung an die priesterschriftlichen Mehrungszusagen und ihre Erfüllungen interpretiert (vgl. Gen 1,22.28; 8,17; 9,1.7; 35,11; 17,20; 28,3; 47,27; 48,4; Ex 1,7; vgl. auch Lev 26,9), was etwa mit der Motivik des Anfangs und der früheren Zeit im gleichen Vers oder dem im weiteren Kapitelverlauf auf die Urgeschichte weisenden Vergleich des Landes mit dem Garten Eden (36,35) weiter begründet wird.22 Die priesterschriftlichen Belege, die die beiden

20 Vgl. Timothy P. Mackie, Expanding Ezekiel. The Hermeneutics of Scribal Addition in the Ancient Text Witnesses of the Book of Ezekiel, FRLANT 257 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), 214. Mackie listet folgende Leviticus-Bezüge auf: Lev 16,6 → Ez 45,22; Lev 16,13 → Ez 8,11; Lev 25,36  f. → Ez 18,8a; Lev 26,5 → Ez 34,25; Lev 26,13 → Ez 34,27; Lev 26,30 → Ez 6,4b.5. Vgl. auch Christophe L. Nihan, „Ezekiel and the Holiness Legislation. A Plea for Nonlinear Models,“ in The Formation of the Pentateuch. Bridging the Academic Cultures of Europe, Israel, and North America, hg. v. Jan Christian Gertz u.  a., FAT 111 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 1015–1039, 1019–1026, der darüber hinaus Ez 33,25  f. mit Bezügen zu Lev 18,20; 19,26 – und zahlreichen Bezügen zu Ez (v.  a. Ez  18; 22)  – nennt (Mackie, a.a.O., 247 kategorisiert die Stelle als „Scribal Error. Parablepsis“, diskutiert sie aber nicht weiter). 21 S.  u. Anm. 43 und den Beitrag von Christophe Nihan im vorliegenden Band. 22 Vgl. etwa Anja Klein, Schriftauslegung im Ezechielbuch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39, BZAW 391 (Berlin: de Gruyter, 2008), 307; Thomas Wagner, „‚Ungeklärte Verhältnisse‘. Die priesterliche Urgeschichte und das Buch Ezechiel,“ KuD 59 (2013): 207–229,

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Lexeme gegenüber Ez 36,11 stets in umgekehrter Reihenfolge bieten und gerade nicht auf das Vieh beziehen,23 sind indes nicht die einzigen Belege für die Kombination dieser zwei Lexeme: Sie begegnen auch in Jer 3,16 (in der gleichen Reihenfolge wie in Ez 36,11) und in Jer 23,3 (in der gleichen Reihenfolge wie in den priesterschriftlichen Belegstellen) – in zwei Texten also, die Ez 36 durch die Thematik der Rückkehr und Wiederbesiedelung inhaltlich sehr viel näher stehen als die genannten priesterschriftlichen Belege und die, zumindest im Falle von Jer 23, im Ezechielbuch nachgerade exegesiert wurden: In Ez 34.24 Die Erweiterung im masoretischen Text von Ez 36,11 ist damit keineswegs zwingend als intertextueller Bezug auf die Priesterschrift zu deuten, sondern kann genauso gut, wenn nicht sogar besser, als ein weiterer Beleg für die Bezugnahmen des Ezechielbuches auf das Jeremiabuch gewertet werden – wie sie sowohl im Rahmen der Textentstehung wie der Textüberlieferung vielfach bezeugt sind.

3 Das Ezechielbuch und die Priesterschrift – exemplarische Vergleiche Der auf die Theologie- und Redaktionsgeschichte des Ezechielbuches und der Priesterschrift bzw. der priesterlichen Literatur des Pentateuch abzielende Vergleich beider Literaturwerke wird angesichts der genannten methodischen Problematisierungen eines solchen Vergleichs einerseits, und des textgeschichtlichen Befundes des Ezechielbuches andererseits also insbesondere nach der methodischen Deutung eines möglichen Vergleichspunktes zu fragen haben. Am Anfang stehen zwei Vergleichspunkte ausgehend von der priesterschriftlichen Urgeschichte, anschließend wird der methodisch anders zu deutende Fall der Berufung Moses untersucht.

224–226; Mackie, Ezekiel, 195–196; Nihan, „Ezekiel and the Holiness Legislation,“ 1024 Anm. 42; ders., „Ezekiel 34–37,“ 160. Auch Levitt Kohn, Heart, 71–72 sieht hier einen Bezug auf „the Priestly Source“, ignoriert aber den textgeschichtlichen Befund und verzeichnet die Unterschiede zwischen Ez 36,11 und Jer 3,16; 23,3. 23 In einigen hebräischen Handschriften wurde die Reihenfolge in Ez 36,11 entsprechend geändert; vgl. Mackie, Ezekiel, 196 Anm. 204. 24 Vgl. hierzu etwa Klein, Schriftauslegung, 24–59.

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3.1 Gen 1,1–2,3 und Ez 1,1–28 Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht Gen 1,1–2,3 stellt den Prolog der Priesterschrift insgesamt dar und kann mit guten Gründen als (zumindest im Wesentlichen) literarisch einheitlich gelten.25 Ez 1,1–28 stellt den ersten Teil der mehrteiligen und literarisch mehrschichtigen Berufung des Priester-Propheten Ezechiel in Ez 1–3 dar. Dabei sind die Vision der Herrlichkeit YHWHs in Ez *1,4–28 (mitsamt 1,1) und die darauf folgende Sendung des Propheten zu den Israeliten in Ez *2,1–8 als jüngere Einleitung ins Buch der (auch traditionsgeschichtlich) älteren Berufung in Ez *2,9–3,15 (mitsamt 1,2–3) mit der Verspeisung der Schriftrolle vorangestellt.26 Während mit Gen 1 damit der Grundbestand der Priesterschrift im Blick ist, so mit Ez 1 ein bereits fortgeschrittenes Stadium der Buchentstehung (dazu später mehr). Form, Inhalt und Pragmatik beider Kapitel zeigen zunächst einmal mehr Unterschiede als Parallelen auf. An signifikanten lexikalischen Übereinstimmungen sind bekanntermaßen nur die Himmelsfeste ‫( רקיע‬Gen 1,6.7ter.8.14.15.17.20; Ez 1,22.23.25.26; vgl. Ez 10,1)27 und der Bild-, Ähnlichkeits- oder Vergleichsbegriff ‫( דמות‬Gen 1,26; Ez 1,5bis.10.13MT.16.22.26ter.28; vgl. Gen 5,1.3; Ez 8,2; 10,1.10.21.22; 23,15)28 zu nennen. Mit ‫ דמות‬wird in beiden Texten freilich ganz Unterschiedliches

25 Vgl. hierzu Bührer, Anfang, 21–163 und zur priesterschriftlichen Urgeschichte in Relation zu den nicht-priesterschriftlichen Texten darin den Überblick bei Jan Christian Gertz, „The Formation of the Primeval History,“ in The Book of Genesis. Composition, Reception, and Interpretation, hg. v. Craig A. Evans u.  a., VT.S 152 (Leiden/Boston: Brill, 2012), 107–135. Die im Folgenden relevanten Passagen gelten auch redaktionsgeschichtlich zwischen Tat- und Wortbericht unterscheidenden oder/und das Sieben-Tage-Schema als nachgetragen erachtenden Arbeiten als (zumindest mehrheitlich) dem Grundbestand von Gen 1,1–2,3 (bzw. 1,1–2,4a) zugehörig. Anders stellt sich die Einschätzung bei der Zuweisung von Gen 1,1–2,3 (bzw. 1,1–2,4a) insgesamt an die Heiligkeits-Redaktion des Pentateuch bei Bill T. Arnold, „The Holiness Redaction of the Primeval History,“ ZAW 129 (2017): 483–500 dar, wonach H die ursprünglich in Gen 5,1 einsetzende Priesterschrift später überarbeitete. 26 Vgl. im Einzelnen Achim Behrens, Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung, AOAT 292 (Münster: Ugarit-Verlag, 2002), 183–209; Christoph Koch, Gottes himmlische Wohnstatt. Transformationen im Verhältnis von Gott und Himmel in tempeltheologischen Entwürfen des Alten Testaments in der Exilszeit, FAT 119 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018), 139–140. Ich danke Christoph Koch für die Möglichkeit der Einsicht in seine Habilitationsschrift vor deren Drucklegung. 27 Die Belege in Ps 19,2; 150,1; Dan 12,3 sind weitgehend anerkannt als später einzustufen. Bei Levitt Kohn, Heart, 64–65 sind die Stellenangaben unvollständig; Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Textbereiche werden nicht ausgewertet. 28 Vgl. 2Kön 16,10; Jes 13,4; 40,18; Ps 58,5; Dan 10,16; 2Chr 4,3. Das Lexem wird von Levitt Kohn, Heart nicht genannt.

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bezeichnet, eine Verhältnisbestimmung zwischen der Priesterschrift und dem Ezechielbuch erscheint mittels dieses Lexems nicht möglich. In Ez 1 ist wie in den meisten anderen Belegstellen auf die äußerliche Erscheinung und / oder einen äußerlichen Vergleich abgezielt, der das visionär Geschaute mit Bekanntem vergleicht und dadurch letztlich doch eher verschleiert. Die priesterschriftliche Vorstellung der imago dei sieht demgegenüber kaum eine äußerliche Entsprechung zwischen Gott und Mensch vor, sondern bringt die herausragende Nähe der Menschen zu Gott im Unterschied zur restlichen Schöpfung zum Ausdruck, weshalb die Relationsbestimmung der Menschen als Bild Gottes auch um die Funktionsbestimmung im Herrschaftsauftrag ergänzt werden kann.29 Der Bild-, Ähnlichkeits- oder Vergleichsbegriff ‫( דמות‬Gen 1,26; Gen 5,1.3) wird dabei zusammen mit dem (Kult-)Bildbegriff ‫ צלם‬verwendet (Gen 1,26.27bis; 5,4; 9,6) – wobei die beiden Lexeme zusammen oder alleine begegnen können –, einem Begriff, der im Ezechielbuch nur pejorativ verwendet wird (Ez 7,20; 16,17; 23,14). Interessanter für den Vergleich beider Literaturwerke sind die beiden Texten zugrunde liegenden kosmologischen Vorstellungen, die unter anderem durch den Begriff der Himmelsfeste ‫ רקיע‬zum Ausdruck gebracht werden. Gen 1 und Ez 1 rezipieren beide mesopotamische kosmogonisch-kosmologische Vorstellungen, die einerseits in mythischen, und andererseits in naturkundlich-wissenschaftlichen Texten belegt sind. Zu ersteren ist in erster Linie das Enūma eliš zu nennen, zu letzteren ein in letzter Zeit vielfach angeführter neuassyrischer mystisch-religiöser Text: KAR 307/VAT 8917.30 Gen 1 und Ez 1 setzen ein vertikal übereinander geschichtetes Weltbild voraus, wonach die von Menschen und Tieren belebte Welt gegen oben von der Himmelsfeste oder Himmelsplatte begrenzt wird. Nach Gen 1,14–19 ist diese der Ort, an dem die Gestirne angebracht sind, in Ez 1,26 stellt sie das Fundament des Lapislazuli-Thrones dar, auf dem sich der astral gezeichnete YHWH in seiner Herrlichkeit befindet (1,26–28; vgl. Ex 24,10).31 In dem

29 Vgl. Bührer, Anfang, 341–342. 30 Vgl. zum Text und den hier relevanten Passagen sowie zu weiteren Parallelen Wayne Horowitz, Mesopotamian Cosmic Geography, Mesopotamian Civilizations 8 (Winona Lake: Eisenbrauns, 22011 [11998]), 3–19; und zu Vergleichen mit Gen 1 und Ez 1: Jan Christian Gertz, „Antibabylonische Polemik im priesterlichen Schöpfungsbericht?“ ZThK 106 (2009): 137–155; Koch, Wohnstatt, 156–168, sowie den Beitrag von Christoph Koch im vorliegenden Band. 31 Vgl. zu einem traditionsgeschichtlichen Vergleich zwischen Ex 24,9–11 und Ez 1; 10: Friedhelm Hartenstein, „Wolkendunkel und Himmelsfeste. Zur Genese und Kosmologie der Vorstellung des himmlischen Heiligtums JHWHs,“ in Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, hg. v. Bernd Janowski und Beate Ego in Zusammenarbeit mit Annette Krüger, FAT 32 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), 125–179, hier 136–152.

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genannten neuassyrischen Kommentartext wird der Bereich des Himmels auf drei durch Steinplatten voneinander geschiedene Ebenen aufgeteilt, deren untere zwei in den biblischen Texten in der Himmelsfeste zusammen fallen und deren oberste Ebene in den biblischen Texten aufgrund des reduzierten Götterhimmels unberücksichtigt bleibt: Bēl-Marduk thront im mittleren Himmel auf einem Lapislazuli-Thron, in den unteren Himmel zeichnet er die Sternbilder ein. Da nicht nur die biblischen Texte diese mesopotamischen kosmogonisch-kosmologischen Vorstellungen rezipiert haben, sondern auch die ionische Naturphilosophie (zu nennen sind Anaximander und Anaximenes), lässt sich am besten von einer ostmediterran-nahöstlichen Wissenschafts-Koiné sprechen,32 als deren „wichtigste Gemeinsamkeit“ „eine neue Geisteshaltung“ bezeichnet werden kann, „in der die mythische Tradition und die Anfänge einer als naturkundlich-technisch zu bezeichnenden Weltsicht zu einem Weltbild verbunden werden, das gleichermaßen mythologisch wie naturkundlich ‚exakt‘ ist.“33 Wird der oft als Beschreibung des göttlichen Thronwagens interpretierte Abschnitt Ez 1,15–21 auf diesem Hintergrund verstanden und damit auf den Sternenhimmel gedeutet – die Räder damit als die Umlaufbahnen der Gestirne und die Augen der Felgen als die Löcher, durch die die Gestirne leuchten –,34 so ist die konzeptionelle Parallele zwischen Ez 1 und Gen 1 noch enger, da dann auch in Ez 1 der gestirnte Himmel im Blick ist. Die kosmologischen Vorstellungen von Gen 1 und Ez 1 sind damit durchaus vergleichbar. Für die Verhältnisbestimmung der Texte sind nun insbesondere die Unterschiede relevant: Die gegenüber Gen 1 ausführlichere Beschreibung der Himmelsfeste und die engere Bindung an die traditionsgeschichtliche Vorlage aus Mesopotamien in Ez 1 lassen es als unwahrscheinlich erscheinen, dass Ez 1 durch Gen 1 geprägt wäre. Und dadurch, dass in Gen 1 Gott auch als der Erschaffer der Himmelsfeste sowie der daran angebrachten Gestirne dargestellt wird (1,7.16–18), wird die traditionsgeschichtliche Vorlage aus Mesopotamien hier noch weiter transformiert. Traditionsgeschichtlich stellt Gen 1 damit den jüngeren Text dar.35 32 So mit Gertz, „Polemik,“ 152–153 und Walter Burkert, „Ostwestliche Weisheitsliteratur und Kosmogonie. Zur Vorgeschichte der Philosophie,“ in ders., Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern (München: C. H. Beck, 32009 [ital. 1999]), 53–78, hier 72. 33 Gertz, „Polemik,“ 153. 34 Vgl. Koch, Wohnstatt, 164–168 mit dem Hinweis auf Anaximander. Vgl. auch Burkert, „Weisheitsliteratur,“ 73–76 sowie die Überlegungen bei Christoph Uehlinger und Susanne Müller Trufaut, „Ezekiel 1. Babylonian Cosmological Scholarship and Iconographie. Attempts at Further Refinement,“ ThZ 57 (2001): 140–171, bes. 154–164. 35 Vgl. Koch, Wohnstatt, 197–199. Dafür dürfte des Weiteren auch das Motiv des Regenbogens sprechen, der in Ez 1,28 zur Beschreibung des Leuchtens der Herrlichkeit YHWHs herangezogen wird, in Gen 9,13.14.16 jedoch von Gott selbst als von ihm zu unterscheidendes und von ihm unabhängig erscheinendes Zeichen des Bundes eingesetzt wird: Lässt Gott Wolken heraufziehen

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Literargeschichtlich könnte dies anders aussehen, doch lässt sich die Übernahme des Begriffes der Himmelsfeste aus dem einen in den anderen Text nicht überzeugend nachweisen.36 Mit Blick auf die oben (2.) angesprochenen textlichen Erweiterungen in beiden Buchgestalten des Ezechielbuches kann hier zudem festgehalten werden, dass in Ez 1 einerseits kapitelinterne Harmonisierungen und andererseits Angleichungen an die anderen Visionen des Ezechielbuches (und vice versa) belegt sind, nicht aber an andere Bücher des Alten Testaments.37

3.2 Die priesterschriftliche Sintfluterzählung und Ez 7; 8 In eine ähnliche Richtung weist der Vergleich der priesterschriftlichen Sintfluterzählung mit Gerichtsansagen des Ezechielbuches: Die Notwendigkeit der Flut wird von Gott aufgrund der Verderbnis der Erde und der Gewalttat auf ihr festgestellt (Gen 6,11) und Noach so mitgeteilt (6,13): Weil die Erde verdorben (‫ ׁשחת‬niph.; 6,11.12) und von Gewalttat erfüllt ist (‫ותמלא‬ ‫ ;הארץ חמס‬6,11.13), weil der Wandel allen Fleisches auf Erden verdorben ist (‫ ;כי־הׁשחית כל־בׂשר את־דרכו על־הארץ‬6,12), darum ist das Ende allen Fleisches vor Gott gekommen, denn ihretwegen (allen Fleisches wegen) ist die Erde von Gewalttat erfüllt, und darum wird Gott alles Fleisch mit der Erde zusammen verderben (‫ ;קץ כל־בׂשר בא לפני כי־מלאה הארץ חמס מפניהם והנני מׁשחיתם את־הארץ‬6,13). Die Erzählung von der Flut entstammt bekanntlich ihrerseits, wie Gen 1, mesopotamischen (mythischen) Traditionen, die sie an entscheidenden Stellen transformiert.38

über der Erde, erscheint der Bogen in den Wolken ohne weiteres Zutun Gottes (9,14); vielmehr schaut sich Gott diesen erschienenen Bogen dann an (9,16). Es ist wohl richtig, dass die Kombination beider Lexeme nur an den genannten vier Stellen belegt ist (vgl. Levitt Kohn, Heart, 65), doch ist die Kombination beider Lexeme für die Beschreibung eines Naturphänomens nicht unerfindbar bzw. nur aus einem Textbereich herleitbar. 36 Wagner, „Verhältnisse,“ 214–217 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis (keine „[d]irekte literarische Bezüge“; a.a.O., 217), verkennt aber die durch die Himmelsfeste zum Ausdruck kommende enge traditionsgeschichtliche Verbindung beider Texte über ihr jeweils vertikal übereinander geschichtetes Weltbild. 37 Vgl. Mackie, Ezekiel, 122–132.147–150. 38 Vgl. Jan Christian Gertz, „Noah und die Propheten. Rezeption und Reformulierung eines altorientalischen Mythos,“ DVfLG 81 (2007): 503–522; Hermann-Josef Stipp, „Who is Responsible for the Deluge? Changing Outlooks in the Ancient Near East and the Bible,“ in „From Ebla to Stellenbosch“. Syro-Palestinian Religions and the Hebrew Bible, hg. v. Izak Cornelius und Louis Jonker, ADPV 37 (Wiesbaden, 2008), 141–153. Zum unde malum der priesterschriftlichen Urgeschichte vgl. Bührer, Anfang, 326–340.

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Die Begründung und Ankündigung der Flut als unbedingtes Strafgericht ist bekanntlich in der Unheilsprophetie verwurzelt39  – und so mag es auch nicht erstaunen, dass in Gerichtsansagen des Ezechielbuches ähnliche Wendungen begegnen: Die Unheilsansage über das Land Israel in Ez 7 spricht in den Versen 2, 3 und 6 nicht weniger als fünfmal vom (gekommenen) Ende.40 Das Kapitel nimmt dabei die ältere Gerichtsansage an das Volk Israel aus Am 8,2 auf und weitet sie auf die vier Enden der Erde (Ez 7,2) aus. Diese universale Aufweitung des Gerichtes teilen Ez 7 und Gen 6; in Ez 7 wird freilich Israel als der eigentliche Adressat des Gerichtes nicht verschwiegen, und in Gen 6,13 wird über die prophetischen Texte hinaus alles Fleisch (‫ )כל־בׂשר‬dem Ende preisgegeben.41 Vergleichbare Formulierungen an anderen Stellen (Thr 4,18; Jer 51,13; Ez 21,30.34; Dan 9,26) zeigen, dass das Ezechielbuch und die Priesterschrift aus unheilsprophetischer Tradition schöpfen. Für Ez 7 lässt sich dabei ein direkter, literarischer Bezug auf Am 8,2 wahrscheinlich machen,42 für Gen 6 ist ein solcher möglich, jedoch nicht zwingend. Im gleichen Kapitel findet sich auch die Rede von der Gewalttat: In dem textlich und textgeschichtlich schwierigen Vers Ez 7,23 wird das Land als voll von Blutschuld/Blutgericht (so im masoretischen Text), und die Stadt als voll von Gewalttat (‫ )והעיר מלאה חמס‬dargestellt. Dem priesterschriftlichen Sintflutprolog steht indes Ez 8,17 näher: Nach dem Aufzeigen der kultischen Vergehen am Tempel werden hier, wohl als Steigerung, soziale Missstände kurz und knapp angeprangert: „Ist es zu wenig für das Haus Juda, die Greueltaten zu tun, die sie hier tun? Ja, sie haben das Land mit Gewalttat erfüllt (‫“)כי־מלאו את־הארץ חמס‬. Im Unterschied zu Gen 6 ist allerdings hier ‫ ארץ‬auf Juda bezogen, in Gen 6 dagegen universal gedacht; in Gen 6 wird daher auch die Erde selbst als Subjekt des Sichmit-Gewalttaten-Anfüllens genannt, in Ez 8,17 haben dagegen die anvisierten Judäer das Land mit Gewalttaten erfüllt. Da sich nebst diesen Unterschieden im Detail vergleichbare Formulierungen auch in Ez 28,16; Mi 6,12; Zeph 1,9 finden, und Gewalttaten (‫ )חמס‬in zahlreichen weiteren prophetischen Gerichtsansagen 39 Vgl. Rudolf Smend, „‚Das Ende ist gekommen‘. Ein Amoswort in der Priesterschrift“ (1981), in ders., Die Mitte des Alten Testaments. Exegetische Aufsätze (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), 238–243 und knapp Bührer, Anfang, 327–330. 40 Je nach Deutung von ‫ הצפירה‬und textgeschichtlicher Auswertung des Versteils ist auch Ez 7,7 anzuführen. 41 In Ez 21,4.9.10 ist alles Fleisch (‫ )כל־בׂשר‬gleichermaßen Adressat wie Zeuge des göttlichen Gerichtes am Negeb bzw. an Jerusalem. 42 Nebst der Ausweitung und Intensivierung könnte hierfür auch sprechen, dass Ez 7,6 mit ‫קץ‬ und ‫ קיץ‬hiph. („erwachen“) spielt, so ähnlich wie Am 8,1  f. ‫ קץ‬von ‫„( קיץ‬Sommerernte“) ableitet. Allerdings ist der Text von Ez 7,6 (wie die Textgeschichte des Kapitels insgesamt) schwierig zu deuten.

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und weiteren Texten belegt sind, ist auch hier eine traditionsgeschichtliche Erklärung der vergleichbaren Formulierungen naheliegender als ein Text-Text-Bezug.43 Als Ergebnis der bisherigen Vergleiche lässt sich festhalten, dass die Priesterschrift und das Ezechielbuch enge Parallelen zueinander haben, durch gemeinsame Bezugnahmen auf unheilsprophetische Traditionen einerseits und naturkundlich-kosmologische Traditionen andererseits. Gerade in diesen Parallelen lassen sich jedoch keine literarischen Bezugnahmen des einen Textes auf den anderen nachweisen. Der bisherige Befund lässt sich damit mit der These einer in etwa kontemporären Datierung beider Textbereiche in ihrer jeweiligen Grundschicht bzw. in ihren anfänglichen Buchstadien verbinden, wobei, wie gesehen, das Ezechielbuch zumindest traditionsgeschichtlich älter sein dürfte. Der genannte Befund spricht damit einerseits klar gegen eine Frühdatierung der Priesterschrift und entspricht andererseits auf seine Weise der Buchfiktion des Ezechielbuches als während des Exils in Babylonien geschaut. Die profunde Kenntnis mesopotamischer mythischer und naturkundlicher Traditionen in beiden Textbereichen ist am plausibelsten durch Kontakte zu mesopotamischen Gelehrten, Traditionen und Texten im babylonischen Exil zu erklären.44 Da der Bezug des Ezechielbuches auf mesopotamische naturkundlich-kosmologische Traditionen bereits in Kapitel 1 noch enger ist als früher oft angenommen, sind gewisse Spätdatierungen des Buches bzw. dieses Kapitels zumindest nicht zwingend. Dies gilt es weiter zu begründen  – und damit die zuvor offen gelassene Frage nach der literarhistorischen Einordnung der mit der Vision von der Herrlichkeit YHWHs in Ez 1 eröffneten Buchgestalt des Ezechielbuches zu diskutieren: Karl-Friedrich Pohlmann weist die zweite Berufungsvision und Sendung Ezechiels in Ez *2,9–3,15 (mitsamt 1,2–3) der golaorientierten Redaktion des Eze-

43 Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt Wagner, „Verhältnisse,“ 218–219. Die Fortsetzung bei ihm ist entsprechend unbegründet, da auch er keine „Anspielung“ von Gen 6 auf das Ezechiel­buch ausmachen konnte (so aber a.a.O., 219). Gleichwohl erkennt er in Ez 8,10 einen späten Bezug auf die priesterschriftliche Schöpfungserzählung, da bei der Beschreibung der im Tempel anzutreffenden Götzen bzw. Bildern im masoretischen Text die beiden aus der priesterschriftlichen Urgeschichte bestens bekannten Lexeme Gewürm und Vieh (‫ )רמׂש ובהמה‬hinzugefügt worden seien. Die These kann freilich auch im Detail nicht überzeugen: Die textgeschichtliche Differenz betrifft auch das Abbild (‫)תבנית‬, und daher ist ein partieller Bezug von Ez 8,10MT auf Dtn 4,16–18 deutlich naheliegender – der zudem zeigt, dass nicht alle auch in priesterlichen Texten gehäuft belegten Lexeme genuin priesterliche Lexeme sind. Die Auffüllung von Ez 8,10 durch Dtn 4,17  f. dient dabei der Erklärung des ungewöhnlichen Begriffs für Kultbild (‫ )ׁשקץ‬in Ez 8,10 (im Gegensatz zum geläufigeren ‫)ׁשקוץ‬. Vgl. Mackie, Ezekiel, 182–183. 44 Vgl. für weitere Argumente hinsichtlich der Priesterschrift Joseph Blenkinsopp, „An Assessment of the Alleged Pre-Exilic Date of the Priestly Material in the Pentateuch,“ ZAW 108 (1996): 495–518 sowie die in Anm. 1 genannte Literatur.

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chielbuches zu45 und wertet Ez *1,4–28 (mitsamt 1,1) sowie Ez *2,1–8 als deutlich jüngere, „der Apokalyptik nahestehende oder von ihr beeinflußte“ Ergänzungen.46 Demgegenüber hat Christoph Koch überzeugend dargelegt, dass und wie bereits die Vision der Herrlichkeit YHWHs in Ez 1, die Ezechiel ja in der Gola schaut (1,1), auf den Grundbestand der beiden Tempelvisionen in Ez 8–11 und Ez 40–48 hinzielt und damit wie diese bereits der golaorientierten Redaktion des Buches zugewiesen werden sollte.47 Die ältere Bucheinleitung in Ez *2,9–3,15 (mitsamt 1,2–3) ist demnach dem älteren Prophetenbuch zuzuweisen.48 Dieses ältere Prophetenbuch blickt auch im Modell Pohlmanns auf die erste Exilierung zurück und ist insofern auch golaorientiert. Die spätere golafavorisierende Redaktion des älteren Prophetenbuches wird dann mit der Vision und Sendung in Ez *1,4–28 (mitsamt 1,1) und Ez *2,1–8 eröffnet, die die Voraussetzung für das Verlassen des Tempels durch die Herrlichkeit YHWHs in Ez *8–11, seine Loslösung von diesem irdischen Heiligtum, begründet. Auch die untersuchten unheilsprophetischen Formulierungen in Ez 7 und 8 können, zumindest in Teilen, dieser golafavorisierenden Buchgestalt des Ezechielbuches zugewiesen werden.49 Datiert man diese, die Gola von 597 favorisierende und die 597 nicht Weggeführten abwertende, Redaktion wiederum mit Koch und anderen gegen Pohlmann bereits „in die beginnende

45 Vgl. Karl-Friedrich Pohlmann, Das Buch des Propheten Hesekiel (Ezechiel). Kapitel 1–19. Übersetzt und erklärt von Karl-Friedrich Pohlmann, ATD 22/1 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996), 29.50–56, der als Grundbestand Ez 1,2.3*; 2,9.10; 3,1*.2.3.10a.11*.14b.15 ausmacht. 46 Pohlmann, Hesekiel, 62 (für 1,4–28; für Ez 1–3 insgesamt vgl. a.a.O., 43–77). Gegen Pohlmann lässt sich die „Öffnung des Himmels“ in Ez 1,1, wenn auch v.  a. in späteren Texten – z.  T. in klarer Aufnahme von Ez 1,1 – belegt, auf dem oben geschilderten traditionsgeschichtlichen Hintergrund kosmologischer Weltdeutung einerseits, wie auf dem Hintergrund (freilich anders formulierter) prophetischer Visionsschilderungen (bes. Jes 6; 1Kön 22) andererseits, hinreichend erklären. 47 Vgl. Koch, Wohnstatt, 180: „Die astrale bzw. solare Deutung verbindet nun, und das ist m.W. bislang übersehen worden, die zweite Tempelvision mit der Himmelsvision. Denn schon dort wird die Transformation des Gotteskonzepts vorbereitet, indem JHWH sich von einem vom ZionZaphon kommenden und von Sturm- und Gewitterphänomenen begleiteten Wettergott (1,4) zu einem im Himmel thronenden und von einem Lichtglanz umgebenen Sonnengott wandelt (1,26–28*). Die Schilderung von JHWHs Rückkehr nach Art des Sonnengottes in Ez 43,1–9* ist somit nicht zu trennen von der Darstellung seiner himmlischen Thronsphäre in Ez 1*.“ Vgl. weiter a.a.O., 184–187. Vgl. auch Konrad Schmid, „Das Ezechielbuch,“ in Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, hg. v. Jan Christian Gertz (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 52016), 361–372, hier 365–368. 48 Vgl. Koch, Wohnstatt, 186. Auch Klein, Schriftauslegung, 388–406 rekonstruiert eine gola- und landorientierte Grundschicht des Ezechielbuches, jedoch mit anderer Textzuweisung (1,2–3a; 3,10  f.15.22.23*.24) und literarhistorischer Ansetzung. 49 Vgl. zu Ez  7: Pohlmann, Hesekiel, 110–122; zu Ez  8: die Diskussion a.a.O., 123–142, die die literarhistorische Verortung von 8,5–18 nicht abschließend klärt.

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persische Epoche“,50 so ist diese Buchgestalt der Priesterschrift in der Tat in etwa kontemporär. Die golafavorisierende Buchgestalt des Ezechielbuches und die Priesterschrift sind damit traditionsgeschichtlich eng verwandt und entstammen in etwa der gleichen Zeit.

3.3 Ex 6,2–8 und Ez 20 Nach den zwei bisherigen Vergleichspunkten, welche die enge traditionsgeschichtliche Verwandtschaft und vergleichbare theologische Interessen der Priesterschrift und der golafavorisierenden Buchgestalt des Ezechielbuches aufgezeigt haben, liegt mit der priesterschriftlichen Erzählung der Mose-Berufung in Ex 6,2–8 ein zentraler priesterschriftlicher Text vor, anhand dessen auch literarische Bezüge zwischen der Priesterschrift und dem Ezechielbuch, namentlich Ez 20, untersucht werden können. Die zweiteilige priesterschriftliche Berufung Moses weist in ihrem zweiten Teil, der durch Mose zu übermittelnden YHWH-Rede an das Volk (Ex 6,6–8), verschiedene Parallelen zum Ezechielbuch auf,51 angefangen mit dem schwerpunktmäßig im Ezechielbuch belegten Redeauftrag ‫„ לכן אמר‬daher sprich“ (vgl. Ex 6,6; Num 25,12; Ez 11,16.17; 12,23.28; 14,[4.]6; 20,[27.]30; 33,25; 36,22). Diesen Redeauftrag, wenn auch in Ex 6,6 anders verwendet als an den Ezechiel-Belegstellen, wo jeweils die Botenformel folgt, wertet Johan Lust als Hinweis der priesterschriftlichen Autoren, dass ab hier ein direkter Bezug auf das Ezechielbuch stattfinde.52 Die eindeutigste Parallele findet sich in Ex 6,8 mit der Zusage der Landgabe:53

50 Koch, Wohnstatt, 186 (mit weiterer Lit.); vgl. auch Rainer Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr., BE(S) 7 (Stuttgart: Kohlhammer, 2001), 264–265. Pohlmann, Hesekiel, 34 datiert dagegen „ins ausgehende 5. Jh.“. Etwas früher als Pohlmann datiert auch Rudnig, Heilig, 194–200. 51 Vgl. Johan Lust, „Exodus 6,2–8 and Ezekiel,“ in Studies in the Book of Exodus. Redaction – Reception – Interpretation, hg. v. Marc Vervenne, BETL 126 (Leuven : Peeters u.  a., 1996), 209–224. Vgl. auch Bernard Gosse, „Le livre d’Ezéchiel et Ex 6,2–8 dans le cadre du Pentateuque,“ BN 104 (2000): 20–25. 52 Vgl. Lust, „Exodus,“ 213–214.216.224. Für seine These führt er auch den textgeschichtlichen Befund an: „In Exod 6,6 the phrase was felt to be so unusual that the Greek translator misread it as ‫ לך נא אמר‬or ‫ לכה אמר‬and translated it βαδίζε [sic] εἶπον.“ 53 Darüber hinaus finden sich in Ex 6,2–8 weitere Formulierungen, die sowohl in der Priesterschrift als auch in Ez 20 oder im Ezechielbuch allgemein belegt sind (besonders das Motiv der Selbstoffenbarung Gottes bzw. des Gottesnamens mit ‫ ידע‬niph., die doppelte Bundesformel, die Erkenntnisformel, ‫„ ׁשפטים‬Strafgerichte“ und die Beschreibung des Landes als ‫„ ארץ מגוריהם‬Land ihrer Fremdlingschaft“), die jedoch eine literarische Beziehung zwischen beiden Textbereichen nicht zu begründen vermögen. Vgl. die Diskussion bei Lust, „Exodus,“ 214–218 und speziell zu

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Wie in den Versen zuvor, in Ex 6,3  f., wird an die (Bundeszusage der) Landgabe an Abraham, Isaak und Jakob erinnert, womit die weiteren priesterschriftlichen Landgabetexte Gen 17,8; 28,4; 35,12; 48,4 anklingen. Singulär in deren Reihe ist die Formulierung in Ex 6,8: „Und ich will euch in das Land bringen, um dessentwillen ich meine Hand erhoben habe, um es Abraham, Isaak und Jakob zu geben. Und ich werde es euch zum Besitz geben. Ich bin YHWH.“

‫והבאתי אתכם אל־הארץ‬ ‫אׁשר נׂשאתי את־ידי‬ ‫לתת אתה לאברהם ליצחק וליעקב‬ ‫ונתתי אתה לכם מורׁשה‬ :‫אני יהוה‬

Die zum Zeichen der Zusage erhobene Hand (‫ )נׂשא יד‬ist innerhalb der priesterlichen Texte des Pentateuch nur hier und in Num 14,30 belegt, dagegen deutlich prominenter im Ezechielbuch (vgl. Ez 20,5bis.6.15.23.28.42; 36,7; 47,14; vgl. noch Neh 9,15). Nur in Ex 6,8 und Ez 20,28.42 wird die Hineinführung ins Land mit ‫בוא‬ hiph. mit dem Relativsatz „um dessentwillen ich meine Hand erhoben habe, um es zu geben für …“ (‫ )אׁשר נׂשאתי את־ידי לתת אתה ל‬kombiniert (vgl. ähnlich noch Ez 20,15; 47,14; Neh 9,15). Die wörtliche Übereinstimmung ist äußerst bemerkenswert, eine zufällige oder traditionsgeschichtlich bedingte Übereinstimmung erscheint an dieser Stelle unwahrscheinlich. Diese Einschätzung erhärtet sich durch den Vergleich mit der an zahlreichen Stellen belegten deuteronomistischen Formulierung des Landgabeschwures:54 In zweierlei Hinsicht unterscheiden sich Ex 6,8 und Ez 20,28.42 gemeinsam von den deuteronomistischen Formulierungen: Diese formulieren einerseits stets mit dem Lexem ‫„ ׁשבע‬schwören“, wofür die priesterlichen und ezechielischen Texte ‫„ נׂשא יד‬die Hand erheben“ schreiben, und andererseits differenzieren die deuteronomistischen Texte teilweise zwischen dem Landgabeschwur an die Väter und der Landgabe an deren Nachkommen, was die priesterlichen und ezechielischen Texte so nicht tun.55 den Eigentümlichkeiten von Ex 6,2–8: Jan Christian Gertz, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, FRLANT 186 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000), 237–250. 54 Vgl. etwa Gen 26,3; 50,24; Ex 13,5.11; 32,13; 33,1; Num 11,12; 14,16.23; 32,11; Dtn 1,8.35; 6,10.18.23; 7,13; 8,1; 10,11; 11,9.21; 19,8; 26,3.15; 28,11; 30,20; 31,7.20.21.23; 34,4; Jos 1,6 u. ö. Wie üblich die Formulierung mit ‫„ ׁשבע‬schwören“ ist, zeigt 4QGenExa, wo in Ex 6,8 ‫נׁשבעת]י‬ ֯ anstelle von ‫נׂשאתי‬ ‫ את־ידי‬gelesen wird (vgl. Lust, „Exodus,“ 219 Anm. 42). 55 Beides erhellt klar etwa aus folgendem Vergleich (vgl. auch Lust, „Exodus,“ 220): ‫לתת לך‬ … ‫לתת אתה לאברהם‬‎ ‫לתת אותה לאבותיכם‬

… ‫לאבתיך‬‎

‫נׁשבע‬

‫אל־הארץ אׁשר‬

‫י‬‎ ‫נׂשאתי את־יד‬ ‫נׂשאתי את־ידי‬

‫אל־הארץ אׁשר‬ ‫אל־הארץ אׁשר‬

‫והיה כי יביאך‬ ‫יהוה אלהיך‬ ‫והבאתי אתכם‬ ‫בהביאי‬‎ … … ‫אתכם‬

Dtn 6,10a Ex 6,8a Ez 20,42

Ezechiel und die Priesterschrift 

 193

Erscheint damit ein literarischer Bezug zwischen der Priesterschrift und dem Ezechielbuch als wahrscheinlich, sind die Richtung dieser Bezugnahme sowie die literarhistorische Einbettung der untersuchten Passagen im jeweiligen Buch- bzw. Werkganzen zu klären. Letztere Frage gilt es, zuerst zu diskutieren: Ex 6,2–8 wird mit guten Gründen in der Regel als literarisch einheitlicher Text betrachtet und dem Grundbestand der Priesterschrift zugewiesen.56 Bei Ez 2057 dagegen sind die Literarkritik des Kapitels sowie die literarhistorische Einordnung (der jeweils rekonstruierten Textteile) strittig:58 Gerade die beiden Verse, die Ex 6,8 am nächsten stehen, Ez 20,28.42, werden von verschiedenen Exegeten späteren Stufen des Kapitels zugewiesen. Das Kapitel ist durch die narrative Einführung in 20,1–4 sowie den Rückbezug darauf in 20,30  f. klar zweigeteilt: YHWH lässt sich von den Ältesten Israels gegenwärtig nicht befragen wegen der anhaltenden Unheilsgeschichte Israels (20,3b und 20,31b unterscheiden sich nur in der Wortstellung), die Ezechiel ihnen aufzeigen soll (20,4b). Von diesen zwei Passagen wird der erste Teil des Kapitels, die Darlegung der Unheilsgeschichte (20,5–29), gerahmt; im zweiten Teil folgt eine Heilsansage (20,32–44). Die einzelnen Strophen des Geschichtsrückblickes sind klar und formelhaft strukturiert, ihr Textumfang wächst entsprechend der Zunahme an Geschichtserfahrung, und ihre Erzählperspektive führt von Ägypten über den Generationenwechsel in der Wüste bis ins zugesagte Land. Diese klare Gedankenführung sowie die wiederkehrenden, aufeinander aufbauenden Motive und Stichwörter lassen den Geschichtsrückblick als in drei Teile gegliederte literarische Einheit erscheinen (20,5–9: Zusage von Exodus und Landnahme an die Väter in Ägypten; 20,10– 17: Erfüllung der Exoduszusage an den Vätern; 20,18–29: Erfüllung der Land-

56 Vgl. nur Lust, „Exodus,“ 211–222 und Gertz, Tradition, 237–250.395, die die Eigenheiten von Ex 6,2–8 plausibel in und aus ihrem literarischen Kontext erklären. 57 Mit Blick auf die oben (2.) angesprochenen textlichen Erweiterungen in beiden Buchgestalten des Ezechielbuches kann hier festgehalten werden, dass in Ez 20 einerseits kapitelinterne Harmonisierungen und andererseits Angleichungen an andere Passagen des Ezechielbuches belegt sind, nicht aber an andere Bücher des Alten Testaments (vgl. die Auflistung bei Mackie, Ezekiel, 233–234). 58 Vgl. den knappen Überblick bei Pohlmann, Ezechiel, 148–153. Pohlmann betont hier stärker die „durchdachte einheitliche Textkonzeption“ des Kapitels (a.a.O., 151) als in seinem Kommentar (Karl-Friedrich Pohlmann, Das Buch des Propheten Hesekiel [Ezechiel]. Kapitel 20–48. Übersetzt und erklärt von Karl-Friedrich Pohlmann mit einem Beitrag von Thilo Alexander Rudnig, ATD 22/2 [Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001], 299–313), wo er allerdings auch schon „offen“ lässt, „ob Ez 20,33–38 und 20,39  ff. als genuine Weiterführungen der Darlegungen in 20,1–31* anzusehen sind oder ob hier später eingebrachte Texteinheiten vorliegen“ (a.a.O., 309), und auch die literarhistorische Einordnung von 20,25  f. und 20,27–29 letztlich ungeklärt bleibt.

194 

 Walter Bührer

nahmezusage an den Söhnen; s.  u.).59 Relevant für den Vergleich mit Ex 6,2–8 ist insbesondere, dass ‫„ נׂשא יד‬die Hand erheben“ in allen Teilen des Geschichtsrückblickes sowie im zweiten Teil der Heilsansage mit Blick auf das verheißene Land belegt ist (Ez 20,5bis: Selbstoffenbarung YHWHs; 20,6: Zusage von Exodus und Landgabe; 20,15: Verweigerung der Landgabe für die Exodusgeneration; 20,23: angesagte Zerstreuung der Wüsten- und damit Landnahmegeneration; 20,28: Einlösung der Landgabe; 20,42: Rückführung ins Land nach der Zerstreuung) – also auch in den Passagen, die von Vertretern einer stufenweisen Entstehung des Kapitels dessen Grundbestand zugewiesen werden. Strophe 1, 20,5–9, handelt von der Erwählung Israels, der Selbstoffenbarung YHWHs in Ägypten und der Zusage von Exodus und Landgabe (20,5  f.); es folgen a) Erwartungen YHWHs an Israel (20,7; Stichwörter: ‫)גלולים ;ׁשקוצים‬, b) deren Nichterfüllung (20,8a; Stichwörter: ‫)גלולים ;ׁשקוצים‬, c) YHWHs Zorn (20,8b) und d) die Verschonung Israels vor YHWHs Zorn um seines Namens willen (20,9 – mit Rückbezug auf YHWHs Selbstoffenbarung und die Zusage des Exodus). Strophe 2, 20,10–17, handelt von YHWHs Einlösung der Exodus-Zusage (20,10); es folgen a) Erwartungen YHWHs an Israel (20,11  f.; Stichwörter: ‫;מׁשפטים ;חקות‬ ‫)ׁשבתותי‬, b) deren Nichterfüllung (20,13a; Stichwörter: ‫)ׁשבתותי ;מׁשפטים ;חקות‬, c) YHWHs Zorn (20,13b) und d) die Verschonung Israels vor YHWHs Zorn um seines Namens willen (20,14 – mit Rückbezug auf den Exodus). Über die Struktur der ersten Strophe hinaus folgen hier e) die Nennung von Konsequenzen (die Verweigerung der Landgabe an die Exodusgeneration: 20,15 – in Aufnahme von 20,6)

59 Vgl. auch Thomas Krüger, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, BZAW 180 (Berlin/New York: de Gruyter, 1989), 199–281, bes. 199–214; Thomas Pola, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg, WMANT 70 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie, 1995), 147–212, bes. 152–156. Krüger gliedert a.a.O., 202–203. nach Vergangenheit (20,5–29), Gegenwart (20,30–31) und Zukunft (20,32–44); im Geschichtsrückblick unterscheidet er vier Phasen nach den unterschiedlichen geographischen Angaben und den je anvisierten Personen: 20,5–10 („Die erste Generation  … in Ägypten“), 20,11–17 („Die erste Generation … in der Wüste“), 20,18–26 („Die zweite Generation … in der Wüste“), 20,27–29 („Die ‚Väter‘ des gegenwärtigen ‚Hauses Israel‘ im Land“) (Herv. gelöscht). Die strukturierte Darstellung des Geschichtsrückblickes legt dagegen eher nahe, die erste Strophe mit 20,9 enden zu lassen und 20,25  f.27–29 insgesamt der dritten Strophe zuzuweisen (s.  u.), zumal der Text keine Differenzierung zwischen den in 20,18–26 und 20,27–29 anvisierten Personen erkennen lässt (so auch Krüger, a.a.O., 202 Anm. 4). Dass Redaktionsgeschichte wie Gliederung des Kapitels divergent beurteilt werden, geht auch aus den Unterschieden zwischen der hier vorgelegten Position und der von Franz Sedlmeier im vorliegenden Band hervor (vgl. ausführlich Franz Sedlmeier, Studien zu Komposition und Theologie von Ezechiel 20, SBB 21 [Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1990], der zumindest 20,27–29 und 20,39*.40–44 der Grundschicht abspricht).

Ezechiel und die Priesterschrift 

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mitsamt f) Begründung (20,16: ‫יען‬‎; Stichwörter: ‫ )גלולים ;ׁשבתותי ;חקות ;מׁשפטים‬und schließlich g) der Hinweis auf YHWHs Mitleid (20,17). Strophe 3, 20,18–29, richtet sich an die Nachkommen der zuvor anvisierten Exodusgeneration (20,18aα)60 und wiederholt in gewisser Weise Strophe 2: Genannt werden a) Erwartungen YHWHs an Israel (20,18–20; Stichwörter: ‫;חקים‬ ‫)ׁשבתותי ;חקות ;גלולים ;מׁשפטים‬, b) deren Nichterfüllung (20,21a; Stichwörter: ‫;חקות‬ ‫)ׁשבתותי ;מׁשפטים‬, c) YHWHs Zorn (20,21b) und d) die Verschonung Israels vor YHWHs Zorn um seines Namens willen (20,22 – mit Rückbezug auf den Exodus).61 Darüber hinaus folgen hier wieder e) die Nennung von Konsequenzen (die Zerstreuung unter die Völker: 20,23) mitsamt f) Begründung (20,24: ‫ ;יען‬Stichwörter: ‫)גלולים ;ׁשבתותי ;חקות ;מׁשפטים‬. Die hieran anschließenden Verse 20,25  f. und 20,27– 29 (g) sind in verschiedener Hinsicht auffällig (und werden häufig, auch ohne weitere Begründung, für sekundär gehalten). Sie können aber 20,17 vergleichbar als Hinweis auf das Festhalten YHWHs an seinen Verheißungen verstanden werden: Die unguten Ordnungen und die nicht lebensfördernden Rechtsbestimmungen (20,25; Stichwörter: ‫ )מׁשפטים ;חקים‬dienen letztlich auch der Erkenntnis YHWHs (20,26bMT; vgl. 20,12b.20b.38b.42a.44a). Und: Der mit neuerlichem Redeauftrag eingeleitete Abschnitt 20,27–29 handelt von YHWHs Einlösung der LandgabeZusage (20,28; vgl. 20,6) und dem kultischen Fehlverhalten der Israeliten im Land; erst hier kommt die Verheißung von 20,6 an ihr Ziel; erst hier ist die Voraussetzung für die bereits angekündigte Zerstreuung, nämlich das Wohnen im Lande, gegeben; und schließlich wird auch nur hier der Kontrast zur Schilderung des gelingenden Kultvollzuges im Lande in 20,39–44 geschildert. Beide Abschnitte, 20,25  f. und 20,27–29, wirken auf den ersten Blick zwar sperrig in ihrem Kontext – wie 20,17 –, doch kann für beide Abschnitte die Zugehörigkeit zum Grundbestand des Kapitels durchaus plausibel gemacht werden. Insbesondere für 20,27–29 gilt, dass der Geschichtsrückblick ohne diese Verse ein Fragment bliebe. Die zweiteilige Heilsansage ist deutlich weniger strukturiert als der Geschichtsrückblick, aber erkennbar auf diesen bezogen. Die Sammlung des zerstreuten Israel (20,34a.41a; vgl. 20,23) erfolgt in zwei Schritten in (lockerer) Entsprechung zur Unheilsgeschichte: Der Exodus aus den Völkern in die Wüste zu einem Läuterungsgericht (20,32–38)62 und der Exodus aus den Völkern mit Eisodus ins Land

60 Die Rede von der Exodusgeneration und deren Nachkommen ist insofern etwas ungenau, als auch die Nachkommen der Exodusgeneration als Kinder am Exodus zumindest potentiell teilgenommen haben (vgl. 20,22 sowie Num 14). 61 Zu Ez 20,22aα vgl. Walther Zimmerli, Ezechiel, BKAT XIII.1/2 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 21979 [11969]), 435; Sedlmeier, Studien, 38–39; Mackie, Ezekiel, 117–118. 62 An lexikalischen Bezügen zum Geschichtsrückblick sind v.  a. folgende zu nennen: ‫ם‬ ‎ ‫ גוי‬in 20,9.14.22.23.32.41; ‎‫ ארצות‬in 20,23.32.34.41; ‫ץ‬‎ ‫ ע‬in 20,28.32; ‫ך‬‎ ‫ ׁשפ‬+ ‫ חמה‬in 20,8.13.21.33.34; ‫א‬ ‎ ‫ יצ‬hiph.

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Israel zum nun gelingenden Kultvollzug auf YHWHs heiligem Berg (20,39–44).63 Dabei ist die gesamte Geschichte YHWHs mit seinem Volk dadurch geprägt, dass YHWH „um seines Namens willen“ agiert (20,9.14.22.44; vgl. 20,39), und dass dieses Agieren letztlich auf die Erkenntnis YHWHs abzielt (20,12.20.26.38.42.44), beginnend mit seiner Selbstoffenbarung (20,5.9). Zusätzlich zu den strukturellen und lexikalischen Entsprechungen zwischen den einzelnen Teilen des Kapitels spricht auch der intertextuelle Bezugsrahmen des Kapitels für seine Einheitlichkeit – zumindest im Wesentlichen: Ez 20 ist deutlich auf Ez *36,16–23 bezogen64 – und zwar sowohl im Geschichtsrückblick wie auch im zweiten Teil des Heilsausblicks. Das in Ez *36,16–23 angekündigte zukünftige Handeln YHWHs „um seines Namens willen“ wird in Ez 20 zum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannenden Geschichtshandeln YHWHs „um seines Namens willen“ aufgeweitet. Während YHWH in Ez 20 seinen Zorn nicht ausschüttet (20,8  f.13  f.21  f.), um seinen Namen nicht zu entehren vor den Augen der Völker (20,9.14.22), und die Zerstreuung und spätere Sammlung Israels YHWHs Geschichtsplan entsprechen, stehen in Ez 36,18 die Ausschüttung von YHWHs Zorn und die damit einhergehende Zerstreuung Israels (36,19a; vgl. 20,23b) am Anfang von YHWHs – erzwungenem – Handeln „um seines Namens willen“, denn durch die Zerstreuung Israels wurde YHWHs Namen entheiligt (36,20.21.22.23bis). Der zweite Teil des Heilsausblicks, Ez 20,39–44, geht Ez *36,16–23 darin parallel, als auch hier Israel bereits YHWHs heiligen Namen entweiht hat (20,39) und zwar durch die unreinen Wege und Taten Israels (20,43.44; 36,17.19). Lässt sich Ez 20 damit (zumindest im Wesentlichen) als literarische Einheit verstehen, muss die literarhistorische Einordnung dieses Kapitels berücksichtigen, dass hier einerseits die Angehörigen der ersten Gola in kritischem Licht

in 20,6.9.10.14.22.34.38.41; ‫ פוץ‬in 20,23.34.41; ‫ בוא‬hiph. in 20,10.15.28.35.37.42; ‫ר‬‎ ‫ מדב‬in 20,10.13bis. 15.17.18.21.23.35.36; ‫ט‬ ‎ ‫ ׁשפ‬in 20,4bis.35.36bis; ‫ת‬ ‎ ‫ אבו‬in 20,4.18.24.27.30.36.42; ‫ע‬ ‎ ‫ יד‬mit YHWH als Objekt der Erkenntnis in 20,12.20.26.38.42.44 (vgl. die Selbstoffenbarung YHWHs in 20,5.9). 63 An lexikalischen Bezügen zum Geschichtsrückblick sind v.  a. folgende zu nennen: ‎‫בית־יׂשראל‬ in 20,13.27.30.31.39.40.44 (vgl. auch V.5); ‫ גלולים‬in 20,7.8.16.18.24.31.39bis; ‫ ׁשם‬in 20,9.14.22.39.44; ‫ חלל‬in 20,9.13.14.16.21.22.24.39; ‎ ‫ מתנות‬in 20,26.31.39; ‎ ‫ ריח ניחוח‬in 20,28.41; ‫ יצא‬hiph. in 20,6.9.10.14.22.34.38.41; ‫ ארצות‬in 20,23.32.34.41; ‫ פוץ‬in 20,23.34.41; ‫ גוים‬in 20,9.14.22.23.32.41; ‫ ידע‬mit YHWH als Objekt der Erkenntnis in 20,12.20.26.38.42.44 (vgl. die Selbstoffenbarung YHWHs in 20,5.9); ‫ בוא‬hiph. in 20,10.15.28.35.37.42; ‫ נׂשא יד‬in 20,5bis.6.15.23.28.42; ‫ אבות‬in 20,4.18.24.27.30.36.42; ‎‫ טמא‬in 20,7.18.26.30.31.43. Darüber hinaus kontrastiert der legitime Kult auf dem hohen Berg Israels in 20,40 mit dem illegitimen Kult auf den Höhen in 20,28  f. 64 Vgl. Krüger, Geschichtskonzepte, 441–443; Pohlmann, Hesekiel, 482–491; Klein, Schriftauslegung, 140–169, bes. 154–161. Anders etwa Sedlmeier, Studien, 125–126 und in seinem Beitrag im vorliegenden Band.

Ezechiel und die Priesterschrift 

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erscheinen (20,30  f.) und dass andererseits die Zerstreuung Israels umfassender gedacht wird als in den golafavorisierenden Texten: Israel wird hier unter die Nationen und in die Länder zerstreut (20,23b: ‫;להפיץ אתם בגוים ולזרות אותם בארצות‬ vgl. 36,19a), aus denen es letztlich wieder gesammelt werden wird (20,34.41). Mit Karl-Friedrich Pohlmann wird man Ez 20 damit zu den diasporatheologischen Bearbeitungen des Ezechielbuches zu rechnen haben.65 Nähme man die von Pohlmann propagierte Ansetzung dieser Buchgestalt ins 4. Jahrhundert an, wäre die Verhältnisbestimmung zur Priesterschrift (bei deren vergleichsweise traditionellen Datierung in spätexilische bis frühnachexilische Zeit) bereits geklärt.66 Indes stellen die diasporatheologischen Bearbeitungen auch nach Pohlmann keine einheitliche Bearbeitungsschicht des Buches dar (wie etwa das Neben- und Nacheinander von Ez *36,16–23 und Ez 20 gezeigt hat), und die Kritik an den Angehörigen der ersten Gola scheint doch besser in zeitliche Nähe zur golafavorisierenden Buchgestalt des Ezechielbuches zu passen, als die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Gruppierungen aktuell und akut war. Wenn auch die Datierung von Ez 20 hier nicht genau geklärt werden kann, ist mit der Zuweisung dieses Kapitels an die diasporatheologische Buchgestalt des Ezechielbuches freilich ein erstes Indiz für die relativ-chronologische Verhältnisbestimmung zur Priesterschrift gegeben.67 Überlegungen zur Abhängigkeitsrichtung erbringen weitere Indizien:

65 Vgl. Pohlmann, Hesekiel, 31–32.299–313. Die weiteren Belege von ‫„ נׂשא יד‬die Hand erheben“ im Ezechielbuch gehören im Falle von 47,14 ebenso zur diasporaorientierten Bearbeitung (vgl. Thilo Alexander Rudnig, „Ezechiel 40–48. Die Vision vom neuen Tempel und der neuen Ordnung im Land,“ in: Pohlmann, Hesekiel, 527–631, 617–621; vgl. ausführlich ders., Heilig, 228–243), im Falle von 36,7, wo die Formel nicht explizit auf die Landgabe bezogen ist, sondern sehr viel umfassender die Restitution (der Berge) Israels im Blick hat, bereits zum älteren Prophetenbuch (vgl. Pohlmann, Hesekiel, 471–482; vgl. auch Klein, Schriftauslegung, 305–309). 66 Vgl. Pohlmann, Hesekiel, 34. Die Verhältnisbestimmung zwischen dem Ezechielbuch und der Priesterschrift bzw. den priesterlichen Texten des Pentateuch ist auch in seinem späteren Forschungsüberblick (vgl. Pohlmann, Ezechiel, 196–201) nicht das primäre Interesse Pohlmanns. Er wiederholt a.a.O., 198 seine Vermutung, „dass sich in Ez 20 eine priesterschriftlich beeinflusste Theologie mit Grundsatzüberlegungen zur Diasporasituation zu Wort melde[]“, doch unterlässt er hier wie in seinen früheren Arbeiten eine genauere Analyse von Beeinflussung bzw. Abhängigkeit und ihrer Richtung. 67 Bemerkenswerterweise wird die Frage der literarhistorischen Einordnung von Ez 20 im Ezechielbuch bei Vergleichen zwischen Ez 20 und Ex 6,2–8 kaum gestellt, auf jeden Fall nicht bei Pola, Priesterschrift, 147–212; Lust, „Exodus“; Gosse, „Ezéchiel“; Jaeyoung Jeon, „A Source of P? The Priestly Exodus Account and the Book of Ezekiel,“ Sem. 58 (2016): 77–92; ders., „The Promise of the Land and the Extent of P,“ ZAW 130 (2018): 513–528, hier 517–519.

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Für die literarische Abhängigkeit von Ex 6,2–8 von Ez 20 hat sich insbesondere Johan Lust stark gemacht:68 Lust betont, dass die Wendung ‫„ נׂשא יד‬die Hand erheben“ zum Zeichen der Zusage und zwar insbesondere der Zusage der Landgabe im Ezechielbuch öfter belegt ist als in den priesterlichen Texten des Pentateuch (s.  o.);69 in Ez 20 ist sie in allen Teilen des Geschichtsrückblickes sowie einmal im Heilsausblick im Zusammenhang mit der Landgabe belegt; in der Priesterschrift ist von der Landgabe dagegen in der Regel ohne ‫„ נׂשא יד‬die Hand erheben“ die Rede. Nach Lust spricht die zahlenmäßig stärkere Verankerung im Ezechielbuch auch für den Ursprung der Wendung ‫„ נׂשא יד‬die Hand erheben“ im Ezechielbuch. Seines Erachtens hat die Priesterschrift diese Wendung übernommen und durch die Änderung der Adressaten der Landgabe bewusst der eigenen Geschichtsdarstellung angepasst. Denn: An den relevanten Ezechielstellen ist, wie in den deuteronomistischen Belegen, von den Vätern die Rede, denen die Landgabe gilt. Ex 6,8 expliziert diese Rede entsprechend den weiteren priesterschriftlichen Landgabetexten und nennt Abraham, Isaak und Jakob als Adressaten der Landgabe. Anders als für die Priesterschrift spielt die Erzvätertrias im Ezechielbuch keine Rolle (vgl. nur Ez 33,24 für Abraham und Ez 20,5; 28,25; 37,25; 39,25 für Jakob[-Israel]). Die Väter in Ez 20 dürften damit, wie in der Regel in der deuteronomistischen Tradition, die Väter aus Ägypten darstellen.70 Die Priesterschrift hat nach Lust damit, entgegen den deuteronomistischen und ezechielischen Texten, ihrem eigenen Geschichtsaufriss ab creatio mundi folgend, die Landgabe an die Erzväter re-adressiert.71 Gegen Lust wird man aber festhalten müssen, dass die unterschiedlichen Adressaten der Landgabe die Richtung der literarischen Abhängigkeit gerade nicht bestimmen können. Die unterschiedlichen Adressaten liegen in der unterschiedlichen Geschichtskonzeption beider Texte begründet; es muss in Ex 6,2–8 und Ez 20 damit zu unterschiedlichen Adressaten der Landgabe kommen (entsprechend ließe sich wahlweise argumentieren, die Priesterschrift setze sich von der deuteronomistischen und ezechielischen Vätertradition ab, oder aber Ez 20 setze sich von der priesterschriftlichen Vätertradition ab72 und gleiche an die

68 Vgl. Lust, „Exodus,“ bes. 222–224. 69 Zur Datierung s.  o. Anm. 65. 70 Vgl. hierzu Thomas Römer, Israels Väter. Untersuchungen zur Väterthematik im Deuteronomium und in der deuteronomistischen Tradition, OBO 99 (Freiburg/Göttingen: Universitätsverlag Freiburg/Vandenhoeck & Ruprecht, 1990). 71 Vgl. Römer, Väter, 505: „‚P‘ will augenscheinlich die Landschwurformel auf die Patriarchen uminterpretieren.“ 72 So etwa Moshe Greenberg, Ezechiel 1–20, HThKAT (Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2001), 427, der freilich nicht nach der relativ-chronologischen Einordnung beider Texte fragt: „Vielleicht

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deuteronomistische an; ein Argument für die relativ-chronologische Auswertung lässt sich so nicht gewinnen). Und auch das Argument der zahlenmäßig besseren Verankerung der Wendung ‫„ נׂשא יד‬die Hand erheben“ im, und damit deren Herkunft aus dem Ezechielbuch ist nicht über alle Zweifel erhaben: Die Belege der Wendung im diasporatheologischen Ezechielbuch beziehen sich wie in Ex 6,8 stets auf die Landgabe.73 Es ist daher gleichermaßen möglich, dass Ez 20 die Wendung aus Ex 6,8 übernommen und systematisch auf die unterschiedlichen Phasen der Geschichte Israels appliziert hat (s.  o.) beginnend mit der Selbstoffenbarung YHWHs über die Zusage der erstmaligen Landgabe bis zur Zusage der erneuten Landgabe nach der Rückkehr aus dem Exil. In dieser Lesart dient die priesterschriftliche Moseberufung Ez 20 der Systematisierung der Geschichtserzählung insgesamt. Durch folgende zwei Beobachtungen lässt sich diese Deutung untermauern: Erstens: YHWHs Geschichtslenkung in Ez 20 erfolgt „um seines Namens willen“ (‫ ;למען ׁשמי‬Ez 20,9.14.22.44; vgl. 20,39 und darüber hinaus nur Jes 48,9; 66,5). Dies könnte über den Bezug auf Ez *36,16–23 hinaus als Reflex auf die Selbstoffenbarung des YHWH-Namens in Ex 6,2  f. (anders in Ez 20,5) gedeutet werden. Zweitens enthält Ex  6,8 in gewisser Weise eine narrative Lücke, insofern nämlich durch den auf das Land bezogenen Relativsatz „um dessentwillen ich meine Hand erhoben habe, um es Abraham, Isaak und Jakob zu geben“ auf etwas zurückgeblickt wird, was auf diese Weise nicht geschehen bzw. mit diesen Worten nicht geschildert worden ist. Da im Laufe von Textgenese und -überlieferung solche Lücken verschiedentlich gefüllt wurden,74 könnte Ez 20 die in Ex 6,8 fehlende Referenz durch Ez 20,6 nachträglich geliefert haben.

ignoriert Ezechiel die Patriarchen bewußt. Gottes Bindung an Israel rein aus Gnade steht auf diese Weise direkt neben Israels vollkommener Verwerfung Gottes bereits beim ersten Zusammentreffen mit ihm als Nation in Ägypten. … Ezechiel konnte Israels Abfallsgeschichte schwerlich bei den Patriarchen beginnen lassen, da diese als die archetypischen Empfänger von Gottes Segen galten“. 73 Wie beschrieben, ist dies in dem wohl älteren Text Ez 36,7 nicht der Fall, doch kann ein Bezug von Ex 6,8 auf diesen Vers oder vice versa nicht plausibel gemacht werden. 74 Als nur ein Beispiel mag Ex 6,9 genannt werden, wo der Samaritanische Pentateuch die in Ex  14,12 zitierte Rede der Israeliten, die sie davor nie gehalten haben, nachgetragen hat. Vgl. weiter Bührer, Anfang, 282–284 mit Verweis auf David M. Carr, „Method in Determination of Direction of Dependence. An Empirical Test of Criteria Applied to Exodus 34,11–26 and its Parallels,“ in Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10, VWGTh 18, hg. v. Matthias Köckert und Erhard Blum (Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, 2001), 107–140. Die weiteren Kriterien von Carr können im Vergleich zwischen Ex  6,2–8 und Ez 20 kaum angewandt werden, da beide Texte substanzielle Überschüsse gegenüber dem anderen aufweisen und darin v.  a. durch ihren jeweiligen Werkkontext geprägt sind.

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 Walter Bührer

Zwingend erscheinen die gemachten Überlegungen nicht. Die Erörterungen zur literarhistorischen Einordnung von Ez 20 in die Redaktionsgeschichte des Ezechielbuches einerseits und zur Abhängigkeitsrichtung zwischen Ex 6,2–8 und Ez 20 andererseits haben aber mehrere Indizien zusammen gebracht, die eher für eine literarische Bezugnahme des diasporatheologischen Kapitels Ez 20 auf die priesterschriftliche Moseberufung Ex 6,2–8 sprechen als umgekehrt.75 Eine nach-priesterschriftliche Ansetzung von Ez 20 würde auch dazu passen, dass in Ez 20 der Sabbat stets mit ‎‫ ׁשבתותי‬bezeichnet (20,12.13.16.20.21.24) und als ‫ת‬ ‎ ‫„ או‬Zeichen“ zwischen YHWH und Israel verstanden wird (20,12.20) – eine Bezeichnung und ein Verständnis, die sich auch in dem späten priesterlichen Sabbat-Text Ex 31,12–17 finden. Die dort belegte Todessanktion bei Entweihung des Sabbats ist in Ez 20 freilich nicht im Blick. ‫ ׁשבתותי‬findet sich also durchwegs in späten (priesterlichen) Texten.76 Trifft diese Einschätzung Richtiges, lässt sich abschließend folgendes skizzenhaftes Gesamtbild zum Verhältnis von Ezechielbuch und Priesterschrift festhalten:

4 Fazit Das Ezechielbuch und die Priesterschrift bzw. die priesterliche Literatur des Pentateuch sind vielseitig miteinander verwoben. Um dieses Beziehungsgeflecht präzise beschreiben zu können, ist eine theologie- und redaktionsgeschichtliche Analyse beider Textbereiche je einzeln und im Vergleich zueinander unumgänglich. Die hier gemachten Überlegungen hierzu waren nur sehr exemplarisch, haben aber versucht, Möglichkeiten der Weiterarbeit aufzuzeigen.

75 Vgl. in diesem Sinne nebst den bereits in Anm. 66 genannten Arbeiten von Karl-Friedrich Pohlmann auch Reinhard Achenbach, Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, BZAR 3 (Wiesbaden: Harrassowitz, 2003), 625–626 Anm. 41. 76 Vgl. die Problemanzeigen zum Sabbat im Ezechielbuch bei Timo Veijola, „Die Propheten und das Alter des Sabbatgebots“ (1989), in: ders., Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum, BWANT 149 (Stuttgart: Kohlhammer, 2000), 61–75, hier 70–73 und zu Ex 31,12–17 Christophe Nihan, „Das Sabbatgesetz Exodus 31,12–17, die Priesterschrift und das Heiligkeitsgesetz. Eine Auseinandersetzung mit neueren Interpretationen,“ in Wege der Freiheit. Zur Entstehung und Theologie des Exodusbuches, FS Rainer Albertz, hg. v. Reinhard Achenbach u.  a., AThANT 104 (Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2014), 131–149. Pola, Priesterschrift, 186–187 mit Anm. 173; 207 sieht Ex 31,12–17 von Ez 20 abhängig.

Ezechiel und die Priesterschrift 

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Nach den hier angestellten Vergleichen sind die älteren priesterlichen Texte des Pentateuch, die hier als Priesterschrift verstanden wurden, mit der golafavorisierenden Buchgestalt des Ezechielbuches traditionsgeschichtlich eng verwandt, durch gemeinsame Bezugnahmen auf unheilsprophetische Traditionen einerseits und naturkundlich-kosmologische Traditionen andererseits. Literarische Bezüge zwischen beiden Textbereichen konnten in den untersuchten Texten jedoch nicht ausgemacht werden. Literarische Bezüge finden sich dagegen zwischen der Priesterschrift und der diasporatheologischen Buchgestalt des Ezechielbuches, genauer zwischen Ex  6,2–8 und Ez  20. Es spricht einiges dafür, dass hierbei die entsprechenden Ezechieltexte die jüngeren und nehmenden Texte sind. Die Verhältnisbestimmung zwischen der Priesterschrift bzw. der priesterlichen Literatur des Pentateuch und dem Ezechielbuch bzw. den Ezechielbüchern im Laufe ihrer umfassend gedachten Textgeschichte ist also keineswegs einlinig. Dem entspricht der Befund beim Vergleich zwischen dem Ezechielbuch und den Texten des Heiligkeitsgesetzes, wie zuletzt etwa Christophe Nihan verschiedentlich gezeigt hat.77 Hier scheint das Verhältnis ungleich enger und noch verwobener zu sein als zur Priesterschrift, was bereits die Überlegungen zur Textgeschichte des griechischen und hebräischen Ezechielbuches gezeigt haben (s.  o. 2.). Abschließend – und im Sinne eines Kontrollganges – soll der Blick auf das Motiv der Einwohnung YHWHs in Israel, das in unterschiedlichen Redaktionsschichten des priesterlichen Pentateuch und des Ezechielbuches belegt ist, die hier gemachten Ergebnisse illustrieren:78 Im Rahmen der golafavorisierenden Buchgestalt des Ezechielbuches verheißt der universal-solare YHWH in Ez *1 (vgl. Gen 1), der aufgrund der Mißstände im Tempelkult den Tempel verlässt (vgl. Ez *8–11 und Gen 6), seine Rückkehr in den Tempel und seine erneute Einwohnung dort „inmitten der Israeliten“ in Ez 43,7 (vgl. auch den nachgetragenen Vers 43,9).79 Das Motiv ist ebenso zentral für die Priesterschrift (vgl. Ex 25,8; 29,45  f.; vgl. auch Ex 24,16). Wiederum lässt sich die Parallele am besten traditionsgeschichtlich erklären und zwar durch die gemeinsame Rezeption altorientalischer Tempeltheologie. Und wiederum scheint das

77 Vgl. Nihan, „Ezekiel and the Holiness Legislation“; ders., „Ezekiel 34–37.“ 78 Vgl. hierzu Klein, Schriftauslegung, 190–204; Nihan, „Ezekiel 34–37,“ 161–164; ders., „Ezekiel and the Holiness Legislation,“ 1032–1034; Koch, Wohnstatt, 175–184. 79 Zu Ez 43,7b–9 als dtr beeinflusste Fortschreibung vgl. Klein, Schriftauslegung, 149.192. Gerade aufgrund der Parallele zur Priesterschrift erscheint dagegen eine Separierung von 43,2–5 und 43,6–7a gegen Klein, a.a.O., 395–397 nicht zwingend. Vgl. auch Koch, Wohnstatt, 175–176.

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golafavorisierende Ezechielbuch eine traditionsgeschichtlich leicht ältere Stufe darzustellen, da hier (noch) die traditionelle Thronvorstellung begegnet.80 Indes sind in beiden Textbereichen jüngere Transformationen des Motivs belegt: Während die bereits genannten Texte YHWHs Wohnen inmitten der Israeliten stets verbal zum Ausdruck bringen, formulieren Lev 26,11 und Ez 37,25–28 nominal mit der Gabe der Wohnung YHWHs.81 Sollte zwischen diesen beiden jüngeren Texten eine literarische Abhängigkeit bestehen, so dürfte mit Christophe Nihan Lev 26 der nehmende Text sein.82 Dass Ez 37,25–28 jünger als die Priesterschrift ist, ist etwa mit Anja Klein und Christophe Nihan gut zu vertreten; allerdings lässt sich nicht nachweisen, dass der Text von der Priesterschrift literarisch abhängig sei. Daher mag die hier abschließend kurz angeführte Motivkonstellation die oben entwickelte These denn auch nur zu illustrieren, nicht aber zu bestätigen. Gleichermaßen illustrierend ist ein Blick auf die bundestheologischen Texte des Ezechielbuches, die in Teilen konzeptionell unabhängig von der (und teils älter als die) Priesterschrift (Ez  16,8; 17,13–19; [20,37MT;]83 30,5) und in anderen Teilen deutlich auf die Priesterschrift bzw. die priesterlichen Texte des Pentateuch bezogen sind (Ez 16,59–62; 34,25; 37,26; 44,7); letztere Belege entstammen allesamt frühestens diasporatheologischen Buchgestalten des Ezechielbuches.84

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80 Vgl. Koch, Wohnstatt, 175–184. Klein, Schriftauslegung, 202–203 argumentiert gerade umgekehrt. 81 Zur literarhistorischen Nachordnung von Ez 37,25–28 gegenüber Ez 43,7 vgl. Klein, Schriftauslegung, 193. 82 Vgl. Nihan, „Ezekiel 34–37,“ 161–164; ders., „Ezekiel and the Holiness Legislation,“ 1032–1034. 83 Vgl. zur Priorität der griechischen und Herleitung der hebräischen Lesart: Zimmerli, Ezechiel, 437. 84 Vgl. etwa zu Ez 16,59–62: Lust, „Exodus,“ 215.224; Pohlmann, Hesekiel, 235; Wagner, „Verhältnisse,“ 220–223; zu Ez 34,25; 37,26: Klein, Schriftauslegung, 169–210; zu Ez 44,7: Rudnig, Ezechiel, 585–593.

Ezechiel und die Priesterschrift 

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 Walter Bührer

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Christoph Koch

Vorstellungen von Gottes Wohnort im Ezechielbuch Abstract: The notions of God’s abode have undergone a profound transformation between the Babylonian and early Persian period. The example of Ezekiel’s visions (1–3; 8–11; 40–48) show that the explication of heaven as a divine abode is accompanied by Solarization of Yahweh and is to be understood against the background of Babylonian tradition. This has consequences for the redaction history of the visions. The depiction of Yahweh in Ezek 8–11* + 43,* his return to Jerusalem as sun god, cannot be separated from the portrayal in Ezek 1*, his sitting on throne like Marduk-Shamash. This speaks for an original connection of the three visions, which were probably part of a Pro-Gola-Redaction.

1 Hinführung Die Vorstellungen von Gottes Wohnort haben in der babylonischen und beginnenden persischen Zeit einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Verändert hat sich in den einschlägigen Texten insbesondere Gottes Verhältnis zum Himmel. Texte der assyrischen Zeit scheinen eine Lokalisierung Gottes im Himmel noch nicht zu kennen. Der hintergründige Wohnort Gottes wird hier durch die irdischen Größen Thron oder Tempel (vgl. Ps 93*; Jes 6,1–4*; Gen 28*) bzw. Tempelberg oder Tempelstadt (Ps 48,2f*) repräsentiert; der Tempel gilt als „Himmel auf Erden“. Die Texte bezeugen insofern lediglich eine „implizite Kosmologie“ (Friedhelm Hartenstein). Gleichwohl weisen sie durchaus einen Himmelsbezug auf. Dieser Bezug wird im Fall der Jerusalemer Tempeltheologie über die Gottesbergvorstellung vermittelt, nach der sich Berg und Himmel entsprechen; in der Erzählung von Jakobs Traum in Gen 28* wird er über die mesopotamische Vorstellung einer den irdischen und den himmlischen Tempel verbindenden Weltenachse (der so genannten „Himmelsleiter“) expliziert, die den Tempelort Bet-El in Analogie zu babylonischen Tempelstädten zum „Tor des Himmels“ und „Haus Gottes“ erhebt.

Anmerkung: Der nachfolgende Aufsatz vertieft Gedanken meiner Habilitationsschrift Gottes himmlische Wohnstatt. Transformationen im Verhältnis von Gott und Himmel in tempeltheologischen Entwürfen des Alten Testaments in der Exilszeit, FAT 119 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018). https://doi.org/10.1515/9783110624250-008

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 Christoph Koch

Ab der persischen Zeit ist demgegenüber Gottes Wohnen im Himmel breit bezeugt, etwa in zahlreichen Psalmen (z.  B. Ps 33,13.18; 102,20; 113,6) bis hin zum Titel „Gott des Himmels“, der in Anlehnung an persische religiöse Vorstellungen auf JHWH bezogen wird (2 Chr 36,23 und öfter; Elephantine-Papyri). Für die Frage nach dem Wandel, welcher sich augenscheinlich zwischen der assyrischen und der persischen Zeit vollzogen hat, sind vor allem Texte der „Übergangsphase“ von Bedeutung. Zu ihr gehören meines Erachtens tempeltheologische Entwürfe in Deuterojesaja, Ezechiel und der Priesterschrift, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit in die babylonische und beginnende persische Zeit – konkreter: zwischen der Zerstörung des sogenannten Salomonischen Tempels (587/6 v. Chr.) und dem Wiederaufbau des Zweiten Tempels (520–515 v. Chr.)  – datieren lassen. Eine Analyse dieser Entwürfe macht deutlich: Sie stehen einerseits zu den älteren Texten in Kontinuität, bezeugen aber andererseits deutliche weltbildhafte Verschiebungen, insofern in ihnen der Himmel als Herrschaftsbereich und Wohnort Gottes bzw. als sein Schöpfungswerk massiv an Bedeutung gewinnt. Was die Gründe für den Wandel der Wohnvorstellungen in der Exilszeit angeht, so ist zwar sicher die Tempelzerstörung im Jahre 587/6 v. Chr. als der äußere Auslöser zu bestimmen. Doch wirkte sich darüber hinaus ein weiterer entscheidender Faktor aus: Eine in den altorientalischen Quellen verschiedentlich greifbare weltbildhafte Verschiebung, die als Uranisierung (Astralisierung/ Solarisierung) der Hauptgötter charakterisiert werden kann. Diese Verschiebung spiegelt sich deutlich in den beiden prophetischen Entwürfen, Deuterojesaja und Ezechiel, die im Hinblick auf JHWHs himmlischen Wohnort in einem intensiven Dialog mit der babylonischen Tradition stehen. Im Folgenden möchte ich am Beispiel der Ezechielvisionen den eben skizzierten Wandel der Wohnvorstellung aufzeigen und dabei den babylonischen Traditionshintergrund deutlich machen (2.). Abschließend sollen im Rahmen eines Fazits einige Konsequenzen für die redaktionsgeschichtliche Zuordnung der Visionen benannt werden (3.).

2 Vorstellungen von Gottes Wohnort im Ezechielbuch Für das Ezechielbuch ist die Frage nach der Gegenwart Gottes ein zentrales Thema. Es ist prominent vertreten in den drei für die vorliegende Struktur des Buches grundlegenden Visionsteilen, Ez 1–3, 8–11 und 40–48; und es begegnet im Schlusssatz des Buches, der der Stadt Jerusalem den neuen Namen „JHWH

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(ist) dort“ (‫ )יהוה שמה‬verleiht (Ez 48,35b). Die Gegenwart Gottes ist dabei im Ezechielbuch wie sonst im Alten Orient tempeltheologisch gedacht. So erscheint in Ez 37,27–28 die Zusage, JHWHs Heiligtum und Wohnung werde für immer inmitten der Israeliten sein, als „Klimax der ezechielischen Heilsverkündigung“1. Und Ez 11,16 reagiert aus der Perspektive der Gola auf den Jerusalemer Vorwurf, fern von JHWH zu sein, mit dem Gotteswort: „Ich bin ihnen ein wenig / für kurze Zeit (‫)מעט‬2 zum Heiligtum geworden, in den Ländern, in die sie gekommen sind.“ Man könnte also sagen: Wo der Tempel ist, da ist Gott, und wo Gott ist, da ist der Tempel. Die genannten Texte liegen vermutlich nicht auf einer literarischen Ebene,3 doch weisen sie alle auf die zentrale Frage hin, die das Buch auf verschiedene Weise beschäftigt: Wie kann die Gegenwart Gottes, die fest mit dem Tempel und der Tempelstadt verbunden ist, in Anbetracht der Zerstörung dieses Tempels und der Exilserfahrung neu gedacht werden? Die Tempelvisionen Ez 8–11* + 40–48* greifen für die Lösung dieses Problems – ebenso wie Jes 40* + 52* – ein in mesopotamischen Quellen über die Epochen hinweg breit belegtes Konzept auf, nämlich das der temporären Abwendung der Gottheit von ihrem Wohntempel und der späteren Rückkehr in diesen oder einen neuen Tempel bzw. die Tempelstadt.4 In beiden Büchern ist dieses Konzept verbunden mit einer neuen, nämlich himmlischen Verortung JHWHs. Und in beiden Büchern geht diese Verortung einher mit einer Astralisierung bzw. Solarisierung JHWHs.

1 Franz Sedlmeier, Das Buch Ezechiel. Kapitel 25–48, NSK.AT 21/2 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2013), 236. 2 Vgl. zur Interpretation der adverbialen Bestimmung Andreas Ruwe, „Die Veränderung tempeltheologischer Konzepte in Ezechiel 8–11,“ in Gemeinde ohne Tempel. Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, hg. v. Beate Ego et al., WUNT 118 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1999), 3–18, 10–11. 3 Zumindest Ez  11,16 dürfte Teil einer späteren diasporaorientierten Überarbeitung sein, vgl. Christophe Nihan, „Ezechiel,“ in Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, hg. v. Thomas Römer et al. (Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2013), 412–430, 423. 4 Vgl. zu diesem Vorstellungskomplex Christina Ehring, Die Rückkehr JHWHs. Traditions- und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Jesaja 40,1–11, Jesaja 52,7–10 und verwandten Texten, WMANT 116 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2007).

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2.1 Ein kurzer Seitenblick auf Deuterojesaja5 Die Disputationsworte Jes 40,12–31*, die im Kontext der Grundschicht der Deuterojesaja-Überlieferung vermutlich in Babylonien entstanden sind, spiegeln – das zeigt vor allem der Vergleich mit dem babylonischen Weltschöpfungsepos Enūma eliš – eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Marduk-Theologie. JHWH hat – wie der babylonische Hauptgott Marduk – den Himmel erschaffen (Jes 40,22b) und Macht über die Gestirne (Jes 40,26). Doch gegenüber dem Enūma eliš wird zum einen die Leichtigkeit des Schöpfungsvorgangs betont; zum anderen ist die Depotenzierung der Astralmächte noch deutlicher zu greifen, die ex nihilo erschaffen werden und deren einzige Funktion es ist, wie eine gehorsame Armee in Reih und Glied vor JHWH zu stehen. Was die Präsenz JHWHs angeht, so wohnt dieser laut Jes 40,22a weder im Tempel (vgl. noch Jes 6,1) noch im selbst erschaffenen Himmelszelt (Jes 40,22b), vielmehr „thront“ (‫ )ישב‬er über dem „Kreis der Erde“ (‫)על־חוג הארץ‬, d.  h. der Horizontlinie. Diese im Alten Testament singuläre Verortung ist ebenfalls vor babylonischem Traditionshintergrund zu verstehen. Wie im Enūma eliš Marduks astraler Repräsentant Nēberu mit der Herrschaft über den Horizont, die entscheidende Schaltstelle des Kosmos, beauftragt ist (vgl. vor allem Ee V + VII), wodurch Marduk seine Königsherrschaft im Himmel wie auf Erden ausübt, so beherrscht JHWH den gesamten Horizontkreis, wodurch ihm universale Macht über die irdischen und himmlischen Mächte und Gewalten zukommt. Jes 40,22a wäre somit der erste vergleichsweise sicher (etwa in die Mitte des 6. Jh. v. Chr.) datierbare alttestamentliche Text, der JHWH explizit im himmlischen Bereich verortet. Wie wird nun die neue Vorstellung von Gottes Wohnort im Ezechielbuch zum Ausdruck gebracht – und wie mit seiner Gegenwart im Tempel verbunden? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich auf einzelne Abschnitte der Himmelsvision in Ez 1,4–28* sowie der beiden Tempelvisionen Ez 8–11* und 40–48* eingehen. Mein Fokus ist ein traditionsgeschichtlicher, aber ich möchte vorausschicken, dass die behandelten Texte meiner Ansicht nach Teil einer umfassenderen Redaktionsschicht sind, die ein älteres Prophetenbuch in nachexilischer Zeit aus der Perspektive der Gola von 597 v. Chr. neu herausgegeben hat. Auf diese redaktionsgeschichtliche Fragestellung werde ich am Ende noch einmal zu sprechen kommen.

5 Vgl. hierzu Koch, Wohnstatt, Kap. IV.

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2.2 JHWHs himmlischer Thron in Ez 1,4–28* In Ez 1–3 erscheint JHWH dem Propheten in seiner himmlischen Thronsphäre bei den Verbannten der babylonischen Deportation von 597 und richtet eine Drohbotschaft (vgl. Ez 2,10) gegen das „Haus der Widerspenstigkeit“ (Ez 2,5 u. ö.) aus. Die Himmelsvision in Ez  1,4–286 ist im Zusammenhang des Berufungsberichts Ez 1–3 als eine gegenüber der Buchrollenvision Ez 2,9–3,9 unabhängige, jüngere Visionsschilderung zu beurteilen. Nicht zuletzt die erheblichen Abweichungen zwischen LXX und MT machen deutlich, dass auch innerhalb von Ez 1,4–28 noch bis in die hellenistische Zeit mit vielfachen Bearbeitungen zu rechnen ist, wobei einerseits Motive aus Ez 10 Eingang gefunden haben (vgl. z.  B. 1,13  f mit 10,2 und 1,23–25 mit 10,5) und andererseits einzelne Verse angelologisch übermalt worden sind (vgl. z.  B. 1,24 MT). Traditionsgeschichtlich betrachtet ist die Himmelsvision ein Mischgebilde. Während vor allem in V. 4 mit der symbolischen Ortsangabe „Zaphon/Norden“ (vgl. Ps 48,3) und dem „Sturmwind“ (vgl. Ps 18,8–16) Vorstellungen der Jerusalemer Tempeltheologie anklingen, sind die V. 5–28* tief in der mesopotamischen Tradition verwurzelt: Viergesichtige, stierfüßige Wesen mit Flügeln (V.  5–11*) tragen eine Platte, die als Basis für den Gottesthron und eine Menschengestalt fungiert (V. 22–28*). Das Bildrepertoire von Ez 1,5–28* ist vielfach untersucht worden. Einigkeit herrscht mittlerweile in der Deutung der vier Lebewesen als mythische Himmelsträger, die in Syrien-Palästina wie in Mesopotamien eine lange Tradition haben.7 Für die folgenden Überlegungen ist aber vor allem die Beschreibung der Dinge oberhalb der Wesen von Bedeutung. Die V. 22–28* lauten in Übersetzung: Und die Gestalt über den Häuptern des Lebewesens (war) eine Platte/Feste wie der Glanz von [furchterregendem] Eis, ausgebreitet oben über ihren Häuptern. (…) (26) Und oberhalb der Platte, die über ihrem Haupte war, (war) wie der Anblick eines Lapislazulisteins die Gestalt eines Throns. Und auf der Gestalt eines Throns (war) eine Gestalt wie der Anblick eines Menschen, oben auf ihm. (27) Und ich sah: Wie der Glanz von Bernstein [, wie der Anblick von Feuer (war) ein Gehäuse um es ringsum] vom Anblick seiner Hüften nach oben, und vom Anblick seiner Hüften nach unten sah ich: Wie der Anblick von Feuer. Und ein Lichtglanz war bei ihm [sc. dem Menschen, CK] ringsum. (28) Wie der Anblick des Bogens, der am Tag des Regens in der Wolke ist, so (war) der Anblick des Lichtglanzes ringsum. Das war der Anblick der Gestalt der Herrlichkeit JHWHs.8

(22)

6 Vgl. zur literarischen Analyse Koch, Wohnstatt, 137–148. 7 Vgl. Othmar Keel, Jahwe-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4, SBS 84/85 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1977), 191–250 (Zusammenfassung: 246–250). 8 Auslassungen in LXX sind in eckige Klammern, mutmaßlich sekundäre Textstellen sind kursiv gesetzt.

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Die Verbindung der vier Himmelsträger mit den weiteren Elementen der Vision – Platte, Thron und Thronender – legt den Vergleich mit einer Komposition nahe, die vielfach auf neuassyrischen und achämenidischen Siegeln bezeugt ist: „Sie zeigt im Wesentlichen zwei Himmelsträger, die die geflügelte Scheibe, d.  h. den Himmel mit dem Sonnengott oder eine solarisierte Hauptgottheit […], hochheben […]. Es handelt sich ursprünglich also um eine Sonnengott-Komposition.“9 Die Beschreibung der Thronherrlichkeit (‫ )כבוד‬oberhalb der Platte erinnert zudem an das zeitgenössische mesopotamische Konzept des melammu, des göttlichen Lichtglanzes.10 Dafür sprechen folgende Gemeinsamkeiten: 1. Der Vergleich „wie Glanz von furchterregendem Eis11“ (‫)כעין הקרח הנורא‬ erinnert an die Verbindung puluḫti melammi („meaning either terror of the melammu or terrifying melammu“12). 2. Sowohl Bernsteinglanz (‫ )כעין חשמל‬als auch Feuer (‫ )כמראה־אש‬sind Elemente, die mit melammu in Verbindung gebracht werden.13 3. Schließlich evoziert die Wendung „Lichtglanz (‫( )ונגה‬war) ringsum [sc. den Thronenden]“ ikonographische Darstellungen des melammu in Verbindung mit einer anthropomorphen Gottheit. „The nogah surrounding the figure consists of a spectrum of light, which forms a sort of halo surrounding the whole figure.“14 9 Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, OLB IV,1 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007), 699. Ez 1 am nächsten kommt eine vielfach für den Vergleich herangezogene (vgl. z.  B. a.a.O., 700, Abb. 469) neuassyrische Siegeldarstellung der Flügelsonne, die zwei (dreidimensional: vier) Stiermenschen zeigt, die eine Platte stützen. In diese Platte ist in Hüfthöhe eine anthropomorphe, geflügelte Gottheit eingebunden. Die Gottheit steht auf einem flachen Podest, welches sich auf einem Pferd befindet, und ist sehr wahrscheinlich mit dem Sonnengott zu identifizieren. 10 Vgl. zu diesem Konzept die eingehende Monographie von Shawn Zelig Aster, The Unbeatable Light. Melammu and Its Biblical Parallels, AOAT 384 (Münster: Ugarit-Verlag, 2012). Aster definiert melammu als „the covering, outer layer, or outward appearance of a person, being, or object, or rays emanating from a person of being, that demonstrate the irreversible or supreme power of that person, being, or object“ (a.a.O., 352). 11 Vgl. zur Übersetzung mit „Eis“ statt mit „Kristall“ (so LXX) Johannes Hausmann, Art. „‫“קרח‬, ThWAT VII, (Stuttgart u.  a.: Kohlhammer, 1993), 175–177, 177: „Angesichts der sonst eindeutigen Verwendung von qæraḥ liegt jedoch keine Veranlassung vor, hier mit ‚Kristall‘ zu übersetzen, denn auch von sauberem, gefrorenem Wasser kann intensiver Glanz ausgehen […].“ 12 Aster, Light, 352. „Puluḫtu refers to the melammu and specifically to its terrifying character.“ (Ebd.). Vgl. a.a.O., 81–85. 13 Vgl. zum Zusammenhang von melammu und Feuer (girru) Aster, Light, 56–59 (mit insbesondere neubabylonischen Belegen), und zum Zusammenhang von Lichtglanz (des Gottes Marduk bzw. seiner Statue) und Bernstein = elmēšu Daniel Bodi, The Book Ezekiel and the Poem of Erra, OBO 104 (Freiburg, Schweiz: Universitäts-Verlag, 1991), 92–94 (vgl. zu Belegen aus dem Erra-Epos auch Aster, Light, 54–56). 14 Aster, Light, 304.

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Insbesondere der letzte Punkt bringt den Visionsabschnitt 1,22–28* wiederum mit der Ikonographie der Flügelsonne15 in Verbindung, ein Motiv, welches vermutlich als bildliche Darstellung des göttlichen melammu fungieren konnte.16 Die Ikonographie der Flügelsonne war zwar ursprünglich fest mit dem Sonnengott verbunden, konnte aber auch mit anderen Hauptgöttern assoziiert werden.17 Aster hat – nach Vorläufern18  – auf die Darstellung des Motivs auf neuassyrischen Reliefs hingewiesen, welche den assyrischen Hauptgott Aššur in einer Sonnenscheibe zeigt.19 Das bislang herangezogene ikonographische Vergleichsmaterial zeigt, dass die Himmelsvision eine komplexe traditionsgeschichtliche Komposition darstellt. Als gemeinsame Schnittmenge der genannten Parallelen ist deren Affinität zur mesopotamischen Sonnengottheit zu nennen. Ohne Analogie ist bei all diesen Bildern die Vorstellung, dass die anthropomorphe Gottheit „über dem Himmel wie über einer Platte [thront]“20. Dies zeigt, dass noch eine andere Tradition prägend war, die der Vision das entscheidende konzeptionelle Profil verliehen hat. Das Himmelskonzept von Ez  1,4–28* weist  – wie schon länger gesehen wurde21  – eine frappante Nähe zu KAR 307 auf,22 einem neuassyrischen Kommentartext, der in einer Privatbibliothek einer Exorzistenfamilie in Assur gefunden worden ist.23 In KAR 307 werden kosmologische Vorstellungen des Enūma

15 Vgl. dazu Martin Klingbeil, Yahweh Fighting from Heaven. God as Warrior and as God of Heaven in the Hebrew Psalter and Ancient Near Eastern Iconography, OBO 169 (Göttingen u.  a.: Vandenhoeck & Ruprecht u.  a., 1999), 196–205. 16 Vgl. zum Zusammenhang von Gott in der Flügelsonne und melammu Aster, Light, 104–106. „It is possible that the artists did not intend the sun-disk to portray melammu. Even if they did not so intend, it is likely that viewers would have connected this imagery with the rhetoric of divine melammu as a tool for ensuring royal victory over enemies known to them form Neo-Assyrian royal inscriptions.“ (a.a.O., 106). 17 Vgl. zur Frage der Identität der Gottheit in der Flügelsonne Aster, Light, 117, der sich van Burens These einer fließenden Identität anschließt: „It originally was associated with Shamash, but came to portray Ninurta later in the first millennium. If we accept Van Buren’s position, we can note the fluid nature of this motif: it can be used to portray a variety of gods, at different times.“ 18 Vgl. etwa Keel, Jahwe-Visionen, 260–263 mit Abbildung 189. 19 „In these reliefs, Aššur is portrayed as battling the enemies, while surrounded by what seems to be a fiery halo.“ (Aster, Light, 105). 20 Keel, Jahwe-Visionen, 272. 21 Vgl. Peter Kingsley, „Ezekiel by the Grand Canal: between Jewish and Babylonian Tradition,“ JRAS 3.2 (1992): 339–346, 341, Anm. 12, mit Verweis auf einen Artikel von Driver von 1951. 22 Text und Übers.: Alasdair Livingstone, Court Poetry and Literary Miscellanea, State Archives of Assyria (SAA) III (Helsinki: University Press), 1989. Nr. 39; vgl. zur Interpretation Wayne Horowitz, Mesopotamian Cosmic Geography (Winona Lake, Indiana: Eisenbrauns, 22011), 3–19. 23 Vgl. SAA III, XIX.

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eliš rezipiert und zugleich transformiert. Dies gilt auch für den hier relevanten Abschnitt über den Aufbau des Kosmos: KAR 307 Z. 30–3324 (30) Der obere Himmel aus luludānītu-Stein ist für Anu. Er ließ die 300 Igigi-Götter darin wohnen. (31) Der mittlere Himmel aus saggilmud-Stein ist für die Igigi-Götter. Bēl saß darin in einem erhabenen Schrein (= Cella oder Tempel) (paramāḫu) (32) auf einem (Thron-)Sockel (parakku) aus uqnû-Stein und ließ eine Lampe (buṣinnu) aus elmēšu-Stein leuchten. (33) Der untere Himmel aus ašpu-Stein ist für die Sterne25. Die Sternbilder der Götter zeichnete er darin ein.

Der hier nur zum Teil wiedergegebene Text beschreibt einen vertikal geschichteten Kosmos, der aus drei Himmelsschichten besteht. Jeder der drei Himmel wird mit einem Stein in Verbindung gebracht. Deren Auswahl entspringt nach Ausweis der Farben (von unten nach oben: transparent, blau, rötlich) sowohl mythischen als auch naturkundlichen Überlegungen. Der Kommentar versteht die drei Himmel offenbar als solide, runde Steinplatten, welche jeweils einem atmosphärischen Zwischenraum als Dach dienen.26 Die Beschreibung des Himmels in Ez 1,4–28* weist deutliche Parallelen zu der in KAR 307 auf. Zwar erscheint der in KAR 307 beschriebene dreistöckige Himmel in Ez 1* dem Gotteskonzept der judäischen Verfasser gemäß reduziert, doch bildet auch in Ez 1,22 eine Platte (‫)רקיע‬27 die Basis für einen Lapislazuli-blauen Thron und die anthropomorph gedachte Gottheit. Wenn diese Platte mit „Glanz von furchterregendem Eis“ (‫ )כעין הקרח הנורא‬verglichen wird, so „evoziert es wohl die Intensität und farbliche Qualität des Glanzes“28. Der durchsichtige, ins bläuliche gehende Charakter von gefrorenem Wasser legt nahe, dass hier die transparente ašpu-Stein-Platte und die blaue saggilmud-Stein-Platte aus KAR 307 zu einer einzigen Platte verschmolzen sind. Somit ergibt sich folgende parallele „Geographie des Himmels“:

24 Übersetzung in Anlehnung an Beate Pongratz-Leisten, Ina Šulmi Īrub. Die kulttopographische und ideologische Programmatik der akītu-Prozession in Babylonien und Assyrien im 1. Jahrtausend v. Chr., BaF 16 (Mainz: von Zabern, 1994), 17. 25 An dieser Stelle ist ein Pluraldeterminativ zu ergänzen, vgl. SAA III 39 Z. 33 („The lower heaven of jasper is of the stars. He drew the constellations of the gods on it.“); vgl. auch Horowitz, Cosmic Geography, 3. Einen anderen Lösungsweg geht Pongratz-Leisten, Programmatik, 17, Anm. 92. 26 Vgl. Horowitz, Cosmic Geography, 9. 27 Vgl. zur Bedeutung des Begriffs ‫ רקיע‬Koch, Wohnstatt, 195–202. 28 Keel, Jahwe-Visionen, 254  f.

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KAR 307 Götterhimmel

Ez 1

luludānītu-Stein    Bernstein-Lampe   Lapislazuli-Thron saggilmud-Stein-Platte

Sternenhimmel

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   Bernstein-Glanz   Lapislazuli-Thron Eis-Platte

ašpu-Stein-Platte

Die Nähe zwischen Ez 1* und KAR 307 spricht für eine traditionsgeschichtliche Abhängigkeit von der in KAR 307 bezeugten Himmelstradition, welche ausweislich des Paralleltextes AO 8196 nicht singulär ist.29 Für eine solche hat sich meines Erachtens zuerst Peter Kingsley ausgesprochen.30 Zu wenig Beachtung gefunden hat meines Erachtens bislang der Umstand, dass in Ez 1 nicht nur im Groben die „Geographie des Himmels“ übernommen, sondern auch die solare Interpretation des im Himmel thronenden Hauptgottes rezipiert und auf JHWH übertragen worden ist. Dafür sind die Z. 31  f noch einmal näher in den Blick zu nehmen: Der mittlere Himmel aus saggilmud-Stein ist für die Igigi-Götter. Bēl saß darin in einem erhabenen Schrein (= Cella oder Tempel) (paramāḫu) auf einem (Thron-)Sockel (parakku) aus uqnû-Stein und ließ eine Lampe (buṣinnu) aus elmēšu-Stein leuchten. (KAR 307, Z. 31  f )31

29 Mit KAR 307 und AO 8196 ist die Tradition in zwei zeitlich und gattungsmäßig unterschiedlichen Texten bezeugt: „The presentation of lists of cosmic regions in both KAR 307 (a mysticalreligious text) and AO 8196 (an astronomical-astrological text) demonstrates that the beliefs expressed in the lists were part of both the general religious traditions of Mesopotamia and the tenets of Mesopotamian astronomy and astrology.“ (Horowitz, Cosmic Geography, 8). 30 Kingsley, Ezekiel, 342: „The parallel between Ezekiel’s vision and the imagery in the Babylonian text is remarkable. In both cases the Lord is seated on his throne above the lowest heaven, or heaven of the stars; the throne is made of lapis lazuli, and illuminated by the gleam of amber. Beyond every reasonable possibility of doubt the parallel is far too exact just to be a coincidence, and there can be no question of the Babylonian version deriving from the Jewish.“ Vgl. auch Friedhelm Hartenstein, „Wolkendunkel und Himmelsfeste. Zur Genese und Kosmologie der Vorstellung vom himmlischen Heiligtum JHWHs,“ in: Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, hg. v. Beate Ego/Bernd Janowski, FAT 32 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), 125–179, 142: „Die Beschreibung in Ez 1 (und in Ex 24,10) ist m.  E. kaum anders denn als Aufnahme dieses Konzepts [sc. des in KAR 307 bezeugten, CK] und als Auseinandersetzung mit ihm verständlich.“ 31 Übersetzung in Anlehnung an Pongratz-Leisten, Programmatik, 17.

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Deutlich ist: Bēl-Marduk thront/sitzt (wašābu) im (mittleren) Himmel in einem Tempelschrein (paramāḫu). Bei dem neben paramāḫu gebrauchten tempeltheologischen Begriff parakku dürfte es sich um einen Gegenstand im Inneren der Cella handeln, vermutlich um den (Thron-)Sockel (vgl. AHw  II, 828). Dieses Podest ist aus Lapislazuli-Stein (uqnû, vgl. AHw III, 1426). Z. 32 ist schwer verständlich. Aber wahrscheinlich ist sie dahingehend zu interpretieren, dass Marduk in seiner himmlischen Cella eine Lampe (buṣinnu) aus elmešu-Stein leuchten lässt (namāru).32 Betrachtet man nun die Terminologie von Z. 32 näher, so zeigt sich, dass der thronende Marduk hier deutlich astrale bzw. solare Züge trägt. Bereits im Enūma eliš ist Marduk im Zuge seiner Erhöhung zum Götterkönig astralisiert und mit dem Sonnengott identifiziert worden. So gilt er gemäß Ee I 101  f als „Māri-Utu, Māri-Utu, Sohn der Sonne, Sonne der Gött[er]“33 (vgl. VI 127  f ), der wie der Sonnengott Šamaš den Himmel durchschreitet (ebēru) (Ee IV 141; VII 128). Diese Identifikation begegnet auch in KAR 307, wo es in Z. 5 heißt: „Der inmitten von Šamaš ist Marduk.“34 Auch die Beschreibung von Marduks himmlischem Thronen in Z.  32 greift diese Vorstellung auf. Zunächst, indem Marduk wie Šamaš metaphorisch als Lichtquelle (buṣinnu) dargestellt wird: Er lässt eine Lampe (buṣinnu) leuchten (namāru). Das dabei verwendete Verb namāru begegnet u.  a. in den Šamaš-Epitheta mušnamir ukli „der die Dunkelheit hell macht“ und mušnamir erṣeti raqašti „der die weite Erde hell macht“35.36 Ferner ist das Lexem in einem Abschnitt im Enūma eliš belegt, in dem Marduk als „Sohn von Šamaš“ und „der Strahlende der Götter“ (Ee VI 127; vgl. VI 155: Namru als Name Marduks) apostrophiert wird:

32 Emendation nach CAD E, 107: „he (Marduk) took his seat in a chamber of lapis lazuli, he lit the lamp (made of) e.-stone“; so auch Livingstone in SAA III 39, 100 (Marduk „has made a lamp of electrum shine there“.) und Horowitz, Cosmic Geography, 4 („He made a lamp? of electrum shine inside.“). 33 Thomas R. Kämmerer und Kai A. Metzler (Hgg.), Das babylonische Weltschöpfungsepos Enūma eliš, AOAT 375 (Münster: Ugarit-Verlag, 2012), 135. 34 Text und Übers.: SAA III 39. 35 Großer Šamaš-Hymnus, Z. 176  f; Übers.: Karl Hecker, Akkadische Hymnen und Gebete, in: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge 7 (TUAT.NF 7), hg. v. Bernd Janowski und Daniel Schwemer (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2013), 51–98, 72; Text und weitere Belege: CAD N I, 218 (s.  v. 9a). Dieses Motiv wird in der zweiten Tempelvision in Jes 43,2b noch einmal begegnen: Die Erde erstrahlt/leuchtet von JHWHs Herrlichkeit (vgl. auch Gen 1,15.17). 36 Die Metapher der Lichtquelle ist charakteristisch für den Sonnengott. Sie steht wohl auch im Hintergrund des Verbs napāḫu, das in mesopotamischen Texten häufig den Sonnenaufgang, das Aufstrahlen des Sonnengottes Šamaš zum Ausdruck bringt; vgl. CAD N I, 263 und zur Bedeutung des Verbs vor allem Wolfgang Heimpel, „The Sun at Night and the Doors of Heaven in Babylonian Texts,“ JCS 38 (1986): 127–151, 142.

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„In seinem glänzenden Licht (nūrīšu namru) mögen sie [die Menschen] beständig umherwandeln.“ (Ee VI 128)37

Wendet man sich nun wieder Ez 1* zu, so ist es vor allem die Beschreibung des Thronenden in ihrem räumlich-symbolischen Kontext, die beide Texte miteinander verbindet. Nach V. 26 befindet sich oberhalb der Platte die Gestalt eines Throns „wie der Anblick eines Lapislazuli (‫“)אבן־ספיר‬38 und auf dieser „eine Gestalt wie der Anblick eines Menschen (‫“)אדם‬39. Nach V. 27 war der Thronende oberhalb der Hüfte „wie der Glanz von Bernstein (‫)חשמל‬40“. Wie eine Korrektur wirkt in V. 28 die Feststellung, dass es sich bei alldem lediglich um den „Anblick der Gestalt der Herrlichkeit JHWHs“ gehandelt hat.41 Aber unbeschadet dessen wird JHWH in 1,22–27* in den Grundlinien ganz nach dem Vorbild des anthropomorph thronenden Bēl-Marduk dargestellt. Dem entspricht, dass JHWH in Ez 1,22–27* wie Marduk in KAR 307 mit astralen und solaren Bezügen belegt ist. Diese Bezüge sind für Ez 1* zum einen anhand der Nähe zur Ikonographie der Flügelsonne feststellbar. Zum anderen ergeben sie sich durch die Verwendung des Begriffs ‫נגה‬ „Glanz, heller Schein“, der als Leitwort die Himmelsvision (1,[4.13.]27.28) mit der ersten Tempelvision verbindet (10,4). ‫ נגה‬begegnet im Alten Testament vorwiegend in zwei Funktionen: Zum einen steht es in Opposition zu Begriffen für Finsternis (Jes 9,1 [‫ ;]חשך‬50,10 [‫ ;]חשכה‬59,9 [‫ ;]אפלה ;חשך‬60,1–3 [‫ ;]ערפל ;חשך‬Am 5,20 [‫)]אפל ;חשך‬, zum anderen sind astrale Konnotationen unverkennbar (II Sam 23,4 [Sonne]; Jes 60,3.19 [Mond]; Joel 2,10; 4,15 [Sterne]; vgl. Jes 13,10; Prov 4,18).42 Die astralen bzw. solaren Konnotationen bestätigen sich auch an einem außerbiblischen Beleg auf der Wandinschrift vom Tell Deir ʿAlla (ca. 800 v. Chr.), wo es in einer Rede der Götter an die Sonnengöttin heißt:

37 Übers.: Kämmerer/Metzler, Weltschöpfungsepos, 272. 38 Vgl. zur Identifikation mit Lapislazuli und zum Traditionshintergrund des Steins Keel, JahweVisionen, 255–260. 39 Nach Hartenstein, Wolkendunkel, 144, wird von der Gottesgestalt, „offenbar in bewußter Vermeidung eines zu deutlichen Anthropomorphismus, gerade nicht gesagt […], daß sie dort ‚thront‘ (der Terminus technicus ‫יׁשב‬, wie etwa in Jes 6,1, fehlt; vgl. dagegen ušib in KAR 307, 32)“. 40 Vgl. zur Identifikation mit Bernstein Kingsley, Ezekiel, 339–340. 41 Vgl. Hartenstein, Wolkendunkel, 144: „Nicht Gottes Königsgestalt selbst, sondern seine ‚Thronherrlichkeit‘, sein Lichtglanz (‫ כבוד‬V. 28), wird hier in bewußter Korrektur der mesopotamischen Tradition im Himmelsinneren gesehen.“ Die sogleich korrigierte anthropomorphe Darstellung JHWHs ist m.  E. ein deutlicher Hinweis auf den babylonischen Traditionshintergrund, der sich durch den Vergleich mit der Ikonographie der Flügelsonne und KAR 307 gut erschließt. 42 Vgl. zur Traditionsgeschichte des Begriffs Thomas Podella, Das Lichtkleid JHWHs. Untersuchungen zur Gestalthaftigkeit Gottes im Alten Testament und seiner altorientalischen Umwelt, FAT 15 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1996), 206–209, bes. 206, Anm. 211.

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„Du wirst die Schleusen(riegel) des Himmels mit deinem Gewölk verstopfen. Dort sei Finsternis (‫)חשך‬, und nicht Glanz (‫)נגה‬, Dunkelheit (‫)עטם‬, und nic[ht] dein Strahlen (‫!)סמרכי‬ Du wirst Schrecken bewirken [durch -----] Finsternis. Aber grolle nicht für immer.“43

„Glanz“ (‫ )נגה‬steht hier wie in vielen Fällen im Alten Testament in Opposition zu Finsternis (‫ )חשך‬und ist zugleich eine Wirkung der Sonnengöttin, die in diesem Gerichtskontext allerdings außer Kraft gesetzt ist. Dieser Traditionshintergrund ist auch für die Belege in Ez 1,27  f und 10,4 in Rechnung zu stellen. In Ez 1,27* umgibt der Glanz (‫ )נגה‬den Thronenden wie ein Nimbus; nach V. 28 gleicht dieser Glanz den „im Sonnenlicht sich bildenden Spektralfarben“44 des Regenbogens. Dazu fügt sich die Beschreibung des Thronenden in V. 27*, die oberhalb der Hüfte mit Bernstein und unterhalb der Hüfte mit Feuer verglichen wird.45 Die neue Vorstellung von JHWHs Wohnort in Ez 1, sein Sonnengott-ähnliches Thronen auf der Himmelsplatte, hat von ihrem babylonischen Traditionshintergrund und der dort vorweggenommenen Solarisierung Marduks ihre entscheidende Vorgabe bekommen. Auf diese Weise war JHWH – wie es der vermutlich jüngere Vers Ez  11,16 zum Ausdruck bringt  – den Verbannten „ein wenig / für kurze Zeit zum Heiligtum geworden in den Ländern, in die sie gekommen sind“. JHWHs Verortung im Himmel bedeutet mithin eine Entgrenzung seiner Präsenz und eine Erweiterung seiner Macht.

43 Kombination I, Z. 6  f. Textrekonstruktion und Übersetzung: Erhard Blum, „Die Kombination I der Wandinschrift vom Tell Deir ʿAlla. Vorschläge zur Rekonstruktion mit historisch-kritischen Anmerkungen, in: Berührungspunkte. Studien zur Sozial- und Religionsgeschichte Israels und seiner Umwelt, FS R. Albertz, hg. v. Ingo Kottsieper et al., AOAT 350 (Münster: Ugarit-Verlag, 2008), 573–601, 577. 44 Podella, Lichtkleid, 202 (im Original kursiv). „Der Thronende ist also von verschiedenfarbigem Licht umgeben.“ (Ebd.). 45 Podella, Lichtkleid, 202. „Ein goldfarben bzw. rötlich-gelber Lichtschein geht von der Figur auf dem Thron aus. Das ganze Phänomen ließe sich zusammenfassend so beschreiben: Auf einem Lapislazulithron im Himmel erscheint ein menschengestaltiger Königsgott, von dem sonnen- und feuerartiger, d.  h. gelblich-roter Lichtschein ausgeht, während der Thron und die Figur des Thronenden von buntfarbigen Lichtstrahlen umhüllt werden.“

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2.3 JHWHs Abwendung vom Tempel und seine Rückkehr in Ez 8–11* und 43* Weder Deuterojesaja noch das Ezechielbuch haben sich mit der himmlischen Verortung JHWHs zufriedengegeben. Um seine irdische bzw. kultische Präsenz für die Zukunft sicherzustellen, haben die Verfasser das mesopotamische Konzept des Auszugs und der Rückkehr der Gottheit zu ihrem Wohntempel aufgegriffen und der eigenen Tradition angepasst. Dabei ist auch die in Ez 1 deutlich gewordene Tendenz der Solarisierung JHWHs eingeflossen. Das aufgenommene Konzept, das erklären soll, wie die Zerstörung der irdischen Wohnstatt JHWHs möglich war, weist im Alten Orient das folgende zweiteilige Schema auf:46 Erster Teil: A) Zorn und Abwendung der Gottheit von ihrem Wohnsitz B) Negative Folgen für Tempel, Stadt und Land: Eroberung des Landes, Zerstörung der Heiligtümer, Deportation der Kultbilder … Zweiter Teil: A) (Erbarmen und) Wiederzuwendung der Gottheit zu ihrem Wohnsitz B) Erwählung eines guten Königs und sichtbare Rückkehr der Gottheit in Gestalt des Kultbildes unter dem Jubel der Bevölkerung in das Heiligtum; positive Folgen für Stadt und Land

Wie rezipiert das Ezechielbuch dieses Konzept? Dazu soll zunächst ein Blick auf Ez 8–11, die erste Tempelvision, erfolgen. Nach der überzeugenden Rekonstruktion von Frank-Lothar Hossfeld47 gliedert sich der ursprüngliche Visionsbericht in zwei Teile mit jeweils vier Etappen: Der erste Teil zeigt in vier Szenen die Verschuldung Israels auf (Kap. 8), der zweite Teil beschreibt in vier Phasen das Gericht JHWHs und den Auszug seiner Herrlichkeit vom Kerubenthron bis zum Ölberg (Kap. 9–11).48 Von Interesse sind hier vor allem diejenigen Passagen der Grund-

46 Im Anschluss an Christina Ehring, Die Rückkehr JHWHs, 155  f, und Friedhelm Hartenstein, Das Archiv des verborgenen Gottes. Studien zur Unheilsprophetie Jesajas und zur Zionstheologie der Psalmen in assyrischer Zeit, BThS 74 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2011), 114. 47 Vgl. Frank-Lothar Hossfeld, Die Tempelvision Ez 8–11 im Licht unterschiedlicher methodischer Zugänge, in: Ezekiel and his Book. Textual and Literary Criticism and their Interrelation, hg. v. Johan Lust, BEThL 74 (Leuven: University Press, 1986), 151–165. 48 „Der Prophet wird in vier Etappen von Nord nach Süd in das Zentrum des Tempelbereichs geführt (8,3 mit dem Standort am Eingang zum Nordtor der Stadtmauer; 8,7 Eingang des Vorhofes; 8,14 Eingang des Nordtores am Innenhof; 8,16 Innenhof des Tempels). Dieser Nord-SüdBewegung des Propheten entsprechen die vier Etappen der West-Ost-Bewegung der Herrlichkeit JHWHs (vom Kerubenthron im Allerheiligsten zur Tempelschwelle 10,4; von der Tempelschwelle zum Osttor des Tempelhofes 10,18a.19b; vom Osttor, mitten aus der Stadt, zum Ölberg 11,23).“ (Hossfeld, Tempelvision, 153).

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schicht, die JHWHs Abwendung von Tempel und Stadt schildern (entsprechend Teil 1 A des Schemas). Ez 10,4 lautet: Da erhob sich (‫ )רום‬die Herrlichkeit JHWHs vom Keruben (LXX: pl.)49 auf (‫ )על‬die Schwelle (‫)מפתן‬50 des Hauses. Und das Haus wurde erfüllt mit der (!) Wolke (‫)הענן‬, der Vorhof aber war erfüllt mit dem Lichtglanz (‫ )נגה‬der Herrlichkeit JHWHs.

Die Schilderung der Abwendung JHWHs ist über die Leitworte „Wolke“ (‫הענן‬, in 10,4 determiniert!) und „Glanz“ (‫ )נגה‬mit dem Grundbestand von Ez 1,4–28 verbunden. Beide Begriffe verknüpfen nicht nur die erste Tempelvision mit der Himmelsvision, sondern darüber hinaus (wenigstens implizit) über das Fülle-Motiv auch die erste mit der zweiten Tempelvision (vgl. Ez 43,5).

Verknüpfung der Visionen mit Hilfe der Leitwörter ‫ ענן‬und ‫נגה‬ Wolke (‫)ענן‬

Glanz (‫)נגה‬

1,4

Eine „große Wolke“ kommt vom Zaphon

1,27f

10,4

Die (!) Wolke erfüllt den Tempel,

10,4

43,5

Die Herrlichkeit JHWHs erfüllt den Tempel

43,2

Der Lichtglanz umgibt den Thronenden, er leuchtet wie der Regenbogen = Herrlichkeit JHWHs Der Lichtglanz der Herrlichkeit JHWHs erfüllt den Vorhof Die Herrlichkeit des Gottes Israels macht die Erde leuchten

Hartenstein hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Wolke in der ersten Tempelvision eine ganz andere Bedeutung hat als etwa in der Priesterschrift (vgl. zur Wolke in P Ex 16,10; 24,15a–18aα*; 40,34  f ): „Offenbar ist ‫ ענן‬in Ez 10,4 nicht wie in der Priesterschrift als Begleiterscheinung der positiven Anwesenheit Gottes, sondern vielmehr als ein Zeichen seiner sich unheilvoll einstellenden Abwesenheit zu verstehen: Statt der sich nach Osten hin von Tempel und Stadt entfernenden ‚Herrlichkeit‘ bleibt nur ein undurchdringliches Wolkendunkel im Heiligtum

49 Vgl. Hossfeld, Tempelvision, 161: „Im ezechielischen Grundtext wird der normale Plural für die salomonischen Keruben gegolten haben.“ 50 Vgl. Keel, Jahwe-Visionen, 129, Anm. 4, sowie Wolfgang Zwickel, ‫ סף‬II und ‫מפתן‬, BN 70 (1993), 25–27, 27, nach dem ‫ מפתן‬konkret „den Innenbereich des Schwellensteins“ (Ebd.) bezeichnet. „Wenn die Herrlichkeit Jahwes sich auf die innere Schwellenhälfte begibt (Ez 9,3; 10,4; vgl. 10,18) so bleibt sie noch immer im Heiligtum. Sie begibt sich nur unmittelbar an den Eingang des Tempels, verläßt diesen aber nicht.“ (Ebd.).

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zurück, wie man hier wohl paraphrasieren kann (der Parallelismus: ‚Haus‘ – ‚Vorhof‘ // ‚Wolke‘ – ‚Glanz‘, legt für den Tempel die Assoziation von Dunkelheit nahe).“51

Diese Einschätzung bestätigt sich an Ez 1,4. Schon dort hat die Wolke in Verbindung mit den übrigen Theophanie-Elementen wie dem „Sturmwind“ (‫)רוח סערה‬ durchaus bedrohliche Konnotationen.52 So gesehen, deutet sich über das Wolkenmotiv in 1,4 schon JHWHs Gericht über Jerusalem und den Tempel an, das sich in 10,4 zu verwirklichen beginnt. Ist die Wolke als Zeichen der Abwesenheit zu deuten, so umgekehrt der Lichtglanz (‫)נגה‬, mit dem sich der Vorhof gefüllt hat, als Zeichen der göttlichen Gegenwart. Nach Ez 10,4 schildern 10,18a.19b* und 11,23 den weiteren Auszug der Herrlichkeit JHWHs aus dem Tempel zum Berg östlich der Stadt. (10,18a) Da zog die Herrlichkeit JHWHs aus dem Haus [weg von der Schwelle]53 […]. (19b*) […] Und sie [m. Sg.: die Herrlichkeit JHWHs] blieb stehen (am) Eingang des östlichen Tores des Hauses JHWHs […]. (11,23) Da stieg die Herrlichkeit JHWHs auf (‫ )עלה‬aus der Mitte der Stadt. Und sie blieb stehen über/auf dem Berg, der östlich der Stadt (war).

Wie in Ez 1,4 das Wort ‫„ צפון‬Zaphon/Norden“ keine bloße Richtungsangabe darstellt, so auch hier die Notiz über das Entschwinden der Herrlichkeit JHWHs gen Osten auf den Berg. ‫„ קדם‬Osten“ ist dem mythischen Raumverständnis gemäß der Ort der aufgehenden Sonne, mit dem sich im Alten Orient zahlreiche mythologische Vorstellungen verbinden. Desgleichen dürfte bei dem Verweis auf den „Berg“ (‫ )הר‬vor dem Hintergrund der Gottesbergvorstellung (vgl. Ex 24,16 P, und zu Jerusalem als Gottesberg Ez 43,7a, s.  u.) mehr mitschwingen, als ein bloß topographischer Bezug auf den Ölberg. Der Sinn dieser Angaben wird sich erst von 43,1–9* her erschließen, dem Abschnitt, der im Zusammenhang der zweiten Tempelvision Ez 40–48* JHWHs Rückkehr zu seiner Stadt und seinem Tempel schildert (entsprechend Teil 2 B des Schemas).

51 Hartenstein, Unzugänglichkeit, 141. „[…] Ez 10,4 scheint […] ‚Herrlichkeit‘ und ‚Wolke‘ als einander ausschließende Größen zu verstehen. Sie dienen hier zur Markierung seiner Zugänglichkeit (‫ )כבוד‬bzw. seiner Unzugänglichkeit im Heiligtum (‫)ענן‬.“ (a.a.O., 143). Vgl. zum Traditionshintergrund a.a.O., 140–144. Nach Hartenstein verweist Ez 10,4 „auf eine mögliche Wirkungsgeschichte der Jesajavision“ (a.a.O., 149); in Jes 6,4b ist es der Rauch, der den Tempel unzugänglich macht. Zu 1 Kön 8,10f* als von P abhängige Fortschreibung des Tempelweihspruchs 8,12  f vgl. Hartenstein, Unzugänglichkeit, 144–146. 52 So erscheinen „Wolken“ etwa in Ps 18,13 als Waffe des kämpfenden Wettergottes, wobei das Wort dort ebenfalls in Opposition zu JHWHs Lichtglanz (‫ )נגה‬steht. 53 Möglicherweise eine Hinzufügung, vgl. LXX.

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Die zwei jüngeren Monographien zum so genannten Verfassungsentwurf Ez 40–48 von Thilo Alexander Rudnig und Michael Konkel stimmen darin überein, dass die Vision in einem mehrstufigen Redaktionsprozess entstanden ist und die Grundschicht in Ez 43 mit der Rückkehr der Herrlichkeit JHWHs in den Tempel ihren (bei Rudnig vorläufigen) Höhepunkt gefunden hat.54 Der weitgehend einheitliche55 Abschnitt Ez  43,1–9* besteht aus einem Visionsteil, der die Rückkehr der Herrlichkeit JHWHs in den Tempel schildert (V. 1–6*), und einer JHWH-Rede56, in der die Verheißung der göttlichen Gegenwart im Tempel „inmitten der Israeliten“ das Ziel darstellt (V. 7–957). Ez 43,1–9* schildern als Gegenstück zu Ez 8–11* JHWHs Rückkehr in seinen Wohntempel, wobei dieser deutlich in den Zügen eines Sonnengottes gezeichnet wird: (1) Und er führte mich zu dem Tor, dem Tor58, das nach Osten weist. (2) Und siehe, die Herrlichkeit des Gottes Israels (‫ )כבוד אלהי ישראל‬kam von Osten, und ihr Rauschen (war) wie das Rauschen großer Wasser59 und die Erde/das Land (‫ )הארץ‬leuchtete/erstrahlte (‫ אור‬hi.) von seiner Herrlichkeit. (3) […]60 Und ich fiel auf mein Angesicht. (4) Und die Herrlichkeit JHWHs kam in das Haus durch das Tor, das mit seiner Front nach Osten (weist). (5) Und ein Wind (‫ )רוח‬hob mich empor und brachte mich zum inneren Vorhof.61 Und siehe, die Herrlichkeit

54 Vgl. zur Forschungsgeschichte Karl-Friedrich Pohlmann, Ezechiel. Der Stand der theologischen Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008), 130–144. 55 Mit Michael Konkel, Architektonik des Heiligen. Studien zur zweiten Tempelvision Ezechiels (Ez 40–48), BBB 129 (Berlin und Wien: Philo, 2001), 80–82. 56 „Es wird nicht explizit gesagt, daß es der Kabod ist, der zum Propheten spricht, sondern indirekt wird klargestellt, daß es nur der Kabod sein kann, der das Wort an den Propheten richtet (vgl. 1,28b; 2,1–3).“ (Konkel, Architektonik, 77). 57 Die Rede reicht eigentlich bis V. 12 (vgl. zum sekundären Charakter von V. 11  f Konkel, Architektonik, 81  f ). Nach Konkel bildet V. 10 (als Gegenstück zu 40,4) den Schlussvers der ursprünglichen Tempelvision (a.a.O., 80  f ). Doch dagegen spricht, dass die Aufforderung zur Vermessung des Tempels nach einer Fortsetzung verlangt, so dass auch dieser Vers sekundär sein dürfte; vgl. Thilo A. Rudnig, Rezension zu Michael Konkel, Architektonik des Heiligen. Studien zur zweiten Tempelvision Ezechiels (Ez 40–48), BBB 129, Berlin/Wien 2001, ZAR 8 (2002), 384–389, 387. 58 Vgl. zur Ursprünglichkeit des MT mit dem emphatisch verdoppelten ‫ שער‬Konkel, Architektonik, 71  f. 59 V. 2bα dürfte eine nachträgliche Angleichung an die vorangehenden Visionen sein (vgl. 1,24). Das Motiv war schon in 1,24 nachgetragen, ist dort mit den Flügeln der Wesen verbunden, die in 43,1–9* keine Rolle spielen. Traditionsgeschichtlich gehört das Motiv auch nicht zu einer JHWHTheophanie, sondern umschreibt mehrfach das gegen JHWH andringende Chaos (vgl. Ps 29,3; 93,4; Jer 17,12). 60 V. 3a dürfte eine nachträgliche buchübergreifende Verzahnung der Visionen darstellen (vgl. auch 3,23a und 8,4), vgl. Konkel, Architektonik, 80. 61 Vgl. zu diesem Motiv noch 2,2; 3,12.14; 8,3; 11,1.24: davon sind 8,3 und 11,24 vermutlich ursprünglich.

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JHWHs hatte das Haus erfüllt (‫)מלא‬. (6) Und ich hörte einen (mit sich)62 zu mir reden aus dem Haus heraus, und der Mann63 stand neben mir.

Hatte sich schon in 10,4bβ die göttliche Gegenwart außerhalb des Tempels mit dem Lichtglanz der Herrlichkeit JHWHs verbunden (‫ ;נגה כבוד יהוה‬vgl. 1,27  f ), so wird dieses Motiv in 43,2bβ im Zusammenhang der Rückkehr JHWHs wieder aufgegriffen und dabei noch ausgeweitet: Die Herrlichkeit JHWHs (‫ )כבודו‬macht, dass die ganze Erde erstrahlt (‫ אור‬hi.). Die Vorstellung, dass JHWHs Herrlichkeit eine solch universale Wirkung erzielt, dürfte zunächst einen Topos der Jerusalemer Tempeltheologie spiegeln, der JHWHs universalen Herrschaftsanspruch zum Ausdruck bringt.64 Dieser Topos wird allerdings in 43,2bβ in ganz bestimmter Weise ausgedeutet. Das Besondere sind die durch die Lichtmetaphorik gegebenen solaren Konnotationen. Die Herrlichkeit wird nicht als „Fülle“ (‫( )מלא‬vgl. Jes 6,3) bezeichnet, sie „offenbart“ bzw. „entblößt“ (‫ )גלה‬sich auch nicht (vgl. Jes 40,5); stattdessen wird durch die Wortwahl an die solare Metaphorik in 1,27  f angeknüpft. Das Verb ‫„( אור‬hell sein/werden“; im hi. „erstrahlen“) ist im Alten Testament u.  a. mit dem Hell-Werden am Morgen (z.  B. Gen 44,3) oder dem Leuchten der Himmelskörper (Gen 1,15.17) verbunden. Das Nomen ‫„ אור‬Licht“ beschreibt – neben verwandten Begriffen65 – in Theophanieschilderungen das Kommen JHWHs nach Art des Sonnengottes, etwa in Hab 3 (vgl. Dtn 33,2; Jes 60,1)66: „3a Gott kommt von Teman, der Heilige vom Gebirge Paran. Sela.

62 Zur Deutung des hitp. vgl. Sedlmeier, NSK 21/2, 295. 63 Vgl. App. BHS und Ez 40,4. Nach Konkel, Architektonik, 73, wird der Mann durch den fehlenden Artikel mit Absicht „unbestimmt in den Hintergrund versetzt“. 64 Als zwei Beispiele aus dem Bereich der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie seien nur Jes 6,3 („Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaoth, die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit.“) und Ps 24,1  f („JHWH gehören die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und die darauf wohnen.“) genannt. 65 Vgl. zu den bedeutungsverwandten Vokabeln Magne Sæbø, Art. „‫אור‬,“ THAT I (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 51994), 84–90, 87  f. 66 Vgl. zu Dtn 33,2 und Hab 3,4 Martin Leuenberger, Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im alten Israel, FAT 76, (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 50  f. „Der ursprüngliche Wettergott Jhwh erhält – nach dem Ausgeführten am ehesten wohl in der mittleren Königszeit – sonnenhafte Züge und manifestiert sich nach Art der Sonnengottheiten.“ (a.a.O., 51). Vgl. zu den Belegen auch Juliane Kutter, nūr ilī. Die Sonnengottheiten in den nordwestsemitischen Religionen von der Spätbronzezeit bis zur vorrömischen Zeit, AOAT 346 (Münster: Ugarit-Verlag, 2008), 380–385, die für eine Spätdatierung der Texte ins 4./3. Jh. plädiert (a.a.O., 383  f ).

224  3b 4a 4b

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Seine Hoheit (‫ )הוד‬bedeckt den Himmel und sein Glanz (‫ )תהלה‬füllt die Erde. Und ein Leuchten (‫ )נגה‬wie das (Sonnen-)Licht (‫ )אור‬erscheint, Strahlen (gehen aus) von seiner Hand, und da(rin) ist die Verhüllung seiner Stärke.“67

Öffnet man den Blick über das Alte Testament hinaus, so ist es eben vor allem der Sonnengott, der die Erde mit seinem „Lichtglanz“ bedeckt68: „(174) Welche Berge denn sind nicht mit deinen Strahlen bekleidet, (175) welche Weltufer denn werden nicht erwärmt von den Strahlen deines Lichts? (176) Der die Finsternis leuchten läßt, die Dunkelheit erhellt, (177) der die Finsternis öffnet, die weite Erde erhellt, (178) der den Tag hell macht, mittags Hitze auf die Erde herabsteigen läßt, (179) der die weite Erde wie eine Flamme versengt, (180) der die Tage verkürzt, die Nächte verlängert, (181) der Kälte, Frost, Eis (und) Schnee [entstehen läßt], (182) [der das T]or [aufmacht], den Riegel des Himmels (und) die Türen der Wohnstätten weit öffnet …“69

Die solaren Konnotationen von Ez 43,1–9* gewinnen noch deutlicher an Profil, wenn V. 2a mit einbezogen wird. In Anlehnung an JHWHs Kommen (‫ )בוא‬von Norden/Zaphon in Ez 1,4 wird JHWHs70 Kommen (‫ )בוא‬aus Richtung „Osten“, dem Ort des Sonnenaufgangs, der Kontaktzone von Himmel und Erde, geschildert.71 Hier wird – wie Konkel richtig gesehen hat – nicht weniger als JHWHs Epiphanie als Sonne beschrieben.72

67 Übers.: Lothar Perlitt, Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, ATD 25/1, (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004), 85. 68 Vgl. zum Traditionshintergrund auch Hartenstein, Unzugänglichkeit, 69–76. 69 Der große Šamaš-Hymnus, Z. 174–182; Übers.: Hecker, TUAT.NF 7, 72. Die Vorstellung kann mit dem Konzept des melammu verbunden sein: „(11) Dein Schreckensglanz sucht immer wieder […], (12) die vier Weltufer [setzt du] wie Gir[ra in Brand].“ (Ebd.); vgl. dazu Aster, Light, 73: „The sun’s radiance is here seen as a manifestation of the melammu of Shamash only because the hymn speaks of the power of Shamash and his supremacy. Sunshine is seen as a visual demonstration of his power and supremacy.“ 70 Das feierliche Epitheton „Gott Israels“ (‫ )אלהי ישראל‬ist in 43,2a keineswegs ein Indiz für eine Bearbeitung, sondern bewusst im Hinblick auf 43,7–9 gewählt: Nach seiner Rückkehr nach Jeru­ salem und in den Tempel ist der Israelbezug für JHWH konstitutiv; weil JHWH für immer „inmitten der Israeliten“ wohnen will (43,7.9), ist er der „Gott Israels“. 71 Vgl. zu den vielfältigen Bedeutungen, die sich im Alten Orient mit dem Osthorizont verbinden, Koch, Wohnstatt, 108–113. 72 Vgl. Konkel, Architektonik, 264: „Wenn […] in Ez 43,2 vom Erstrahlen des Landes durch den von Osten kommenden Kabod die Rede ist, dann ist dies als Sonnenaufgang vorzustellen […].

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„Der Kabod kehrt im Stile des Sonnengottes und nicht des Wettergottes in sein Heiligtum zurück: Der Anbruch des Tages symbolisiert JHWHs Sieg über die Mächte der Finsternis. Die Rückkehr JHWHs in sein Heiligtum konnotiert auf diese Weise Rettung für Israel.“73

Von Ez 43,1–9* erschließt sich im Nachhinein JHWHs Auszug gen Osten in der ersten Tempelvision (10,19b*; 11,23). Noch wichtiger ist allerdings ein weiterer Bezug, der meines Wissens bislang unterschätzt und in seinen Konsequenzen nicht bedacht worden ist: Die solare Deutung JHWHs verbindet die zweite Tempelvision mit der Himmelsvision. Denn schon dort wird diese Transformation des Gotteskonzepts vorbereitet, indem JHWH sich von einem vom Zion-Zaphon kommenden und von Sturm- und Gewitterphänomenen begleiteten Wettergott (1,4) zu einem im Himmel thronenden und von einem Lichtglanz umgebenen Sonnengott wandelt (1,26–28*). Die Schilderung von JHWHs Rückkehr nach Art des Sonnengottes in Ez 43,1–9* ist somit nicht zu trennen von der Darstellung seiner himmlischen Thronsphäre in Ez 1*. Die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die Redaktionsgeschichte ergeben, soll am Ende noch einmal aufgegriffen werden. Auf die Schilderung der Rückkehr JHWHs folgt in Ez 43,7–9 eine die Vision und vermutlich eine vorläufige Gestalt des Ezechielbuches abschließende Gottesrede. V. 7 formuliert die entscheidende Verheißung: Und er sprach zu mir: Menschensohn, (siehe)74 den Ort meines Thrones (‫ )מקום כסאי‬und den Ort meiner Fußsohlen (‫)מקום כפות רגלי‬, wo ich wohnen werde (‫ )שכן‬inmitten der Israeliten (‫ )בתוך בני־ישראל‬für immer.

(7)

Was die Verheißung der bleibenden Gegenwart JHWHs betrifft, die die Einheit eröffnet und beschließt und damit als den eigentlichen Zielpunkt markiert, so ist sowohl eine Anlehnung an die vorexilische Jerusalemer Tempeltheologie als auch eine Transformation derselben zu konstatieren. Die Himmelsvision sowie die Tempelvisionen weisen Bezüge zur Jerusalemer Tempeltheologie auf. In Ez 1* ist dieser Zusammenhang implizit durch das Kommen JHWHs „vom Zaphon“ (V. 4; vgl. Ps 48,3) sowie durch die Elemente „Thron“ und „Herrlichkeit“ (V. 26–28*) vorhanden. Doch erst die zweite Tempelvision spricht, nachdem das Gericht vorbei ist, in Bezug auf Jerusalem als dem

Ez 43,2 spielt einen Topos der Erscheinung JHWHs als Sonne ein (vgl. z.  B. Dtn 33,2; Hab 3,3  f; Jes 60,1–4).“ 73 Konkel, Architektonik, 265. 74 Mit Konkel, Architektonik, 73, ist die Konstruktion als Anakoluth zu deuten.

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irdischen Wohnsitz JHWHs wieder explizit von JHWHs „Thron“ (‫ )כסא‬und seinem „Fußschemel“ (‫)הדם‬75 (43,7a) (vgl. zu ‫ מקום‬als Heiligtumsbegriff z.  B. Ps 24,3 und Gen 28*) – Begriffe, die mit der Gottesbergvorstellung verbunden sind (vgl. auch den „Berg“ in 11,23). Allerdings fehlt – wie schon in Ez 1* – das Verb ‫„ ישב‬sitzen/ thronen“. Die Jerusalemer Tempeltheologie mit ihrer Vorstellung von einem Wohnen JHWHs auf dem Zion (vgl. Jes 8,18) bzw. im Tempel (I Reg 8,12; mit ‫ישב‬: Jes 6,1) wird aber nun transformiert zu einem Wohnen im Tempel (so betont V. 7aα!) „inmitten der Israeliten“ (V. 7aβ); der lokale Bezug auf das Heiligtum wird gewissermaßen durch einen personal-volksbezogenen erweitert,76 was möglicherweise der (noch) tempellosen Situation geschuldet ist. Somit ist in Ez 43,1–9* gemäß altorientalischer Tempeltheologie der „Normalzustand“ wieder hergestellt: Der Jerusalemer Tempel als Wohnstatt JHWHs und Himmel auf Erden.

75 Gemeint ist bei „Ort meiner Fußsohlen“ der zum Thron gehörende Fußschemel (vgl. Jes 66,1; Ps 99,5, 110,1; 132,7; Thr 2,1; 1 Chr 28,2) „Im Alten Testament kann der Zion bald als Thronsitz (Ps 9,12; 68,17; Jer 14,19.21) bald als Fußschemel (Ps 99,5.9; Thr 2,1) Jahwes verstanden werden. In Jer 17,12 wird der ‚Ort des Heiligtums‘ […] als hochragender Thron, in Jes 60,13 als Fußschemel (‚Ort meiner Füße‘) bezeichnet. Ez 43,7 verbindet beide Vorstellungen – Thron und Fußschemel – mit dem auf hochragenden Berg errichteten Heiligtum.“ (Manfred Metzger, „Himmlische und irdische Wohnstatt Jahwes,“ UF 2 (1970): 139–158, 156). „Die Austauschbarkeit von Berg, Heiligtum, Thron und Fußschemel ist im Alten Testament auf dem Hintergrund der Gesamtkonzeption der Gottesbergvorstellung zu sehen.“ (Ebd.). Vgl. zur Tempeltheologie als Traditionshintergrund der Begriffe auch Bernd Janowski, „‚Ich will in eurer Mitte wohnen‘. Struktur und Genese der exilischen Schekina-Theologie,“ in: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1993), 119–147, 126  f. 76 Vgl. zur Traditionsgeschichte des Motivs Bernd Janowski, „Die Einwohnung Gottes in Israel. Eine religions- und theologiegeschichtliche Skizze zur biblischen Schekina-Theologie,“ in: Ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5 (NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlag, 2014), 245–285. Mit Rudnig ist in jedem Fall zu betonen, dass sich in Ez 43.7.9 (ebenso wie in P) „die Verheißung, inmitten des Volkes wohnen zu wollen, auf die Gegenwart im Heiligtum, das jeweils im unmittelbaren Kontext genannt wird [bezieht]“ (Thilo A. Rudnig, „Ist denn Jahwe nicht auf dem Zion?“ [Jer 8,19]. Gottes Gegenwart im Heiligtum, ZThK 104 [2007]: 267–286, 278).

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3 Fazit und redaktionsgeschichtliche Konsequenzen Die Frage nach der Gegenwart Gottes angesichts der Exilskatastrophe begegnet im vorliegenden Ezechielbuch als ein zentrales theologisches Problem. Die buchstrukturierenden Ezechielvisionen (1–3; 8–11; 40–48) geben ein Nebeneinander von himmlischer und irdischer Wohnstatt JHWHs zu erkennen. In Ez  1,4–28* erscheint JHWH dem Propheten in seiner himmlischen Thronsphäre: Vier mythische Himmelsträger halten eine eisartige Platte, auf der sich ein mit Lapislazulistein verglichener Thron befindet, der JHWHs Herrlichkeit in anthropomorpher Gestalt beherbergt. Das Bildrepertoire der Vision ist tief verwurzelt in babylonischen Vorstellungen, wobei eine Tradition, die Marduk als im Himmel thronende Sonnengottheit beschreibt (KAR 307), als entscheidende Quelle zu bestimmen ist: Wie Marduk ist JHWH in Ez 1* als eine von Lichtphänomenen begleitete Sonnengottheit gezeichnet. Die solaren Züge der Himmelsvision haben auch auf die großen Tempelvisionen ausgestrahlt. Das in Ez 8–11* und Ez 43* rezipierte Konzept einer Rückkehr der Gottheit zu ihrem Wohntempel, von der sie sich zuvor im Zorn abgewendet hatte, ist unverkennbar mit solaren Zügen ausgestaltet worden: JHWH kehrt in der Gestalt des Sonnengottes in seine Stadt und seinen Tempel zurück (43,1–9*). Die ältere, in der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie bezeugte Vorstellung, dass der Tempel als JHWHs hintergründiger Wohnort gilt, wird somit nicht getilgt, sondern mit Hilfe babylonischer Vorstellungen in der Weise verändert, dass nun neben JHWHs irdisch-kultischer Wohnstatt (vgl. Ez 43,7: „inmitten der Israeliten“) seine himmlische Wohnstatt expliziert wird. Mit diesem Nebeneinander wird dem Problem begegnet, wie JHWH den Menschen in der Fremde (der Gola und Diaspora, vgl. Ez  11,16) nahe sein kann, ohne seine besondere Beziehung zu Jerusalem und dem dortigen Tempel zu verlieren (vgl. Ez 37,27–28; 48,35b). Das Nebeneinander beider Wohnvorstellungen bewegt sich, wie der Vergleich mit einem Abschnitt aus dem „Gebet Assurbanipals an den Sonnengott Schamasch“ exemplarisch vor Augen führt, völlig im Rahmen altorientalischer Tempeltheologie: „(11) Ich, Assurbanipal, ein Sohn seines Gottes, (12) rief dich im reinen Himmel an, (13) suchte dich in deinem leuchtenden Tempel auf und sprach (14) an der Tafel des Mahles der großen Götter (15) deinen Namen aus, opferte dir [ein reines Opfer]!“77

77 Karl Hecker, „Akkadische Hymnen und Gebete“, in Texte aus der Umwelt des Alten Testaments II/5, hg. v. Otto Kaiser (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1989), 718–783, 773.

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Die traditionsgeschichtliche Untersuchung der Grundschichten der drei großen Visionsteile in Ez 1–3*, 8–11* und 40–48* hat darüber hinaus zahlreiche sprachliche und konzeptionelle Querbezüge zwischen den Texten offengelegt, woraus sich meines Erachtens. Konsequenzen für die redaktionsgeschichtliche Beurteilung der Texte ergeben. Denn sie sprechen für einen ursprünglichen Zusammenhang der drei Visionen. Weniger strittig ist dies im Hinblick auf die beiden Tempelvisionen, deren logischer Zusammenhang offen zu Tage liegt: Zum einen setzt JHWHs Rückkehr in Ez 43,1–9* nach Jerusalem und in den Tempel seinen in Ez 8–11* geschilderten Auszug voraus; zum anderen blieben vor dem Traditionshintergrund der mesopotamischen Rückkehrtexte, in denen Auszug und Rückkehr der Gottheit einen festen Vorstellungszusammenhang bilden, die Auszugsnotizen in Ez 8–11* ohne ihre erzählerische Fortsetzung in Ez 43,1–9* ein Fragment.78 Weniger offensichtlich und daher in höherem Maße strittig sind die Bezüge zwischen den Tempelvisionen einerseits und der Himmelsvision andererseits. Doch sprechen folgende Argumente für einen Zusammenhang der Visionen79: Erstens setzt die Funktion von „Wolke“ und „Lichtglanz“ in 10,4 (dort determiniert!) deren entsprechende Einführung in 1,4.27f* voraus; zweitens wird in allen drei Visionen der göttliche ‫כבוד‬ – in Analogie zum kontemporären mesopotamischen melammu-Konzept – als strahlendes Lichtphänomen beschrieben (vgl. 1,27f*; 10,4; 43,2*); drittens und vor allem knüpft JHWHs Rückkehr in Gestalt des Sonnengottes in 43,2* an seine solare Charakterisierung in 1,27f* an. Die Argumente reichen weit über einen lediglich durch Leitworte hergestellten oberflächlichen Zusammenhang hinaus; denn sie betreffen den Kern der solaren Darstellung JHWHs. Meines Erachtens sind die solaren Züge in 8–11* und 43* nicht anders als vor dem Hintergrund der Himmelsvision zu verstehen, in der JHWH wie Marduk-Šamaš im Himmel thront. Vor allem dieses traditionsgeschichtliche Argument spricht gegen eine unabhängige Entstehung der drei Visionen. Für eine nähere redaktionsgeschichtliche Einordnung der Grundschichten der drei Visionen ist deren Pro-Gola-Perspektive entscheidend: Der Prophet als Vertreter der ersten Gola sieht JHWH unter den Verbannten (Ez 1–3*), die zurückgebliebenen Bewohner Jerusalems sind dagegen für JHWHs Auszug aus dem Tempel und das folgende Gericht, als Deutung der Ereignisse von 587, verant-

78 Insbesondere zielt JHWHs Auszug aus Jerusalem gen Osten (10,19b*; 11,23) von vorneherein auf seine Rückkehr in Gestalt eines Sonnengottes in 43,1–6*. Ohne die zweite Tempelvision bliebe diese Richtungsangabe unerklärlich. 79 Der Zusammenhang wird durch kleinere Querbezüge in den jeweiligen Grundschichten bekräftigt: 1. Das Motiv des „Emporgehobenwerdens“ des Propheten durch den Geist/Wind (‫)רוח‬ (vgl. 3,12; 8,3; 11,1.24; 43,5). 2. Das Motiv des Niederfallens des Propheten (vgl. 1,28 und 43,3). 3. Die analoge Einleitung der Gottesreden (vgl. 1,28, 2,2 und 43,5).

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wortlich (8–11*).80 Karl-Friedrich Pohlmann plädiert für eine zeitliche Ansetzung dieser im Wesentlichen von ihm begründeten Redaktionsschicht im späten 5. Jh. In Ez 1,4–28 erkennt er gar „eine bereits der Apokalyptik nahestehende oder von ihr beeinflußte Bearbeitung“81. Doch sprechen sowohl die Zusammengehörigkeit mit den Tempelvisionen als auch die tiefe Verwurzelung von Ez 1* in babylonischer Tradition, die sich auch für den schwer verständlichen Abschnitt über die „Räder“ (1,15–21) aufzeigen lässt,82 gegen eine derartige Spätdatierung der Himmelsvision. Der babylonische Traditionshintergrund fügt sich dagegen gut zu Arbeiten, die mit Verweis auf „die teilweise utopischen Konzepte von Ez 40–48“83 im Vergleich zum Zweiten Tempel oder die in Ez 37 anklingenden „Hoffnungen in den Statthalter Serubbabel“84 den Grundbestand der Visionen bzw. die Pro-GolaRedaktion ins (ausgehende) 6. Jh. datieren wollen.

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80 Vgl. auch Konrad Schmid, „Hintere Propheten (Nebiim),“ in Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, hg. v. Jan Christian Gertz (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 52016), 313–412, 366  f, sowie Nihan, Ezechiel, 423: „Das von der Deportation 597 v. Chr. verschonte und danach auf sich selbst gestellte Volk ist durch seine Untaten und Greuel verantwortlich für den Auszug der Gottheit (Ez 8–11*), die offensichtlich den 597 v. „Chr. Exilanten (sic.!) nach Babylon folgt (11,22–25), sowie für die Zerstörung der Stadt.“ 81 Karl-Friedrich Pohlmann, Der Prophet Hesekiel/Ezechiel Kapitel 1–19, ATD 22/1 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1996), 62. Vgl. zur Datierung der golaorientierten Schicht a.a.O., 34. 82 Vgl. Christoph Uehlinger und Susanne Müller-Trufaut, Ezekiel 1, Babylonian Cosmological Scholarship and Iconography: Attempts at Further Refinement, ThZ 57 (2001), 140–171, sowie Koch, Wohnstatt, 164–168. 83 Rainer Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr., BE 7 (Stuttgart u.  a.: Kohlhammer Verlag, 2001), 264. 84 Nihan, Ezechiel, 423.

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 Christoph Koch

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 Christoph Koch

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Casey A. Strine

Theological Anthropology and Anthropological Theology in the Book of Ezekiel Abstract: Dieser Aufsatz konzentriert sich auf die drei Themen, die die Diskussion der Anthropologie im Buch Hesekiel in der bestehenden Wissenschaft dominiert haben: die traumatische Erfahrung der unfreiwilligen Migration nach Babylonien; die Fähigkeit oder Unfähigkeit des Menschen, aus eigenem Willen richtig zu handeln; und die Rolle des imago Dei Konzepts im Verständnis von Ezechiel vom Menschen. Im Gegensatz zu bestehenden Arbeiten werden in diesem Aufsatz diese drei Themen in einem einzigen Argument zusammengefasst. Zusammengenommen zeigen diese drei Brennpunkte, dass das Buch Ezechiel eine optimistische Sichtweise der menschlichen Handlungsfähigkeit besitzt, die vom imago Dei Konzept getrennt ist, aber dennoch durchaus theologisch ist. Darüber hinaus projiziert das Buch diese menschlichen Merkmale auf JHWH, wodurch eine göttliche Figur entsteht, die dem im Buch vertretenen menschlichen Ideal sehr ähnlich ist. Kurz gesagt, enthält Ezechiel eine theologische Anthropologie und eine anthropologische Theologie.

1 Introduction: Radical Theocentricity and ­Marginalized Humanity The book of Ezekiel is not the most popular text for exploring what the Hebrew Bible says about humanity. Rather, Paul Joyce has spoken accurately of Ezekiel’s “radical theocentricity.”1 What, then, have scholars said when looking at the limited material on this topic in Ezekiel?

1 Paul M. Joyce, Ezekiel. A Commentary (London: T&T Clark, 2007), 27–31. Anmerkung: I would like to thank the Fachgruppe Altes Testament in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e.V. for the kind invitation to speak on this topic at its 2018 meeting and to publish my work alongside the other papers from this stimulating conference. Various discussions from that meeting have informed this revised version of my material, though all errors and spurious ideas remain my own. https://doi.org/10.1515/9783110624250-009

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 Casey A. Strine

In Karl-Friedrich Pohlmann’s 2008 book assessing scholarship Ezechiel: Der Stand der theologischen Diskussion, anthropology comprises only one part of a brief ten-page section entitled „Zu Ethik und Anthropologie des Ezechielbuches.”2 Fully half of Pohlmann’s material deals with the redactional history of the “neuen Herzen” passages in Ezek 18:31 and 36:26, with just one page exploring Jacqueline Lapsley’s proposal for a new understanding of human morality outlined in these passages. There follow a few pages on Ezek 18, the one locus classicus for anthropology in Ezekiel because it explores the relationship between the individual and communal responsibility for sin. Here, Pohlmann examines the thesis of Andrew Mein that “many of the book’s most distinctive ethical ideas can be explained as a response to the experience of deportation”3 and that the “movement from responsibility for judgment to passivity in the face of restoration can be seen to mirror the actual social circumstances of the exiles, who have been transported from positions of power and influence in Jerusalem to become smalltime servants of Babylonian agricultural policy.”4 Since Pohlmann’s assessment, Michael Konkel has explored the topic in view of Karin Schöpflin’s research on the role of biography in the book of Ezekiel.5 For Konkel, the figure of the prophet, with his personal silencing and personal mourning experience, reveals the underlying anthropology contained in the book. “Ezechiel selbst ist Teil des ‘widerspenstigen’ Israel.” It is only in the prophetic role—a task for which the prophet must be symbolically silenced, thus losing his autonomous selfhood to become a passive vessel for the message of YHWH—that he shows that a newly created human, the product of YHWH’s action in the spirit, is required for the salvation outlined in Ezekiel to become reality. Ezekiel, Konkel argues, advocates an essentially pessimistic anthropology. Pohlmann’s brief analysis of the existing literature also anticipates the most recent and most thorough treatment of Ezekiel’s anthropology in German scholarship. Ruth Poser’s Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur offers an extended treatment of the book of Ezekiel through insights from trauma studies, with a significant focus on the book’s anthropology.6 She adopts the approach of R. Granofsky to trauma, reading the book of Ezekiel as a “trauma novel” that arises from

2 Karl-Friedrich Pohlmann, Ezechiel. Der Stand der theologischen Diskussion (Darmstadt: WBG, 2008), 168–176. 3 Andrew Mein, Ezekiel and the Ethics of Exile (Oxford: OUP, 2001), 257. 4 Ibid., 262. 5 Michael Konkel, “Ezechiel – Prophet ohne Eigenschaften: Biographie zwischen Theologie und Anthropologie,” in Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament, QD 237, hg. v. Christian Frevel (Freiburg: Herder, 2010), 216–242. 6 Ruth Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur, VT.S 154 (Leiden: Brill, 2012).

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the events of the sixth century BCE. Poser does not identify an anthropology in Ezekiel per se, but does highlight an important dynamic: the way that YHWH’s character is evinced in the study of the humans in the book of Ezekiel. She concludes from her study that Ezekiel is “a discourse about blame and punishment but also a portrait of YHWH as a traumatized deity.”7 This brief summary must suffice for now, but it will be necessary to return to Poser’s recognition of the close link between the human experience and the identity of YHWH in the book of Ezekiel in the final section of this essay. The Anglophone material is, as Pohlmann notes, noticeably larger. To begin, there are substantial contributions by Paul Joyce, Daniel Smith-Christopher,8 and Jacqueline Lapsley. Joyce explores the role of human response in Ezekiel, contending that for Ezekiel human beings are wholly dependent on the grace and entirely self-motivated action of YHWH for their hope of a better future. The “radically theocentric” book of Ezekiel has a limited, pessimistic idea of what humans can do. This places Joyce and Konkel in essential agreement on the question. Smith-Christopher takes a different approach. He reads Ezekiel through a deep engagement with postcolonial and trauma studies, bringing out various aspects of how the anthropology of Ezekiel requires this context for its analysis. One might say that Smith-Christopher sees only a forcibly misshapen anthropology in Ezekiel. Finally, Lapsley9 directs her attention to the question, “Do our actions determine who we are as moral persons? Or does our moral character determine which actions we will take?”10 She concludes that Ezekiel argues that humans are only capable of morally virtuous action when that ability is bestowed by YHWH, but that when YHWH does so, it is knowledge, not the capacity to act in a certain way, that is given to human beings. In her findings, Lapsley comes close to the positions of Joyce and Konkel, albeit through a different path and with a distinct

7 Brad Kelle, “Review of Ruth Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur,” Religious Studies Review 40.2 (2014): 98. 8 Inter alia, Daniel Smith-Christopher, “Ezekiel on Fanon’s Couch. A Postcolonialist Critique in Dialogue with David Halpern’s Seeking Ezekiel,” in Peace and Justice Shall Embrace. Power and Theopolitics in the Bible. Essays in Honor of Millard Lind, hg. v. Ted Grimsund, und Loren L. Johns (Pandora: Telford, Pa., 1999), 108–144; idem, “Ezekiel in Abu Ghraib: ReReading Ezekiel 16:37–39 in the Context of Imperial Conquest,” in Ezekiel’s Hierarchical World. Wrestling with a Tiered Reality, hg. v. S. Cook und C. Patton (Atlanta: SBL Press, 2002), 141–158; idem, “Deconstructing Terror. Ezekiel’s Vision of the Dry Bones as a Response to Trauma,” in Ezekiel. Current Debates and Future Directions, FAT 112, hg. v. William A. Tooman und Penelope Barter (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 389–411. 9 Jacqueline Lapsley, Can These Bones Live? The Problem of the Moral Self in the Book of Ezekiel, BZAW 301 (Berlin: de Gruyter, 2000). 10 Lapsley, Can These Bones Live?, 1.

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emphasis. Lest it escape notice, this review shows that a dominant question in the existing discussion of anthropology in Ezekiel is the ability—or inability as it may be—of humans to act morally of their own volition. Further indicative of the focus anthropology has received among North American scholars is the half a volume dedicated to anthropology by the Society of Biblical Literature section on Theological Perspectives in the Book of Ezekiel.11 The book contains a further reflection on shame and the “moral self” by Lapsley, along with two contributions that focus on the imago Dei concept. In one, John Kutsko argues that Ezekiel’s imago Dei anthropology drives its ethics. In the other, Dexter Callender maintains that Ezekiel’s anthropology allows for disobedient humans because it considers all kings—even the king of Tyre—as the imago Dei.12 Kutsko and Callender indicate the important role that the imago Dei concept plays in formulations of Ezekiel’s anthropology—a topic that will feature in what follows. This corpus of work indicates that a new phase in Ezekiel research has begun and that it attends more carefully to anthropology than has been the case previously. This essay stands in this line of inquiry. Indeed, it will focus on the three issues that have dominated discussion so far: exploring the traumatic experience of involuntary migration to Babylonia as determinative for interpreting the ideology of Ezekiel; interrogating the capacity of humans to act morally of their own volition; and interrogating the role of the imago Dei concept in Ezekiel’s understanding of the human being. This study, however, differs in two ways from existing scholarship. First, it relies more heavily on the study of involuntary migrants—commonly known as asylum seekers and refugees—than the existing scholarship. Whereas the existing studies have more often brought questions from anthropology about human agency and capacity to the text looking for answers, this essay will suggest that the experience of involuntary migration in an ancient context shapes the book of Ezekiel and produces a positive view on the human capacity to act. These ideas about humans reveal sustained theological reflection on the nature of the human being among the community that produced and preserved these texts. Second, this essay will integrate the three areas of prior

11 Margaret S. Odell and John T. Strong, Hg., The Book of Ezekiel. Theological and Anthropological Perspectives, Society of Biblical Literature Symposium Series 9 (Atlanta: SBL, 2000). 12 John Kutsko, “Ezekiel’s Anthropology and Its Ethical Implications,” in The Book of Ezekiel. Theological and Anthropological Perspectives, Society of Biblical Literature Symposium Series 9, hg. v. Margaret S. Odell und John T. Strong (Atlanta: SBL, 2000), 119–141; Dexter Callender, “The Primal Human in Ezekiel and the Image of God,” in The Book of Ezekiel. Theological and Anthropological Perspectives, Society of Biblical Literature Symposium Series 9, hg. v. Margaret S. Odell und John T. Strong (Atlanta: SBL, 2000), 175–193.

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scholarship into a single perspective. Integrated together, these three aspects of Ezekiel combine to reveal that Ezekiel advances an optimistic, thoroughly theological anthropology at the same time as it depicts YHWH in a way that closely resembles its anthropology. Ezekiel, in short, contains a theological anthropology and an anthropological theology. In what follows I argue that a particular experience of involuntary migration—forced displacement to an isolated, camp-like setting in rural Babylonia— fundamentally shapes Ezekiel’s theological anthropology. Just as people seeking asylum and living as refugees in isolated environments today desire to retain their human agency, to draw hard lines between their community and outsiders, and to cling to the hope of a return to their homeland, so also the human beings depicted in Ezekiel retain their agency (albeit in a diminished way), seek to maintain communal distinctiveness, and actively cultivate hope for a return to Judah. YHWH, rather than being distinctly different, exhibits these same traits, thereby making the patron deity of these involuntary migrants a model for them. My argument proceeds in four steps. First, there is a brief overview of how involuntary migration shapes Ezekiel. Second, focus turns to the prophet, to argue that he alone is the imago Dei, thus YHWH’s mouthpiece and a unique exemplar of how other Judahite humans should think, feel, and act. Third, the essay attends to the other humans Ezekiel portrays: Judahite involuntary migrants in Babylonia. Crucially, the argument shows that these Judahites retain agency, expressed as the capacity to repent. Fourth and finally, the piece considers YHWH, whose anthropomorphic presentation in the book results from a projection of the humans depicted in Ezekiel. In short, Ezekiel’s humans are framed theologically and Ezekiel shapes the deity in strongly anthropological ways.

2 Ezekiel’s Sitz in der Literatur: Isolated Involuntary Migrants It is hardly novel to say that forced displacement to Babylonia serves as the essential context for interpreting the book of Ezekiel. Though the book called Ezekiel is not a diachronic unity, it exhibits far less fragmentation than most texts in the Hebrew Bible.13 The passages that come from periods after the initial composition

13 The phrase is borrowed from the title of Hugh Williamson’s discussion of Isaiah’s diachronic growth, The Book Called Isaiah. Deutero-Isaiah’s Role in Composition and Redaction (Oxford: OUP, 1994), but it applies equally to Ezekiel.

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in the first half of the sixth century BCE remain homogeneous with earlier texts. Indeed, “the secondary material exhibits an unusually close ‘family resemblance’ to earlier content”14—a resemblance driven by the consistency with which the material presumes an audience of involuntary migrants in Babylonia. Ezekiel presumes a very particular experience of involuntary migration. The superscription to the book specifies a community of involuntary migrants by the Chebar canal (Ezek 1:3). This “obscure body of water” that is “near” but not in Nippur15 denotes a rural location where involuntary migrants likely worked on irrigation projects directed by the Babylonians.16 The book locates this Judahite community in a rural, perhaps desolate, place in isolation from all but a few Babylonian officials charged with overseeing their work. One cannot anachronistically transfer what is known about the contemporary refugee camp to this context, but research on how traumatized people respond to that setting offers important context for interpreting Ezekiel.17 Elizabeth Colson observes that refugees in the closed environments we call refugee camps “were less likely to develop reciprocal ties, and so trust relationships, with neighboring hosts.”18 Lisa Malkki’s landmark study of the Hutu displaced from Burundi during the 1990  s examines how the camp context shapes responses to involuntary migration. Comparing one group in an urban center, mixing with other groups, with another group isolated to a government run camp in a remote area, Malkki shows that “[i]t is the Hutu ‘spatially isolated and insulated’ in Tanzanian camps […] who have constructed a new nationalism complete

14 Paul M. Joyce, Ezekiel. A Commentary, LHBOTS 482 (London: T&T Clark International, 2007), 12; cf. William A. Tooman, “Transformation of Israel’s Hope. The Reuse of Scripture in the Gog Oracles,” in Transforming Visions. Transformations of Text, Tradition, and Theology in Ezekiel, Princeton Theological Monographs Series 127, hg. v. William A. Tooman und Michael A. Lyons (Eugene, Or.: Pickwick, 2010), 50–110. 15 Moshe Greenberg explains that one must distinguish this river from the Euphrates, which ran through the city of Nippur (Moshe Greenberg, Ezekiel 1–20. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 22 [Garden City, N.Y.: Doubleday, 1983], 40.); cf. Daniel I. Block, The Book of Ezekiel: Chapters 1–24, NICOT (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1997), 84. 16 Cornelia Wunsch, “Glimpses on the Lives of Deportees in Rural Babylonia,” in Arameans, Chaldeans, and Arabs in Babylonia and Palestine in the First Millennium B.C, Leipziger Altorientalistische Studien 3, hg. Angelika Berlejung and Michael P. Streck (Wiesbaden: Harrassowitz, 2013), 252–253; cf. Laurie E. Pearce, „Continuity and Normality in Sources Relating to the Judean Exile,“ HeBAI 3 (2014): 170–171. 17 For the full argument, see Casey A. Strine, “Is Exile Enough: Jeremiah, Ezekiel, and the Need for a Taxonomy of Involuntary Migration,” HeBAI 7 (2018): 289–315. 18 Elizabeth Colson, “Forced Migration and the Anthropological Response,” Journal of Refugee Studies 16 (2003): 7–8.

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with a mythical past that demonizes [those who persecuted them] and looks forward to a future in a Burundi cleansed of [those persecutors].”19 Ethnocentrism and a millenarian outlook on the necessity to return “home”20 characterizes their response to involuntary migration. This is a huge contrast to the Hutu living in urban, integrated places, who pragmatically manage their identity to support “key axes of assimilation” with the wider population.21 The book of Ezekiel fits the profile that emerges from these social scientific studies. For instance, Ezekiel 20’s scathing account of Israel’s behavior constitutes a mythic past intended to demonize outsiders so as to justify the ethnocentric attitude that erupts in v. 32: those that want “to be like the nations, like the families of the lands” by worshipping “wood and stone” are unceremoniously banished from the community and told to stop worshipping YHWH because they profane YHWH’s holy name.22 Dalit Rom-Shiloni justifiably maintains that the major strand of texts in Ezekiel exhibit “extreme exclusivity.” As for a millenarian outlook, perhaps no passage in the Hebrew Bible fits this description better than Ezek 37–48. The evidence, then, supports reading the text of Ezekiel as one that speaks to an audience of isolated involuntary migrants—or, since the text cannot be considered a complete unity, in later periods, as one that addresses audiences familiar with that experience and context. In short, a social environment resembling a refugee camp shapes Ezekiel.

3 The Prophet Ezekiel as the Paradigmatic Human Any discussion of anthropology in Ezekiel must begin with the figure of the prophet, who dominates the book. Though Ezekiel is called ‫ בן־אדם‬over 90 times,

19 I use this summary of Malkki’s work by Colson (“Anthropological Response,” 10.) because it succinctly communicates the importance of her research. See also Julie M. Peteet, Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps (Philadelphia, Pa.: University of Pennsylvania Press, 2005), especially her concluding remarks on p. 220. 20 Cf. Colson, “Anthropological Response,” 9, who summarizes the issue by writing “[t]he ethnographic record points to camps and resettlement communities as seed beds most conducive to the growth of memory and the pursuit of the myth of return.” 21 Liisa H. Malkki, Purity and Exile. Violence, Memory and National Cosmology Among Hutu Refugees in Tanzania (Chicago: University of Chicago Press, 1995), 153–154. The three key axes are intermarriage, pursuing legal naturalization, and personal socioeconomic opportunities. 22 Cf. Casey A. Strine, “The Role of Repentance in the Book of Ezekiel. A Second Chance for the Second Generation,” Journal of Theological Studies 63 (2012): 467–491.

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the enigmatic title offers little help, for it is an empty shell that only takes on meaning when one observes what this ‫ בן־אדם‬actually does. What the ‫ בן־אדם‬does, at a literary level,23 is move between the Chebar canal, Tel Abib, a valley, the city of Jerusalem, and the Jerusalem temple. Through these movements, the prophet resembles the cult statue in the Mesopotamian cult statue induction ritual, known as the mīs pî or mouth washing. By replicating this pattern of movements, Ezekiel adopts the role of vivified, earthly image of the deity, capable of mediating the divine word to the people. This inherently theological anthropology claims authority for the book’s message placed in the prophet’s mouth.24 Andreas Schüle helpfully condenses the various elements of the cult statue induction ritual into a four-stage process by grouping events that happen in the same locale.25 The mīs pî exhibits the following spatial structure and progression: Locale 1: Locale 2: Locale 3: Locale 4:

Workshop (bīt mummi or bīt mārē ummâni)26 Procession from the workshop to the river bank River Bank (kišad nāri) in the Steppe (ṣērum) Procession from the river bank to the orchard Orchard (kirûm)27 Procession from the orchard to the temple complex Temple Complex (bāb bit ili and papaḥḥum)

A wood statue is crafted in the workshop, then processed to the river bank in the steppe. The steppe (ṣērum) is a cosmological space, a “free landscape” where all impurities could be removed from the image and left in an area “where they could harm no one.”28 At the river bank (kišad nāri) the cult statue makes the necessary transition from human creation to divine one.29 Then the statue moves into the 23 It is impossible to know what, if any, relationship the literary presentation of the prophet’s experience in Ezek 1–11 has to actual events. I, therefore, pursue a line of argument at the literary level since this is the only site at which an analogy to the mīs pî is demonstrable. 24 The remainder of this section presents the salient points argued more fully in Casey A. Strine, “Ezekiel’s Image Problem. The Mesopotamian Cult Statue Induction Ritual and the Imago Dei Anthropology in the Book of Ezekiel,” CBQ 76 (2014): 252–272. 25 Andreas Schüle, “Made in the ‘Image of God’. The Concepts of Divine Images in Gen 1–3,“ ZAW 117 (2005): 12–13. 26 Christopher Walker and Michael Dick, The Induction of the Cult Image in Ancient Mesopotamia. The Mesopotamian mīs pî Ritual (Winona Lake, Ind.: Eisenbrauns, 1999), 52, note 34. 27 I depart from Schüle in translating kirûm as orchard instead of garden. His choice appears determined more by interest in Gen 2–3 than the meaning of kirûm. 28 Angelika Berlejung, “Washing the Mouth. The Consecration of Divine Images in Mesopotamia,” in The Image and the Book. Iconic Cults, Aniconism, and the Rise of Book Religion in Israel and the Ancient Near East, CBET 21, hg. v. K. van der Toorn (Leuven: Peeters, 1997), 54. 29 Berlejung, “Washing the Mouth,” 55.

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neighboring orchard—still in the confines of the steppe—where reed huts (šutukku or urigallu) with thrones (kussê) inside allow it to spend the night alongside Ea, Šamaš, and Marduk. The vivified cult statue is asked to be a good lamassu,30 the ruler and protector (ušumgallu) of his land “over which he reigned from a seat connecting the two cosmic realms”31 of heaven and earth. Upon leaving the orchard, the statue journeys through the steppe, into the city, and finally to its sanctuary. Eventually the image transverses the temple gate (bāb bit ili), leaving the danger of the city and entering the security of the sanctuary,32 proceeding to the holy of holies (papaḥḥum) where it sat enthroned to receive its worship and perform its obligations. “The ritual,” Angelika Berlejung concludes, “enabled [the statue] to become the pure epiphany of its god and to be a fully interacting and communicating partner for the king, the priests and the faithful.”33 Compare this to Ezekiel. Ezekiel 1:1 locates the prophet among the Babylonian exiles ‫על־נהר־כּבר‬, that is on the river bank (kišad nāri) like in the mīs pî. There are also strong similarities between the theophanies in Ezekiel and the incantation “When the god was made” (STT 200) that the mīs pî uses to express the radiance of the deity represented in the purified statue.34 Both texts describe various precious and semi-precious stones that ‘surrounded in radiance’ the deity who ‘appears brilliantly’,35 or as Ezekiel says in “a huge cloud and flashing fire, surrounded by a radiance; and in the center of it, in the center of the fire, a gleam as of amber” (1:4; cf. 1:27–28). Amber is a translation for the rare term ‫חשׁמל‬36 that Daniel Bodi convincingly argues is equivalent to Akkadian elmešu, “a quasi-mythical stone … used for adorning divine statues.”37 The prophet next moves in Ezek 3:12–21, sitting in ‫ תל אביב‬with the Judahite deportees. Walther Zimmerli, Moshe Greenberg, and Daniel Block argue the name derives “from til abubi, ‘mound of the flood [debris] … a ruin-hill,’ popularly con-

30 Berlejung, „Washing the Mouth,“ 64–65. 31 Ibid., 64. 32 Ibid., 67–68. 33 Ibid., 72. 34 Although neither Walker and Dick’s Babylonian Ritual nor the Nineveh Ritual prescribes using this incantation at the river, the similarities between suggests that the themes of this incantation are present. 35 Walker and Dick, Induction of the Cult Image, 98, STT 200, lines 8–10. 36 See Ezek 1:4, 27; 8:2. 37 Quote from Margaret S. Odell, Ezekiel, Smith & Helwys Bible Commentary (Macon, Ga.: Smith & Helwys, 2005), 22, 25; see Daniel Bodi, The Book of Ezekiel and the Poem of Erra, OBO 104 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991), 82–94 for details.

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ceived as having been destroyed by the primeval deluge.”38 Yet, there is no reason to depart from the literal meaning of ‫ תל אביב‬as “mound of spring produce” to describe a place of agricultural fertility that corresponds to the orchard (kirûm), the second station in the mīs pî ritual. The prophet moves again in Ezek 3:22, going out to ‫אל־הבקעה‬. This is not a place on a map; Block describes it as a “wasteland, an appropriate place for a private meeting with God,” thus parallel to the steppe (ṣērum) in the Mesopotamian ritual.39 Ezekiel 3:24 underscores that. YHWH commands Ezekiel “go and shut yourself in your house.” Though commentators assume ‫ בית‬must mean the prophet’s home, it could equally correlate to the reed huts (šutukku or urigallu) in which statues of Ea, Šamaš, and Marduk dwell during the mīs pî. Note what happens in the ‫בית‬: YHWH causes the prophet’s tongue to cling to the roof of his mouth so that he cannot serve as an intercessor for the people40 and concurrently declares that the prophet’s mouth will be opened (‫ )אפתח את־פיך‬when there is a divine word for the people. “The startling effect” of YHWH’s statement, concludes James Kennedy, “is to portray Ezekiel as a kind of living idol.”41 Further connections reinforce this interpretation. When YHWH commands the prophet to eat the scroll, “it was sweet like honey” (3:3b). Christopher Walker and Michael Dick demonstrate that the water-based mixture in the mīs pî contained “syrup (dišpu), ghee [clarified butter], cedar, [and] cypress,”42 surely a sweet-tasting liquid. It is no accident that YWHW commands the prophet to open his mouth so that he can eat a scroll that is also sweet like ‫—דבׁש‬the Hebrew cognate of Akkadian dišpu.43 38 Block, Ezekiel 1–24, 135–136; cf. Walther Zimmerli, A Commentary on the Book of the Prophet Ezekiel, Chapters 1–24, Hermeneia 1, translated by Ronald E. Clements (Minneapolis, Mn.: Fortress, 1979), 139; Moshe Greenberg, Ezekiel 1–20. A New Translation with Introduction and Commentary, AB 22 (Garden City, N.Y.: Doubleday & Co., 1983), 71. 39 Block, Ezekiel 1–24, 153. The lone mention of the valley outside Ezek 1–11 reinforces the connections between the book and the cult statue induction ritual. The vision of the valley of bones in Ezek 37:1–14 is equally well-known and difficult to interpret. Important insights have emerged through comparisons between Ezek 37:1–14 and the Mesopotamian practice of refurbishing and repatriating cult statues. John Kutsko demonstrates that Ezekiel employs “the categories of exile and return of cult statues, adopted from his exilic hosts” in order to depict “the restoration of the people of Israel” in this passage. 40 Robert R. Wilson, “An Interpretation of Ezekiel’s Dumbness,” VT 22.1 (1972): 91–104. 41 James M. Kennedy, “Hebrew Pitḥôn Peh in the Book of Ezekiel,” VT 41 (1991): 235. 42 Walker and Dick, Induction of the Cult Image, 14. 43 André Caquot, ‫דבׁש‬, TDOT, vol. 3 (Grand Rapids: Eerdmans, 1980), 128–131. ‫ דבׁש‬is a common Semitic term that appears in Hebrew, Aramaic, Arabic, and some South Ethiopic dialects. Akkadian dišpu (sometimes dišbu) is an example of variation between the east and west Semitic forms due to metathesis (cf. AHw, I:173).

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Furthermore, just as Angelika Berlejung explains that in the orchard the cult statue becomes a “direct partner of the god and a mediator between him and humankind,”44 so also when the prophet is at Tel Abib, the mound of spring produce, he takes up a pivotal position between the “two cosmic realms”45 of heaven and earth to guide the people with divine insight. Ezekiel becomes the imago Dei.46 YHWH says as much: “the house of Israel will not listen to you because they do not listen to me” (3:7). Why does the text endow the prophet with such potency? Because the people doubt the prophet’s message (e.  g. 2:3–5; 12:21–28; 33:30–33). How better to establish the veracity of its message than to depict its eponymous figure as the exclusive channel through which the divine word enters the human realm. This explains why the book limits this status to just the prophet. Scholars such as Dexter Callender, John Kutsko, and Stephen Herring attempt to argue that Ezekiel distributes the imago Dei to other humans, but all three presume a level of agreement between P and Ezekiel that is not present.47 Whereas Gen 1 positively ascribes to humanity the authority to rule (‫ )רדה‬over creation,48 Ezekiel criticizes Judah’s past leaders for ruling over the people harshly and ruthlessly (Ezek 34:4). Pharaoh, negatively portrayed at all turns, is the only other person who rules (‫ )רדה‬in Ezekiel. That depiction is expanded by the King of Tyre in Ezek 28, Callender’s key passage. P and Ezekiel diverge in how they employ the imago Dei to coerce behavior. Famously, P invokes its universal imago Dei anthropology to legislate against murder (Gen 9:1–6), building an ethical imperative on an anthropological etiology. Ezekiel circumscribes the divine image to the prophet, precluding a similar role for its anthropology. The book of Ezekiel employs the prophet’s authority to advance a moral code in other ways addressed below (e.  g. Ezek 14:12–23; 18:1–32), but this approach is far different than P’s etiology. Ezekiel exhibits many similarities to P, but the variations between their versions of the imago Dei anthropology are significant. This distinction is important when considering the trend to portray Ezekiel’s anthropology as pessimistic. Whereas some scholars conclude that the prophet is a model for how the book understands all humans, seeing how the text limits

44 Ibid., 63. 45 Ibid., 64. 46 Cf. Ibid., 61. 47 Kutsko, “Ezekiel’s Anthropology;” Callender, “The Primal Human;” Stephen Herring, Divine Substitution: Humanity as the Manifestation of Deity in the Hebrew Bible and the Ancient Near East, FRLANT 247 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013). 48 Mark S. Smith, The Priestly Vision of Genesis 1 (Minneapolis, Mn.: Fortress, 2009), 101.

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the imago Dei anthropology to the prophet alone counteracts this argument. The prophet Ezekiel is an exceptional individual in the most basic sense of that term: he is not like other humans. It is, therefore, problematic to use this single person to draw conclusions about an anthropology in the book. That task requires looking at the other humans depicted in the book of Ezekiel.

4 The Judahite Deportees as Responsible Agents Looking beyond the figure of the prophet, there are a number of other relevant texts that relate to other humans who are not constructed as imagines Dei. It is here that one must look for the ways in which the book of Ezekiel expresses its anthropological ideas. In these texts, the people of Israel and Judah appear as agents who may or may not be capable of human repentance. For Ezekiel, this is a crucial issue to understanding that human beings retain agency and the capacity to choose correct actions—something reflected in the way this issue features in the work of various scholars such as Joyce, Lapsley, Konkel, and Mein. Research here typically focuses on exegesis of the ‘new heart’ passages in Ezek 18 and 36. Among the most influential interpretations of this material are those from Paul Joyce and Andrew Mein. Both Joyce and Mein contend that there is no role for human repentance in Ezekiel. “[R]epentance”, Joyce remarks, “is never the ground for a new beginning.”49 Elsewhere he suggests that “[t]here is indeed to be a future [for the exiles] but it is undeserved and depends solely on YHWH”.50 Andrew Mein concludes similarly that “YHWH restores Israel for his own sake alone, and irrespective of the repentance of the people”.51 Though the work of Joyce and Mein has been influential, an integrated reading of Ezekiel—with particular attention to chs 18 and 20—demonstrates that human repentance does play an integral role in Ezekiel’s thinking. Restoring YHWH’s reputation alone motivates the return of some Judahites to the land, but that restoration is achieved through humans in Babylonia rejecting idolatry and embracing YHWH. This act of repentance identifies them as members of a second exodus, which culminates with worship of YHWH in the land of promise.

49 Paul M. Joyce, “Ezekiel and Moral Transformation,” in Transforming Visions. Transformations of Text, Tradition, and Theology in Ezekiel, hg. v. William A. Tooman und Michael A. Lyons, Princeton Theological Monographs Series 127 (Eugene, Or.: Pickwick, 2010), 149. 50 Ibid., 148. 51 Mein, Ezekiel and the Ethics of Exile, 239.

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4.1 Ezek 18:1–32 Looking first at Ezek 18, one finds a complex disputation speech addressing children’s concerns about the consequences of their parents’ behavior. The text presents YHWH’s principles for judgment through a threefold scenario employing a hypothetically righteous grandfather, rebellious father, and righteous son (vv. 5–18). Many scholars identify Ezekiel 18 as the clearest statement of individual responsibility in the Hebrew Bible;52 regardless of whether one agrees with that assessment, the text does not eliminate the importance of communal responsibility and the role of human repentance.53 The key passage begins at v. 19, where the Judahite involuntary migrants (identified as ‫ בית ישׂראל‬at v. 25) voice their disapproval of the principle that each generation suffers for its own sin. Since the Judahite deportees “imagine themselves to be the righteous sons of wicked fathers” writes Joyce, if “they are righteous and yet suffering … Ezekiel must be mistaken.”54 Unmoved, YHWH reasserts the principle of generational responsibility that explains the deportees’ guilt and reiterates the need for repentance. The final rejoinder that YHWH is being unreasonable in v. 25 is simply turned back at them: the prophet declares the Judahites act unfairly in their protestations. YHWH once again asserts the possibility of repentance, explaining that it is only those who repent (‫ )ׁשוב‬who will live. Indeed, if space allowed, one could show that Ezek 33:10–20 corroborates these ideas. Walter Brueggemann links this presentation of repentance with that attributed to Caleb in Num 14. There, “Caleb is the one who repents (Num 14:6) and positions himself to receive the promise.”55 Likewise, Ezek 18 offers the Judahite deportees hope that, like Caleb (and Joshua) they will live on after the death of a rebellious generation and inhabit the promised land. Leslie Allen introduces the possibility that the idea of 18:30–32 occurs again in 20:35–38, remarking that the latter text explicitly states that “the judgment would be a screening process for eschatological return to the land.”56 There is strong evidence that Ezek 18 does have the land in view too. First, Ezek 18 introduces YHWH’s statements with the “as I live” authenticating element, a formula always connected with the exodus

52 For details see discussions in Joyce, Ezekiel, 139–140, and idem., Divine Initiative and Human Response in Ezekiel (Sheffield: JSOT Press, 1989), 35–55. 53 See the discussions in Joyce (ibid., 35–60) and Mein, Ezekiel and the Ethics of Exile, 177–215. 54 Joyce, Divine Initiative, 47. 55 Walter Brueggemann, The Land. Place as Gift, Promise, and Challenge in Biblical Faith, OBT 1 (Minneapolis, Minn.: Fortress Press, 1977), 37–38. 56 Leslie Allen, Ezekiel 1–19, WBC 28 (Dallas, Tex.: Word Books, 1994), 281.

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tradition in passages concerning the land, including Num  14. Second, Ezek 18 culminates with one of three pronouncements that the future community will possess a “new heart and a new spirit” (Ezek 18:31; cf. Ezek 11:19; 36:26), which in its other occurrences relates to the community who will re-inhabit the land (Ezek 11:17; 36:27).

4.2 Ezek 20:1–31, 32–38 Turning to Ezek 20 as Allen and the evidence encourage one to do, one sees that so-called idolatry creates an insurmountable barrier between YHWH and Israel. Ezekiel 20:32–38 makes explicit what lies below the surface in Ezek 18 (and 33): the call for the Judahite involuntary migrants to repent is a requirement for them to identify themselves as the people of YHWH by rejecting the religious practices of outside groups.57 Doing so makes them like the second generation of the exodus. Indeed, the strength of similarity led Zimmerli and Greenberg both to call 20:32–38 Ezekiel’s second exodus.58 Dalit Rom-Shiloni, like Johan Lust, maintains that “Ezekiel’s prophecy of consolation (vv. 33–38) […] connect[s] the present generation of the Exiles in Babylon to the first generations in Egypt and the desert.”59 Rom-Shiloni correctly examines the parallels between these groups, but incorrectly associates the Judahite deportees to the first exodus generation. Save Caleb and Joshua, that group does not make it into the land; the first exodus generation fits uneasily in Ezek 20, where inhabiting the land results from repentance. Other features of 20:32–38 create the link to the second exodus generation. YHWH leads the whole community into “the wilderness of the peoples” (v. 35) just as when “[YHWH] judged your ancestors in the wilderness of Egypt” (v. 36). As that judgment was to “purge the rebels from amongst you” (v. 38), precluding the rebellious first generation from reaching the land, so Ezekiel’s predicted judgment will allow only those Judahite involuntary migrants who repent to be part of the community that reaches the land again.

57 In sum, they are to know YHWH. Lapsley argues that this emphasis on knowledge is indicative of an anthropological shift caused by the exile: “This understanding fades by the end of Ezekiel, as a view of moral selfhood emerges in which knowledge plays the central role” (Lapsley, Can These Bones Live?, 186). 58 Zimmerli, Ezekiel 1–24, 414–415; Greenberg, Ezekiel 1–20, 378–382. 59 Dalit Rom-Shiloni, “Ezekiel as the Voice of the Exiles and Constructor of Exilic Ideology,” HUCA 76 (2005): 24–25; cf. Johan Lust, “Ez. XX, 4–26 une parodie de l’histoire religieuse d’Israel,” ETL 43 (1967): 488–527.

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Ezekiel constructs its audience as those dwelling outside the land for some time despite their faithfulness.60

4.3 A New Heart and a New Spirit What, then, is the role of the most theological and often debated element of Ezekiel’s anthropology, namely, the new heart and new spirit? Recall, Joyce and Mein insist that human repentance plays no role in the restoration envisioned in Ezekiel. Mein highlights Ezek 11:14–21 and 36:23b–38 to defend his view that Ezekiel depicts humans as passive agents, epitomized by YHWH’s need to wholly remake them in order to make faithful behavior possible. Yet, careful exegesis shows both Ezek 11:14–21 and 36:23b–38 specify that YHWH’s gift of the new heart and new spirit to the people occurs after their return to the land,61 indicating that humans remain active agents who, by their repentance, include themselves in the community that returns. Ezekiel 11:17–18 declares that YHWH will bring some Judahites back to their land, where they will “remove all the detestable idols and all the abominations from upon it.” Only then, after the people return and cleanse the land, does YHWH’s give this benevolent gift (vv. 19–20). Likewise, Ezek 36:23b–38 describes the same progression of events. YHWH declares: I take you from the nations and I gather you from all the lands and I bring you to your ground. Then I will sprinkle you with pure water in order to purify you from all your sins and from all your idols I will cleanse you (Ezek 36:24–25).62

Now, with a faithful community in the land, in v. 26 YHWH gives them “a new heart and a new spirit” (Ezek 36:26). Strong evidence supports that the “new heart” passages come from a late stage in the book’s development, likely after Ezek 20:32–34 appears.63 It is logical, therefore, to ask how the later passages relate to the earlier

60 This is the inverse of H’s theology that individual guilt is punished as it occurs but also builds up to a level at which it necessitates that YHWH exile of the entire community (Jan Joosten, People and Land in the Holiness Code. An Exegetical Study of the Ideational Framework of the Law in Leviticus 17–26, VT.S 67 [Leiden: Brill, 1996], 86–88; cf. Jacob Milgrom, Leviticus 17–22. A New Translation with Introduction and Commentary, AB 3A [New York: Doubleday, 2000], 1391–1392, 1582–1584). 61 Cf. Block, Ezekiel 1–24, 345, 350–354; Jacqueline E. Lapsley, Can These Bones Live The Problem of the Moral Self in the Book of Ezekiel (BZAW 301; Berlin: de Gruyter, 2000), 104. 62 Emphasis added. 63 See Strine, Sworn Enemies, 205–209.

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one. Taken together, they strengthen the evidence for humans as active agents. YHWH’s unilateral choice to lead a second exodus, predicated upon concern for the divine name, initiates the process (11:17; 36:22–24a); then, human action, specified as rejecting “foreign” religious practices, determines who will be part of the community that YHWH returns to the land (20:33–38; 34:17–22; cf. 14:1–23; 18:30–32; 33:10–20); next, after re-entering the land (11:18; 36:24b), YHWH freely acts to change their heart and spirit (11:19; 36:25–27), so that, lastly, they can again be YHWH’s covenant partner (11:20; 36:28; cf. 34:30). Ezekiel does not contain a passive anthropology. Humans retain their agency. Even in the marginalized, isolated context of the Judahite community settled by the Chebar canal, human beings remain active agents who must choose allegiance to YHWH through identifiable practices in order to be part of the community that can return to Judah. Moreover, in juxtaposition to scholars who argue that divine intervention is needed to change the incapacity of human beings to respond positively to the commands of YHWH, the book of Ezekiel maintains that humans are entirely capable of the repentance that would indicate their allegiance to YHWH. Ezekiel’s anthropology is not a pessimistic denial of human volition, but one that anticipates that some humans will make the necessary choices in order to mark themselves out as the people of YHWH with the faculties they already posses. From the perspective of forced migration studies, this is hardly surprising. Barbara Harrell-Bond has demonstrated in her influential book Imposing Aid: Emergency Assistance to Refugees that across a wide range of contexts involuntary migrants wish to live on their own, to manage their own affairs, and to be treated as fully capable agents.64 The book of Ezekiel, generated by the traumatic experience of involuntary migration, retains precisely this sort of agency for humans. Consistent with the hopes of involuntary migrants, Ezekiel’s anthropology ascribes the capacity to humans necessary to make the decisions and to take the requisite actions to return to their ancestral land. The Judahite involuntary migrants addressed in Ezekiel comprise an isolated, rural community that wants to act to change its situation—and the book of Ezekiel believes they can do so.

64 See, inter alia, Barbara Harrell-Bond, Imposing Aid. Emergency Assistance to Refugees (Oxford: OUP, 1986); Liisa H. Malkki, Purity and Exile. Violence, Memory and National Cosmology among Hutu Refugees in Tanzania (Chicago: University of Chicago Press, 1995); Colson, “Forced Migration and the Anthropological Response,” 7–10.

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5 YHWH, A Projection of the Traumatized Judahites Finally, to fully integrate the three aspects of existing scholarship on Ezekiel’s anthropology, one needs to consider how the book’s anthropology shapes the figure of YHWH. Scholars have noted similarities between YHWH and the forcibly displaced humans it attends to previously. Louis Stulman, for instance, contends that YHWH’s departure from the Jerusalem temple in Ezek 8–11 makes the deity “an outcast in solidarity with the diasporic community” existing as a “displaced person” in Babylonia.65 Ruth Poser, as noted earlier, also argues that Ezekiel’s “‘strange peculiarities’ make perfect sense when viewed as direct interventions of Yahweh, a deity determined to recover from his own trauma—the ‘trauma’ of being forced to abandon his own people.”66 Stulman and Poser helpfully show that the experience of involuntary migration shapes the depiction of YHWH in Ezekiel, but their views suffer from a problematic understanding of Ezek 8–11. Rather than portraying YHWH’s departure from the Jerusalem temple, William Tooman shows that this vision describes YHWH’s return to Jerusalem to destroy it. “Yhwh did not abandon the city, nor did he merely open it to destruction,” observes Tooman; “[t]he absent God appeared to visit judgment upon his own people in his own city.”67 YHWH’s active intervention follows logically from the book’s anthropology. YHWH models what the Judahite involuntary migrants should do: actively reject and eradicate religious practices borrowed from outsiders, especially if employed to worship YHWH. Syncretism cannot be allowed because it is evidence of integration with outsiders—and such integration might negate the imperative to return to Jerusalem as soon as possible. Furthermore, any form of integration threatens to decrease the lines of demarcation with outsiders, a detestable development for an isolated involuntary migrant committed to a program of exclusivity and communal purity. Indeed, it seems the prophet accompanies YHWH on this demolition mission not only to take up the mantle of unique imago Dei, but also to witness to the conduct prescribed for humans. Explicit evidence of this conception occurs in the description of where YHWH goes at the end of this enraged return to Jerusalem. The final destination of YHWH finds this deity outside the ancestral homeland and in a confined, isolated context

65 Louis Stulman, „Ezekiel as Disaster/Survival Literature. Speaking on Behalf of the Losers,“ in The Prophets Speak on Forced Migration, hg. v. Mark J. Boda, Frank R. Ames, John Ahn und Mark Leuchter (Atlanta: SBL, 2015), 142–143. 66 Michael S. Moore, „Review of Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur,“ RBL 4 (2015): 3. 67 William A. Tooman, „Ezekiel’s Radical Challenge to Inviolability,“ ZAW 121 (2009): 507–508.

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segregated from outsiders: the ‫מקדשׁ מעט‬. How appropriate for the patron god of a community of involuntary migrants forcibly settled in an isolated, segregated context to end this journey in the same predicament. Commentators debate whether this enigmatic phrase ‫ מקדשׁ מעט‬has a chronological meaning—denoting a temporary sanctuary—or describes magnitude—conveying a diminished sanctuary. Likely, both aspects are relevant to expressing Ezekiel’s anthropology. The reduction in extent mirrors the experience of the Judahite involuntary migrants, who find themselves in a social context where their significance pales in comparison to their former lives in Jerusalem. Neither YHWH nor the Judahites roam free. In Ezekiel, one does not find the YHWH of the first exodus who, as pillar of fire and column of smoke, boldly leads the people, moving about without restriction. Ezekiel’s YHWH resides in a little sanctuary, a bounded place not of YHWH’s own choosing, cordoned off from outsiders, just like the Judahites in Babylonia. Simultaneously, the limited chronological period of this sojourn reflects the millenarian hopes of involuntary migrants living in an isolated setting. Yes, YHWH lives in a meagre, isolated setting now, but a return to YHWH’s land, to YHWH’s proper status, and to YHWH’s cleansed temple exists in nuce within the temporal connotations of the ‫מעט מקדּשׁ‬. Ezekiel 11:16 adumbrates the grand, millenarian vision of return in Ezek 37–48. YHWH’s involuntary migration into captivity is time limited; the telos of these events never wavers from the return to Jerusalem, at the heart of a cleansed land, for an eternity of worship where YHWH is hermetically sealed off from any threat of spoliation. YHWH resembles the humans in Ezekiel closely. The book projects its anthropology onto its patron deity. When the Judahite involuntary migrants look to the divine realm they see their present and their future: encamped, isolated, and distinct from the threatening outsider; hardened in ethnocentric conviction, thus uncompromising about the community’s identity, rejecting anything that suggests an open attitude to outsiders or bears a whiff of integration with their practices; resigned to this isolated, curtailed social context, but only for a limited time; exuberantly voicing a millenarian hope for a return to a cleansed land and the restoration of life there. Just as the theophanic visions of Ezekiel offer some of the most tantalizingly anthropomorphic descriptions of YHWH, the deity’s conduct in the book provocatively verges on the behavior that the book advocates for the human Judahite involuntary migrants the book addresses. This feature is no accident. In short, the book of Ezekiel envisions YHWH like an involuntary migrant in an isolated context because its theology of God arises directly from its anthropology. On this basis, one might justifiably expand Joyce’s phrase to say that Ezekiel has a radically anthropological theocentricity.

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6 Conclusions To summarize, this paper argued that forced deportation to an isolated, rural setting fundamentally shapes Ezekiel’s anthropology. This experience of migration produces a deep desire to retain human agency, to choose where to live, to manage one’s own affairs, and to be treated as fully capable agents—in Ezekiel, just as in the contemporary refugee camp. The book of Ezekiel does contain an imago Dei anthropology, but this applies to the prophet. Ezekiel appears as the unique, exceptional, vivified embodiment of YHWH who transmits YHWH’s message to the people. Restricting the imago Dei to the prophet demarcates Ezekiel from other human beings in the book so that whatever one may conclude about this human figure should not apply to other human beings, unless there is specific evidence to indicate the prophet and other humans share a particular feature or trait. In view of the limited imago Dei anthropology, further investigation shows that Ezekiel retains agency for the other human beings it considers. The Judahites displaced to Babylonia—the only other humans the books cares for—maintain the ability to reject syncretism and integration with outsiders. By doing so, they repent, exhibiting their allegiance to YHWH in a similar fashion to the second exodus generation, highlighting their suitability to enter the land. Ezekiel’s humans are active agents, capable of repentance, with a strong millenarian hope for return to the ancestral homeland. Contrary to some arguments on the topic, Ezekiel does not advance a pessimistic anthropology that suggests humans are incapable of acting in accord with YHWH’s commands without a radical, divine intervention upon them. Finally, the text projects its anthropology onto YHWH. Indeed, the patron deity of these displaced Judahites bears all the same characteristics, lives in the same sort of social setting, and models the behavior humans should undertake. YHWH provides an unmistakable divine model for humans to follow and, thus, appears in unmistakable anthropocentric terms. In a book known for eccentricity, for baffling anthropomorphic descriptions of YHWH on the merkabah, and for radical theocentricity, perhaps it should be no surprise to find a deity who dwells in a sanctuary resembling a refugee camp. Still, in daring to present the deity YHWH as an involuntary migrant compelled to settle in an isolated setting, resisting integration with outsiders, and anxiously awaiting a return to the ancestral homeland, Ezekiel ventures once more into radical, otherwise untrammeled territory.

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Martin Karrer

Ezechiel im ersten Christentum Abstract: There are only few quotations from Ezekiel in early Christian literature; and yet, the prophet and his book are relevant. Ezekiel is remembered as one of the prophets preaching repentance in Galilee and Judaea (cf. Mk 8:18). He is even more important in the diaspora, since he acted and died far away from Israel. Israel remembers him speaking to Israel and all the nations in the exile (cf. Ez 2:3 MT). The followers of Jesus are convinced that he does so in present times, too. They adapt the understanding of his words to the proclamation of the Gospel. Ezekiel, therefore, shows the way of repentance to Israel and all the nations of the world. The foreign nations will find the true God and life like Israel, if they repent and are pure and holy (2Kor 6:16  f.). In effect, Ezekiel provides a model for present life (1Clem 17:1 and 8:2) and a framework for Christology (cf. Joh 10). The author of Rev refers to him throughout his whole work (esp. ch. 4; 11:11; ch. 20 and 21). Perhaps, he understands himself as a prophet sent to Israel and all people, just like Ezekiel.

1 Einleitung Wer war Ezechiel? Besäßen wir nur die neutestamentlichen Schriften als Zeugnis der christlichen Generationen bis zum Ausgang der neutestamentlichen Zeit (ca. 135 n. Chr.), bliebe unsere Kenntnis blass; denn kein einziges Mal begegnet der Name Ἰεζεκιήλ (Jezekiêl/Ezechiel) im Neuen Testament, weder in den Paulusbriefen noch in den Evangelien, weder in den katholischen Briefen noch in der Apk. Auch Zitate sind im Neuen Testament selten. Gerade zwei bzw. drei sind einer aktuellen Datenbank zufolge durch Einleitungsformeln oder auf andere eindeutige Weise ausgewiesen: Ez 12,2 in Mk 8,18, Ez 20,34 in 2Kor 6,17 und Ez 37,27 in 2Kor 6,16.1 An der ersten dieser Stellen ist die primäre Bedeutung des Ezechielbuchs umstritten; Jer 5,21 steht Mk 8,18 gleich nah. Die beiden weiteren Stellen sind Teil einer einzelnen Zitatkatene (2Kor 6,17  f.). Die zitatfreundlichere Liste im Anhang des NT Graece (Nestle-Aland28) fügt immerhin Ez 5,11 (in Röm 14,11); 11,20 (in Apk 21,7) und 37,5.10 (in Apk 11,11) hinzu. Aber selbst bei dieser Erweiterung

1 S. die Datenbank des ISBTF Wuppertal zu den Schriftzitaten im Neuen Testament; easyview unter https://projekte.isbtf.de/easyview_v20/. https://doi.org/10.1515/9783110624250-010

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auf insgesamt 5 bis 6 zitierte Stellen wird das Ezechielbuch im Neuen Testament nicht häufiger zitiert als viel kürzere Bücher aus dem Dodekapropheton (Hos 7, Am 4 unumstrittene Zitate). Eine bedeutendere Rolle bekommen lediglich Paulus und die Apk.2 Die Forschung nimmt zu Recht Anspielungen – am berühmtesten die Hirtenrede in Joh 103 – und einige dritte Stellen hinzu (bes. Jud 12 und Hebr 11,374).5 Der Radius wird dadurch größer. Es fehlt nicht mehr an Material und Breite der Belege. Doch die Erörterung bedarf einer Leitlinie. Wie nämlich ordnen wir Anspielungen, wenn der Prophet und das Prophetenbuch im ganzen Neuen Testament nicht namentlich genannt werden? Dankenswerterweise gibt es eine Hilfe zur Strukturierung. Der 1Clem, dessen Entstehung noch in die neutestamentliche Zeit fällt, erwähnt den Namen Ezechiels.6 Dort beginne ich daher (§  2) und erstelle eine Leitthese (2.6). Danach durchschreite ich die Befunde von der Jesusüberlieferung (3) über Drittakzente (4), Paulus (5), 1Clem 8,2 (6) und Joh (7.1) bis zur Apk (7.2 und 8). Zitate, zitatnahe Äußerungen und weitere Referenzen des ersten Christentums werden eine m.  E. interessante Linie erkennen lassen. Die komplizierte Textgeschichte des Ezechiel-

2 Die Relevanz der Apk für die Ez-Rezeption wird in der Alten Kirche noch wachsen. Denn der folgenreiche altkirchliche Chiliasmus, der sich ab der Mitte des 2. Jh. an Apk 20,4–6 anlagert, wird seine Vorstellung der Heilszeit ausdrücklich auf die Propheten Jesaja und Ἰεζεκιήλ (Ezechiel; Justin, dial. 80,5) stützen (vgl. Ez 37 und 40–48). Aber das liegt jenseits der hier zu berichtenden Zeit. 3 Dazu und zu weiteren joh Referenzen vgl. Gary T. Manning, Echoes of a Prophet: The Use of Ezekiel in the Gospel of John and in Literature of the Second Temple Period, JSNTS 270 (London/ New York: Clark International, 2004); zu weitgehend Brian N. Peterson, John’s Use of Ezekiel. Understanding the Unique Perspective of the Fourth Gospel (Minneapolis: Fortress Press, 2015). 4 Herkömmlich wird Hebr 10,22 gern mit Ez 36,25; 10,25 mit Ez 7,4; 11,7 mit Ez 14,14.20 und 13,20 mit Ez 16,60 sowie 37,26 verglichen (vgl. die Marginalien in Nestle-Aland28). Die Anspielungen des Hebr sind jedoch so frei, dass George H. Guthrie, „Hebrews,“ in Commentary on the New Testament Use of the Old Testament, hg. v. Gregory K. Beale/Donald A. Carson (Grand Rapids: Baker Academic, 2007), 919–995, keine einzige näher behandelt. Das Interesse am Hebr entstand vor allem wegen Hebr 11,37, einer Stelle, auf die in 2.4 und 4.1 zurückzukommen ist. 5 Einen Überblick über wichtige Schriftreferenzen des ganzen Neuen Testaments geben Gregory K. Beale/Donald A. Carson, Hg., Commentary on the New Testament Use of the Old Testament (Grand Rapids: Baker Academic, 2007); Paul M. Joyce/Andrew Mein, After Ezekiel: Essays on the Reception of a Difficult Prophet, LHB 535 (London/New York: T & T Clark, 2011) und Herculaas F. (Herrie) van Rooy, „Die boek Esegiël in die Nuwe Testament/Ezekiel in the New Testament,” IDS 50/3 (2016): 1–8. 6 Die anderen Schriften der sog. Apostolischen Väter von der Didache bis zum Hirt des Hermas, von den Ignatianen bis zu Diognet dagegen ignorieren den Namen Ezechiel wie die in das Neue Testament eingehenden Schriften des ersten Christentums.

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buches ist an einzelnen Stellen zu berücksichtigen.7 Vollständigkeit ist im Bereich der Anspielungen und Echos selbstredend weder möglich noch anzustreben.

2 1Clem 17,1 und die Grundstruktur der ­frühchristlichen Ezechielmemoria Der 1Clem erwähnt den Namen Ἰεζεκιήλ in den 90er Jahren des 1. Jh., in etwa um die Zeit von Hebr, Joh und Apk, wenn wir der herkömmlichen Datierung der Schriften folgen. Der Codex Alexandrinus fügt dieses Schreiben noch im 5. Jh. an die neutestamentlichen Schriften an; es ist ein höchst angesehener Text des ältesten Christentums. Würde es eine Generation früher8 und die Apk, wie derzeit mancherorts üblich, erst in die 130er Jahre gesetzt,9 läge es sogar erheblich vor dem Ende der neutestamentlichen Ära.10 Betrachten wir seine Auskunft über Ezechiel: 2.1 „Lasst uns Nachahmer derer werden“, heißt es in 1 Clem 17,1, „die in Ziegenhäuten und Schafspelzen wandelten und das Kommen Christi verkündeten“; Elija und Elischa meine das, dazu Ezechiel, die Propheten und andere Gestalten von herausragendem Leumund (Μιμηταὶ γενώμεθα κἀκείνων οἵτινες ἐν δέρμασιν αἰγείοις καὶ μηλωταῖς περιεπάτησαν κηρύσσοντες τὴν ἔλευσιν τοῦ Χριστοῦ.

7 Ich benütze die kritischen Ausgaben von Hebraica und Septuaginta (LXX). Maßgeblich für LXX sind die Handausgabe Alfred Rahlfs/Robert Hanhart, Hg., Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2006) (LXXRaHa) und die Edition durch Joseph Ziegler, Hg., Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum, Bd. 16/1, Ezechiel (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21977) (LXXGö). Als Ziegler den Text bearbeitete (Erstauflage 1952), waren die Papyri 988 und 967 zur LXX allerdings noch nicht vollständig bekannt. D. Fraenkel kollationierte sie in einem Anhang zur 2. Auflage der Edition (331–352). Dieser Anhang ist daher mit zu benützen. Die Edition bedarf einer Neubearbeitung (vgl. die Hinweise bei Ingrid E. Lilly, Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the Masoretic Text as Variant Literary Editions, VT.S 150 [Leiden/Boston: Brill, 2012], 38–42 u. ö.). 8 Vgl. Kurt Erlemann, „Die Datierung des Ersten Klemensbriefes – Anfragen an eine Communis Opinio,“ NTS 44 (1998): 591–607. 9 Vgl. die Studien von Th. Witulski (Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse, FRLANT 221 [Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007] und andere Arbeiten). 10 Der zweite Beleg in den Apostolischen Vätern, die Einleitung einer Referenz auf Ez 14,14–20 als Wort der Schrift in 2Clem 6,8 liegt auch bei Spätdatierung der Apk nach dem Ende der neutestamentlichen Zeit. Ich berücksichtige ihn daher nicht mehr; vgl. aber immerhin den kleinen Hinweis in Anm. 72.

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λέγομεν δὲ Ἠλίαν καὶ Ἑλισαιέ ἔτι δὲ καὶ Ἰεζεκιήλ τοὺς προφήτας πρὸς τούτοις καὶ τοὺς μεμαρτυρημένους). Ezechiel erfährt in diesem Schlüsseltext der frühchristlichen Ezechielmemoria höchste Wertschätzung (ein Kontrapunkt zu den Beobachtungen in 1). Er steht in einer Reihe der bewährtesten Vorbilder gleich nach Elija und Elischa, erhält als einziger Schriftprophet einen Namen und soll dem christlichen Leben seinen Stempel aufdrücken. Geschrieben aber ist das fern von Judäa und Galiläa, in einer Abhandlung der Gemeinde von Rom, die an die Gemeinde in Korinth gerichtet ist. Das überrascht die Forschung.11 2.2 Die Achtsamkeit auf Ezechiel gerade in der Diaspora, dem hellenistisch-frühkaiserzeitlichen Judentum und daraus erwachsenden frühen Christentum, hat dennoch guten Grund: Gott sandte Ezechiel der hebräischen Textüberlieferung von Ez 2,3 zufolge „an die Kinder Israels, an Völker, die sich bitter auflehnen“ (MT ‫י‬‎ ֵ‫ל־ּבנ‬ ְ ‫ֹותָך ֶא‬ ְ ‫ׁשֹול ַח ֲאנִ י ֽא‬ ֵ ‫ּמֹור ִדים‬ ְ ‫)יִ ְׂש ָר ֵאל ֶאל־ּגֹויִם ַה‬. Die Verbindung Israels und der Gojim („fremden Völker“) in dieser Formulierung verfestigte sich spätestens in unserer Zeit.12 Sie verwebt zwei Akzente. Israelkritisch gelesen, fallen Israels Kinder unter die Völker; der Auftrag Ezechiels nennt Israels Kinder Gojim und nimmt ihnen jeden Vorzug. Völkerkritisch gelesen, erweitert der Text Ezechiels Auftrag; Ezechiel muss sich zusätzlich zu Israel an die gottfernen Völker wenden und ihre Auflehnung geißeln. Beides entspricht Akzenten der Ezechielüberlieferung. Ineinander fügt es sich, wenn die Memoria Ezechiel als Propheten an Israel und die Völker versteht und überzeugt ist, dass gerade das Leben unter den Völkern – die reale Existenzform Israels in der hellenistisch-frühkaiserzeitlichen Welt – eine besondere Gefährdung des Gottesvolks zur Auflehnung gegen Gott mit sich bringt.

11 Horacio E. Lona, Der erste Clemensbrief, KAV 2 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998) mindert 237 die Bedeutung Ezechiels und schreibt: „Unklar […] ist der Grund für den Namen Ezechiel. Vielleicht wollte der Vf. einfach einen der großen literarischen Propheten in die Reihe der Beispiele einordnen. Das wie eine Hinzufügung klingende ἔτι δὲ καὶ […] weist auf eine untergeordnete Rolle hin.“ 12 Ein Äquivalent zu ‫גוים‬, „Völker“, fehlt im kritisch hergestellten Septuagintatext (dem sog. Old Greek) noch. Dieses Motiv mag sich daher hebräisch erst nach der griechischen Übersetzung des späteren 2. Jh. v. Chr. verdichtet haben. Der Theodotiontext könnte das stützen, muss aber für die begonnene Neuedition der Hexapla nochmals geklärt werden. Nähere Diskussion in den Kommentaren z.St. Neben den Kommentaren zum hebräischen Buch ist dabei stets auch die Kommentierung der Septuaginta beizuziehen. Diese steht allerdings erst am Anfang (John Olley, Ezekiel. A Commentary Based on Iezekiēl in Codex Vaticanus, Septuagint Commentary Series [Leiden: Brill, 2009], 69 z.St.). Hinweise zum Forschungsstand für die Septuagintafassung finden sich bei M. Konkel im vorliegenden Band.

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Vergleichbare Spuren finden sich in der Psalmüberlieferung und der Ezechiellegende. Ezechiel und Jeremia wurden, wie man sich in der Fortschreibung des Psalters erinnerte, zur Beisassenschaft unter den Völkern gezwungen (Ergänzung in LXX Ps 64,1 diff. MT).13 Daraufhin starb Ezechiel in der Diaspora als entschiedener Gegner jedes Kompromisses Israels zu den Götterbildern der Völker, wie man im ersten Jahrhundert erzählt (VitProph Ez 1,1  f.; christlich früh rezipiert).14 Kurz, weil der Weg Ezechiels in die Diaspora bekannt ist, findet er in der Diaspora besondere Beachtung. 2.3 In Korrespondenz dieser Linie versteht der 1Clem die Nachfolger/innen Jesu als „heiligen Anteil“ bzw. „Anteil am Heiligen“ (ἁγία oder nach anderer Lesart Ἁγίου μερίς 1 Clem 30,1) unter den Völkern. Ihre Heiligkeit rückt die Nachfolger/innen Jesu ans heilige Israel heran, obwohl sie aus den Völkern stammen, und ihre Zerstreuung begründet 1Clem 29,2  f. mit einem Wort des berühmten Moseliedes aus Dtn 32: Der Höchste zerteilte die Völker (διεμέριζεν ὁ ὕψιστος ἔθνη) und zerstreute die Kinder Adams (διέσπειρεν υἱοὺς Ἀδάμ; Dtn 32,8 LXX) rund um die Mitte Jakobs. Das macht die Völker gleichsam zum Raum der Diaspora (Zerstreuung), in dem die christlichen Gemeinden leben und sich die großen Gestalten Israels zum Vorbild nehmen. Ezechiel wird – so rundet sich mithin die Erklärung – in 1Clem 17,1 zum Dritten nach Elija und Elischa, weil sie sich an Israel wandten, er aber in der Memoria für den Umbruch der Geschichte Israels zur Diaspora und für die Verkündung des einen Gottes in der Welt der Völker steht. 13 Die Erweiterung in LXX Ps 64,1 (hg. v. Rahlfs: ᾠδή Ιερεμιου καὶ Ιεζεκιηλ ἐκ τοῦ λόγου τῆς παροικίας […]) führt wahrscheinlich noch in die vorneutestamentliche Zeit zurück; allerdings ist die Stelle schon seit Theodoret textkritisch umstritten (Alfred Rahlfs, Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum, Bd. 10, Psalmi cum Odis [Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 31979], 64  f. und 183 z.St.). Zur Motivation der Erweiterung vgl. Martin Rösel, „Die Psalmüberschriften des Septuaginta-Psalters,“ in Der Septuaginta-Psalter. Sprachliche und theologische Aspekte, hg. v. Erich Zenger, HBS 32 (Freiburg/New York: Herder, 2001), 125–148, hier 139  f. Sollte die Erweiterung erst in der neutestamentlichen Zeit (sekundär zum Old Greek) entstanden ein, fällt eine sprachliche Assoziation umso mehr auf: Der Psalm spricht von einer Rede aus der Beisassenschaft heraus (παροικία), und 1Clem sieht die christlichen Gemeinden ihrerseits in einer Beisassenschaft unter den Völkern (παροικεῖν 1 Clem 1,1). 14 Die Vitae Prophetarum blieben dank der christlichen Rezeption erhalten. Sie sind gut ediert und durch Studien von Anna M. Schwemer erschlossen: Anna M. Schwemer, „Vitae Prophetarum und Neues Testament,“ in Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature: Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook 2008, hg. v. Hermann Lichtenberger/Ulrike MittmannRichert (Berlin: de Gruyter, 2009), 199–230; dies., Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden Vitae prophetarum, 2 Bde. (Tübingen: Mohr Siebeck, 1995–1996); dies., Vitae Prophetarum, JSHRZ I 7 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997).

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2.4 Freilich bedeutet diese Hochachtung nicht, dass die Gemeinde zu Rom das Ezechielbuch genau studieren würde. Wie nämlich beschreibt der 1Clem Ezechiel? Er schildert ihn, wie man sich im späten 1. Jh. einen Künder des einen Gottes vorstellt: der wandle in Ziegenhaut und Schafspelz (ἐν δέρμασιν αἰγείοις καὶ μηλωταῖς) wie Elija und Elischa (LXX 3Kgt 19,13.19; 4Kgt 2,8.13  f.).15 Das entspricht dem Bild der ersten Christen von der Tracht großer Gotteszeugen aus der Geschichte Israels; Hebr  11,37 beschreibt mit fast derselben Formulierung wie der 1Clem, dass sie, deren die Welt nicht wert war (vgl. v. 38), „umhergingen in Schafspelzen, in Ziegenhäuten“ (περιῆλθον ἐν μηλωταῖς, ἐν αἰγείοις δέρμασιν). Doch es passt nicht zum Ezechielbuch; weder in dessen hebräischer noch in dessen Septuagintafassung kommen Ziegenhaut und Schafspelz vor (weder für Ezechiel noch für Dritte). Warum übertragen die frühen Christen das Gewand Elijas und Elischas auf Ezechiel, die Propheten und großen Gotteszeugen der Geschichte Israels?16 Wieder könnte ein Phänomen der Diaspora eine Rolle spielen: An Orakel- und Kultstätten ihrer Umwelt wirken zur neutestamentlichen Zeit fremdreligiöse Prophetinnen und Propheten.17 Aber nirgendwo ist ein zu unserer Stelle vergleichbares Gewand belegt. D.h. die Propheten Israels, auf die Jesu Nachfolger/innen hören und denen sie nacheifern, tragen eine eigene, unverwechselbare Tracht. Die auffällige Kombination von Fellen gewährleistet ihre Erkennbarkeit und Distanz zu Fremdkulten. 2.5 Diese Skizze des 1Clem beeindruckt die Christen des 2.  Jh. so sehr, dass Clemens Alexandrinus sie in den Stromateis noch drei Generationen später zitiert.18 Gleichwohl können wir uns in der hier gebotenen Beschränkung zwei angrenzende Fragen lediglich streifen:

15 Vgl. die Gaben, die Israel laut dem zeitgenössischen griechischen Exodustext für das Heiligtum Gottes zusammenträgt (αἰγεία δέρματα in Ex 35,23 Aquila und Theodotion diff. δέρματα κριῶν im Old Greek Ex 35,23LXX). Die Tracht charakterisiert für die Zeitgenossen also einen heiligen, gehorsamen Dienst für den einen Gott. Der große Abschnitt des 1Clem wirbt dafür, Gott in vollkommener Weise zu dienen und ihm ohne jede Einschränkung gehorsam sein (s. τελείως λειτουργεῖν 9,2 und ὑπήκοος τῷ θεῷ 14,1), wie Elija und Elischa, die großen Gotteskünder im alten Israel, und Ezechiel, der Gotteskünder am Übergang vom alten Israel/Judäa zur Diaspora, das taten. 16 Die gerne zitierte Stelle Sach 13,4 eignet sich nur sehr begrenzt als Übergang. Denn sie nennt zwar im hebräischen Text ein Gewand aus Haar (‎‫)א ֶּד ֶרת ֵׂש ָער‬ ַ der Propheten (‎‫יאים‬ ִ ‫)נְ ִב‬. Doch die griechische Überlieferung löst die schwierige Syntax der Stelle zur Kritik an den Propheten auf; sie werden, heißt es, „ein härenes (Buß-) Gewand tragen, weil sie logen“. Die frühchristliche Rezeption ignoriert solche Ambivalenz. 17 Προφήτης und προφῆτις sind geläufige Worte der Völker für Künder einer Orakel- oder anderen Gottheit von Delphi bis Didyma und Klaros sowie an Isistempeln. 18 Nicht einmal er, der beeindruckende Gelehrte, kontrolliert dabei die Beschreibung im Ezechielbuch. Im Gegenteil, er findet entweder eine schon erweiterte Fassung unseres Textes vor,

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2.5.1 Warum nennt die Memoria des 1Clem Jeremia, den zweiten großen Propheten mit einem Weg ins Exil,19 nicht neben Ezechiel? Jeremia kommt anders als Ezechiel im neutestamentlichen Schrifttum mit Namen vor (Mt  2,17; 16,14; 27,9), wird weit häufiger als Ezechiel zitiert20 und diente laut Mt 16,14 mancherorts sogar als Vergleichsgestalt zu Jesus. Verband der 1Clem Jeremia also trotz dieser Vorzüge weniger mit seinen Anliegen (der Name Jeremia erscheint in ihm nicht)? Die Quellen sind zu unklar, um eine solche Vermutung zu sichern, und die umgekehrte Frage nach der Bedeutung Jeremias in der Jesusüberlieferung und im Neuen Testament müssen wir hier zurückstellen. 2.5.2 Wie sehr erweitern sich die Drittquellen des Ezechielbilds im frühen Christentum?21 Die Fortschreibung des biblischen Schrifttums und die Vitae Prophetarum sind uns schon begegnet. Ein Ezechiel-Apokryphon und weitere Fragmente einer möglichen Ezechielliteratur gehen später ins Christentum ein.22 Außerdem behauptet Josephus in den Antiquitates, Ezechiel habe zwei Bücher hinterlassen

oder er erweitert ihn selbst um ein weiteres Beispiel, Johannes den Täufer. Nach dem ersten Clemensbrief seien, schreibt er, Elija, Elischa, Ezechiel und Johannes (der Täufer) die maßgeblichen Träger des Ziegen-, Schaf- oder Kamelfellgewandes (strom. IV 17, 105,4). 19 Vgl. oben unter 2.2 zu LXX Ps 64,1. Weiteres zur Rezeptionsgeschichte Jeremias bei Lutz Doering, „Jeremia in Babylonien und Ägypten: Mündliche und schriftliche Toraparänese für Exil und Diaspora nach 4Q Apocryphon of Jeremiah C,“ in Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie: Mit einem Anhang zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, hg. v. Wolfgang Kraus/Karl-Wilhelm Niebuhr, WUNT 162 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), 50–79. 20 Überblicke bei Christian Wolff, Jeremia im Frühjudentum und Urchristentum, TU 118 (Berlin: Akademie-Verlag, 1976) und Hindy Najman/Konrad Schmid, Hg., Jeremiah’s Scriptures: Production, Reception, Interaction, and Transformation, JSJ.S 173 (Leiden: Brill, 2016), Teil 3 (Kap. 40–44). 21 Textgeschichtliche Erörterungen für die neutestamentlichen Zitate werden dadurch erschwert, dass die Hinweise auf Ezechieltexte in Qumran sich nicht signifikant mit den Zitaten und zitatnahen Rezeptionen des Ezechielbuches im Neuen Testament überschneiden. Matthias Millard bearbeitete diesen Bereich für die genannte (vgl. Anm. 1) Wuppertaler Datenbank (vgl. Matthias Millard, „Die Schriftzitate im Neuen Testament und die Textüberlieferung in Qumran als Textzeugen für die Textgeschichte des Alten Testaments,“ in Worte der Weissagung. Studien zu Septuaginta und Johannesoffenbarung, hg. v. Julian Elschenbroich/Johannes de Vries, ABIG 47 [Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2014], 56–75). George J. Brooke, „Ezekiel in Some Qumran and New Testament Texts,“ in The Madrid Qumran Congress, hg. v. Julio Trebolle Barrera/ Luis Vegas Montaner, StTDJ 11/1 (Leiden/New York: Brill, 1992), 317–337 vergleicht aufgrund der Problematik die Zugänge zum Ez-Text in den verschiedenen Quellen und stellt die Frage textgeschichtlicher Abhängigkeiten zurück. 22 Vgl. James R. Mueller, The Five Fragments of the Apocryphon of Ezekiel: A Critical Study, JSPES 5 (Sheffield: Sheffield Academic Press, 1994) und Michael E. Stone et al., Hg., The Apocryphal Ezekiel, EJIL 18 (Atlanta: SBL, 2000); Epiphanius, Pan., 64, 70, 5  f.; 70, 3, 5; Clem. Al., Quis Dives Salvetur 40, 2.

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(ant. X 5,1). Meint er damit zwei Teile des Ezechielbuches, dessen verschiedene Aufbaugestalten in der griechischen und hebräischen Überlieferung unserer Zeit, die ich noch werde erwähnen müssen (s. 8.2), oder kennt auch er eine breitere Ezechielliteratur? Der Sachverhalt ist insofern interessant, als ausgerechnet wieder der 1Clem erstmals als Rezipient eines apokryphen Ezechielwortes in Frage kommt. Clemens Alexandrinus, der uns schon bekannte Liebhaber dieses Briefes, jedenfalls schlägt vor, das anonyme Wort in 1Clem 8,3, Gott werde das Volk hören, wenn es in der Umkehr zu ihm rufe, stamme von Ezechiel.23 Falls es das Relikt eines Ezechielapokryphons wäre, galt das Wirken Ezechiels Israel und wird es doch durch die Rezeption im frühen Christentum universalisiert.24 Das passt vorzüglich zu unseren ersten Beobachtungen (§ 1 bis 2.3). Allerdings intonierte keineswegs nur Ezechiel25 die Verheißung über der Umkehr.26 Belasten wir daher die Stelle nicht, obwohl ihr ein Zitat aus Ez vorangeht, auf das ich später zurückkommen muss (s. 6.). 2.6 Halten wir inne und summieren. Der Ruhm Ezechiels warnt davor, das Schweigen über seinen Namen in den Schriften des Neuen Testaments überzubewerten. Ezechiel war auch, wo man ihn nicht nannte, bekannt. Freilich war für die Rezeption nicht eine erforschende Lektüre des Ezechielbuches in modernem Sinne maßgeblich, sondern die Ezechiel-Memoria der Zeit. Sie verstand Ezechiel als große Orientierungsgestalt aus der Geschichte Israels, die vor allem in der Zerstreuung des Gottesvolks unter den Völkern zu hören ist.

23 Clem. Al., Paed. v. I 91, 2. 24 Der Duktus von 1Clem 8 enthält beide Dimensionen: Gott verheißt dem Haus Israel (οἶκος Ἰσραήλ v. 3a), er werde sich ihm zuwenden, wenn es umkehre, selbst wenn seine Sünden bis zum Himmel ragten (Ἐὰν ὦσιν αἱ ἁμαρτίαι ὑμῶν ἀπὸ τῆς γῆς ἕως τοῦ οὐρανοῦ καὶ ἐὰν ὦσιν πυρρότεραι κόκκου καὶ μελανώτεραι σάκκου καὶ ἐπιστραφῆτε πρός με ἐξ ὅλης τῆς καρδίας καὶ εἴπητε Πάτερ ἐπακούσομαι ὑμῶν ὡς λαοῦ ἁγίου 8,3). Dies aber zeigt (wie andere Worte) den Willen des Herrn, dass alle (!) seine Geliebten – die Geliebten in Israel und den Völkern (vgl. Ninive in 7,7) – an der Umkehr teilnehmen sollten (πάντας οὖν τοὺς ἀγαπητοὺς αὐτοῦ βουλόμενος μετανοίας μετασχεῖν 1 Clem 8,5). Denn Gott ist „der Herr aller“, wie ὁ δεσπότης τῶν ἁπάντων in 8,2 am Besten zu übersetzen ist (vgl. „alle Geschlechter“ in 7,5 und die Umkehr Ninives in 7,7); die alternative Übersetzung „Herr des Alls“ (Joseph A. Fischer, Die apostolischen Väter, SUC 1 [Darmstadt: WBG, 81981], 35 z.St.) schafft einen noch universaleren Rahmen. 25 Vgl. bes. Ez 33,11.14–16.19. 26 Der gerade erwähnte Jeremia etwa ließe sich ähnlich nennen: vgl. bes. Jer 24,7.

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3 Synoptische Jesusüberlieferung Nach dem Gesagten wundert nicht, dass die Überlieferung des Wirkens Jesu in Judäa und Galiläa Ezechiel nicht explizit nennt. In Judäa und Galiläa war das Diasporainteresse nicht vordringlich. Nicht das Spezifikum der Ezechielmemoria leitete deshalb die Rezeption, sondern die Überzeugung, alle großen Propheten Israels seien Mahner und riefen ein Volk ohne Hirten zur Umkehr, ohne zureichend Gehör zu finden: Tabelle 1: Die Schriftreferenz von Mk 8,18 Mk 8,18 Ez 12,2Gö und MT (ohne ­Zitationsformel)

Jer 5,21Gö

Hinweise

ὀφθαλμοὺς ἔχοντες οὐ βλέπετε καὶ ὦτα ἔχοντες οὐκ ἀκούετε;

ὀφθαλμοὶ αὐτοῖς καὶ οὐ βλέπουσιν ὦτα αὐτοῖς καὶ οὐκ ἀκούουσιν

Vgl. auch die Aufnahme von Jes 6,9  f. in Mk 4,12. W liest statt βλέπετε in Mk 8,18 βλέπουσιν.

ἔχουσιν ὀφθαλμοὺς τοῦ βλέπειν καὶ οὐ βλέπουσι καὶ ὦτα ἔχουσι τοῦ ἀκούειν καὶ οὐκ ἀκούουσι ‫עינַ יִם ָל ֶהם ִל ְראֹות וְ לֹא‬‎ֵ ‫ָראּו ָאזְ נַ יִם ָל ֶהם ִל ְׁשמ ַֹע‬ ‫וְ לֹא ָׁש ֵמעּו‬

3.1 Betrachten wir unter dieser Perspektive zuerst Mk 8,18, die Stelle der Synoptiker, die herkömmlich am ehesten als Ez-Zitat gilt (Tabelle 1). Jesus ruft dort nach der heutigen Interpunktion seinen Jüngern in einer rhetorischen Frage zu (NestleAland28): „Seht ihr nicht, obwohl ihr Augen habt, und hört ihr nicht, obwohl ihr Ohren habt?“ Bei anderer Interpunktion macht er ihnen den direkten Vorwurf „obwohl ihr Augen habt, seht ihr nicht, und obwohl ihr Ohren habt, hört ihr nicht!“ Eine Zitatformel und konkrete Festlegung auf Ezechiel fehlen. Das Ezechielbuch ist denn auch nicht alleine in Anschlag zu bringen. Neben der Kritik an den Jerusalemern aus Ez 12,2 ist die Kritik von Jer 5,21 zu vergleichen und klingt – etwas entfernter – Jes 6,9  f. an (vgl. Mk 4,12).27 D.h. das Wort zeichnet Jesus als einen Verkünder, der die Mahnung der großen Schriftpropheten – Jesajas, Jere-

27 Sprachlich weicht die mk Formulierung von allen Referenztexten ab; gegenüber Ez variieren die Wortfolge sowie Verbform und ist die Aussage über das Hören gekürzt.

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mias und Ezechiels – zusammenfasst.28 Eine spezielle Rezeption nur Ezechiels liegt nicht vor.29 Tabelle 2: Die Schriftreferenz von Mk 6,34 Mk 6,34 (ohne Zitations­formel)

Ez 34,5

Num 27,17

3Kgt 22,17

Hinweise

Viel Volk (ὄχλος) ἦσαν ὡς πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα Vgl. Mt 9,36 ἦσαν […] ὡσεὶ πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα

διεσπάρη τὰ πρόβατά μου διὰ τὸ μὴ εἶναι ποιμένας ‫פּוצינָ ה ִמ ְּב ִלי‬ ֶ ‫וַ ְּת‬‎ ‫ר ֶֹעה‬ (hebr. keine Nennung der Schafe)

οὐκ ἔσται ἡ συναγωγὴ κυρίου ὡσεὶ πρόβατα οἷς οὐκ ἔστιν ποιμήν

εἶπεν Μιχαιας […] ἑώρακα […] Ισραηλ […] ὡς ποίμνιον ᾧ οὐκ ἔστιν ποιμήν

1. ὡσεί bei Mt entspricht Num 27,17 2. ‫ *א‬lässt ὡς πρόβατα aus (gegen 𝔓84, B usw.), ein Korrektor trägt es nach.

3.2 Ähnliches gilt für Mk 6,34, die zweite Stelle, die unter einem dichteren Einfluss Ezechiels stehen könnte.30 Sie bedient sich des Bildes von einem Volk ohne Hirten, um die Not der Menschen zu beschreiben, die Jesus begegnen. Diesem Bild gab Ez 34 die heute berühmteste Gestalt, doch begegnet es auch in der Tora (Num 27,17) und den Geschichtsbüchern Israels (s. 3Kgt 22,17 in Tabelle 2). Das Mk stellt das Wirken Jesu also in eine tiefe und weite Erfahrung Israels.31 28 Weiteres in den Kommentaren und bei Rikk E. Watts, „Mark,“ in Beale/Carson, Commentary (a.a.O. Anm. 5), 111–249, hier 171–175. 29 Auch die spätere Überlieferung des Mk-Textes hält Ezechiel und Jeremia in der Waage. In einen der großen Codices dringt zwar ein Sekundäreinfluss aus der Septuaginta ein: Ez 12,2 und Jer 5,21 schreiben „sie (die kritisierten Menschen) sehen nicht“ statt einer Ihr-Anrede (βλέπετε usw.). Codex W übernimmt das in Mk 8,18; er passt das Zitat den Schriften Israels etwas genauer an. Indes tut er das genau dort, wo Jer und Ez übereinstimmen (im Verb βλέπουσιν). Nicht einmal nachträglich wird unser Jesuswort zu einem Zitat speziell aus Ezechiel präzisiert. Vgl. die vor der Fertigstellung stehende Wuppertaler Dissertation von David Herbison zur Schriftrezeption im Codex W z.St. 30 John F.A. Sawyer, „Ezekiel in the History of Christianity,“ in Joyce/Mein, Ezekiel (a.a.O. Anm. 5), 1–9, hier 2. 31 Das Mt sieht diese Erfahrung daraufhin maßgeblich in der Tora beschrieben und korrigiert das markinische ὡς zu ὡσεί gemäß Num 27,17. Die erste Hand des Codex Sinaiticus dagegen versucht, wenn sie nicht einen zufälligen Fehler macht, eine Anpassung an den Grundtext von Ez  34,5, der die Schafe nicht explizit erwähnte (vielleicht lag eine heute verlorene Rezension der griechischen Überlieferung nach dem hebräischen Text vor). Ein Korrektor macht das dann wieder rückgängig (s. Tabelle 2).

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Betrachten wir diese Erscheinung nicht als Mangel, sondern als Absicht, ergibt sich eine durchaus bemerkenswerte Pointe. Jesus und die Nachfolger/ innen, die in Galiläa und Judäa von seinem Wirken zu erzählen beginnen, wissen von Ezechiel, aber wichtig ist ihnen nicht die Unterscheidung Ezechiels von anderen Zeugnissen aus den Schriften Israels, sondern der gemeinsame, übergreifende Klang: Die Propheten und die heiligen Schriften Israels grundieren Jesu Bußruf und Jesu Zuwendung zu seinem Volk, dem es an vor Gott verlässlichen Hirten mangelt. 3.3 Die Überlieferung der Logienquelle (Q) enthält keinerlei zitatähnliche Referenz auf ein Ezechielwort. Gleichwohl erweitert sie das Bild um einen wesentlichen Topos. In der Seligpreisung Q 6,22  f. artikuliert sie: Wenn Menschen die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu schmähen (ὅταν ὀνειδίσωσιν ὑμᾶς, rekonstruiert)32 und gegebenenfalls verfolgen (καὶ διώξωσιν; so Q nach Mt  5,11 diff. Lk 6,22), werde das durch Gottes himmlische Zuwendung ausgeglichen werden; denn ebenso handelten die Vorfahren an den Propheten (ἐδίωξαν τοὺς προφήτας Mt 5,12 bzw. ἐποίουν τοῖς προφήταις Lk 6,23).33 Der Hintergrund dieses Motivs reicht weit zurück. Schon die alten Prophetenbücher waren überzeugt, die Propheten fänden mit ihren Worten kein Gehör.34 Jüdische Selbstkritik in vorneutestamentlicher Zeit stilisierte das zu einer Schmähung der Propheten und zu Gewaltanwendung gegen sie.35 Unser Ezechiel sei durch den ἡγούμενος, die leitende Person des Volkes Israel im Exil getötet worden, erzählte die Ezechielvita in Vitae Prophetarum (VitProph Ez 2). Beachten wir angesichts dessen nun allerdings eine feine Differenzierung: Jesu Seligpreisung spricht von der Schmähung und Verfolgungserfahrungen der Propheten, nicht von ihrer Ermordung. Auf das Analogon zu einer Gegenwart mit Stigmatisierung und Diffamierung der Nachfolger/innen Jesu kommt es ihr an.

32 Wegen der beträchtlichen Unterschiede der mt und lk Seligpreisungen ist die Rekonstruktion erschwert. Ich folge dem Vorschlag von James M. Robinson et al., Hg., The Critical Edition of Q, Hermeneia (Minneapolis: Fortress Press, 2000), 50  f. z.St. 33 Einordnung in die Theologie von Q bei Michael Labahn, Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte, ABIG 32 (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2010), 315  f. 34 Was Ezechiel angeht, stand in Ez 33,32, die Menschen würden, obwohl sie zu ihm kämen, nicht nach seinen Worten handeln: ‎‫אֹותם‬ ָ ‫ת־ּד ָב ֶריָך וְ ע ִֹׂשים ֵאינָ ם‬ ְ ‫ ;וְ ָׁש ְמעּו ֶא‬LXX ἀκούσονταί σου τὰ ῥήματα καὶ οὐ μὴ ποιήσουσιν (bzw. nach p967 ποιήσωσιν) αὐτά (der Nachweis zu p967 in der Edition Zieglers [s. Anm. 7], 343). 35 Das gewaltsame Geschick der Propheten wurde zu einer Chiffre um die neutestamentliche Zeit: vgl. Studien seit Odil H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, WMANT 23 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1967).

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Todesopfer expliziert sie an dieser Stelle weder unter den Nachfolgern Jesu noch unter den alten Propheten. Ezechiel als Einzelgestalt spielt keine Rolle. 3.4 Ein zweites Jesuswort der Logienquelle (Lk  11,47  f./Mt  23,29–32) dagegen spricht von Grabmälern der Propheten. Nach dem wichtigsten gegenwärtigen Vorschlag lautete es in Q in etwa: „Wehe euch, ihr baut Gedenkmale der Propheten, eure Väter aber ermordeten sie. Was euch betrifft, bezeugt ihr, dass ihr Kinder eurer Väter seid“ (Οὐαὶ ὑμῖν, ὅτι οἰκοδομεῖτε τὰ μνημεῖα τῶν προφητῶν, οἱ δὲ πατέρες ὑμῶν ἀπέκτειναν αὐτούς. μαρτυρεῖτε ἑαυτοῖς ὅτι υἱοί ἐστε τῶν πατέρων ὑμῶν36). Hart decouvriert Jesus hier eine spezifische (und bemerkenswerterweise durchaus moderne) Gedächtniskultur: Wer den Opfern seiner Vorfahren Gedenkmale baut, korrigiert deren Schuld nicht, sondern bekräftigt sie; die Kinder sind daran zu erinnern, dass die Schuld der Väter nicht an ihnen vorübergeht. Jesu Wort gewinnt hohe Prägnanz durch die sichtbaren Mahnmale bei Jerusalem. Ezechiel indes wurde der Überlieferung nach weitab in der Diaspora bestattet (laut VitProph Ez 3 auf dem Feld Maour) und sein Grab erst sehr viel später zur Verehrungsstätte (al Kifl im Irak). Es ist daher mehr als fraglich, ob die alte, judäischgaliläische Jesusüberlieferung Ezechiel in das Wort über die Mahnmale einbezog. Eine Beschäftigung Jesu und seiner judäischen Nachfolger/innen mit dem Tod Ezechiels lässt sich nicht sichern. 3.5 Alle beschriebenen Worte gehen der Überlieferung nach auf den irdischen Jesus zurück. Die Erinnerung gewahrte bei ihm demnach keine Hervorhebung Ezechiels. Nach der Hinrichtung Jesu jedoch entsteht eine Erzählung, deren Konturen ohne eine ezechielische Vision nicht denkbar wären: Laut Mt 27,52–53 öffnen sich nach dem Tod Jesu die Grabmale, wie Gott das in Ez 37 für die toten Gebeine Israels verhieß (τὰ μνημεῖα ἀνεῴχθησαν Mt  27,52; vgl. die Gottesrede ἀνοίγω ὑμῶν τὰ μνήματα in Ez 37,12). Wann und wo sich diese kleine Szene formte, lässt sich nicht mehr feststellen.37 Da sie in der mk und joh Passionserinnerung fehlt, hat womöglich erst das

36 S. Robinson et al., Critical Edition (a.a.O. Anm. 32), 282  f. Die Rekonstruktion fällt allerdings noch schwerer als bei der Seligpreisung; sie ist daher a.a.O. mit mehreren Klammern versehen. 37 Zur Forschungsentwicklung s. die Kommentare und Maria Riebl, Auferstehung Jesu in der Stunde seines Todes? Zur Botschaft von Mt 27,51b–53, SBB 8 (Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 1978); Jens Herzer, „Auferstehung und Weltende als Rätsel? Zur Funktion und Bedeutung von Mt 27,51b-53 im Kontext der matthäischen Jesus-Erzählung,“ in Evangelium Ecclesiasticum. Matthäus und die Gestalt der Kirche, hg. v. Christfried Böttrich u.  a., Edition Chrismon (Frankfurt a.M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus, 2009), 115–144; Elaine Raju, Tod, Auferstehung und

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Mt sie gebildet. Dort geht eine große Kontrastgeschichte voraus: Jesus konzentrierte sein Wirken und das seiner Jünger auf Israel (Mt 10,5  f. u. ö.). Aber er fand kein zureichendes Gehör. In Jerusalem kulminierte das. Alles dort zum Pascha versammelte jüdische Volk wandte sich gegen ihn (πᾶς ὁ λαός Mt 27,25). Jesu Kreuzigung desavouierte die heilige Gegenwart Gottes; der Tempelvorhang zerreißt (27,51).38 Im mt Kontext bahnt das den Weg der Botschaft Jesu und der Jünger zu den Völkern.39 Deutet sich also die Relevanz Ezechiels für den Horizont eines Lebens mit dem einen Gott Israels unter den Völkern an? Das gilt nur, wenn gleichzeitig das große Interesse Ezechiels an Jerusalem gewürdigt wird.40 Um Jerusalem nämlich geht es in der Szene. Die entschlafenen Heiligen werden aus den Grabmälern aufgeweckt und begeben sich in die „heilige Stadt“ – wie Jerusalem ausdrücklich heißt –, um dort vielen Menschen zu erscheinen. Wir können manche Details dieser schwierigen Passage ausklammern.41 Vergegenwärtigen müssen wir uns freilich die Veränderung des Verständnisses von Ez 37. Die Vision des Propheten, das wie zu Knochen zerfallene Israel stehe auf,42 meinte zunächst, Israel werde in Zeit und Geschichte wiedererstehen. Allmählich eschatologisierte es sich; die Erwartung, die heiligen Menschen aus Israel blieben nicht im Tod, sondern stünden in der Gegenwart Gottes auf, begann.43 Aber noch

ewiges Leben im Matthäusevangelium, Diss. Heidelberg 2017 (Internetveröffentlichung: https:// archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/24245/1/Dissertation_Raju_M%C3%A4rz2018.pdf, abgerufen am 10. 2. 2019), 143–168. 38 Ein großer Teil der Forschung interpretiert das als Gerichtszeichen: s. jüngst etwa Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), 446. 39 Vgl. Mt 28,16–20 und einen Nebenaspekt im Bild vom Zerreißen des Tempelvorhangs: Wenn der Vorhang gemeint ist, der den Völkern den Blick auf das Allerheiligste verstellte, eröffnet sich ihnen nun bildlich die Möglichkeit, auf die Heiligkeit Gottes zu schauen. 40 Zur Perspektive von LXX Ez auf Jerusalem vgl. die Kap. 40–48 und unten Anm. 75. 41 Angefangen bei der Kombination mit Sach 14,4  f., die dafür sorgt, dass Ezechiel wie bei den bislang besprochenen Stellen als Stimme aus dem größeren prophetischen Chor hervortritt. Diese Kombination findet sich auch in den Fresken von Dura Europos (vgl. Nicolas Bossu, „Ezk. 37 at the Dura-Europos Synagogue“ (SBL Annual Meeting San Antonio, TX. 2016, im Erscheinen in RB). Da die Fresken jünger als das Neue Testament sind, ist es schwierig, sie in die Deutung von Mt 27,52  f. einzubeziehen. Trotzdem geschieht das immer wieder, zuletzt bei Sh. Matthews, „Resurrection, Politics and Justice: Divergent Directions in the Gospels of Matthew and Luke,“ Vortrag SNTS 2018, im Erscheinen. 42 Zum hebräischen und griechischen Text vgl. die Kommentare und Michael Sommer, „‚… sie gelangten zum Leben.‘ Eine Untersuchung der Rezeption von Ez 37,1–14 in der Offenbarung des Johannes,“ Sacra Scripta 9 (2011): 149–172, hier 151–158. 43 Wie weit diese Entwicklung vor der neutestamentlichen Zeit voranschritt, hängt wesentlich an der Bewertung der (keineswegs eindeutig eschatologisch-jenseitigen) Rezeption in 4QPseudo-

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war das am Ende des 1. Jh. nicht voll zu einer außer- oder nachweltlichen Auferstehung avanciert. Das Mt aktualisiert die Vorstellung in 27,52  f. deshalb in einer Übergangssituation und spezifischer Weise: Das Volk in Jerusalem widersprach, wie geschildert, der Heiligkeit der Stadt durch die Verurteilung Jesu. Die Heiligen aus den Gräbern treten dem entgegen. Sie repräsentieren das heilige Israel und gehen hinein in die Stadt. Sie füllen das Vakuum, werden sichtbar und dokumentieren so, dass die Stadt weiterhin heilig zu nennen ist (εἰσῆλθον εἰς τὴν ἁγίαν πόλιν 27,53). Der eine Gott, der Herr ist und als Herr handelt (vgl. Ez 37,13  f.), öffnet den Weg der Botschaft Jesu zu den Völkern von Jerusalem aus, das ihm weiterhin als heilig gilt.44 Ordnen wir das in die griechische Ezechielmemoria ein, dann hält Ezechiel, obwohl er zu den Exilierten gehörte, stets das Loblied Gottes in Zion und Jerusalem hoch.45 Die Botschaft Ezechiels begrenzt unbeschadet all ihrer Härte die Kritik an Jerusalem und Israel. Heilige aus Israel machen den Leserinnen und Lesern des Evangeliums unter den Völkern sichtbar, dass das Jerusalemer Volk, das Jesus verurteilte, nicht für ganz Israel steht. 3.6 Das Ezechielbild der synoptischen Überlieferung erfährt demnach eine Entwicklung. Den ältesten Kern dürfen wir nur höchst vorsichtig konturieren. Ezechiel ist – obwohl nicht namentlich erwähnt – für Jesus und die ersten Christen sicher einer der großen Propheten Israels und wichtiger, vom Volk missachteter Mahner. Doch er tritt im judäisch-galiläischen Raum nicht als Einzelgestalt aus der Reihe der Propheten hervor. Entsprechend bedarf es auch einer Erzählung der Legende von seiner Ermordung zur Deutung Jesu46 und der nachösterlichen

Ezekiel (4Q385 fr. 2 und 4Q386); vgl. Albert L.A. Hogeterp, Expectations of the End. A Comparative Traditio-Historical Study of Eschatological, Apocalyptic and Messianic Ideas in the Dead Sea Scrolls and the New Testament, StTDJ 83 (Leiden/Boston: Brill, 2009), 269–274 (Lit.) und die Hinweise bei Heinz-Josef Fabry im vorliegenden Band. Einen Überblick über die frühe Rezeptionsgeschichte von Ez 37 bis ins frühe Christentum gibt Nicolas Bossu, Une prophétie au fil de la tradition. L’oracle des ossements desséchés (Ez 37, 1–14) et ses relectures chrétiennes, entre herméneutique et théologie, EtB.NS 69 (Pendé: J. Gabalda, 2015). 44 Die Forschung erwog immer wieder, die Gräber, die sich öffnen, seien auch und gerade die Mahnmale der Propheten bei Jerusalem. Dann unterstreicht die Szene durch den Kontrast der Heiligen aus den Gräbern die Schuld des Volks in Jerusalem. Andererseits liegt Ezechiel, wie geschildert, gerade nicht bei Jerusalem begraben. Ich halte daher diesen Nebenakzent für weniger wichtig. 45 LXX Ps 64,1  f. fängt das auf seine Weise ein: Ezechiel ist dort in v. 1 und Jerusalem in v. 2 gegen den hebräischen Text eingeführt. 46 Q klammert bekanntlich die Passion aus. Aber es liegt nahe, dass die Quelle Jesu Geschick ähnlich zur Geschichte der verfolgten Propheten verstand. Wohl auch deshalb rezipierte Q die

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Konflikte in Q nicht. Aber sobald die Relevanz des judäisch-galiläischen Raumes zugunsten der Ausbreitung des Evangeliums unter den Völkern in Frage steht, wächst Ezechiels Bedeutung. Er muss dann nicht nur um der Völker willen wahrgenommen werden, sondern ebenso, um die Heiligen in Israel und die Heiligkeit Jerusalems zu würdigen.

4 Jüngere Reflexionen auf den Tod Ezechiels Eingangs erwähnte ich den Tod Ezechiels (in § 2.2). Im letzten Paragraphen minderte ich seine Bedeutung für die frühchristliche Memoria. Nun muss ich fragen: Spielt der Tod Ezechiels an Drittstellen des Neuen Testaments eine Rolle, und wie tut er das? 4.1 Vorbereitet sind wir auf die bemerkenswerte Balance der Stelle, die die Vorstellung über den Tod Ezechiels später am stärksten prägen wird, Hebr 11: Dieses Kapitel erzählt in etwa zur Zeit des Mt47 in der Diaspora von den vielen Zeugen des Glaubens aus der Geschichte Israels, die bereit waren, Stigmatisierung (Spott usw.), Misshandlung und Vertreibung, ja sogar den Tod auf sich zu nehmen. Sie seien unter anderem mit dem Schwert getötet worden, lesen wir unmittelbar vor der Nennung der Tracht der Propheten, die uns schon begegnete ([…] ἐν φόνῳ μαχαίρης ἀπέθανον, περιῆλθον ἐν μηλωταῖς, ἐν αἰγείοις δέρμασιν 11,37). Partizipien beschreiben im Fortgang, wie die Träger des Fellgewandes Not erlitten, bedrängt wurden und Böses erfuhren (περιῆλθον ἐν μηλωταῖς, ἐν αἰγείοις δέρμασιν, ὑστερούμενοι, θλιβόμενοι, κακουχούμενοι, weiterhin Hebr 11,37). Die übliche Abfolge eines Leseprozesses würde diese zweite Beschreibung auf die Propheten und die vorangehende Aussage „sie starben den Tod des Schwertes“ auf den großen Kreis der zuvor genannten Personen beziehen; im Hebr sind das unbestimmte „andere“ (ἕτεροι v. 36), gelistet nach den Zeugen von Gideon bis zu den Frauen der Makkabäerzeit (vv. 32–35). Ein Teil dieser „anderen“ (der nicht namentlich genannten Glaubenszeugen) stirbt dann, gesteinigt, zersägt oder durchs Schwert (ἐλιθάσθησαν, ἐπρίσθησαν, ἐν φόνῳ μαχαίρης ἀπέθανον), ein

Tradition von den verfolgten und getöteten Propheten; doch braucht das nicht die Konkretisierung auf eine Tötung und ein Gedenkmal Ezechiels. 47 So die in Europa verbreitetste Datierung. Eine Frühdatierung auf die 60er Jahre (vor Zerstörung des Tempel in Jerusalem) dringt allerdings vor. Wäre ihr zu folgen, fiele der Hebr in die Zeit von Q.

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Teil von ihnen zieht voller Not und Missachtung im Fellgewand durch die Welt (vv. 37–38). Der Text lässt mithin in der Schwebe, ob alle Propheten getötet wurden. Er macht keine konkrete Aussage über Ezechiel. Erst die Wirkungsgeschichte vereindeutigt die Interpretation. Sie ist überzeugt, Ezechiel sei zu den getöteten Propheten zu zählen und näherhin – über die Vitae Prophetarum hinaus – mit dem Schwert getötet worden.48 Beachten wir die Balance der Zeilen im Hebr, ist er nicht als der älteste Zeuge für diese Fortschreibung der Ezechiel-Legende zu bemühen.49 Vielmehr löst seine Aufzählung erst später die Legende vom Tod des Ezechiel durchs Schwert aus. 4.2 Eine zweite Passage des Neuen Testaments, die Stephanusrede der Apg, versorgt uns mit dem missing link und vollzieht den Schritt von der Verfolgung der Propheten zur Ermordung. Nach heutigem Stand ist diese Rede vom Erzähler des lukanischen Doppelwerks gestaltet und bemüht sie sich, in neuer Sprache Pointen der Stephanusbotschaft wiederzugeben.50 Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt, ruft Stephanus unter Rückgriff auf die geschilderten Pointen der Logienquelle (τίνα τῶν προφητῶν οὐκ ἐδίωξαν οἱ πατέρες ὑμῶν; Apg 7,52), um in einer rhetorischen Klimax anzuschließen: „und sie haben die getötet, die im Voraus vom Kommen des Gerechten kündeten (καὶ ἀπέκτειναν τοὺς προκαταγγείλαντας περὶ τῆς ἐλεύσεως τοῦ δικαίου, weiterhin 7,52). Verfolgung führt zum gewaltsamen Tod, heißt das, und der gewaltsame Tod trifft gerade die, die über das Kommen Jesu – des Gerechten – sprachen.51 Übersehen wir nicht, dass auch diese Stelle Ezechiel nicht konkret erwähnt. Doch würde man den Erzähler fragen, würde er nicht mehr in der Schwebe lassen, ob Ezechiel getötet wurde. Ja, es war ein gewaltsamer Tod, würde er bestätigen. Vielleicht kennt und benützt er erstmals die Pointe aus den Vitae Prophetarum, Ezechiel sei durch den ἡγούμενος (die leitende Person) Israels im Exil getötet worden (VitProph Ez  2). Aber er fügt das in eine innerjüdische Bußtradition ein. Die Stephanusrede richtet sich an den Hohenpriester und Rat in Jerusalem (Apg 6,12–7,1), nicht die Völker.

48 Schwemer weist auf die bedeutende Rezeption in der Roda-Bibel (Paris, Bibl. Nat. MS lat. 6) hin (Vitae Prophetarum, JSHRZ [a.a.O. Anm. 14], 586). 49 Vgl. die Diskussion bei Schwemer, Studien (a.a.O. Anm. 14), 249–259. 50 Vgl. K. Haacker, Die Apostelgeschichte ThK.NT 5 (Stuttgart: Kohlhammer, 2019), 137–152 z.St. 51 Δίκαιος charakterisiert Jesus; vgl. Mt 27,19.

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4.3 Nach der Mehrheitsdatierung gehört das lukanische Doppelwerk in etwa in dieselbe Zeit wie der 1Clem, und nicht nur das drängt einen Vergleich auf. Nach 1Clem 17,1 verkündet Ezechiel explizit das Kommen Christi (Wiedergabe des Textes unter 2.1). Das Schlüsselmotiv, ein Prophet spreche vom „Kommen“ (der ἔλευσις) Christi, verbindet die beiden Stellen. Mehr noch, dieses Motiv begegnet erstmals in der Apg und dem 1Clem (ἔλευσις ist neutestamentliches Hapax legomenon).52 Daher dürfen wir eine rezeptionsgeschichtliche Linie wagen: – In der ersten christlichen Generation ist Ezechiel einer der Rufer Israels zur Umkehr und zur Buße in einem Volk, dessen Hirten versagen (s. § 3). Seine Stimme klingt mit anderen Stimmen zusammen, ebenso das mangelnde Gehör, das er fand; er muss nicht als eigene Person genannt werden. – Später wird Ezechiel für die Reflexion der Passion Jesu und der Christologie wesentlich. Seine Relevanz und die Sensibilität für das mangelnde Gehör, das er in Israel fand, steigt. Aber bedeutet das, dass Ezechiels Tod nun als schuldhaftes Handeln am Verkünder Gottes in Analogie zur Christologie stilisiert wird? Mehrere Schranken sind zu beachten. Mt 27,52  f. rezipiert die Verheißung Ezechiels und bedarf des Kontrastes zum Tod Ezechiels nach der oben vorgeschlagenen Deutung nicht. Der 1Clem, der der Korrespondenz in der Ferne der Völker dient, ignoriert den Tod Ezechiels überhaupt; Ezechiels Nennung unmittelbar nach Elija und Elischa und vor Abraham (der gleich in 1Clem 17,2 folgt) könnte sogar ein erfolgreiches Wirken evozieren. Es bleibt an überharter Kritik lediglich der Schuldaufweis innerhalb Israels aus Apg 7. Motivgeschichtlich gesagt, verbreitet sich die Legende vom gewaltsamen Tod Ezechiels unter den Nachfolger/inne/n Jesu bis zum Ende des 1. Jh. nur zögerlich. Theologisch gesagt, schützt diese Eigentümlichkeit die Ezechielrezeption vor einem Antijudaismus. Die Tötung der Propheten gehört den frühchristlichen Zeugnissen zufolge allein in die innerjüdische Umkehr- und Bußtradition. In der Verkündigung an die Völker ist der Tod Ezechiels dem Neuen Testament und dem 1Clem zufolge nicht relevant.

52 Es verbreitet sich dann im 2. Jh.: siehe die ἔλευσις τοῦ κυρίου in Pol. Phil. 6,3 und vgl. Ign. Phld. 5,1  f.

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5 Die Ezechielworte in den Paulinen und die Begegnung der Völker mit dem lebendigen Gott Begeben wir uns eine Generation zurück. Eine christologische Rezeption Ezechiels erwarten wir in ihr nach dem Gesagten nicht, aber ein Lauschen auf den großen Mahner. Für Judäa-Galiläa verfolgten wir diesen Aspekt an der Jesusüberlieferung. Nun wenden wir uns der frühen Nachfolge Jesu unter den Völkern zu, der die paulinischen Briefe gelten, und damit der Genese des Akzents in der Diaspora, mit dem ich begann. Vorab zu nennen ist ein inzwischen vertrauter Sachverhalt. Ezechiel interessiert in der frühen Rezeption nicht als besondere Gestalt – deshalb fehlt in den Paulinen wie sonst sein Name – und das Ezechielbuch nicht als ein Text, nach dessen Propria zu forschen wäre.53 Wesentlich ist vielmehr die Überzeugung, Ezechiel gebe dem großen gemeinsamen Klang der Schriftpropheten in der Diaspora einen besonderen Ton und Nachdruck. Tabelle 3: Röm 14,11 und Ez 5,11 Röm 14,11

Ez 5,11 LXX

Jes 45,23 LXX

Hinweis

γέγραπται γάρ· ζῶ ἐγώ, λέγει κύριος, ὅτι ἐμοὶ κάμψει πᾶν γόνυ καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσεται τῷ θεῷ

διὰ τοῦτο ζῶ ἐγώ54 λέγει κύριος…

κατ᾽ ἐμαυτοῦ ὀμνύω… ὅτι ἐμοὶ κάμψει πᾶν γόνυ καὶ ἐξομολογήσεται πᾶσα γλῶσσα τῷ θεῷ

Die Formel ζῶ ἐγώ λέγει κύριος ist typisch für das griech. Ezechielbuch, findet sich aber auch in Num (14,28 LXX) sowie bei Jes (49,18 LXX), Jer (22,24; 26,18 LXX) und Zeph (2,9 LXX).

5.1 Eine allgemeine Aussage der Schriften dokumentiert insofern Röm 14,11, das erste der drei für uns einschlägigen Zitate bei Paulus. „Ich lebe, spricht der Herr“, beginnt es.55 Die griechische Fassung dieser alten Formel Israels56 begegnet am

53 Das berühmteste solche Proprium, die Gottesvision von Ez 1, findet in den Paulinen ebenso wenig Beachtung wie in der alten Jesusüberlieferung. 54 Ζῶ ἐγώ überträgt ‫י־אנִ י‬ ָ ‫ח‬. ַ 55 Nach der solennen Einleitung γέγραπται, „es ist geschrieben“. 56 Vgl. Siegfried Kreuzer, Der lebendige Gott. Bedeutung, Herkunft und Entwicklung einer alttestamentlichen Gottesbezeichnung, BWANT 116 (Stuttgart: Kohlhammer, 1983).

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häufigsten im Ezechielbuch.57 Das legt nahe, unsere Zeile als Ezechielzitat zu lesen. Doch folgt kein Wort Ezechiels, sondern ein solches aus Jes 45,23 (beugen werde sich jedes Knie  …) und enthält auch dieses Wort eine Schwuraussage (ὀμνύω Jes 45,23a LXX). Daher haben wir ein Mischzitat vor uns, das durch Jes ausgelöst ist (vgl. die Hinweise in Tabelle 3).58 Paulus integriert die Formel vom lebendigen Gott in das Mischzitat, weil sie den lebendigen Gott Israels von den toten Götterbildern der Völker unterscheidet. Seine Adressaten wandten sich von den Götterbildern ab und dem lebendigen und wahren Gott zu, wie er von der frühen Zusammenfassung seines Wirkens in 1Thess 1,9  f. an lobt (ἐπεστρέψατε πρὸς τὸν θεὸν ἀπὸ τῶν εἰδώλων δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ 1,9). Wir haben ein Grundmotiv seiner Mission vor uns. 5.2 Eine Zitatkatene verschärft die Abgrenzung des lebendigen Gottes in 2Kor  6,16–18. Die Gemeinde aus den Völkern sei dessen Tempel, beginnt der Passus (ναὸς θεοῦ ἐσμεν ζῶντος 6,16); Gottes Tempel aber vertrage sich in nichts mit Götterbildern (εἴδωλα; weiterhin v. 16). Worte aus dem Gesetz (Lev 26,11  f.), der Prophetie in den Geschichtsbüchern (2Sam 7,8.14 LXX) sowie prophetischen Büchern (Ez sowie Jes 52,11) explizieren das. Sie alle gelten als von Gott gesprochen (εἶπεν ὁ θεός, v. 16) und formen sich zum Tenor: Grenzt euch aus der Umwelt ab, die die unreinen Götterbilder verehrt, um Gottes Volk zu sein. Die Forschung streitet, ob Paulus selbst eine so scharfe Abgrenzung von seinen Gemeinden verlangte, oder ob hier ein Stück aus dritter Hand in den Zwei­ten Korintherbrief geriet. Die Waage neigt sich etwas mehr zu Paulus,59 doch ergibt sich die wichtigste Aussage unabhängig davon, wem wir den Passus zuschreiben: Menschen der Völker dürfen dann und nur dann wie Israel Gottes Volk heißen, wenn sie sich vollständig aus dem Kreis der fremden Kulte lösen und nichts Unreines berühren.

57 16 von 24 Belegen stehen bei Ez und unterstreichen die schwurgleiche Kraft und das Gewicht von Gottes Urteil: Ez 5,11; 14,16.18.20; 16,48; 17,16.19; 18,3; 20,3.31.33; 33,11.27; 34,8; 35,6.11 LXX. 58 Weiteres in den Kommentaren und bei Mark A. Seifrid, „Romans,“ in Beale/Carson, Commentary (a.a.O. Anm. 5), 607–694, hier 685. 59 Gegebenenfalls in komplizierten literarischen Erwägungen: vgl. Thomas Schmeller, „Der ursprüngliche Kontext von 2 Kor 6.14–7.1: zur Frage der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs,“ NTS 52 (2006): 219–238; ders., Der Zweite Brief an die Korinther, 1. Bd., 2 Kor 1,1–7,4, EKK 8/1 (Ostfildern: Patmos-Verlag, 2010), 369–371 und Martin Vahrenhorst, Kultische Sprache in den Paulusbriefen, WUNT 230 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), bes. 214  f.

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Tabelle 4: 2Kor 6,17 und Ez 20,34 2 Kor 6,17 krit. Text

Ez 20,34

Vgl. 20,34 MT

Ez 20,34 Symm. Theod.

Vgl. εἰσδέξομαι in LXX

διὸ ἐξέλθατε ἐκ μέσου αὐτῶν καὶ ἀφορίσθητε, λέγει κύριος […]· κἀγὼ εἰσδέξομαι ὑμᾶς

ans Haus Israel (πρὸς τὸν οἶκον τοῦ Ισραηλ v. 27): καὶ ἐξάξω ὑμᾶς ἐκ τῶν λαῶν καὶ εἰσδέξομαι ὑμᾶς ἐκ τῶν χωρῶν οὗ διεσκορπίσθητε ἐν αὐταῖς […]

‎εἰσδέξομαι ὑμᾶς steht für ‫וְ ִק ַּב ְצ ִּתי ֶא ְת ֶכם‬ („ich werde euch sammeln“)

Statt εἰσδέξομαι steht das dem MT nähere ἀθροίσω („ich werde sammeln“). Vgl. Ez 36,24 LXX: λήμψομαι ὑμᾶς ἐκ τῶν ἐθνῶν καὶ ἀθροίσω ὑμᾶς ἐκ πασῶν τῶν γαιῶν καὶ εἰσάξω ὑμᾶς εἰς τὴν γῆν ὑμῶν

εἰσδέξομαι begegnet in LXX meist in Zusagen Gottes: Hos 8,10; Sach 10,8.10; Jer 23,3; Ez 11,17; vgl. außerdem Ez 20,41 προσδέξομαι ὑμᾶς ἐν τῷ […] εἰσδέχεσθαι (p967 εἰσδέξασθαι) ὑμᾶς ἐκ τῶν χωρῶν ἐν αἷς διεσκορπίσθητε ἐν αὐταῖς

Diese Nuance überträgt ein Anliegen Ezechiels auf die Jesusnachfolger/innen unter den Völkern, ermöglicht durch die freie Übersetzung von Ez 20,34 in der Septuaginta (vgl. Tabelle 4). Der dortige Grundtext erörterte, ob Gott das Haus Israel aus der Zerstreuung sammle und ins Land zurückführe. Der griechische Übersetzer deutete, wenn Gott sein Volk sammle (‫ קבץ‬pi.), nehme er es an (εἰσδέξομαι ὑμᾶς). Der frühchristliche Rezipient versteht das als Zusage Gottes und löst es aus dem Kontext. Der Sinn entsteht „und ich (der Herr) werde euch (die hinzukommenden Menschen) aufnehmen“ (scl. wie ich mein Volk aufnehme). Wie alle bisherigen Aufnahmen Ezechiels ist das in ein breiteres Feld der Septuagintarezeption eingebettet. Die Zusage, Gott nehme sein Volk an (εἰσδέξομαι), findet sich ebenso in anderen Propheten nach LXX (von Hos bis Jer). EzLXX freilich verwendet die Ansage besonders häufig (s. Tabelle 4). Die Katene steht deshalb dem Ezechielbuch am nächsten; sie wertet Ezechiel zum Exponenten einer Prophetie für die Völker auf.

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Tabelle 5: 2Kor 6,16 und Ez 37,27 2 Kor 6,16 krit. Text60

MT Ez 37,27

Ez 37,27 L’ p967 (antiochenischer Text)

Ez 37,27 LXXRaHa (vgl. B)

Ez 37,27 LXXGö (vgl. A)

vgl. Lev 26,12

καὶ ἔσομαι αὐτῶν θεός, καὶ αὐτοὶ ἔσονταί μου λαός

‫יתי ָל ֶהם‬ ִ ִ‫וְ ָהי‬ ‫אֹלהים‬ ֑ ִ ‫ֵל‬ ‫יּו־לי‬ ִ ‫וְ ֵה ָּמה יִ ְה‬ ‫ְל ָעם‬

καὶ ἔσομαι αὐτῶν θεός, καὶ αὐτοὶ ἔσονταί μου λαός

καὶ ἔσομαι αὐτοῖς θεός καὶ αὐτοί μου ἔσονται λαός

καὶ ἔσομαι αὐτοῖς (A B) θεός καὶ αὐτοί ἔσονται μοι (A) λαός

… καὶ ἔσομαι ὑμῶν (viele Handschriften: ὑμῖν par. MT ‫)ל ֶכם‬ ָ θεός καὶ ὑμεῖς ἔσεσθέ μου (viele Handschriften: μοι par. MT ‎‫)לי‬ ִ λαός

καὶ ἔσομαι αὐτῶν θεός, καὶ αὐτοὶ ἔσονταί μοι λαός

Wer die Relevanz Ezechiels wegen der knappen Referenz in 2Kor 6,17 bezweifelt, greife zur Zusage von 6,16. Die Menschen, die zu Israel hinzukommen, werden wie Israel Gottes Volk sein, und Israels Gott wird ihr Gott sein, heißt es dort nach Ez 37,27. In den kritischen Ezechielausgaben ist der Umfang der textlichen Übereinstimmung nicht unmittelbar zu erkennen. Denn das Old Greek von Ez 37,27 ist umstritten. Rahlfs-Hanhart (LXXRaHa) folgen im Wesentlichen Codex B, Ziegler (LXXGö) bevorzugt Codex A. Beide werten sie den sog. antiochenischen Text ab, eine wichtige weitere Textform.61 Genau dieser Textform aber entspricht das neutestamentliche Zitat (L’; s. Tabelle 5). Verweilen wir für einen Augenblick bei der Textgeschichte. Die Varianten αὐτοῖς bei RaHa und Gö sowie μοι in Gö stehen jeweils dem masoretischen Text näher (‫ ָל ֶהם‬und ‫י‬‎ ‫)ל‬. ִ Solche Hebraisierungen gelten heute in der Regel als Korrekturen, die zielsprachliche Freiheiten der Septuaginta zurücknehmen (bedingt durch eine Rezension ab dem 1. Jh. v. Chr.); man vergleiche die verwandteste Stelle der Septuaginta, Lev 26,12, wo beide Korrekturen in den Apparat verwiesen werden. Papyrus 967, der erst nach Zieglers Edition vollständig ediert wurde und seinerseits an dritten Stellen zu Änderungen des Ziegler-Textes zwingt,62 steht zwischen 60 Nach 𝔓46 ‫ א‬B; die Stelle fehlt in A. 61 Er ist in den Apparat der kritischen Edition verbannt: Ziegler, Ezechiel (a.a.O. Anm. 7), 271 z.St. 62 S. paradigmatisch für Ez 18 Harry F. van Rooy, „Revisiting the Original Greek of Ezekiel 18,“ in Text-Critical and Hermeneutical Studies in the Septuagint, hg. v. Johann Cook/Hermann-Josef Stipp, VT.S 157 (Leiden: Brill, 2012), 193–205.

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dem antiochenischen Text und den modernen Ausgaben. Unser neutestamentliches Zitat benützt demnach nicht nur eine Ezechielfassung, die sicher nachgewiesen ist. Viel spricht dafür, dass sie in unserem Falle dem Old Greek entspricht.63 In Ez 20,34 findet sich keine Abweichung zwischen den biblischen Vollhandschriften und dem antiochenischen Text, die einen analogen Vergleich erlauben würde. Indes setzt auch 2Kor 6,17 einen frei übersetzten, alten griechischen Text von Ez 20,34 voraus, der noch nicht zum hebräischen Ausgangstext revidiert ist; erst die sog. jüngeren Übersetzungen holen das nach (s. ἀθροίσω in Symmachus und Theodotion; Tabelle 4). Unsere Zitatkatene greift mithin auf einen alten Ezechieltext zurück und verdient in der derzeit erfolgenden Aufwertung des antiochenischen Textes64 hohe Beachtung. 5.3 Fassen wir zusammen, so verkündet Paulus den lebendigen Gott Israels an die Völker (Röm 14,11). Mit dem Ezechiel der Schriftkatene von 2Kor 6,16–18 vertieft er ein Wort der Tora über Gott und sein Volk (Lev 26,12) und entgrenzt es: Menschen aus den Völkern dürfen sich wie Israel als das Volk des lebendigen Gottes verstehen, falls sie radikal rein leben.65 Durch die Zitate in den Paulusbriefen wird Ezechiel, der Prophet in der Diaspora Israels, zum Propheten für die Menschen der Völker, die in der Diaspora zum lebendigen Gott Israels hinzutreten.66

63 S. die textgeschichtliche Erörterung bei Martin Karrer/Ulrich Schmid, „Old Testament Quotations in the New Testament and the Textual History of the Bible  – the Wuppertal Research Project,“ in Von der Septuaginta zum Neuen Testament. Textgeschichtliche Erörterungen, hg. v. M. Karrer u.  a., ANTF 43 (Berlin/New York: de Gruyter, 2010), 155–196, hier 178  f. – Jüngere neutestamentliche Handschriften bieten übrigens in 1Kor 6,17 μοι statt μου (D F G etc.). Die hebraisierende Revision der Septuaginta-Überlieferung strahlt demnach in einem zweiten Schritt auf die Überlieferung des Neuen Testaments aus. 64 Diese Aufwertung wird vor allem von Siegfried Kreuzer vertreten und durch Forschungen am ISBTF Wuppertal vorangetrieben. 65 Weiteres zur Auslegung in den Kommentaren und bei Peter Balla, „2 Corinthians,“ in Beale/ Carson, Commentary (a.a.O. Anm. 5), 753–783, hier 769–774. 66 Weitere Paulusstellen haben für unsere Thematik weniger Relevanz: van Rooy, Esegiël (a.a.O. Anm. 5), z.St. (im Internet o.S.) erörtert paradigmatisch, ob Röm 2,24 durch die Brille von Ez 36,20 auf Jes 52,5 blicke. Da die wörtlichen Parallelen gering sind, führt das zu einer letztlich aporetischen Diskussion.

Ezechiel im ersten Christentum 

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6 1Clem 8,2 und die Umkehr der Sünder in aller Welt Kehren wir von da zum 1Clem zurück. Dort findet sich nicht nur die erste namentliche Erwähnung Ezechiels, sondern auch ein Ezechielzitat, das die Geltung Ezechiels für alle Menschen fortsetzt. Es ist nicht ausdrücklich mit dem Namen Ezechiel eingeführt und steht in einer größeren Begründungsreihe für die These, Gott der Herr habe den Menschen von Geschlecht zu Geschlecht Raum zur Umkehr gegeben (ἐν γενεᾷ καὶ γενεᾷ μετανοίας τόπον ἔδωκεν ὁ δεσπότης τοῖς βουλομένοις ἐπιστραφῆναι ἐπ᾽ αὐτόν 1Clem 7,5). Aber der Aussagekern ist wörtlich nach Ez wiedergegeben und nur der Schluss an den Kontext angepasst. Umkehr zum Leben heißt im gerade zitierten Leitsatz μετάνοια (1Clem 7,5); daher lautet das Zitat „so wahr ich lebe, spricht der Herr, ich will nicht den Tod des Sünders, sondern seine Umkehr“, d.  h., dass er lebe. Tabelle 6: Das Zitat von Ez 33,11 in 1Clem 8,2 Ez 33,11 LXXGö=RaHa

Wichtige Varianten LXX

1Clem 8,2

Wichtige Variante im 1Clem

Wahrscheinliche Textvorlage für 1Clem daher

ζῶ ἐγώ τάδε λέγει κύριος οὐ βούλομαι τὸν θάνατον τοῦ ἀσεβοῦς ὡς τὸ ἀποστρέψαι τὸν ἀσεβῆ ἀπὸ τῆς ὁδοῦ αὐτοῦ καὶ ζῆν αὐτόν

1. τάδε fehlt bei Q 534 2. A u.v.  a. lesen ἁμαρτωλοῦ statt ἀσεβοῦς

Ζῶ γὰρ ἐγώ, λέγει κύριος, οὐ βούλομαι τὸν θάνατον τοῦ ἁμαρτωλοῦ ὡς τὴν μετάνοιαν

A liest γάρ; Auslassung von γάρ bei H u.  a.

ζῶ (γὰρ) ἐγώ λέγει κύριος οὐ βούλομαι τὸν θάνατον τοῦ ἁμαρτωλοῦ ὡς…

Kleine Abweichungen vom Old Greek veranlassten die Erwägung, der 1Clem entnehme dieses Zitat einer Drittüberlieferung.67 Doch finden sich die zwei wichtigsten Abweichungen, die Auslassung von τάδε und die Variante ἁμαρτωλοῦ statt ἀσεβοῦς, auch in Zeugen des Ezechielbuches (s. Tabelle 6). Daher ist wahrscheinlicher, dass der Autor des 1Clem das Ezechielbuch selbst zitiert, allerdings in einer textlichen Nebenform gemäß der mündlichen Erinnerung seiner Zeit

67 Lona, Clemensbrief (a.a.O. Anm. 11), 186  f. vermutet, es könne wie 1Clem 8,3 (dazu oben 2.5) zu einem Ezechielapokryphon gehört haben.

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(und dass er zudem das Ende des Zitats zugunsten seines Umkehr-Themas vereinfacht).68 Das Zitat verdeutlicht das große Anliegen der Ezechielrezeption bei den Nachfolger/innen Jesu unter den Völkern. Den Ausgangspunkt bildet, dass Gott den Sündern seit Noah Raum zur Umkehr gewährt. Noah predigte die Umkehr, heißt das (1Clem 7,6),69 und Jona tat es bei den Niniviten (7,7). Was Diener Gottes seit Noah sagten,70 bekräftigt nun laut Ezechiel Gott selbst wie bei einem Eid:71 Er hat kein Gefallen am Tode des Sünders. Darüber dürfen die Völker, die wegen ihrer Missachtung des ersten Gebotes eo ipso Sünder sind, jubeln.72 Beziehen wir das in die Linie seit Paulus ein, dann wird Ezechiel, der Buß­ prophet aus Israel, bei den frühen Christen zum Künder der Umkehr aus den Völkern mit der Verheißung, diese Umkehr nehme ihnen ihre Schuld und gebe ihnen Leben.73 Das beeindruckte die Wirkungsgeschichte tief. Clemens Alexandrinus, den wir als Liebhaber des 1Clem kennengelernt haben (2.5), referiert das Wort von der Verheißung der Umkehr frei in den Stromateis (II 35,3), und Luther wird kein Wort des Ezechielbuches häufiger gebrauchen als diesen Satz aus Ez 33,11.74

7 Joh und Apk: Impulse der christologischen Rezeption 1Clem 17,1 begnügt sich freilich nicht mit dem Propheten der Umkehr, sondern behauptet, die großen Zeugen in der Felltracht und unter ihnen unser Ezechiel hätten „das Kommen des Gesalbten“ (Christus) verkündet (τὴν ἔλευσιν τοῦ Χριστοῦ; vgl. 4.3). Das Problem dieser These ist seit langem bekannt. Das Buch

68 Vgl. Donald A. Hagner, The Use of the Old and New Testaments in Clement of Rome, NT.S 34 (Leiden: Brill, 1973), 54. 69 Eine Deutung der Noahgeschichte weit über Gen 7 hinaus. 70 Zu λειτουργός in 8,1 vgl. den Dienst Noahs in 9,2.4; Lona, Clemensbrief (a.a.O. Anm. 11), 180  f. 71 1Clem versteht die uns vertraute Formel ζῶ ἐγώ (vgl. §  5) explizit als Eid: ἐλάλησεν μετὰ ὅρκου 8,2. 72 Die Formel in Ez 14,12–20 ist weit ambivalenter. 2Clem 6,8  f. wird die Passage daher nach der Verfestigung des altkirchlichen Lebens anders als der 1Clem lesen und aus ihr ableiten, Noah werde seine Kinder nicht retten, selbst wenn er auferstünde; erforderlich sei die Bewahrung der Taufe in rechten Taten. 73 Vgl. noch bes. Ez 18,23 LXX. 74 Bei ihm heißt er (Bibel 1545): „Ich (scl. Gott, der Herr) habe keinen gefallen am tode des Gottlosen“. Vgl. Sawyer, Ezekiel (a.a.O. Anm. 30), 4.

Ezechiel im ersten Christentum 

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Ezechiel befasst sich nicht mit Christus (dem „Gesalbten“75). Es taugt nicht als unmittelbare christologische Referenzschrift. Umgekehrt konkretisiert der 1Clem denn auch die christologische Referenz nicht. Er bietet (wie die Parallele in Apg 7,52) kein Zitat aus Ez für die Christologie auf, sondern macht lediglich „eine globale Aussage über den Inhalt der prophetischen Verkündigung“.76 Sobald wir diese Unbestimmtheit würdigen, wird sie aber hochbedeutsam. Sie ent-täuscht die spätere Erwartung, die Christologie beginne mit der Usurpation einzelner Schriftworte. Stattdessen fordert sie dazu auf, beim Propheten Bilder und Aussagestrukturen zu suchen, die dazu helfen, das Kommen und die Relevanz Christi zu beschreiben. Ich verdeutliche das Gemeinte an den beiden einschlägigen Texten des Neuen Testaments: 7.1 Die Hirtenrede in Joh 10,1–18, die bedeutendste Rezeption von Ez 34, braucht kein Zitat. Sie entnimmt dem Prophetenbuch das maßgebliche Bild: 7.1.1 Schlechte Hirten lassen die Schafe – so das ezechielische Bild – im Stich. Wo Gott als Hirte wirkt, werden die Schafe dagegen gute Weide haben (καλὴ νομή Ez 34,18); sie werden Gott und sich selbst als Gottes Volk erkennen (γνώσονται ὅτι ἐγώ εἰμι κύριος ὁ θεὸς αὐτῶν, καὶ αὐτοὶ λαός μου 34,30). Die joh Gemeinde verwendet die beiden Hauptakzente als Rahmen für die Christologie: Jesus ist der Hirte, der Gott vergegenwärtigt (vv.  11.14  f.), und er steht in Kontrast zu schlechten Hirten (v. 12).77 Doch die Neulektüre belässt dem Ezechieltext seine Selbständigkeit. Sie verzichtet, wie gesagt, auf Zitat, Zitationsformel und Nennung Ezechiels; wer Ezechiel kennt, darf den Propheten ohne den

75 Schon das Nomen ‫מ ִׁש ַיח‬/χριστός ָ fehlt im Ezechielbuch. Wenn wir um der Semantik willen nach dem Verb „salben“ (χρίω) suchen, stoßen wir auf eine ganz andere Spannung, als der 1Clem sie wahrhat. Gesalbt ist nämlich im griechischen Ezechielbuch die Stadt Jerusalem; sie verriet ihre Salbung, als sie Gott untreu wurde (so der Kontext von Ez 16,9), und darf, da gesalbte Stadt, dennoch die Rückkehr von Gottes Herrlichkeit erwarten (43,3). 76 Lona, Clemensbrief (a.a.O. Anm. 11), 236. 77 Zur näheren Diskussion s. die Kommentare; Mary K. Deeley, „Ezekiel’s Shepherd and John’s Jesus: A case study in the appropriation of biblical texts,“ in Early Christian Interpretation of the Scriptures of Israel: Investigations and proposals, hg. v. Craig A. Evans/James A. Sanders, JSNTS 148/SSEJC 5 (Sheffield: Sheffield Academic Press, 1997), 252–264 und die Beiträge in Ruben Zimmermann u.  a., Hg., Kompendium der Gleichnisse Jesu (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2007) (darin: Beate Kowalski, „Ruf in die Nachfolge [Vom Hirt und den Schafen] – Joh 10,1–5,“ 768–780; Thomas Popp, „Die Tür ist offen [Die Tür] – Joh 10,7–10,“ 781–787; Dominik Mahr, „Wem liegen die Schafe am Herzen? [Hirte und Lohnknecht] – Joh 10,12  f.,“ 788–792).

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 Martin Karrer

neutestamentlichen Text lesen, und umgekehrt ist die Hirtenrede Jesu auch ohne Ezechielkenntnis verständlich. Großen Reiz besitzt daraufhin eine komplementäre Lektüre der Texte: Ez kritisiert die Hirten Israels (οἱ ποιμένες τοῦ Ισραηλ 34,2 LXX), der joh Jesus den Fremden und Mietling (ἀλλότριος Joh 10,5, μισθωτός Joh 10,12). Der joh Kontrast richtet sich insofern nicht mehr gegen die alten Hirten Israels; er verwendet eine zeitgenössische sozialgeschichtliche Spannung. Vor diesem Hintergrund ergeben sich die christologischen Steigerungen. Die joh Gemeinde überträgt die Qualität „gut“ von der ezechielischen Weide auf den Hirten; deshalb ist Jesus „der gute Hirte“ (ὁ ποιμὴν ὁ καλός Joh 10,14). Und sie macht die Erkenntnis Gottes von einer Kenntnis abhängig, die nicht im Prophetenbuch aufgeht: Jesus kenne den Vater, wie der Vater ihn kenne (καθὼς γινώσκει με ὁ πατὴρ κἀγὼ γινώσκω τὸν πατέρα Joh 10,15).78 Versuchen wir den Erkenntnisprozess auf eine Formel zu bringen, ruft der Prophet Israel zur Gotteserkenntnis (γινώσκειν 34,30) und stellt die Bilder und die Sprache zur Verfügung, dank derer die Nachfolger/innen Jesu ihre zusätzliche Erkenntnis zu artikulieren vermögen. Tabelle 7: Joh 10,16 und Ez 34,23; 37,2479 Joh 10,16

Ez 34,23 LXXGö

καὶ ἄλλα πρόβατα ἔχω ἃ οὐκ ἔστιν ἐκ τῆς αὐλῆς ταύτης· […] καὶ γενήσονται μία ποίμνη, εἷς ποιμήν (die Wortstellung εἷς ποιμήν ist in den Handschriften stabil)

καὶ ἀναστήσω ἐπ᾽ αὐτοὺς ποιμένα ἕτερον καὶ ποιμανεῖ αὐτούς τὸν δοῦλόν μου Δαυιδ καὶ ἔσται αὐτῶν ποιμήν (ἕτερον nach p967, A usw.)

Ez 34,23 MT ‫יהם‬ ֶ ‫וַ ֲה ִקמ ִֹתי ֲע ֵל‬‎ ‫ר ֶֹעה ֶא ָחד וְ ָר ָעה‬ ‫ֶא ְת ֶהן ֵאת ַע ְב ִּדי‬ ‫ָדוִ יד הּוא יִ ְר ֶעה‬ ‫א ָֹתם וְ הּוא־יִ ְהיֶ ה‬ :‫ָל ֶהן ְלר ֶֹעה‬

Ez 34,23Ra

Ez 37,24Ra=Gö

καὶ ἀναστήσω ἐπ᾽ αὐτοὺς ποιμένα ἕνα καὶ ποιμανεῖ αὐτούς τὸν δοῦλόν μου Δαυιδ καὶ ἔσται αὐτῶν ποιμήν (ἕνα nach B u.  a.79)

καὶ ὁ δοῦλός μου Δαυιδ ἄρχων ἐν μέσῳ αὐτῶν καὶ ποιμὴν εἷς ἔσται πάντων· […] (Varianten betreffen die Wortstellung von ἔσται u.  ä., aber die Wortstellung von εἷς nach ποιμήν ist stabil)

7.1.2 Tarieren wir diese Pointe am christologischen Höhepunkt aus, der Aussage, es sei „eine Herde“, „ein Hirte“ (Joh 10,16). Sie erwächst aus der Dynamik der joh Reflexion. „Einer“ (εἷς) ist der Hirte Jesus erkenntnislogisch, weil der Vater einer

78 Väter heißen in Ez 34; 37 nur die Väter Israels: οἱ πατέρες αὐτῶν Ez 37,25. 79 In B* außerdem ποιμενει, das in Bc zum Präsens ποιμαίνει verdeutlicht wird.

Ezechiel im ersten Christentum 

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ist, und „einer“ ist er narrativ, weil er aus den Schafen der angestammten Herde (aus Israel) und anderen Schafen (im joh Duktus Menschen der Völker)80 eine Herde formt (μία ποίμνη v. 16). D.h., der joh Jesus, der eine Hirte, der den Vater kennt, sammelt Israel und Völker. In der Linie unserer bisherigen Beobachtungen gesagt, bildet Joh 10 einen Höhepunkt der Ezechiel-Rezeption in der Diaspora der Völker. Um dieses Akzents willen stellt die Rezeption die Israelkritik ins Glied. Vergessen wir nicht, dass diese Kritik im Old Greek des Ezechielbuchs gerade in der später messianisch genannten Stelle 34,2381 gipfelt. Dort nämlich formuliert der kritisch hergestellte Text (Ziegler) den Kontrast zu den versagenden Hirten Israels explizit; einen „anderen Hirten“ erhält das Volk durch Gott (ποιμὴν ἕτερος; Tabelle 7). Die joh Dynamik greift diese Abgrenzung nicht auf, sondern konzentriert sich auf die Einheit mit dem Vater und der zu den Völkern hin erweiterten Herde. 7.1.3 Die ältere Edition Rahlfs’ las an dieser Stelle des Ezechielbuches (34,23) eine engere Vorbereitung des Joh, nämlich ποιμὴν εἷς („ein Hirte“). Das korrigierte Ziegler zu Recht; denn Rahlfs kannte den herausragenden Papyrus 967 noch nicht. Nach heutiger Kenntnis gehört ποιμὴν εἷς in die hebraisierenden Rezensionsarbeiten an der Septuaginta, die kurz vor der Zeitenwende einsetzen.82 Die abweichende Wortfolge (nach- statt vorangestelltes εἷς) macht es unwahrscheinlich, dass die joh Gemeinde eine rezensierte Ez-Handschrift benützte; sie schreibt aus ihrer eigenen theologischen Dynamik heraus εἷς ποιμήν. Wer gleichwohl auf einer revidierten, hebraisierenden Vorlage beharrt, verstärkt wider Willen die joh Selbständigkeit: Der Hirte aus Ez  34,23 (und 37,24) heißt David, weil er Israel wieder konstituieren soll (34,23–31). Der Hirte in Joh 10 dagegen heißt gerade nicht David, und Joh 7,25–29.41  f. verrätselt vorab Jesu Herkunft von David oder aus Betlehem, so dass das kein Zufall ist. Wagen wir daher, auch die Spitze des Textes komplementär zu lesen, dann darf die Kritik an den Hirten Israels und die Hoffnung auf einen neuen David aus Ez neben dem Joh gelesen werden und dessen Gedanken erweitern. Aber das joh. Ziel, Israel und die Völker durch den einen Hirten zusammenzuführen, ohne Israel zu kritisieren, verlangt Priorität (das umso mehr, als es die Kritik des Joh an den „Ioudaioi“ ein wenig zurecht rückt). 80 Vgl. Andreas J. Köstenberger, „John,“ in Beale/Carson, Commentary (a.a.O. Anm. 5), 415–512, hier 463. 81 Vgl. Johan Lust, „Le messianisme et la septante d’Ezekiel,“ (1990) in Messianism and the Septuagint. Collected Esays, hg. v. Johan Lust, BETL 178 (Leuven: Leuven University Press, 2004), 27–40, bes. 32 und Lilly, Two Books (a.a.O. Anm. 7), 155. 82 Dazu passend, bildet selbst die Wortstellung den hebräischen Text ab; ποιμένα ἕνα in Ez 24,23 v.l. und ποιμὴν εἷς in der Parallele 37,24 entspricht genau ‫ ר ֶֹעה ֶא ָחד‬aus dem MT.

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 Martin Karrer

7.1.4 Ergebnis: Abstrahieren wir den Vorgang, wählt das Joh einen bemerkenswerten Ansatz zur Christologie nach dem Ezechielbuch: Die Schrift Israels stellt die Voraussetzungen für die Reflexion zur Verfügung. Indessen sind diese Voraussetzungen von der unmittelbaren christologischen Reflexion zu unterscheiden. Das Ezechielbuch spricht, wenn wir den Satz des 1Clem anwenden wollen, vom Kommen Christi in dem Sinne, dass es Grundlagen der Reflexion zur Verfügung stellt. Aber die Reflexion bleibt selbständig, behauptet nicht, eine unmittelbar ezechielische Christologie zu sein.83 7.2 Die zweite neutestamentliche Schlüsselpassage, Apk 4–5, schildert den himmlischen Thronsaal Gottes und anschließend eine Christusvision. Zitate aus dem Ezechielbuch vermeidet der Seher. Doch Thron und Thronsaal Gottes beschreibt er bis hin zu den vier Wesen am Thron unter Anlehnung an die große Vision aus Ez 1. Die Merkava aus Ez 1 bildet, kombiniert mit anderen prophetischen Schriften (Jes 6,3 und Am 3,13 LXX in Apk 4,8 usw.) den zentralen Bezugstext von Apk 4.84 Tabelle 8: Apk 4,7 und Ez 1,10 Apk 4,7

wichtige Variante Apk

Ez 1,10 LXXRa=Gö

wichtige Variante Ez

Ez 10,14

καὶ τὸ ζῷον τὸ πρῶτον ὅμοιον λέοντι καὶ τὸ δεύτερον ζῷον ὅμοιον μόσχῳ καὶ τὸ τρίτον ζῷον ἔχων τὸ πρόσωπον ὡς ἀνθρώπου καὶ τὸ τέταρτον ζῷον ὅμοιον ἀετῷ πετομένῳ.

πρόσωπον ἀνθρώπου bei Irenäus, als Koine gezählten Handschriften und weiteren Minuskeln

καὶ ὁμοίωσις τῶν προσώπων αὐτῶν πρόσωπον ἀνθρώπου καὶ πρόσωπον λέοντος ἐκ δεξιῶν τοῖς τέσσαρσιν καὶ πρόσωπον μόσχου ἐξ ἀριστερῶν τοῖς τέσσαρσιν καὶ πρόσωπον ἀετοῦ τοῖς τέσσαρσιν

Ra. 106 und Θ stellen Adler (ἀετός) an dritte, Jungstier (μόσχος) an vierte Stelle

MT beginnt mit dem Keruben: ‎‫ְּפנֵ י‬ ‫ָה ֶא ָחד ְּפנֵ י ַה ְּכרּוב‬ Old Greek enthält den Vers nicht; griechische Handschriften vertreten die Reihenfolge Kerub-MenschLöwe-Adler

83 Dasselbe gilt, wenn wir ein Echo von Ez 15,1–8 in Joh 15,1–8 entdecken wollen. Die Literatur weitet die Bezüge, wie eingangs angesprochen, gerne aus (Manning, Echoes und Peterson, John’s Use [beide a.a.O. Anm. 3]). Ich plädiere nach dem Gesagten nicht nur für eine Einengung der Referenzen, sondern vor allem für ihre vorsichtige christologische und hermeneutische Bewertung. 84 Für Details s. Gottfried Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes, WUNT II/154 (Tübingen: Mohr, 2002); Franz Tóth, Der himmlische Kult, ABG 22 (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2006), 196–218 u. ö. und Laszlo Gallusz, The Throne Motif in the Book of Revelation, LNTS 487 (London: Bloomsbury Publishing, 2013), 31–38, 102–151.

Ezechiel im ersten Christentum 

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7.2.1 Die Textgeschichte ist komplex. Betrachten wir dazu beispielhaft das Aussehen der vier Wesen in 4,7. Die Apk ändert die Bildgestalt (sie beschränkt die Nennung des πρόσωπον, Gesichts, auf das menschenartige Wesen), die Abfolge (der Löwe tritt an erste Stelle), den Kasus (Dativ statt Genitiv) und weitere Einzelheiten.85 Die Apk bildet demnach Ez 1 nicht unmittelbar nach, sondern fügt sich frei in die Geschichte der Merkava ein (vgl. vorneutestamentlich Sir 49,8; 1Hen 14,18–23; ShirShabb; 4Q385 fr. 5). Trotz dieser Freiheiten gibt es keinen engeren Bezugstext als Ez 1,10 – mit der Folge eines Sekundäreinflusses der Septuaginta auf die Überlieferung der Apk: Irenäus und viele Minuskeln passen πρόσωπον ὡς ἀνθρώπου („Gesicht wie eines Menschen“) an πρόσωπον ἀνθρώπου („Gesicht eines Menschen“) aus der Septuaginta an.86 Umgekehrt fehlt ein vergleichbarer Einfluss. Vielmehr entwickelt sich der griechische Ezechieltext selbständig; die Ordnung der Wesen differiert in 1,10Θ und in den griechischen Handschriften, die 10,14 einfügen, zur Apk (Tabelle 8). Das Ezechielbuch wird christlich nicht überfremdet. 7.2.2 Es ist viel gerätselt worden, warum sich die Rezeption der Merkava, dieser heute berühmtesten Ausstrahlung des Ezechielbuches im ersten Christentum, so verzögert.87 Nach den bisherigen Beobachtungen ist besser von einer nachvollziehbaren Entwicklung statt Verzögerung zu sprechen: Die frühen Christen interessierten sich zunächst für den Exponenten einer Prophetie, die Israel und die Völker zur Umkehr ruft. Weil Ezechiel diese Umkehr mit der Zuwendung des Gottes begründet, den er himmlisch schaut, blicken sie daraufhin mit Ezechiel in den himmlischen Thronsaal. In diese Perspektive tritt die Christologie ein. Das Gottesverständnis geht, so gelesen, der Christologie voraus. Das spiegelt sich interessanterweise in Apk 4–5. Die Apk stellt die Schilderung des Thrones Gottes im Kap. 4 dem Auftreten Christi (Kap. 5) voran und grundiert die universale Bedeutung Christi (5,9.13) in der universalen Macht des einen Gottes Israels, der alles schuf (4,11). Mehr noch, Apk 4 spricht kein einziges Mal von Christus, ein so auffälliger Befund, dass einzelne Ausleger vorschlugen, die Thronvision ganz

85 Man mag erwägen, ob die Zählung 1 bis 4 auf Ez 10,14 anspiele. Doch der hebräische Text beginnt dort wiederum anders mit dem Kerub, und eine griechische Textfassung entsteht erst erheblich nach dem Old Greek (s. den Apparat bei Ziegler, Ezechiel [a.a.O. Anm. 7], 126 z.St.). 86 Entweder erfolgte die Anpassung von Anfang an absichtlich, oder die zunächst wohl zufällige Auslassung des ὡς verfestigte sich, weil das Ez entsprach. 87 Da ich das in Martin Karrer, Johannesoffenbarung, Bd. 1, Offb 1,1–5,14, EKK 24/1 (Ostfildern: Patmos-Verlag, 2017), 396–400 (u. ö.) behandelt habe, verzichte ich hier auf die Angabe von Einzelheiten.

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jüdisch und wie einen Fremdkörper in der Apk zu lesen.88 Eine solche Trennung bewährt sich nicht. Im Gegenteil, der Seher bewahrt literarisch gezielt das Scharnier von der Theologie zur Christologie. Dieses Scharnier ist für die Entwicklung der Christologie ebenso signifikant wie unsere Beobachtung am Joh: Die ersten großen Theologen, die das Ezechielbuch christologisch benützen, vereinnahmen es nicht für unmittelbare christologische Aussagen, sondern entnehmen ihm die Voraussetzung des Gottesbildes und die Koordinaten, in denen das Auftreten und Wirken Christi zu beschreiben ist. Die Apk blickt in dieser Weise auf den Thron der Gottesgegenwart. Christologie gehört, heißt das nach der Apk, in den himmlischen Raum; vom himmlischen Raum aus wirkt Christus als ἀρνίον, junger Widder in die Welt (ein völlig selbständiges Bild). 7.3 Wenn das Ezechielbuch Koordinaten für die Christologie zur Verfügung stellt, aber nicht unmittelbar christologisch – über die Schrift verfügend – zu lesen ist, bleiben die christologischen Referenzkapitel des Buches für Drittrezeptionen frei. Deshalb sei daran erinnert, dass die zitatnächste Referenz zur Hirtenrede des Ezechielbuchs nicht der Christologie gilt, sondern der Kritik falscher Hirten: Tabelle 9: Jud 12 und Ez 34,8 Jud 12

Ez 34,2 LXXGö

Ez 34,2 MT

Ez 34,2 Symm.

Ez 34,8 LXXGö

οὗτοί εἰσιν οἱ […] ἑαυτοὺς ποιμαίνοντες […]

[…] τάδε λέγει κύριος κύριος ὦ ποιμένες Ισραηλ μὴ βόσκουσιν οἱ ποιμένες ἑαυτούς; […]

‫הֹוי ר ֵֹעי־יִ ְׂש ָר ֵאל‬‎ ‫ֲא ֶׁשר ָהיּו ר ִֹעים‬ ‫אֹותם‬ ָ (wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden)

Statt der Frage μὴ βόσκουσιν οἱ ποιμένες ἑαυτούς steht die Aussage οἱ ποιμαίνοντες ἑαυτούς

[…] ἐβόσκησαν οἱ ποιμένες ἑαυτούς τὰ δὲ πρόβατά μου οὐκ ἐβόσκησαν

Jud 12 geißelt Gegner, die unter den Berufenen (= der Gemeinde; κλητοί v.  1) Unheil stiften wie einst Kain, Bileam oder Korach (v.  11). Sie sind, schreibt die spätneutestamentliche Schrift, Schandflecken, Menschen, die sich selber weiden, wasserlose Wolken usw. Eines der Glieder in dieser rhetorischen Reihe, die Partizipialkonstruktion „sich selber weidend“, findet sich parallel in der Hirtenrede des Ezechielbuches (Ez 34,2.8; Tabelle 9), nun näherhin in einer Textfas-

88 Christopher Rowland, „The Visions of God in Apocalyptic Literature,“ JSJ 10 (1979): 137–154 hier 145; vgl. ders., The Open Heaven (London: SPCK, 1982) (=Eugene: Wipf and Stock, 2002).

Ezechiel im ersten Christentum 

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sung ähnlich zu Symmachus; das frühe Christentum benützt die umlaufenden Fassungen des Ezechielbuches, in diesem Fall eine zeitgenössische, junge Textform.89 Bedeutsamer als die Textgeschichte ist wieder eine theologische Beobachtung: Der Jud baut kein Gegenüber Christi als des wahren Hirten zu den falschen Hirten auf. Anders gesagt, befinden wir uns bis zum Ausgang der neutestamentlichen Zeit noch in einem Frühstadium der Christologie. Das Bewusstsein, Christologie müsse vor den Schriften Israels verantwortet werden, ist maßgeblich. Vorgaben und Koordinaten, die diese Schriften zur Verfügung stellen, faszinieren. Aber ein Bewusstsein dafür, dass Ezechiel nicht unmittelbar von Christus sprach, bleibt bewahrt. Das lässt bis zum Ende des Neuen Testaments große Spielräume für eine vielfältige Wahrnehmung der Schrift.

8 Ein Selbstbewusstsein, vergleichbar zu Ezechiel: der Seher der Apk Die Apk sticht im Neuen Testament nicht nur durch die besprochene Rezeption von Ez 1 hervor. Das ganze Buch ist vielmehr – einzigartig unter den frühen christlichen Quellen – von Anspielungen auf das Ezechielbuch durchzogen.90

89 Die Berücksichtigung der griechischen Textgeschichte ist forschungsmäßig jung, und das Bild „sich selbst (statt andere) weiden“ entspricht besser dem hebräischen Text von v. 2 als dem Old Greek (v. 2 und v. 8). Deshalb erwägt van Rooy, Esegiël (a.a.O. Anm. 5), z.St. (im Internet o.S.) nach Richard J. Bauckham (2 Peter and Jude, WBC 50 [Waco: Word Books, 1983], 87), eine hebräische Tradition nehme Einfluss. Die Erklärung über eine Revision des Old Greek in Richtung auf den hebräischen Text ist einfacher. 90 Das wurde durch Beate Kowalski, Die Rezeption des Propheten Ezechiel in der Offenbarung des Johannes, SBB 52 (Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 2004) und dies., „Transformation of Ezekiel in John’s Revelation: Visionary Antecendents and their Development,“ in Transforming Visions, hg. v. William A. Tooman/Michael A. Lyons, PTMS 127 (Eugene: Pickwick Publications, 2010), 279–311 am genauesten bearbeitet. S. außerdem Jean-Pierre Ruiz, Ezekiel in the Apocalypse. The Transformation of Prophetic Language in Revelation 16,17–19,10, EHS.T 376 (Frankfurt am Main u.  a.: Peter Lang, 1989), die Beiträge in Dieter Sänger, Hg., Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung, BThSt 76 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2006); die Hinweise in Gregory K. Beale/Sean M. McDonough, „Revelation,“ in Beale/Carson, Commentary (a.a.O. Anm.  5), 1081–1161 und die Kommentare bis Klaus Berger, Die Apokalypse des Johannes, Bd. 1, Apk 1–10 (Freiburg u.  a.: Herder, 2017), 61–64.

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Tabelle 10: Apk und Ez – die wichtigsten Referenzen Apk

Einzelbezüge (Auswahl)

Kap. 1 Eröffnungsvision

Ez

Einzelbezüge (Auswahl)

Kap. 1 1,13.15

Kap. 4–5 Himmlische Versammlung

1,24.26 Kap. 1

4,1.3.5–8 5,1 Kap. 7 Markierung der Heiligen

1,1.5.10.13.18.22.26–28 2,9  f. Kap. 9

7,3 Kap. 11 Aufstehen der Zeugen

9,4.6 Kap. 37; 38

11,11.13 Kap. 18 Sturz der großen Stadt

37,5.10; 38,19  f. Kap. 26–27

18,3.9– 19.21  f.24 Kap. 19 Schreckensmahl

26,13.17.19.21 27,13.27–33.36 Kap. 39

19,17  f.21 Kap. 20 Auferstehung

39,4.17–20 Kap. 37

20,4 Kap. 20 Gog-Magog

37,10 Kap. 38–39

20,8.10 Kap. 21,1–8 Gottes Wohnen bei den Menschen

38,6.22; 39,6 Kap. 37

21,3 Kap. 21,9–22,5 himmlisches Jerusalem

37,27 Kap. 40–48

21,10.15.17 21,12–13 22,1  f.

40,2.3.5 48,31–35 47,12

Ezechiel im ersten Christentum 

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8.1 Die Anspielungen betreffen fast alle Teile des Ezechielbuches (s. Tabelle 10).91 Tabelle 11: Apk 21,7 und Ez 11,20 Apk 21,7

2Sam 7,14 LXX

Ez 11,20 LXXRa=Gö

Hinweis

ὁ νικῶν κληρονομήσει ταῦτα καὶ ἔσομαι αὐτῷ θεὸς καὶ αὐτὸς ἔσται μοι υἱός

(über die verheißene Gestalt:) ἐγὼ ἔσομαι αὐτῷ εἰς πατέρα καὶ αὐτὸς ἔσται μοι εἰς υἱόν

(über das erneuerte Israel:) καὶ ἔσονταί μοι εἰς λαόν, καὶ ἐγὼ ἔσομαι αὐτοῖς εἰς θεόν

Varianten zu Apk 21,7 (αὐτοὶ ἔσονταί μοι υἱοί 𝔐A u.v.a) führen kaum näher an Ez heran. Die Differenz θεός (Apk 21,7) vs. εἰς θεόν (Ez 11,20 LXX) ist in den Handschriften stabil.

Manchmal hebt die Forschung eine Ezechielrezeption zu sehr hervor. So notiert Nestle-Aland28 Ez 11,20 bei Apk 21,7 gleichrangig zur Natansverheißung als Schriftvorlage, obwohl 2Sam 7,14 der Schilderung der Apk sprachlich eindeutig näher steht (s. die Unterstreichungen in Tabelle 11). Aber auch wenn wir solche Stellen streichen, gilt: Der Seher Johannes kannte und schätzte das ganze Ezechielbuch, nicht nur einzelne Abschnitte. Er ist der beste Kenner Ezechiels im Neuen Testament. Tabelle 12: Ez 37,10 und Apk 11,11 Apk 11,11

Hinweise zur Apk

Ez 37,5.10Gö und Ra

Hinweise zu Ez

[…] πνεῦμα ζωῆς ἐκ τοῦ θεοῦ εἰσῆλθεν ἐν αὐτοῖς, καὶ ἔστησαν ἐπὶ τοὺς πόδας αὐτῶν

1. πνεῦμα ζωῆς wird von den Hautzeugen übereinstimmend belegt(𝔓47 𝔓115 ‫ א‬A C) 2. Die Zeugen des 3./4. Jh. (𝔓47 ‫)א‬ und viele jüngere Hss. lesen εἰς αὐτούς.

5 τάδε λέγει κύριος […] ἰδοὺ ἐγὼ φέρω εἰς ὑμᾶς πνεῦμα ζωῆς […] 10 … καὶ εἰσῆλθεν εἰς αὐτοὺς τὸ πνεῦμα, καὶ ἔζησαν καὶ ἔστησαν ἐπὶ τῶν ποδῶν αὐτῶν

1. v. 5: πνεῦμα ζωῆς steht für ‫רּוח‬ ַ ‫יתם‬ ֶ ִ‫( וִ ְחי‬Gott lasse den Geist kommen, „und ihr werdet leben“). 2. v. 10: a. Statt πνεῦμα (p967; vgl. MT ‫)רּוח‬ ַ schreiben A u.  a. Hss. πνεῦμα ζωῆς. b. εἰσῆλθεν steht für ‎‫( וַ ָּתבֹוא‬eigentlich καὶ ἦλθεν) c. Statt ἐπὶ τῶν ποδῶν schreibt die hexaplarische Hs. 407 ἐπὶ τοὺς πόδας für ‫יהם‬ ֶ ‫ל־רגְ ֵל‬ ַ ‫( ַע‬MT).

91 Das ist nicht selbstverständlich. Das lange Ezechielbuch konnte zeitgenössisch auch in Auswahl abgeschrieben werden: vgl. 4Q74 = 4QEzb. Weiteres bei Martin Karrer, „Von der Apokalypse zu Ezechiel. Der Ezechieltext der Apokalypse,“ in Sänger, Ezechielbuch (a.a.O. Anm. 90), 84–120, hier 89–96.

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8.2 Die Fülle der Referenzen erlaubt die Frage nach der Vorlage oder den Vorlagen. Das Ezechielbuch lief ja – wie uns begegnete – auf Hebräisch und Griechisch und mit Varianten in den Handschriften um. Manche Einzelheiten beweisen die Priorität einer griechischen Vorlage. Ich nehme die Beschreibung dessen, wie der Geist Gottes die zwei Zeugen von Apk 11 nach ihrer Ermordung (v. 7) wieder auf ihre Füße stellt, als Beispiel, weil sie einem Zitat am nächsten kommt: Apk 11,11 kontrahiert die Aussage von Ez 37, der zufolge der Geist Leben bringt, wie die Septuaginta (37,5 und Handschriften von 37,10) zu „Geist des Lebens“ (πνεῦμα ζωῆς; s. Tabelle 12). D.h. der Seher benützt vorrangig einen griechischen Ezechieltext, passend dazu, dass er griechischsprachige Adressaten anspricht (Gemeinden in der Asia; Apk  1,4.11). Andererseits enthält seine Wiedergabe so viele Eigenheiten (s. Tabelle 12), dass er wahrscheinlich nicht unmittelbar das Old Greek, sondern eine Überlieferung seiner Zeit benützt.92 Sprachlich besaß er zudem die Fähigkeit, sich auch das Hebräische zu vergegenwärtigen. Das nun hilft uns, eine irritierende Beobachtung der Gesamtrezeption zu verstehen. Die Apk beachtet grosso modo die Abfolge des heutigen Ez-Textes, d.  h. beginnt ihr Visionscorpus in Kap. 4 (nach 1,13.15) mit der Merkava (vgl. Ez 1) und schließt es in Kap. 20–22 mit Gog und Magog (vgl. Ez 38–39)93 sowie der Vision der heiligen Stadt (vgl. Ez 40–48; s. Tabelle 10).94 Doch ein Motiv durchbricht dieses Schema: Das Aufstehen der Totengebeine (Ez 37) nimmt gleich mehrmals auf die Apk Einfluss, in 7,13  f., Kap. 11 und der Thematisierung der Auferstehung Kap. 20.95

92 Eine Rekonstruktion der Apk nach dem 𝔓47-‫א‬-Text würde die Nähe zum Old Greek vergrößern (beide Male εἰς αὐτούς), doch nochmals dichter ist die Parallele zu einer etwas jüngeren Septuaginta-Überlieferung (vgl. Hs. 407 in v. 10; s. die Hinweise in Tabelle 12). Weiteres bei Karrer, Von der Apokalypse (a.a.O. Anm. 91), 105–108 und ders., „Reception and Rewriting: Beobachtungen zu Schriftreferenzen und Textgeschichte der Apokalypse,“ in Rewriting and Reception in and of the Bible, hg. v. Jesper Høgenhaven u.  a., WUNT 396 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018), 207–234, hier 209  f.219.225  f.226  f. (die hexaplarisch belegte Variante ἐπὶ τοὺς πόδας ist wahrscheinlich vorhexaplarisch entstanden). 93 Magog ist in Apk 20,8 gegen den hebräischen Ezechieltext personifiziert. Das steht wieder der LXX näher, kontrahiert aber auch die dortige Aussage: Ez 38,2 LXX steht „Land Magogs“. Das Ende der Textentwicklung in der LXX und die größte Nähe zur Apk zeigt die Ergänzung „gegen Gog und Magog“ in Qmg Ez 38,1. 94 Vgl. Thomas Hieke, „Der Seher Johannes als neuer Ezechiel. Die Offenbarung des Johannes vom Ezechielbuch her gelesen,“ in Sänger, Ezechielbuch (a.a.O. Anm. 90), 1–30, hier 5  f. 95 Sommer, „… sie gelangten zum Leben“ (a.a.O. Anm. 42), 159–170. Apk 7,14 taugt als gutes Beispiel für die mögliche Rezeption des hebräischen Textes: κύριέ μου, σὺ οἶδας korrespondiert hervorragend zu ‫ יְ הוִ ה ַא ָּתה יָ ָד ְע ָּת‬in Ez 37,3 MT.

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Religionsgeschichtlich führt uns das zum Übergang von einer Erneuerung Israels (so der alte Ez-Text) zur Wiederbelebung und Auferstehung Verstorbener. Literarisch spiegelt es die Unsicherheit über den Aufbau des Ez-Textes in frühestchristlicher Zeit, die durch die Edition des p967 zutage kam. Dieser Papyrus nämlich lässt das Aufstehen der Totengebeine auf den Untergang Gogs und Magogs folgen, die von den Vögeln wie in einem schrecklichen Mahl verzehrt werden (das heutige Kap. 37 steht im Papyrus hinter 39). In der Apk entspricht das der Abfolge vom Schreckensmahl vor dem Ende in Kap. 19 zur Auferstehung in Kap. 20. Die Mehrheitsüberlieferung des Ezechielbuches dagegen (der hebräische Text und die Septuaginta-Handschriften nach p967) siedeln die Wiederbelebung der Totengebeine vor Gog und Magog an. Das korrespondiert zur Rezeption in Apk 11 und zum inneren Aufbau von Apk 20. Spiegelt die Apk also genau die Zeit, in der sich der Aufbau von Ez 37 bis 39 wandelt? Man wird dies erwägen müssen.96 8.3 Nicht minder spannend ist eine letzte Frage: Warum gibt der Seher der Apk dem Ezechielbuch solch hohes Gewicht?97 Oder, angelehnt an seine eigenen Worte: Warum ist Ezechiel ihm, der alle Propheten als seine Brüder versteht (19,10), der nächste unter diesen Brüdern? Meines Ermessens kommt hier noch einmal die Linie zum Tragen, die uns seit dem Anfang dieser Untersuchung begleitet: Ezechiel ist der Prophet par excellence für das Gottesvolk, das unter die Völker zerstreut ist und dort gesammelt wird. In der Apk vereint diese Sammlung, typisch für das frühe Christentum, die Versiegelten der Stämme Israels (7,2–8; vgl. Ez 9,4.6) mit Menschen aus allen Völkern (7,9–17).98 Der Ezechiel aus dem Bild des ersten Christentums kommt dem Selbstverständnis des Sehers sehr entgegen. Dürfen wir noch einen Schritt weitergehen und vermuten, der Seher Johannes verstehe sich wie Ezechiel aus Judäa verbannt und berufen zur Prophetie in der

96 Die Anordnung des p967 könnte bekanntlich den Septuaginta-Ausgangstext bilden: s. Johan Lust, „Ezekiel 36–40 in the Oldest Greek Manuscript,“ CBQ 43 (1981): 517–533 und ders., „The Order of the Final Events in Revelation and in Ezekiel,“ in L’Apocalypse johannique et l’Apocalyptique dans le Nouveau Testament, hg. v. Jan Lambrecht, BETL 53 (Leuven: Leuven University Press, 1980), 179–183. Weiteres zu Apk 19–20 bei Sverre Bøe, Gog and Magog: Ezekiel 38–39 as Pre-text for Revelation 19:17–21 and 20:7–10, WUNT II 135 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), 135–137. 97 Vgl. Steve Moyise, The Old Testament in the Book of Revelation, JSNT.S 115 (Sheffield: Sheffield Academic Press, 1995), 78  f.: „John has taken on the ‘persona’ of Ezekiel. Through meditation and study […], John has absorbed something of the character and mind of the prophet. This is why he can make so many allusions to the book without ever actually quoting it.” 98 ποιμανεῖ in 7,17 referiert nach vielen Auslegungen auf Ez 34,23 (ποιμανεῖ p967 usw.). Doch ist das Motiv des „Weidens“ in der Antike und den Schriften Israels zu verbreitet, so dass wir das nicht sehr belasten dürften.

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Fremde? Dann entspräche sein Aufenthalt auf Patmos (1,9) dem Ezechiels am Chobar (Ez 1,1, Transkription nach LXX), seine Vision und sein Auftrag dem des Ezechiel. Der Aufbau der Apk gestattet diesen Gedanken. Doch groß sind die Imponderabilien, angefangen bei der Frage, ob unser Seher tatsächlich wie einst Ezechiel Judäa nach einem verheerenden Krieg (nun der Tempelzerstörung 70 n. Chr.) verlassen musste. Der Seher schreibt es nicht, obwohl man es vermuten möchte. So muss diese letzte Vermutung offenbleiben. Beweisen lässt sie sich nicht.

9 Ergebnis Fassen wir die Ergebnisse in aller Kürze zusammen: 9.1 Ezechiel wird in der christlichen Literatur bis zur Mitte des 2. Jh. mit Namen allein in 1Clem 17,1 erwähnt. Auch Zitate sind selten; am wichtigsten sind Ez 20,34 in 2Kor 6,17; Ez 37,27 in 2Kor 6,16; Ez 33,11 in 1Clem 8,2 und (zitatnah) Ez 37,5.10 in Apk 11,11. Nehmen wir bedeutende Anspielungen hinzu (Ez 12,2 in Mk 8,18; Ez 34 in Joh 10; Ez 37,12  f. in Mt 27, 52  f. und Ez 1 in Apk 4), gilt der thematische Kreis dem Umkehrruf des Propheten, der Zuwendung Gottes zu seinem Volk, der Hirtenthematik, der Auferstehung und der Erscheinung Gottes. Das Ezechielbuch als ganzes wird nur in der Apk wahrgenommen. 9.2 Die Schriftreferenzen des ersten Christentums beziehen sich in der Regel auf die griechische Ezechielüberlieferung. Varianten spiegeln deren Bandbreite vom Old Greek und antiochenischen Text (2Kor 6,16  f.) bis zu den sog. jüngeren Übersetzungen (Jud 12). Im Spiegel der frühchristlichen Zeugnisse lässt sich daher die Entwicklung des Ezechiel-Buches und sogar der Konflikt um den Aufbau von Ez 37–39 erkennen (vgl. 8.2). 2Kor 6,16 veranlasst einen Vorschlag zur Korrektur der Septuaginta-Edition (Aufwertung des antiochenischen Textes von Ez 37,27). 9.3 Eine Kenntnis des hebräischen Ez-Buches ist nicht auszuschließen. Doch spielt es in jedem Fall die geringere Rolle. Das hängt mit den Rezeptionsinteressen zusammen: Judäa-Galiläa, der Raum mit größeren Hebräischkenntnissen, ist an Ezechiel als missachtetem Bußprediger, nicht als Einzelperson und Einzelschrift interessiert (s. § 3). Die griechische Diaspora dagegen gewahrt in ihm einen herausragenden Zeugen Gottes, der unter den Völkern auftritt und die Umkehr verkün-det, damit Menschen aus den Völkern zu Gottes Volk werden (s. §§ 2 und 5 bis 8).

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9.4 Das wirkt sich auf die Ezechiel-Legende aus. In der alten Überlieferung gilt er als einst zu Unrecht verfemt. Das erste Christentum übernimmt das. Aber das Interesse an seinem Tod wächst nur allmählich. Die Legende, er sei mit dem Schwert hingerichtet worden, entsteht erst in nachneutestamentlicher Zeit (dann unter Einfluss von Hebr 11,37; 4.). 9.5 Die christologische Rezeption des Ezechielbuches beginnt im späten 1. Jh. Sie entwickelt aus Ezechiels Hirtenrede das Bild des guten Hirten, der in einzigartiger Kenntnis Gottes die eine „Herde“ aus Israel und den Völker schafft (Joh 10,1–18); und sie greift Ezechiels Vision vom Thron des einen Gottes auf, um von ihr aus auf die Bedeutung Christi zu blicken (Apk 4–5). Beide Male entnehmen die Nachfolger/ innen Jesu dem prophetischen Text maßgebliche Koordinaten ihres Denkens und halten zugleich die Bruchstellen zwischen Prophetie und Christologie erkennbar. Dass Ezechiel vom Kommen Christi spreche, meint in dieser frühen Zeit daher, dass sich die Christologie in die Strukturen der alten Verkündigung einschreiben muss, ohne die alte Verkündigung zu usurpieren (7.1.2). 9.6 Große Wirkung zeitigt das Ezechielbuch in der Apk. Der Seher versteht seine Prophetie – eine Verkündigung an Menschen der Völker – mit der des Ezechielbuchs verschwistert (§ 8). 9.7 Die eindrücklichste und durchgängigste Linie der frühchristlichen Rezeption deutet Ezechiel als Propheten, der den Völkern durch den Ruf zur Umkehr die Verheißung eröffnet, den Gott Israels zu erkennen und wie Israel sein Volk zu sein. Diese Lektüre überrascht im Vergleich zum Ezechielbuch der Septuaginta und der hebräischen Überlieferung. Hermeneutisch ruft das nach einer genauen Wahrnehmung der Entwicklung des Ezechielbuches (s. 2.2 zu Ez 2,3) und nach Kritik an der selektiven, verändernden Lektüre in der Nachfolge Jesu. Hohen Reiz besitzt eine komplementäre Lektüre des alten Textes und seiner christlichen Rezeption.

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Karin Schöpflin

Prophet, Gottesthron, steinernes Menschenherz, Totenfeld und Quelle des Lebens – Aspekte der Rezeption des Ezechielbuches Abstract: The article offers some examples of adoptions of Ezekielian material in literature and painting. William Blake, The Marriage of Heaven and Hell, gives an account of a visionary meeting and dialogue with Isaiah and Ezekiel in order to illustrate Blake’s conviction that both prophets and poets are divinely inspired. In the second volume of his tetralogy Joseph und seine Brüder, Thomas Mann includes young Joseph’s dream of meeting God on his throne in heaven, who appoints Joseph as his substitute. The passage is modelled on Ez 1 and helps to characterize Mann’s protagonist. Both E.T.A. Hoffmann’s short story Das steinerne Herz and Wilhelm Hauff’s tale Das kalte Herz are based on Ezekiel’s metaphor of the heart of stone (Ez 36:26). Wilfred Owen alludes pessimistically to the valley of bones (Ez 37) in his war sonnet The End. Painters, however, predominantly focus on the resurrection of the bones in that vision. There may be an architectural echo of the life-giving waters (Ez 47:1–12) in a Bavarian church. Prophezeiungen – auch in der Variation prophetischer Träume – kommen als literarisches Mittel zu allen Zeiten in der Literatur des christlichen Abendlandes vor. Sie gehen nicht allein auf das Vorbild biblischer Prophetie zurück, sondern haben auch Wurzeln in der klassischen griechisch-römischen Antike, nicht zuletzt in der griechischen Tragödie; dafür bietet Sophokles’ König Ödipus ein Paradebeispiel. Während die Prophezeiung als literarischer Kunstgriff öfter auftritt,1 ist eine Rezeption bestimmter prophetischer Gestalten und Texte aus alttestamentlichem Schrifttum, die sich klar als solche identifizieren lassen, weitaus seltener. Schriftprophetische Bücher zeigen eine geringere Nachwirkung in der Literatur als etwa die biblische Urgeschichte, vor allem Gen 1−3. Von den drei großen Schriftpropheten der hebräischen Tradition hat vor allem Jeremia wegen seiner persönlichen Leidensgeschichte in die Literatur gewirkt,2 bei Jesaja werden Einzelpassagen

1 Ein Beispiel wird unten in 2. gegeben. 2 Vgl. Franz Werfel, Jeremias. Höret die Stimme (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1981), erstmals veröffentlicht 1938. https://doi.org/10.1515/9783110624250-011

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aufgenommen,3 zumal sein Spruchgut in kirchlicher Tradition bedeutsam ist. Wie aber ist es um Ezechiel bestellt, der gemeinhin unbekannter ist als Jeremia und Jesaja? Ein erstes Beispiel mag überraschen: In Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction (1994) bedient sich der Auftragskiller Jules Winnfield eines Ezechiel-Zitates, das er eingangs mit der Quellenangabe versieht: Ezekiel 25:17: The path of the righteous man is packed on all sides with the iniquities of the selfish and the tyranny of evil men. Blessed is he who in the name of charity and good will shepherds the weak through the valley of darkness. For he is truly his brother’s keeper, and the finder of lost children. And I will strike down upon thee with great vengeance and furious anger those who attempt to poison and destroy my brothers. And you will know that I am the Lord when I lay my vengeance upon thee.

Das Ezechiel-Zitat findet sich erst im letzten Satz der Rede: „I will strike down upon thee with great vengeance […]. And you will know that I am the Lord when I lay my vengeance upon thee“.4 Dabei ist insbesondere die abschließende erweiterte Erkenntnisansage unverkennbar. Davor bietet Jules ein Potpourri aus biblischen Anspielungen,5 so dass die gesamte Rede biblisch klingt. Sie gipfelt in der aus Ezechiel zitierten, etwas erweiterten Racheandrohung, die sich im Film augenblicklich verwirklicht: Unmittelbar nach seinen Worten erschießt Jules Winnfield den Adressaten, einen gewissen Brett, mit einer Maschinengewehrsalve. Diese Bluttat scheint durch die Berufung auf ein Bibelwort legitimiert zu werden. Der Film, der auch sonst mit einer Vielzahl von ironisch-parodistischen Anspielungen, insbesondere auf amerikanische Gangsterfilme der 50er und 60er Jahre, arbeitet, lässt also auch biblische Bezüge nicht aus. Doch nun zu literarischen Rezeptionen Ezechiels.

3 Vgl. etwa die Rezeption von Jes 6 in Alexander Puschkins Gedicht „Der Prophet“ (1826), in Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten, Ausgewählt und eingeleitet von Efim Etkind (München und Zürich: Piper 1981), 55. 4 Vgl. NRSV: „I will execute great vengeance on them with wrathful punishments. Then they shall know that I am the Lord, when I lay my vengeance upon them.” 5 „[P]ath of the righteous man“ vgl. Prov  4,18; „blessed is he“ gemahnt an Seligpreisungen (Mt 5,3−11), das Verb „shepherds“ weckt Reminiszenzen an Ps 23,1 sowie an Ez 34,16; „valley of darkness“ vgl. Ps 23,4; „his brother’s keeper“, vgl. Gen 4,9; „lost children“, vgl. Lk 15,24. Hinzu treten Begriffe wie „iniquity“, „charity“, „in the name of“, der Gegensatz gerecht – böse, die gerade in der Kombination miteinander biblisch klingen.

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1 Die Person des Propheten: William Blake, The Marriage of Heaven and Hell (circa 1790−94) William Blake (1757−1827) war ausgebildeter Kupferstecher und verdiente seinen Lebensunterhalt als Buchillustrator. Auf dem Kontinent ist er denn auch vor allem als Graphiker und Maler bekannt. Er fertigte nicht nur Illustrationen unter anderem zur Bibel (z.  B. zur Schöpfung, Kain und Abel, Hiob) sowie zu Dantes La divina commedia und Miltons Paradise Lost an, sondern auch zu eigenen literarischen Werken. Als Dichter stilisierte Blake sich als Visionär, als Prophet. Dabei spielte die Wiederentdeckung keltischer Dichtung und keltischer Barden6 ebenso eine Rolle wie das Betrachten biblischer Dichter und Propheten als orientalische Barden.7 Den größten Teil von Blakes Dichtungen bilden  – im Titel oder Untertitel auch als solche gekennzeichnete – prophetische Bücher: Visions of the Daughters of Albion; America. A Prophecy; Europe. A Prophecy; Vala, or the Four Zoas; Milton; Jerusalem. In ihnen schildert er seine Visionen und seine weltanschauliche Position, was auch mit Gegenwartskritik einhergeht. Blakes Denken ist beherrscht vom Aufbegehren gegen die Strömungen, die das 18. Jahrhundert bestimmten, allen voran Empirismus und Rationalismus  – und damit der verstärkt aufkommenden exakten Wissenschaften. Für Blake nimmt der Mensch mit den fünf Sinnen nur die materielle Welt wahr – etwa die Sonne als runde Feuerscheibe –, nicht aber die spirituelle Welt; in spiritueller Wahrnehmung erkennt man in der Sonne nämlich die himmlischen Heerscharen.8 Mit seiner Abgrenzung von der Rationalisierungstendenz der Epoche geht eine Aufwertung der Vorstellungskraft, der „imagination“ einher und damit auch der Subjektivität. Blake

6 Die Wiederentdeckung – vermeintlich – archaischer keltischer Kultur führte James Macpherson (1736−1796) herbei. Er veröffentlichte „Fragments of Ancient Poetry collected in the Highlands of Scotland, and translated from the Gaelic and Erse language“ (1760) sowie die Epen „Fingal“(1762) und „Temora“ (1763) und behauptete, es handle sich um die Übersetzung gälischer Poesie eines gewissen Ossian, eines Sehers und Barden. Dass sich später herausstellte, dass Macpherson diese Texte selbst verfasst hatte, tat ihrem literarischen Einfluss keinen Abbruch, zumal sie der Machart gälischer Poesie entsprachen. Blake schätzte daran, dass diese Gedichte nicht der Regelhaftigkeit der etablierten klassischen Dichtung entsprachen, so dass „Ossian“ für ihn ein Vorbild wurde. 7 Vgl. Leslie Tannenbaum, Biblical Tradition in Blake’s Early Prophecies: The Great Code of Art (Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1982), 21. 8 Vgl. Susanne Schmid, „Nachwort“ in William Blake, Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt und mit Anmerkungen hg. v. Thomas Eichhorn (München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, Neuausgabe 2007), 481.

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lehnte jegliche Institution – auch die Kirche – und Gesetze radikal ab und trat für die absolute Freiheit des Menschen ein. Insofern vertrat er ausgeprägt radikale Ansichten. Blakes religiöse Überzeugung kommt in The Marriage of Heaven and Hell (circa 1790−94) zum Ausdruck, einem Prosa-Traktat in aphoristischem Stil, das von einem Gedicht eingeleitet und vom allegorischen Song of Liberty beschlossen wird. 1788 hatte er bereits zwei knappe Traktate mit den Titeln There is no Natural Religion und All Religions are One geschrieben – diese Überschriften fassen den Inhalt bereits thesenhaft zusammen. In The Marriage of Heaven and Hell rechnet Blake mit Emanuel Swedenborg (1688−1772) ab, dessen Lehre er eine Zeitlang anhing, bevor er sich von ihr distanzierte. Blake imitiert Swedenborgs Stil, indem er zwischen den thetisch-aphoristischen Abschnitten „memorable fancies“ einschaltet, die Visionen schildern und Swedenborgs „memorable relations“ entsprechen. Blake formuliert seine Thesen von der notwendigen Zusammengehörigkeit der Gegensätze: Without contraries is no progression. Attraction and repulsion, reason and energy, love and hate, are necessary to human existence. From these contraries spring what the religious call good and evil. Good is the passive that obeys reason: Evil is the active springing from energy. Good is Heaven; Evil is Hell.9

Diese Kategorien der orthodoxen Religionen10 greift Blake an. Nachdem Blake eine Sammlung von „Proverbs of Hell“ im Stil des biblischen Proverbienbuches geboten hat, geht er auf den Ursprung der Religionen ein: Sie verdanken sich der Erfindungskraft antiker Dichter und entwickelten sich zu einem System, das zur Versklavung der Masse eingesetzt wurde zum Vorteil

9 Zitiert nach William Blake, The Complete Poems. Second Edition. hg. v. W.H. Stevenson (London und New York: Longman, 1989), 105. 10 Der Teufel hält fest: „All Bibles or sacred codes have been the causes of the following Errors: 1. That Man has two real existing principles: Viz. a Body & a Soul. 2. That Energy, call’d Evil, is alone from the Body; & that Reason, call’d Good, is alone from the Soul. 3. That God will torment Man in Eternity for following his Energies. But the following Contraries to these are True: 1. Man has no Body distinct from his Soul; for that call’d Body is a portion of Soul discern’d by the five Senses, the chief inlets of Soul in this age. 2. Energy is the only life, and is from the Body; and Reason is the bound and outward circumference of Energy. Energy is Eternal Delight” (105−106).

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einiger weniger.11 „Thus men forgot that All deities reside in the human breast” (111). Darauf folgt unmittelbar die Visionsschilderung in der nächsten „memorable fancy”: Blake speist mit Jesaja und Ezechiel und unterhält sich mit ihnen. Zuerst schneidet Blake das Thema der Offenbarung und damit der Legitimation der beiden Propheten an, eine zunächst rationalistische Anfrage. Beide behaupten ja rundweg, dass Gott zu ihnen sprach. Blake fragt, ob sie nicht befürchteten, missverstanden zu werden und Betrügerei auszulösen – nämlich im Missbrauch ihrer Botschaft durch kirchliche Institutionen. Jesaja erläutert, dass er nicht Gott mit den organischen fünf Sinnen wahrgenommen habe, sondern den/ das Unendliche(n) in allem entdeckte. Und er ist überzeugt, dass die „Stimme aufrichtiger Empörung“ Gottes Stimme ist, d.  h. die kritischen, zornigen Worte in seinem Buch ordnet Jesaja so ein. Er stimmt Blakes Aussage zu, dass eine feste Überzeugung das, von dem man überzeugt ist, zu einer Wirklichkeit macht – das ist ein deutlicher Hieb auf den Empirismus. Jesaja ordnet sich mit dieser seiner Überzeugung zudem als Dichter ein. In früheren Zeiten, die der Vorstellungskraft Raum gaben, konnte eine feste Überzeugung Berge versetzen (vgl. Mt 17,20). Doch inzwischen sind viele zu keinerlei Überzeugung mehr fähig, das heißt, sie sind fantasielos. Diese Sätze Jesajas drücken Blakes Ansicht aus, dass die Vorstellungskraft nicht durch die Sinne begrenzt ist und dass man nur visionär „richtig“ sieht, wie es der Dichter-Prophet tut. Eigentlich könnte jeder Mensch dies, doch sind die meisten unter dem Einfluss der Institutionen und Strömungen des Zeitgeistes verdorben und unfähig dazu geworden. Nun meldet sich Ezechiel zu Wort. Er kontrastiert östliche Philosophie, die das Ursprungsprinzip unterschiedlich definiert, mit der Auffassung Israels. Der Gott des Alten Testaments ist das Ursprungsprinzip, das Blake als Grundprinzip menschlicher Wahrnehmung als „Poetic Genius“ bezeichnet, und es andernorts explizit mit „Spirit of Prophecy“ gleichsetzt.12 Von diesem leiten sich alle anderen Prinzipien ab, aber auch Altes und Neues Testament.13 Deshalb habe

11 „The ancients Poets animated all sensible objects with Gods or geniuses, calling them by the names and adorning them with the properties of woods, rivers, mountains, lakes, cities, nations, and whatever their enlarged & numerous senses could perceive. […] Till a system was formed, which some took advantage of, & enslav’d the vulgar by attempting to realize or abstract the mental deities from their objects: thus began Priesthood; […] And at length they pronounc’d that the Gods had order’d such things” (111). 12 In All Religions are One heißt es: „the Religeons [sic] of all Nations are derived from each Nation’s different reception of the Poetic Genius which is every where call’d the Spirit of Prophecy“; zitiert nach Tannenbaum, Biblical Tradition, 63. 13 Zum Umgang mit der Bibel bei Blake und seinen Zeitgenossen vgl. Tannenbaum, Biblical Tradition, 8−24.

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Israel Priester und Lehren der anderen Völker verachtet und prophezeit, dass sich am Ende herausstellen werde, dass alle anderen Götter aus dem Gott Israels hervorgegangen seien und Untergebene bzw. Verehrer des Poetic Genius würden. Ezechiel verweist auf König David als den großen Dichter Israels, der den Poetic Genius ersehnte und anrief; durch diesen habe er nämlich Feinde erobert und Königreiche beherrscht. Ezechiel verweist hier allgemein auf Davids dichterisches Wirken, das heißt auf die Psalmen. Das Verwünschen der Fremdgötter und die Behauptung, dass die anderen Völker sich gegen Israels Gott aufgelehnt hätten, führt Ezechiel auf die Gottesliebe einer ersten Person Plural zurück, die Israel meinen kann oder – wohl eher – in engerem Sinne die Dichter-Propheten. Bei der breiten Masse löste dies den Gedanken aus, dass alle Völker am Ende den Juden untertan würden. Nach Blakes Auffassung müsste dies eigentlich ein Missverständnis sein, doch ironischerweise lässt er Ezechiel anschließend erklären, dass diese Überzeugung – gemäß dem Grundsatz, den Jesaja zuvor geäußert hat – Wirklichkeit werde („is come to pass“, vgl. Ez 12,25), weil alle Völker den jüdischen Gesetzeskodex glauben und den Gott der Juden verehren, was die größtmögliche Unterwerfung bedeute. Nach dem Essen schneidet Blake kurz die Frage verlorener Werke der beiden Propheten an  – hier mag Blake an eine Analogie zu den (angeblich) verschollenen Dichtungen Ossians denken. Dann erkundigt er sich nach dem Grund jeweils einer ihrer Zeichenhandlungen. Er fragt Jesaja nach dem Anlass des drei Jahre lang nackt und barfuß Laufens (Jes 20). Jesaja erläutert daraufhin nicht die Bedeutung dieser Zeichenhandlung, die biblisch auf die Kriegsgefangenschaft der Ägypter und Kuschiter vorausdeutet, sondern stellt die Aktion auf eine Stufe mit der extremen Askese des griechischen kynischen Philosophen Diogenes von Sinope (um 400−325). Damit wird impliziert, dass das Handeln Jesajas und Diogenes’ aus derselben Quelle motiviert ist. Speziell diese Symbolhandlung Jesajas ist für Blake interessant, weil sie besonders spektakulär erscheint und weil sie einen Aspekt des Freiheitsstrebens Blakes darstellt, nämlich die Nacktheit des menschlichen Körpers, die zu seiner Zeit nicht zuletzt kirchlicherseits mit Tabu belegt war.14 In seinen Illustrationen stellt Blake viele Nackte und leicht Bekleidete dar. Ezechiel spricht Blake auf das Essen von Mist und das lange Liegen auf der rechten und linken Seite an (Ez 4,12 und 4,4−5). Der erste Aspekt ist nicht präzise getroffen, da Ezechiel den Mist nicht essen, sondern zum Brotbacken verwenden soll. Auch hier spielt die biblische Deutung der Zeichenhandlungen keine

14 Hier sei eine Episode aus Blakes Leben erwähnt: Er rezitierte mit seiner Frau nackt im Garten sitzend Miltons Paradise Lost, um den Zustand Adams im Garten Eden nachzuempfinden, vgl. Susanne Schmid, „Nachwort,“ 474.

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Rolle. Ezechiel erläutert vielmehr, damit habe er das Verlangen anderer wecken wollen, den/das Unendliche(n) wahrzunehmen. Ein derartiges Verfahren sei bei den nordamerikanischen Stämmen üblich (dies ist ethnologisch und religionswissenschaftlich allerdings nicht belegt); damit wird implizit einmal mehr die These „all religions are one“ vertreten. Ferner wird sich der rechtschaffene Mensch seinem Genius und seinem Gewissen einzig um der momentanen Behaglichkeit oder Befriedigung willen nicht widersetzen. Die Zeichenhandlung ist für den Akteur äußerst unbequem, wegen ihres exzentrischen Charakters aber Aufsehen erregend und deshalb geeignet, Rezipienten dazu anzuregen, sich auf das Göttliche einzulassen. Hier scheint Blakes Überzeugung durch, dass im Grunde jedem Menschen der Status eines Poetic Genius zukomme, so dass er Gott wahrnehmen könne. Die beiden alttestamentlichen Propheten, die zugleich als inspirierte Dichter und damit Seelenverwandte15 verstanden sind, vertreten bzw. bestätigen Blakes eigene Anschauung vom Poetic Genius als dem einzig Göttlichen, das nur visionär erfasst werden kann. Jesaja und Ezechiel, aber auch David als Dichter haben dies vermocht. Und selbstverständlich beansprucht Blake dies auch für sich. Denn das Gespräch mit Jesaja und Ezechiel findet seinerseits in einer Vision statt. Ezechiel kommt dabei ausführlicher zu Wort als Jesaja. Ezechiel scheint für Blake wegen seiner umfangreichen Visionsbeschreibungen attraktiv,16 vielleicht auch wegen des ausgeprägten prophetischen Selbstbewusstseins,17 das im Ezechielbuch nicht zuletzt aufgrund seiner Stilisierung als Ich-Erzählung herrscht. Hinzu kommen die relativ exzentrischen Zeichenhandlungen und seine Theologie, die Fremdgötterverehrung  – allerdings innerhalb Israels  – verdammt und einen strengen Monotheismus vertritt; vor allem durch die Erkenntnisansagen an die Adresse Israels und der Völker betont Ezechiel, dass der eine Gott Israels schließlich allgemein (an)erkannt wird. Blake lässt Ezechiel neben Jesaja als Person auftreten und nimmt ausgewählte Aspekte seines Buches auf, die seine eigene Weltanschauung und vor allem seine Selbstwahrnehmung als Dichter-Prophet zu untermauern vermögen.

15 Christopher Rowland, „William Blake and Ezekiel’s Merkabah,“ in After Ezekiel. Essays on the Reception of a Difficult Prophet, hg. v. Andrew Mein und Paul M. Joyce (New York: T&T, 2011), 232. 16 Es mag auch hinzukommen, dass er im Vergleich zu anderen Schriftpropheten in kirchlicher Wahrnehmung weniger etabliert war. 17 Vgl. Rowland, „William Blake,“ 243−244.

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2 Gottesthron: Thomas Mann, Joseph und seine Brüder II: Der junge Joseph (1934) Die Eingangsvision des thronenden Gottes, der sich schrittweise Ezechiel zu erkennen gibt (Ez  1) und ihn anschließend mit seiner prophetischen Aufgabe betraut (Ez 2−3), ist ein eindrückliches Texterlebnis. Ezechiels Vision hat in der jüdischen Tradition eine bedeutende Wirkung entfaltet, nämlich in literarischen Werken, in denen eine Person in den Himmel versetzt wird und Gott schaut. Ez 1 bildet insofern eine wichtige Quelle jüdischer Mystik.18 Thomas Mann (1875−1955) hat Ezechiels Vision im zweiten Teilband seiner Romantetralogie Josef und seine Brüder (1948) aufgenommen und verarbeitet. Unter der Überschrift „Der Himmelstraum“ findet sich die Passage im dritten Hauptstück „Joseph und Benjamin“ im zweiten Band der Tetralogie Der junge Joseph, der 1934 erstmals erschien.19 Mit dem „Himmelstraum“20 stellt Mann den beiden in Gen 37 enthaltenen Träumen „Die Garben“ (374−382) und „Sonne, Mond und Sterne“ (384−390), die er im IV. Hauptstück bietet, einen selbst gestalteten Traum Josephs voran, der den jungen Joseph in seinem Erwählungsbewusstsein bzw. seiner Überheblichkeit besonders deutlich charakterisiert und auch ironisiert. Noch bevor die biblischen Träume Josephs beschrieben werden, erwähnt der Erzähler den Spitznamen Josephs „Träumer von Träumen“, den die Brüder ihm gaben und „unter dem sie ihn am meisten haßten“ (307); denn sie verstehen das Träumen als „anmaßende Eigenschaft“ (342). Der Erzähler erklärt, dass Joseph schon eine ganze Weile Träume hat, diese aber nicht mitteilte21 – mit einer Ausnahme: er erzählte dem Vater einen prophetischen Traum von nahendem Regen.22 18 Vgl. dazu Peter Schäfer, Die Ursprünge der jüdischen Mystik (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011). 19 Zitate sind entnommen Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Bd. I, Die Geschichten Jaakobs. Der junge Joseph (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988). 20 Der erste Band der Tetralogie enthält im II. Hauptstück (104−106) Manns Fassung von Jakobs Traum von der Himmelsleiter (Gen 28,10−19) unter der Überschrift „Die Haupterhebung.“ 21 „[I]m übrigen hatte er vor ihnen [den Brüdern] bisher noch reinen Mund gehalten über seine Träume, die längst im Gange waren. Die stärksten erzählte er ihnen überhaupt nie, weder ihnen noch dem Vater. Die er ihnen zu seinem Unglück erzählte, waren die vergleichsweise bescheideneren“ (342). 22 Nachdem Joseph den Traum dem Vater geschildert hat (82−83), bemerkt Jaakob: „Es ist schön, daß mein Knabe gesegnet ist mit Träumen; das macht, weil er mein Erstgeborener ist von der Rechten und Liebsten“ (83). Joseph gibt er die – prophetische – Warnung: „aber sage es nicht jedermann, daß du unter dem Baume träumst, sage es nicht den Kindern Lea’s und sprich nicht davon zu den Kindern der Mägde, denn sie könnten sich ärgern an deiner Begabung!“ (83).

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Josephs Himmelstraum steht im Kontext des Stückes, das das Verhältnis der beiden Vollbrüder Joseph und Benjamin beleuchtet. Joseph zieht den ihn bewundernden jüngeren Bruder ins Vertrauen, indem er einzig ihm auch unbescheidene Träume wie den von der Himmelsvision – und das mehrfach – erzählt, wodurch der Kleine sich geehrt, aber auch beunruhigt fühlt (343). Allerdings achtet Joseph darauf, dass seine Überlegenheit gegenüber Benjamin gewahrt bleibt: Er allein behält sich vor, sich mit Myrte zu bekränzen, dem Symbol der Jugend und Schönheit (330−331). Thomas Mann hat in der Traumschilderung von der Entrückung Josephs in den Himmel nicht allein auf alttestamentliches Material23 – und hier vor allem auf Ez 1 – zurückgegriffen, sondern weitere Traditionen aufgenommen, die hier nicht alle im Einzelnen angesprochen werden können, abgesehen vom hebräischen Henochbuch (3. Henoch),24 das neben dem Ezechielbuch die wichtigste Quelle ist.25 Zu bedenken ist dabei, dass die Henochliteratur ihrerseits bereits von Ez 1 beeinflusst ist. Im Traum befindet Joseph sich „auf dem Felde […] bei der Herde und […] allein unter den Schafen“ (343),26 als ein Adler ihn packt und in die Lüfte entführt. Während die Gotteserscheinung sich auf Ezechiel zubewegt (Ez 1), wird Joseph von einem Adler in den Himmel getragen, der als solares Symbol den Himmelsgott vertritt. Der Adler, der Joseph mit „mein Kind“ (vgl. Ezechiels „Menschenkind“) anspricht, durchquert mit ihm mehrere Himmelsschichten,27 Ziel ist die oberste Höhe des Weltnordens, des mythologischen Göttersitzes also, von dem her die Erscheinung auf Ezechiel zukommt (Ez 1,4). Der Adler präzisiert das Ziel beschreibend: „die letzte Höhe und die Weite des Araboth28 […], wo sich die Schatzkammern des Lebens, des Friedens und des Segens befinden, und zum

23 Zugrunde liegt bei seinen biblischen Anspielungen die Luther-Übersetzung in der Fassung von 1912. 24 Verweise auf hebrHen beziehen sich auf Peter Schäfer und Klaus Herrmann, Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. 1 §§ 1−80. Texte und Studien zum Antiken Judentum 46 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1995). 25 Als weitere Vorbilder kommen Ciceros Somnium Scipionis aus dem 6. Buch De re publica und Dante, La divina commedia, Il paradiso, in Betracht. 26 Hier könnte man sich an Amos erinnert fühlen: „Der Herr nahm mich von der Herde“ (Am 7,15). 27 Genannt werden „Schejakim“, der Wolkenhimmel, und „Rakia“, der Sternenhimmel. Letzterer spielt deutlich auf die Planetenhimmel und die Sphärenmusik an, die Cicero im Somnium Scipionis bei der Entrückung Scipios in den Himmel beschreibt. Die Feste aus Eiskristall schließt sich an; dann heißt es allgemein und deutungsoffen „durch welche Himmel der Adler mich führte“ (346). 28 Diesen hebräischen Begriff hat Mann hebrHen § 8 entnommen.

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obersten Gewölbe, in die Mitte des großen Palastes. Dort ist der Wagen und ist der Stuhl der Herrlichkeit“ (345). Wagen und Thronsitz der Herrlichkeit assoziieren deutlich Ez 1, die ihrerseits im hebräischen Henochbuch rezipiert wurden. Aus der kristallenen Himmelsfeste macht Mann eine Festung, auf deren Zinnen sich geflügelte (zur Flügelhaltung vgl. Ez 1,11.23) Krieger aufhalten, deren Beine und Füße den Himmels- und Thronträgern Ezechiels entsprechen (Ez 1,7). Aus den Engelscharen, die sie unterwegs passieren und die mit Lobsingen beschäftigt sind – zu Beginn wird ein Ruf zitiert, der Ez  3,12 [Luther 1912] entstammt,  – schließen sich einzelne dem Adler und Joseph an. Diese geflügelten Begleiter verursachen ein Geräusch wie Wasserrauschen ganz wie die Wesen in Ez 1,24. Nachdem sie den durch die Siebenzahl charakterisierten Bereich Michaels,29 der als oberster Priester fungiert, durchflogen haben, landen sie am Ziel in „Araboths Höhen und de[m] siebten Söller“ (346). Dort erblickt Joseph geflügelte Gewappnete – die himmlischen Heerscharen – und Räder von der Art, wie sie Ez 1,16−18 beschreibt. Da Ezechiels Himmelsfeste als kristallene Platte (Ez  1,22) zur Festung umfunktioniert wurde, kann sich hier der Gottesthron nicht darauf befinden. Deshalb steht der Gottesthron in einem Palast von gigantischen Ausmaßen, der von Ezechiel her aber die Saphir-Farbe (Ez 1,26) bewahrt hat. Der Palast liegt auf einem Berg, der von feurigen Steinen funkelt, was an den heiligen Berg in Ez 28,14 gemahnt. Cherubim – allerdings mit den sechs Flügeln der jesajanischen Seraphen, deren Trishagion auch auf ihren Lippen liegt – säumen den Weg Josephs durch die Säulenhalle zum „Stuhl der Herrlichkeit“ (347). Ein humorvoller Zug lockert die erhabene Atmosphäre auf, da die den Thron umdrängenden Seraphim zwar mit zwei Flügeln ihr Antlitz bedecken, „aber sie lugten auch etwas hindurch durch das Gefieder“ (347). Entsprechend lugt auch Joseph durch seine Finger, als er aufgefordert wird, sein Gesicht zu verbergen. Auf Benjamins Anfrage, ob Joseph Gottes Antlitz gesehen habe, bietet Joseph ihm folgende Beschreibung: Ich sah es sitzen im Saphirlicht auf dem Stuhl […], gestaltet gleich wie ein Mensch und nach dem Mannesbilde geschaffen, in vertraulicher Majestät. Denn es schimmerte ihm der Bart mit dem Schläfenhaar seitlich dahin, und liefen Furchen hinein, gut und tief. Unter seinen Augen war’s zart und müde drunter her, und waren nicht allzu groß, aber braun und glänzend, und spähten besorgt nach mir, als ich näher kam (347).

29 Dessen Name ist hier übersetzt „Wer ist wie Gott?“, was wohl im Hinblick auf die spätere Erhöhung Josephs zum Gott geschieht und diese somit kritisch beleuchtet.

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Gott ist menschengestaltig, wie es auch Ezechiel (Ez  1,26) schaut. Doch geht Josephs Himmelstraum erheblich weiter. In ironischer Verkehrung der Gottebenbildlichkeitsaussage von Gen 1,27 ist Gott „nach dem Mannesbilde geschaffen“. Während Ezechiel nur die Menschengestaltigkeit von Gottes unterer Körperhälfte erahnen kann, erblickt Joseph Gottes Gesicht so deutlich, dass er es genau beschreiben kann. Die Beschreibung erinnert den lauschenden Benjamin an das Aussehen des Vaters Jaakob. Tatsächlich hat der Erzähler bei der ausführlichen Beschreibung von Jaakobs Aussehen dessen Gesicht ähnlich beschrieben: Sein Bart, dünn, aber lang und breit (denn er stand ihm, ins Schläfenhaar übergehend, seitlich in leichten Strähnen von den Wangen ab und fiel in dieser Breite zur Brust), frei wachsend, ungelockt, in keiner Weise geformt und zusammengefaßt, schimmerte silbern im Mondlicht. […] Tiefe Furchen liefen von den Flügeln der dünnrückigen Nase in den Bart hinab. Seine Augen […] – kleine Augen, braun, blank, mit schlaffer, drüsenzarter Unterlidgegend, schon altersmüde eigentlich und nur seelisch geschärft, spähten besorgt nach dem Knaben am Brunnen (sc. Joseph) (49).

Die Beziehung zwischen dem menschlichen Vater und Gott spielt – nicht zuletzt unter dem Einfluss von Freuds Psychologie – im Roman eine wichtige Rolle. So kommt die Identifizierung des Thronenden als „Vater der Welt“ (347) nicht überraschend. Joseph reagiert wie Ezechiel in Ez 1,28, indem er niederfällt. Dann hört auch er Gottes Reden, das als Auftakt die Anrede an Ezechiel wörtlich zitiert. Während Ezechiel zum Propheten und Wächter eingesetzt wird, orientiert sich Josephs Amtseinsetzung an Henochs: „Denn fortan sollst du vor meinem Stuhle stehen als Metatron und Knabe Gottes“ (347, vgl. hebrHen § 4). Doch damit nicht genug: „ich will dir Schlüsselgewalt geben, meinen Araboth zu öffnen und zu schließen“ (347), eine Aussage, die an Jesu Worte an Petrus (Mt 16,19) erinnert und damit auch das päpstliche Amt aufruft. Eine der akustischen Wahrnehmungen Ezechiels (Ez  1,24) erfolgt hier als Reaktion der Heerscharen auf Josephs Erhöhung und Amtseinsetzung. Die als stolz eingeführten (345) Seraphen Aza und Azaël erfüllen eine satanische Funktion, wenn sie die außergewöhnliche Erhöhung eines Menschen kritisch hinterfragen. Ihre Namen und ihre kritische Anfrage sind hebrHen entnommen.30 Gott weist sie zurecht unter Verweis auf seine souveräne Entscheidungsgewalt. Die Heerscharen antworten darauf mit geräuschvollem Erschaudern und Verneigen und akklamieren mit dem Ez 3,12 entnommenen Lobruf (348). Gott erläutert aus-

30 Vgl. hebrHen § 6 und § 9. Dort sind die Kritiker zu dritt: ’Uzzah, ’Azzah und ’Azza’el.

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führlich die Stellung Josephs mit Worten, die nahezu wörtlich hebrHen § 13 entnommen sind.31 Anschließend findet die Amtseinsetzung, geradezu als eine Investitur statt: Gott bekleidet Joseph mit einem außergewöhnlich prachtvollen Gewand, setzt ihm einen Steinbesetzten Kronreif aufs Haupt und verleiht ihm seinen Titel „Jahu, den Kleinen, den Inneren Fürsten“ (348). Auch die Einkleidung und Titulatur entstammen hebrHen (§ 15). Sämtliche Engelswesen beugen sich buchstäblich Gottes Beschluss. Seine nächste Rede eröffnet Gott mit dem Bild vom Zedernschössling aus Ez 17,3−4 und kombiniert dies mit der Vorstellung vom Weltenbaum, die in Ez 31,3.6 vorkommt und in der Tradition altorientalischer Mythologie den (Welten) Herrscher umschreibt. Gott erläutert, dass seine Gnadenwahl auf den Jüngsten gefallen ist (wie bei Jaakob). Diesen hat er nun inthronisiert und „ihm von der Hoheit, der Pracht und dem Glanz [s]eines Thrones“ verliehen (349). Der letzte Satz der Gottesrede treibt das göttliche Übertreiben auf die Spitze: „Und war mir nur leid, daß ich seinen Stuhl nicht größer machen konnte denn meinen eigenen, und seine Herrlichkeit noch größer denn meine eigene, denn sie ist unendlich! Sein Name aber war Der kleine Gott!“ (349). Schon drei Mal hat Joseph dies Übertreiben in kommentierenden Bemerkungen thematisiert.32 Was wie eine Bescheidensheitsfloskel erscheinen könnte, ist als solche nicht ernst gemeint, sondern spiegelt tatsächlich Josephs Überzeugung, dass ihm diese Auszeichnung zukommt, wenn nicht gar zusteht. Bevor Joseph aus dem Traum erwacht, werden alle Bestandteile seines Körpers zu Feuererscheinungen so, wie es auch Henoch/Metatron widerfährt (vgl. hebrHen § 19), der zu einem Engelwesen, dem höchsten Engel, wird. Diese Verwandlung zum göttlichen Wesen erinnert auch an den Höhepunkt der Vision Ezechiels, der Beschreibung der Gottheit auf ihrem Thron, deren Gestalt sich durch Feuer und hellsten Glanz auszeichnet und vor allem oberhalb der Hüften aufgrund der Lichtintensität für das menschliche Auge nicht mehr erkennbar ist. Dies formt Mann ironisierend um, indem Joseph Gottes Gesicht schauen und beschreiben konnte, nun aber selbst gewissermaßen in Feuer aufgeht und somit

31 „Henoch, meinen Knecht, habe ich zum Fürsten und zum Mächtigen über alle Fürsten meines Reiches ernannt und über alle Himmelskinder, außer höchstens den acht Gewaltigen und Schrecklichen, die mit dem Namen Gott genannt werden nach dem Namen des Königs. Und jeglicher Engel, so ein Anliegen an mich hat, soll erst vor ihn treten und mit ihm sprechen. Ein jedes Wort aber, das er zu euch spricht in meinem Namen, sollt ihr hüten und befolgen, denn die Fürsten der Weisheit und der Vernunft stehen ihm zur Seite!“ (348). 32 „Der König aber übertrieb seine Worte“ (348) als Redeeinleitung der Amtsbeschreibung, dann nach der Nennung des Titels „Jahu …“: „Denn er übertrieb es.“ (348), und schließlich in der Einleitung der letzten Gottesrede „Der Herr aber […] übertrieb es aufs äußerste“ (348).

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die zuvor dargestellte Gottheit übertrifft. Damit hat Josephs Selbstüberhebung ihren absoluten Höhepunkt erreicht. Für die Psychologie des Traums ist bedeutsam, dass Joseph in einem Gespräch mit Jaakob über die von Gott besonders bevorzugten Männer der Geschlechterfolge gesprochen hat, zu denen er den Vater und sich selbst zählt und die er folgendermaßen charakterisiert: [S]o haben wir beides, Verstand und Träume, und ist beides eine große Lust. Denn es ist köstlich, Weisheit und Sprache zu besitzen, daß man zu reden und zu erwidern versteht und alles zu nennen weiß. Und es ist gleichermaßen köstlich, ein Narr zu sein vor dem Herrn, so daß man […] im Schlafe kund wird der Anschläge des Rates und Träume und Gesichte zu deuten weiß, sofern sie Fingerzeige geben, was geschehen wird von Mond zu Mond. So war Noah der Erzgescheite […]. So war auch Henoch, der Sohn Jareds […]. Das war Hanok, der Knabe […] Ich weiß es genau, wie alles mit ihm verlief, und daß Gottes Liebe zu Habel und Jizchak nur lau war im Vergleich mit seiner Liebe zu ihm. Denn es war Hanok dermaßen klug und fromm und belesen in der Schreibtafel des Geheimnisses, daß er sich von den Menschen sonderte und der Herr ihn hinwegnahm, so daß er nicht mehr gesehen wurde. Und machte ihn zum Engel des Angesichts, und er ward zum Metatron, dem großen Schreiber und Fürsten der Welt … (84).

Dies besondere Interesse Josephs an Henoch vermag zu erklären, weshalb er sich in seinem Himmelstraum mit eben diesem identifiziert. Wie Josephs biblische Träume von den Garben und von Sonne, Mond und Sternen besitzt auch sein „Himmelstraum“ prophetisch-antizipierende Aspekte. Im unmittelbar anschließenden IV. Hauptstück „Der Träumer“ schenkt Jaakob seinem Lieblingssohn33 ein besonderes Gewand, nämlich den Prunkschleier, den Rahel bei der Hochzeit getragen hatte und den sie zuvor an Lea ausleihen musste. Darauf sind Bilder mythologischer Gestalten mit farbigen und metallenen Fäden gestickt, so dass es glitzert und blitzt. Joseph selbst ist vom Anblick des Kleidungsstückes überwältigt. Er legt es an; „[n]atürlich sah er aus wie ein Gott“ (360), kommentiert der Erzähler und fügt später hinzu: Der Schleier „machte ihn dermaßen hübsch und schön, daß es schon nicht mehr geheuer war und tatsächlich ans Göttliche grenzte“ (360). Als Benjamin Joseph erstmals in dem Schleier sieht, stellt er explizit eine Verbindung zum Traum her. Er ruft aus: „Jehosiph, himmlischer Bruder! Es ist nicht wie im Wachen, sondern als wie im Traum, und der Herr hat dir umgeworfen ein herrlich Gewand, darein aller Art Lichter verwo-

33 „Dem ‚Lamm‘, dem ‚Reis‘, dem ‚Himmelsknaben‘, dem ‚Sohn der Jungfrau‘, oder wie die eigensinnig gefühlsvollen väterlichen Bezeichnungen […] nun lauteten, war von jeher unter der Hand an Sondergaben und zärtlichen Aufmerksamkeiten […] dies und jenes zugekommen“ (351).

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ben sind, und hat dir einen Mantel angezogen voll Stolz und Ruhm!“ (362).34 Den übrigen zehn Brüdern kündigt Joseph selbstüberheblich seinen Auftritt in dem Schleier für den Abend an mit den Worten: „auf den Abend […] will ich sitzen zur Rechten Jaakobs […], und ihr werdet sehen unseres Vaters Sohn in seiner Herrlichkeit“ (369), womit er sich die Position des Heilsbringers Jesu Christi anmaßt, wie sie der zweite Artikel des Glaubensbekenntnisses formuliert.35 Das Medium des Traums kehrt dann in der Wiedergabe von Josephs beiden biblischen Träumen aus Gen 37 wieder. Seine zehn Brüder diskutieren nach dem Garbentraum36 im Kapitel „Die Beratung“ (382−384) grundsätzlich über die Natur von Josephs Träumen: Hat er sich diese ausgedacht und erlogen („Lügenhypothese“, 383) oder handelt es sich um göttliche Eingebung? Stammt der Traum von Gott, so ist er „ein Sendzeichen der Erwählung“ (383).37 Der Himmelstraum schlägt über den unmittelbareren Kontext hinaus außerdem eine Brücke zum vierten Band Joseph, der Ernährer (1943),38 wo nämlich Josephs irdische Erhöhung durch Pharao, den Gottkönig, erfolgt. Nachdem Joseph Pharao dessen Träume gedeutet hat (oder vielmehr in einem sokratisch anmutenden Gespräch Pharao zum Verständnis seiner Träume verholfen hat), nimmt die Mutter Pharaos Joseph beiseite und kündigt ihm an: „Er wird dich erhöhen“ (1098). Pharao selbst drückt seinen einschlägigen Entschluss dann so aus: Fasse dich im voraus, schon bevor du meine Worte gehört hast, daß du nachher nicht etwa in Ohnmacht sinkst, weil dir zumute ist, als trüge ein geflügelter Stier dich zum Himmel! […] Du selbst bist es und kein anderer, den ich erwähle, und erhöhe dich an meine Seite zum Herrn des Überblicks. […] Und in deiner Hand sollen die Länder sein und sollst sein wie ich vor den Menschen! [Pharao übergibt Joseph einen Lapislazuli-Ring.] Das Zeichen sei er […] deiner Vollmacht und Stellvertretung, und wer ihn sieht, der erbebe und wisse, daß jedes Wort, das du sprichst zu einem meiner Knechte […], das sei wie mein eigen Wort. […] [D]enn mein Oberster Mund sollst du sein (1104−1105).

34 Jaakob hingegen fällt durch das Gewand Josephs Ähnlichkeit mit Rahel besonders ins Auge. 35 Vgl. Act 7,55–56; Röm 8,34; Hebr 1,3. 36 Diesen bewertet Joseph angesichts der ungläubigen Haltung der zehn Brüder Benjamin gegenüber „obgleich doch das Garbengesicht im Vergleich mit dem Himmelfahrtstraum, von dem er kein Wort gesagt, die demütigste Sache von der Welt gewesen sei“ (381). 37 „Als Joseph den Traum von Sonne, Mond und Sternen erzählt hat, tadelt Jaakob ihn zwar offiziell, doch erfüllt ihn zärtlich-halbgläubige[n] Genugtuung;“ „ganz unsinnigerweise bat er Gott, der Traum möchte von ihm gekommen sein, – was doch, wenn dieser, wie wahrscheinlich, eben nicht im Spiele gewesen war, ein völlig absurdes Ansuchen darstellte“ (389). 38 Zitiert nach Thomas Mann, Joseph und seine Brüder Bd. III. Joseph, der Ernährer (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988).

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Wie im Himmelstraum wird auch hier das Motiv der Übertreibung angeschlagen. Pharao hört seine Mutter etwas davon murmeln und fügt an: „Aber um die Übertreibung ist es zuweilen ein herrlich Ding, und Pharao will’s nun gerade einmal übertreiben!“ (1106). Er setzt nun die Titulatur für Joseph, den er „Lamm Gottes“ nennt, fest. Sie lautet „Groß-Wesir“, „Fürst des Inneren“ (vgl. 348), „Vize-Gott“ (1106). Das anschließende Kapitel „Die Vergoldung“ schildert die prunkvolle Zeremonie der Amtseinsetzung Josephs. Er wird nicht nur mit goldenen Kostbarkeiten überhäuft, sondern erhält darüber hinaus eine Urkunde, in der Pharao ihn u.  a. „Liebling und Eingeweihter seines Herrn“ (1113) nennt, und bei der Investitur eine schwere goldene Kette und eine Fülle von Titeln, „denn Pharao wollt es nun einmal übertreiben“ (1114). Die Ähnlichkeiten zu Josephs Erhöhung durch Gott im Himmelstraum stechen ins Auge. Bemerkenswert ist, dass Joseph das Prachtgewand vom Vater Jaakob erhält, die Insignie seines Amtes und die Titel hingegen vom Gottkönig Ägyptens, während Gottvater ihm zugleich Gewand und Kronreif sowie Ehrentitel gab. Mit dem Prachtschleier ist Josephs irdische Erhöhung also noch nicht abgeschlossen, sie vollendet sich im Hinblick auf den prophetischen Traum erst durch Pharao. Jahre später, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gibt, relativiert er selbst seine Erhöhung und deutet auch die Träume neu: Das mußte alles so sein, und Gott hat’s getan […] hat mich abgesondert schon frühzeitig vom Vaterhaus und mich verfremdet nach seinem Plan. Er hat mich vor euch hergesandt, euch zum Ernährer […] euer Bruder ist kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils, sondern ist nur ein Volkswirt, und daß sich eure Garben neigten vor meiner im Traum, wovon ich euch schwatzte, und sich die Sterne verbeugten, das wollte so übertrieben Großes nicht heißen, sondern nur, daß Vater und Brüder mir Dank wissen würden für leibliche Wohltat (1261).

Nach dem Tod Jaakobs, als die Brüder Josephs späte Rache fürchten und ihn um Vergebung anflehen, erklärt er ihnen: Bin ich denn wie Gott? Drunten, heißt es, bin ich wie Pharao, und der ist zwar Gott genannt, ist aber bloß ein arm, lieb Ding. Geht ihr mich um Vergebung an, so scheint’s, daß ihr die ganze Geschichte nicht recht verstanden habt, in der wir sind. Ich schelte euch nicht darum. Man kann sehr wohl in einer Geschichte sein, ohne sie zu verstehen. Vielleicht soll es so sein, und es war sträflich, daß ich immer viel zu gut wußte, was da gespielt wurde (1362).

Unmittelbar am Schluss der Tetralogie lässt Thomas Mann seinen Protagonisten die erzählte Ebene verlassen und sich des Erzählcharakters bewusst zeigen, lässt ihn also explizit eine Ebene benennen, die den gesamten Romanzyklus durchzieht: Das ganze ist nämlich eine „schöne Geschichte und Gotteserfindung“

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(1363), das heißt, es handelt sich um eine Erzählung, in der literarische Regeln gelten. Das bedeutet auch, dass der Erzähler im Spiel ist,39 der als allwissender Erzähler gewissermaßen gottgleich auftritt und der die Wahrnehmung der Leserschaft lenkt. Die vielschichtige Romantetralogie ist auch eine Reflexion über das Sprachkunstwerk selbst, das in diesem Falle als Erzählen einer biblischen Geschichte eigenen Gesetzen folgt,40 durch die Mann Biblisches in eigener Weise ausmalend, kritisch-distanzierend und humorvoll seiner Leserschaft nahe bringt,41 der bewusst sein soll, dass sie es mit Erzähltem zu tun hat. Am Ende ist also nicht Joseph der erwählte Segensträger und Heilsbringer, sondern Juda. Der Roman begründet auch, warum das so ist. Dabei spielt zum einen die ironische Gebrochenheit der Charakterisierung Josephs eine Rolle, die der Erzähler unter anderem erreicht, indem er Jaakobs Sicht auf seinen Lieblingssohn mitteilt. Man gewinnt den Eindruck, dass der Vater seine Vorliebe für Joseph auf die religiöse Ebene projiziert, indem er ihn als Auserwählten Gottes betrachtet.42 Er hat das Gefühl, „daß das wandernde Erbe der Stammeshäupter und großen Väter, die Erwähltheit, der Gottessegen, eher auf den Knaben [Joseph] als auf ihn oder einen andern unter den Zwölfen übergegangen sei“ (63). Schon bei der Geburt Josephs beurteilt Jaakob das Neugeborene als „Wunderknaben und Gesalbten“ (260).43 Der siebzehnjährige Joseph wird allgemein als äußerst schöne Erscheinung wahrgenommen (vgl. 292−294).44 Bei ihm sind 39 Der Erzähler äußert sich öfters in eigener Sache. Ein (programmatisches) Beispiel: „Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart!“ (39). 40 Vgl. dazu die zentrale Aussage des Erzählers: „Die Sphäre rollt, und nie wird ausgemacht werden, wo eine Geschichte ursprünglich zu Hause ist: am Himmel oder auf Erden. Der Wahrheit dient, wer erklärt, daß alle entsprechungsweise und zugleich hier und dort sich abspielen und nur unserm Auge es so erscheint, als ob sie herunterkämen und wieder emporstiegen. Die Geschichten kommen herab, so, wie ein Gott Mensch wird, werden irdisch und verbürgerlichen sozusagen“ (314). 41 Vgl. dazu Käte Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984), 9−138, bes. 17−26; 78−79. 42 „Jaakob fand sich […] ermutigt durch die seine Überlieferung und seinen Stamm beherrschende Vorstellung von Gottes eigener Unenthaltsamkeit und majestätischer Launenhaftigkeit in Gefühlsdingen und Dingen der Vorliebe: El eljons Auserwählung und Bevorzugung einzelner ohne oder jedenfalls über ihr Verdienst war großherrlich, schwer begreiflich und nach menschlichem Begriffe ungerecht […]; und Jaakob, selbst ein bewußter […] Gegenstand solcher Prädilektion, ahmte Gott nach“ (60–61). 43 Dies verstärkt Mann, indem er Jaakob messianische Weissagungen (Jes 11,1.4) und neutestamentliche Anspielungen (Rahel als „Jungfrau“, der Säugling als „Lamm“) verwenden lässt (260−261). 44 Der Erzähler relativiert dies vorweg: „Ohne Schwierigkeit ließe sich ein Gesichtswinkel finden, unter dem gesehen er ein unausstehlicher Bengel war“ (292).

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außergewöhnlicherweise Schönheit und Geist miteinander gepaart (305). Denn Joseph hat auf Jaakobs Betreiben auch Bildung durch den Knecht Elieser erhalten. Jaakob, der selbst kein Gelehrter ist (307), lässt Joseph diese Erziehung angedeihen, weil er ihm zum einen auch dadurch eine die übrigen Brüder übertreffende Position geben will, zum anderen aus Besorgnis um Josephs „Seelenheil und religiöse Gesundheit“ (309). Denn die Erzählung vom Wettertraum war für Jaakob ein Schlüsselerlebnis: „Er kannte Josephs Anlage zu leicht ekstatischen Zuständen, zum nicht sehr ausgebildeten und halb verspielten, dann aber auch wieder echten prophetischen Krampf und schwankte sehr in seinem väterlichen Verhalten dazu, durchdrungen von der schlimm-heiligen Zweideutigkeit solcher Neigungen“ (309). Jaakob versteht diese Gabe, die seine übrigen Söhne nicht aufweisen, als Zeichen der Erwähltheit Josephs, die den väterlichen Plänen entgegenkommt: „es mochte als Auszeichnung verstanden werden, die zusammen mit so viel anderen Vorzügen die Erberwählung einleuchtend machte“ (309). Trotzdem denkt Jaakob: „Josephs Träume konnten es brauchen, in genaue Zucht genommen zu werden durchs Buchstäblich-Vernünftige […]. Dunkle Elemente im Wesen seines Lieblings schienen ihm lösender Klärung im Intellektuellen bedürftig“ (311).45 Die persönliche Zuneigung Jaakobs zu Joseph und dessen bevorzugte Behandlung beruht nicht zuletzt darauf, dass der Erstgeborene Rahels ihn wegen der Ähnlichkeit zu seiner Mutter an die verstorbene Lieblingsfrau erinnert. Joseph verliert den Segen, den Jaakob ihm zugedacht hat, weil Jaakob Joseph aufgrund des Betrugs der zehn Söhne für tot hält. Diesen Aspekt gestaltet Mann sehr subtil, da Ägypten symbolhaft auch das Totenreich verkörpert, und ironisch, da er die Umlenkung des Segens auf Juda unmittelbar nach der Erzählung von der Erhöhung Josephs in Ägypten erzählt.46 Obwohl Jaakob den tot geglaubten Joseph wiederfindet, bleibt er dabei, Juda den entscheidenden Segen zu spenden (1345−1346), und erklärt Joseph: „Gott hat dich gegeben und genommen […]. Dich hat er erhöht und verworfen, beides in einem […]. Er hat dich erhöht über deine Brüder, wie du dir’s träumen ließest […]. Aber erhöht hat Er dich über sie auf welt-

45 Zu diesem Urteil trägt auch Jaakobs eigene Traumerfahrung bei, wie der Erzähler bemerkt: „Auch Jaakob, wohlgemerkt, war ein Träumer – aber in Ehren! Im Traume hatte er Gott als großen König und seine Engel erschaut und stärkendste Verheißung im Harfenschwall von ihm vernommen, gewiß. Aber es lag wohl auf der Hand, wie sehr eine solche Haupterhebung aus Trübsal und Demütigung sich unterschied durch vernünftiges Maß und geistlichen Anstand von jeder üblen Berückung.“ (310−311). 46 Joseph, der Ernährer, Fünftes Hauptstück: Thamar. „Juda, er war der Erbe.“ (1164).

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liche Weise, nicht im Sinne des Heils und der Segenserbschaft – das Heil trägst du nicht, das Erbe ist dir verwehrt“ (1305).47 Ein Indiz dafür, dass Joseph nicht Träger des Abraham-Segens und Heilsbringer ist, mag auch sein Himmelstraum sein. Denn dieser steht im Kontrast zum Traum Jaakobs von der Himmelsleiter (Gen 28,10−19; vgl. Die Geschichten Jaakobs, 104−106). Während Joseph selbst seinen Traum erzählt, schildert der Erzähler Jaakobs Traum, was Letzterem dadurch mehr Objektivität und Wirklichkeitsanspruch verleiht. Jaakob wird zudem nicht entrückt oder gar zu einem Amt erhöht, so dass mehr Bescheidenheit waltet. Mann beschreibt relativ ausführlich die Engelwesen auf den Stufen der Rampe zum Gottesthron. Dabei handelt es sich um vielfältige Wesen, die an altorientalische Ikonographie angelehnt sind. Unter den Elementen, aus denen die Mischwesen zusammengesetzt sind, finden sich auch solche, die die Wesen in Ez 1 auszeichnen (Flügel, Menschliches, Stier, Löwe, Adler; Feuer). Die Gottheit, die sich von ihrem Thron erhebt, ist knapper beschrieben, auch hier schaut der Träumer aber ihr Gesicht: „Sein Bart war blau und zusammengefaßt mit ehernen Bändern, und unter hoch gewölbten Brauen drohte sein Antlitz in grimmer Güte.“ (105). Gott spricht Jaakob den Vätersegen zu; dies geschieht in Umfang und Wortlaut in starker Anlehnung an Gen 28,13−15, wodurch Gottes Zusage authentischer wirkt als der übertreibende Himmelstraum des jungen Joseph. Der Erzähler lenkt damit unterschwellig seine Leserschaft dahin, Jaakobs Traum als wirksame Verheißung zu verstehen und den ausführlicheren Traum Josephs von seiner persönlichen Erhöhung als Wunschdenken zu interpretieren, da dieser sich aus biblischen und apokryphen sowie auch literarischen Quellen – wie Dantes Göttlicher Komödie – speisende Traum mit seinem humoristischen Einschlag fiktiven Charakter trägt. Thomas Mann hat mit Ez 1 kombiniert mit der antiken Rezeption in der Henochliteratur die spektakulärste prophetische Vision des Alten Testaments zum einen genutzt, um seinen Helden Joseph in seinem angemaßten Erwählungsbewusstsein zu charakterisieren; zum anderen ist Josephs Himmelstraum ein literarisch technisches Mittel, da er sich als prophetisch erweist, indem er im weiteren Verlauf des Romangeschehens auf der irdischen Ebene in mehreren Schritten in Erfüllung geht.

47 Entsprechend erteilt Jaakob Joseph auf dem Sterbebett einen abgeschwächten Segen: „es ist ein lieblicher Segen, aber der höchste und strengste nicht. Siehe, dein teures Leben liegt vor des Sterbenden Blick in seiner Wahrheit. Spiel und Anspiel war es, vertraulich, freundliche Lieblingsschaft anklingend ans Heil, doch nicht ganz im Ernste berufen und zugelassen.“ (1349).

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3 Das steinerne Menschenherz Gottes Heilswort von der Verwandlung der Herzen, das Ezechiel in Kap. 36 wiedergibt, ist in seiner Bildhaftigkeit äußerst einprägsam: „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben“ (Ez 36,26 vgl. 11,19). Auch dies hat Schriftsteller inspiriert.

3.1 E.T.A. Hoffmann, Das steinerne Herz (1816) E.T.A. Hoffmann (1776−1822) veröffentlichte als Schlussstück des zweiten Bandes der Nachtstücke von 1817, Das steinerne Herz. Der Titel der Erzählung ruft bereits das Ezechiel-Wort auf. Die Hauptperson, Hofrat Maximilian Reutlinger, hat am äußersten Ende seines weitläufigen Gartens ein Wäldchen anpflanzen lassen, das aus der Vogelperspektive die Form eines Herzens hat. In dessen Mitte steht ein herzförmiger Pavillon aus schwarzem Marmor, dessen Boden mit weißen Marmorplatten ausgelegt ist; „in der Mitte erblickst du ein Herz in gewöhnlicher Größe. Es ist ein dunkelroter, in den weißen Marmor eingefügter Stein“.48 Dabei handelt es sich um das Grabmal von des Hofrates Herzen. Dies buchstäblich steinerne Herz bildet das örtliche Zentrum der konzentrischen Herzen, dieser Schauplatz aber zugleich den Kristallisationspunkt der Handlung auf mehreren Zeitstufen. Der Erzähler vergegenwärtigt den Tag Mariä Geburt an einem 8. September 180−, an dem der alte Hofrat auf seinem Landsitz alle drei Jahre das „Fest der alten Zeit“ zu feiern pflegt, an dem alle Gäste sich im Stil des Jahres 1760 kleiden müssen. Diese Zeit will er heraufbeschwören, weil er damals „wahrhaft lebte“ (585). Über sein Grabmal sagt er: „Meine Blutstropfen haben den Stein so rot gefärbt, aber er ist eiskalt, bald liegt er auf meinem Herzen und kühlt die verderbliche Glut, welche darin loderte“ (582). Über sich selbst sagt er: „ich muß allein stehen, kein menschliches Herz darf sich mir anschmiegen, alles, was Freundschaft, was Liebe vermag, prallt wirkungslos ab von diesem steinernen Herzen“ (582). So ist das steinerne Herz in Hoffmanns Erzählung einerseits als Teil des Grabmals konkreter Gegenstand, andererseits bildhaft, indem es den inneren Gefühlszustand des Hofrats illustriert. Der Leser erfährt von drei Kümmernissen, die das Herz des Hofrats erkalten bzw. versteinern ließen: Seine Angebetete Julie heiratete einen anderen wegen

48 E.T.A. Hoffmann, „Das steinerne Herz.“ In Sämtliche poetischen Werke Bd. 1, hg. v. Hannsludwig Geiger, (Wiesbaden: Emil Vollmer o.  J.), 581.

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seines starren unversöhnlichen Sinnes und seines Glaubens an Ahnungen und Unheil verkündende Visionen, mit denen er sich selbst quälte (582). Hofrat Reutlinger eignet also ein Hang zum Prophetischen, der Julie seinerzeit abschreckte. Offenbar bildete die enttäuschte Liebe den Anstoß zum Errichten des Grabmals. Ein zweiter Grund für die Herzensverhärtung liegt im Verhältnis des Hofrats zu seinem jüngeren Bruder, dem er Wohltaten erwies, von dem er sich aber ausgenutzt fühlte, ja, der sogar durch kriminelle Verstrickungen die Ehre des Hofrats zu gefährden drohte,49 bis dieser Bruder sich durch Flucht einer Verhaftung entzog (583). Als Drittes kommt der Übermut seines Neffen Max hinzu, den der geflüchtete Bruder in seiner Obhut gelassen hatte. Als sich das Grabmal im Bau befand, hatte der Knabe mit dem roten herzförmig gearbeiteten Stein gespielt „unter allerlei tollen Bockssprüngen und lautem Gelächter“ (584). Der Hofrat fuhr ihn daraufhin an mit den Worten „Bube! du spielst mit meinem Herzen wie dein Vater!“ (584) und ließ ihn aus seinem Hause fortschaffen. Somit spielt das gegenständliche steinerne Herz in der Vergangenheit des Hofrats auch eine konkrete Rolle, die aus seiner Sicht zugleich symbolisch ist. An dem besagten Festtag erleidet Hofrat Reutlinger unweit des Herzpavillons einen Ohnmachtsanfall. Als der alte Herr wieder zu sich kommt, erzählt er seinen Gästen, dass er einen Schock erlitten habe, weil er meinte, sich selbst in seinem 30 Jahre alten Gewand in dem Pavillon zu erblicken: „ich lag auf dem Boden vor dem Herzen, und darauf klopfend, daß es bald widerhallte, murmelte ich: ‚Nie – nie kannst du dich erweichen, du steinernes Herz!’“ (597). Überdies trat seine Jugendliebe Julie in den Pavillon und streckte sehnsuchtsvoll die Arme nach dem Knienden aus. Des Hofrats Gast Rixendorf klärt alles auf: Ja, an deinem steinernen Herzen, du harter unempfindlicher Oheim! kniete der Neffe, den du unbarmherzig verstießest einer träumerischen Einbildung halber! Verging sich der Bruder schwer gegen den Bruder, so hat er es längst gebüßt mit dem Tode im tiefsten Elend – da steht die vaterlose Waise, dein Neffe – Max, wie du geheißen, dir ähnlich an Leib und Seele, wie der Sohn dem Vater […] – da – nimm ihn auf – erweiche dein hartes Herz! – reiche ihm die wohltätige Hand (598).

Doch der Hofrat bleibt zunächst unversöhnlich50 und schickt den Neffen erneut weg. Letzterer beklagt die Herzlosigkeit seines Onkels, dessen Obhut sein ster-

49 Der Hofrat nennt den Bruder einen Bösewicht und erklärt, „daß meines Bruders Teufelei mir den härtesten Stoß gab, den ich erlitten“ (583). 50 „Fort – aus meinen Augen, ja du spielst mit meinem Herzen, mit mir!“ (598).

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bender Vater ihn anempfohlen hat.51 Der Neffe klagt: „Ich wahnsinniger Tor, daß ich glaubte, jemals dein steinernes Herz rühren […] zu können! […] [D]u verwirfst mich, so wie du alles verwirfst, was sich dir naht mit Liebe und Ergebung“ (598). Erst als die junge Julie erscheint, Max ihr seine Hoffnungslosigkeit klagt und Julie gesteht, dass Max’ Verstoßung auch sie vernichtet, ändert der Hofrat seinen Sinn. Denn er erkennt nun in dem Neffen sich selbst wieder und will diesem die Liebe ermöglichen, die ihm selbst verloren ging, ein Verlust, der das Versteinern seines Herzens einst ausgelöst hatte: „Du liebst Julien, du bist mein Sohn – nein, mehr als das, du bist ich, ich selbst […]. Du liebst mich ja! – nicht wahr, du mußt mich ja lieben, du bist ja ich selbst – scheue dich nicht vor meinem steinernen Herzen, drücke mich nur fest an deine Brust, deine Lebenspulse erweichen es ja!“ (599). Er nimmt den Neffen an Sohnes statt an, übergibt ihm seinen Besitz und ermöglicht so auch die Eheschließung mit Julie. Letztlich ist es also die Liebe, die das steinerne Herz erweicht. Anders als im Ezechielbuch wird Gott in diesem Zusammenhang aber nicht erwähnt. Hoffmann nutzt das Motiv des steinernen Herzens, das sich schließlich erweicht, auf mehreren Ebenen. Dies Schillern zwischen konkreter und bildhaften Ebenen sorgt für ironische Brechungen, wie sie für Hoffmanns Stil typisch sind. Ebenso charakteristisch ist sein Spiel mit den Zeitebenen, die hier – wiederum in ironischer Brechung – auch inhaltlich bedeutsam sind: Die Erfahrungen seiner Jugend haben den Hofrat hartherzig gemacht und bestimmen ihn bis zu dem Festtag, den der alt gewordene Mann begeht und der im Mittelpunkt des Erzählgeschehens steht. An diesem Tag vollzieht sich die Verwandlung des steinernen Herzens eben durch die buchstäbliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Hinzu tritt die Ebene des Erzählers, die die Geschichte einrahmt: Eingangs nimmt der anonyme Ich-Erzähler seine Leserschaft durch die Ortsbeschreibung mit an den Schauplatz, den Landsitz mit dem Herzpavillon, wo sich die Worte „Es ruht!“ in den roten Herzstein graviert finden. Darauf greift der Erzähler am Ende zurück und schildert eine Zeit, als der Hofrat verstorben und begraben ist, das Paar Max und Julie aber noch lebt und des Onkels gedenkt: Hinzusetzen will ich nur noch, daß am Tage Mariä Geburt des Jahres 18− Max und Julie einander gegenüber im Pavillon bei dem roten Herzen knieten. Häufige Tränen fielen auf den kalten Stein, denn unter ihm lag das ach! nur zu oft blutende Herz des wohltätigen Oheims. […] [W]eil er des armen Onkels ganze Lebens- und Leidensgeschichte darin angedeutet fand, hatte Max mit eigner Hand die Worte in den Stein gegraben: Es ruht! (601).

51 Überdies hat der Hofrat seinen Bruder zu Unrecht Verbrechen angelastet, einzig Leichtsinn hätte man diesem vorwerfen können.

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3.2 Wilhelm Hauff, Das kalte Herz (1827) Wilhelm Hauffs (1802−1827) Kunstmärchen Das kalte Herz,52 das 1827 in seinem dritten Märchenalmanach Das Wirtshaus im Spessart wenige Wochen nach dem frühen Tod des Verfassers erschien, dürfte die bekannteste Rezeption des Motivs aus dem Ezechielbuch sein.53 Es ist die Geschichte vom Kohlenbrenner Peter Munk, der nach sozialem Aufstieg strebt. Mit zweien der drei Wünsche, die das geheimnisvolle Glasmännlein ihm als Sonntagskind freigibt, erreicht Peter nur vorübergehend Reichtum und Ansehen. Das liegt vor allem daran, dass er sich auf das Geschäft der Glasmacherei nicht versteht und sich zudem leichtsinnig verhält. In seiner Not lässt Peter sich auf das Angebot des Holländer-Michel ein: Dieser Waldgeist versorgt ihn mit viel Geld; dafür nimmt er Peter sein Herz und setzt ihm dafür einen Stein in die Brust. Dies macht Peter hartherzig: Er wird ein skrupelloser Geschäftsmann und ist so geizig, dass er seine bedürftige Mutter mit geringsten Summen abspeist und seiner Frau Lisbeth strengstens verbietet, Almosen zu geben. Als er sie ertappt, wie sie sein Verbot übertritt, erschlägt er Lisbeth. Der Bettler, dem Lisbeth sich zugewandt hat, ist aber in Wahrheit das Glasmännlein, das Peter nun acht Tage Zeit gibt, sich zum Guten zu bekehren. Da das Glasmännlein Peters dritten Wunsch aufgespart hat, kann er sich nun sein lebendiges Herz zurückwünschen. Zwar vermag das Glasmännlein ihm das Herz nicht selbst zurückzugeben, aber es erklärt ihm, wie er den HolländerMichel überlisten kann. Als Peters lebendiges Herz wieder in seiner Brust schlägt, bereut er den Mord an Lisbeth und seine übrigen Sünden und wünscht sich den Tod. Wegen seiner aufrichtigen Reue gibt das Glasmännlein ihm Lisbeth zurück. Durch seiner Hände Arbeit bringt Peter Munk es nun zu Wohlstand, Ansehen und Beliebtheit. Er ehrt die Mutter, behandelt Lisbeth gut und ist freigiebig gegenüber den Armen. So lebt er still und zufrieden bis ins Alter. Das Motiv des Herzens bestimmt den zweiten Teil des Märchens, als Peter sich auf den Handel mit dem Holländer-Michel einlässt. Dieser Kontrahent des Glasmännleins besitzt ein ganzes Regal voller Gläser, die die pochenden Herzen reicher, angesehener Zeitgenossen enthalten, von denen Peter einige sehr bewundert, so dass auch er sein Herz für Geld hergibt. Mit dem lebendig schlagenden

52 Vgl. dazu ausführlicher Karin Schöpflin, „Weisheit – eine Herzensangelegenheit. Die Bedeutung des Herzens für Salomo, Ezechiel, Ben Sira und Wilhelm Hauff“, in Weisheit als Lebensgrundlage. Festschrift für Friedrich V. Reiterer zum 65. Geburtstag, hg. v. Renate Egger-Wenzel, Karin Schöpflin und Johannes F. Diehl (Berlin: Walter de Gruyter, 2013), 297−320. 53 Vgl. auch den Spielfilmklassiker, zu dem Paul Verhoeven das Drehbuch schrieb und Regie führte, DEFA 1950. Auch die Augsburger Puppenkiste hat das Märchen (Hessischer Rundfunk 1978) dramatisch umgesetzt.

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Herzen verliert Peter zwar Angst, Unruhe und Traurigkeit, die ihn plagten, aber auch alle positiven Empfindungen. Mit dem kalten Herzen aus Stein erkaltet sein Gefühl, er wird hartherzig und herzlos gegen andere. Es ist der Logik des Märchens geschuldet, dass er noch spürt, früher glücklicher gewesen zu sein, und nach Lisbeths Tod nachdenklich wird. Im Traum hört er deren Aufforderung, sich ein wärmeres Herz zu schaffen. Den letzten Ausschlag gibt ein Gespräch Peters mit dem dicken reichen Ezechiel, der auch ein steinernes Herz hat. Sie sprechen über die letzten Dinge. Ezechiels kaltes Herz fürchtet Tod und Jenseits nicht, doch weiß Ezechiel, dass das Wägen des Herzens den Ausschlag gibt, ob einer in den Himmel oder in die Hölle kommt. Und da ein steinernes Herz ein gutes Gewicht auf die Waage bringt, ist klar, wohin der Weg seines Besitzers führt. Peters lebendiges Herz ist sich seiner Schuld bewusst, so dass er umkehren und bereuen kann. Das Glasmännlein stellt fest: „Peter! Du warst ein großer Sünder! […] Das Geld und der Müßiggang haben Dich verderbt, bis Dein Herz zu Stein wurde, nicht Freud, nicht Leid, keine Reue, kein Mitleid mehr kannte. Aber Reue versöhnt […]“.54 Hauff lässt Peter selbst im Schlusssatz des Märchens die Lehre aussprechen: „Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit Wenigem, als Gold und Güter haben, und ein kaltes Herz“ (549). Die literarische Form des Kunstmärchens erlaubt es, die Metapher vom Austausch des lebendig schlagenden Herzens gegen ein Steinherz und umgekehrt als konkretes Geschehen zu gestalten. Das so zerbrechlich scheinende Glasmännlein ist dem riesenhaften Kraftprotz Holländer-Michel überlegen; die beiden Waldgeister verkörpern den Gegensatz zwischen dem Göttlichen und dem Teuflischen. Das Glasmännlein verhilft dem vom rechten Weg abgekommenen Protagonisten zur Umkehr, die er aber selbst wünschen muss. Im Märchen ist es möglich, dass er noch mit dem Steinherzen in der Brust einen inneren Wandel zu vollziehen begehren kann. Es ist gut denkbar, dass der studierte Theologe Hauff in seinem Märchen nicht nur das Bild aus Ez 36,26 (11,19) aufgenommen hat, wo Gott seinem Volk ein neues Herz verleiht, sondern auch Ez 18,31−32 mit berücksichtigte, wo es heißt: „Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. […] Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.“

54 Wilhelm Hauff, „Das kalte Herz,“ in Die Märchen, hg. v. Gustav Schwab und Fritz Eycken (Berlin: Haffmans & Tolkemitt, 2011), 547.

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4 Das wieder belebte Totenfeld Die Vision Ezechiels in 37,1−10, in der er auf eine Ebene entrückt wird, die mit zerstreuten Skelett-Teilen übersät ist, welche durch die dem Propheten von Gott aufgetragenen Worte wieder zu Körpern werden, denen in einem zweiten Schritt Lebensgeist eingehaucht wird, gehört zu den eindrücklichsten und wirkmächtigsten Passagen des Buches. Ursprünglich als bildhafte Prophezeiung der Restitution des Gottesvolkes gemeint, wurde der Text alsbald als Weissagung einer eschatologischen Auferstehung der Toten gelesen.55

4.1 Wilfred Owen, The End Eines der seltenen Beispiele für eine literarische Verarbeitung der Passage bildet Wilfred Owens (1893−1918) Sonett The End. Owen, der sich freiwillig 1915 zum Dienst in der britischen Armee meldete, wurde im Einsatz 1917 verwundet und fiel eine Woche vor dem Waffenstillstand am 4. November 1918 an der Spitze seiner Kompanie am Sambre-Oise Kanal. Er gilt als der wichtigste englische Kriegslyriker des Ersten Weltkriegs. The End After the blast of lightning from the east, The flourish of loud clouds, the Chariot Throne; After the drums of time have rolled and ceased, And by the bronze west long retreat is blown, Shall life renew these bodies? Of a truth All death will he annul, all tears assuage? – Or fill these void veins full again with youth, And wash, with an immortal water, Age?

55 So bereits in den als „Pseudo-Ezechiel“ bezeichneten Qumran-Fragmenten; vgl. Devorah Dimant (Hg.), Qumran Cave 4 XXI Parabiblical Texts, Part 4: Pseudo-Prophetic Texts, DJD 30 (Oxford: Clarendon Press 2001) sowie Devorah Dimant, „The Apocalyptic Interpretation of Ezekiel at Qumran,“ in Messiah and Christos. Studies in the Jewish Origins of Christianity Presented to David Flusser, hg. v. Ithamar Gruenwald (Tübingen: Mohr Siebeck, 1992), 31−51; vgl. auch Karin Schöpflin, „The Revivification of the Dry Bones: Ezekiel 37:1–14,“ in The Human Body in Death and Resurrection, hg. v. Tobias Nicklas, Friedrich.V. Reiterer und Joseph Verheyden (Berlin: de Gruyter, 2009), 80−83.

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When I do ask white Age he saith not so: „My head hangs heavy weighed with snow.“ And when I hearken to the Earth, she saith: „My fiery heart shrinks, aching. It is death. Mine ancient scars shall not be glorified, Nor my titanic tears, the seas, be dried.“56

Der erste Vierzeiler des Sonetts beschreibt eine Situation und beschwört dabei auch in dem Blitzgewitter von Osten57 (1) die Lichterscheinung des göttlichen Thronwagens aus Ez 1 herauf, der explizit genannt wird („Chariot Throne“, 2). Kriegerische Laute („drums“ „rolled“, das Verb „blown“ suggeriert ein Blasinstrument [vgl. Ez 1,24], das hier zum Rückzug bläst) begleiten ihn. Die Beschreibung ist aber von Anfang an durchsichtig auf die Situation des Schlachtfeldes, die Ezechiels Vision durch die Stichworte „Heer“ (37,1) und „Getötete“ (37,9) nahelegt. In poetischer Gestalt schildert Owen in diesen Versen die optischen und akustischen Wirkungen von Geschützfeuer, Granateneinschlägen, Feuerattacken aus Flugzeugen, die aus dem Osten von deutscher Seite gekommen sind. Im Westen wird zum Rückzug geblasen. Als Ergebnis des Kampfes wird stillschweigend das Zurückbleiben Gefallener vorausgesetzt, deren leblose Körper („renew these bodies“, 5) im folgenden Abschnitt genannt werden. Dieser zweite Vierzeiler besteht aus drei Fragen. Deren erste zitiert Gottes Frage an den Propheten (Ez 37,3).58 Die zweite Frage gibt Jes 25,8 frei wieder und fragt nach der Vernichtung des Todes und der Linderung des Leids. Das Subjekt „he“ meint selbstverständlich Gott, der auch in der dritten Frage Subjekt bleibt. Diese fragt danach, ob die Körper jugendlich wiedererstehen und nicht altern, also die Perspektive der Unsterblichkeit erhalten. Mit dem letzten Wort führt Owen das Alter als personifizierte Größe ein, die im ersten Verspaar des Sechszeilers dem lyrischen Ich, das nur hier auftritt, eine erste Antwort gibt. Das Alter ist durch die Farbe Weiß charakterisiert. Es verneint die Aussicht, wieder jung zu werden, indem es auf seine schneeweißen Haare verweist, die sein Haupt so beschweren, dass es tief gebeugt ist.59 Die personifizierte Erde steuert eine weitere Antwort bei: Ihr schweres Herzleiden führt unweigerlich zum Tod. Für ihre alten Narben, die von früheren Verletzungen herrühren, erhält sie keine rühmlichen Auszeich-

56 Wilfred Owen, The Collected Poems, hg. v. C. Day Lewis, New York 1965, 89. 57 Zur Himmelsrichtung vgl. Ez 11,23 und 43,2, wo der Thronwagen nach Osten Jerusalem verlässt bzw. von Osten in den neuen Tempel einzieht. 58 In einer ersten Fassung des Gedichts lautete die Frage „Shall God renew these righteous?,“ Owen, Collected Poems, 89. 59 Der dreimalige Anlaut „h“ sorgt lautmalerisch dafür, die Anstrengung zu unterstreichen.

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nungen – anders als Soldaten, die mit Orden für ihre im Kampf erlittenen Versehrungen ausgezeichnet werden –, und ihre Tränen, die als riesig und zugleich seit Urzeiten existierend („titanic“) bezeichnet werden, werden nicht getrocknet. Das ist auch insofern unmöglich, als es sich bei diesen Tränen bildhaft um die Meere handelt. Die beiden Personifikationen verneinen somit die Doppelfrage, die im zweiten Vierzeiler in Anlehnung an Jes 25,8 formuliert wurde. Damit ist auch die biblische Heilsperspektive, das Ende von Tod und Leid, verneint sowie das rettende Eingreifen Gottes angesichts der Schrecken des Ersten Weltkrieges. Aus dem Ezechielbuch hat Owen im ersten Vierzeiler den Thronwagen rezipiert, der hier als Erscheinung zum Gericht gedeutet ist, welches sich im Feuer und Donnern der Geschütze vollzieht. Zu Beginn des zweiten Vierzeilers nimmt Owen die Frage nach einer Wiederbelebung der Gefallenen aus Ez 37 auf, die er ebenso wie die Heilsperspektive aus der Jesaja-Apokalypse verneint. Benjamin Britten (1913−1976) nahm in sein „War Requiem“ Op. 66, uraufgeführt am 30. Mai 1962 bei der Weihe der neu errichteten Kathedrale von Coventry, zusätzlich zum traditionellen lateinischen Text der Totenmesse mehrere Gedichte Wilfred Owens auf. The End positionierte er im Sanctus, wo es als Bariton-Solo zu Kammerorchesterbegleitung erklingt.

4.2 Ez 37 in der Malerei In der Malerei gibt es zwar ein paar bekannte Umsetzungen der Thronwagenvision aus Ez 1,60 doch ist dieser Gegenstand weitaus seltener anzutreffen als die Vision von der Wiederbelebung der Totengebeine, die sich nach der Deutung in Ez 37,12 aus ihren Gräbern erheben. Einige wenige repräsentative Hinweise mögen hier genügen. – Francisco Collantes (1599−1656), Die Vision von der Auferstehung der Gebeine (1630),61 Museo del Prado, Madrid. Illustriert wird der Prozess der Wiederherstellung der Leiber, der bei den meisten Körpern bereits abgeschlossen ist. Rechts vorn entsteigt eine erweckte Person ihrem Steinsarkophag, was an die Deutung der Vision Ez 37,11 gemahnt. Den Propheten Ezechiel sieht man von vorn mittig

60 Vgl. Raffaels La visione d’Ezechiele  – https://www.artbible.info/art/large/182.html  –, wo die vier Thron tragenden Wesen vor dem Hintergrund von Apk 4,7 im Sinne der traditionellen Auslegung als Evangelistensymbole dargestellt sind. Vgl. aber auch William Blakes Bild, The Whirlwind: Ezekiel’s Vision of the Cherubim and Eyed Wheels (1803−1805) – https://www.mfa.org/ collections/object/the-whirlwind-ezekiels-vision-of-the-cherubim-and-eyed-wheels-illustrationto-the-old-testament-ezekiel-i-4%E2%80%9328-5039, [9. 5. 2018] das in Boston hängt. 61 Aufrufbar unter https://www.artbible.info/art/work/francisco-collantes [9. 5. 2018].

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auf einer höher gelegenen Abbruchkante stehend. Er trägt ein dunkelblaues Gewand mit einem Strick als Gürtel und ist barfuß; über dem linken Arm liegt ein brauner Überwurf, was an den Prophetenmantel Elias erinnert. Mit der rechten Handfläche deutet er nach oben in die Hälfte des Himmels, die heller beleuchtet ist, da die Wolkendecke, die rechts bis ins Schwarze verdunkelt ist, aufgerissen ist. Hier ist blauer Himmel erkennbar, die Wolken sind in gelbes Licht getaucht. Insbesondere die Körper im Vordergrund scheinen dieses Licht zu reflektieren, zu dem sie staunend aufblicken. Die zahlreichen, klassisch-antik anmutenden Ruinen, insbesondere die beschädigten oder umgestürzten Säulen, versinnbildlichen Verfall und Vergänglichkeit. Farblich herrschen Braun- und Gelbtöne vor. Der Prozess der Wiederherstellung und Wiederbelebung ist auf dem Gemälde schon relativ weit fortgeschritten. – Luca Signorelli (1440/50−1523) Die Auferstehung der Toten zum Jüngsten Gericht (um 1500),62 Dom von Orvieto, Cappella di San Brizio, nutzt die Vision, um den Anbruch des Jüngsten Gerichts darzustellen. In der oberen Bildhälfte blasen zwei Engel Posaune; durch den Schall werden die Toten auferweckt.63 In der unteren Bildhälfte sind bereits Auferstandene neben Personen zu sehen, die noch im Auferstehen begriffen sind: Am rechten Rand steht ein Gruppe von Gerippen, davor liegt eines noch am Boden, fast in der Mitte ist am vorderen Rand ein Skelett noch dabei, aus der Erde hervorzukommen, was andeutet, dass sie bestattet waren. Darüber hinaus sieht man ein paar verstreute Totenschädel. Auch einige bereits vollständig Wiederhergestellte und Beseelte sind noch damit beschäftigt, sich aus dem Boden herauszuarbeiten. Signorelli bietet also nur Skelette und komplette Körper, nicht den für die Ezechielvision typischen Übergangszustand. Außerdem entsteigen einige ihrem Grab als Skelett, andere als vollständige Personen. Die Szene mutet überdies leicht surrealistisch an, da die Erweckten einer weißen, nicht näher bestimmten Fläche entsteigen, nicht etwa Gräbern in der Erde. Das Gemälde ist ein Beispiel dafür, wie Ezechiels Vision auch in Darstellungen der Auferweckung bzw. Auferstehung der Toten zum Jüngsten Gericht Eingang gefunden hat; dies zeigt einmal mehr die eschatologisch-apo-

62 Aufrufbar unter https://www.google.com/search?client=firefox-b-ab&biw=1272&bih=844&tb m=isch&sa=1&ei=XXJEW5y6Hs_fwALF-oa4DQ&q=luca+signorelli+resurrezione+della+carne&o q=luca+signorelli+resurrezione&gs_l=img.1.0.0i19k1.97165.110086.0.113302.55.23.0.16.16.0.79.108 8.23.23.0....0...1c.1.64.img..24.30.807...0j0i67k1j0i10k1j0i30k1j0i30i19k1.0.1SzdKlWbwkM#imgrc=f M2G_062pegQbM: [9. 5. 2018]. 63 Für die Verbindung von Posaunenschall und Auferstehung vgl. IThess  4,16; IKor  15,52. In Apk 8,2 erhalten sieben Engel Posaunen, um damit Gerichtsereignisse einzuleiten. Vgl. aber auch Zef 1,16.

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kalyptische Deutung der Ezechiel-Passage. Die Wiedererweckten sind wie bei Collantes individualisiert. – John Roddam Spencer Stanhope (1829−1908), Die Vision des Ezechiel,64 The De Morgan Centre, London. Stanhope wird als Prä-Raphaelit eingeordnet. Er fängt den Moment ein, als Ezechiel zum prophetischen Sprechen über die Gebeine ansetzt – der Mund ist noch geschlossen, die Hand bereits gehoben. Das Totenfeld befindet sich zwischen schroff aufragenden, kahlen Felsen in einer engen Schlucht (eine Assoziation an Ps 23,4?), die sich im Hintergrund verliert; die Skelettteile liegen darin verstreut; im Vordergrund sprießt leichtes Grün – wohl als Vorbote des neuen Lebens. Im Zentrum des Interesses steht die Gestalt Ezechiels, der schon farblich hervorsticht. Sein blaues (Himmel) Untergewand, sein purpurfarbener Mantelumhang, weißes (als Sinnbild von Reinheit, göttlichem Licht, Weisheit) Haar und Bart heben sich im Kontrast vom bräunlich gelblich weißlichen, nur gegen den Hintergrund leicht bläulichen übrigen Bild ab. Ezechiels Körperhaltung wirkt dynamisch angespannt; von seinem gerade erreichten, erhabenen Standpunkt beugt er sich zum Totenfeld. Mit der Rechten umfasst er seinen Bart auf Kinnhöhe, die Linke ist beschwörend über das Totenfeld gehoben. In der oberen rechten Ecke eine Wolke, die Gottes Anwesenheit andeuten mag. – Benno Elkan schuf 1956 die Menora, die seit 1966 vor der Knesset in Jerusalem steht. Die Vision Ezechiels von der Wiederbelebung der Toten ist auf dem mittleren Arm dargestellt.65 Die Gestalt des bartlosen, bis auf einen lose von den Schultern fallenden Umhang nackten Propheten steht im Mittelpunkt. Er schreitet aus; mit den ausgebreiteten, das Bildformat sprengenden Armen scheint er die am Boden Liegenden wie schützend umfassen zu wollen. Der jugendlich wirkende Ezechiel erscheint außerordentlich dynamisch. Aus den Wolken links über ihm blasen die vier Winde, die die Gestalten am Boden noch nicht erreicht zu haben scheinen. Zu Füßen des Propheten befinden sich vollständige Skelette, deren Köpfe und Arme vor allem in Wiederherstellung begriffen sind. An diesem Aufstellungsort besitzt die Darstellung symbolische Kraft, insbesondere wenn man die in Ez 37,11−14 folgende Deutung auf die Rückkehr der Israeliten aus dem Exil in das verheißene Land berücksichtigt.

64 https://www.google.com/search?q=John+roddam+Stanhope,+vision&client=firefox-b-ab&t bm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjg0ZW0kpTcAhUIaVAKHQoBAwEQ7AkIO Q&biw=1272&bih=844#imgrc=8RnLMOFBvHJmGM: [9. 5. 2018]. 65 https://www.google.com/search?q=menora+knesset+ezekiel&client=firefox-b-ab&tbm=isch &tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjx5bi6woLcAhWQJ1AKHfYmDVsQsAQIcA&biw=128 0&bih=884#imgrc=iaVG72H-os8NeM: [9. 5. 2018].

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5 Tempelquelle bzw. Quelle des Lebens Ein Letztes sei noch angerissen. Gegen Ende der Schlussvision vom neuen Tempel (Ez 40−48) beschreibt Ezechiel die Quelle, die im Tempel selbst entspringt und sich nach Osten abfließend zu einem immer tiefer werdenden Strom entwickelt, dessen Wasser das Tote Meer zu einem lebendigen Gewässer macht; seine heilvolle Qualität zeigt sich auch an den immergrünen, ganzjährig Frucht tragenden Bäumen (deren Blätter überdies Heilkraft besitzen) an seinen Ufern und am Fischreichtum (Ez 47,1−12). Man kann in der Architektur der Kirche St. Michael der Communität Casteller Ring auf dem Schwanberg diese Quelle widergespiegelt finden. Die von Alexander Freiherr von Branca entworfene Kirche wurde am 24. 5. 1987 geweiht. Im Vorraum der Kirche befindet sich auf der Achse des Altars eine halbrunde Nische, die eine runde Brunneneinfassung zur Hälfte begrenzt. Das Wasser sprudelt in einer kleinen Fontäne und erzeugt dadurch auch ein plätscherndes Geräusch. In der Nische hängt eine Ikone des Namenspatrons, des Erzengels Michael. Unterhalb der Ikone tritt das Wasser nach außen aus und sprudelt in ein schmales längliches Becken, das von außen betrachtet einer halbrunden turmartigen Konstruktion vorgelagert ist, aus deren mittig unten gelegener Öffnung das Wasser quillt. Von dem Becken aus wird das Wasser in drei Stufen weitergeleitet: Dabei nehmen die Fallhöhe sowie die Größe des jeweils folgenden Beckens zu. Rechts und links von der Brunnenkonstruktion befinden sich Stufen, die zur Kirche hinaufführen. Dies ahmt – wenn auch in verkleinertem Maßstab – die Quelle in Ez 47 nach, die sich zu einem breiter und tiefer werdenden Strom entwickelt. Im Übrigen ruht die schlichte Altarplatte in der Kirche auf bronzenen Trägergestalten, nämlich Engeln, die Arme und Flügel nach oben ausgestreckt halten. Es handelt sich – je nach Sichtweise – um vier oder acht Engel, je nachdem ob man hier acht Einzelfiguren erkennt oder aus räumlicher Sicht die Eckstellung betont sieht und dann auf vier Trägergestalten schließt. Wie auch immer – die Konstruktion gemahnt an die Thronkonstruktion in Ez 1.

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Literaturverzeichnis The Holy Bible containing the Old and New Testaments. New Revised Standard Version. Nashville: Thomas Nelson Publishers, 1990. Blake, William. The Complete Poems, hg. v. W.H. Stevenson, Longman Annotated English Poets, Second Edition. London and New York: Longman, 1989. —. Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Thomas Eichhorn; mit einem Nachwort von Susanne Schmid. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, Neuausgabe 2007. Dimant, Devorah, Hg. Qumran Cave 4 XXI Parabiblical Texts, Part 4 Pseudo-Prophetic Texts (DJD 30), Oxford: Clarendon Press 2001. —. „The Apocalyptic Interpretation of Ezekiel at Qumran“. In Messiah and Christos. Studies in the Jewish Origins of Christianity Presented to David Flusser, hg. v. Ithamar Gruenwald, 31−51. Tübingen: Mohr Siebeck 1992. Hamburger, Käte. Thomas Manns biblisches Werk. Der Joseph-Roman und die Moses-Erzählung „Das Gesetz“. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984. Hauff, Wilhelm. „Das kalte Herz.“ In Die Märchen, hg. v. Gustav Schwab und Fritz Eycken, 376−414. 522−563. Berlin: Haffmans & Tolkemitt, 2011. Hoffmann, E.T.A. „Das steinerne Herz.“ In Sämtliche poetischen Werke Bd. 1, hg. v. Hannsludwig Geiger, 580−601. Wiesbaden: Emil Vollmer o.  J. Kurzke, Hermann. Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003. Mann, Thomas. Joseph und seine Brüder Bd. I. Die Geschichten Jaakobs. Der junge Joseph. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988. —. Joseph und seine Brüder Bd. III. Joseph, der Ernährer. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988. Owen, Wilfred. „The End“. In The Collected Poems of Wilfred Owen, hg. v. C. Day Lewis, 89. New York: New Directions Publishing Corporation, 1965. Puschkin, Alexander. „Der Prophet“. In Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten, ausgewählt und eingeleitet von Efim Etkind, 55. München und Zürich: Piper, 1981. Rowland, Christopher. „William Blake and Ezekiel’s Merkabah“. In After Ezekiel. Essays on the Reception of a Difficult Prophet, hg. v. Andrew Mein und Paul M. Joyce, Library of Hebrew Bible/ Old Testament Studies 535: 229–245. New York: T&T, 2011. Schäfer, Peter und Klaus Herrmann. Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. 1 §§ 1−80. Texte und Studien zum Antiken Judentum 46. Tübingen: Mohr Siebeck, 1995. Schäfer, Peter. Die Ursprünge der jüdischen Mystik. Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011. Schmid, Susanne. „Nachwort.“ In William Blake, Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Thomas Eichhorn; mit einem Nachwort von Susanne Schmid, 473−490. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996, Neuausgabe 2007. Schöpflin, Karin. „The Revivification of the Dry Bones. Ezekiel 37:1−14“. In: The Human Body in Death and Resurrection, hg. v. Tobias Nicklas, Friedrich V. Reiterer und Joseph Verheyden, 67−85. Berlin: de Gruyter 2009. —. „Weisheit – eine Herzensangelegenheit. Die Bedeutung des Herzens für Salomo, Ezechiel, Ben Sira und Wilhelm Hauff“. In: Weisheit als Lebensgrundlage. Festschrift für Friedrich V.

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Reiterer zum 65. Geburtstag, hg. v. Renate Egger-Wenzel, Karin Schöpflin und Johannes F. Diehl, 297−320. de Gruyter: Berlin 2013. Tannenbaum, Leslie. Biblical Tradition in Blake’s Early Prophecies: The Great Code of Art. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1982. Tarantino, Quentin. Pulp Fiction. Collector’s Edition. Werfel, Franz. Jeremias. Höret die Stimme. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1981. Blake, William, The Whirlwind. Ezekiel’s Vision of the Cherubim and Eyed Wheels: https://www.mfa.org/collections/object/the-whirlwind-ezekiels-vision-of-the-cherubimand-eyed-wheels-illustration-to-the-old-testament-ezekiel-i-4%E2%80%9328-5039 [9. 5. 2018]. Collantes, Francisco, Die Vision von der Auferstehung der Gebeine: https://www.artbible.info/art/work/francisco-collantes [9. 5. 2018]. Elkan, Benno, Menora: https://www.google.com/search?q=menora+knesset+ezekiel&client=firefox-b-ab&tbm=i sch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjx5bi6woLcAhWQJ1AKHfYmDVsQsAQIcA&b iw=1280&bih=884#imgrc=iaVG72H-os8NeM [9. 5. 2018]. Raffael, La visione d’Ezechiele: https://www.artbible.info/art/large/182.html Signorelli, Luca, Die Auferstehung der Toten zum Jüngsten Gericht: https://www.google.com/ search?client=firefox-b-ab&biw=1272&bih=844&tbm=isch&sa=1&ei=XXJEW5y6Hs_ fwALF-oa4DQ&q=luca+signorelli+resurrezione+della+carne&oq=luca+signorelli+resurrez ione&gs_l=img.1.0.0i19k1.97165.110086.0.113302.55.23.0.16.16.0.79.1088.23.23.0....0.. .1c.1.64.img..24.30.807...0j0i67k1j0i10k1j0i30k1j0i30i19k1.0.1SzdKlWbwkM#imgrc=fM2 G_062pegQbM [9. 5. 2018]. Stanhope, John Roddam Spencer, Die Vision des Ezechiel: https://www.google.com/search?q=John+roddam+Stanhope,+vision&client=firefox-bab&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjg0ZW0kpTcAhUIaVAKHQoBAwE Q7AkIOQ&biw=1272&bih=844#imgrc=8RnLMOFBvHJmGM [9. 5. 2018].

Verzeichnis der am Band beteiligten Autorinnen und Autoren Bührer, Walter, Dr. theol., ist Juniorprofessor für Religion und Literatur des Alten Testaments am Fachbereich Evangelische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Fabry, Heinz-Josef, Dr. theol., ist Professor em. am Alttestamentlichen Seminar der KatholischTheologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Gertz, Jan Christian, Dr. theol., ist Professor für Alttestamentliche Theologie an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Karrer, Martin, Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Klein, Anja, Dr. theol., ist Senior Lecturer in Hebrew Bible/Old Testament an der School of Divinity, University of Edinburgh. Koch, Christoph, Dr. theol., ist Privatdozent für Alttestamentliche Theologie an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Körting, Corinna, Dr. theol. Dr. h.c., ist Professorin für Altes Testament und altorientalische Religionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Hamburg. Konkel, Michael, Dr. theol., ist Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät Paderborn. Nihan, Christophe, Dr. theol., ist Professor für Altes Testament und Geschichte Israels an der Université de Lausanne. Saur, Markus, Dr. theol., ist Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Sedlmeier, Franz, Dr. theol., ist Professor für Alttestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultüt der Universität Augsburg Schöpflin, Karin, Dr. phil., ist apl. Professorin für Biblische Theologie und ihre Didaktik an der Georg-August-Universität Göttingen. Strine, Casey A., Dr. phil., ist Lecturer in Ancient Near Eastern History and Literature an der University of Sheffield. Witte, Markus, Dr. theol., ist Professor für Exegese und Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin. https://doi.org/10.1515/9783110624250-012

Stellenregister Stellenregister Altes Testament Genesis 1,1–2,3 182, 184–187, 201, 243 6 187–189, 201 9,1–6 243 37 304, 310 Exodus 6,2–8 131, 135, 175, 191–200, 201 Levitikus 16 16,13 17–26 26

100, 110    f. 100, 111 179, 181    f., 201 125, 135, 141    f.

Numeri 14 245    f. Jesaja 6,1–4 207 20 302 40,12–31 210 Ezechiel 1 184–187, 189    f., 201, 207, 272, 282    f., 285    f., 288, 290, 297, 304–307, 314, 321    f., 325 1,1 90, 190, 241, 290 1,3 24, 177, 238 1,4–28 184, 190, 210–218, 220, 227, 229 3,12–21 241    f. 3,12 182, 306, 307 3,22 160, 242 3,24 198, 242 4,4    f.12 302 7 63    f., 182, 187–191 7,1–12a 63–86 7,6aβ.7–9 63, 75, 78, 85 7,7 67    f., 71–75 7,10 66, 70–77

8–11 89, 93, 105, 115, 118–120, 190, 207, 208–210, 219–226, 227    f., 249 8 89–121, 187–191 8,1–3 82, 90–94, 118    f. 8,4 91, 94    f., 222 8,5    f. 91, 95–97, 106–109, 112, 117, 118 8,7–13 89, 91, 97–100, 106, 110–112, 117 8,14    f. 89, 91, 101, 106, 112–114, 117, 118, 120 8,16    f. 89, 91, 101–104, 106, 114–116, 117    f., 120 8,18 90    f., 104 9,4 19–21. 11 247    f. 11,16 191, 209, 218, 227, 250 11,22–25 118    f., 229 14,1–11 129    f., 142 16,59–63 125, 140–142, 147    f. 17 152, 156, 166, 168    f., 171 17,3    f. 308 18 130, 132, 136–139, 142, 144, 171, 234, 243–246, 275 19 152, 156, 166, 168, 169, 171 20 125–148, 152, 175, 191–201, 239, 244, 246    f. 20,1 126–128, 135 20,2–4 129    f. 20,5–29 129–134 20,30    f. 129    f., 134    f. 20,32–39 135–137 20,39–44 125, 137–148, 196 24 128, 152 25,8 19, 21 28 243 28,11–19 167, 170 28,14 306 29–31 153 29 151, 154, 158–164, 169–172 31 151–154, 156    f., 164–172, 173 31,3.6 308 34,8 49–51, 284 34,15 53    f., 57, 60 34,16 54    f., 298 34,18 58    f., 279

332 

 Stellenregister 

34,22 51–53 34,23 57, 280    f., 288 34,30 55    f., 278 36 3, 48, 182    f., 196  f., 199, 244, 247, 315 36,16–38 48, 125, 143–145 36,23bβ-38 3, 16–18, 28, 44–46, 143, 247    f. 36,26 234, 246    f., 297, 315, 319 37 18, 28, 37, 43–45, 48, 60, 160, 181, 202, 229, 256, 266–268, 286, 280, 288    f., 297, 322–324 37,1–10 320–322 37,23 19–22, 99 37,27    f. 209, 227 40–48 18, 25–27, 36, 43    f., 48, 119–121, 146–148, 181, 190, 207, 208–210, 221    f., 227–229, 256, 267, 286, 288, 325 40–43 119–121 43,1–9 115, 119, 190, 219–228 43,27 125, 133, 145–148 44,15 19, 22    f. 47,1–12 297, 325 48,35 208    f., 227

Schriftrollen vom Toten Meer

Amos 8,2

Markusevangelium 6,34 264 8,18 255, 263, 290

63, 77    f., 85    f., 188

Habakuk 2,3 81    f. 3 223 Psalmen 48,2    f.

207, 211, 225

Daniel 8 63    f., 79–85 8,9 65, 83, 84 8,17 79–82 8,19 79–82

1QEz (1Q9) 2, 5    f. 1/2/4/5/11QNJ 26 3QEz (3Q1) 2, 6 4QEza (4Q73) 5, 6–8, 16, 17, 19, 37 4QEzb (4Q74) 9    f., 287 4QEzc (4Q75) 10 4QpsEza (4Q385 1–4.6) 27    f., 31, 33, 36, 267 4QpsEzb (4Q386) 27–32, 37, 267 4QpsEzc (4Q385b) 27, 29, 32, 35 4QpsEzd (4Q388) 27, 29, 31 4QpsEz unid. (4Q385c) 29, 32 4QpappsEze (4Q391) 27–30, 32 4QMidrEschata 3,16 19    f., 22    f., 26 4QMidrEschatb 9,13    f. 19, 21 4QShirShabb 24, 26 11QEz (11Q4) 2, 11–14, 16, 19, 37 MasEz (1043–2220-Mas1d) 14–18 CD 3,21–4,4 19    f., 22    f. CD 19,11    f. 19–21.

Neues Testament Matthäusevangelium 27,52    f.

Johannesevangelium 10,1–18 Römerbrief 14,11

266, 268, 290

255, 279–280, 291

255, 272    f., 276

2. Korintherbrief 6,16 6,17

255, 273, 275, 290 255, 273, 290

Hebräerbrief 11,37

256, 260, 269, 291

Stellenregister 

Judasbrief 12

256, 284    f., 290

Johannesapokalypse 4,7 11,11 21,7

282    f., 322 255, 287    f., 290 255, 287

 333

Frühchristliches Schrifttum 1. Clemensbrief 7,5 262, 277 17,1 255, 257–259, 271, 290 30,1 259

Sachregister Sachregister Abscheu/Ekel/Scham 137, 140–143, 145, 147, 148 Ägypten 29, 32, 34    f., 110, 117, 120, 129–131, 133, 136    f., 139, 146, 151–173, 193    f., 198    f., 246, 311, 313 Altar 25, 96    f., 106    f., 109, 117, 146–148, 325 Amos/Amosbuch 63    f., 77  f., 79, 81, 85, 305 Antiochenischer Text 274  f., 290 Antiochus IV. Epiphanes 29, 34  f., 37, 63, 79, 81–83, 85  f. Anthropologie 140, 233–251 Aschera 108  f., 113 Assur 156, 157, 163  f., 166, 168–172, 213 Auferstehung/Auferweckung 3  f., 28, 33  f., 36–38, 267  f., 286, 288–290, 297, 320, 322  f. Botenformel 53  f., 191 Buchgestalt 177, 181, 187, 189, 191, 193, 197, 201  f. Bund 21, 51, 55f., 130, 136, 140  f., 145, 186, 191  f., 202, 248 Chaos/Chaosungeheuer 155  f., 158, 160–163, 169  f., 222 Daniel/Danielbuch 43, 64, 79–83, 85  f., 182 Datierung 126–128, 134  f., 154–157, 159, 161, 165 Diaspora/Zerstreuung 34, 127–129, 131  f., 134, 136  f., 143  f., 146  f., 152–154, 157  f., 160–163, 171, 175, 194–197, 199–202, 209, 227, 249, 255, 258–260, 262  f., 266, 269, 272, 274, 276, 281, 290  f. Dichter 299–303 Eifersuchtsbild 91, 94, 96  f., 105–109 Elephantine 154, 157  f., 208 Ende 63–86, 128, 155, 168, 187  f., 320–322 Erkenntnisformel 28, 53  f., 68, 70–72, 75–77, 160, 162, 191 Erstgeburt 133, 145, 313 Ethik 171, 234, 236, 243 Exil, babylonisches 91, 128, 132, 134–136, 178, 189, 199, 234, 241, 244, 246  f., 265, 270, 324 Exodus, neuer 125, 135–138, 143  f., 195, 244, 248, 251 Ezechielapokryphen 261  f., 277

Ezechielschule 152 Fortschreibung 52, 60, 74  f., 78, 80, 85, 105, 121, 135, 151  f., 156, 159  f., 162  f., 172, 201, 221, 259, 261, 270 Gedenken 139–142, 145, 147 Geschichtsrückblick 83, 125, 130–134, 138  f., 143  f., 193–196 Gesetze, nicht gute 126, 132  f. Gnade 125, 140, 145–148, 199, 235 Gog-Magog 3, 18, 34  f., 157, 286, 288  f. Gojim 258 Gola 118, 127–129, 134, 152, 161, 163, 171, 175, 189–191, 196  f., 201  f., 207, 209  f., 227–229 Gottesspruchformel 53, 54, 66  f., 70, 76, 134 Herrlichkeit 82, 147, 184–186, 189, 190, 211  f., 216  f., 219–223, 225, 227, 278, 306, 308, 310 Herz 129, 132, 144, 234, 244, 246–248, 297, 315–319, 321 Henoch 25, 305–309, 314 Hirte 50–52, 57, 82, 256, 263–265, 271, 279–281, 284  f., 290  f. Horizont 210, 224 imago Dei/Gottebenbildlichkeit 185, 233, 236  f., 243, 244, 249, 251, 307 JHWH-Befragung 127, 129  f., 134–136, 193 Jerusalem 24–27, 29, 35, 82  f., 85, 89–91, 93, 96, 100, 104, 106, 115  f. 119  f., 126–128, 140, 153, 155, 161, 163, 166, 207  f., 221, 224  f., 227  f., 234, 240, 249, 250, 263, 266–269, 278, 286, 321, 324 kabôd 89, 91, 94  f., 115, 118–120, 146, 212, 217, 221–225, 228 Kambyses II. 154, 163, 170 Kosmologie/Kosmogonie 185–187, 189, 190, 201, 207, 213 lectio brevior 13, 19, 50, 53, 55, 59  f., 66, 71, 96  f., 121 Masada-Fragmente 1, 2, 4, 14–17, 19, 34, 37, 45 Merkava, siehe Thronwagen/Thron­wagen-Vision Metatron 307–309 Mundwaschungsritual/mīs pî 240–242

Sachregister 

Namburbi-Ritual 111  f., 116 Nebukadnezzar II. 35, 153, 155, 157, 159–161, 164, 170 Papyrus 967 1–4, 16–19, 38, 43–60, 143, 257, 265, 273–275, 279  f., 287, 289 Priesterschrift 34, 126  f., 135, 175–202, 208, 220, 243 Prophet 29, 34, 38, 74, 78–82, 90–97, 228, 234, 237, 239–245, 249, 251, 255  f., 270  f., 276, 279  f., 289, 299, 301, 303 Redaktionsgeschichte/-kritik 1, 17, 47–49, 54  f., 59  f., 63–86, 90  f., 97, 152, 171, 175–178, 180  f., 183  f., 189  f., 194, 200  f., 207  f., 210, 225, 227  f., 234 Solarisierung 115, 207–209, 212, 218  f. Sonnengott/Šamaš 89, 91, 102–104, 114–118, 190, 207, 212  f., 216–218, 222–225, 227  f., 241  f. Tammuz/Dumuzi 89, 91, 106, 112–118 Tempel 26  f., 30, 35  f., 89–91, 94–96, 98, 106  f., 115–117, 119  f. 146–148, 157, 188–190, 201, 207–210, 214  f., 219–224, 226–229, 241  f., 249– 251, 273, 321, 325 Text-Bezug/Text-Text-Bezug/literarischer Bezug 128, 177–180, 182  f., 187–189, 191, 193, 199–201 Textgeschichte/Textkritik 1–39, 43–60, 63–86, 89, 91, 97, 175  f., 178, 180–183, 188  f., 193, 201, 256  f., 259, 261, 275, 283, 285 Theophanie 146, 147, 221–223, 241, 250 Thron 185  f., 190, 202, 207, 211–220, 225–227, 241, 282–284, 291, 297, 304–308, 314, 320–322, 325 Thronwagen/Thronwagen-Vision 28, 33, 36, 186, 251, 282  f., 288, 320–322 Tod Ezechiels 255, 265  f., 269–271, 291

 335

Tor/Stadttor 91, 94–97, 105–109, 117, 207, 219, 221  f. Totenfeld 320, 324 Traditionsgeschichte 177–180, 184–186, 189–192, 201  f., 210  f., 213, 215, 217, 222, 226, 228 Traum 115, 207, 297, 304  f., 307, 308–311, 313  f., 316, 319 Trauma 233–236, 238, 248  f. Tyros 151, 153, 155  f., 159, 163  f., 167, 173, 236, 243 Umkehr 125, 129, 130, 134, 138, 237, 244–248, 251, 255, 262  f., 271, 277  f., 283, 290  f., 319 Unheil/Unheilsprophetie 65, 67, 71, 73, 83–86, 161, 167, 171, 188–190, 193, 195, 201, 284, 316 Unheilsprophetie 188–190, 201 Vetus Latina 3, 44, 50 Vision 3, 9, 28  f., 31, 33  f., 36  f., 63  f., 77–86, 91–96, 100, 105  f., 112, 119–121, 146, 148, 184, 187, 189  f., 207–213, 217, 219–222, 225, 227–229, 249  f., 266  f., 272, 281, 283, 288, 290  f., 297, 299–301, 303–305, 308, 314, 316, 320–325 Völker/Völkerwelt 18, 21, 34  f., 47–50, 56, 81, 127, 131  f., 136, 138, 144, 151  f., 156  f., 163, 167, 171, 173, 195  f., 239, 247, 255, 258–260, 262, 267–269, 271–278, 281, 283, 290  f., 302  f. Vorhof 25, 91, 96–100, 106, 117, 219–222 Wiederaufnahme 52, 53, 76, 156 Wolke 166, 186  f., 220  f., 228, 284, 323  f. Wortbekräftigungsformel 52 Zaphon 190, 211, 220  f., 224, 225 Ziegenbock 79, 83  f. Zion 190, 225  f., 268

Autorenregister Autorenregister Achenbach, Reinhard 111, 127, 131  f., 200 Barter, Penelope 128, 131, 135 Beale, Gregory K. 256, 285 Berlejung, Angelika 238, 240  f., 243 Blake, William 297, 299–303, 322 Bogaert, Pierre-Maurice 44, 64  f., 70  f., 73–75, 83  f. Brueggemann, Walter 245 Collins, John J. 80  f. Colson, Elizabeth 238  f., 248 Dick, Michael 240–242 Dimant, Devorah 4, 25, 27  f., 30, 35  f., 320 Ehring, Christina 209, 219 Fabry, Heinz-Josef 45, 81, 268 Greenberg, Moshe 50, 65, 66  f., 77, 99, 102, 104, 143, 198, 238, 241  f., 246 Hamburger, Käte 312 Häner, Tobias 90, 137–140, 142, 147  f. Hartenstein, Friedhelm 185, 207, 215, 217, 219–221, 224 Hauff, Wilhelm 297, 318  f. Herrmann, Johannes 19, 159, 167  f. Hieke, Thomas 288 Hoffmann, E.T.A 297, 315–317 Hogeterp, Albrecht L.A. 30, 34  f., 267 Hölscher, Gustav 52, 157, 161, 166–168, 170 Horowitz, Wayne 185, 213–216 Hossfeld, Frank-Lothar 52–54, 94, 104, 118  f., 135, 219, 220 Janowski, Bernd 178, 185, 226 Joyce, Paul M. 44, 78, 118, 233, 235, 238, 244  f., 247, 250, 256 Karrer, Martin 1, 38, 48, 65  f., 276, 283, 287  f. Kessler, Rainer 126  f., 132–134 Klein, Anja 52, 54, 78, 143, 182  f., 190, 196, 197, 201–203 Koch, Christoph 95, 115, 118  f., 184–186, 190  f., 201  f., 210  f., 214, 224, 229 Konkel, Michael 2–4, 18, 47  f., 53, 92, 115, 119  f., 181, 222–225, 234  f., 244, 258 Kowalski, Beate 278, 285 Kratz, Reinhard G. 79  f. 82, 158, 177 Kraus, Wolfgang 2, 48, 65  f.

Kreuzer, Siegfried 2, 3, 272, 275 Krüger, Thomas 44, 143, 160, 176, 194, 196 Kutsko, John 236, 242  f. Lauber, Stephan 102–104 Lange, Armin 5, 11, 19, 24 Lapsley, Jacqueline 234–236, 244, 246  f. Levitt Kohn, Risa 127, 178–181, 183  f., 187 Lilly, Ingrid E. 46  f., 49, 176, 257, 280 Lust, Johan 2  f., 6, 17, 43, 45, 59, 64  f., 70–73, 84, 105, 128, 191–193, 197–199, 202, 246, 281, 289 Mackie, Timothy P. 3, 46, 92  f., 97, 100, 182  f., 187, 189, 193, 195 Malkki, Lisa 238  f., 248 Mann, Thomas 297, 304  f., 308, 310–314, 317 Manning, Gary T. 256, 281 Mein, Andrew 234, 244  f., 247, 256 Moyise, Steve 289 Neuber, Carolin 135 Newsom, Carol 26, 79–82 Nihan, Christophe L. 111, 181, 182  f., 200–202, 209, 229 Owen, Wilfred 297, 320–322 Patmore, Hector M. 18, 37 Pohlmann, Karl-Friedrich 1, 45, 54  f., 65–67, 74, 83, 90  f., 93–97, 100, 104  f., 118, 127  f., 130–132, 152  f., 157, 160, 164–168, 170, 172, 176  f., 189  f., 193, 196  f., 200, 202, 222, 229, 234 Popović, Mladen 6, 16, 28, 30, 38 Poser, Ruth 234, 235, 249 Puschkin, Alexander 298 Rom-Shiloni, Dalit 239, 246 Rösel, Christoph 46  f., 49, 56, 59 Rösel, Martin 259 Rudnig, Thilo A. 119, 127, 147, 181, 191, 197, 202, 222, 226 Sawyer, John   f.A. 264, 277 Schäfer, Peter 304, 305 Schöpflin, Karin 65, 67  f., 78, 177, 234, 318, 320 Schwagmeier, Peter 2, 5, 8, 10  f., 13, 16, 46  f., 176

Autorenregister 

Schwemer, Anna M. 259, 270 Sedlmeier, Franz 50, 109, 126, 130, 137, 140, 153, 157, 160–162, 165–167, 169, 172, 194–196, 209, 223 Smith-Christopher, Daniel 235 Sommer, Michael 267, 288 Stulman, Louis 249 Talmon, Shemarjahu 2, 14, 16, 45, 81 Tooman, William 47, 176, 238, 249 Tov, Emanuel 6, 11, 17, 28, 45, 72 Tuell, Steven Shawn 147  f.

 337

van Rooy, Herculaas (Harry) F. 256, 275, 276, 285 Walker, Christopher 240–242 Yadin, Yigael 25  f., 45 Ziegler, Joseph 44–46, 49, 50  f., 53–55, 57–59, 92, 257, 265, 275, 281, 283 Zimmerli, Walther 14, 45, 48, 50, 54  f., 57, 63, 66  f., 72, 74, 77, 83, 90, 92–94, 96–104, 109, 113, 116, 118  f. 126, 128, 136, 151  f., 154, 156  f., 160, 162, 165–168, 170–172, 241  f., 246